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German Pages 517 [518] Year 1981
PROJEKTGRUPPE FIJR INTERNATIONALES UND VERGLEICHENDES SOZIALRECHT DER MAX-PLANCK·GESELLSCHAFT
Die Rolle des Beitrags in der sozialen Sicherung
Schriftenreihe für Internationales und Vergleichendes Sozialrecht Herausgegeben von Ha n 8 F. Z a c he r, München
Band 4
Die Rolle des Beitrags in der sozialen Sicherung Colloquium der Projektgruppe für Internationales und Vergleichendes Sozialrecht der Max-Planck-Gesellschaft
Herausgegeben von
Bans F. Zacher
DUNCKER & HUMBLOT / BERLIN
Redaktion: Thomas Simons
Alle Rechte vorbehalten & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1980 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany
© 1980 Duncker
ISBN 3 428 04788 5
Inhaltsverzeichnis Erster Teil Hans F. Zacher:
Einleitung .........................................................
7
Zweiter Teil Hans F. Zacher:
Die Rolle des Beitrags in der sozialen Sicherung - Vorbereitende Ausarbeitung ...................................................... 23
Dritter Teil: Die vorbereitenden Landesberichte Rechtsvergleichender Fragebogen
31
Julian Fulbrook:
Landesbericht für Großbritannien
37
Pasquale Sandulli:
Landesbericht für Italien ................ . .................. . ......
55
Siegfried Mampel:
Landesbericht für die Deutsche Demokratische Republik
99
Wolfgang Rüfner:
Landesbericht für die Bundesrepublik Deutschland ....... . . . . . . . . . .. 177
Vierter Teil: Colloquium Das Programm des Colloquiums ....................................... 221 Helmar Bley:
Rechtsvergleichender Generalbericht ............................... 223 Zusammenfassung ................................................. 241 Summary .......................................................... 242
Inhaltsverzeichnis
6
Ergänzende Stellungnahmen der Landesberichterstatter Großbritannien (Schulte) .......................................... Italien (SanduZli) ..................••.............................. Deutsche Demokratische Republik (Mampel) ........................ Bundesrepublik Deutschland (Rüfner) .............................. Diskussionsbericht (Schulte)
245 252 255 260 266
Georg Heubeck:
Versicherungswissenschaftliche Untersuchung ...................... Zusammenfassung ................................................. Summary .......................................................... Diskussionsbericht (Waldmann) .....................................
289 307 308 310
Dieter Schäfer:
Sozialpolitische Untersuchung 331 Zusammenfassung ................................................. 347 Summary .......................................................... 349 Hans Braun:
Soziologische Untersuchung ........................... . ............ 351 Zusammenfassung ................................................. 363 Summary .......................................................... 364 Diskussionsbericht zu den Referaten Schäfer und Braun (Simonsl Trenk-Hinterberger) ............................................... 365 Martin Pfaff/Markus Schneider:
Ökonomische Untersuchung ........................................ Zusammenfassung ................................................. Summary .......................................................... Diskussionsbericht (Faude) .........................................
391 420 420 424
Günter Hedtkamp:
Finanzwissenschaftliche Untersuchung .............................. Zusammenfassung ................................................. Summary .......................................................... Diskussionsbericht (Köhler) ........................................
437 450 451 453
Josef Isensee:
Rechtswissenschaftliche Untersuchung Zusammenfassung ................................................. Summary .......................................................... Diskussionsbericht (IgI) ••...•.•....•..................•.....••.•.••
Teilnehmerverzeichnis
461 495 497 501
515
ERSTER TEIL
Einleitung Von Hans F. Zacher
I. Der institutionelle Rahmen und der methodische Zweck des Colloquiums Die Max-Planck-Gesellschaft hat 1974 beschlossen, eine Projektgruppe für internationales und vergleichendes Sozial recht zu errichten, die im Frühjahr 1975 ihre Arbeit effektiv aufnehmen konnte. Die Projektgruppe war auf 5 Jahre befristet und hatte den Auftrag zu erforschen, ob, auf welche Weise und in welchem institutionellen Rahmen auf Dauer auf dem Gebiet des internationalen und vergleichenden Sozialrechts geforscht werden kann und sol11. Im Laufe des Jahres 1979 entschieden die zuständigen Organe der Max-Planck-Gesellschaft, die Projektgruppe in ein Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Sozialrecht umzuwandeln. Der Beschluß ist seit dem l. Januar 1980 in Kraft. Das Thema der Projektgruppe war in hohem Maße komplex. "Internationales und vergleichendes Sozialrecht"2 umfaßt "internationales Sozialrecht" sowohl im Sinne von "Sozial-Kollisionsrecht" als auch im Sinne von "Sozial-Völkerrecht"3. Und Sozialrechtsverglekh setzt zunächst die Kenntnis der nationalen Sozialrechte voraus, die verglichen werden sollen. Die nationalen Rechte sind es ja schließlich auch, die durch das "Sozial-Völkerrecht" koordiniert und garantiert und durch das "Sozial-Kollisionsrecht" wechselseitig in Beziehung gesetzt und aufeinander hin geöffnet werden sollen. Somit gehörte zum Thema der Projektgruppe - und gehört nunmehr zum Thema des Max1 S. zu dieser Projektgruppe: Max-Planck-Gesellschaft, Jahrbuch 1976, S. 663 ff.; Jahrbuch 1977, S. 672 ff.; Jahrbuch 1978, S. 708 ff.; Jahrbuch 1979, S. 740 ff. 2 s. dazu auch schon Hans F. Zacher, Einleitung: Horizontaler und vertikaler Rechtsvergleich, in: Sozialrechtsvergleich im Bezugsrahmen internationalen und supranationalen Rechts, Bd. 2 dieser Schriftenreihe, 1978, S. 9 ff. (11 ff.). 3 Was sich in den völkerrechtlichen Quellen des Sozial-Kollisionsrechts auch überschneidet.
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Hans F. Zacher
Planck-Instituts - in erster Linie auch die Kenntnis des deutschen und ausländischen Sozialrechts. Nationales Sozialrecht und "Sozial-Kollisionsrecht" der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften kann nun aber nicht mehr ohne das diesen gemeinsame supranationale Recht gesehen und verstanden werden. Also war endlich auch das supranationale Recht ein notwendiges Thema der Projektgruppe. In hohem Maße komplex war der Auftrag der Projektgruppe aber auch noch aus einem anderen Grund. Sozialrecht ist eine genuin interdisziplinäre Materie4 • Deshalb stellte sich von vornherein die Frage nach der multidisziplinären Substanz und der interdisziplinären Methode der Arbeit der Projektgruppe. Wie jedes Recht wird Sozialrecht ferner von jedem Standort der Befassung her immer nur partikular erfahren und erfaßt. Weder die Wissenschaft noch eine bestimmte Praxis - etwa der Gesetzgebung, der Verwaltung, der Rechtsprechung oder der Wahrnehmung der Interessen Betroffener - kann allein zu einem ganzen und ausgewogenen Bild eines Rechts kommen. Diese Problematik stellt sich für das Sozialrecht aber mit ganz besonderer Schärfe5 • Das Sozialrecht ist ein extrem junges Recht von rasch wachsenders, gleichwohl aber immer noch unbefriedigender Rechtskultur. Das "interfunktionale" Gespräch zwischen den verschiedenen juristischen Rollen ist deshalb weniger selbstverständlich und weniger dicht als in anderen Rechtsbereichen7 • Somit trat neben die interdisziplinäre auch die "interfunktionale" Komplikation der Arbeit der Projektgruppe. Daneben ist endlich der besondere Bedarf an internationaler Kooperation zu erwähnen. Sozialrecht ist in besonderem Maße wirklichkeitsbezogenes und wirklichkeitsveränderndes RechtS. Das bekräftigt zunächst, daß das 4 s. etwa Hans F. Zacher, Willy Albers und Hans Schäfer, Sozialrecht als interdisziplinäre Aufgabe, in: Die verfassungsrechtliche Relevanz des Sozialrechts, Schriftenreihe des Deutschen Sozialgerichtsverbandes, Bd. XIV, 1975, S. 50 ff.; Hans F. Zacher, Grundfragen theoretischer und praktischer sozialrechtlicher Arbeit, Vierteljahresschrift für Sozialrecht, Bd. 4 (1976), S. 1 ff. (8 ff.); ders., Vorfragen zu den Methoden der Sozialrechtsvergleichung, in: Methodische Probleme des Sozialrechtsvergleichs, Bd. 1 dieser Schriftenreihe, 1977, S. 21 f. (S. 24, 43 f., 61 ff.). 5 s. Hans F. Zacher, Grundfragen usw. (Anm. 10 ff.). 8 Hans F. Zacher, Rechtswissenschaft und Sozialrecht, Die Sozialgerichtsbarkeit, 26. Jg. (1979), S. 206 ff. 7 Exemplarisch konkreter gesagt: ein wissenschaftliches Werk auf dem Gebiet des Wettbewerbsrechts spiegelt in hohem Maße auch die verschiedenen Dimensionen der Praxis; Werke auf dem Gebiet des Sozialrechts neigen hingegen dazu, entweder Vorverständnis und Diskussionsstand der Praxis oder einen wissenschaftlichen Ansatz zu reflektieren. S Hans F. Zacher, Das Sozialrecht im Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft, Vierteljahresschrift für Sozialrecht, Bd. 7 (1979), S. 145 ff. (insbes. S. 148 ff.); ders., Rechtswissenschaft und Sozialrecht (Anm. 6), S. 208 f.
Einleitung
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Fehlerkalkül einer isolierten Sozialrechtswissenschaft - also einer Sozialrechtswissenschaft, die ohne die notwendige interdisziplinäre und interfunktionale Kooperation betrieben wird - unerträglich groß ist. Es bedeutet aber auch, daß das nationale Sozialrecht nicht ohne die persönlich erfahrene Kenntnis der nationalen sozialen und politischen Wirklichkeit erfaßt und vermittelt werden kann. Gesetze und Gerichtsentscheidungen sind schon im Gefüge des Rechts nur fragmentarisch. Und sie vermitteln nur sporadisch etwas von den sozialen Realitäten, in denen sie wirken, und von den sozialen Normen, die sie ergänzen. Auch die Literatur ist der Ganzheit des Rechts und noch mehr der Ganzheit der sozialen Wirklichkeit "ausnahmehaft", ja auf das Kritische fixiert aufgesetzt. Die komplexe, lebendige, vor allem die selbstverständliche Realität einer Gesellschaft wird nie so intensiv und ausgewogen literarisch dargestellt, daß man sich auf das im Schrifttum Lesbare 9 verlassen könnte. Schon die Aufnahme ausländischen Sozialrechts, vor allem aber der Sozialrechtsvergleicli setzen deshalb die Kooperation mit Sachkundigen voraus, die in dem Lande, dessen Recht erfaßt werden soll, leben und wirken10 • Die Projektgruppe - bestehend zunächst aus fünf, später sechs wissenschaftlichen Mitarbeitern und dem Leiter - war in sich geschlossen "deutsch" und "juristisch" konzipiertl1 . Die Kompetenz anderer Disziplinen und der verschiedenen Erfahrungsfelder der Praxis sowie den autochthonen Sachverstand aus anderen Ländern und internationalen Organisationen mußte sie durch Kooperation hinzuerwerben. Die kleine Projektgruppe mußte sich aber auch thematisch beschränken. Sie konnte sich nicht alle oben skizzierten Themenfelder des "internationalen und vergleichenden Sozialrechts" gleichermaßen vornehmen. Sie konzentrierte sich auf den Sozialrechtsvergleich und zu diesem Zwecke auf die Aneignung des Sozialrechts eines ausgewählten Kreises von Ländern, deren Recht verglichen werden sollte12 •
Analog zum "law in books". Genau genommen kann auslands-sozialrechtliche und sozialrechts-vergleichende Forschung personal nur in einem dialogischen Verfahren erfolgversprechend durchgeführt werden. Aus dem eigenen Recht weiß man nie genug über den Standort eines anderen, der von einem anderen Recht her forscht. Dieser kann die Fragen nur von seinem Standort her stellen. Er weiß aber nie genug, um die Antworten ganz und korrekt geben zu können. Vielleicht stellt er schon die Fragen so, daß sie vom anderen Recht her nicht beantwortet werden können. Dann sind Fragen und Antworten in einem mehrstufigen Prozeß der Korrektur und Differenzierung zu verfeinern und zu verbessern. 11 s. noch einmal zu Anm. 1; s. ferner die "Einleitung" zu: Methodische Probleme des Sozialrechtsvergleichs (Anm. 4), S. 7 ff. 18 s. die Teilnehmerliste unten S. 515 ff. 9
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Hans F. Zacher
So mußte sich die Projektgruppe auch thematisch durch die Kooperation mit Dritten ergänzen. Dies galt vor allem für die Themenbereiche des Sozial-Völkerrechts, des Sozial-Kollisionsrechts und des supranationalen Rechts. Die Wege, in denen sich die Projektgruppe so interdisziplinär, interfunktional, international und thematisch ergänzte, waren vielfältig: Hereinnahme von Stipendiaten, Veranstaltung von Gastvorträgen, Teilnahme an fremden Aktivitäten (Ausschüssen, Colloquien usw.), auch die Erstattung von Expertisen. Eine ganz besondere Bedeutung aber hatte die Veranstaltung von Colloquien. Das erste Colloquium (1976) über "Methodische Probleme des Sozialrechtsvergleichs"13 diente vor allem der interdisziplinären und interfunktionalen Kooperation. Das zweite Colloquium (1977) über "Sozialrechtsvergleich im Bezugsrahmen internationalen und supranationalen Rechts" diente vor allem dazu, die Brücke von den eigenen rechtsvergleichenden Bemühungen zu den Themenkreisen des Sozial-Völkerrechts und des supranationalen Rechts zu schlagenl4 • Das dritte Colloquium (1979) über "Bedingungen für die Entstehung und Entwicklung von Sozialversicherung"15 war in erster Linie interdisziplinär angelegt1 6 • Sein Thema war primär historischer - auch, aber nicht nur sozialrechts-historischer - Natur. Und es wurde von Experten verschiedener einschlägiger historischer Disziplinen untersucht. Zudem wurde in diesem dritten Colloquium auch der Boden internationaler Kooperation l7 , auf den sich schon das erste und das zweite Colloquium begeben hatten, mit noch mehr Entschlossenheit betreten. Auch das Colloquium, über das hier berichtet wird, ist im Zusammenhang der Bemühungen zu sehen, Erfahrung und Kompetenz der Projektgruppe durch interdisziplinäre und internationale Kooperation zu erweitern. Dem Gegenstand nach konzentrierte es sich auf deutsches und ausländisches Sozial recht und dessen Vergleich. Eine Ausweitung über den Arbeitsbereich verschiedener nationaler Sozialrechte hinaus - also etwa in Richtung auf Sozial-Völkerrecht, supranationales Sozialrecht oder Sozial-Kollisionsrecht - war nicht beabsichtigt. Die interfunktionale Kooperation mit Vertretern verschiedener Praxisfelder konnte in diesem Colloquium nur durch deren Teilnahme 18 und ihre Diskussions- und sonstigen Gesprächsbeiträge verwirklicht werden. 13 Bd. 1 dieser Schriftenreihe, 1977. Bd. 2 dieser Schriftenreihe, 1978. Bd. 3 dieser Schriftenreihe, 1979. 16 Zu den weiteren Zusammenhängen dieses Colloquiums s. Hans F. Zacher, Einleitung, ebd., S. 7 ff. 17 i. S. des Einbezugs autochthoner ausländischer Experten. 18 s. die Teilnehmerliste unten S. 515 ff. 14
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Einleitung
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Internationale und interdisziplinäre Kooperation zum Zwecke auslandsrechtlicher und rechtsvergleichender Arbeit waren also die wesentlichen "methodischen" Absichten des Colloqiums.
11. Konzeption und Durchführung des Colloquiums Gleichwohl war das methodische Interesse nur ein sekundäres Motiv dafür, daß "Die Rolle des Beitrags in der sozialen Sicherung" zum Thema eines Colloquiums gemacht wurde. Primär mußte sein, daß es sich überhaupt um ein relevantes sozialrechtliches Thema handelt. Sowohl von der aktuellen deutschen Diskussion als auch vom Sozialrechtsvergleich her führten immer wieder Spuren auf das Thema "Beitrag". Während die Systeme sozialer Sicherung hinsichtlich der sozialen Risiken, die sie abdecken, hinsichtlich der Personenkreise, die sie sichern, und hinsichtlich der Leistungen, die sie gewähren, einander gewiß nicht gleich, wohl aber weitgehend ähnlich sind, unterscheiden sie sich in der Finanzierung - sowohl hinsichtlich des "Ob" von Beiträgen als auch hinsichtlich des "Wie" von Beiträgen - weitgehend und vielfältig19 • Wie hängen die Unterschiede hinsichtlich Gegenstand, Personenkreis und Leistungen der sozialen Sicherung damit zusammen? Welche Bedeutung haben die Unterschiede im Einsatz und in der Gestaltung des Instruments "Beitrag" darüber hinaus? Wie erklären sie sich? Diese Fragen wurden aufgrund eines Diskussionspapiers in der Projektgruppe intensiv erörtert. Das Ergebnis war die Problemskizze, die den Berichterstattern und Referenten als gemeinsame Unterlage diente20 • Methodisch leistete diese Unterlage in einem ersten Zugriff jene Formulierung des vorrechtlichen Problems, die eine Voraussetzung jeden Rechtsvergleichs ist21 • Auf dieser Grundlage sollte das Vorhaben nun in einer ersten Stufe primär rechtsvergleichend durchgeführt werden. Dafür wurden vier Länder ausgewählt. Daß unter ihnen die Bundesrepublik Deutschland 22 19 s. International Labour Office, The Cost of Social Security, 9th International Inquiry, 1972 - 1974, Genf 1979; International Social Security Association, Methods of Financing Social Security - The Economic and Social Effects, International Social Security Association, Studies and Research Nr. 15, Genf 1979. 20 s. unten S. 23 ff. 21 s. dazu Konrad Zweigert u. Heinz Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 2 Bde. (Bd. I 1971, Bd. II 1969), I, S. 42 f.; Leontin-Jean Constantinesco, Rechtsvergleichung, 2 Bde. (Bd. I 1971, Bd. II 1972), II, S. 100 ff. s. aus den Arbeiten der Projektgruppe: Hans F. Zacher, Vorfragen (Anm. 4), S. 36 ff., 41 ff.; ders., Horizontaler und vertikaler Sozialrechtsvergleich (Anm. 4), S. 18 f. u. passim. 22 s. dazu den Landesbericht v. Rüfner, unten S. 177 ff.
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Hans F. Zacher
war, versteht sich von selbst. Die Deutsche Demokratische Republik 23 wurde nicht nur als das "andere Deutschland" einbezogen, sondern vor allem als dasjenige der osteuropäischen Länder, in dem Beiträge noch die relativ größte Rolle spielen. Großbritannien 24 wurde vor allem als das Mutterland des Beveridge-Stils ausgewählt. Wie hat sich - war so eine Facette der Fragestellung - die Rolle des Beitrags in Deutschland als dem Mutterland des Bismarck-Stils und in Großbritannien als dem Mutterland des Beveridge-Stils25 entwickelt? Schließlich wurde Italien als ein zweites "westliches" Vergleichsland hinzugefügt, das besonders deshalb von Interesse sein mußte, weil sich in Italien, einem Land von traditionell ebenso ausgeprägter wie differenzierter Beitragsstruktur, gerade die Verlagerung der Vorsorge für den Krankheitsfall von der Sozialversicherung zu einem nationalen Gesundheitsdienst vollzieht26 . Um die nationalen Berichte für diese Länder wurden grundsätzlich "einheimische" Berichterstatter gebeten, womit vor allem das Prinzip der internationalen Kooperation21 verfolgt werden sollte. Eine Ausnahme mußte für die Deutsche Demokratische Republik gemacht werden. Für sie war ein einheimischer Berichterstatter nicht zu gewinnen. Nun bedurften die Landesberichte aber, um zum Rechtsvergleich zu kommen, der Verbindung. Für diese Verbindung sind zwei Stadien zu unterscheiden: das Stadium der Vorbereitung und das Stadium der Auswertung. Als gemeinsame Grundlage diente im Stadium der Vorbereitung zunächst die schon erwähnte Problemskizze über "Die Rolle des Beitrags in der sozialen Sicherung"28. Spezifisch der Vorbereitung der Landesberichte - insbesondere auch dem Ziele, den Landesberichten eine jeweils analoge Struktur zu geben - diente ein Fragebogen 29 • Die Ausarbeitung des Fragebogens führte zugleich auch zu einer Differenzierung und Vertiefung der Problemformulierung. Das Stadium der Auswertung begann mit dem Generalbe1'icht über die Rolle des Beitrags in der sozialen Sicherung 30 • Jedoch sollten der s. dazu den Landesbericht v. Mampel, unten S. 99 ff. s. dazu den Landesbericht v. Fulbrook, unten S. 37 ff. 25 s. zu diesem Kontrast etwa Bernd Schulte, Zu den Strukturen des Sozialrechts ausländischer Staaten: Sozialrecht in den EG-Ländern, Nachrichtendienst des Deutschen Vereins, Jg. 58 (1978), S. 203 ff. 25 s. dazu den Landesbericht von Sandulli, unten S. 55 ff. 27 S. oben I. 28 s. noch einmal unten S. 23 ff. 29 s. unten S. 31 ff. 30 Von Bley, s. unten S. 223 ff. Helmar Bley erschien für die Aufgabe dieses Generalberichts in ganz besonderer Weise geeignet, nachdem er als einziger Jurist Mitglied der Transfer-Enquete-Kommission der Bundesregierung ist - eine Kommission, die sich intensiven Durchblick durch die Umverteilungsströme unserer Sozialpolitik verschaffen soll. Leider war Helmar Bley 23 24
Einleitung
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erfassenden und vergleichenden Verklammerung auch die Referate und Diskussionen im Rahmen des Colloquiums dienen. Technisch bestand das ganze Vorhaben so aus einem "schriftlichen" und einem " mündlichen " Teil. Der "schriftliche" Teil begann mit der vorbereitenden Ausarbeitung und dem Fragebogen, entfaltete sich dann in den vier Landesberichten und schloß mit dem Generalbericht. Der Generalbericht steht gleichsam ebenso am Ende des " schriftlichen " Abschnittes wie am Anfang des "mündlichen" Abschnittes; denn der Vortrag des Generalberichts, die ergänzenden Stellungnahmen der Landesberichterstatter zum Generalbericht und die Diskussion des Generalberichts eröffneten das Colloquium. Dabei ist hervorzuheben, daß die Diskussion zum Generalbericht über die "Vergleichsländer" Großbritannien, Italien, Deutsche Demokratische Republik und Bundes republik Deutschland hinausgriff. In wesentlichen Ergänzungen wurde auch auf das Sozialrecht Frankreichs, der Beneluxstaaten, der Schweiz, Österreichs, Spaniens sowie Polens eingegangen31 • Die im engeren Sinne rechtsvergleichende Arbeit wurde so dem Colloquium teils vorgegeben; teils wurde sie durch den Generalbericht, seine Ergänzungen und seine Diskussion in das Colloquium hereingeholt. Das Colloquium selbst aber sollte in erster Linie der interdisziplinären Vertiefung der Problematik dienen. In diesem Sinn erhielten die Versicherungswissenschaften 32 , die (Wissenschaft von der) Sozialpolitik33 , die Soziologie 34, die Wirtschaftswissenschaften 35 , die Finanzwissenschaften36 , und die Jurisprudenz - insbesondere die Verfassungs- und Finanzrechtswissenschaft37 - das Wort. über die beschriebene Vorbereitung des Colloquiums und über den Kreis der Referenten hinaus sollte die Zusammensetzung der Teilnehmer des Colloquiums seinen internationalen, interdisziplinären und interfunktionalen Absichten38 dienen. Das Teilnehmerverzeichnis39 weist aus, daß die Teilnehmer nicht nur verschiedenen Ländern, den Europäischen Gemeinschaften und der Internationalen Arbeitsorganisation entstammten, sondern daß sie auch eine Reihe kompetenter wissenschaftlicher Diszidann durch eine akute Krankheit verhindert, an dem Colloquium selbst teilzunehmen. Sein schriftlicher Generalbericht lag jedoch rechtzeitig vor. 31 s. dazu unten S. 266 ff. 32 s. das Referat Heubeck, unten S. 289 ff. 33 s. das Referat Schäfer, unten S. 331 ff. 34 s. das Referat Braun, unten S. 351 ff. 35 s. das Referat von Pfaff und Schneider, unten S. 391 ff. 36 s. das Referat Hedtkamp, unten S. 437 ff. 37 s. das Referat lsensee, unten S. 461 ff. 38 s. oben l. 39 s. unten S. 515 ff.
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Hans F. Zacher
plinen40 und vor allem auch verschiedene Praxisfelder vertraten. Die Diskussionsberichte41 versuchen, die Erträge wiederzugeben. 111. Spezifische methodische Probleme und Grenzen des Colloquiums 1. Die konkrete Erfahrung des Colloquiums
Die Projektgruppe hat also mit diesem Colloquium und den Studien zu seiner Vorbereitung den Versuch unternommen, ein "Stück" Sozialrechtsvergleichung über mehrere der Stufen hin durchzuführen, die Rechtsvergleich im allgemeinen und Sozialrechtsvergleich im besonderen zu durchschreiten hat: -
die Formulierung des vorrechtlichen Problems 42 (vorbereitende Ausarbeitung),
-
die Befragung der nationalen Rechtsordnungen nach den Lösungen, die sie für das gemeinsame Problem entwickelt haben (Fragebogen), das Erfassen dieser Problemlösungen der nationalen Rechte je für sich (Landesberichte) und ihre vergleichende Zusammenfassung (Generalbericht) sowie
-
den Versuch, sowohl die Formulierung des vorrechtlichen Problems als auch die nationalen Antworten auf die gestellten Fragen von verschiedenen Standpunkten - insbesondere von verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen (Referate des Colloquiums) - her zu interpretieren, zu erklären und zu kritisieren - mit anderen Worten: zu verstehen und vielleicht auch zu bewerten43 •
Nun konnten in den konkret angewandten Verfahren44 diese Schritte jeweils nur in sich geschlossen getan werden. Jeder dieser Schritte konnte zwar im Verlauf der folgenden Schritte kritisiert werden. Er selbst konnte aber aus den Erfahrungen der folgenden Schritte nicht mehr "lernen"; er konnte nicht mehr revidiert werden. Und selbst innerhalb des dritten der soeben skizzierten Schritte - innerhalb des interdisziplinären und interfunktionalen Verstehens und Bewertens der Problemlösungen im Colloquium - war ein "Lernen" des jeweils frü40 Insbesondere zielte die Zusammensetzung des Teilnehmerkreises darauf ab, daß die durch Referenten vertretenen Disziplinen zusätzlich auch durch Diskutanten repräsentiert werden. U s. unten S. 266 ff., S. 310 ff., S. 365 ff., S. 424 ff. und S. 453 H., S. 501 H. 42 s. oben Anm. 21. 43 Zu dieser Trias von Erfassen, Verstehen und Bewerten von Recht als Zweck: und Methode der Rechtsvergleichung s. Hans F. Zacher, Vorfragen usw. (Anm. 4). U s. oben H.
Einleitung
15
her Formulierten aus der späteren Erfahrung und Kritik nur eng begrenzt möglich. Das führte zu einem Unbehagen. Dieses Unbehagen war ebenso gerechtfertigt wie fruchtbar, denn es steigerte die Bereitschaft -
die Vielfalt der Elemente (Schritte) rechtsvergleichender Arbeit,
-
die komplexe Interdependenz dieser Elemente (die permanente Notwendigkeit, frühere Schritte unter dem Eindruck späterer Erfahrungen in Frage zu stellen und neu zu tun und
-
den Prozeßcharakter, die Dynamik rechtsvergleichender Arbeit, die - entgegen einer verbreiteten Hoffnung - nur unter seltenen Bedingungen (oder um den Preis unzulässiger Vereinfachung) linear vom Interesse an einem Problem zur Ermittlung seiner "relativ besten Lösung"46 führt,
zu erörtern und zu akzeptieren. Zugleich ergab das die Gelegenheit, einen "Zwischenbericht" über die einschlägigen Erfahrungen zu geben, welche die Projektgruppe im Verlauf ihrer sowohl grundsätzlich-methodischen als auch konkret-exemplarischen Bemühungen um sozialrechtsvergleichende Arbeit gemacht hat. 2. Verallgemeinerungen
Um diese Erfahrungen darzustellen, wurde den Teilnehmern des Colloquiums die auf der folgenden Seite abgedruckte Skizze an die Hand gegeben. Zur Erläuterung dieser Skizze war im wesentlichen folgendes anzuführen.
a) Die Stufen der Vergleichsarbeit Als "die goldene Pforte" der Vergleichsarbeit erweist sich die Formulierung des gemeinsamen vorrechtlichen Problems. Verschiedenste Interessen46 können auf die Frage führen, wie ein gewisses Problem in mehreren Rechtsordnungen geregelt ist. Damit entsteht aber auch die Forderung, dieses meist aus einer Rechtsordnung heraus formulierte Problem "vergleichsfähig" zu beschreiben. Dies ist die Frage nach dem gemeinsamen vorrechtlichen Problem. Die Vergleichs arbeit hat nun an die nationalen Rechtsordnungen heranzutreten, um die jeweiligen nationalen Lösungen zu erfassen. 4S s. zur "relativ besten Lösung" als Ziel der Rechtsvergleichung etwa Konrad Zweigert, Die'kritische Wertung in der Rechtsvergleichung, in: Law and international trade, Festschrift für Schmitthoff, 1973, S. 403 ff. 48 Eine Auswahl s. bei Hans F. Zacher, Horizontaler und vertikaler Sozialrechtsvergleich (Anm. 2), S. 45 ff. S. auch die dort gegebenen Hinweise; nachzutragen etwa Kurt Hanns Ebert, Rechtsvergleichung, 1978, S. 172 ff.
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VORGEGEBENHEITEN DER VERGLEICHSARBEIT
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Kreislauf von Herausforderungen, Be::lingungen der Antworten u. Antvrorten konstituiert vorrechtliches ProblEm
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NATIONALE PROBLEMLÖSUNGEN
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VERGLEICH DER REGELUNGEN/ PROBLEMLÖSUNGEN
VERGLEICHSARBEIT
BEtIERrEN
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ERFIISSEN
samkeiten und Verschieden-
heiten
der Regelungen, ihrer Gerrein-
GLEICHSARBEIT
STUFEN DER VER-
Bedingungen, Abläufe und Erträge sozialrechtsvergleichender Arbeit
Aussage über "die "RElATIV BESTE LÖSUNG"
vielleicht auch eine
lichen Problems wahrscheinlich auch über - BEDINGUNGEN IHRER KlGLICHKEIT, IHRER WIRKSl\MKEIT und - RRITERIEN (Nomen) IHRER BE.WERI'UNG{
LÖSUNGEN des vorrecht-
- gegebenen VORAAT AN
ein besseres Wissen jedenfalls über
ERTRÄGE DER VERGLEICHSARBEIT
Einleitung
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Der nächste Schritt ist der Vergleich der so erfaßten nationalen Regelungen: Das Herausarbeiten ihrer Gemeinsamkeiten und ihrer Verschiedenheiten. Nun wäre es ebenso gefährlich wie unergiebig, bei dem Erfassen der das gemeinsame vorrechtliche Problem betreffenden nationalen Regelungen und dem Vergleich des so Erfaßten stehenzubleiben. Sowohl die nationalen Regelungen in ihrer Individualität, als auch ihre im Vergleich hervortretenden Gemeinsamkeiten und Unterschiede müssen verstanden werden. Sie müssen in Zusammenhängen ihrer rechtlichen, politischen, gesellschaftlichen, ökonomischen, kommunikatorischen, kulturellen, ideologischen usw. Ambiance und ihrer Geschichte gesehen und interpretiert werden47 • Die Zahl relevanter Kategorien des Verstehens erscheint dabei unendlich. Immer wieder erweisen sich neue Aspekte als bedeutsam. Die wesentlichen unter ihnen aufzufinden und einzubringen, ist jedoch von der größten Bedeutung für den Sinn des Rechtsvergleichs. Denn vordergründig "unverstanden" Gleiches kann "verstanden" ungleich sein; und vordergründig "unverstanden" Ungleiches kann "verstanden" gleich sein. Gerade ein funktionaler Rechtsvergleich, der auf die Eignung verschiedener rechtlicher Regelungen zur Lösung gleichartiger Probleme zielt, hängt vom "Verstehen" der Problemlösungen ab. Und die Suche nach der "relativ besten Lösung" verläuft leicht im Irrgarten der Vorurteile, wenn die "verstehende" Bemühung ein Urteil darüber erlaubt, wie ein fremdes Modell, aus seiner Geschichte und Ambiance gelöst, in einem anderen Recht, mit anderer Ambiance und anderer Geschichte, wirkt. Hier nun vollzieht sich der übergang vom Erfassen und Verstehen zum Bewerten. Was nicht verläßlich erfaßt und nicht im wesentlichen verstanden ist, kann und darf nicht bewertet werden. Andererseits aber sind Kategorien des Bewertens zumeist auch schon Elemente des Verstehens. Die Eigenart nationaler Regelungen ist nicht zuletzt vom Werte kanon des nationalen Rechts und der nationalen Gesellschaft her zu sehen. Ein vollkommener Vergleich hat zu den Unterschieden der dem Erfaßten zugrunde liegenden Wertungsmaximen vorzustoßen. Und die "Transplantation" von Problemlösungen, die so oft als das Ziel des Rechtsvergleichs angesehen wird, muß fragen, ob eine Problemlösung mit dem Wertekanon des Rechts und der Gesellschaft vereinbar ist, in die hinein die Lösung übertragen werden soll. Dabei ist nicht zu verkennen, daß der "Export" und noch mehr der "Import" rechtlicher Lösungen sehr oft von der Erwartung beflügelt ist, daß damit gerade die impliziten Wertmaximen - gleichsam als "Konterbande" - "exportiert" oder "importiert" werden können. 47
Zu einigen Einzelheiten s. Hans F. Zacher, Vorfragen (Anm. 4), S. 61 ff.
2 Soziale Sicherung
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Hans F. Zacher b) Rückkoppelungen: die stetige Entwicklung interdependenter Elemente
Für den vorliegenden Zusammenhang ist nun aber vor allem wichtig, daß dieses Fortschreiten vom Erfassen zum Verstehen und zum Bewerten der nationalen Regelungen je für sich und im Vergleich zugleich stetig das Wissen um das gemeinsame vorrechtliche Problem vertieft, differenziert und wandelt. Nicht selten muß auch die Formulierung des vorrechtlichen Problems dem bereicherten Wissen angepaßt werden. So kommt ein "Kreislauf" zustande, der mit einer ersten groben - um nicht zu sagen: "dilettantischen" - Problemformulierung beginnt, von ihr her zum Erfassen der nationalen Regelungen voranschreitet, zu ihrem Vergleich vorstößt, zum Verstehen des Erfaßten und Verglichenen aufsteigt und schließlich zur Möglichkeit seiner Bewertung vordringt, um auf das gemeinsame vorrechtliche Problem zurückzukommen. Dessen ursprüngliche Erkenntnis und Formulierung erweist sich als unzulänglich; und seine verfeinerte Erkenntnis und Formulierung erscheint nun möglich. Von diesem neuen Ansatz her könnte der "Kreislauf" erneut beginnen. Daß es sich bei diesem "Kreislauf" nur um ein Bild handelt, und daß sich dieser "Kreislauf" nicht in solcher geordneten Reihenfolge vollzieht, wie sie eben beschrieben wurde, sollte keiner Erwähnung bedürfen. Doch ist hoffentlich mit diesem Bild der Zusammenhang fortschreitender Verfeinerung der Erkenntnis von Problemen und Lösungen hinreichend zu verdeutlichen. Hinzuzufügen ist, daß dieser Prozeß der Vergleichbarkeit ein ebenso "willkürliches" Ende nimmt, wie er im "willkürlichen" Zugriff beginnt. So wie niemand damit zuwarten kann, die Voraussetzungen der Vergleichsarbeit durch die Formulierung des vorrechtlichen Problems zu schaffen, bis er alles über die Problematik weiß, was er am Ende der Vergleichsarbeit wissen wird, so kann niemand die Vergleichsarbeit fortführen, bis er alle möglichen Kategorien des Verstehens und Bewertens ausgeschöpft, in ihrem Lichte das gemeinsame vorrechtliche Problem erneut formuliert und sodann die rechtlichen Regelungen dieses gemeinsamen vorrechtlichen Problems erneut erfassend, verstehend und bewertend aufgenommen und verglichen hat. Vermutlich gibt es weder für die Zulänglichkeit des Zugriffs durch eine erste vorrechtliche Problemformulierung eine rationale, operationale Definition, wie es eine solche dafür gibt, wann die Verfeinerung der Vergleichsarbeit ihr Optimum erreicht hat. Vermutlich ist für das eine wie für das andere personale Kompetenz und Intuition notwendig. Eine ähnliche Problematik ergibt sich dann, wenn man in Betracht zieht, daß jede rechtliche Regelung in einem "Viertakt-Modell" aus (1)
Einleitune
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Herausforderung, (2) Bedingungen der Antwort, (3) Antwort und (4) Veränderung der Herausforderung als auch der Bedingungen der Antwort durch die Antwort zu sehen ist48 • Die Komplexität dessen, was mit "Herausforderung", "Bedingungen der Antwort", "Antwort" und "Veränderungen der Herausforderungen und der Bedingungen der Antwort durch die Antwort" gemeint ist, kann hier nicht dargestellt werden und braucht das wohl auch nicht. Hier muß es genügen, dreierlei festzuhalten. Erstens ist offensichtlich, daß der soeben beschriebene Prozeß der Vertiefung der Kenntnis der Probleme und Problemlösungen immer auch eine ver~iefte Kenntnis der Elemente dieses "Viertakt-Modells" also eine vertiefte Kenntnis von Herausforderung, Bedingungen der Antwort, Antwort und Veränderungen der Herausforderung und der Bedingungen der Antwort durch die Antwort bedeutet. In eine ganz andere Richtung weisend ist als zweites festzuhalten, daß die Dynamik dieses "Viertakt-Modells" bedeutet, daß das vorrechtliche Problem niemals ein vollkommen Ruhendes ist. Gewiß ist das Tempo der so bedingten Veränderungen sehr unterschiedlich. Und es gibt Rechtsbereiche, in denen die Veränderungen oft lange Zeit nicht wahrnehmbar sind. Für das Sozial recht aber sind große Energien der Veränderung typisch. Als drittes ist hervorzuheben, daß eben diese Energien nicht nur den Wandel des vorrechtlichen Problems, sondern ebenso die Veränderung der rechtlichen Problemlösungen selbst bewirken. Dieser stets pulsierende "Viertakt" potenziert die Schwierigkeiten, die mit dem Kreislauf der Vergleichsarbeit umschrieben wurden. Ebenso aber bekräftigt das Wissen um ihn die Erkenntnis, daß Anfang und Ende der Vergleichsarbeit einem gewillkürten Kalkül der Opportunität unterliegen; denn ein Aussetzen der Dynamik, das einem beruhigten Beobachten natürlichen Raum gäbe, ist - wenn es sich überhaupt und auch das immer nur annähernd einstellt - rational nicht erschöpfend berechenbar. Im Ergebnis ist so festzuhalten, daß die Kreisläufe von Herausforderungen, Bedingungen der Antworten, Antworten und Veränderungen der Herausforderungen und Bedingungen der Antworten durch die Antworten auf der einen Seite und der Kreislauf von der Findung des 48 Das ist mit dem linken Teil der oben wiedergegebenen Skizze gemeint. Zu diesem "Viertakt-Modell" s. auch Hans F. Zacher, Sozialpolitik und Verfassung im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik Deutschland, 1980, S. XII ff. Speziellere überlegungen hierzu s. bei Jens Alber, Die Entwicklung sozialer Sicherungssysteme im Licht empirischer Analysen, in: Hans F. Zacher (Hrsg.), Bedingungen für die Entstehung und Entwicklung von Sozialversicherung, 1979, S. 123 ff. (insbes. S. 182). Eine intensive Exemplifikation solcher Zusammenhänge für die Entstehung der Sozialversicherung s. bei Peter A. Köhler, Entstehung der Sozialversicherung - Ein Zwischenbericht -, ebd., S. 19 ff.
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Hans F. Zacher
vorrechtlichen Problems über das Aufsuchen und Vergleichen, Erfassen, Verstehen und Bewerten der Problemlösungen und zurück zur verfeinerten Erkenntnis des vorrechtlichen Problems auf der anderen Seite je für sich im Unendlichen verlaufen und daß beide Kreisläufe einander durchdringen und beschleunigen. Beides führt dazu, daß die Vergleichsarbeit jeder Stufe immer wieder dafür offen sein muß, von den Erfahrungen einer späteren Stufe her korrigiert zu werden, was zugleich bedeuten kann, daß die Voraussetzungen der Arbeiten einer späteren Stufe verändert werden müssen. Alles zusammen wiederum führt dazu, daß die Vergleichsarbeit sich nicht scheuen darf, mit sehr "unvollkommenen" Grundlagen zu beginnen und daß sie nicht darauf hoffen kann, durch Erschöpfung alles möglichen Erfassens, Verstehens und Bewertens ein "natürliches" und "vollkommen" gesichertes Ergebnis zu erzielen. c) Die Relativität der Erträge
Einer solchen pragmatischen Relativität des Arbeitsprozesses entspricht auch eine pragmatische Relativität der anzustrebenden Erträge 49 • Ein realistisches Ziel ist ein Mehr an Wissen über Probleme, Problemlösungen, Bedingungen ihrer Möglichkeit und Wirksamkeit und Kriterien ihrer Bewertung. Die absolut "richtige" Lösung eines Problems kann kein rationales Ziel von Rechtsvergleich sein. Selbst die Behauptung, Rechtsvergleich ergebe eine Aussage über die "relativ beste Lösung" muß sorgfältig zugestehen, daß sie immer auf einer unvollkommenen Grundlage von Wahrnehmungen und Argumenten beruht. Das schließt nicht aus, daß so eine "relativ beste Lösung" gefunden werden kann. Aber ihre Anerkennung ist letztlich ein Produkt personaler Verantwortung, die zu übernehmen durch rechtsvergleichende Vorarbeit begründet und erleichtert werden kann, die durch Rechtsvergleich aber nicht ersetzt wird. 3. Zur Bedeutung für das Colloquium
Zurück zum Colloquium! Vor dem Hintergrund dieser grundsätzlichen Überlegungen wird klar, daß selbst so umfassende Arbeiten, wie sie hier vorgelegt werden, nichts Endgültiges über die Rolle des Beitrags in der sozialen Sicherung ergeben konnten. Die eingangs erwähnte relative Geschlossenheit der einzelnen Arbeitsabschnitte bewirkte vielmehr im Gegenteil, daß das Vorgelegte mitunter unverbundenen Teilstücken eines Weges zum Ziel gleicht. Die dargestellten Schwierigkeiten rechtfertigen dieses Ergebnis aber nicht nur als Ex49
s. dazu die rechte Spalte der oben wiedergegebenen Skizze.
Einleitung
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periment. Die Kenntnis dieser Schwierigkeiten führt vielmehr zu der Erkenntnis, daß rechtsvergleichende Arbeit mitunter - und gar nicht selten - solche fragmentarischen Vorstufen braucht. Es ist zu hoffen, daß der Leser in diesem Sinne aus dem Vorgelegten Nutzen ziehen kann. Mehr noch wäre zu hoffen, daß sich die Möglichkeit ergibt, die Arbeiten weiterzuführen und sie so einem in sich geschlossenen und leichter verwertbaren Gesamtergebnis näherzubringen. Die einzelnen Beiträge je für sich haben unabhängig davon bereits jetzt ihr eigenes Gewicht und ihren eigenen Wert. Obwohl diese Einleitung keine Rezension der Berichte und Beiträge sein kann und darf, sei dies ganz besonders für den Generalbericht hervorgehoben, der selbst ein sehr weitreichendes Beispiel für gelungene Sozialrechtsvergleichung ist.
IV. Zu diesem Band Dieser Band ist eine Gemeinschaftsleistung aller, die an der Vorbereitung des Colloquiums und am Colloquium mitgewirkt haben. Zu nennen sind die Landesberichterstatter, der Generalberichterstatter und die Referenten. Abgesehen von dem Generalberichterstatter und einem Landesberichterstatter, die beide an der Teilnahme am Colloquium verhindert waren, haben alle Landesberichterstatter und alle Referenten es auf sich genommen, an dem gesamten Colloquium teilzunehmen, um so den internationalen und interdisziplinären Austausch - und wohl auch eine notwendige interdisziplinäre Gegenkontrolle - während des ganzen Colloquiums präsent sein zu lassen. Zu danken ist ferner den Mitgliedern der Projektgruppe5o , ihren wissenschaftlichen Mitarbeitern und ihren Stipendiaten. Sie haben schon sehr früh an den Vorbereitungen des Colloquiums, an der vorbereitenden Ausarbeitung, an der Auswahl und Gewinnung der Landesberichterstatter, an der Übersetzung der Landesberichte und an der Organisation des Colloquiums Anteil genommen. Die Mitarbeiter und Stipendiaten der Projektgruppe haben sodann auch die Diskussion im Colloquium wesentlich bereichert, aber auch zusammengefaßt. Die Diskussionsberichte wurden - mit einer Ausnahme - von ihnen verfaßt. Diese eine Ausnahme ist der Diskussionsbericht zu dem Referat Heubeck. Der sehr spezielle Charakter dieses Referates und seiner Diskussion verhinderte, daß kein Mitglied der Projektgruppe es wagen durfte, den Diskussionsbericht hierzu zu verfassen. Darum hat Herr Direktor a. D. Herbert Waldmann es übernommen, diesen Diskussions50 Zur Umwandlung der Projektgruppe in das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Sozialrecht s. noch einmal oben 1.
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Hans F. Zacher
bericht zu erstellen. Herr Waldmann war lange Jahre der kompetente Spezialist des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger. Wir haben ihm für diesen freundlichen, entsagungsvollen Dienst an der Herstellung des Bandes ganz besonders herzlich zu danken. Abschließend sind aber auch zwei Mitglieder der Projektgruppe namentlich hervorzuheben. Das gilt einmal für Frau Grita Schock, die einen Teil der Zusammenfassungen der Referate übersetzt und an der Organisation des Colloquiums erheblichen Anteil genommen hat. Es gilt so dann für Herrn Thomas Simons, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Projektgruppe. Er hat mich bei der Vorbereitung und Durchführung des Colloquiums wissenschaftlich wie praktisch vorzüglich unterstützt. In seinen Händen lag die gesamte Redaktion dieses Bandes. Seine Verdienste um diesen Band seien deshalb auch an dieser Stelle besonders hervorgehoben.
ZWEITER TEIL
Vorbereitende Ausarbeitung Von Hans F. Zacher
1. Definition des "Beitrags" Für die Abgrenzung des Themas gibt es zunächst einen nominalistischen Zugang: man befaßt sich mit dem, was in den nationalen Systemen als "Beitrag" (oder mit dem entsprechenden Begriff der jeweiligen Landessprache) bezeichnet wird. Jedoch müßte sich auch eine Definition der Sache finden lassen (funktionaler Zugang). Dabei ist davon auszugehen, daß der Beitrag sich dadurch auszeichnet, daß er zweckgebunden an Verbände (Körperschaften usw.) oder Einrichtungen (Anstalten usw.) geleistet wird. Grundsätzlich wird er von denen geleistet, denen diese Vereinigungen oder Einrichtungen oder einzelne ihrer Aktivitäten (potentiell) nützen. Er kann aber auch von anderen zu leisten sein, die aus besonderen Gründen für die Destinatäre einzutreten haben (Arbeitgeber, Betriebe usw.).
2. Versicherungsmathematische Rechtfertigung des Beitrags? Für alles folgende ist davon auszugehen, daß die "versicherungsmathematische" Rechtfertigung und Gestaltung der Beiträge in der sozialen Sicherung historisch und ökonomisch nur eng begrenzt richtig und möglich war und ist. Daraus, daß die "versicherungsmathematische" Rechtfertigung und Gestaltung von Beitragssystemen weitgehend unmöglich ist, erwächst die Frage nach anderweitiger Funktion, Rechtfertigung und adäquater Gestaltung von Beiträgen.
3. Differenzierungen Die Rolle des Beitrags ist notwendigerweise unterschiedlich danach, wie das Gesamtsystem der sozialen Sicherung gegliedert ist. Der eigentliche Bereich des Beitrages ist der der Vorsorge (Versicherung, Sozialversicherung). Andere Bereiche, wie die soziale Entschädigung (Kriegsopferversorgung, Verbrechensopferentschädigung usw.), beson-
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Hans F. Zacher
dere Ausgleichs- und Förderungssysteme (wie Wohngeld, Ausbildungsförderung usw.) oder allgemeine Ausgleichs- und Hilfesysteme (Sozialhilfe/Fürsorge) haben für den Beitrag grundsätzlich keinen Raum. Innerhalb der Vorsorge - insbesondere also der Sozialversicherung - macht es wiederum Unterschiede, wie diese Systeme nach Risiken und/oder Gruppen gegliedert sind. Die Tendenz scheint zu sein, daß mit der Differenzierung die Funktion des Beitrages (zumindest die Möglichkeit seiner Anwendung) steigt. Je allgemeiner ein Sytem sozialer Vorsorge in personeller und/oder sachlicher Hinsicht ausgreift, desto geringer werden die Unterschiede zwischen Beitrag und Steuer. Die Funktion des Beitrags ist wiederum unterschiedlich je nachdem, ob es sich um eine Differenzierung nach Gruppen, nach Risiken oder nach beidem handelt. Umgekehrt entspricht einer Vorentscheidung für Beiträge offenbar auch eine Tendenz zu subjektiv-gruppenspezifischer oder objektiv-risikospezifischer Sicherung. Eine andere Unterscheidung ist wiederum die nach dem Entwicklungsstand des Landes. Beitragspflichten setzen Einkommen voraus, von denen der Beitrag berechnet, bezahlt und notfalls eingezogen werden kann. Je weiter von diesem Muster abgewichen wird (Naturalwirtschaft, Arbeitsleben in z. B. familiären Großverbänden, unständige Beschäftigung, Unterbeschäftigung usw.), desto weniger kann der Beitrag eingesetzt werden. Die Rolle des Beitrags ist notwendigerweise sehr unterschiedlich, je nachdem, ob es sich um staatliche (oder sonstwie öffentlich-rechtliche), tarifliche, betriebliche oder gruppengetragene (berufliche) Institutionen sozialer Sicherung oder endlich um reine Privatversicherung (Individualversicherung) handelt. Insbesondere geht es darum, ob ein System überhaupt die Möglichkeit hat, seine Mittel aus einem laufenden Aufkommen zu beziehen, das dem Bedarf angepaßt werden kann (Steuermittel, Zwangsbeiträge), oder ob - wie bei langfristigen Risiken in der Privatversicherung notwendig - die Beiträge apriori so bemessen sein müssen, daß sie die Bedarfe decken. Eng mit diesen Unterschieden hängt auch die Gliederung in allgemeine und Zusatzsysteme (betrieblicher, beruflicher usw. Art) zusammen.
4. Beitrag und individuelle Zuordnung der sozialen Sicherung a) Die Grundkonstellation: Die Identität von Beitragszahlern und Gesicl1erten
Der Beitrag stellt einen spezifischen Zusammenhang zwischen der zu sichernden, Beiträge zahlenden Person und der Sicherung her: zunächst als Motivation für den Beitrag (für den Anteil an der Mittelaufbrin-
Vorbereitende Ausarbeitung
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gung), sodann als Titel für einen geschützten Besitzstand (der Anspruch auf soziale Sicherung wird zu einer Art Eigentum). Dem entspricht die Notwendigkeit, den jeweils erfaßten Personenkreis durch plausible, sozial akzeptable und technisch praktikable Regeln abzugrenzen. Ein weiterer Schritt ist es dann, diese Personenkreise auch als Solidargemeinschaften (personale Gruppen, konstituiert durch die gemeinsame Bedrohung und durch ein bestimmtes vorsorgefähiges Risiko sowie durch die gemeinsame Vorsorge hiergegen) zu begreifen, die enger sind als die allgemeine staatliche Sozialgemeinschaft. Wie schon unter dem Gesichtspunkt der risiko- und gruppenspezifischen Tendenz des Beitrags bemerkt, nehmen mit der Allgemeinheit eines Sicherungssystems Möglichkeit und Funktion des Beitrages ab. Man kann dementsprechend auch sagen, daß Beiträge der Ausweitung sozialer Sicherung auf möglichst alle Bürger ("Staatsbürgerversorgung") entgegenwirken. b) Die Abweichung: Die Nichtidentität von Beitragszahlem und Gesicherten
Ein besonderes Problem stellt die Inkongruenz von Begünstigten und Beitragszahlern dar. Fürs erste können wohl drei Gruppen unterschieden werden: -
die Erstreckung der Leistungen auf Abhängige (Beispiel: der Familienvater zahlt Beitrag; die Familienangehörigen jedoch sind mitgesichert) ;
-
Dritte übernehmen die Beiträge ganz oder teilweise, weil das System auch sie begünstigt (Beispiele: Arbeitgeberbeiträge zur Unfallversicherung bei Einfluß dieser Versicherung auf die Arbeitgeberhaftung; Arbeitgeberbeiträge zum Familienlastenausgleich unter der Voraussetzung, daß die Arbeitgeber zu "Familienlöhnen" verpflichtet wären);
-
Beiträge Dritter aus sozialer Haftung oder Garantie (Arbeitgeberbeiträge, betriebliche Beiträge).
Auf andere Weise besteht Nichtidentität von Beitragszahlern und Begünstigten, wenn der Kreis der Beitragspflichtigen enger ist als der der Begünstigten, indem eine Einrichtung von den Leistungsfähigen durch Beiträge finanziert wird, während die Einrichtung auch anderen nützt. (So soll der nationale Gesundheitsdienst in Chile von einem Teil seiner Destinatäre durch Beiträge finanziert werden, allen aber zugänglich sein.)
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Hans F. Zacher
c) Beitrag und Zugang zur sozialen Sicherung
Das Beitragssystem hat eine restriktive Wirkung auf den Zugang zur sozialen Sicherung. Das gilt zunächst mittelbar kraft des Zusammenhanges zwischen dem Beitrag und der Notwendigkeit, Solidargemeinschaften zu bilden. Die Gruppenzugehörigkeit wird zur Bedingung sozialer Sicherung. Es gilt aber auch in einem allgemeineren Sinn. Nur wer beitragsfähig ist, ist vorsorgefähig. Wer nichts einzahlen kann - und zu wessen Gunsten auch niemand verpflichtet ist, einzuzahlen - kann grundsätzlich nicht gesichert werden. Das Problem wird diskutiert etwa für die Sozialversicherung von Behinderten oder von Hausfrauen. Je nach dem Ausbau des Gesamtsystems sozialer Sicherung entsteht dadurch aber auch ein Verlagerungseffekt innerhalb des Gesamtsystems. Verliert jemand sein Erwerbseinkommen und damit seine Beitragsfähigkeit, wird sein Erwerbseinkommen aber durch ein Sozialeinkommen ersetzt, so erhebt sich die Frage, ob andere soziale Sicherungen dadurch beeinträchtigt werden. Das Problem zeigt sich etwa an der Krankenversicherung für Rentner. Vier Möglichkeiten scheinen zu bestehen: -
mit dem Einkommen erlischt die Beitragsfähigkeit und damit die Sicherung;
-
der Beitrag kann/muß aus dem Sozialeinkommen gezahlt werden und die Sicherung bleibt so erhalten;
-
die Beitragszahlung ist Bestandteil der Einkommensersatzleistung (der Beitrag wird fallweise oder pauschal an das andere Sicherungssystem überwiesen);
-
oder das andere Sicherungssystem wird nunmehr ohne Beitrag zugängig (die Beitragszahler der Solidargemeinschaft übernehmen das Risiko derer, die ohne Erwerbseinkommen sind, mit).
Besonders aktuell ist diese Verlagerung mit steigender Arbeitslosenquote: wie z. B. wird die Rentenversicherung der Arbeitslosen sichergestellt? d) Beitrag und Mobilität
In den Rahmen der individuellen Zuordnung gehört auch noch das Wanderungsproblem. Nachdem die soziale Sicherung vermittels des Beitrags an jeweils partikulare Solidargemeinschaften und entsprechende Sicherungsinstitutionen geknüpft ist, entstehen bei dem Wechsel der Solidargemeinschaft durch örtliche oder soziale, insbesondere berufliche Veränderung oder dgl. Friktionen. Die Regelungen der SystemBegegnung (z. B. Übergang zwischen verschiedenen Systemen desselben
Vorbereitende Ausarbeitung
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Rechtsbereiches; internationales Sozialversicherungsrecht) sind Ausdruck dieser Schwierigkeiten.
5. Systemimmanente Wirkungen Der Beitrag ist eine Maßgröße im Sinne der Schlüsse -
vom Einkommen (von der Leistungsfähigkeit) und von der entsprechenden Gefahr des Einkommensverlusts auf den Beitrag;
-
vom Einkommen auf den Lebensstandard und somit auf ein verwandtes Schutzgut der sozialen Sicherung, soweit diese auf Erhaltung des Lebensstandards zielt;
-
vom Beitrag auf die Leistung, die dadurch in eine Relation zu dem (zu substituierenden) Einkommen und/oder Lebensstandard gesetzt wird.
Beiträgen entsprechen spezifische Techniken, die Aufbringung der Mittel und die Aufgaben auszubalancieren. Das kann etwa ex post geschehen, wenn bei der Unfallversicherung der Schadens aufwand nachträglich umgelegt wird und damit auch das Interesse der Beitrags< zahler an der Schadensverhütung maximiert wird. Ein Ausgleich kann kurzfristig auch prognostisch vorgenommen werden (etwa bei dei Krankenversicherung). Eine mittel- oder langfristige Prognose ist fü) die Rentenversicherung typisch. Vermutlich sehr unterschiedlich zu beurteilen ist, inwieweit durch Beiträge verhaltenssteuernde Wirkungen ausgelöst werden können, so daß der Eintritt des sozialen Risikos in erster Linie bekämpft und erst subsidiär ausgeglichen wird (z. B. Unfallbekämpfung durch das Interesse an niedrigen Unfallversicherungsbeiträgen oder Krankheitsbekämpfung durch die Gestaltung der Krankenversicherungsbeiträge).
6. Organisatorische Bedeutung Indem Beiträge mit spezifischen Solidargemeinschaften und Sicherungseinrichtungen zusammenhängen, entspricht ihnen auch ein Zusammenhang mit organisatorischer Verselbständigung der sozialen Sicherung. Soziale Sicherung in Selbstverwaltung verlangt nach Beiträgen als einer adäquaten Finanzierungsquelle. Beiträgen als Finanzierungsmittel entspricht die Sammlung in besonderen Fonds und deren Ausgabe durch besondere Verwaltungen. Die Beitragszahlung ist außerdem ein besonderer Titel für Partizipation der Beitragszahler (der Gesicherten oder auch ihrer Garanten, z. B. der Arbeitgeber) in den Organisationen der sozialen Sicherung.
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In diesem Sinne stehen Beitragssysteme in Zusammenhang mit allgemeineren Prinzipien wie Subsidiarität und Autonomie.
7. Finanzwirtschaftliche und -politische Bedeutung a) Die Zweckbindung der Beiträge
Beiträge bedeuten - entsprechend auch ihrem organisationspolitischen Zusammenhang - grundsätzlich die Aussonderung von besonderen "Haushalten" aus dem allgemeinen Staatshaushalt, die prinzipielle Zweckbindung der durch die Beiträge aufgebrachten Mittel und möglicherweise auch, daß gewisse Aufgaben nur mit den durch Beiträge aufgebrachten Mitteln bewältigt werden dürfen oder können. Die Wirkungen sind ambivalent. -
Für die Aufgaben, denen die Beiträge zugeordnet sind, stehen diese Mittel zwar zur Verfügung. Bleiben aber Defizite, so bestehen Widerstände, die Mittel aus allgemeinen Haushalten zu ergänzen. Jedoch zeigt sich allgemein die Tendenz, diese Grenze zur komplementären Inanspruchnahme der allgemeineren Haushalte relativ leicht zu durchbrechen.
-
Die Mittel, die durch Beiträge aufgebracht werden, können für andere Zwecke nicht verwendet werden. Das kann wohltätig empfunden werden (wenn die konkurrierenden Ausgaben negiert werden - wie weitgehend etwa Verteidigungsausgaben). Das kann negativ beurteilt werden, wenn die konkurrierenden Ausgaben positiv beurteilt werden, wie etwa dort, wo andere sozialpolitische Zwecke wichtiger erscheinen. Allerdings zeigt sich eine Tendenz, die Zweckbindung der Beiträge zu vernachlässigen, die Grenze der beitragsgespeisten Haushalte also in der "Gegenrichtung" zu überschreiten. Das geschieht etwa in der Weise, daß Beiträge (Beitragsanteile, Beitragszuschläge, Parallelabgaben zu den Beiträgen) für allgemeine Haushaltszwecke, für besondere sozialpolitische Fonds, oder auch für andere Systeme sozialer Sicherung (möglicherweise auch zur Ergänzung von deren Beitragsaufkommen) in Anspruch genommen werden. Ähnliches geschieht durch Finanzausgleich zwischen verschiedenen beitragsgetragenen Systemen.
Der Sinn der Beitragssysteme kann freilich durch beide Extreme in Frage gestellt werden: sowohl durch ein übermäßiges Festhalten an der Kongruenz des Beitragsaufkommens mit den für den Beitragszweck zur Verfügung stehenden Mitteln als auch durch die beliebige Vernachlässigung des Beitragszwecks (sei es durch die Ergänzung der Beitragsmittel aus allgemeinen Haushaltsmitteln oder anderen Beitragsauf-
Vorbereitende Ausarbeitung
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kommen, sei es durch die Heranziehung der Beitragsmittel für andere - allgemeine oder besondere - Haushalte). b) Die Beiträge als Element der Diversifikation des finanzpolitischen Systems
In jedem Fall sind Beiträge ein Mittel, das finanzpolitische System aufzulockern. Das gilt zunächst im materiellen Sinn. Finanzpolitik steht immer vor der Spannung, daß eine an der Leistungsfähigkeit orientierte Steuer die gerechteste Abgabe zu sein scheint, daß aber praktische, insbesondere sozialpsychische Gründe die Konzentration des Abgabensystems auf eine oder auch nur wenige Steuern nicht erlauben. Beiträge sind eine sinnvolle Möglichkeit der Diversifikation. Das gilt ferner im institutionellen und prozessualen Sinn. Hätte die eine - meist periodische - Entscheidung über den allgemeinen Staatshaushalt uno actu alle Staatseinnahmen (oder deren Einschätzung) und die Spezifikation aller Staatsausgaben zu leisten, wären die Entscheidungsträger durch die Vielfalt der Alternativen und Kombinationen überfordert. Beitragssysteme nehmen Teilbereiche aus dieser Gesamtentscheidung heraus, entlasten so den zentralen finanzpolitischen Entscheidungsprozeß und bewirken, daß Entscheidungen über die Belange der Beitragssysteme in besonderen Entscheidungsgängen getroffen werden müssen.
8. Umverteilungswirkung Die Umverteilungswirkung von Beiträgen ist zunächst systemimmanent zu beurteilen. Es kommt darauf an, in welchem Verhältnis die Beiträge sich zu den Einkommen und die Leistungen sich zu den Beiträgen verhalten. Für das Verhältnis der Beiträge zu den Einkommen ist an die Möglichkeit fixer, proportionaler oder progressiver Beiträge sowie an die Festsetzung von Beitragsbemessungsgrenzen nach unten oder oben zu denken. Für das Verhältnis der Leistungen zu den Beiträgen ist etwa daran zu denken, daß Sachaufwendungen (wie Heilungskosten) grundsätzlich einkommensunabhängig sind, so daß ein einkommensbezogener Beitrag Umverteilungstendenz hat. Für Einkommensersatzleistungen ist zu unterscheiden, in welchem Verhältnis diese zu Einkommen und Beiträgen stehen. Zu denken ist auch an die Umverteilungswirkung von Leistungen an Familienangehörige, für die nur der "Verdiener" Beiträge zahlt.
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Hans F. Zacher
Von diesen Problemen zu unterscheiden ist die Gesamt-Umverteilungswirkung im nationalen Finanzsystem. Hier kommt es darauf an, wie die konkurrierenden Abgaben gestaltet sind. Die Umverteilungswirkung von Beiträgen ist anders zu beurteilen neben einem Steuersystem, das von direkten Steuern dominiert wird, als neben einem Steuersystem, das von indirekten Steuern dominiert wird.
DRITTER TEIL
Die vorbereitenden Landesberichte Fragebogen für die Landesberichterstatter zu dem Thema
"Die Rolle des Beitrags in der sozialen Sicherung" Abgrenzungen 1. Soziale Sicherung im Sinne der folgenden Fragen ist soziale Sicherung gegen die Risiken
-
der Krankheit der Invalidität des Alters des Todes unter Zurücklassung unterhaltsabhängiger Hinterbliebener des Arbeitsunfalles (und der damit verbundenen Risiken von Krankheit, Invalidität und Tod) und der Arbeitslosigkeit
etwa i. S. des übereinkommens Nr. 102 der Internationalen Arbeitsorganisation. Die Probleme einer besonderen Sicherung für den Fall der Mutterschaft (außerhalb der Sicherung gegen den Krankheitsfall) sowie von Familienleistungen (die nicht in Sozialleistungen enthalten sind, die zur Sicherung gegen die vorgenannten Risiken dienen) werden vernachlässigt. 2. Soziale Sicherung im Sinne der folgenden Fragen ist nicht nur die soziale Sicherung gegen den Einkommensausfall, sondern auch die jeweilige Leistung notwendiger Dienst- und Sachleistungen (insbesondere der Behandlung und Pflege im Krankheitsfall). 3. Gefragt sind: a) spezifische Systeme, die der Vorsorge gegen eine oder mehrere der genannten sozialen Gefahren dienen (Hauptbeispiel: Sozialversicherung), nicht dagegen Systeme, die dem Ausgleich politisch verur-
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Rechtsvergleichender Fragebogen sachter Schäden dienen (insbesondere Systeme der Kriegsopferversorgung), und auch nicht allgemeine Systeme zur Bekämpfung von Armut und Not (Fürsorge, Sozialhilfe),
b) allgemeine Systeme, durch welche die Mehrheit der Bevölkerung gesichert ist, nicht jedoch Sondersysteme für einzelne Gruppen (auch nicht etwa Sondersysteme für den öffentlichen Dienst), c) öffentlich-rechtliche Systeme, nicht dagegen arbeitsrechtliche (betriebliche, tarifvertragliche) oder privatversicherungsrechtliche Systeme, ebensowenig Institutionen privater Wohltätigkeit. 4. In den Einzelheiten wird es oft nicht möglich sein, die Vielfalt der Ausnahmen zu beschreiben. Es steht im Ermessen des Berichterstatters, inwieweit er neben den Regelerscheinungen auch die Ausnahmen beschreibt. Jedoch sollte auf die Existenz von Ausnahmen und ihren Charakter stets hingewiesen werden. Hervortreten sollte das Typische. Um dieses sichtbar zu machen, bedarf es aber nicht selten der Atmosphäre des Atypischen, die das Typische umgibt.
Die Fragen A. Vorfragen zur allgemeinen Orientierung
Hier wird gebeten, eine Übersicht zu den folgenden Fragen voranzustellen: I. Welche Systeme sozialer Sicherung (einschließlich sozialer Dienstleistungen) werden im folgenden zugrunde gelegt und beschrieben?
-
Gegenstand (Risiko) Gesicherter Personenkreis Leistungen Träger (Einrichtung)
II. Welche allgemeinen öffentlichen Haushalte und eventuell für die soziale Sicherung einschlägigen Sonderfonds werden unterschieden? Auf der Ebene
-
des Staates von Regionen, Provinzen, Bezirken, Gemeinden usw. von besonderen Einrichtungen (Körperschaften, Anstalten usw.).
Aus welchen Einkünften werden diese Haushalte (Fonds) in erster Linie gespeist?
Rechtsvergleichender Fragebogen
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B. Besondere Fragestellungen
Diese Fragen sollten jeweils gesondert und in sich zusammenhängend für die verschiedenen Risiken (s. Vorbemerkung 1) erörtert werden.
I. Die Rolle des Beitrags bei der Finanzierung der sozialen Sicherung 1. Werden die gefragten Systeme aus
-
Beiträgen anderen besonderen Abgaben (besonderen Steuern usw.) den allgemeinen öffentlichen Einnahmen (den allgemeinen Haushalten) oder aus anderen Quellen finanziert?
2. Wenn für ein- und dasselbe System mehrere Finanzierungen in Betracht kommen: in welchem Verhältnis stehen sie zueinander? II. Zusammenhang zwischen Personenkreis und Finanzierung 1. Besteht ein allgemeiner Zusammenhang zwischen dem durch das System gesicherten Personenkreis und der Finanzierung durch Beiträge oder durch andere Mittel? Insbesondere: erklärt sich hieraus die Beschränkung oder Konzentration eines Systems auf Arbeitnehmer oder ähnliche Gruppen?
2. Gibt es Personen, die zur Vorsorge verpflichtet sind (Versicherungspflichtige), und solche, die dazu berechtigt sind (freiwillig Versicherte)? Wie unterscheiden sie sich grundsätzlich hinsichtlich der Beitragspflicht? (Einzelheiten eventuell zu den weiteren Fragen). 3. a) Werden die Beiträge von den gesicherten Personen selbst oder für sie von anderen aufgebracht, z. B. -
vom Arbeitgeber vom Unterhaltspflichtigen von anderen Sozialleistungssystemen (z. B. von der Rentenversicherung für die Krankenversicherung der Rentner)? Gegebenenfalls: ganz oder zu welchen Anteilen?
b) In welchem Maße treten an die Stelle von Beiträgen pauschale Zuschüsse aus anderen Haushalten oder ähnliche Leistungen Dritter? 4. Gibt es neben den beitragspflichtigen gesicherten Personen auch gesicherte Personen, die allgemein oder vorübergehend keine Beiträge zu zahlen haben? Zum Beispiel 3 Soziale Sicherung
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-
Rechtsvergleichender Fragebogen
unterhaltsabhängige Personen (Ehegatten, Kinder) andere Personen ohne Einkommen.
5. Wenn die Beiträge am Einkommen orientiert sind: in welchen Perioden werden die Einkommen ermittelt? IH. Zusammenhänge zwischen Risiken, Leistungen und Finanzierung 1. Gibt es einen allgemeinen Zusammenhang zwischen
-
dem jeweils gedeckten Risiko, der Gestaltung der zur Deckung des Risikos vorgesehenen Leistungen und der Finanzierung (insbesondere der Finanzierung durch Beiträge oder ohne Beiträge)?
2. In welcher Weise besteht ein Zusammenhang zwischen jeweils dem - Einkommen - dem von ihnen oder für sie zu zahlenden (gezahlten) Beitrag und - der Art und der Höhe der Leistungen, die für sie vorgesehen sind? 3. Gibt es Mindest- und Höchstbeiträge (oder Mindest- und Höchsteinkommen), an denen die Bemessung der Beiträge orientiert ist? Wie wirkt sich die Begrenzung auf die Leistung aus? 4. Wenn es keinen Zusammenhang zwischen Einkommen und Beitrag gibt: wie werden die Beiträge bemessen? IV. Zusammenhang zwischen Organisation und Finanzierung 1. Gibt es einen allgemeinen Zusammenhang zwischen der Organisation der sozialen Sicherung und ihrer Finanzierung? Decken sich insbesondere
-
-
die Finanzierung aus allgemeinen Haushaltsmitteln und die soziale Sicherung durch allgemeine Verwaltungsträger (Staat, Gemeinden usw.) sowie die Finanzierung durch Beiträge und die soziale Sicherung durch besondere Verwaltungseinheiten (rechtsfähige Anstalten, Körperschaften usw.)? 2. In welcher Weise vermittelt die Stellung als
-
gesicherte Person und/oder Beitragszahler (nicht nur als gesicherte Person, sondern auch als Arbeitgeber usw.)
Rechtsvergleichender Fragebogen
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eine Mitwirkung in der Verwaltung der Einrichtung sozialer Sicherung, bei der Beitragsgestaltung, bei der Leistungsgestaltung usw.? 3. Wie werden die Beiträge gezahlt und eingezogen? a) Werden sie gezahlt - durch die gesicherten Personen selbst - durch ihre Arbeitgeber -
durch berufständische Organisationen oder ähnliches oder sonstwie?
b) Werden die Beiträge eingezogen - jeweils durch die spezifische Einrichtung sozialer Sicherung - für mehrere Einrichtungen sozialer Sicherung gemeinsam - zusammen mit anderen öffentlichen Abgaben oder - sonstwie? 4. Gibt es zwischen mehreren Trägern sozialer Leistungen oder zwischen mehreren Leistungssystemen eines Trägers einen Finanzausgleich -
innerhalb eines Sicherungssystems für ein- und dasselbe soziale Risiko oder für verschiedene soziale Risiken? V. Beitrag und Anwartschaft
1. Hängt eine Leistung -
dem Grunde oder der Höhe
nach davon ab, daß die geschuldeten Beiträge gezahlt werden? 2. Vermittelt die Zahlung von Beiträgen eine besonders anerkannte Rechtsposition, etwa -
ein eigentumsähnliches Recht auf die jeweilige Sozialleistung oder einen Anspruch auf Beitragserstattung unter bestimmten Voraussetzungen der Beendigung des Sicherungsverhältnisses? C. Grundsatzfragen
1. Wie hat sich die Rolle des Beitrags bei der Finanzierung der sozialen Sicherung im Laufe der Zeit entwickelt? 11. Wird derzeit diskutiert, ob, in welchem Umfang und auf welche Weise soziale Sicherung durch Beiträge finanziert werden soll? 3'
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Rechtsvergleichender"Fragebogen
II!. Läßt sich erkennen, welche Gründe vor allem dafür maßgeblich sind, ob, in welchem Umfang und auf welche Weise soziale Sicherung durch Beiträge finanziert wird?
Landesbericht für Großbritannien* Von Julian Fulbrook
Vorbemerkungen 1. National Insurance
Das Hauptmerkmal des britischen Systems sozialer Sicherheit ist seit seinen modernen Anfängen im Jahre 1911 das Beitragsprinzip in der National Insurance. Diese Behauptung wird jedoch durch Widersprüche und Ausnahmen so weit relativiert, daß sie als vollständige Beschreibung zu einem politischen und sozialen Gemeinplatz zu werden droht. Das britische System ist theoretisch ein "zweistöckiges" System. Die Gesetzesreformen von 1911 und 1946 unter Beveridge sahen ein Sozialversicherungssystem vor, dessen Leistungen weit über die des allgemeinen Fürsorgesystems hinausgingen. Die· versicherungsmathematische Äquivalenz von Beiträgen und zukünftigen Leistungen war der attraktive Hauptbestandteil der neuen Vorschläge, der sicherstellte, daß die Errichtung der National Insurance im Jahre 1911 und ihre beträchtliche Erweiterung im Jahre 1946 im Gefolge des Beveridge-Berichts auf wenig Widerstand stießen. Das alte Fürsorgesystem, das auf das Poor Law aus dem Jahre 1601 zurückging, sollte danach "allmählich verschwinden". Theoretisch lag der Unterschied beider Systeme in der Finanzierung: in der National Insurance leistete ein Arbeiter bestimmte Beiträge, um sich gegen den aus bestimmten Risiken folgenden Einkommensausfall zu schützen, wohingegen das Fürsorgesystem aus allgemeinen Steuermitteln finanziert wurde.
In der Praxis basiert die National Insurance nicht länger auf versicherungsmathematischen Überlegungen, sofern dies historisch überhaupt jemals richtig gewesen sein sollte. In ökonomischer Sicht sind natürlich alle Beiträge und Leistungen ohne Rücksicht auf ihre besondere Form Umverteilungen im Kreislauf der Volkswirtschaft. Der Unterschied zwischen Sozialversicherung und Fürsorge sollte also eher in ihrer Funktion gesehen werden und nicht der Versuch unternommen werden, besondere Unterschiede in der Finanzierung zu finden. Ein augenfälliger Unterschied liegt darin, daß die Leistungen der National
* übersetzung aus dem Englischen: Grita Schock und Thomas Simons.
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Julian Fulbrook
Insurance gesetzlich in bestimmter Höhe im Verhältnis zu den Beiträgen festgelegt sind. Auch können die zuständigen Behörden ihren Betrag weder erhöhen noch kürzen, obwohl sie die Befugnis haben, von Leistungen auszuschließen, wobei gegen eine solche Entscheidung allerdings Rechtsmittel eingelegt werden können. Art und Höhe von Beiträgen und Leistungen sind also gesetzlich festgelegt. Zum zweiten arbeitet die National Insurance auf einer quasi-vertraglichen Grundlage, die ohne eine Bedürftigkeitsprüfung auskommt. Dies mindert die Möglichkeit der Stigmatisierung, fördert Routine und Regelmäßigkeit im Verwaltungsablauf und senkt die Kosten. 2. Die Sonderstellung des Staatliclten Gesundheitsdienstes in Großbritannien
Obwohl Einkommenssicherung und staatliche medizinische Versorgung augenfällig in praktischer Wechselbeziehung stehen, verbindet man in Großbritannien mit dem Begriff "social security" im allgemeinen nicht den Leistungsbereich der medizinischen Versorgung. Bis zum Jahre 1968, als das Department of Health and Social Security (Ministerium für Gesundheit und soziale Sicherheit) errichtet wurde, bestand eine völlige verwaltungsmäßige Trennung zwischen dem Ministry of Health (Gesundheitsministerium) und dem Ministry of National Insurance (Sozialversicherungsministerium). Auch heute noch existiert im Ministerium eine strenge Scheidung beider Bereiche, und es ist schwierig, gemeinsame Gebiete der natürlich bestehenden praktischen Bezüge zu bestimmen. Ausländischen Beobachtern mag diese Trennung verwirrend und unpraktisch erscheinen. Sie entspricht jedoch sowohl der administrativen Praxis als auch der wissenschaftlichen Lehre. So enthält z. B. keines der beiden wichtigsten Lehrbücher über das britische Recht der sozialen Sicherheit im Register eine Eintragung zu einer staatlichen Krankenversicherung (National Health Insurance). Der britische staatliche Gesundheitsdienst (National Health Service) €ntstand aus einer während des Zweiten Weltkriegs eingerichteten medizinischen Notversorgung, der sog. Emergency Medical Services, und im Gefolge der Empfehlung des Beveridge Berichts aus dem Jahre 1942, einen umfangreichen Gesundheitsdienst einzurichten. Dieser Gesundheitsdienst, der durch den National Health Service Act von 1946 ins Leben gerufen wurde, ist darauf ausgerichtet, für alle Bürger unabhängig von Wohnsitz, Nationalität oder Mitgliedschaft bei einer Versicherung unentgeltlich (oder nur gegen geringe Rezeptgebühren) sämtliche Formen der medizinischen Versorgung bereitzustellen. Von einzelnen kleineren, karitativ geprägten Maßnahmen abgesehen, wird er
Landesbericht für Großbritannien
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aus allgemeinen Steuermitteln finanziert und steht nicht in Verbindung mit dem System der Einkommenssicherung. Seine Leistungen sind keineswegs nur auf diejenigen beschränkt, die Beiträge einzahlen. Im wöchentlichen Beitrag zur National Insurance ist ein gesonderter kleiner Teil für den Gesundheitsdienst enthalten, der aber keinen besonderen Leistungsanspruch gibt und im wesentlichen nur eine Form der Besteuerung darstellt. Da der britische Gesundheitsdienst weder durch persönliche noch durch institutionelle (z. B. betriebsbezogene) Beiträge finanziert wird, habe ich in dieser Ausarbeitung auf eine eingehendere Betrachtung der medizinischen Versorgung verzichtet und mich auf den Bereich der "social security" im britischen Sinne konzentriert. 3. Die Sonderstellung der sozialen Dienste in Großbritannien
Für den Vergleich des britischen Systems sozialer Sicherheit mit dem anderer Länder liegt eine zusätzliche Schwierigkeit darin, daß in Großbritannien bestimmte Einrichtungen der sozialen Dienste gänzlich außerhalb der umfassenden allgemeinen Systeme der National Insurance und der Supplementary Benefits* stehen. Nur diese beiden letzteren Systeme werden von britischen Autoren als "social security" bezeichnet. Andere Leistungen, die nicht weniger wichtig sind, aber nicht ausschließlich der Einkommenssicherung dienen, werden von Local Government Councils auf der kommunalen Ebene erbracht. Die Unterscheidung zwischen Supplementary Benefits und den von den örtlichen Sozialbehörden (local Social Service Departments of aBorough or County Councils) erbrachten Bar- oder Sachleistungen ist in der Praxis von nur geringer Bedeutung. Die sozialen Einrichtungen auf der lokalen Ebene werden hauptsächlich durch "rates" finanziert, eine kommunale Besteuerung des Grundeigentums (property occupation). Es besteht daher kaum ein Bezug zwischen dem Mittelbedarf eines Stadtbezirks (borough) oder eines Kreises (county) und dem Betrag, der über die Kommunalabgaben aufgebracht wird; in einem als Rate Support Grant (staatliche Mittelzuweisung zur Stützung der Kommunalabgaben) bezeichneten zentralen System werden deshalb zum Ausgleich von Unterschieden staatliche Mittel aus dem allgemeinen Steuerhaushalt zugeschossen. Es ist eher eine Untertreibung, wenn gesagt wird, daß dies auf eine wenig geschickte Weise geschehe.
* Anmerkung der übersetzer: Supplementary Benefits ist das staatliche System der vorleistungsfrei gewährten Leistungen zur Basissicherung des Einkommens.
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Die sozialen Dienste sind typischerweise in drei Bereiche gegliedert: Sozialarbeit in der Gemeinde und in Verbindung mit Krankenhäusern und anderen Einrichtungen, mit der oft Sachleistungen und auch kleinere Zuschüsse verbunden sind; Einrichtungen der Tageshilfe (day care facilities), wie z. B. Haushaltshilfen für Alte und Behinderte (horne helps for the elderly and disabled), "Essen auf Rädern" (meals-onwheels), Mittagstische (luncheon clubs) und Vorschuleinrichtungen für Kinder (pre-school facilities for children), Heimunterbringung von geistig Behinderten, Alten und gefährdeten Jugendlichen. Eine vollständige Beschreibung dieser Einrichtungen müßte sehr weit ausgreifen, weil auf der regionalen und örtlichen Ebene erhebliche Unterschiede bestehen. Der Hauptgrund für diese Unterschiede ist politischer Natur, aber auch andere Faktoren spielen eine Rolle, wie die historische Entwicklung, die Finanzi~rung durch Kommunalabgaben im Stadtbezirk, die Persönlichkeit einzelner Beamter und gewählter Mitglieder sowie die Wahrnehmung der Bedürfnisse durch die Wählerschaft. Jede örtliche Behörde ist gesetzlich zur Festlegung eines jährlichen Steuers atz es verpflichtet, wobei der Haushalt für die sozialen Dienste zusammen mit der Vielzahl der anderen Dienstleistungen der Gemeinde, die von Mittelzuweisungen bis zur Planungskontrolle, von der Bereitstellung von Büchereimitteln bis zur Fahrzeugüberprüfung reichen, genau geprüft wird. Dieser Steuersatz wird dann von den Grundeigentümern in Form eines Prozentsatzes von dem in Ansatz gebrachten Vermögen gezahlt, das nach dem Pachtwert des Grundeigentums auf dem freien Markt berechnet wird. Da es wiederum keine besonderen Beiträge gibt, die direkt mit dem Erhalt von Leistungen verknüpft sind, habe ich die eingehendere Betrachtung dieser Dienste aus der vorliegenden Erörterung der Rolle der Beiträge bei der Finanzierung der sozialen Sicherheit ausgeklammert. Wenn dies auch als eine enge Auslegung des Begriffs der sozialen Sicherheit erscheinen mag, so wird darin doch die britische Konzeption dieses Begriffes exakt im Sinne des Gebrauches von "social security" wiedergegeben.
A. Vorfragen zur allgemeinen Orientierung 1. Als wesentlich ist zunächst vorauszuschicken, daß sich die Grenzen zwischen dem britischen System der National Insurance und dem System der Fürsorgeleistungen zunehmend verwischt haben. Im folgenden wird jetzt eine kurze Aufzählung der im Beitragssystem erbrachten Sozialversicherungsleistungen gegeben: Leistungen bei Arbeitslosigkeit Leistungen bei Krankheit Leistungen bei Invalidität
(Unemployment Benefit) (Sickness Benefit) (Invalidity Benefit)
Landesbericht für Großbritannien Leistungen bei Mutterschaft Leistungen bei Tod Familienleistungen Leistungen an Verwitwete Altersrenten Leistungen bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten
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(Maternity Benefit) (Death Grant) (Guardian's Allowance and Child's Special Allowance) (Widow's Benefit) (Retirement Pension) (Industrial Injury Benefit, Industrial Disablement Benefit)
Sämtliche anderen Leistungen, einschließlich der auf der örtlichen Ebene erbrachten sozialen Dienste, werden über das allgemeine Steuersystem finanziert Die meisten Kosten verursacht davon das System der Supplementary Benefits, die moderne Bezeichnung für die Fürsorgeleistungen. Daneben gibt es jedoch noch andere wichtige Leistungsformen, die zwar ohne vorherige Beitragszahlung erbracht werden, die jedoch das System der Beitragsleistungen widerspiegeln oder auch erweitern: so z. B. beitragsfreie Renten bei Invalidität (non-contributory invalidity pensions), Pflegegeld (attendance allowances), Leistungen an bewegungs behinderte Personen (mobility allowances), Kindergeld (Child Benefits), Familieneinkommenshilfen (Family Income Supplement) und Sonderhilfen bei bestimmten Krankheiten (Miscellaneous Diseases Benefit Scheme). Kriegsopferrenten (War Pensions) haben ein eigenes vorteilhafteres System. 11. Das britische System der sozialen Einkommenssicherung ("social security") ist ein staatliches Pflichtversicherungssystem. Ein Teil der örtlichen sozialen Dienste wird über kommunale Abgaben finanziert; im allgemeinen wird jedoch im System der Einkommenssicherung nicht nach Regionen, Provinzen oder Gemeinden differenziert, insbesondere nicht im Zusammenhang mit der Zahlung von Beiträgen. Die Aufgliederung der Einnahmen des National Insurance Fund, aus dem die Leistungen der National Insurance erbracht werden, stellt sich für das Jahr 1975 (das letzte Jahr, für das nach Einzelposten aufgeschlüsselte Daten vorliegen) in der folgenden Weise dar: Einheitsbeiträge (flat-rate contributions) von Arbeitgebern und Versicherten ..................... . Zuweisungen aus dem allgemeinen Steueraufkommen ... . Einkommensbezogene Beiträge von Arbeitgebern und Versicherten ......................... . Anstelle von Beiträgen geleistete Zahlungen ............. . Einkünfte aus Kapitalanlagen ................ , .......... . Übertragung aus Rücklagen ............................. . Andere Einnahmen ..................................... .
f, f,
2040241000 817000000
f, f, f, f, f,
2804062000 24408000 71465000 38647000 124000
f,
5795947000
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Für eine Aufschlüsselung nach dem Einkommen der Beitragszahler stehen Zahlenwerte nicht zur Verfügung. Doch läßt sich hierzu folgendes anführen: im Finanzjahr 1977/78 setzte die Beitragspflicht zu den "flat-rate contributions" (Einheitsbeiträgen) ein Einkommen von mehr als f, 15 pro Woche voraus. Die einkommensbezogenen Beiträge bestanden in einem Prozentsatz des zwischen f, 15 und f, 105 pro Woche liegenden Einkommens des Versicherten. Der dabei zugrunde gelegte Prozentsatz ist davon abhängig, ob ein Arbeitnehmer dem staatlichen System der zusätzlichen einkommensbezogenen Sicherung angehört oder ob für ihn von der Möglichkeit des "contracting-out"* Gebrauch gemacht wurde. Im letzteren Falle beträgt der Prozentsatz 5,75 0/0; wurde von der Möglichkeit des "contracting-out" kein Gebrauch gemacht, so liegt der Prozentsatz bei 6,5 Ofo. Während des Steuerjahres 1976/77 wurden für die folgende Anzahl von Personen Beiträge abgeführt: Arbeitnehmer alle Männer 14313000 Männer unter 65 J. .................... 14027000 Männer mit 65 J. oder darüber ....... . 286000 (2) Selbständige ......................... . 1151000 (3) Arbeitslose ........................... . 52000 Verheiratete Frauen (1) Arbeitnehmer ......................... . 2077 000 (2) Selbständige ......................... . 14000 (3) Arbeitslose ........................... . 8000 2652000 Andere Frauen (1) Arbeitnehmer ......................... . (2) Selbständige ......................... . 33000 30000 (3) Arbeitslose ........................... .
Männer
(1)
B. Besondere Fragestellungen I. Die Rolle des Beitrags bei der Finanzierung der sozialen Sicherheit
In Großbritannien gibt es keine besonderen Beiträge, die zu jeweils besonderen Leistungen berechtigen. Alle Beiträge zur National Insurance werden in den National Insurance Fund eingebracht, der dann aus dem allgemeinen Steueraufkommen aufgestockt wird. Die Einnahmen für 1977 gliedern sich folgendermaßen: * Anmerkung der Übersetzer: Die Zugehörigkeit des Versicherten zu einem privaten, insbesondere auf betrieblicher Ebene eingerichteten Versicherungs systems berechtigt unter bestimmten Voraussetzungen zur Befreiung von der Versicherungspflicht in dem öffentlichen einkommensbezogenen Zusatzsystem. Diese Befreiung aus dem öffentlichen System wird als "contracting-out" bezeichnet.
Landesbericht für Großbritannien Beiträge von Arbeitgebern und Versicherten ............. . Zuweisung aus dem allgemeinen Steueraufkommen ..... . Einkünfte aus Kapitalanlagen ........................... . Andere Einnahmen ..................................... .
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f f f f
7 729 426 000 1 387 000 000 280878000 312000
f
9397616000
Diese Aufstellung zeigt, daß etwa 15 Ofo der Einnahmen des National 1nsurance Fund aus dem allgemeinen Steueraufkommen und nicht aus Beiträgen aufgebracht werden. 11. Zusammenhang zwischen Personenkreis und Finanzierung 1. Es besteht eine unmittelbare Beziehung zwischen der Art des gezahlten Beitrages und den Leistungen, auf die ein Versicherter Anspruch hat. Um beispielsweise einen Anspruch gegen die National 1nsurance auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit zu haben, muß ein Antragsteller zur Vermittlung in ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis zur Verfügung stehen. Er ist dann Beitragsleistender in der Klasse Eins.
Dazu sei kurz angeführt, daß es nach der Reform des Sicherungssystems im April 1975 vier Beitragsklassen gibt: einkommensbezogene Beiträge der Klasse Eins werden von abhängig beschäftigten Arbeitnehmern und ihren Arbeitgebern geleistet; Einheitsbeiträge der Klasse Zwei werden von Selbständigen erbracht; Einheitsbeiträge der Klasse Drei werden freiwillig von nicht in einem Beschäftigungsverhältnis stehenden und anderen Personen gezahlt (in der Regel mit dem Ziel der Entrichtung einer bestimmten Zahl zusätzlicher Beiträge, um die Voraussetzungen für einen Leistungsanspruch zu erwerben); Beiträge der Klasse Vier werden schließlich von Selbständigen mit einem Einkommen zwischen f, 2000 und f, 6250 geleistet (im Grunde eine Form der Besteuerung, die 1975 eingeführt wurde). 2. Alle abhängig beschäftigten Personen müssen Pflichtbeiträge zur Sozialversicherung leisten, sofern sie mehr als f, 15 in der Woche verdienen. Das sind also die Angehörigen der Klassen Eins, Zwei und Drei. Eine freiwillige Versicherung gibt es auf zwei Ebenen: zunächst existiert eine blühende Privatversicherungswirtschaft für Risiken wie beispielsweise Krankheit und Alter; daneben gibt es den sehr beschränkten Bereich der Beiträge der Klasse Drei, die allein zu dem Zweck geleistet werden, dem Betroffenen den Leistungsanspruch zu sichern, wenn dazu die in einem Steuerjahr geleisteten Beiträge der Klassen Eins und Zwei nicht ausreichen. Diese letzteren Beiträge können unabhängig davon gezahlt werden, ob der Betroffene in einem Beschäftigungsverhältnis steht oder nicht.
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3. (a) Beiträge der Klassen Zwei und Vier werden von den selbständig beschäftigten Versicherten selbst gezahlt. Die einkommensbezogenen Beiträge der Klasse Eins setzen sich in folgender Weise zusammen: auf der einen Seite die von den Arbeitnehmern (primary Cl ass One contributions) und auf der anderen Seite die von ihren Arbeitgebern (secondary Class One contributions) gezahlten Beiträge. In dem Sonderfall einer in Großbritannien "office holders" genannten Gruppe von Personen, zu denen etwa die Direktoren von Wirtschaftsgesellschaften, Parlamentsmitglieder, Richter oder Stadträte gehören, wird der Arbeitgeberbeitrag nicht von einem Arbeitgeber im üblichen Sinne geleistet, sondern von der betroffenen Organisation oder dem Ministerium. Die Beiträge der Klasse Eins werden zugleich mit der Lohnsteuer im Wege des Lohn- bzw. Gehaltsabzuges erhoben. Die Unterscheidung zwischen Beitragszahlern der Klasse Eins und der Klasse Zwei hat zu einer beträchtlichen Anzahl von Rechtsstreitigkeiten geführt, in denen es um die Auslegung des Begriffs des "gainfully employed under a contract of service" ging (Erwerbstätigkeit in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis). Die Beitragspflicht in der Klasse Eins ist davon abhängig, daß das Arbeitseinkommen die jeweils geltende untere Einkommensgrenze überschreitet. Bis zum Beginn des Steuerjahres 1978/79 im April 1978 wurde der Beitrag in allen Fällen, in denen das Einkommen über diesen Mindestwert hinausging (im Steuerjahr 1977/78 f 15/Woche), in einem Prozentsatz von dem gesamten Einkommen bis zur oberen Einkommensgrenze erhoben (im Steuerjahr 1977/78 f 105/Woche). Der Arbeitnehmerbeitrag lag im Jahr 1977/78 bei 5,75010, der Arbeitgeberbeitrag bei 10,75010. In letzterem ist ein Beitrag von 2010 enthalten, der nach dem National Insurance Surcharge Act 1976 (Gesetz über eine Zuschlagszahlung zur Sozialversicherung) zu entrichten ist. Die durch diese Zuschlagszahlung aufgebrachten Mittel gehen nicht an den National Insurance Fund, sondern fließen dem allgemeinen staatlichen Steueraufkommen zu. Seit im April 1978 ein neues Rentensystem in Kraft trat, werden die Beiträge zwar weiterhin in Form eines Prozentsatzes von dem gesamten Einkommen bis zur oberen Einkommensgrenze erhoben (nach den im Jahre 1978/79 geltenden Einkommensgrenzen f 17,50 und f 120/Woche); die Höhe des Prozentsatzes ist seitdem jedoch davon abhängig, ob für das Arbeitsverhältnis des betroffenen Arbeitnehmers von der Möglichkeit des "contracting-out" (der Befreiung von dem einkommensbezogenen staatlichen Zusatzsystem) Gebrauch gemacht wurde. Für Arbeitnehmer, bei denen dies nicht der Fall ist, liegt der Beitragssatz bis zur oberen Bemessungs-
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grenze bei 6,5 Ofo für den Arbeitnehmerbeitrag und bei 12 Ofo (einschließlich des 20f0igen Zuschlages) für den Arbeitgeberbeitrag (Werte für 1978/79). Für Arbeitnehmer, für: die hingegen von der Möglichkeit des "contracting-out" Gebrauch gemacht wurde, gelten die gleichen Werte für den Arbeitnehmer- und den Arbeitgeberbeitrag nur bis zur unteren Einkommensbemessungsgrenze, während der Beitragssatz für das darüberliegende Einkommen bis zur oberen Bemessungsgrenze beim Arbeitnehmerbeitrag um 2,5 Ofo und beim Arbeitgeberbeitrag um 4,5 Ofo reduziert ist: die Beitragssätze für 1978/79 liegen dann also bei 4 Ofo und bei 7,5 Ofo. Gleichfalls seit April 1978 ist die Verpflichtung zur Leistung des Arbeitnehmerbeitrages nach der Erreichung des Mindestrentenalters (65 Jahre bei Männern, 60 Jahre bei Frauen) fortgefallen; die Arbeitgeberbeiträge werden nach der Erreichung dieses Alters zu dem für die volle Sicherung im staatlichen System abzuführenden Satz geschuldet, und zwar unabhängig davon, ob für den betreffenden Arbeitnehmer vor der Erreichung des Rentenalters von der Möglichkeit des "contracting-out" Gebrauch gemacht wurde oder nicht. (b) Zur Erläuterung der dem National Insurance Fund aus Kapitalinvestitionen zugeflossenen Einkünfte und der Übertragungen aus Rücklagen sei auf die beiden vorstehend angeführten Tabellen verwiesen. 4. Unterhaltsberechtigte Angehörige von Beitragspflichtigen sind in der National Insurance mitversichert, ohne daß es zusätzlicher Zahlungen für sie bedürfte. Arbeitnehmer, deren Arbeitseinkommen unterhalb der unteren Bemessungsgrenze von f, 15 pro Woche liegt (ein äußerst seltener Fall), sind von der Beitragspflicht befreit. Die Bezieher von Sozialeinkommen müssen ebenfalls keine Beiträge abführen; den Empfängern von Einkommensleistungen bei Arbeitslosigkeit werden Beiträge gutgeschrieben. 5. Maßstab ist das britische Steuerjahr, das jeweils vom 5. April bis zum folgenden 4. April reicht. 111. Zusammenhänge zwisdten Risiken, Leistungen und Finanzierung
1. und 2. Das Beveridge-System beruhte auf Einheitsbeiträgen und einheitlichen Leistungssätzen, die am Subsistenzniveau orientiert sein sollten. Nachdem jedoch erstmals im Jahre 1961 im Zusammenhang von Bestrebungen zum Ausgleich eines Defizits in dem Einheitsversicherungssystem einkommensproportionale Rentenhöhen eingeführt wurden, wurde dann 1966 auch für die anderen Leistungsformen die Lei-
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stungshöhe an die Einkommenshöhe gekoppelt. Der Unterschied zwischen dem 1961 eingeführten Rentensystem und dem erweiterten System von 1966 lag darin, daß für letzteres die Möglichkeit der Befreiung, des "contracting-out", nicht mehr gegeben war. 1975 wurden einkommensproportionale Beiträge eingeführt, wenn auch nicht in einer Größenordnung, die es erlaubt, von einer wesentlichen Umverteilung der Einkommen zu sprechen. Die Mehrzahl der beitragsbezogenen Leistungen der National Insurance werden in unmittelbarer Relation zu den Beiträgen in einem im voraus bestimmbaren Umfang gezahlt. Eine Ausnahme bilden die Leistungen bei langfristiger Arbeitsunfähigkeit nach einem Arbeitsunfall, wo sich die Rente oder die Abfindungssumme nach dem medizinisch festgestellten Prozentsatz der Behinderung richten und nicht nach der Höhe der abgeführten Beiträge. 3. Vergleiche hierzu die Ausführungen unter H. 2 - 5. IV. Zusammenhang zwischen Organisation und Finanzierung 1. Der beitragsfinanzierte Bereich des britischen Systems sozialer Sicherheit wird von dem Ministry of Social Security im Department ot Health & Social Security verwaltet. Der Hauptteil der beitragsfrei gewährten Leistungen wird von der Supplementary Benefits Commission, einem unabhängigen Verwaltungsträger, verwaltet. Es besteht hier also eine direkte Verbindung zwischen Organisations- und Finanzierungsmodell.
Die Verwaltung des Systems der National Insurance baut auf dem Rechtsanspruch der Leistungsberechtigten auf, mit einer rechtlich geordneten Entscheidungshierarchie, die vorwiegend von juristisch gebildeten Personen verwaltet wird. Demgegenüber sind in dem subsidiären System der Supplementary Benefits eindeutige rechtliche Entscheidungsvorgaben nur selten anzutreffen. Sicherlich gibt es den gesetzlichen Grundsatz des "Rechtsanspruches" auf die Leistungen der Supplementary Benefits, doch ist dieser in der amorphen Vielfalt aus delegierter Rechtsetzung und teilweise nicht-öffentlichen verwaltungsinternen Anordnungen, wie sie für die Leistungsgewährung Anwendung finden, nur schwierig auszumachen. Es ist von wesentlicher Bedeutung, daß die Rolle der Supplementary Benefits sich heute nicht lediglich im Sinne einer Restfunktion zugunsten einer abnehmenden Minderheit von Leistungsbeziehern darstellt, wie es von Beveridge vorgebracht worden war, sondern daß es sich um eine ständige Aufgabe handelt, von der ein bedeutsamer und wachsender Teil der Bevölkerung betroffen wird. Und obgleich eine 1978 veröffent-
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lichte größere Untersuchung mit dem Titel Social Assistance versucht, hier Lösungen zu entwickeln, so ist doch die Zahl der Personen, die Leistungen aus diesem System beziehen, auch weiter im Wachsen begriffen. In einem sehr begrenzten Ausmaß ist das System der sozialen Sicherheit mit dem Bereich der freien Wohlfahrt verbunden. Ein Teil dieser Wohlfahrt, wie etwa die Heilsarmee, gewährt Bedürftigen unmittelbar wohltätig Obdach und Speisung; zum Teil besteht sie auch in der privaten Leistung sozialer Dienste, wie sie von einer Anzahl von Wohlfahrtsorganisationen auf der kommunalen Ebene angeboten werden. 2. Es gibt keine unmittelbare "Beitragsdemokratie" in den Regeln des Systems der National Insurance. Eine interessante Entwicklung läßt sich jedoch bei den Appeal Tribunals feststellen, denen die Rechtsprechung über Sozialversicherungsansprüche obliegt. Ursprünglich war den National Insurance Tribunals im Jahre 1911 eine dreigegliederte Struktur vorgegeben worden: ein Jurist als Vorsitzender, ein Vertreter der Arbeitgeber und Selbständigen sowie ein Vertreter der abhängig beschäftigten Versicherten. Der Arbeitnehmervertreter wurde ursprünglich von den Versicherten gewählt, doch wurde dieses Verfahren bald als nicht praktikabel aufgegeben. Auch das Supplementary Benefit Tribunal ist dreigliedrig zusammengesetzt. Der Vorsitzende ist hIer jedoch nur selten ein Jurist, und da dieses Tribunal nicht über beitragsabhängige Leistungen entscheidet, gibt es keinen Arbeitgebervertreter, sondern an seiner Stelle ein "responsible member of the community", ein verantwortungsbewußtes Mitglied der Gesellschaft. Im Social Security Act von 1979 wurden diese beiden gerichtsförmigen Entscheidungsinstanzen näher miteinander verbunden Die National Insurance Commissioners, die zweite Instanz für Rechtsbehelfe gegen die Entscheidungen der National Insurance Tribunals, sind jetzt auch für Rechtsmittel gegen Entscheidungen der Supplementary Benefit Tribunals zuständig. 3. Beiträge der Klasse Eins werden unmittelbar von den Arbeitgebern erhoben und über die Inland Revenue abgeführt. Beiträge der Klassen Zwei und Drei werden direkt an die Träger der sozialen Sicherheit abgeführt. Beiträge der Klasse Vier werden unmittelbar über die Inland Revenue erhoben. 4. Vergleiche dazu unter 3.
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Julian Fulbrook V. Beitrag und Anwartschaft
1. Ein Rechtsanspruch auf die Leistungen der National Insurance besteht erst dann, wenn in einem bestimmten Mindestumfang Beiträge abgeführt wurden. So verringert sich beispielsweise der Leistungsumfang, wenn die Beitragsvoraussetzungen nur teilweise erfüllt wurden. Witwen kann in bestimmten Fällen (Witwen, die keinen Anspruch auf Witwenrente haben und denen auch aus ihrer eigenen Beitragsposition kein voller Leistungsanspruch zusteht) auf der Grundlage von Sonderregelungen geholfen werden: Voraussetzung dafür ist, daß sie nach dem Auslaufen der "widow's allowance" oder "widowed mother's allowance" arbeitslos sind. Die in einheitlicher Höhe gewährten Leistungen bei Arbeitslosigkeit werden nach einer Wartezeit von drei Tagen während bis zu 312 Tagen gezahlt; ist jedoch diese Leistungszeit erschöpft, so entsteht erst dann ein neuer Anspruch auf Arbeitslosenleistungen, wenn erneut die Beitragsvoraussetzungen in einem beitragspflichtigen Arbeitsverhältnis erfüllt wurden.
2. Ist die erforderliche Beitragsposition einmal erreicht, so gibt sie ihrem Inhaber einen Rechtsanspruch auf die Leistungen der National Insurance. Abgesehen von dem Falle der Arbeitslosigkeit mit der Leistungsgrenze von 312 Tagen werden alle übrigen Leistungen der National Insurance bis zur Beendigung der Bedarfssituation erbracht. Beveridge selbst hatte die Leistungen bei Arbeitslosigkeit dahin konzipiert, daß sie bis zur Eingliederung des Betroffenen in ein neues Arbeitsverhältnis andauern sollten; hier liegt eine der entscheidenden Abweichungen der tatsächlich durchgeführten Reformen vom Beveridge Report. Einige Leistungsformen ändern im Laufe der Leistungsabwicklung ihre Bezeichnung; so werden beispielsweise "Sickness Benefit" (Leistungen bei Krankheit) normalerweise für eine Dauer von sechs Monaten gewährt, um danach in "Invalidity Benefit" (Leistungen bei Invalidität) überzugehen, die dann für die restliche Zeit bis zur Beendigung der Arbeitsunfähigkeit gezahlt werden.
C. Grundsatzfragen I. Das erste britische Gesetz, mit dem eine Versicherungspflicht für die Fälle der Krankheit und verwandter Risiken eingeführt wurde, datiert aus dem Jahre 1757 und betraf Kohlenträger in London. Ein ähnliches Gesetz dehnte diese Regelung in den Jahren nach 1790 auf im Kohlenhandel auf dem River Wear beschäftigte Schiffer und Hafenarbeiter aus. In beiden Fällen waren obligatorische Lohnabzüge vorgesehen. Der unmittelbare Vorgänger des National Insurance Act von 1911 war jedoch das Gewerkschaftssystem des 19. Jahrhunderts. Dessen
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Regeln wurden von Beveridge bei der Gestaltung des öffentlichen Systems übernommen. Sie beruhten nicht nur auf individuellen Beitragspositionen auf der Grundlage der Gewerkschaftsbeiträge; zudem gab es ausnahmslos zeitliche Höchstgrenzen für den Leistungsbezug, die sich nach dem Umfang der abgeführten Beiträge richteten. Diese Regelungen entsprachen mehr dem common sense als versicherungsmathematischen Gesichtspunkten und dienten der Sicherung der jeweils nur beschränkten Leistungsfonds. Beveridge griff auch auf die deutschen Erfahrungen zurück, wenngleich natürlich das damals einzige Modell einer Pflichtversicherung für den Fall der Arbeitslosigkeit, das St. Galler System der Jahre 1894 bis 1896, versagt hatte. So schrieb Beveridge beispielsweise, daß "der Gedanke, Beiträge über von dem Arbeiter auf Versicherungskarten geklebte Beitragsmarken einzuziehen, ein bis dahin in Großbritannien unbekanntes System, aus Deutschland übernommen wurde"; später hatte er allerdings einmal bemerkt, daß es sich dabei "um die Besonderheit des Leistungssystems handelt, die ich am ehesten noch einmal bedenken würde, wenn wir noch einmal von vorne beginnen würden". Das im Jahre 1911 eingerichtete Leistungssystem für die Risiken Arbeitslosigkeit und Krankheit arbeitete erfolgreich bis zum Ende des Ersten Weltkriegs Es erfaßte allerdings auch nur sieben Berufsgruppen mit einer Versichertenzahl von anfangs ca. 21/4 Millionen Arbeitern. 80 % dieser Arbeiter waren zuvor von den gewerkschaftlichen Leistungssystemen nicht erfaßt worden, alle waren sie jedoch in Industriebereichen beschäftigt, die in besonderem Maße saisonal oder zyklisch bedingten Fluktuationen unterworfen waren. Der versicherte Arbeiter mußte mindestens für 26 Wochen Beiträge abgeführt haben, bevor er Leistungen beanspruchen konnte. In ähnlicher Weise war die höchstens erreichbare Leistung auf die Dauer einer Woche für jeweils 5 voll mit Beiträgen belegte Wochen beschränkt, bzw. auf insgesamt höchstens 15 Wochen in einem Zeitraum von 12 Monaten. Die Leistungsgewährung auf der Grundlage eines gesetzlichen Rechtsanspruchs bedeutete ganz sicherlich einen ungeheuren Fortschritt gegenüber den vorangehenden Leistungsformen des Poor Law, von Hilfswerken oder der karitativen Wohltätigkeit. Doch führte das Festhalten an der Konzeption der Arbeitslosigkeit als eines vorübergehenden zyklischen Phänomens das Versicherungssystem in den Jahren der Wirtschaftskrise zwischen den Weltkriegen an den Rand des Konkurses. Die nach dem Ersten Weltkrieg erfolgte Ausweitung des Systems erwies sich als übereilt und schlecht vorbereitet. Wenn es auch einen schwachen Versuch gab, die Leistungen bei Arbeitslosigkeit auch weiterhin begrifflich nach Versicherungsgrundsätzen zu fassen, so machte 4 Soziale Sicherung
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das ungewöhnliche Ausmaß der Arbeitslosigkeit dies wenn nicht politisch, so doch jedenfalls praktisch unmöglich. Ein "Übergangs"-System nach dem anderen sah sich mit ehemaligen Soldaten konfrontiert, die als solche nicht zum Aufbau einer vollen eigenen Versicherungsposition in der Lage gewesen waren. Im Jahre 1920 wurde dieser Vorläufer dann auf sämtliche zivilen Arbeiter ausgedehnt. Im Laufe der folgenden 10 Jahre wurden mehr als 30 Zusatz- und Ergänzungsregelungen verabschiedet, wobei dieses Sichüberschlagen der Gesetzgebung nur das Chaos illustriert, in dem sich das damalige System der National Insurance befand. Die Beitragsvoraussetzungen wurden wiederholt geändert; jedoch zeigt eine kursorische Analyse, daß die Aufrechterhaltung jedweden "Versicherungs"-Prinzips in diesem Zeitraum weitgehend als illusionär zu gelten hat. Im Jahre 1934 war eine gewisse Erholung möglich, und es ist interessant festzustellen, daß Beveridge es war, der als Vorsitzender eines neuen Unemployment Insurance Statutory Committee den Versicherungs fonds rettete, der damals ein Defizit von f 105 Millionen aufwies. Bis 1939 war aus diesem Defizit dann ein Überschuß geworden. In gleicher Weise jedoch, wie die Wirtschaftskrise in den 20er Jahren die Schwächen der "flickenweise" ineinandergepaßten Systeme nur verschärft hatte, versetzte das Abebben der Massenarbeitslosigkeit Beveridge jetzt in die Lage, sichere Vorhersagen über das Niveau von Beiträgen und Leistungen zu machen. Der Beveridge Report von 1942 bedeutet im wesentlichen eine Ausweitung des Leistungssystems von 1934 zu einer umfassenden Sicherung gegenüber Notfällen, insbesondere eine Ausweitung auf das Risiko des Arbeitsunfalles. Der Beveridge-Plan beruhte auf einer Analyse der damals bestehenden sozialen Probleme, so daß er in einer späteren Zeit unausweichlich Änderungen unterliegen mußte. Grundsätzlich blieb Beveridge bei seiner Überzeugung, daß Sozialleistungen eher über Beiträge als über allgemeine Steuern finanziert werden sollten, auch wenn er in seinen Schriften häufig zugab, daß die Erhebung von Einheitsbeiträgen eine im höchsten Maße regressive Form der persönlichen Besteuerung darstelle. Wie auch immer, das Ende von Beveridges "flat rate democracy" bedeutet den einzigen wirklich bedeutsamen Wandel im britischen System sozialer Sicherheit während der letzten 30 Jahre. 11. und 111. Selbstverständlich gibt es eine ständige Diskussion über die Rolle des Beitrags im britischen System der sozialen Einkommenssicherung. Es ist in der Tat nicht richtig, wenn gesagt wird, daß Beveridge ein strenger Anhänger der Systeme der Einheitsbeiträge und Einheitsleistungen gewesen sei, da er die Auffassung vertrat, daß die Möglichkeit freiwilliger Privatversicherung von den besser verdienen-
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den Arbeitnehmern und Selbständigen dazu benutzt werden könnte, individuell höhere Leistungen oberhalb des Minimums zu erreichen. Während jedoch in den Jahren nach dem Kriege eine sehr umfangreiche Entwicklung bei den privaten und betrieblichen Versicherungssystemen stattgefunden hat - besonders ausgeprägt im Bereich der Rentenversicherung und der Krankenversicherung - ist demgegenüber von der Möglichkeit der freiwilligen Versicherung gegen das Risiko der Arbeitslosigkeit in Großbritannien praktisch kein Gebrauch gemacht worden, ganz im Gegensatz zu dem Umfang, in dem dies bei den Systemen der Supplemental Unemployment Benefits in den Vereinigten Staaten geschieht. Dagegen hat das "Versicherungs"-Prinzip als solches in seiner Eignung für die soziale Sicherheit Kritik erfahren. Diese Diskussion wird verschiedentlich durch die Neigung mancher Kritiker vernebelt, die Sozialversicherung an den gleichen Kriterien wie die Handelsversicherung zu messen; das führt nicht selten zur Akzentuierung einer Sichtweise, in der soziale Leistungssysteme als "öffentliche Last" bezeichnet worden sind. Es ist klar, daß Begriffe wie Liquidität oder Illiquidität nur unter Schwierigkeiten auf ein öffentliches System sozialer Leistungen angewandt werden können, das zwar begrifflich auf der unmittelbaren Beziehung zwischen Beiträgen und Leistungen aufbaut, das aber dennoch zu einem gewissen Grad abhängig von dem allgemeinen Steueraufkommen ist. In einer weiter gefaßten Sicht ist soziale Sicherheit eindeutig eine Transferleistung im ökonomischen Sinne, wobei es jedoch interessant ist, daß von den Arbeitnehmern nur selten die Kosten der Beiträge zur Sozialversicherung kritisiert werden, so regressiv deren Wirkung auch gewesen sein mag. Der Mythos eines auf Beitragsleistung gegründeten und vom Steuersystem vollständig getrennten Versicherungssystems ist politisch jedoch nützlich; das Zögern, die Analogie zur Versicherung aufzugeben, wird so verständlich. Letzteres müßte bedeuten, eine angenehme und einfache automatische Prüfung (der Leistungsvoraussetzungen) aufzugeben und sich stattdessen den zetralen und verwirrenden Konsequenzen der Sozialpolitik zu stellen. Im Jahre 1911, so läßt sich argumentieren, konnte die Einführung eines "Versicherungsprinzips" in der Versicherung gegen Arbeitslosigkeit die neue Sozialpolitik akzeptabel machen und fährt darin zum Teil vielleicht bis heute fort. Einige Autoren haben jedoch im Hinblick darauf, daß die Beibehaltung des Versicherungsprinzips nicht mehr als gleichbedeutend mit der finanziellen Stabilität eines Leistungssystems gelten könne, nachdrücklich unterstrichen, daß es in eine durchaus unerwünschte Richtung führe, wenn die Illusion erzeugt wird, daß für Versicherungsleistungen in irgendeiner Weise gezahlt werden müsse, während dies bei anderen Leistungsarten nicht der Fall sei. 4·
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Mehr noch, die Konzentration auf diesen Versicherungsmythos hat zu einer künstlichen Unterscheidung zwischen verschiedenen Leistungstypen geführt, die für die administrative Abwicklung des Leistungsauftrages in mancher Hinsicht schädlich ist und die möglicherweise negative Auswirkungen für die Einstellung der Öffentlichkeit gegenüber den Empfängern bestimmter Leistungsarten mit sich bringt. Sie hat auf diese Weise dazu beigetragen, den Ruch von Scham und Inferiorität aufrechtzuerhalten, der den aus dem allgemeinen Steueraufkommen gezahlten fürsorgeartigen Leistungen immer noch anhaftet. Der am meisten paradoxe Aspekt des britischen Leistungssystems ist jedoch die Tatsache, daß es im Gefolge inflationärer Geldentwicklung zu einer drastischen Wertminderung bei den nach Einheitswerten gewährten Versicherungsleistungen gekommen ist. Späteren Regierungen ist es nicht gelungen, die Leistungen auf Beveridge-Standards anzuheben. In der Folge davon haben viele der gegenüber der National Insurance leistungsberechtigten Personen zugleich auch einen Anspruch auf Supplementary Benefits, um an die offizielle Armutsgrenze heranreichen zu können. Ein soziales Versicherungssystem, dem es nicht gelingt, den von der Regierung selbst gesetzten Armutskriterien zu genügen, wird darin vor beträchtliche theoretische Schwierigkeiten gestellt; zugleich wird dadurch eine neue Problemstellung aufgeworfen, wenn die von der National Insurance gesicherten Personen aus Furcht vor Stigmatisierung und aus mangelnder Kenntnis Fürsorgeleistungen nicht geltend machen.
Anhang Nachstehend werden die gegenwärtig gültigen Leistungssätze in der sozialen Sicherheit aufgeführt. Diese werden zwar jedes Jahr der Inflationsrate angepaßt, sie lassen jedoch die Aufgliederung der Leistungen erkennen. A. Beitragsbezogene Leistungen der National Insurance (gültig bis 13. November 1979) 1. Invaliditäts-, Witwen- und Altersrenten (invalidity,
widow's and retirement pensions) und Leistungen für Witwen mit Kindern (widowed mother's allowance): Einzelpersonen ........................................ Ehefrau oder erwachsener Angehöriger ................ Mehrbetrag für jedes Kind ............................ 2. Leistungen bei Arbeitslosigkeit und Krankheit (unemployment and sickness benefit) Einzelpersonen ........................................ Ehefrau oder erwachsener Angehöriger ................ Mehrbetrag für jedes Kind ............................ 3. Leistungen an Verwitwete (widow's allowance) ............ 4. Leistungen bei Mutterschaft (maternity allowance) ........
19,50 11,70 6,35 15,75 9,75 1,85 27,30 15,75
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B. Beitragsfreie Leistungen für Behinderte
(non-contributory benefits for the disabled)
Leistungen bei ständiger Pflegebedürftigkeit (constant attendance allowance) (Tag und Nacht) ......... . verminderter Satz (entweder tagsüber oder nachts) ....... . C. Beitragsfreie Invaliditätsrente
(non-contributory invalidity pension)
D. Supplementary Benefit
11,70 Normalsatz
Ehegatten ............................... . Alleinstehende ......................... . Angehörige: über 18 Jahre ............... . 16 -17 Jahre ............... . 13 - 15 Jahre ............... . 11 - 12 Jahre ............... . 5 -10 Jahre ............... . unter 5 Jahre ............... .
15,60 10,40
25,25 15,55 12,45 9,55 7,95 6,55 5,30 4,40
Satz für langfristige Unterstützung 31,55 19,90 15,95 9,55 7,95 6,55 5,30 4,40
Literaturauswahl Die nachfolgende Literaturliste ist ein kurzer Leitfaden zur weiteren Information über das britische System der sozialen Sicherheit: Atkinson, A. B.: Poverty in Britain and the Reform of Social Security (1969). Beveridge, William: Social Insurance and Allied Services (1942). Calvert, Harry: Social Security Law (1978). D. H. S. S.: Social Assistance (1978). Fulbrook, Julian: Administrative Justice & the Unemployed (1978). Gilbert, Bentley B.: The Evolution of National Insurance in Great Britain (1966). Kaim-Caudle, P. R.: Comparative Social Policy and Social Security (1973). Lister, Ruth: Social Security: The Ca se for Reform (1975). Ogus, A. I. and E. M. Barendt: Social Security Law (1978). Outer Circle Policy Unit: Beyond Beveridge (1978).
Landesbericht für Italien* Von Pasquale Sandulli
A. Allgemeine Fragestellungen Nach den Hinweisen der Veranstalter des Colloquiums soll zunächst eine zusammenhängende Darstellung der Grundlinien des Leistungssystems gegeben werden, um damit den Bereich abzustecken, in dem sich die Untersuchung bewegen wird, aber auch, um daraus Elemente der Wertung für die Fragen im Hinblick auf die Rolle des Beitrags im Systemzusammenhang ableiten zu können. I.
Das italienische System der sozialen Sicherheit gründet, zumindest der Form nach, im wesentlichen auf dem Versicherungsprinzip. Es stellt sich darin als das Ergebnis des Zusammenwirkens von sektoriell geprägten Maßnahmen dar, die vorwiegend vertikal, d. h. nach Berufsgruppen ausgerichtet sind. Der zentrale Kern des Leistungssystems liegt in der Gesamtheit der Vorsorgemaßnahmen zugunsten der in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis stehenden Arbeitnehmer. Im Hinblick auf die klassischen Risiken, wie sie in der ILO-Konvention n. 102 bezeichnet sind, unterliegen diese einer im Grundsatz und tendenziell zunehmend gleichen Regelung. Diese allgemeine Feststellung bedarf der Überprüfung auf ihre reale Bedeutung hin, insbesondere im Hinblick auf die Sicherungsformen für die Risiken der Invalidität, des Alters und des Todes; weiterhin hinsichtlich der Maßnahmen der Sicherung für den Fall der Krankheit allgemein, wobei schon an dieser Stelle darauf hingewiesen werden soll, daß Ende 1978 mit dem Ziel der Leistungsvereinheitlichung ein nationaler Gesundheitsdienst eingerichtet worden ist. Die grundlegende Regelung des Rentensystems fand sich - jedenfalls bis zu dem Gesetz n. 153 von 1969 - in dem königlichen Gesetzesdekret n. 1827 vom 4. Oktober 1935. In art. 37 ist dort die allgemeine Versiche-
* übersetzung aus dem Italienischen: Thomas Simons.
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rungspflicht für die Risiken der Invalidität, des Alters und der Sicherung der Hinterbliebenen normiert, für "Personen beiderlei Geschlechts ... die in Abhängigkeit von anderen entgeltliche Arbeit leisten". Diese Regelung erfährt allerdings im Text desselben Artikels eine ausdrückliche Ausnahme durch die Formel: "Das gilt nicht für die in diesem Dekret bezeichneten Ausnahmen." Unter den von dem Gesetz von 1935 zugelassenen Ausnahmen finden sich die Angestellten, genauer der Teil unter ihnen, die ein über einen bestimmten Betrag hinausgehendes Monatseinkommen beziehen. Wie leicht einsichtig ist, lag eine Folge dieser Ausnahmen in dem Anreiz· zur Einrichtung besonderer Vorsorgeformen, die in die ursprünglich vom System offengelassene Lücke treten konnten. Durch ausdrückliche Vorschrift in art. 3 f des Gesetzes waren weiterhin ausgenommen Personen, die im öffentlichen Transportwesen und bei den öffentlichen Telefondiensten beschäftigt sind, das Personal der Einzugsstellen für die direkten Steuern, desgleichen das Verwaltungspersonal für die Konsumsteuern. (Dabei ist es ohne Bedeutung, daß die besonderen Leistungssysteme für einige dieser Kategorien im Auslaufen begriffen sind, nachdem die betreffenden Tätigkeiten eingestellt und das mit ihnen beschäftigte Personal in den Staatsdienst überführt wurde, wie es bei den seit einigen Jahren abgeschafften Konsumsteuern der Fall war - vgl. Präsidentialdekret n. 649 vom 26. Oktober 1972. Ohne Bedeutung ist auch, daß sich andere Kategorien herausgebildet haben, wie etwa im Bereich des Transportwesens, wo es zur Einrichtung von Sondersystemen für den Luftverkehr, für den Seeverkehr und für den Landverkehr gekommen ist.) Die rechtliche Regelung des Gesetzes von 1935 wurde durch das königliche Dekret n. 636 von 1939 vervollständigt, das in seinem art. 28 die Gestaltung der Versicherungssysteme für die Risiken Invalidität und Alter regelte. Diese Vorschrift schrieb die bereits vor dem Inkrafttreten des Gesetzes von 1935 spontan gebildeten besonderen Sicherungsformen fest. Die Entlassung von Betrieben und von einzelnen Fonds aus dem allgemeinen System wurde u. a. unter der Bedingung zugestanden, daß die betreffende Kasse oder der Sonderfonds in versicherungsförmiger Weise Leistungen garantieren mußte, die insgesamt nicht geringer sein durften als jene, die für das allgemeine System festgelegt waren. Auch durfte der Umfang der Beiträge zu Lasten des Betriebes oder der betreffenden juristischen Person nicht geringer sein als die vom allgemeinen System vorgesehene Beitragslast. Dies ist im wesentlichen der Regelungskomplex, auf dessen Grundlage das Rentensystem in den ersten Nachkriegsjahren konsolidiert wurde. In dieses System haben sich dann nacheinander die Renten-
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systeme für die selbständig Beschäftigten eingefügt, d. h. sowohl für die kleinen Unternehmer (selbständige Landwirte und andere Selbständige im landwirtschaftlichen Bereich, Handwerker, kleine Handelsgewerbetreibende) wie auch für die verschiedenen Gruppen von Freiberuflern. Jede dieser Sicherungsformen wurde nach dem Versicherungsprinzip konstituiert und war mit Selbstverwaltung und zumindest anscheinend - aber davon wird noch im folgenden zu handeln sein - mit finanzieller Autonomie ausgestattet. Insgesamt gesehen sind im gegenwärtigen Rentensystem im Bereich des allgemeinen Systems alle bei privaten und öffentlichen Arbeitgebern abhängig beschäftigten Arbeitnehmer gesichert, soweit für sie nicht besondere Formen der Vorsorge oder der beamtenrechtlichen Sicherung gelten. Eine Ausnahme in diesem System stellt wegen des Fehlens einer versicherungs-/vorsorgeförmigen Grundlage eine besondere Rentenform dar, die durch das Gesetz n. 153 von 1969 für Personen im Alter über 65 Jahren bereitgestellt wurde, sofern diese über kein zureichendes eigenes Einkommen verfügen. Über das derart gegliederte System wurde zunächst die Reform des Berechnungsmodus der Rentenleistungshöhe gespannt, die durch das erwähnte Gesetz n. 153 von 1969 an die Stelle einer beitragsbezogenen eine einkommensbezogene Rentenformel setztet; derzeit werden Vorschläge für eine Reform des Systems diskutiert, die auf eine Vereinheitlichung der Rentenleistungen im Wege des angestrebten Zusammenfließens sämtlicher Rentenfonds in einem einzigen allgemeinen System abzielen2 • Die Entwicklungslinien der Sicherung gegen das andere große nicht berufsspezifische Risiko, die allgemeine Krankheit, unterscheiden sich nicht sehr von jenen des Rentensystems. Hier ist jedoch die ursprüngliche Charakteristik der Ordnung nach Versichertengruppen stärker akzentuiert, der lange Zeit hindurch eine ausgeprägte vertikale Aufteilung entsprochen hat. Diese Tatsache liegt insbesondere in der tarifvertraglichen Herkunft der Vorsorge für dieses Risiko begründet. Auch nach dem Gesetz n. 138 von 1943, das die verschiedenen betrieblichen und gruppenspezifischen Sicherungsformen in dem "Istituto nazionale per l'assicurazione contro le malattie" - INAM - zusammenfaßte, hat 1 Vgl. für einen überblick hierzu Bd. 1 des Trattato di previdenza sociale, hrsg. v. Bussi u. Persiani, Padova 1974 (CEDAM). 2 Zu einigen allgemeinen Anmerkungen zu dem Gesetzesentwurf über die Reform der Rentenversicherung vgl. Pasquale Sandulli, In margine al disegno di legge sulla riforma deI sistema pensionistico, in: Note ecconomiche per l'operatore 1979, n. 2.
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diese Herkunft noch auf das Leistungssystem fortgewirkt. Auf der einen Seite haben diese Formen de facto weiter bestanden und haben die Rechtsprechung zur Entwicklung umfänglicher Theorien gezwungen, um eine juristische Rechtfertigung für die bestehende Situation zu entwickeln. Das Kassationsgericht hat in diesem Zusammenhang entschieden, daß die fortlebenden Betriebskassen als organische Strukturen des INAM anzusehen seien, mit der Konsequenz, daß die Leiter dieser Kassen damit zu Trägern öffentlicher Ämter wurden3 ! Andererseits haben sich für jeden der großen Bereiche des öffentlichen Dienstes (die Bediensteten des Staates, der lokalen Gebietskörperschaften und der anderen öffentlichen Rechtsträger) sowie für die Selbständigen nach und nach besondere Institutionen zur Durchführung der Krankenversicherung gebildet. Es hat in diesem Bereich in den letzten Jahren eine rasche Entwicklung gegeben. Zunächst im Zuge der übertragung der Regelungskompetenz im Bereich der Krankenversicherung auf die Regionen mit Normalstatut (Gesetz n. 386 von 1974) und jetzt mit der Einrichtung des nationalen Gesundheitsdienstes (Gesetz n. 833 von 1978) ist die unterschiedliche Behandlung nach großen Berufsgruppen überwunden worden. Adressat der Leistungen der Gesundheitssicherung im Bereich der präventiven, der kurativen oder der rehabilitativen Maßnahmen ist jetzt der Bürger als solcher, unabhängig von jeder beruflichen Qualifikation. Die damit erreichte Vereinheitlichung des Gesundheitssystems betrifft im wesentlichen den Leistungsbereich. Im Hinblick auf die Finanzierung des Gesundheitsdienstes ist hingegen anzumerken, daß die Gesundheitsreform trotz des generalisierenden Grundprinzips noch wichtige Spuren der vom Versicherungsprinzip geprägten Beitragsformel bewahrt4 • Im Hinblick auf die Familienbelastung als das dritte nicht berufsgebundene Risiko sieht das italienische System Leistungen vor (Farn ilienleistungen, familienbezogene Leistungszuschläge), die ausschließlich dem Bereich der abhängig beschäftigten Arbeitnehmer (bei privaten oder öffentlichen Arbeitgebern) vorbehalten sind. Eine begrenzte Ausnahme betrifft die selbständig Beschäftigten in der Landwirtschaft, auf die das System der Familienleistungen durch das Gesetz n. 585 von 1967 ausgedehnt wurde. Dies hat schwerwiegende Zweifel bezüglich ihrer 3 Corte di Cassazione, Entscheidung v. 27.5.1966, n. 1374, in: Massimario Foro italiano 1966, 477; Entscheidung v. 20.1.1969, n. 131, in: Foro italiano 1969, I, 1502. 4 Eine erste Kommentierung des Gesetzes n. 833 v. 1978 findet sich in der Reihe der "leggi commentate" unter dem Titel: 11 servizio sanitario nazionale, hrsg. v. Roversi Monaco, Milano 1979 (Giuffre).
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juristischen Qualifikation sowie der finanziellen Aspekte dieses Leistungssystems aufgeworfen5 • Weniger komplex stellt sich zumindest auf den ersten Blick der Bereich der Risiken dar, die an der beruflichen Tätigkeit der gesicherten Personen anknüpfen. In der Versicherung gegen Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten sind alle Personen gesichert, die gegen Entgelt eine manuelle Tätigkeit in Abhängigkeit von oder unter der Leitung dritter Personen ausüben, sowie ihnen gleichgestellte Personen und das Aufsichtspersonal. Geschützt sind allerdings nur Tätigkeiten, die den Einsatz von Maschinen bedingen, die von dem Arbeitnehmer nicht unmittelbar selbst bewegt werden, sowie weiterhin bestimmte geschützte Arbeitsgänge, wie sie in art. 1 des Präsidentialdekrets n. 1124 vom 30. Juni 1965 bezeichnet sind6 • Anzumerken ist, daß zu dem durch die Versicherung geschützten Personenkreis auch einige Gruppen zählen, die nicht zu den abhängig beschäftigten Arbeitnehmern im engeren Sinne rechnen, die diesen jedoch wegen der technischen Umstände, unter denen sie ihre Tätigkeit erbringen, gleichgestellt worden sind (so beispielsweise im Falle der Lehrer und Schüler von Ausbildungsstätten technisch-naturwissenschaftlicher Art, für die mitarbeitenden Angehörigen des Arbeitgebers, für die Genossen von Genossenschaften, sofern sie ihre Tätigkeit unter den Bedingungen des engeren Anwendungsbereichs des Gesetzes erbringen). Darin liegt jedoch keine echte Ausnahme gegenüber dem Prinzip der Beschränkung der Sicherung allein auf die abhängig beschäftigten Arbeitnehmer. Im Hinblick auf die Reichweite des Versicherungsschutzes kann in jüngster Zeit in der Rechtsprechung eine Tendenz zur Ausweitung der Versicherungspflicht festgestellt werden: Zum einen im Wege der Einbeziehung von Arbeitstätigkeiten, für die die Risikoexposition technisch zweifelhaft sein kann (so im Falle der in Schreibbüros beschäftigten Personen, für die ein effektives Risiko nicht ersichtlich ist, wie allerdings dennoch erst kürzlich entschieden wurde 7); zum anderen tendiert es in die Richtung einer Ausweitung des Versicherungsschut5 Vgl. hierzu in dem bereits angeführten Trattato di previdenza sociale den Bd. III, der zu einem Teil den Familienleistungen gewidmet ist. 6 Zur Unfallversicherung vgl. Alibrandi, Infortuni sul lavoro e malattie professionali, 4. Aufl., Milano 1973 (Giuffre). Eine neue Aufl. ist für 1979 angekündigt. 7 So das Amtsgericht Belluno, Entscheidung vom 26.1.1977, in: Giurisprudenza degli infortuni sul lavoro e sulle malattie professionali 1977, S. 28; Corte di Cassazione, Entscheidung v. 19.11. 1971, n. 3338, in: Rivista degli infortuni e delle malattie professionali 1972, II, 52.
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zes, wenn bei der Bestimmung des Versichertenkreises Gesichtspunkte entwickelt werden, die über das Kriterium der Handarbeitstätigkeit hinausweisen, wie es das Gesetz vorsieht. Auf diese Weise wird über ilicht unbestrittene Normauslegungen eine Ausweitung auf einen Personenkreis erreicht, für den die Äquivalenz zwischen Versicherungsprämie und eventuellen Leistungen sehr weitgehend verschoben erscheint8 • Der Fall der Arbeitslosigkeit, der typischerweise allein auf die abhängig beschäftigten Arbeitnehmer (mit Ausnahme jener Arbeitnehmer, denen die rechtliche Regelung eine absolute Arbeitsplatzgarantie bietet) bezogen wird, ist inzwischen zum Gegenstand von sehr weitgehend differenzierten Vorsorgemaßnahmen geworden. Auf der einen Seite gibt es hier das traditionelle System der Arbeitslosenversicherung. Seine Leistungen bestehen in dem ordentlichen Arbeitslosengeld (Voraussetzung ist eine Beitragsleistung für wenigstens 48 Wochen während der vorangehenden zwei Jahre); in den außerordentlichen Arbeitslosenzuschüssen (Voraussetzung ist hier lediglich ein nur geringfügiger Beitrag während 5 Wochen); schließlich in den besonderen Leistungen im Falle der Arbeitslosigkeit, wie sie im Bereich der gewerblichen Wirtschaft 1968 für die Fälle vorgesehen wurden, in denen die Entlassung auf einer wirtschaftlichen Krise des Unternehmens beruht (die Beitragsvoraussetzung liegt hier bei 13 Wochen für Arbeitnehmer oder einem Vierteljahr für Angestellte). Diese letzte Leistungsart unterscheidet sich wesentlich von den zuvor genannten Leistungen. Während für die ordentliche Leistung von Arbeitslosengeld oder für den außerordentlichen Zuschuß fixe Leistungsbeiträge festgelegt sind, die vergleichsweise gering sind, bemißt sich die Sonderleistung in angemessener Weise (2/3) nach dem aktiven Einkommen des Gesicherten. Darüber hinaus ist zunächst für den Bereich der gewerblichen Wirtschaft (Gesetz n. 1115 von 1968), später dann auch ausgedehnt auf den Bereich der Landwirtschaft (Gesetz n. 457 von 1972), ein System der Einkommenssicherung für die Fälle wirtschaftlicher Schwierigkeiten des Unternehmens eingerichtet worden. Das Leistungssystem greift hier zunächst für einen Zeitraum von 6 Monaten ein, der in den Fällen einer örtlichen Strukturkrise oder von wirtschaftlichen Schwierigkeiten des betroffenen Produktionsbereiches um höchstens weitere 6 Monate verlängert werden kann. Praktisch bis zum Abschluß der darin eingeleiteten Maßnahmen können die Leistungen hingegen in den Fällen 8 Corte di Cassazione, Entscheidung v. 13.1. 1975, n. 137, in: Rivista degli infortuni e delle malattie professionali 1975, II, 101; Entscheidung v. 22.4. 1974, n. 1132, ibid. 1974, II, 153.
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der betrieblichen Restrukturierung oder der Änderung der wirtschaftlichen Zielsetzung des Unternehmens verlängert werden. Die Leistungen bestehen in der Zahlung von 80 Ofo des Lohnes für die ausgefallenen Arbeitsstunden. Während diese Leistungen der sogenannten "Cassa integrazione guadagni" ursprünglich allein auf Arbeiter beschränkt waren, da für diese von einem strengeren Maß der Entsprechung von Einkommen und Leistung ausgegangen wurde, wurde sie später auch auf die Angestellten ausgedehnt: Dies geschah einmal im Rahmen des fortschreitenden Angleichungsprozesses der Regelungen für Angestellte und Arbeiter, aber auch im Zusammenhang der Verschärfung der wirtschaftlichen Krise, die über lange Zeit hinweg die Tätigkeit ganzer Unternehmen stillgelegt und dann sowohl die unmittelbar produktiven Abteilungen wie auch den Verwaltungsbereich betroffen hat, wo der Typus des Angestellten überwiegt. Es ist an dieser Stelle sicherlich nicht der Ort, um die Interventionsmechanismen der "Cassa integrazione guadagni" weiter zu vertiefen. Der Hinweis mag ausreichen, daß sie kraft ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift eng mit den Regelungen des Kündigungsschutzrechts, insbesondere der Kollektivkündigung, verbunden sind und im Zusammenhang mit dem Themenkreis der Betriebsumwandlung und betrieblichen Restrukturierung im Industriebereich gesehen werden müssenD. Der Kreis der im System der sozialen Sicherheit geschützten Personen und der dazu entfalteten Maßnahmen wird durch eine Reihe von Leistungen vervollständigt, die hier nur kurz benannt werden können. Sie betreffen die verschiedenen Kategorien der Kriegsinvaliden und der Arbeitsinvaliden sowie der behinderten Personen, die keiner dieser beiden Gruppen zugehören. An diese Personen werden beitragsfreie Renten erbracht, die der eingangs angeführten Rentenform für Bürger im Alter über 65 Jahren ohne hinreichendes eigenes Einkommen vergleichbar sind. Besondere soziale Leistungen sind für Personen vorgesehen, deren Einkommen unterhalb der Grenze liegt, die für die Berechtigung zum Bezug der sozialen Altersrente den Ausschlag erteilt: Insbesondere kann hier das Recht auf die Rückerstattung der Auslagen für die Selbstbeteiligung bei Arzneimitteln angeführt werden (in Ausführung U Vgl. hierzu allgemein Pasquale Sandulli, Garantie de revenue et mobilite professionnelle: La situation particuliere en !talie, in: Rivista degli infortuni e delle malattie professionali 1978, n. 3. Eine detaillierte Darstellung findet sich bei Miscione, Cassa integrazione e tutela della disoccupazione, Napoli 1978 (Jovene).
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von art. 32 der Verfassung, wonach den Armen kostenlose Behandlung garantiert ist); darüber hinaus die Gewährung eines Zuschusses im Rahmen der derzeit in Geltung befindlichen Regelung der Festsetzung der Mietpreise, die allerdings Ermessenskriterien unterliegt. Die Notwendigkeit der Einrichtung eines neuen Systems von Anreizen für die Beschäftigung von Jugendlichen hat den Gesetzgeber dazu veranlaßt, in dem sog. Ausbildungsvertrag neue Formen der Berufsbildung zu schaffen (Gesetz n. 285 von 1977 und n. 479 von 1978). Auf diesen finden die Vorschriften über die Minderung der Beitragspflicht Anwendung, wie sie bereits seit längerem für den Lehrvertrag bestehen (Gesetz n. 25 von 1955). In der Anwendung des Gesetzes über die Beschäftigung von Jugendlichen ist die Möglichkeit mit angelegt, daß auf diesem Wege eine keineswegs unwesentliche Ausweitung der Sicherungsformen auf einen Personenkreis erfolgt, der zuvor bis zum Augenblick des Eintritts in ein echtes Arbeitsverhältnis vom System der sozialen Sicherheit weitgehend ausgeschlossen blieb. Unter diesem Gesichtspunkt sind diese neuen Maßnahmeformen für die hier anzustellenden Überlegungen von Interesse 1o • D.
Aus der vorstehenden summarischen Bezeichnung des gesicherten Personenkreises und der wichtigsten Leistungsfälle ergibt sich ein Leistungssystem, das nach unterschiedlichen institutionellen Kompetenzbereichen gegliedert ist. Diese werden dann jeweils von unterschiedlichen öffentlichen Leistungseinrichtungen durchgeführt, die auf der Grundlage unterschiedlicher Finanzierungsweisen arbeiten11 • Unter einem strukturellen und organisatorischen Gesichtspunkt tritt vor allem die Kompetenzaufteilung zwischen Staat und Regionen hervor. Den letzteren weist art. 117 Verfassung die Aufgaben der öffentlichen Fürsorge sowie der Gesundheitsversorgung unter Einschluß der Krankenhausversorgung zu. Im Gesundheitsbereich hat jedoch erst das bereits angeführte Gesetz n. 833 von 1978 endgültig eine Kompetenzaufteilung zwischen Staat und Regionen vorgenommen. Danach sind im Grundsatz die Regionen 10 Zu der Stellung dieser Maßnahmen in der neueren Sozialgesetzgebung vgl. Legislazione economica, Milano 1976 - 77 u. 1977 - 78 (Giuffre), Sintesi della legislazione deI lavoro edella previdenza sociale, bearb. v. Pasquale Sandulli. 11 Zu einer allgemeinen systematischen Darstellung des Systems der previdenza sociale im Rahmen der Prinzipien der sicurezza sociale vgl. Persiani, Lezioni di diritto della previdenza sociale, Bd. I, 7. Aufl., Padova 1977 (CEDAM).
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Träger des Auftrags zur Realisierung des Gesundheitsdienstes mittels einer neuartigen Verwaltungsstruktur mit der Bezeichnung "örtliche Gesundheitseinheit" ("unita sanitaria locale"). Wenn das Gesetz n. 833 von 1978 auch einen recht ausgedehnten zentralisierten Bereich im Rahmen des Gesundheitsdienstes beibehalten hat (dazu kann auf die Vorschriften verwiesen werden, die dem Staat die Aufgabe der Festlegung des für das gesamte Staatsgebiet geltenden einheitlichen Leistungsniveaus zuweisen), so hat dieses Gesetz doch jedenfalls Klarheit im Hinblick auf die Aufgabenverteilung zwischen Staat und Regionen in diesem Bereich geschaffen. Gleiches läßt sich hingegen nicht für die institutionelle Kompetenzaufteilung im Fürsorgebereich sagen. In der jüngsten Vorschrift zu diesem Bereich, dem Präsidentialdekret n. 616 von 1977 über die Realisierung der Regionalordnung, gelangt lediglich das Fehlen einer Kompetenz der Regionen für den Vorsorgebereich klar zum Ausdruck. Für die Fürsorgeleistungen geht die Tendenz hingegen dahin, die Bereiche von "beneficenza pubblica" und "assistenza" miteinander gleichzusetzen (obwohl nach dem Wortlaut von art. 117 Verfassung nur der erstere dem regionalen Kompetenzbereich zugewiesen erscheint). Der Gesetzgeber wird darin durch einige Schritte des Verfassungsgerichts in den Entscheidungen n. 22 von 1969 und n. 139 von 1972 in dieser Richtung bestätigt1 2 • Trotz einiger Unsicherheiten, die sich aus dem gegenwärtigen Stand der gesetzgeberischen und verwaltungsmäßigen Entwicklung ergeben, erscheint die folgende Auf teilung möglich. Die Aufgabe der Vorsorge obliegt typischerweise dem Staat. Dieser genügt ihr entweder, wie im Falle seiner eigenen Beschäftigten, unmittelbar durch die Ausweisung eines besonderen Haushaltspostens im allgemeinen Staatshaushalt oder aber mittelbar durch die Einrichtung autonomer öffentlicher Rechtsträger verschiedener Form auf nationaler oder überregionaler Ebene, bei denen das Element der direkten Mitwirkung der Betroffenen an der Verwaltung von Träger zu Träger variiert. Als ein solcher ist insbesondere der bei weitem bedeutendste Leistungsträger anzuführen, das "Istituto nazionale della previdenza sociale" - INPS -, das in Zukunft eine weitere Ausweitung seiner Kompetenzen erfahren wird: Dies einmal in der Perspektive der Reform des Systems der Einkommenssicherung, aber auch im Hinblick darauf, daß die Trägerschaft der Einkommensersatzleistungen für die Risiken Krankheit und Mutterschaft im Zuge der Gesundheitsreform bereits auf ihn übertragen wurde (art. 74 des Gesetzes n. 833 von 1978). Für das INPS privilegieren die Vorschriften über die Zusammensetzung der kollegialen Organe 12 Vgl. dazu die interessanten Hinweise von Barettoni Arleri, L'evoluzione normativa dell'assistenza pubblica (1975), jetzt in der Aufsatzsammlung Diritto della Sicurezza Sociale, Milano 1979 (Giuffre).
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entschieden die Vertreter der Arbeitnehmer, die unmittelbar von den am meisten ,repräsentativen' Gewerkschaftsorganisationen benannt werden. Im Bereich der Vorsorgesysteme für die Berufsgruppen der freien Berufe wird die Selbstverwaltung dagegen auf der Grundlage von Wahlen der Versicherten durchgeführt. Die Aufgaben von "assistenza" und "beneficenza" (der Fürsorge im engeren Sinne) liegen bei den Regionen, die sie über regionale öffentliche Rechtsträger durchführen. Was spezifisch den Gesundheitsdienst anbetrifft, so werden dessen Aufgaben in Zusammenarbeit mit der Gemeinde über die örtlichen Gesundheitseinheiten durchgeführt. Bei letzteren handelt es sich um Leistungsstrukturen, die in der Gesamtheit der Aufgabenträger, Einrichtungen und Dienste im Gesundheitsbereich bestehen. Das Gesetz hat dieser Organisationsform keine eigene Rechtspersönlichkeit zugestanden. Sie gehört in der Regel der jeweiligen Gemeinde an oder aber Gemeindeverbänden oder Berggemeinden. Diese örtlichen Gesundheitseinheiten sind vermutlich dazu bestimmt, als Modell für die Durchführung der übrigen sozialen Aufgaben im Kompetenzbereich der Regionen zu dienen. Bevor im folgenden zur Untersuchung der besonderen Fragestellungen übergegangen wird, wie sie im Fragebogen gestellt werden, kann bereits eine erste Orientierung im Hinblick auf die Finanzierungsformen für die Leistungseinrichtungen gegeben werden, in denen die beiden großen Aufgabenbereiche von "previdenza" - Vorsorge - und "assistenza" - direkte Erbringung von Sach- und Dienstleistungen durchgeführt werden·. Im Grundsatz erfolgt die Finanzierung der Aufgaben der "previdenza" wesentlich auf der Grundlage der Erhebung von Beiträgen, die mittelbar oder unmittelbar an dem beruflichen Einkommen der Adressaten dieser Systeme anknüpfen. Dabei ist es jedoch nicht ausgeschlossen, daß im Hinblick auf bestimmte gesicherte Risiken oder für bestimmte wirtschaftlich schwache Gruppen (etwa die Selbständigen mit Ausnahme der Freiberufler) ein Finanzbeitrag des Staates fiskalischer Natur hinzukommt.
* Hinweis des übersetzers: Die Begriffe "previdenza" und "assistenza" werden in Italien in mehrfacher Bedeutung gebraucht. "Previdenza" ist die traditionelle Bezeichnung für den Vorsorgebereich, der überwiegend auf der Grundlage des Versicherungsprinzips arbeitet; auch die frühere Krankenversicherung wurde darunter gefaßt. "Assistenza" bezeichnete hingegen ursprünglich den Bereich der Fürsorge, in dem auch in der deutschen Terminologie gebräuchlichen Sinne. Im Zuge der gegenwärtigen grundlegenden System reform verschieben sich mit den Systemgrenzen auch die Begriffe: "Previdenza" wird mehr und mehr zum Synonym für den Bereich der Einkommenssicherung; "assistenza", wie Sandulli den Begriff hier verwendet, bezeichnet hingegen die Sach- und Dienstleistungen im Bereich von Gesundheitsversorgung und sozialen Diensten.
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Die Aufgaben im Bereich von "assistenza" und "beneficenza" (Fürsorge im engeren Sinne) tendieren in die Richtung einer Finanzierung unmittelbar über die Zuweisung einer Quote aus dem Steueraufkommen, d. h. im Wege eines fiskalisierten Systems (vgl. dazu besonders das Gesetz n. 281 von 1970, das Präsidentialdekret n. 616 von 1977 und das Gesetz n. 833 von 1978). Dabei kennt jedoch gerade der weite und wichtige Bereich der Gesundheitsversorgung noch ein teilweise auf der Beitragserhebung aufgebautes Finanzierungssystem: Bis zur vollständigen Fiskalisierung der Soziallasten werden die Sozialbeiträge für den Fall der Krankheit (die vom 1. Januar 1980 an vom INPS festzusetzen und einzuziehen sein werden) auch weiterhin einen der wichtigsten Posten in dem "Fondo sanitario nazionale" darstellen, aus dem der nationale Gesundheitsdienst finanziert wird (vgl. art. 69 und 76 Gesetz n. 833 von 1978). Auf der anderen Seite läßt sich feststellen, daß auf der Ebene der Finanzierung des Systems sozialer Sicherheit die Verbindung zwischen Steuersystem und Beitragssystem im Grundsatz bereits seit dem grundlegenden Gesetz n. 825 von 1971 gegeben ist, in welchem die Regierung zur Steuerreform ermächtigt wurde. Art. 18 dieses Gesetzes sieht in seinem letzten Absatz jährliche Veränderungen bei den Steuersätzen vor, "mit dem Ziel einer graduellen überführung der Beiträge zum System der sozialen Sicherheit in das Steuersystem". Diese Vorschrift stellt eher einen Hinweis auf ein zukünftiges Handlungsprogramm als eine unmittelbar verbindliche, konkreter Anwendung zugängliche Norm dar, wenn etwa an die oben angeführte Erfahrung mit der Beibehaltung des Beitragsmechanismus im System der Finanzierung des nationalen Gesundheitsdienstes erinnert wird.
B. Besondere Fragestellungen L
Die vorstehenden Feststellungen allgemeiner Natur können jetzt im Hinblick auf die einzelnen gesicherten Leistungsfälle weiter verfolgt werden. Ausschließlich auf der Erhebung von Beiträgen beruht die Finanzierung des ordentlichen Arbeitslosengeldes in der Arbeitslosenversicherung und der zeitweiligen und dauernden Leistungen der Versicherung gegen Arbeitsunfälle. Ein Mischsystem aus Beitrags- und Steuerfinanzierung gilt für alle anderen Formen von Vorsorgeleistungen, wobei die jeweiligen Gewichtungen unterschiedlich sind, je nach der Bedeutung, die der Finanzbeitrag des Staates im Einzelfall besitzt. Was die Familienleistungen an5 Soziale Sicherung
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betrifft, so muß zwischen dem System für die abhängig beschäftigten Arbeitnehmer und dem System für die Selbständigen im landwirtschaftlichen Bereich unterschieden werden (auf die letzteren sind die Familienleistungen durch das Gesetz n. 585 von 1967 ausgedehnt worden). Die Familienleistungen für die abhängig beschäftigten Arbeitnehmer wurden bis zur Durchführung der Steuerreform immer allein im Beitragswege finanziert. Dabei unterlagen diese Leistungen nicht der Besteuerung. Als 1974 das System der Besteuerung des Einkommens der natürlichen Personen eingeführt wurde, war damit auch die Einbeziehung der Familienleistungen in die Steuerpflicht verbunden. Das führte dazu, daß unter den Beziehern dieser Leistungen infolge der Progressivität der Steuers ätze nicht unerhebliche Ungleichgewichtigkeiten auftraten. Um dem entgegenzutreten, sah art. 14 des Gesetzesdekrets n. 30 von 1974 (konvertiert in Gesetz n. 114 von 1974) eine Art Ristorno bei durchlaufenden Posten zugunsten der Empfänger der Familienleistungen vor: Im Grundsatz wurde die aus der Besteuerung folgende Minderung des effektiven Leistungsbetrags durch die Erhöhung des Bruttobetrages der Familienleistungen um 10 % ausgeglichen, wobei als Schuldner der diesbezüglichen Belastung der Fiskus auftrat, der auf der anderen Seite Empfänger der auf den Familienleistungen lastenden Steuern war. Diese Besonderheit verbietet es, davon zu sprechen, daß die Familienleistungen uneingeschränkt in der Funktion der Wahrnehmung eines vorwiegend allgemeinen Interesses stünden, d. h. in einer Sichtweise, die über ihr wirkliches Wesen und ihre Herkunft aus einer Vorsorgeleistung hinausgeht13 ! In der Tat ist dieser komplizierte Mechanismus und damit auch der Staatsbeitrag mit dem Präsidentialdekret n. 477 vom 30. Juni 1976 wieder rückgängig gemacht worden, so daß es als einzigem Anzeichen für das allgemeine Interesse bei der Steuerfreiheit der Familienleistungen geblieben ist. Während dies bedeutet, daß die Familienleistungen für die abhängig beschäftigten Arbeitnehmer in den ausschließlich über Beiträge finanzierten Bereich der Vorsorgeleistungen zurückgeführt worden sind, so muß für die entsprechenden Leistungen für die selbständigen Landwirte anderes gelten. Bereits seit der Ausweitung der Familienleistungen durch das Gesetz n. 585 von 1967 war vorgesehen, daß die Kosten dieser Leistungen unmittelbar bei der "Cassa unica per gli assegni familiari" liegen würden, mit einem Finanzbeitrag des Staates, der gern. art. 14 des Gesetzes n. 114 von 1974 zunehmend höher angesetzt wurde. 13 Vgl. jedoch in diesem Sinne Persiani, Lezioni di diritto della previdenza sociale, Bd. II, 7. Aufl., Padova 1977, S. 152 - 153.
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Für diesen Sonderfall läßt sich demnach sagen, daß das Finanzierungssystem hier insgesamt nicht auf Beiträgen beruht, wobei diese Form der Familienleistungen teils der Allgemeinheit über den Fiskus zur Last fallen, teils in der Solidarität der übrigen Berufsgruppen stehen, genauer gesagt, der abhängig beschäftigten Arbeitnehmer und der Arbeitgeber, die bei der "Cassa unica per gli assegni familiari" gesichert sind. Für die Leistungen des nationalen Gesundheitsdienstes, der durch das bereits mehrfach zitierte Gesetz n. 833 von 1978 auf den Weg gebracht wurde, gilt heute noch das besondere Mischsystem aus Versicherungsbeiträgen, wie es aus dem vorangehenden Vorsorgesystem herrührt, und einer teilweise Fiskalisierung. An dieser Stelle erscheint der Hinweis sinnvoll, daß der ausdrücklich provisorische Charakter dieser Lösung (vgl. art. 76 des Gesetzes) zumindest teilweise von art. 63 widerlegt wird: In dieser letzteren Vorschrift ist bestimmt, daß die Bürger, die in keinem der öffentlich-rechtlichen Versicherungsinstitute eingeschrieben sind, in ihrer Eigenschaft als einkommensteuerpflichtige Bürger gehalten sind, einen Jahresbeitrag für die Gesundheitsversorgung zu zahlen. Dieser tritt zur Einkommensteuer hinzu, ohne jedoch deren Rechtsnatur anzunehmen, sondern entspricht im Gegenteil von seinem Wesen her dem Pflichtbeitrag zu den Sozialversicherungen. Erheblich komplizierter liegen die Dinge im Bereich der Finanzierung der Rentenleistungen, für die bereits auf die derzeit bestehende extreme Vielfalt der Systeme und der Leistungsbestimmungen hingewiesen wurde. Im Rahmen des vom INPS verwalteten allgemeinen Pflichtversicherungssystems, das, wie bereits gesagt, alle Arbeitnehmer öffentlicher wie privater Arbeitgeber erfaßt, für die keine Sonderformen der Rentenversicherung bestehen, können vor allem die Mindestleistungen von den ordentlichen Leistungen unterschieden werden. (Mindestleistungen sind die Sozialrente, die gemäß art. 1 Gesetz n. 903 von 1965 sämtlichen Rentnern des INPS in Höhe eines garantierten Betrages zusteht, sowie die Rente der sozialen Solidarität, auf die nach art. 26 Gesetz n. 153 von 1969 alle Personen im Alter über 65 Jahren einen Anspruch haben, die nicht über ein hinreichendes eigenes Einkommen verfügen). Der Betrag der ordentlichen Leistungen richtet sich nach der Beitragsdauer und nach dem besten Einkommensniveau, das während der letzten 10 Einkommensjahre erzielt wurde. Die erste Gruppe von Leistungen wird vollständig aus dem "Fondo sociale" gezahlt, der inzwischen ausschließlich aus staatlichen Mitteln finanziert wird. Es handelt sich hierbei also um Leistungen, die allein fiskalisch finanziert werden. Die ordentlichen Rentenleistungen werden 5·
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hingegen ausschließlich auf Beitragsbasis im Umlageverfahren finanziert, ebenso wie sämtliche Rentenleistungen in den Sondersystemen für abhängig beschäftigte Arbeitnehmer. Die rechtliche Situation des Rentensystems der selbständig Beschäftigten ist demgegenüber im höchsten Maße differenziert. Es müssen dort die kleinen Selbständigen (Selbständige im Bereich der Landwirtschaft, Händler und Handwerker) von den Freiberuflern unterschieden werden. Die Rentensysteme für die kleinen Selbständigen weisen aus dem Blickwinkel der Finanzierung die folgenden gemeinsamen Wesensmerkmale auf: Bei den vom INPS verwalteten besonderen Leistungssystemen ist der Versicherte zu einem Beitrag in Höhe eines festen Mindestbetrages (Basisbeitrag) verpflichtet, der in bestimmten Zeitabständen der Geldentwicklung angepaßt wird und auf 156 Arbeitstage im Agrarsektor und auf 12 Monate im Bereich des Handwerks und des Kleinhandels bezogen ist. Des weiteren muß ein gleichfalls variabler Beitrag zum Finanzausgleich der Leistungssysteme erbracht werden. Schon die Benennung dieses zweiten Beitrages deutet auf das Vorhandensein einer chronisch defizitären Finanzlage hin, im Hinblick auf welche ein ständiger Finanzbeitrag des Staates vorgesehen ist. In dem kürzlich in Kraft getretenen Finanzierungsgesetz ist dieser Staatsbeitrag gesetzlich ausdrücklich festgelegt worden (art. 27 Gesetz n. 843 von 1978), zusammen mit einer angemessenen Erhöhung des Beitrages zu Lasten der Versicherten in den Rentensystemen der Selbständigen (das Zweifache für Handwerker und Händler, 40 % für den landwirtschaftlichen Bereich, so art. 25 und 26 des genannten Gesetzes). Zur Illustration sind vielleicht die folgenden Daten über das Sondersystem der Rentenversicherung für die selbständigen Landwirte für das Jahr 1977 von Interesse: a) Beiträge zu Lasten der Produktion ............... . b) Finanzierungsbeiträge des Staates ................. . c) Andere Einnahmen ................................
L. L.
L.
117 012 000 000 481 537 000 000 33 189 000 000
L.
631 738 000 000
Dem standen Ausgaben von insgesamt L. 2 089 310 000 000 gegenüber. Danach beträgt der Anteil der im Rahmen der Produktion aufgebrachten Beiträge etwa 19 % der Gesamteinnahmen, während sie jedoch nur knapp 5,6 Ofo der gesamten Ausgaben dieses Leistungssystemes ausmachen. Diese Daten, die hier gegenüber den im Anhang wiedergegebenen Daten vorweggenommen werden, lassen eine Situation erkennen, in der der Beitrag aus dem Bereich der Produktion wenig mehr als symbo-
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lischen Charakter besitzt. In der Folge davon steht das Leistungssystem fast vollständig in der Verantwortung der gesamten Kollektivität oder in der Solidarität anderer Gruppen. Wenn auch nicht in diesem Maße alarmierend, so doch sicherlich schwerwiegend und bedeutungsvoll sind die Folgerungen, die aus den entsprechenden Zahlen, jeweils bezogen auf 1977, für Handwerker und Händler gezogen werden können. Dort liegt das Verhältnis zwischen den Beiträgen aus der Produktion und den gesamten Ausgaben des Leistungssystems etwa bei 1 : 3. Ganz anders stellt sich die Situation bei den Rentensystemen für die selbständigen Freiberufler dar, zu denen hier auch das Zusatzleistungssystem für die Agenten und Handelsvertreter gerechnet wird. Gemeinsame Charakteristik all dieser Vorsorgeformen ist die regelmäßige Autosuffizienz dieser Leistungssysteme und das vollständige Fehlen jeglicher Finanzierungsbeiträge von Seiten des Staates. Die Finanzierung der Vorsorgesysteme der Freiberufler erfolgt in zweifacher Form. Einmal über einen subjektiven oder personenbezogenen Beitrag, der für jeden Versicherten in gleicher Höhe erhoben wird; zum anderen durch den objektiven Beitrag, der auf typische Akte der Ausübung der freiberuflichen Tätigkeit erhoben wird. Dabei gilt eine objektive Sichtweise, so daß es sich nicht notwendig um Akte handeln muß, die der Freiberufler selbst vorgenommen hat. Als Beispiel sei auf den Beitrag zu der Kasse für Anwälte verwiesen. Es bestehen wohl keine Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit dieser Beitragsform unter dem besonderen Gesichtspunkt ihrer Qualifizierung als Justizsteuer und es muß dem Verfassungsgericht (Entscheidung n. 23 von 1968) darin zugestimmt werden, daß "zwischen den auferlegten Leistungen und der rechtlichen Beistandsleistung unzweifelhaft eine Verbindung zu der Ausübung der gerichtlichen Aufgaben besteht". Aber auch wenn diese Frage im Hinblick auf die Aufbringung der dazu erforderlichen Finanzmittel unter dem weiteren und allgemeineren Gesichtspunkt der Realisierung von art. 38 IV Verfassung gesehen wird, erweist sich die Legitimität einer Beitragspflicht, deren Umfang "auf der Grundlage einer allgemeinen oder spezifischen Interessengemeinschaft oder einer direkten oder indirekten Verbindung zwischen dem Grund für die Heranziehung und den damit verfolgten Zielsetzungen" bestimmt wird. Gerade dieser Grundsatz eröffnet beträchtliche Möglichkeiten zur Verteilung des Beitragsaufkommens, das aus bestimmten, mehreren Berufsgruppen gemeinsamen Handlungen fließt, zwischen diesen, so wie es im Bereich der freien Berufe bereits realisiert ist. Es wird damit eine Art interberuflicher Solidarität verwirklicht und damit ein erster Versuch zur Überwindung der schon beschriebenen berufsgruppenspezifischen, ,korporativen' Abkapselung gemacht. De iure condendo ist
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hier auch die Möglichkeit eröffnet, zu den Beiträgen zugunsten bestimmter Berufsgruppen andere Personen heranzuziehen, die eine andere wirtschaftliche Tätigkeit oder aber dieselbe in anderen juristischen Formen ausüben, die jedoch durch die Gemeinsamkeit des Interesses, von der das Verfassungsgericht spricht, miteinander verbunden sind 14 • Der Überblick über die Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Finanzierungsformen läßt sich mit der Einbeziehung der besonderen Erfahrungen vervollständigen, die im Rahmen der außerordentlichen Maßnahmen der "Cassa integrazione guadagni" gemacht wurden*. Die "Cassa integrazione", die sich, wie bereits gesagt, inzwischen zu einer Interventionsform zur Sicherung von Arbeitnehmern entwickelt hat, die im Grunde arbeitslos, wenn auch noch Partei eines Arbeitsvertrages sind, kennt nicht allein eine zweifache Finanzierungsquelle aus Beiträgen und staatlichen Finanzzuweisungen, sie sieht darüber hinaus auch noch einen weiteren eigenständigen Beitragsmechanismus vor. Es handelt sich dabei um den sogenannten "Additionalbeitrag" , der nach Risikoeintritt von den Industriebetrieben und Bauunternehmungen aufzubringen ist, die die Leistungen der "Cassa integrazione" in Anspruch nehmen, und zwar genau abgestimmt auf Dauer und Umfang der bezogenen Leistungen. Die Funktion dieses zusätzlichen Beitrages, der nur in solchen Fällen nicht geschuldet ist, die objektiv nicht vermeidbar waren, sollte nach den Vorstellungen des Gesetzgebers in der Sanktionierung einer exzessiven Inanspruchnahme der Leistungen liegen; es ist allerdings zweifelhaft, ob diese Funktion wirklich erfüllt wird. D.
1. Die Beziehung zwischen dem Kreis der in einem Leistungssystem gesicherten Personen und ihrer mittelbaren oder unmittelbaren Beteiligung an dessen Finanzierung stellt eine fortdauernde Linie in der Entwicklung der Vorsorgesysteme dar. So wurde es auch bei der Einrichtung der Leistungsformen zugunsten der selbständig Beschäftigten in dem Bewußtsein der unzureichenden Höhe des für die Rentenversicherung festgesetzten Beitrages dennoch für notwendig befunden, an dieser Beziehung über den Beitrag festzuhalten. Es ist kein Zufall, daß gerade in dem angeführten neuesten Finanzierungsgesetz "legge finanziaria", Gesetz n. 843 von 1978, die Höhe der Beiträge, die von die14 Vgl. dazu Pasquale Sandulli, Sulle linee di sviluppo deI sistema di previdenza per i lavoratori autonomi, in: Studi in onore di G. Chiarelli, Milano 1974 (Giuffre). * Hinweis des übersetzers: Die außerordentlichen Maßnahmen sind diejenigen der Restrukturierung und der Änderung des Unternehmenszwecks.
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sen Gruppen geschuldet werden, angehoben wurde, um sie in fühlbarer Weise in ihrer Funktion als Element der Legitimierung der Sicherung zu erhalten. Diese überlegungen gelten im Grundsatz für sämtliche Formen der vorsorgenden Sicherung ("forme previdenziali"), d. h. für jene Leistungsformen, die auf der beruflichen Stellung des Gesicherten und auf dem Bezug zu einer gegen Entgelt erbrachten Tätigkeit aufbauen, sei diese abhängiger oder selbständiger Natur. Sie gelten hingegen nicht für die Sicherungsformen fürsorgender/ versorgender Natur ("forme assistenziali"), bei denen die Bestimmung des gesicherten Personen kreises unabhängig von der beruflichen Stellung und von Beitragsverhältnissen erfolgt. Dies ist der Fall bei der sozialen Altersrente für Personen ohne hinreichendes eigenes Einkommen im Alter über 65 Jahren wie auch bei den Mietzuschüssen im Rahmen der Regelung des equo canone (nach objektiven Kriterien öffentlich festgesetzte Mietpreisbindung), aber auch bei den kostenlos gewährten Medikamenten: Alle diese Leistungen werden außerhalb eines wenn auch nur bescheidenen Gegenseitigkeitsverhältnisses von Eigenbeitrag und Leistung gewährt. Vor allem aber kann diese überlegung keine Geltung mehr für ein vollständig den Gesetzmäßigkeiten der Versorgung der gesamten Bevölkerung unterworfenes System beanspruchen. Dies ist inzwischen bei dem nationalen Gesundheitsdienst der Fall, für den das Instrumentarium der Beitragsfinanzierung nur noch übergangsweise aufrechterhalten bleibt. 2. Bei den Vorsorgesystemen, die auf dem allgemeinen Grundsatz der (vollständigen oder auch nur teilweisen) Äquivalenzentsprechung von Beitrag und Leistung aufbauen, überwiegen bei weitem und regelmäßig die Systeme der sozialen Pflichtversicherung. Daneben bestehen jedoch auch Fälle, in denen es zwar an einer gesetzlichen Versicherungspflicht ermangelt, in denen jedoch einzelne Personen oder Berufsgruppen freiwillig in die Versicherung eintreten oder aber nach Beendigung der Versicherungspflicht ein bestehendes Versicherungs~ verhältnis fortsetzen können. Es kann hierzu einmal auf die freiwillige Fortsetzung des Versicherungsverhältnisses und auf die Versicherung für Hausfrauen verwiesen werden. Dazu sollen nur einige grundlegende Grundsätze angeführt werden. Die freiwillige Fortsetzung des Versicherungsverhältnisses im Rahmen der Rentenversicherung gibt es sowohl für das allgemeine System wie auch für die Sondersysteme, die dieses für bestimmte Berufsgrup-
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pen substituieren. Im Rahmen der allgemeinen Neuordnung des Versicherungssystems durch das Gesetz n. 153 von 1969 findet sie sich in dem Präsidentialdekret n. 1432 vom 31. Dezember 1971 geregelt. Die freiwillige Fortsetzung des Versicherungsverhältnisses erlaubt es, dem Betroffenen die ihm aus dem davor liegenden Pflichtversicherungsverhältnis zugewachsenen Versicherungsrechte zu erhalten oder aber die Voraussetzungen für den Rentenanspruch zu erwerben, falls das abhängige Beschäftigungsverhältnis endet, das zum Anknüpfungspunkt für die Versicherungspflicht diente. Die freiwillige Fortsetzung der Versicherung setzt voraus, daß während der letzten fünf Jahre für mindestens ein Versicherungsjahr tatsächlich Beiträge abgeführt wurden; in der Landwirtschaft entspricht der Mindestjahresbeitrag 93 Tagesbeiträgen für Männer und 62 Tagesbeiträgen für Frauen und Jungarbeiter. Die freiwillige Fortsetzung der Versicherung ist auch zulässig, wenn für den Versicherten während seines gesamten Versicherungslebens insgesamt für mindestens fünf Jahre tatsächlich Beiträge abgeführt bzw. geschuldet wurden. Die freiwillige Versicherungsfortsetzung erfolgt nach dem Prinzip der Fortführung der erreichten Versicherungsposition. Das bedeutet, daß die Höhe des freiwillig abzuführenden Beitrags sich nach dem Durchschnitt des versicherungspflichtigen Einkommens richtet, das der Versicherte während der letzten 156 Wochen erzielt hatte (bzw. eines geringeren Zeitraumes bis zu einem Minimum von 52 Wochen für die Arbeitnehmer im Bereich der Landwirtschaft). Die Freiwilligkeit betrifft also lediglich die Frage, ob die Versicherung fortgesetzt werden soll. Dagegen hat der Gesetzgeber versucht, ein Mindestmaß an Versicherungsgleichgewicht dadurch zu erreichen, daß er die Zulassungsbedingungen und die Höhe der Beitragspflicht starr an das System der Pflichtversicherung gekoppelt hat. Das System der "mutualita pensioni" für die Hausfrauen wurde durch das Gesetz n. 389 vom 5. März 1963 eingerichtet. Es beruht gleichfalls auf dem Prinzip der Freiwilligkeit der Versicherung und es entspricht, mehr noch als die freiwillige Fortsetzung des Versicherungsverhältnisses, den Grundsätzen des Versicherungssystems. Die Betroffene, die zwischen dem 15. und dem 50. Lebensjahr stehen muß und in keinem anderen Vorsorgesystem versichert sein darf, muß im Zeitpunkt des Eintritts in die Versicherung den Rentenbetrag bestimmen, den sie bei Erreichung des 65. Lebensjahres oder bei Invalidität erhalten möchte. Das INPS bestimmt danach auf der Grundlage von Tarifsätzen die Höhe des jeweiligen Beitragssatzes, der alle fünf Jahre vom Arbeitsminister in Abstimmung mit dem Schatzminister festgesetzt wird.
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Die reinen Versicherungsprinzipien werden über zwei Vorkehrungen mit dem allgemeinen Vorsorgesystem koordiniert: a) Insbesondere durch die Bereitstellung einer Invaliditätsrente für versicherte Hausfrauen, deren Fähigkeit zur Ausübung der normalen Hausfrauentätigkeit auf weniger als ein Drittel verringert ist; eine solche Rente setzt voraus, daß die Hausfrau seit wenigstens fünf Jahren in der Versicherung eingeschrieben ist und mindestens 120 Monatsbeiträge zum Mindestbeitrag abgeführt hat. b) Weiterhin in Form der Einrichtung eines Solidaritätsfonds für die Aufbesserung der Leistungen für die bedürftigsten Hausfrauen; dieser Solidaritätsfonds wird neben einer Zuweisung aus dem Staatshaushalt auch über eine Quote von 5 0J0 aus den Beiträgen der Versicherten gespeist. Die zwei soeben beschriebenen Formen der freiwilligen Versicherung und die fortschreitende Ausweitung des Rentensystems (im Wege der bereits angeführten Beseitigung des Versicherungsausschlusses von Arbeitnehmern mit höheren Einkommen, sowie weiterhin der Ausweitung der Vorsorgeformen zugunsten der selbständig Beschäftigten), haben die Vorschriften der art. 85 ff. des königlichen Gesetzesdekrets n. 1827 vom 4. Okt. 1935 ihres Inhalts beraubt. Unter der überschrift "fakultative Versicherungen" hatten diese für alle damals von den Formen der Pflichtversicherung ausgeschlossenen Personen die Eingliederung in das Rentensystem ermöglicht. Die fakultative Versicherung ist im italienischen Rentensystem allerdings auch weiterhin für solche Personen vorgesehen, die aus jeder anderen Form der Pflichtversicherung herausfallen. Gern. art. 3 bis des Gesetzes n. 114 vom 16. April 1974 ist dafür dann die Anhebung der Leistungen auf einen Mindestbetrag vorgesehen, der der Höhe der Sozialrenten entspricht. Der Zugang zu dieser Vorsorgeform wird auch durch das Vorhandensein der bereits angeführten sozialen Altersrente für Personen im Alter über 65 Jahren ohne zureichendes eigenes Einkommen nicht berührt, nachdem in der Praxis der Aufgabenbereich beider Sicherungsformen in der Regel verschieden ist: Zwar ist beiden das Fehlen einer obligatorischen Vorsorge gemeinsam, doch wird in der Regel das Fehlen eines Mindesteinkommens vor der Altersgrenze von 65 Jahren die Adressaten der sozialen Altersrente faktisch von dem Zugang zur fakultativen Versicherung ausschließen. Dagegen ist dem italienischen Leistungssystem im Bereich der Sicherung gegen Krankheit die freiwillige oder fakultative Eingliederung in das Versicherungssystem unbekannt. Eine Ausnahme stellt insoweit
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die besondere Situation der Provinz-Krankenversicherungs kassen von Bozen und Trient dar. Für diese erlaubt das Regionalgesetz der Region Alto Adige n. 25 vom 20. August 1954 gleichermaßen die fakultative Versicherung wie auch die freiwillige Fortsetzung der Versicherung durch Arbeitnehmer nach der Beendigung einer in der Abhängigkeit von Dritten ausgeübten Tätigkeit. Diese Anmerkung besitzt allerdings nur noch historischen Charakter, nachdem infolge der durch die Einführung des nationalen Gesundheitsdienstes erfolgten Generalisierung des Systems der Gesundheitsleistungen jetzt sämtliche schutzbedürftigen Personen durch das Leistungssystem erreicht werden. 3. a) In einem komplexen System wie es das italienische ist, das von der Gleichzeitigkeit einerseits von Formen, die noch typischen Versicherungscharakter tragen, und andererseits von solchen, die bereits sehr weitgehend die sicurezza sociale verwirklichen, gekennzeichnet ist, lassen sich für die Bestimmung der beitragspflichtigen Personen höchst differenzierte Lösungen antreffen. Dazu kann gesagt werden, daß die in dem Fragebogen angesprochenen Lösungsmöglichkeiten sämtlich vertreten sind. In einigen Fällen liegt die Beitragslast ganz oder teilweise bei dem Arbeitgeber, in anderen Fällen bei solchen Personen, die zu dem Gesicherten in einer Verwandtschaftsbeziehung stehen, an der normalerweise keine Unterhaltspflicht anknüpft, und es kann die Beitragszahlung auch von anderen Sicherungs systemen übernommen werden. Es muß deshalb geprüft werden, ob die im Einzelfall angenommene Lösung der Besonderheit der von dem Sicherungssystem aufgegriffenen Situation entspricht. Dabei soll an dieser Stelle die Möglichkeit der direkten finanziellen Intervention des Staates zunächst außer Betracht bleiben. Die Belastung des Arbeitgebers mit der Beitragspflicht setzt selbstverständlich zunächst das Vorhandensein eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses voraus. Das bedeutet, daß im Bereich der selbständigen Arbeit die Übertragung der Beitragslast ausgeschlossen ist. Diese Feststellung gilt allein für die juristische Betrachtung, während in ökonomischer Sicht nicht ausgeschlossen werden kann, daß es dem Selbständigen gelingt, die Belastung auf den Käufer des produzierten Gut8~ oder den Dienstnehmer der Dienstleistungen zu überwälzen, wenn der entsprechende Preis hinreichend elastisch ist, um die ohnehin nur geringe Quote der Beitragssätze aufzufangen. Wie bereits im vorangegangenen Abschnitt I hervorgehoben, stellt die sog. objektive Beitragspflicht, wie sie zugunsten der freien Berufe
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für die Klienten der verschiedenen Berufsleistungen besteht, eine Ausnahme von der Regel dar, daß in juristischer Sicht eine Überwälzung der Beiträge nicht stattfindet. Betrachtet man jetzt die Formen, in denen die Beitragspflicht ex lege auf dem Arbeitgeber lastet, so läßt sich feststellen, daß sie in der Sicherungsform, die die Versicherungsform am typischsten bewahrt, das ist der Bereich der Sicherung gegen Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten, ausschließlich von ihm getragen wird. Dies erklärt sich aus der Theorie des Berufsrisikos, die der Unfallversicherung bis heute zugrundeliegt und die zugleich die Rechtfertigung für die Entlastung des Arbeitgebers von seiner zivilrechtlichen Haftung bis hin zu der Grenze der strafgerichtlich festgestellten groben Fahrlässigkeit oder des Vorsatzes bildet. Auch der Beitrag für die Familienleistungen für die abhängig beschäftigten Arbeitnehmer lastet ausschließlich auf dem Arbeitgeber, wenn von den im vorangehenden angeführten Experimenten der Besteuerung und späteren Wiederherausnahme aus der Besteuerung einmal abgesehen wird. Es läßt sich dazu anmerken, daß die theoretische Rechtfertigung für die Aufbringung der Beiträge zum System der Familienleistungen allein durch den Arbeitgeber aus dem partiellen Arbeitsentgeltcharakter folgt, den diese trotz ihrer im Einzelfall sehr unterschiedlichen und komplexen Erscheinung besitzen. Auch die allgemeine Arbeitslosenversicherung, ebenso wie die Interventionsformen der Cassa integrazione guadagni sind der Logik der vollständigen Belastung des Arbeitgebers mit dem ökonomischen Risiko unterworfen. In diesen beiden Versicherungsformen gibt es übrigens häufige Erscheinungen einer mehr oder weniger verborgenen Fiskalisierung der Sicherungsleistungen im Wege des Ausgleiches von Finanzdefiziten der Leistungssysteme. In anderer Weise ist demgegenüber die Beitragspflicht für die finanzielle Deckung der nicht berufsbezogenen Risiken wie Invalidität, Alter und Tod sowie Krankheit aufgeteilt. Für diese Sicherungsformen erklärt sich die Beibehaltung einer wenn auch nur geringfügigen Beitragsquote zu Lasten des Arbeitnehmers aus der Erwägung der absoluten Irrelevanz berufsbezogener Elemente in dem gesicherten Risiko (eine beschränkte Ausnahme stellt das Risiko der besonderen - berufsbezogenen - Invalidität dar, für die gern. Gesetz n. 903 von 1965 eine Sicherung für die Fälle besteht, in denen die Versicherung gegen Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten nicht eingreift). Unter diesem Aspekt stellt sich dann die Ansiedlung der Finanzierungslast bei dem Arbeitgeber in ihrer spezifischen Bemessung nach der Lohnsumme als nur eine der möglichen Lösungen der Finanzierungsproblematik dar.
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Diese Lösung, die ursprünglich durch den wesentlich berufsgruppenspezifischen Charakter der Sicherung vorgegeben war, wird heute angesichts der Schwierigkeiten einer angemessenen direkten Steuererhebung fortgeführt. Ein Beleg für diese Feststellungen findet sich in den bereits angeführten Grundsatzerklärungen, wie sie in dem Gesetz über die Steuerreform enthalten sind, sowie in jüngster Zeit in dem Gesetz über die Einrichtung des nationalen Gesundheitsdienstes, wo der Beitragsmechanismus ausdrücklich nur im Wege des Überganges beibehalten wird. Die Höhe der Beitragsbelastung beträgt derzeit im allgemeinen System der Versicherung für die Risiken Invalidität, Alter und Tod unter Hinterlassung Hinterbliebener 21,10 0J0 auf das gesamte Arbeitsentgelt; davon gehen im Bereich der gewerblichen Wirtschaft 14,45 0/0 zu Lasten des Arbeitgebers und 6,65 % zu Lasten des Arbeitnehmers. Im Landwirtschaftsbereich liegt die Quote bei 7,10 % und ist im Verhältnis von 4,75 0J0 zu 2,35 % zwischen dem landwirtschaftlichen Arbeitgeber und Arbeitnehmer verteilt. Von diesen Beiträgen ist eine Quote in Höhe von 0,30 Ofo für die Finanzierung von Leistungsformen bestimmt, die Fürsorgecharakter tragen (art. 17 IV Gesetz n. 214 vom 16. April 1974). Für die allgemeine Krankenversicherung beträgt der Beitrag, der sich aus der Summe verschiedener im Laufe der Zeit hinzugekommener Zusätze zusammensetzt, im Bereich der gewerblichen Wirtschaft 12,03 + 0,15 Ofo für Arbeiter und 10,03 + 0,15 Ofo für Angestellte. Die unterschiedliche Bemessung für die beiden Kategorien von Arbeitnehmern liegt im wesentlichen in der unterschiedlichen Regelung der Einkommenssicherung für den Krankheitsfall begründet, die für die Angestellten grundsätzlich direkt von dem Arbeitgeber zu zahlen sind. Eine Beitragspflicht zu Lasten von Personen, die mit dem Gesicherten in einem Verwandtschaftsverhältnis stehen, findet sich in dem besonderen Falle der Mitarbeit von Familienmitgliedern in einem Kleinbetrieb (bei den selbständigen Landwirten und anderen Selbständigen im landwirtschaftlichen Bereich, bei den Handwerkern und bei den Kleinhändlern). In diesem Fall findet der im Betrieb mitarbeitende Familienangehörige über das Familienmitglied, das Betriebsinhaber ist, Eingang in das System der Pflichtversicherung. Dieses ist verpflichtet, Beiträge nicht allein für sich selbst, sondern auch für die mitarbeitenden Familienangehörigen abzuführen. Diesen gegenüber besteht ein Erstattungsanspruch. Die Regelung der Sicherung im Verhältnis zwischen dem Betriebsinhaber und dem mitarbeitenden Familienangehörigen, die sich nach seinerzeit durchaus modernen Gesichtspunkten bestimmte, verlangt inzwischen nach einer Koordinierung mit der Rege-
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lung der Innenbeziehungen im Rahmen eines Familienbetriebes {"impresa familiare"}, wie sie die Familienreform in art. 230 bis codice civile geregelt hat. Ein Finanzierungsbeitrag zu den Leistungen eines Systems von Seiten anderer Leistungssysteme und Vorsorgefonds findet sich vor allem dort, wo es um die Sicherung in Fällen geht, in denen es an einem Beschäftigungsverhältnis ermangelt. Dies ist vor allem bei der Anerkennung von Zeiten als Beitragszeiten in der Rentenversicherung der Fall, in denen der Versicherte aufgrund von Militärdienst, Krankheit, Schwangerschaft und Kindbett, Arbeitslosigkeit oder Tuberkulose an der Erbringung seiner Arbeitsleistung gehindert war {sog. "figurative" Beiträge, vgl. art. 10 Präsidentialdekret n. 818 vom 26. April 1957}. Als ein weiterer Fall ist inzwischen die Anrechnung von Zeiten hinzugetreten, in denen die Arbeitstätigkeit betriebsbedingt ausgesetzt wurde und der Arbeitnehmer Leistungen im außerordentlichen System der Cassa integrazione guadagni bezieht {art. 3 Gesetz n. 164 von 1975}. Unter dem Finanzierungsgesichtspunkt führen diese Leistungsformen zu einem Finanztransfer von einem Leistungssystem zu einem anderen. Dies gilt vor allem für die Anrechnung von Zeiten als Beitragszeiten, für die Leistungen aus der Cassa integrazione sowie aus der Arbeitslosenversicherung bezogen wurden {aus der Tabelle für die Arbeitslosenversicherung ergibt sich, daß im Jahre 1977 aus dem System der Arbeitslosenversicherung in das der Rentenversicherung 435319 Mio. Lire transferiert wurden. Das entspricht etwas weniger als der Hälfte des gesamten Leistungsvolumens der Arbeitslosenversicherung in diesem Jahr}. Für Zeiten, in denen der Arbeitnehmer gesundheitsbedingt arbeitsunfähig war, findet hingegen ein Finanztransfer nicht statt. Für den umgekehrten Fall der Finanzdeckung der Gesundheitsleistungen für Rentner sorgt hingegen ein Beitragszusatz, der vom INPS für die aktiven Arbeitnehmer erhoben und unmittelbar dem bisherigen Krankenversicherungsträger INAM zugeleitet wird. b} Die Unzulänglichkeit des Beitragsaufkommens in einigen Rentensystemen und demgegenüber der ständig wachsende Leistungsumfang haben zu häufigen und umfänglichen Finanzzuweisungen durch den Staat geführt. Es wird hierzu unmittelbar auf die Tabellen über den staatlichen Finanzbeitrag zu den Rentensystemen der selbständig Beschäftigten verwiesen sowie auf die Zuweisungen zum Defizitausgleich innerhalb des Haushalts der Rentenversicherungsträger {diese letztere Form von Zuweisungen müßte für die Zukunft durch die Einrichtung des nationalen Gesundheitsdienstes überholt sein}.
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Die Leistungen des bei dem INPS eingerichteten Sozialfonds gehen dagegen nach Maßgabe ihrer Systemvorgabe bereits seit 1970 zu Lasten des Staatshaushaltes. Diese Leistungen bestehen im wesentlichen aus der Anhebung von Kleinstrenten auf das Rentenminimum sowie in der sozialen Altersrente für Personen im Alter über 65 Jahre ohne zureichendes eigenes Einkommen. Anderen Grundsätzen gehorcht die finanzielle Intervention des Staates, die über die Politik der Steuerentlastungen entfaltet wird. Sie kann nicht etwa als durch das Prinzip der Fiskalisierung des Vorsorgesystems gestützt angesehen werden (diese wird in einer jedoch allein theoretischen Weise in art. 18 des Gesetzes n. 285 von 1971 über die Reform des Steuersystems angesprochen); es handelt sich bei ihr vielmehr im wesentlichen um Maßnahmen zur Erreichung antikonjunktureller und antizyklischer Zielsetzungen. Es läßt sich in der Tat im Hinblick auf die jüngste Politik zur Dämpfung der Arbeitskosten, wie sie seit Anfang 1977 betrieben wird, eine recht unbefangene Aktion einer zeitweiligen und partiellen Fiskalisierung der Soziallasten feststellen, die gerade deshalb jedoch nicht als eine grundsätzliche Politik der Fiskalisierung gelten kann. Es mag in diesem Zusammenhang ausreichen, auf die Abfolge der Gesetze zur Beitragsentlastung und auf den dort zur Anwendung gebrachten besonderen Mechanismus hinzuweisen. Die erste, ausdrücklich als Eindämmung der Arbeitskosten bezeichnete Maßnahme schließt unmittelbar an das Abkommen vom 26. Januar 1977 zwischen den Spitzenverbänden von Gewerkschaften und Arbeitgebern an (das sich gleichfalls auf Arbeitskosten und Produktivität bezog): Gemeint ist das Gesetzesdekret n. 15 vom 7. Februar 1977, später umgewandelt in das formelle Gesetz n. 102 von 1977. Es wird dabei auf die zu erwartende "Revision des Finanzierungssystems der sozialen Pflichtversicherung" Bezug genommen. Es handelt sich um eine inzwischen bereits gewohnte Formel, die auch in dem jüngsten Entwurf eines Gesetzes für die Reform des Rentensystems enthalten ist, das heute im Zentrum einer lebhaften Diskussion auf der politischen und auf der berufsverbandlichen Ebene steht. In Wahrheit verrät diese Formel das Vorhandensein einer Reihe schwerwiegender Hindernisse für die Verwirklichung einer politischen Linie, die zwar seit längerer Zeit angekündigt, jedoch nie konkret geworden ist. Diese erste Maßnahme war auf den Bereich der verarbeitenden Wirtschaft und auf den Bergbau beschränkt. Sie sieht die Zuweisung eines Guthabens zum Ausgleich der Beitragsschuld für die Krankenversicherung in bestimmter Höhe vor; diese bemißt sich nach den Veränderungen bei dem Teuerungszuschlag bei den Löhnen für das erste und
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zweite Trimester 1977. Diese Zuweisung eines Guthabens (richtiger: einer Beitragsentlastung) war ursprünglich zeitlich bis zum 31. Januar 1978 begrenzt. Mit Gesetz n. 573 vom 3. August 1977 wurde diese Vergünstigung ausgedehnt auf "Handelsunternehmen, ihre Vereinigungen und Gesellschaften", sowie weiterhin, mit Gesetz n. 75 vom 22. März 1978, auf die "Hotelbetriebe und öffentlichen Verkaufsstellen für Lebensmittel und Getränke". Der Zeitpunkt des 31. Januar 1978 wurde durch das Gesetzesdekret n. 15 vom 30. Januar 1978 (Konversionsgesetz n. 75 von 1978) auf den 31. März 1978 hinausgeschoben, später dann auf den 30. Juni 1978 (Gesetz n. 221 von 1978), auf den 31. Dezember 1978 (Gesetz n. 502 von 1978) und auf den 30. Juni 1979 (Gesetz n. 92 von 1979). Die ursprünglich in dem Gesetzesdekret n. 15 von 1977, dem späteren Gesetz n. 102 von 1977 geregelte Beitragsentlastung bezüglich der Beiträge zur Krankenversicherung ist später durch das Gesetz n. 502 von 1978 auch im Betrag erhöht worden, wobei verschiedene Formen der Bestimmung des Entlastungsbetrages zur Anwendung gelangen. Für Arbeitnehmer männlichen Geschlechts ist eine monatliche Ermäßigung um 24 500 Lire vorgesehen, während für Arbeitnehmerinnen die ersten 400 000 Lire ihres monatlichen Arbeitsentgeltes vollständig von der Beitragspflicht ausgenommen wurden. Ohne hier noch weiter in die Details zu gehen, sollte doch die Ambivalenz der Anwendung fiskalischer Methoden bei der Finanzierung des Vorsorgesystems und allgemeiner des Systems sozialer Sicherheit deutlich geworden sein. Bereits weiter zurückliegend sind die Maßnahmen der Beitragsentlastung zugunsten der im Süden Italiens gelegenen Betriebe. Bei diesen steht die ökonomische Förderung der wirtschaftlich unterentwickelten Regionen gegenüber der Politik der Dämpfung der Arbeitskosten im Vordergrund. Dies ergibt sich deutlich aus der Artikulierung dieser Maßnahmen, die für die Beitragsentlastung unterschiedliche Höhen und unterschiedliche Bedingungen vorsehen, unter denen diese gewährt wird; sie kann "allgemein" sein und bezieht sich dann auf sämtliche Arbeitnehmer, die in den betroffenen Regionen beschäftigt sind (Gesetzesdekret n. 918 vom 30. 8. 1968, konvertiert in das Gesetz n. 1089 vom 25. 10. 1968); sie kann auch als Zusatz oder als Ergänzung gewährt werden und ist dann auf die Einstellung neuer Arbeitskräfte in dem Gebiet nach bestimmten Zeitpunkten bezogen (den 30. September 1968 und den 1. Januar 1971, vgl. die Gesetze n. 589 von 1971 und n. 463 von 1972). Die Finanzierung des nationalen Gesundheitsdienstes stellt sich inzwischen in einer grundlegend anderen Weise dar. Auf lange Sicht ist
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vorgesehen, die Leistungen ausschließlich aus dem Steueraufkommen zu finanzieren und auf diese Weise jede Bedeutung der beruflichen Stellung der Leistungsdestinatäre für die Leistungsfinanzierung zu überwinden. Schwierigkeiten bei der Bestimmung der Steuerbelastungskurve sowie die höchst komplexe Problematik der Schätzung der Kostenbelastung für die verschiedenen Leistungsformen, die von den Krankenleistungen an Einzelpersonen bis hin zum Schutz von Umwelt und Arbeitswelt gehen, haben den Gesetzgeber dazu bewogen, unter den Finanzierungsquellen des Gesundheitssystems auch den Versicherungsbeitrag beizubehalten, wie er für das nach Berufsgruppen geordnete vorangehende System der Krankenversicherung galt. Die zwischenzeitlich erfolgte Überführung der Krankenversicherungsträger in Liquidation und ihre kurz bevorstehende Auflösung haben es erforderlich gemacht, die Aufgaben der Beitragsfestsetzung und -erhebung übergangsweise auf das INPS zu übertragen (d. h. auf den Leistungsträger, der in der Reformperspektive dazu bestimmt erscheint, die Gesamtheit der Aufgaben im Bereich der Sicherung des Einkommens zu übernehmen). Für die begrenzte Gruppe von Personen, die in dem bisherigen berufsgruppenspezifisch geprägten System weder unmittelbar noch mittelbar von der Pflichtversicherung erfaßt wurden, hat das Gesetz über die Einrichtung des nationalen Gesundheitsdienstes einen Pflichtbeitrag (zweckgebundene Steuer) vorgesehen. Wer bei keinem der aufgelösten Krankenversicherungsinstitute gesichert war, wird dann zur Abführung dieses Pflichtbeitrages herangezogen, wenn er zur Zahlung der Einkommensteuer für die natürlichen Personen verpflichtet ist. Der Beitrag bemißt sich nach einem einheitlichen Satz, der jedes Jahr nach Maßgabe der durchschnittlichen pro-Kopf-Kosten der Gesundheitsleistungen festgesetzt wird. Die Regelung führt eine Lösung fort, die bereits mit dem Gesetz n. 386 von 1974 zur Anwendung gelangte, das die Aufgaben im Bereich der Krankenhausversorgung auf die Regionen übertragen hatte. In diesem Gesetz wurde unter anderem nach Maßgabe der Aufteilung der Gesundheitskosten zwischen Krankenhausbehandlung und anderen Gesundheitsleistungen ein teil weiser Transfer von Finanzmitteln von den Trägern der Krankenversicherung auf den Staat vorgesehen, der diese Mittel sodann auf die Regionen verteilte. Mit der endgültigen Auflösung der Krankenversicherungsträger hat das Gesetz n. 833 von 1978 die Überführung der Vermögen und der von diesen Trägern eingerichteten Gesundheitsstrukturen auf die Kommunen (oder auf Kommunalverbände) vorgesehen. Es ergaben sich
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dabei schwierige Probleme der Vermögensteilung bei solchen Versicherungsträgern wie etwa dem für die Sicherung der öffentlichen Bediensteten zuständigen ENPAS, dessen Aufgaben sowohl im Bereich der Sicherung des Einkommens wie auch der Gesundheitsversorgung lagen. Der nationale Gesundheitsdienst mit seinem Bestreben um die Vereinheitlichung der Gesundheitsleistungen schließt dennoch die Möglichkeit nicht aus, auf freiwilliger Basis und ohne dadurch die öffentlichen Haushalte zu belasten, für bestimmte Gruppen höhere Leistungen zu erreichen. Diese Regelung kann dazu führen, neue Formen der kollektiven Privatversicherung entstehen zu lassen, im Hinblick auf die sich dann erneut die Fragen des privaten Krankenversicherungswesens stellen. Der seit dem Reformgesetz vergangene geringe Zeitraum hat es bislang noch nicht erlaubt, festzustellen, welche Folgerungen daraus erwachsen werden. In jedem Fall bleibt festzustellen, daß die Reform von der scharfen Trennung zwischen der öffentlichen Finanzierung des allgemeinen Leistungsstandards und der privat finanzierten Differenzierung für einzelne Gruppen beherrscht ist. 4. Je nach der in Bezug genommenen Sicherungsform erscheinen die Familienangehörigen unmittelbar selbst als Leistungsadressaten (dies ist der Fall bei den Gesundheitsleistungen), oder aber sie stellen sich als ein Bezugselement für die Bemessung des Leistungsumfangs bei den Einkommensleistungen dar (etwa: der Rentenzuschlag im Bereich der Rentenversicherung oder auch der Unfallversicherung, die Familienleistungen). In der Regel ist der Familienangehörige dann nicht selbst Rechtsträger des Sicherungsverhältnisses und der diesbezüglichen Handlungsberechtigung. Diese Stellung wird jedoch regelmäßig im Gefolge des Ablebens desjenigen Familienangehörigen erlangt, der Rechtsträger der originären Sicherungsposition ist. Es bleibt im Grundsatz dadurch ausgeschlossen, daß im System der Vorsorgeleistungen an die Figur eines "Versicherten" gedacht werden könnte, den nicht auch eine Beitragspflicht trifft, die unmittelbar von der gesicherten Person selbst oder in ihrem Interesse von einem Dritten zu erfüllen wäre, zu dem sie in einem Arbeitsverhältnis steht. Diese Feststellung hat in letzter Zeit jedoch eine wichtige Ausnahme erfahren. Im Rahmen der Reform des Familienrechts (art. 211 Gesetz n. 151 von 1975) wurde der in gesetzlicher Trennung oder Scheidung lebende Ehegatte, dem die Sorge über die minderjährigen Kinder zugesprochen wurde, zum Inhaber des Rechtsanspruchs auf die Familienleistungen, und zwar auch dann, wenn das Arbeitsverhältnis bzw. die selbständige Tätigkeit, an der die Familienleistungen anknüpfen, von dem anderen Ehegatten ausgeführt werden. Es hat hier also eine Auf teilung stattgefunden, einmal zwischen der Person, für die die Beiträge abgeführt 6 Soziale Sicherung
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werden (die Beitragsbelastung für die Familienleistungen liegt ausschließlich bei dem Arbeitgeber), und andererseits dem Träger des Rechtsanspruchs auf die Leistungen. Was im Bereich der traditionellen Vorsorgesysteme eine Ausnahme darstellt, wird hingegen in den Systemen, die von dem Grundsatz der Generalisierung der Leistungen beherrscht werden, zu einem regelmäßigen Element. Ein Beispiel für eine solche Situation, in der dem Rechtsanspruch auf die Leistungen keine Beitragspflicht entspricht, findet sich im italienischen Leistungssystem in der seit 1969 vorgesehenen sozialen Altersrente für die mehr als 65-jährigen ohne hinreichendes eigenes Einkommen. Der Anspruchsinhaber dieser Leistungen wurde nicht allein in der Vergangenheit von keinerlei Beitragspflicht betroffen; auch während der Zeit des Leistungsbezuges trifft ihn keinerlei Steuerpflicht, die vielleicht in einer ideellen Quote als zur Deckung der von ihm bezogenen Leistungen bestimmt angesehen werden könnte. Die Einführung des nationalen Gesundheitsdienstes bestätigt diese Entwicklungstendenz in der Richtung der Grundsätze der sozialen Sicherheit. Als Ausgangspunkt muß die Tatsache der Generalisierung der Gesundheitsleistungen genommen werden, die in der Zuerkennung eines Leistungsanspruchs an sämtliche Bürger zum Ausdruck gelangt. Es wird dann deutlich, daß die Generalisierung des Leistungsanspruchs dazu geführt hat, daß eine diffuse Anzahl von Personen zwar Inhaber des Leistungsrechtes sind, jedoch von keinerlei Beitrags- oder Steuerpflicht betroffen werden. 5. Der Grundsatz der Beitragsbemessung nach dem Einkommen gilt ausschließlich im Bereich der abhängigen Arbeit; genauer ist mit Einkommen dabei das Arbeitseinkommen, d. h. das Arbeitsentgelt gemeint. Im gesamten Bereich der selbständigen Tätigkeit bemessen sich die Beiträge hingegen nach festen Beitragssätzen, die gesetzlich festgelegt und über Steuerrollen erhoben werden (vgl. für die Handwerker, die Kleinhandelsgewerbetreibenden und die selbständigen Landwirte artt. 20 - 33 Gesetz n. 160 vom 3. Juni 1975, sowie artt. 25 - 26 Gesetz n. 843 vom 21. Dezember 1978). Auch bei den für sämtliche Gruppen von Freiberuflern vorgesehenen objektiven Beiträgen (vgl. oben B I) kann nicht davon gesprochen werden, daß diese in irgend einer Weise an das Einkommen gebunden wären. Der objektive Beitrag bemißt sich in der Regel nach der Art und nicht nach dem Wert der von dem Freiberufler erbrachten Leistung, also auch nicht nach dem Honorar, das er für diese bezieht. Die Abführung der Beiträge erfolgt monatlich innerhalb des 10. Tages des dem Beitragsmonat folgenden Monats. Dies gilt für alle obliga-
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torischen Vorsorgesysteme, mit Ausnahme der Unfallversicherung, für die der Beitrag/Prämie im Jahresrhythmus festgelegt wird und innerhalb der ersten 10 Tage des Bezugsjahres vorab auf der Grundlage der im vorangehenden Jahr entrichteten Lohnsumme zu zahlen ist (bzw. der geschätzten Lohnsumme bei Neuaufnahme der betrieblichen Tätigkeit). Am Ende des Jahres findet dort ein Ausgleich statt. Die Regelung der Beitragserhebung in den übrigen Sicherungssystemen wurde durch Ministerialdekret vom 5. Februar 1969 mit dem Ziel modifiziert, eine größere Abstimmung des Systems der Beitragsabführung auf die Erfordernisse der Erzeugung und Dokumentierung der Leistungsposition des einzelnen Rentenversicherten zu ermöglichen, nachdem das Präsidentialdekret n. 488 von 1968 und das Gesetz n. 153 von 1969 die Rentenberechnung auf eine einkommensbezogene Rentenformel umgestellt hatten. III.
1. In einer allgemeinen Sicht ist festzustellen, daß im Bereich der Vorsorgesysteme eine Beziehung einerseits zwischen dem gesicherten Risikobereich und der spezifischen Ausgestaltung der darauf gerichteten Leistungsformen, sowie andererseits der Finanzierungsform, insbesondere dem Beitrag besteht.
Diese Beziehung gestaltet sich je nach der Art der untersuchten gesicherten Risiken. Sie ist am stärksten ausgeprägt in der Versicherung gegen Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten, wo der Beitrag/Prämie sich streng nach Versicherungsgrundsätzen berechnet. Die Tarife für die Festsetzung der Prämien sind dort nach 10 großen Gruppen von gesicherten Tätigkeiten aufgeteilt; für jeden dieser Tätigkeitsbereiche wird auf der Grundlage seiner jeweiligen Besonderheiten und nach Maßgabe der Schadensentwicklung eine Prämie berechnet. Der von den einzelnen Unternehmen geschuldete Betrag kann dann mit einer Variationsbreite von 20 % nach oben oder nach unten von dieser Mittelprämie abweichen, je nach der jeweiligen Entwicklung der Unfallhäufigkeit. Demgegenüber richtet sich die Beziehung zwischen dem gesicherten Risiko, den für den Fall seines Eintritts vorgesehenen Leistungen und dem Beitrag in den übrigen Vorsorgesystemen nach den Grundsätzen des Umlageverfahrens, wobei der direkte individuelle Bezug zwischen der Versicherungsposition des einzelnen Gesicherten und der Beitragshöhe verlorengeht. Dies war auch bereits vor dem Inkrafttreten des Gesetzes n. 153 von 1969 im Bereich der Rentenversicherung bei dem sog. Zusatzbeitrag ("contribuzione integrativa") der Fall und ist seit 1969 durch die Überführung der Rentenberechnung von der Beitragsformel zur Einkommensformel wesentlich verstärkt worden. Wie im
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folgenden noch auszuführen sein wird, orientiert sich der Beitrag an dem jeweils laufenden Arbeitsentgelt, während die Rentenleistungen nach dem Durchschnitt der drei besten Jahreseinkommen aus den dem Renteneintritt vorhergehenden 10 Jahren berechnet werden. Die Variabilität der Einkommenskurve führt dann dazu, daß Beitrags- und Leistungshöhe in keiner Weise mehr aufeinander bezogen sind. Diese Abkoppelung ist infolge der Einführung von Mechanismen der automatischen Anpassung der Höhe der Bestandsrenten an die Entwicklung der Lebenshaltungskosten (seit dem Gesetz n. 903 von 1965) noch verschärft worden. Für die Versicherung gegen Arbeitslosigkeit und die Tuberkuloseversicherung, für das System der Familienleistungen sowie für den Bereich der Gesundheitsleistungen bringt das Umlageverfahren demgegenüber keine besonderen Probleme mit sich. Bei den Fürsorge-l Versorgungsleistungen ("assistenza"), die ausschließlich über das Steuer system finanziert werden, stellen sich diese Fragen nicht. 2. Die hier angestellten Überlegungen lassen einige Bezüge zwischen Einkommen, Beitrag und Leistungsqualität und -quantität erkennen. Auf einer ganz allgemeinen Ebene und immer im Hinblick auf das Leistungsinstrumentarium des Vorsorgebereichs läßt sich sagen, daß das Einkommen aus nicht-selbständiger Beschäftigung den Parameter bezeichnet, auf dessen Grundlage sich die Höhe des Beitrages nach von einer Leistungsform zur anderen variierenden Sätzen berechnet. Auch die Bestimmung des Beitrages für die Handelsagenten erfolgt in dieser Weise. Anders liegt es bei der Beitragsbemessung in den Leistungssystemen für die selbständig Beschäftigten. Hier gilt die gegenteilige Regel des festen Beitragssatzes. Die Beitragshöhe wird dort in der Regel gesetzlich festgelegt und unterliegt Änderungen im Interesse der finanziellen Ausgeglichenheit der einzelnen Systeme (jedenfalls soweit darin die Systeme für die freiberuflichen Tätigkeiten angesprochen sind). Eine Ausnahme von dieser Regel, die auf der Schwierigkeit der Feststellung des Einkommens der selbständig Tätigen in einem Steuersystem beruht, das noch seiner Bewährung harrt, liegt in der Regelung von differenzierten Einkommensklassen (von einer bis fünf Millionen Lire), nach denen sich der Beitrag berechnet, der von den Handelsgewerbetreibenden zur Rentenversicherung zu entrichten ist. Ebenfalls auf einer sehr allgemeinen Ebene gilt für die Gruppen der abhängig beschäftigten Arbeitnehmer die Regel der Orientierung der Geldleistungen des Vorsorgesystems am Arbeitseinkommen. Zusammen mit dem vorstehenden Grundsatz ergibt dies eine fast direkte Bezie-
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hung zwischen Beitrag und Leistungsumfang für sämtliche Vorsorgeformen mit Ausnahme des Systems der Rentenversicherung. Dies ergibt sich aus der Tatsache, daß für letztere die Dauer des Versicherungsverhältnisses grundlegende Bedeutung besitzt, wobei das Risiko im Zeitablauf Gestalt annimmt, wie sich daraus ergibt, daß hier der Leistung die Erfüllung von Wartezeitvoraussetzungen vorangehen muß. Die Berechnung der Rentenleistung nach dem im letzten aktiven Lebensabschnitt erzielten Arbeitseinkommen sowie das natürliche Auseinanderfallen der Zeit der Beitragszahlung und des Zeitpunkts des Risikoeintritts lassen es nicht zu, hier in quantitativer Hinsicht von einer direkten Beziehung zwischen Versicherungsbeitrag und Rente zu sprechen. Dies tritt noch deutlicher hervor, wenn bedacht wird, daß die Rente auf den Betrag der Mindestrente angehoben wird, wenn dieser ansonsten aufgrund von nur geringen Beitragszeiten oder auch einem nur bescheidenen Umfang des für die Leistungsberechnung in Bezug genommenen Einkommens nicht erreicht wurde. Der dazu erforderliche Finanzbedarf wird über den gern. Gesetz n. 903 von 1965 beim INPS eingerichteten und später erweiterten "Fondo sociale" aufgebracht. Es sollte angefügt werden, daß die Festsetzung einer Bemessungsgrenze für das bei der Rentenberechnung zugrundezulegende Arbeitseinkommen, der jedoch andererseits keine Beitragsbemessungsgrenze entspricht (das gesamte Einkommen unterliegt der Beitragspflicht, es ist jedoch nur bis zu einer bestimmten Maximalhöhe rentenfähig), die Distanz zwischen abgeführtem Beitrag und Leistung erhöht. Dies gilt nicht im allgemeinen System, jedoch für die Sondersysteme. Bei den Sicherungsformen für die selbständig Beschäftigten sind die zu diesem Fragenkreis anzustellenden Überlegungen erheblich einfacher. Zunächst ist anzumerken, daß die Problematik sich überwiegend im Bereich der Versicherung für die Risiken Invalidität, Alter und Tod bewegt, während in der früheren Krankenversicherung (dem jetzigen nationalen Gesundheitsdienst) keine Einkommensersatzleistungen vorgesehen waren. Auch in diesem Leistungsbereich führt jedoch die Tatsache, daß die Gegenseitigkeitsrelation bei der Bestimmung der Leistungshöhe sich allein auf einen festen Beitragswert bezieht, dazu, Leistungs- und Beitragshöhe als im wesentlichen voneinander abgekoppelt anzusehen. Eine letzte Überlegung, die sowohl die Gruppen der abhängig Beschäftigten wie auch die selbständigen Landwirte betrifft, soweit diese Familienleistungen erhalten, läßt sich dahin anstellen, daß diese Leistungen in ihrem Betrag vollständig von der Höhe des Einkommens des Berechtigten unabhängig sind. Die Höhe der Familienleistungen bestimmt sich vielmehr danach, welcher dieser Gruppen der Empfänger
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zugehört. Von ihrer tariflichen Qualifikation hängt es weiterhin ab, für welche Zeiträume die Leistungen jeweils zur Auszahlung gelangen (Arbeiter oder Angestellte und leitende Angestellte, wobei für die ersteren tägliche Zahlungsweise zulässig ist). 3. Mit der Aufhebung der oberen Bemessungsgrenze für die Beiträge zum Leistungssystem der Familienleistungen (art. 20 Gesetz n. 114 von 1974) werden im System der Vorsorgeleistungen für abhängig beschäftigte Arbeitnehmer sämtliche Formen einer Beitragsbemessungsgrenze nach oben beseitigt. Bei den Selbständigen stellt sich diese Frage nicht, da es mit Ausnahme der bereits angeführten Besonderheit bei den HandeIsgewerbetreibenden hier an dem Kriterium der Beitragsbemessung nach dem Arbeitseinkommen ermangelt; für letztere bedeutet dabei die Geltung von fünf Einkommensklassen (von einer bis zu fünf Mio. Lire) keine Beitragsbemessungsgrenze, sondern bezeichnet vielmehr die Grenze der Versicherungspflicht. Was die Frage einer Mindestgrenze des für die Beitragsbemessung zu berücksichtigenden Einkommens angeht, so hat hier der Gesetzgeber erst kürzlich einen zuvor bereits schon in der Rechtsprechung anerkannten Grundsatz endgültig festgelegt: Danach wird der für sämtliche im Bereich der sozialen Sicherung geschuldeten Beiträge zugrundezulegende Mindestbetrag des täglichen Arbeitsentgelts, darunter auch der Mindesttagesatz für die mittleren vertraglichen Einkommen, durch ministerielle Verordnung festgelegt; als Bezugsgröße gelten die für jede arbeitsrechtliche Tarifgruppe tarifvertraglich fixierten Mindestlöhne (art. 20 Gesetz n. 843 von 1978, die sog. "Iegge finanziaria"). Im Grundsatz handelt es sich dabei um die Ausweitung des in art. 36 Verfassung enthaltenen Prinzips der Bemessung des Arbeitsentgelts auch dann auf der Grundlage der Tarifverträge, wenn der Arbeitgeber keinem Tarifverband angehört, auf den Vorsorgebereich. 4. Wo die Beziehung zwischen Einkommen und Beitrag unterbrochen ist, müssen die Fälle, in denen Vorsorgesysteme nach Maßgabe der finanziellen Ausgleichung geführt werden, von denen unterschieden werden, in denen im Hinblick auf die wirtschaftlichen Bedingungen der gesicherten Empfängergruppe ein solcher Finanzausgleich aus politischen und sozialen Gründen nicht gesucht wird. Im ersteren Falle wird die Beitragshöhe durch Gesetz festgelegt oder auch im Rahmen gesetzlicher Vorgaben auf der Verwaltungsebene. In den anderen Fällen ist der Beitrag Gegenstand einer politischen Entscheidung, die jener vergleichbar ist, mit der die Regierung oder der Gesetzgeber politische Preise für bestimmte Güter festlegen; mit der Folge, daß wegen des fehlenden Gleichgewichts zwischen Beiträgen und Leistungen die Finanzla~.t
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auf die Allgemeinheit oder aber auf besondere Gruppen abgewälzt wird. IV.
1. Die Beziehung zwischen der Organisation der Einrichtungen der sozialen Sicherheit und den Formen ihrer Finanzierung ist deutlich sichtbar. Sie findet ihre Bestätigung in der besonderen Lösung, die der Gesetzgeber kürzlich im Rahmen der Einrichtung des nationalen Gesundheitsdienstes (Gesetz n. 833 von 1978) angewandt hat. Obgleich für diesen neben der Finanzierung aus dem allgemeinen Haushalt zunächst auch der Modus der Finanzierung über Beiträge, d. h. also eine Belastung des Produktionsbereichs beibehalten wurde, hat der Gesetzgeber die Arbeitnehmervertreter als solche bei der Zusammensetzung der Organe der Gesundheitsstrukturen (die örtlichen Gesundheitseinheiten) nicht berücksichtigt und damit (in Erwartung der vollständigen Fiskalisierung der Leistungen des Dienstes) zugleich den übergangscharakter dieser Beitragsfinanzierung bestätigt. Die Zusammensetzung dieser neuen Organe ist allein den gewählten Vertretern der örtlichen Gemeinschaft vorbehalten, was bedeutet, daß hier Verwalter und Leistungsadressaten übereinstimmen.
Im Gegensatz dazu steht der Bereich der Vorsorgesysteme, dessen spezifische Wesensart in der Bedeutung der beruflichen Position des Leistungsadressaten besteht, wie es gerade darin zum Ausdruck gelangt, daß dort ein zumindest geringfügiger Beitrag vorgesehen ist (siehe den Fall der selbständig Beschäftigten in der Landwirtschaft). Hier gründet sich die organisatorische Struktur noch auf eine umfängliche Teilnahme von Vertretern der einzelnen Berufsgruppen an der Selbstverwaltung, die hierzu von Gewerkschaften und Berufsverbänden designiert werden. Die in diesem Bereich anzutreffenden einzelnen Formeln variieren im Laufe der Zeit. Die bedeutendste unter ihnen ist die Formel für die Zusammensetzung der Kollegialorgane des INPS (dieses Institut ist insbesondere dazu ausersehen, in immer stärkerem Umfang die Aufgaben der anderen Vorsorgeinstitute zu übernehmen, so daß es als beispielhaft für den Vorsorgebereich gelten kann). Im Hinblick auf das überwiegen der Interessen der Gesicherten sind in der Zusammensetzung der Kollegialorgane des INPS die Vertreter der Gewerkschaften mehrheitlich vertreten. Das Verfassungsgericht hat dies für verfassungsgemäß befunden, ebenso wie es auch als legitim anerkannt hat, daß die Befugnis zur Entsendung von Vertretern allein den Dachverbänden zuerkannt wurde, nicht jedoch den Einzelgewerkschaften (Entscheidung n. 15/1975). Diese Auffassung des Verfassungsgerichts, der hinsichtlich der Verwaltungsorgane der allgemeinen Rentenversicherung zuzustiw-
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men ist, kann jedoch nicht auf die Frage der Zusammensetzung der Kollegialorgane in der Verwaltung der berufsgruppenspezifischen Sondersysteme übertragen werden, wo die Entsendung durch die "repräsentativen" Gewerkschaften maßgebend sein müßte, auch wenn es sich bei diesen nicht um Dachverbände handeln sollte. 2. Die Frage der Vereinbarkeit der Stellung einmal als Versicherter bzw. Schuldner der Versicherungsbeiträge und andererseits der Stellung als Mitwirkender an der Selbstverwaltung und darin, wenn auch indirekt, an der Festlegung von Leistungen oder Beiträgen, kann im italienischen Vorsorgeleistungssystem heute als überwunden gelten. Diese Frage war tatsächlich in der Krankenversicherung für die selbständig Beschäftigten von Bedeutung, die in Form einer Versicherung auf Gegenseitigkeit die Selbstverwaltung u. a. nicht im Wege der Designation, sondern auf der Grundlage von Wahlen kannte. Im Bereich dieser Leistungsformen war dann den kollegialen Verwaltungsorganen die Bestimmung der sog. fakultativen Leistungen (Mehrleistungen) in der Weise belassen, daß sie über ihr Angebot wie auch über die Festsetzung der Beitragshöhe beschließen konnten. Diese Fälle sind mit der Gesundheitsreform und der Einrichtung des Gesundheitsdienstes jetzt beseitigt worden. In Zukunft können eventuelle Zusatzleistungen zu denen des nationalen Gesundheitsdienstes auf der Grundlage von privaten Versicherungen erbracht werden (art. 46 Gesetz n. 833 von 1978). In der Pflichtversicherung gegen die Risiken Invalidität, Alter und Tod, auch in den Sondersystemen, werden Leistungen und Beiträge in detaillierter Weise in den ihnen zugrunde liegenden Gesetzen geregelt. Für einige begrenzte Bereiche (Kreditwesen, Versicherung, die Beschäftigten des "Parastato" - der mittelbaren Staatsverwaltung - gibt es einige Formen betrieblicher Vorsorge, die auf der Grundlage von Tarifverträgen arbeiten. In solchen Fällen treten dann jedoch die Regeln und die Prinzipien ein, wie sie das private Vereinsrecht vorsieht. 3. a) In sämtlichen Fällen, in denen eine Vorsorgeleistung das Bestehen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses voraussetzt, gilt das Prinzip des sog. "Abgabenvertreters". Der Arbeitgeber ist hier nicht allein zur verwaltungsmäßigen Abwicklung verpflichtet, sondern ist vor allem auch selbst Schuldner der Beitragspflichten, und zwar gleichermaßen für den ihm selbst obliegenden Beitragsanteil wie auch für den, der von dem Arbeitnehmer geschuldet wird. Die pünktliche Erfüllung dieser Verpflichtung gibt dem Arbeitgeber einen Anspruch auf Rückforderung gegenüber dem Arbeitnehmer. Dieses Recht steht nach einer inzwischen konsolidierten Auffassung in der Rechtsprechung
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jedoch dem Arbeitgeber nicht zu, der der Beitragsverpflichtung nicht nachgekommen war und - freiwillig oder auch unfreiwillig - die Beitragsposition des bei ihm beschäftigten Arbeitnehmers verspätet in Ordnung bringt. Zum Beweis der Erfüllung der Beitragspflicht, an welcher für den Arbeitnehmer im Interesse der Wahrung seiner Versicherungsposition ein relevantes Eigeninteresse anerkannt wird, hat das Gesetz n. 153 von 1969 in seinem art. 38 die Verpflichtung für den Arbeitgeber aufgestellt, dem Arbeitnehmer einen jährlichen Kontoauszug über die abgeführten Beiträge auszuhändigen. In diesem muß auch ausgewiesen sein, nach welcher Einkommenshöhe die Beiträge berechnet sind. Im Hinblick auf eventuelle Aufgaben der Gewerkschaften im Bereich der Erfüllung der Beitragspflicht ist zu sagen, daß dies der Tradition und der Erfahrung der Gewerkschaften und des Sozialleistungssystems in Italien fremd ist. Ganz im Gegenteil hat der Gesetzgeber vorgesehen, daß die Träger der Vorsorgesysteme auf Antrag der Gewerkschaften die diesen von den Arbeitnehmern geschuldeten Gewerkschaftsbeiträge einziehen (Gesetz n. 311 von 1973). Dem liegt die nur sehr schwer einsichtige Überlegung zugrunde, daß den Gewerkschaften für den Einzug der ihnen geschuldeten Beiträge ansonsten bereits gem. art. 26 des Arbeitnehmerstatuts (Gesetz n. 300 von 1970) ein brauchbares Verfahren eröffnet ist*. Ermangelt es an einem Arbeitgeber, wie im Bereich der selbständig Beschäftigten oder in den Fällen der freiwilligen Fortsetzung eines Versicherungsverhältnisses oder der fakultativen Beiträge, so wird der Beitrag von dem Gesicherten direkt in der im folgenden beschriebenen Weise an das für ihn zuständige Rentenversicherungssystem oder an die zuständige Stelle im Bereich der Gesundheitsleistungen überwiesen. b) Das System zur Bestimmung der Einrichtung, an die die Beitragszahlungen zu richten sind, befindet sich im Wege einer grundlegenden Erneuerung. Bis zum Inkrafttreten des Gesetzes über die Einrichtung des nationalen Gesundheitsdienstes zog, von gewissen Ausnahmen abgesehen, jeder Leistungsträger unmittelbar die ihm zustehenden Beiträge selber ein. Die Ausnahmen bestanden und bestehen auch weiterhin in dem einheitlichen Beitragseinzug durch das INPS für als Lehrlinge beschäftigte Personen (Gesetz n. 25 von 1955), jetzt auch für die jungen Arbeitnehmer mit Ausbildungsvertrag (Gesetz n. 285 von 1977 mit späteren Modifizierungen). Eine weitere Ausnahme bildet der einheitliche Beitragseinzug im Bereich der Landwirtschaft, der durch den "Servizio contributi unificati in agricoltura" durchgeführt wird.
* Hinweis des übersetzers: Tarifvertraglich kann vorgesehen werden, daß die Gewerkschaftsbeiträge von dem Arbeitgeber im Wege des Lohnabzugs einbehalten und an die Gewerkschaften überwiesen werden.
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Als Folge der Auflösung der Träger und Kassen des früheren Krankenversicherungssystems wird die Aufgabe des Einzuges der Beiträge für die Gesundheitsleistungen am 1. Januar 1980 auf das INPS übertragen, das für jeden der aufgelösten Träger gesondert Rechnung führen wird. Das INPS wird dabei nach Maßgabe der Vorschriften und Verfahren vorgehen, wie sie für die Feststellung und den Einzug der Beiträge in seinem eigenen Kompetenzbereich gelten. Die Modalitäten des Beitragseinzugs sind unterschiedlich. Überwiegend findet die Beitragserhebung nach Maßgabe der Listen für die direkten Steuern Anwendung (so in der Unfallversicherung, in der Alters- und Invaliditätsversicherung für die selbständig Beschäftigten, bei der vereinheitlichten Beitragserhebung in der Landwirtschaft). Im Bereich der Gesundheitsleistungen und für die Beiträge zum INPS wird daneben jedoch die direkte Zahlung des Arbeitgebers zugelassen. Letztere erfolgt inzwischen allgemein mit Hilfe von begleitenden Namenslisten zum Zwecke der exakten Zuordnung der Beitragszeiten und, wo dies relevant ist, des bei der Beitragsbemessung zugrunde gelegten Einkommens des einzelnen Gesicherten. 4. Ein Finanzausgleich zwischen verschiedenen von dem gleichen Träger verwalteten Leistungssystemen findet in der Praxis statt und wird zuweilen auch ex post durch den Gesetzgeber bestätigt, ohne daß dem jedoch ein allgemeines Prinzip oder einzelne Normen zugrunde lägen, die vielleicht auch nur in besonderer Form derartige Finanzoperationen zuließen. Eine besondere Form der Solidarität zwischen verschiedenen Gruppen bestand im System der Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversicherung in einer progressiven Abgabe an den "Fondo sociale", mit der die im allgemeinen System oder in den besonderen oder integrativen Leistungssystemen zur Auszahlung gebrachten Renten belastet wurden, sofern sie den Betrag von 7200000 Lire/Jahr überstiegen. Diese Abgabe ist am 31. Dezember 1975 im Gefolge der vollständigen Übernahme der Kosten des "Fondo sociale" durch den Staat weggefallen (art. 5 Gesetz n. 153 von 1969).
v. 1. Daß die Beiträge tatsächlich abgeführt wurden, wird als Voraus-
setzung für die Bewilligung von Vorsorgeleistungen inzwischen nur noch in der Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversicherung gefordert. Für alle übrigen Versicherungsformen gilt die sog. Automatik von Leistung und Versicherungsverhältnis (die Nichterfüllung der Beitragspflicht kann höchstens zu einer Verzögerung in der Auszahlung der Leistungen führen, die jedoch in jedem Falle geschuldet sind, wobei die Verpflichtung des Arbeitgebers unberührt bleibt, der die
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Beitragsabführung unterlassen hat). Auch im Bereich der Rentenversicherung ist die Regel der Abhängigkeit von der effektiven Beitragsabführung gemildert. Dies einmal dadurch, daß jedenfalls solche Beiträge zugunsten des Versicherten Berücksichtigung finden, die als geschuldet und noch nicht verjährt festgestellt werden (innerhalb des letzten Zehnjahreszeitraumes), zum anderen auch durch die Möglichkeit der Einrichtung einer mathematischen Reserve für die nicht erfüllte und inzwischen verjährte Beitragszeit, für welche der Arbeitgeber gemäß art. 2116 codice civile in Verbindung mit art. 13 des Gesetzes n. 1338 haftet. 2. Vor dem Hintergrund der Reformperspektive einer Vereinheitlichung des Rentensystems, die die übermäßige Differenzierung infolge der vielfältigen Sondersysteme beseitigen soll, hat die gegenwärtige Diskussion eine in der Wissenschaft vertretene Ansicht stärker in den Vordergrund treten lassen, die es ablehnt, daß sich aus der Tatsache der Beitragsabführung die Anerkennung erworbener Rechte ableiten ließe (die unter dem Gesichtspunkt der Eigentumsgarantie schutzwürdig wären). Jedenfalls handelt es sich dabei um eine ausführlich diskutierte Frage, der eine wesentliche politische und soziale Bedeutung zukommt. Dies läßt sich nicht zuletzt daraus ersehen, daß die Regierung sich veranlaßt gesehen hat, in dem Reformgesetzentwurf die derzeit bereits im Heranwachsen begriffenen Positionen von den Neuregelungen auszunehmen. Eine Rückforderung von Beiträgen für den Fall der Beendigung des Versicherungsverhältnisses ohne die Erfüllung der Voraussetzungen zur Leistungsberechtigung ist ausgeschlossen. Diese Tatsache hat den Gesetzgeber gerade dazu veranlaßt, mit dem Gesetz n. 29 von 1979 die Vereinigung von Leistungsrechten zuzulassen, die im Bereich unterschiedlicher und ursprünglich untereinander nicht verbundener Leistungssysteme angewachsen sind. C. überlegungen grundsätzlicher Art
Auf der Grundlage der im vorangehenden angestellten Überlegungen und der zu dem Fragebogen gegebenen Antworten lassen sich jetzt die folgenden grundsätzlichen Feststellungen treffen. 1. In der Finanzierung des Systems der sozialen Sicherheit hat der Beitrag gegenüber den übrigen Finanzierungsquellen formell immer eine hervorragende Rolle gespielt. Mit seinen unterschiedlichen Berechnungsweisen und wegen seines Bezuges zur Einkommenshöhe hat er eine fortschreitende Differenzierung der Leistungssysteme zwischen den verschiedenen Produktionsbereichen und Berufsgruppen ermöglicht.
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2. Gerade aus dieser Möglichkeit der Differenzierung zwischen den verschiedenen Sicherungssystemen, wie sie in dem ursprünglich berufsgruppenspezifischen Charakter des Beitrages angelegt ist, hat sich ein wichtiges Hindernis für die Verwirklichung einer Politik der Generalisierung im Ansatz der sozialen Sicherheit entwickelt. Wenn man bedenkt, daß eine Politik der Generalisierung zugleich auch die Angleichung der Leistungen impliziert, so gelangt man bald zu der Schlußfolgerung, daß das System der Beitragsfinanzierung in einigen Fällen zur Behinderung der Realisierung neuer Formen der Sicherung führen kann, es sei denn, der Beitrag wird in einer nur noch symbolischen Höhe beibehalten. Das hat nicht allein zu immer bedeutenderen staatlichen Finanzinterventionen (sowohl in quantitativer wie auch in qualitativer Sicht) geführt, um entweder das Bilanzdefizit bestimmter Leistungssysteme auszugleichen oder aber auch, um die Arbeitskosten zu entlasten. In wachsendem Umfang ist aus dieser Einsicht die Erkenntnis gewachsen, daß jedenfalls für bestimmte Bereiche des Systems sozialer Sicherheit der Finanzbedarf nicht mehr auf dem Wege der Beitragserhebung sondern aus fiskalischen Quellen gedeckt werden muß. Diese Erkenntnis ist zwar von der endgültigen Durchsetzung noch weit entfernt. Sie hat jedoch auch auf der Ebene der Gesetzgebung bereits ihren Niederschlag gefunden. 3. Im Hinblick auf die über die Frage der Eignung des Beitrages für die Finanzierung des Systems der sozialen Sicherheit hinausreichende Problematik der qualitativen und quantitativen Grenzen für die einzelnen Finanzierungsformen kann dafür gehalten werden, daß das italienische Beispiel die Möglichkeit der Koexistenz verschiedener Formen bestätigt, d. h. der Beitragsfinanzierung mit Formen der Steuerfinanzierung . Die Wahl zwischen der einen oder der anderen Finanzierungsform sowie die Grenzen, die deren Einsatz jeweils gesetzt sind, bestimmen sich nach den Zielsetzungen, die einem Leistungssystem im Einzelfall vorgegeben sind. Je allgemeiner und gleichförmiger die Leistungen zu gestalten sind, um so weniger geeignet erscheint daher die Beitragsform zur Finanzierung. Von dem Rückgriff auf die eine oder auf die andere Finanzierungsform hängen natürlich auch die juristischen Lösungen von ökonomischen und rechtlichen Problemstellungen ab. Auf der ökonomischen Ebene und bei Berücksichtigung auch der möglichen Auswirkungen psychologischer Natur erlaubt der Beitragsmechanismus wegen der ihm innewohnenden Elastizität eine leichtere
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Anpassung der Leistungen an den Einkommensbedarf des Gesicherten: Die berufliche Stellung läßt sich mit seiner Hilfe leichter auf die Ebene des Sicherungssystems projizieren. In juristischer Sicht folgen hier vor allem wesentliche Unterschiede auf der Ebene von Leistung und Organisation. Abgesehen einmal von der besonderen Situation bei der Einrichtung des nationalen Gesundheitsdienstes, wo eine kapillare Organisation der Basisleistungsstrukturen notwendig geworden ist, erscheint bei einer Steuerfinanzierung der Fortfall der Legitimation für Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände zur Entsendung von Vertretern in die Organe der sozialen Sicherheit im traditionellen Sinne als evident.
Schließlich führt die Beitragsfinanzierung auf die These vom Wesen der Leistungsansprüche als "erworbenen Rechten", oder doch jedenfalls von Rechten, die über den, zuweilen nur bescheidenen, wirtschaftlichen Beitrag des Leistungsbegünstigten erzielt wurden.
1.142.736 1.649.446 1.880.967 2.073.901 2.589.503
1973 1974 1975 1976 1977
64.690 150.097 147.223 162.788 135.329
Staatszuschuss
55.800 47.387 68.134 164.575 157.221
Andere 1.263.226 1.846.930 2.096.324 2.401.264 2.882.053
Summe 827.194 1.699.937 2.083.310 2.072.815 1.659.469
Leistungen
Andere 80.122 56.436 52.427 46.755 54.769
Verwaltgskosten 25.524 30.638 37.752 49.206 54.569 932.840 1.787.011 2.173.389 2.168.776 1.768.807
Summe
Ausgaben
-
1.113.246
+ 232.488
71.065
+ 330.386 + 59;919
LeistgBilanz
+ + + +
381.334 441.253 364.188 596.676 1.709.922
Vermögen
Aujschlüsselung für das Jahr 1977 Bt:iträge: Die Leistungen sind in der folgenden Weise aufzuschlüsseln: - für alle Produktionsbereiche mit Ausnahme für alle Leistungsbereiche außer der Landwirtschaft ......................... L. 1.119.212 der Landwirtschaft ......................... L. 2.511.329 - für die abhängig beschäftigten Arbeitnehmer - für die abhängig beschäftigten Arbeitnehmer 82.351 in der Landwirtschaft ....................... L. in der Landwirtschaft ....................... L. 37.313 - für Arbeitslose mit Ausnahme des Bereichs Staatszuschuß: 22.172 der Landwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . L. - für die abhängig beschäftigten Arbeitnehmer in 51. 783 für Arbeitslose im Bereich der Landwirtschaft. L. der Landwirtschaft (Gesetz n. 1038 vom 17.10.1961) ........................... L. 11.318 - für die selbständig Beschäftigten in der 59.468 Landwirtschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . L. - für die selbständig Beschäftigten in der Land- für die Rentner ............................ L. 467.035 wirtschaft (Gesetz n. 509 v. 30.6.1971 und fol51.460 gende Gesetze) ............................ L. 80.000 - übergangsweise fiskalische Erhöhung ........ L. - für die Erhöhung der Familienleistungen (Gesetz n. 114 vom 16. 4. 1974) .............. L. 40.000 Andere Eingänge: Unter dieser Rubrik sind vor allem die Aktivzinsen des Leistungssystems .. Familienleistungen" gegenüber anderen vom Istituto Nazionale di Previdenza Sociale geführten Leistungssystemen bezeichnet. im Jahre 1977 betrug ihr Umfang L. 101. 226 Mio., mit einem mittleren Habenzinssatz von 9.84%.
Beiträge
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Ein g ä n g e (in Millionen Lire)
Familienleistungen
Anhang
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Belastung der Haushaltsbruttoeinkornnen 0, 321 durch direkte und indirekte Steuern
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Abbildung 2: Belastung des Haushaltsbruttoeinkommens durch direkte und indirekte Steuern nach der sozialen Stellung des Haushaltsvorstands und Haushaltsnettoeinkommensklassen im Jahr 1969 a)
Ökonomische Untersuchung
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Die Frage ist nun, inwieweit man davon ausgehen kann, daß die Inzidenz öffentlicher Zuweisungen an die Sozialversicherungsträger oder an Institutionen, die sich nur über öffentliche nicht-beitragsgedeckte Mittel finanzieren, der Inzidenz staatlicher Einnahmen entspricht. Da Steuern im Gegensatz zu Beiträgen nicht zweckgebunden sind, ist weiterhin eine Annahme erforderlich, aus welchen Steuer arten (einschl. Krediten) nicht-beitragsgedeckte Sozialtransfers finanziert werden. Untersucht man die Inzidenz eines gegebenen Systems, ist es unserer Meinung nach sinnvoll, von den Verteilungswirkungen des gesamten Steuersystems auszugehen (proportionale Betrachtungsweise). Analysiert man hingegen Systemänderungen, sind die damit verbundenen Änderungen in der Finanzierung in Rechnung zu stellen (marginale Betrachtungsweise)33. Für die Verteilungswirkung der gegebenen öffentlichen Zuweisung an die Sozialbudgetinstitutionen könnte man entsprechend von der Inzidenz der Steuereinnahmen, d. h. einer insgesamt progressiven Steuerlast für die Bundesrepublik Deutschland ausgehen. Im Hinblick auf die Regressivität der Sozialversicherungsbeiträge ergibt sich somit eine Verringerung der Einkommensungleichheit durch nicht-beitragsgedeckte Systeme, dagegen eine Verstärkung durch beitragsgedeckte Systeme. Diese These ist allerdings sehr fragmentarisch, da weder die Ausgabenverteilung noch das System der Privatversicherung berücksichtigt wurden, sieht man von den getroffenen Annahmen über die nichteinbezogenen Steuerwerte einmal ab. Bezüglich der Frage, ob eine Substitution der Sozialversicherungsbeiträge durch Steuern die Einkommensverteilung nivelliert, kommt Krupp unter Einbeziehung dynamischer Aspekte wie der Ausgabenverteilung für die Alterssicherung zu dem gleichen Ergebnis: "Vergleicht man die Finanzierung mit Beiträgen mit der durch indirekte und direkte Steuern, zeigt sich, daß in erster Linie die Beitragsfinanzierung, in zweiter Linie indirekte Steuern und in dritter Linie die direkten Steuern zur Ungleichmäßigkeit der Verteilung des verfügbaren Einkommen beitragen. In den durchgeführten Simulationen zeigt sich sehr deutlich die immer wieder behauptete Regressivität der Beiträge zur sozialen Alterssicherung 34 ." Unzulänglichkeiten in der empirischen Erfassung von Anpassungsvorgängen, die einerseits von den grundsätzlichen Identifikationsproblemen jeder Wirkungsanalyse, andererseits von der Modellkonstruk33 Vgl. W. v. Hansen and B. A. Weisbrod, Who Pays for a Public Expenditure Program?, in: National Tax Journal, 24 (1971), S. 515 ff. M H.-J. Krupp, Verteilungswirkungen der Steuerfinanzierung des sozialen Alterssicherungssystems, in: B. Külp und W. Stützel, Beiträge zu einer Theorie der Sozialpolitik. Festschrift für Elisabeth Liefmann-Keil, Berlin 1973,
S.268.
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Martin Pfaff und Markus Schneider
tion und den verfügbaren Statistiken herrühren, und theoretische Überlegungen hinsichtlich der Progressivität der Einkommensteuer35 weisen dennoch darauf hin, daß eine abschließende Beurteilung der Progressivität der Finanzierung der einzelnen Systeme noch nicht möglich ist. bb) Überwälzung der Sozialversicherungsbeiträge Die Regressivität der Sozialversicherungsbeiträge nach der formalen Inzidenz (Arbeitnehmeranteil) kann unter Einbeziehung der Arbeitgeberbeiträge sowie der Überwälzungsvorgänge erheblich modifiziert werden. Bei der Inzidenzdiskussion der Sozialversicherungsbeiträge werden häufig die Arbeitnehmeranteile direkt als Belastung der Arbeitnehmer behandelt und für die Arbeitgeberanteile die Vorwälzung auf die Güterpreise oder die Rückwälzung auf die Faktorpreise (Löhne) diskutiert. Da beide Beiträge für die Unternehmen zu den Lohnkosten zählen und sie in der Bundesrepublik im Quellenabzugsverfahren abgeführt werden, ist nicht einzusehen, daß bei der Inzidenzermittlung zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträgen unterschieden wird. Von einer überwiegenden Zahl von Forschern wird angenommen, daß die Sozialversicherungsbeiträge (a) die Kapitaleinkommen in den seltensten Fällen belasten, weil sie weitergegeben werden können und somit entweder (b) die Arbeitseinkommen (in der Form geringerer Lohnerhöhungen) belasten, oder daß (c) die Konsumenten direkt in der Form erhöhter Preise zur Finanzierung herangezogen werden. Für die Überwälzung der Sozialversicherungsbeiträge spricht eine Untersuchung von Brittain, der sowohl anhand einer internationalen Querschnittsanalyse als auch anhand einer Zeitreihenanalyse für die USA herausfand, daß die Hypothese der vollen Überwälzung der Sozialversicherungsbeiträge auf die Arbeitnehmer einer Nichtüberwälzung vorzuziehen ist36 • Brittains Ansatz ermöglicht es leider nicht zu unterscheiden, ob das Überwälzungsergebnis eines niedrigeren Reallohns durch Rückwälzung (Einkommenseffekt) oder durch Vorwälzung (Preiseffekt) zustande kommt37 • Eine Vorwälzung durch höhere Preise bringt aber ohne Zweifel andere Einkommenswirkungen mit sich als eine Rückwälzung. Rentenhaushalte mit niederem Einkommen werden durch die 35 Vgl. C. Föhl, Kritik der progressiven Einkommensbesteuerung, in: Finanzarchiv, N. F. 14 (1953/54), S. 88 - 109. 36 Vgl. J. A. Brittain, The Payroll Tax for Social Security, Washington D. C. 1972, S. 68 ff. 37 Vgl. ebd., S. 44 f. sowie die Kritik von M. Feldstein, The Incidence of the Social Security Payroll Tax: Comment, in: American Economic Review, 62 (1972), S. 735 - 738.
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Vorwälzung beispielsweise ungleich stärker belastet als durch die Rückwälzung, da bei Vorwälzung die Belastungsverteilung insbesondere von der Konsumquote und -struktur der Haushalte abhängt. "Tendenziell dürfte sich - analog zu indirekten Steuern mit einheitlichem Satz ein Regressiveffekt ergeben, wobei vermutlich Versichertenhaushalte von Aktiven (allein schon aufgrund ihres zahlenmäßigen Gewichts) den größten Anteil zu tragen haben 38 ." In welchem Ausmaß Überwälzungsprozesse tatsächlich stattfinden, hängt u. a. von der Marktkonstellation, der gesamtwirtschaftIichen Lage und der internationalen Verflechtung ab. Allein daß aber Überwälzungsprozesse gegeben sind, führt dazu, daß die Finanzierung beitragsgedeckter Systeme nicht mehr auf die Versichertengemeinschaft und innerhalb der Versichertengemeinschaft auf die Aktiven beschränkt bleibt. Eine klare Trennung zwischen Finanzierenden und Belastenden ist damit auch in beitragsgedeckten Systemen nicht möglich. Die Überwälzungseffekte führen, so läßt sich abschließend festhaIten, nicht zur Aufhebung der Regressivität der Sozialversicherungsbeiträge. ce) Beitragsbemessungsgrenze, Pflichtversicherungsgrenze Unter Umverteilungsaspekten bieten die Beitragsbemessungs- und Pflichtversicherungsgrenzen im Sozialversicherungssystem der Bundesrepublik Deutschland ein besonderes Problem. Beitragsbemessungsgrenzen lassen den Beitrag ab einer gewissen Einkommenshöhe nicht mehr ansteigen, um das selbstverantwortliche Handeln der höheren Einkommensbezieher nicht unnötig einzuschränken. Die Beitragsbemessungsgrenzen können durchaus gerechtfertigt werden, wenn die beitragsfinanzierten Leistungen analog zum Finanzierungsanteil nach oben begrenzt werden. Werden jedoch über die Leistungsgewährung Umverteilungen vorgenommen, bewirkt die Beitragsbemessungsgrenze, "daß die Umverteilung nur für Einkommen unterhalb dieser Grenze wirksam ist und gerade die Bezieher hoher Einkommen nur unzulänglich zu ihr beitragen. Außerdem würde der Erfolg der Umverteilung in Frage gesteIlt, wenn die wohlhabenden Staatsbürger außerhalb der Versicherung blieben, so daß eine Umverteilung innerhalb der Versicherten nur bei einer Versicherungspflicht für alle Staatsbürger sinnvoll wäre"39. Durch Pflichtversicherungsgrenzen wird aber gerade den leistungsfähigsten Bevölkerungsteilen die Möglichkeit gegeben, sich der Solidarverpflichtung zu entziehen. Versichern sich diese Teile freiwillig in der 39 W. Schmähl, Einkommensverteilung im Rahmen von Einrichtungen der sozialen Sicherung - Einige Probleme ihrer Ermittlung und Ausgestaltung am Beispiel der gesetzlichen Rentenversicherung -, in: B. Külp und K.-D. Haas, S. 548. Bezüglich der funktionalen Einkommensverteilung trifft die Rück- und Vorwälzung insbesondere die Lohnbezieher. 39 Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen (Hrsg.), S. 24.
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Sozialversicherung, "ist zu vermuten, daß insbesondere schlechte Risiken von der Versicherungsmöglichkeit Gebrauch machen werden ... Sozialpolitisch mag die Begünstigung der ,risikoreichen' Versicherungsberechtigten für sich gesehen zumindest teilweise erwünscht sein, doch wird sie mit einer Reduktion des sozialen Ausgleichs innerhalb der Gruppe der im Durchschnitt bedürftigeren Versicherungspflichtigen erkauft sowie mit einer kaum berechtigten Ungleichbehandlung in der Form, daß sich sog. gute Risiken im Bereich der Pflichtversicherten im Gegensatz zu den guten Risiken der Versicherungsberechtigten dem Zugriff zum Zwecke des sozialen Ausgleichs nicht entziehen können"4o. Die Beitragsbemessungsgrenze übt auf die Ungleichheit der Einkommensverteilung noch weitere Wirkungen aus: Da die Einkommen unterhalb der Bemessungsgrenze mit durchschnittlich höheren Beitragssätzen belastet werden, entsteht (ceteris paribus) bei den Unternehmen ein Anreiz (a), den Anstieg der Einkommen unterhalb der Bemessungsgrenze zu bremsen; (b) eine Ausweitung der Tätigkeit eher über überstunden als über Teilzeitbeschäftigung zu erzielen. Durch die dynamische Anpassung der Beitragsbemessungs- und Pflichtversicherungsgrenzen können weitere Ungleichheiten entstehen (a) durch die indirekte Progression für mittlere Einkommen, wenn die Beitragsbemessungsgrenze schneller steigt als das Einkommenswachstum und/oder dieses Erhöhungen der Beitragssätze nicht ausgleicht, (b) durch die mangelnde Abstimmung mit der Lohn- und Einkommensteuererhebung. dd) Nettoredistribution Zur Beurteilung der Umverteilungswirkungen beitrags- und nichtbeitragsgedeckter Systeme genügt eine Betrachtung, die nur auf die Finanzierung abstellt, nicht. Finanzierungsleistungen und empfangene Sozialtransfers sind zusammen zu sehen. Daraus ergibt sich die Höhe und das Vorzeichen des Transfersaldos. In Abbildung 3 sind die Umverteilungswirkungen des Systems der Sozialen Sicherung als Nettotransferquoten dargestellt, die sich aus der Verteilung der monetären Sozialtransfers und der Finanzierung dieser Transfers über Beiträge und Steuern ergeben41 • Die Nettotransferquoten geben den Anteil des Haushaltsnettoeinkommens wieder, der per Saldo durch die Soziale Sicherung umverteilt wurde. Bei den Nichterwerbstätigenhaushalten ist die Nettotransferquote positiv und nimmt mit steigendem Haushaltsnettoeinkommen ab (vgl. 40 N. Andel, Verteilungswirkungen der Sozialversicherung am Beispiel der gesetzlichen Krankenversicherung der Bundesrepublik Deutschland, in: Öffentliche Finanzwirtschaft und Verteilung III, Berlin 1975, S. 74. 41 Zu den methodischen Annahmen vgl. M. Schneider, S. 136 ff.
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Abbildung 3). Bei den Erwerbstätigenhaushalten ist sie negativ: D. h., der Einkommensanteil, der netto aus monetären Sozialtransfers und ihrer Finanzierung übrig bleibt, nimmt mit steigendem Einkommen ab; die Erwerbstätigenhaushalte werden (abgesehen vom unteren Einkommensbereich) mit steigendem Einkommen netto belastet. Im untersten Einkommensbereich sind die Nettotransferquoten für die Erwerbstätigenhaushalte positiv bzw. geringfügig negativ. Am meisten werden die Erwerbstätigenhaushalte insgesamt bei jenem Einkommen belastet, bei dem auch die Belastung durch Sozialversicherungsbeiträge am höchsten ist. Im Jahr 1969 war dies bei einem monatlichen Haushaltsnettoeinkommen zwischen DM 500 und DM 1000, im Jahr 1975 bei einem Haushaltsnettoeinkommen zwischen DM 1000 und DM 1500 der Fall. Von einer Umverteilung von den höheren zu den niederen Einkommen durch das System der Sozialen Sicherheit kann jedenfalls innerhalb der Erwerbstätigenhaushalte kaum gesprochen werden, allenfalls im unteren Einkommensbereich. Definiert man die Umverteilung innerhalb der Erwerbstätigenhaushalte als Verteilungsprozeß zwischen jenen Haushalten, die unter der durchschnittlichen negativen Nettotransferquote dieser Gruppe lagen und jenen Haushalten, die darüber lagen, so findet innerhalb der Erwerbstätigenhaushalte eine vertikale Umverteilung von den unteren und mittleren Einkommensschichten zu den alleruntersten und den hohen Einkommensschichten statt. Innerhalb der Nichterwerbstätigenhaushalte würden dagegen temporal die Einkommen von den höheren zu den niederen Einkommensklassen umverteilt werden. In den Nettotransferquoten sind die realen und impliziten Transfers nicht berücksichtigt. Gegenüber der Verteilung der monetären Sozialtransfers zeigt die Verteilung der impliziten Sozialtransfers (Ehegattensplitting u. ä., Steuerermäßigungen sowie Vergünstigungen im sozialen Wohnungsbau) zwei deutliche Abweichungen. Erstens fließen die impliziten Sozialtransfers überwiegend Erwerbstätigen zu. Zweitens steigen sie mit dem Haushaltseinkommen an42 •
Bei den realen Sozialtransfers (das sind vor allem Gesundheitsleistungen) fließt der überwiegende Teil des realen Sozialtransfervolumens ebenfalls den Erwerbstätigenhaushalten ZU43 • Mit steigendem Haushaltsnettoeinkommen steigen auch die realen Sozialtransfers44 • Dieser Effekt resultiert in erster Linie aus der wachsenden durchschnittlichen Haushaltsgröße mit höheren Einkommen. Vgl. M. Schneider, S. 192 ff. Vgl. ebd., S. 200 ff. 44 Vgl. M. Pfaff und E. Bäuerle, Die gruppenspezifische Inanspruchnahme ausgewählter öffentlicher Realleistungen in der Funktion Gesundheit des 42
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Umverteilungseffekte sind infolge der Mehrdimensionalität des Verteilungsproblems sehr differenziert zu betrachten. Um Vorstellungen über die vertikale Umverteilung zu erhalten, werden die Haushalte in Erwerbstätigen- und Nichterwerbstätigenhaushalte unterschieden. Würde man dieses nicht tun, erhielte man eine hohe vertikale Umverteilung. Letzten Endes aber findet der Umverteilungsprozeß nicht zwischen hohen und niederen Einkommensbeziehern, sondern zwischen verschiedenen Generationen, zwischen von sozialen Tatbeständen Betroffenen und nicht davon Betroffenen, statt. Empirische Ergebnisse über die vertikale Umverteilung in beitragsversus nicht-beitragsgedeckten Systemen unter Berücksichtigung der von den Systemen gewährten Sozialtransfers konnten leider noch nicht vorgelegt werden. b) UmverteiZungsejfizienz
Ein Transfersystem kann dann als umverteilungseffizient betrachtet werden, wenn die Ziele des Transfersystems mit einer möglichst geringen Umverteilung erreicht werden. Das ist bei gegebener Einkommenssicherung dann der Fall, wenn bei den Sozialtransferempfängern ein möglichst geringer Anteil der Transfers selbst finanziert wird und bei den Transfergebern der Transferempfang möglichst klein ist. Eine Finanzierung der Transfers über indirekte Steuern, wie es in nicht-beitragsgedeckten Systemen geschieht, ist demnach umverteilungsineffizient, weil die Transferempfänger über ihre Konsumausgaben ihre Transfers selbst mitfinanzieren. Unter Berücksichtigung der Überwälzungsvorgänge können jedoch auch beitragsgedeckte Systeme eine Selbstfinanzierung enthalten, wenn die Sozialversicherungsbeiträge in den Preisen vorgewälzt werden. Insofern sind nicht-beitrags- und beitragsgedeckte Systeme ähnlich. Unterschiede ergeben sich aus der Art der sozialen Sachverhalte, die zu sichern sind. Der Ausgleich zusätzlicher Belastungen, die nicht unsicher sind, sondern ständig anfallen, kann nur beschränkt über die Finanzierungsseite eines Systems erfolgen, da Steuerbefreiung, -senkungen oder niedere Beitragssätze bei niederen Einkommen die Belastungen nicht ausgleichen können. Das gilt beispielsweise für den Familienlastenausgleich, wo die Diskussion um die Kinderfreibeträge gezeigt hat, daß der Entlastungseffekt bei niederen Einkommen gering ist. UmverteilungseffiSystems der sozialen Sicherung der Bundesrepublik Deutschland - Eine soziodemographische Analyse aus finanzwirtschaftlicher Sicht. Referat auf dem 3. Europäischen Colloquium der ökonomischen Psychologie in Augsburg, Juli 1978. INIFES, Die Verteilungswirkungen des Systems der Sozialen Sicherheit, Forschungsauftrag des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung, Leitershofen, November 1977, S. 42 ff. 27 Soziale Sicherung
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zienzen können in beitragsgedeckten Systemen durch die klare Trennung von Beitrags- und Leistungszeiten vermieden werden. In nichtbeitragsgedeckten Systemen ist dies nicht möglich, da die Abgaben nicht für einen speziellen Zweck, sondern für viele Aufgabenbereiche erhoben werden. Umverteilungsineffizienzen können ferner dadurch entstehen, daß Systeme, die mitunter gleiche Ziele verfolgen, nebeneinander bestehen, ohne genügend aufeinander abgestimmt zu sein. Für Familien in gleicher sozialer Lage, aber mit geringen Unterschieden im Arbeitseinkommen, kann es dadurch zu deutlichen Unterschieden im verfügbaren Haushaltseinkommen kommen. Wie in Modellrechnungen gezeigt wurde, ist es sogar möglich, daß Arbeitseinkommenserhöhungen zur Reduktion im verfügbaren Einkommen führen 45 • Beitrags- und nichtbeitragsgedeckte Systeme sind deshalb letztlich in ihrer konkreten Gestaltung zusammen zu sehen und aufeinander abzustimmen. Diese Notwendigkeit ergibt sich insbesondere, um Lücken in der sozialen Sicherung zu vermeiden. Der soziale Ausgleich erfolgt in beitragsgedeckten Systemen innerhalb der Versicherungsgemeinschaft, in nicht-beitragsgedeckten Systemen innerhalb der Gesamtbevölkerung. Dadurch, daß beide Systeme nebeneinander bestehen, besteht die Gefahr von Doppelbelastungen für die Personen in den Versichertengemeinschaften, wenn es keine Anrechnungsmöglichkeiten der sozialen Ausgleichslasten im Steuersystem gibt. Eine klare Trennung der ausgleichsberechtigten Tatbestände für beitragsgedeckte Systeme einerseits und nicht-beitragsgedeckte Systeme andererseits bietet sich an.
IV. Abschließende Bemerkungen Das System der sozialen Sicherung verfolgt unterschiedliche Ziele und Funktionen. Drei wichtige Funktionen sind: (1) die Sicherung der Einkommen beim Eintritt sozialer Risiken, (2) die Stetigkeit des Einkommensstromes im Lebenszyklus und (3) die Verringerung von Einkommensungleichheiten. Alle drei Funktionen implizieren die interpersonelle Umverteilung von Einkommen, sei es von den nicht von sozialen Risiken Betroffenen 45 Vgl. die Diskussion bei R. Zeppernick, Die Bedeutung der Finanz- und Sozialpolitik für die Einkommensverteilung, in: Finanzarchiv, N. F. 33 (1974), S. 425 ff.; Th. Sarazin, Kumulative Effekte der Finanz- und Sozialpolitik auf die Einkommensverteilung, in: Finanzarchiv, N. F. 34 (1975176), S. 424 ff., R. Zeppernick, Kumulative Effekte der Finanz- und Sozialpolitik auf die Einkommensverteilung: Eine Replik, in: Finanzarchiv, N. F. 35 (1976/77), S. 469 ff.
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zu den davon Betroffenen oder von den Leistungsfähigen zu den weniger Leistungsfähigen. Während die Funktionen (1) und (2) sich noch weitgehend nach der Versicherungskonzeption realisieren lassen, widerspricht die Funktion (3) offensichtlich einer solchen Organisation, da die Beitragsgestaltung sich nicht mehr an der Äquivalenz, sondern an der Leistungsfähigkeit orientiert. Da das bestehende System konfligierende Ziele gleichzeitig verfolgt und de facto einen Komprorniß zwischen diesen Zielen darstellt, ist eine Mischung von Instrumenten der Finanzierung, konkret der Beitrags- und allgemeinen Steuerfinanzierung durchaus angebracht. Die Frage sollte also nicht lauten: "beitragsgedeckte versus nicht-beitragsgedeckte Systeme der Sozialen Sicherung", sondern: "was ist die optimale Mischung zwischen Beiträgen und allgemeinen Steuern (offensichtlichen Zuschüssen) in unserem jetzigen System?" Daß die Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung neben den öffentlichen Zuweisungen der Finanzierung des sozialen Ausgleichs in der Sozialversicherung dienen, sollte hierbei auch nicht vergessen werden. Besteht Konsens darüber, daß soziale Ausgleichselemente nicht über Beiträge der Versicherten zu finanzieren sind, dann müßten die Beiträge entsprechend dem Äquivalenzgedanken und die Finanzierung der Zuschüsse umverteilungswirksam gestalten werden. Eine strenge Trennung zwischen sozialem Ausgleich und Versicherung legt jedoch nahe, beide überhaupt zu trennen, nämlich. in eine Art Basisversorgung, welche über allgemeine Steuern finanziert wird, und in eine einkommensdifferenzierende Zusatzversorgung mit Finanzierung über einkommensabhängige Beiträge ohne Obergrenzen. Ebenfalls denkbar wäre letztlich, die sozialen Ausgleichselemente in der Beitragsgestaltung stärker zu berücksichtigen, beispielsweise durch Abschaffung der Beitragsbemessungs- und Pflichtversicherungsgrenzen. Eine solche Entscheidung kann man aber nicht nur allein aus der Sicht der Umverteilungsfunktion fällen. Selbst wenn man vom Ziel einer rationalen Gestaltung der Einkommensverteilung durch die Sozialpolitik ausgeht, ist das Abschaffen von Beiträgen und diversen parafiskalischen Institutionen nicht zwingend. Was wünschenswert erscheint, ist eine stärkere Harmonisierung der Finanzierungs- und Leistungsarten der verschiedenen sozialen Sicherungsinstitutionen, eine stärkere Finalorientierung der Leistungen sowie eine bessere Koordinierung der Träger zum Schutz der betroffenen Bürger. Dies wird auch unter dem Begriff einer "integrierten Sozialpolitik" subsumiert.
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Zusammenfassung In der einzelwirtschaftlichen Betrachtung unterscheiden sich beitragsund nicht-beitragsgedeckte Systeme Sozialer Sicherung dadurch, daß sich erstere am "Äquivalenzprinzip" und letztere am "Transferprinzip" orientieren. In der Sozialversicherung der Bundesrepublik Deutschland sind beide Prinzipien vermischt. In den Systemen der Sozialen Sicherung insgesamt kommt der Beitragsfinanzierung eine wichtige, aber keineswegs dominierende Rolle zu. Da soziale Sicherungsleistungen immer aus dem laufenden Volkseinkommen via Einkommensumverteilung zu finanzieren sind, unterscheiden sich beitrags- und nicht-beitragsdeckende Systeme Sozialer Sicherung weniger durch die ökonomischen Voraussetzungen als durch ihre Wirkungen auf Einkommenswachstum und Einkommensumverteilung. Die Art der Fondsbildung und der Tarifgestaltung sind hierbei von besonderer Bedeutung. Da das System der Sozialen Sicherung konfligierende Ziele gleichzeitig verfolgt, ist eine Mischung von Instrumenten der Finanzierung, konkret der Beitrags- und allgemeinen Steuerfinanzierung angebracht. Um was es geht, ist die Frage: "Was ist die optimale Mischung zwischen der Finanzierung über Beiträge und Zuschüssen aus allgemeinen öffentlichen Einnahmen? Ist eine Trennung zwischen Versicherung und sozialem Ausgleich allokativ und distributiv effizient?"
Summary Systems of social security financed by contributions and out of general taxes differ at the micro-economic level: The former are based on the principle of equivalent exchange and the latter on the principle of grants or (one-way) transfers. In the system of social security found in the Federal Republic of Germany both principles have been combined: Thus contributions play an important but not a dominant role. The net benefits granted by the social security system have to be financed always out of current national income via processes of redistribution. Thus systems of social security financed by contributions and out of general taxes differ less in terms of their economic determinants than in terms of their effects on the growth and distribution of national income. The way systems are funded and the contributions (tax) rate are of particular import in this regard. In as far as the social security system pursues conflicting goals simultaneously, the combined use of different instruments of financing (by contributions and out of general taxes) appears called for. Thus
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the appropriate question should be: "What is the optimal mix of financing by contributions and out of general taxes? Is aseparation of insurance and redistribution efficient both in terms of allocative and distributive goals?"
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DISKUSSIONSBERICHT
Die anschließende Diskussion bewegte sich im wesentlichen um die vier folgenden Problemkreise: a) das Problem der Rentenbesteuerung und des Verhältnisses von Steuerrecht und Sozialer Sicherung; b) die Problematik des Arbeitgeberbeitrags, seiner ökonomischen und politischen Funktionen; c) die Auswirkungen der verschiedenen Finanzierungsmodelle (Beitrags- versus Steuerfinanzierung) auf die Beschäftigungspolitik der Unternehmen und auf die allgemeine Arbeitsmarktlage; und d) die Problematik der Umverteilungseffekte der verschiedenen Finanzierungsmodelle. a) Ferreras eröffnete die Aussprache mit der Frage, warum in der Bundesrepublik Deutschland die Einkommensersatzleistungen nicht versteuert werden, obwohl doch die Einkommen, deren Ausfall hier ersetzt werden solle, ihrerseits steuerlich erfaßt würden. In Spanien werde dagegen - seines Wissens seit dem 1. 1. 1979 - die Steuerpflicht auch auf langfristige und kurzfristige Einkommensersatzleistungen erstreckt; so habe ein Rentner jedes Jahr eine Einkommensteuererklärung abzugeben und auch die kurzfristigen Leistungen, etwa Krankengeld, mit Einkommensersatzfunktion würden dergestalt besteuert, daß bei der Auszahlung der Geldleistung der Steueranteil von vornherein einbehalten werde.
Wannagat wies darauf hin, daß anfänglich die Renten so niedrig bemessen gewesen seien, daß sie ohnehin von der Lohn- und Einkommensteuer nicht hätten erfaßt werden können; danach seien die Renten zwar in beachtlichem Umfang gestiegen, aber man habe an der Nichtbesteuerung festgehalten, um die Rentensteigerungen nicht quasi nachträglich wieder zu minimieren. Zur Zeit allerdings sei die Frage der Besteuerung von Transferleistungen - wenn auch in einem anderen Zusammenhang - beim Bundesverfassungsgericht anhängig, und zwar sei die Frage zu prüfen, ob es dem Beitragsgrundsatz widerspreche, daß die Beamtenpensionen besteuert werden, die Renten aber steuerfrei sind. Heubeck entgegnete, die Renten könnten - insoweit sie von den Rentenberechtigten durch Beiträge selber finanziert werden - nicht gleichsam ein zweites Mal besteuert werden, einmal als Einkommen, von dem die Beiträge bezahlt werden, und das zweite Mal als Rente.
Diskussionsbericht
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Der Anteil der eigenfinanzierten Rente sei im Steigen begriffen, er belaufe sich zur Zeit auf 15 bis 25 0/0. An diese Kontroverse knüpfte sich eine Diskussion um das Verhältnis von Sozialpolitik und Steuerrecht sowie um die untereinander divergierenden steuerrechtlichen, sozialrechtlichen und ökonomischen Einkommensbegriffe; gerade diese inhaltliche Bandbreite des Einkommensbegriffs wurde für bestimmte Irrationalitäten und Interferenzen der Besteuerung von Transferleistungen verantwortlich gemacht. Pfaff führte die mangelnde Abstimmung zwischen Sozial- und Finanzpolitik, die seiner Meinung nach nicht nur bei der Frage der Besteuerung von Sozialeinkommen, sondern auch in der mangelnden Abstimmung zwischen Steuerfreibeträgen und Pflichtversicherungsgrenzen zutage trete, vor allem auf historische und institutionelle Gründe zurück. Einer davon sei die unterschiedliche Definition von "Einkommen" in den verschiedenen Bereichen des Steuerrechts und der Sozialpolitik. Aus ökonomischer Sicht müsse ein dem Anspruch der Rationalität genügendes System die Finanzierungs- und Ausgabenseite integriert betrachten; letztlich gehe es doch um die reale Verfügungsmacht über Güter und Dienstleistungen bei den besteuerten und bei den unterstützten Haushalten. Daher sei ein "erweitertes" Einkommenskonzept wünschenswert, das sich an einer integrierten Behandlung der Finanzierung, also der Steuern und der Ausgaben orientieren und das auch die verschiedenen Ausnahmeregelungen im Steuerrecht und im Sozialrecht untereinander abstimmen sollte.
Hedtkamp verwies darauf, daß die Frage der Rentenbesteuerung auch in der Steuertheorie heftig diskutiert worden sei. Dabei komme dem Einkommensbegriff in der Tat eine zentrale Rolle zu. Nach herrschender Meinung seien Transfers kein Einkommen. Einkommen werde insoweit definiert als Zuwendungen, die aus der laufenden Wertschöpfung oder aus der Wertsteigerung von Vermögen resultieren. Danach seien Transfereinkommen also keine Einkommen im steuerrechtlichen Sinne. Diese Einkommenskonzeption müsse aber dazu führen, die Sozialbeiträge der Steuerpflicht zu unterwerfen; denn Beitragszahlung sei nichts anderes als Einkommensverwendung. Neige man indessen der von Pfaff angedeuteten Einkommensdefinition zu und wolle man Transfereinkommen mitbesteuern, dann verfolge man insoweit das Prinzip der "einmaligen Besteuerung des Lebenseinkommens" . Dann aber müsse man entweder die Renten versteuern oder die Abzugsfähigkeit der Sozialversicherungsbeiträge beseitigen. Man könne jedenfalls nicht sowohl die Renten besteuern als auch Steuerfreibeträge (Vorsorgepauschale) in Ansehung der Sozialversicherungsbeiträge beibehalten.
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Diskussionsbericht
b) Die Diskussion wandte sich im folgenden der Problematik des Arbeitgeberanteils zu. Schulte warf die Frage atif,ob der Arbeitgeberbeitrag in einem rationalen Finanzierungssystem überhaupt einen Platz beanspruchen könne" welche ökonomische Rechtfertigung sich für ihn finden lasse und warum er historisch eingeführt worden sei. Der ökonomischen Einschätzung der Rolle des Arbeitgeberbeitrags sei womöglich die juristische Betrachtungsweise gegenüberzustellen, wonach,' insbe.., sondere nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die Sozialversicherungsbeiträge, also auch der Arbeitgeberanteil, durchaus nicht als Lohnbestandteil qualifiziert würden. Ein weiteres Problem stelle das Größenordnungsverhältnis zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteil dar; in manchen Ländern sei der Arbeitgeberanteil sehr viel höher als der Arbeitnehmeranteil. Dies könne darauf hindeuten, ,daß die hälftige Auf teilung dei Beitragslasten auf Arbeitnehmer und Arbeitgeber in der Bundesrepublik Deutschland etwas zu tun habe mit der Legitimation partitätischer Besetzungen bestimmter Aufsichtsgremieri. Schließlich sei noch nach dem Abwälzungsmechanismus zu fragen, nach der Art und Weise, wie Beitragslasten weitergegeben würden. Als Beispiel könne hier die zur Zeit zur Diskussion stehende Pflegekostenversicherungherangezogen werden. Unterstelle man, daß diese Versicherung der Rentenversicherung zugeschlagen werde, und unterstelle man des weiteren die Notwendigkeit einer Beitragserhöhung von ca. 2 %, so frage es sich doch, ob angesichts der jetzigen Arbeitsmarkt- und Konjunkturlage die Erhöhung der Arbeitgeberlasten auf die Versicherten qua Lohngestaltung oder auf die Konsumenten qua }lreisgestaltung abgewälzt werden könne. Dieser Fragenkatalog wurde durch den Diskussionsbeitrag von Bär erweitert. Bär wandte sich zunäChst gegen die verallgemeinernde "idealtypische" Betrachtungsweise, die Pflichtversicherungsbeiträge der Steuerlast gegenüberzustellen; gerade in Randbereichen der s'ozialen Sicherung seien aber differenzierte Probleme im Rahmen der Beitrags':' finanzierung zu beobachten. Der Arbeitgeberbeitrag' sei insoweit ein gutes Beispiel; vom Versicherungsprinzip her handle es sich beim Arbeitgeberbeitrag um eine Art Sonderfinanzierung einer Versicherungsleistung durch Beiträge von Personen, die selber am Versichertingsschutz nicht teilhaben. Faude habe insoweit bereits an anderer, Stelle darauf hingewiesen, daß hier weniger der' Versicherungs- als der im Sozialrecht betonte Solidaritätsgedanke als Erklärungshilfe von Bedeutung sein könne. Es sei freilich im grundsätzlichen fraglich', ob ,der Solidaritätsgedanke im: Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer ein tauglicher Erklärungstopos sei; auch im Arbeitsrecht habe, es darüber eine Diskussion gegeben, die um die Begriffe: Harmonisierungsmodell, Tarifvertragsmodell, Konfliktsmodell im Zusammenhang
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mit der Einführung des Mitbestimmungsgesetzes und der Reform des Betriebsverfassungsgesetzes geführt worden sei. Eine zweite Gruppe solcher "Sonderbeiträge" bildeten diejenigen Beiträge, die zur sozialen Sicherung von Künstlern und Autoren in Form einer Umlage von den sog. Vermarktungsunternehmen - nach Maßgabe des Entwurfs des Künstlersozialversicherungsgesetzes - geleistet werden sollten. Nach dem Entwurf dieses Gesetzes solle die Umlage in Höhe von 8 Ofo der Honorare und sonstigen Leistungen, die an die selbständigen Künstler und Autoren geleistet würden, in eine zu bildende Künstler-Sozialkasse eingezahlt werden. Zusammen mit den Pflichtbeiträgen der versicherten Künstler selber sollen die Finanzmittel der Künstler-Sozialkasse dann an die Bundesanstalt für Angestellte (für die Rentenversicherung) bzw. an die einzelnen Krankenkassen (für die Krankenversicherung) weitergeleitet werden. Die verfassungsrechtlichen Probleme bestünden dabei darin, daß durch diese Regelung unter Umständen auch Unternehmen umlagepflichtig würden, die gar keine Honorare an die pflichtversicherten Künstler und Autoren zahlen, daß es andererseits auch Versicherungspflichtige gebe, die Honorare von Unternehmen bekommen, die keine Abgabe zahlen müßten, z. B. bei Verträgen mit ausländischen Vermarktungsunternehmen. Dies werfe Fragen der "Deck:ungsgleichheit" auf, die das Gesetzesvorhaben letztlich wohl auch so lange hinausgezögert hätten. Schließlich stelle sich auch hier das Problem, ob die Künstlersozialabgabe auf die Preise auf dem Kunstmarkt und/oder auf die Honorare der Künstler abgewälzt würden. Insgesamt stelle sich auch bei dem Künstlersozialversicherungsgesetzentwurf das Grundproblem, inwieweit er das Soliaritätsprinzip verwirkliche; denn nach dem Entwurf sollen die besser verdienenden Künstler, die über einer bestimmten Jahres-Arbeitsverdienst-Grenze liegen, sich von der Versicherungspflicht befreien können. Ruland wies im Anschluß an die Ausführungen von Bär und in Anlehnung an Schulte auf die Legitimationsfunktion des Arbeitgeberbeitrags hin, die darin bestehe, die paritätische Selbstverwaltung der Sozialversicherung zu rechtfertigen. Demgegenüber trete die ökonomische Rationalität der Aufspaltung .der Beitragsaufbringungslast auf Arbeitnehmer und Arbeitgeber zurück:.
Pfaff nahm zunächst zur Frage der Aufspaltung der Beitragsaufbringungslast Stellung. Die hälftige Verteilung der Beitragsaufbringungslast auf Arbeitgeber und Arbeitnehmer sei zunächst eine Frage der politischen Ökonomie der Verteilung. Die funktionale Verteilung der Beitragslast auf Arbeitnehmereinkommen und Kapitaleinkommen beeinflusse nicht nur Legitimationsfragen der paritätischen Besetzung der Verwaltung der Sozialversicherung, wie Ruland dies zu Recht an-
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gesprochen habe, sondern zeige sich - entgegen landläufiger Meinung - besonders an der Dynamik der Vor- und Rückwälzung. Die Verteilung der Beitragsaufbringungslast sei durchaus eine ökonomische Frage; denn man könne nicht in allen Fällen davon ausgehen, daß die Arbeitgeberbeiträge voll auf Löhne oder Preise abgewälzt würden. Es seien durchaus unterschiedliche Marktkonstellationen denkbar, unterschiedliche Elastizitäten der Nachfrage, so daß ein Arbeitgeber seine eigene Beitragslast zwar oft, durchaus aber nicht in allen Fällen, überwälzen könne. Schließlich sei auch die Frage der paritätischen Selbstverwaltung eine Frage der Machtverteilung zwischen den sozialen Gruppen, die ihrerseits für die Verteilung von Einkommen von Bedeutung sei. Auch andere Funktionen der Verteilung oder der Aufspaltung der Beitragslast, wie z. B. die Handhabbarkeit der Administration und schließlich die geschichtliche Entstehung dürften nicht außer acht gelassen werden. Von Bedeutung sei insbesondere, daß - bei grundsätzlicher Aufrechterhaltung der Aufspaltung der Beitragslast - auch alternative Lösungsmodelle denkbar seien, die etwa die Beitragsaufbringungslast der Unternehmen, die sich am Lohnaufkommen im Betrieb orientiere, ersetzen könnten durch eine Beitragslast, die am Umsatz eines Unternehmens orientiert sei. Eine solche Diskussion sei gerade in Frankreich zu beobachten; es gebe insoweit viele Variationsmöglichkeiten und die Frage der Verteilung der Beitragslast sei als Element eines funktionalen Verteilungsprozesses zu verstehen. Der Umverteilungsaspekt der Finanzierung der sozialen Sicherung über Beiträge sei aber weniger anhand der Beitragslasten der Arbeitnehmer einerseits und der Arbeitgeber andererseits zu diskutieren, sondern vor allem innerhalb der Gruppe der beitragszahlenden Arbeitnehmer selber. Gerade in den letzten 15 oder 20 Jahren sei klar geworden, daß diese interne Verteilung die bedeutendere sei, weil viele Arbeitnehmereinkommen dramatisch gestiegen seien und weil im übrigen viele kleinere und mittlere Unternehmereinkommen geringer seien als die Arbeitnehmereinkommen, so daß die klassische Fragestellung der Umverteilung von Kapital- auf Arbeitseinkommen zwar nicht ohne Belang, aber doch in ihrer Relevanz deutlich abgemildert worden sei. Zur Problematik der Sozialversicherungsbeiträge und ihrer Aufbringung für die soziale Sicherung selbständiger Künstler und Autoren sei zu bemerken, daß das Modell der halben Beitragszahlung durch die Künstler und der halben Beitragszahlung durch die Vermarktungsunternehmen als Simulation des bestehenden Systems für die direkt Abhängigen zu verstehen sei. Die Frage sei allerdings, ob man diese Formel für andere Selbständige auch verwenden könne; bei anderen Selbständigen (als bei Künstlern) sei die Rolle eines Quasi-Arbeitgebers, wie die Rolle eines Vermarktungsunternehmens für die Künstler definiert werden
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könne, nicht so leicht ausfindig zu machen. Insgesamt gesehen gebe es eine Vielzahl von Finanzierungsalternativen und die hälftige Lastverteilung müsse vor allem auf historischem und auf politisch-ökonomischem Hintergrund gesehen werden. Schmähl vertrat insoweit die Auffassung, die Aufspaltung der Beitragslast habe sicherlich auch damit zusammengehangen, daß es angesichts des niedrigen Lohnniveaus der Arbeitnehmer zu jener Zeit schier unmöglich gewesen sei, sie die gesamte Beitragslast alleine tragen zu lassen. Schließlich sei - was die ökonomische, insbesondere verteilungspolitische Frage des Arbeitgeberbeitrags betrifft - darauf hinzuweisen, daß ein nicht unerheblicher Teil der Beitragslasten nicht von privaten, sondern von öffentlichen Arbeitgebern getragen werde, die diese Last jedenfalls nicht auf die Preise abwälzen könnten.
Zur Überwälzungsfrage gab schließlich Tomandl noch zu bedenken, daß die Überwälzungsproblematik der Beitragslasten bisher zu einseitig als Problem der Überwälzung der Beitragslast der Arbeitgeber angesprochen worden sei. In Österreich jedenfalls sei auch der umgekehrte Fall zu beobachten, daß die Arbeitnehmer nach einer Erhöhung der Beitragssätze in der Sozialversicherung versuchten, im Rahmen der nächsten Lohnrunde, also bei den Tarifverhandlungen die erhöhte Beitragslast auf die Arbeitgeberseite umzuwälzen. c) Die von Pfaff angesprochenen Alternativen für die Anknüpfung der Beitragslast der Arbeitgeber, also etwa die Alternative, die Arbeitgeberbeiträge nicht nach dem Lohnaufkommen, sondern nach dem Umsatz der Betriebe zu bemessen, veranlaßte Laurent, von den Erfahrungen der EG-Kommission in Brüssel mit den verschiedenen Finanzierungsmodellen und ihren Auswirkungen auf die Beschäftigungsproblematik zu berichten. In der Kommission sei die Auffassung vertreten worden, daß die Finanzierung der sozialen Sicherung über Beiträge, insbesondere über Arbeitgeberbeiträge einen negativen Einfluß auf die Beschäftigungssituation ausübe. Hierfür würden vor allem folgende Argumente ins Feld geführt: zunächst höre man immer wieder das Argument, die Beiträge seien zu hoch; sodann sei kaum zu leugnen, daß die Methode der Beitragsfinanzierung vor allem jene Beschäftigungsbereiche treffe, die einen besonders hohen Anteil an Personal haben; schließlich sei es eine weitere Konsequenz der Beitragsfinanzierung, daß ein Betrieb weniger Aufwendungen für einen vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmer als für zwei halbzeitbeschäftigte Arbeitnehmer tragen müsse. Dies spiegele sich auch in der Einstellungspolitik der Betriebe wider. Verbesserungsvorschläge gingen insbesondere dahin, statt eines lohnbezogenen Arbeitgeberbeitrages eine Besteuerung auf der Berech-
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nungsgrundlage des Mehrwerts (valeur ajoutee) einzuführen oder ganz auf das Mittel der direkten Besteuerung zurückzugreifen. In einigen Ländern der Europäischen Gemeinschaft würden zur Zeit etwa 60 bis 70 010 der Kosten der sozialen Sicherung über Beiträge finanziert. In anderen Ländern, etwa Großbritannien, betrage das Verhältnis ca. 50 : 50 010. In Großbritannien, wo also die Bedeutung der Finanzierung der sozialen Sicherung über Steuern größer sei als anderswo, sei nun aber, ganz entgegen der gerade geäußerten Vermutung, die Arbeitslosigkeit besonders hoch. Die Kommission habe dieser Tatbestand doch sehr verwundert; denn es sei eben festzustellen, daß die Vorschläge mancher Länder, angesichts der Beschäftigungsprobleme die Steuerfinanzierung zu favorisieren, in anderen Ländern verwirklicht worden seien, ohne daß aber dies die Lösung der Beschäftigungsprobleme begünstigt hätte. Die erste Schlußfolgerung, die daraus zu ziehen sei, bestehe darin, daß offenbar allenfalls sozialpsychologische Effekte zu erwarten seien, wenn ein Land mit großer Beitragslast der Arbeitgeber auf eine Steuerfinanzierung umstellen würde, daß aber die Finanzierungsweise, einmal eingeführt, kaum spezifische arbeitsmarktpolitische Folgewirkungen zeitige. Wenn in der Bundesrepublik Deutschland eine Finanzierungsdiskussion kaum geführt werde, so hänge das wohl damit zusammen, daß auch die Beschäftigungsprobleme hier vergleichsweise weniger dringlich seien als in anderen Ländern der Europäischen Gemeinschaft. Die zweite Schlußfolgerung sei die, daß man sich fragen müsse, ob es überhaupt möglich sei, eine allgemeine Theorie der Beitragsfinanzierung zu erarbeiten. Dies scheine im Gegenteil nur im jeweiligen Bezugsrahmen eines spezifischen Finanzierungssystems möglich zu sein. Was für die Beitragsfinanzierung in einem Land gelte, brauche durchaus nicht auch in einem anderen Land zu gelten. So entspreche z. B. die Beitragsfinanzierung in der deutschen Rentenversicherung dem Bemühen, die Renten proportional zum Arbeitseinkommen zu gestalten. In den Niederlanden dagegen gleiche die Finanzierung der Rentenversicherung fast einer Steuerfinanzierung, und es gebe daher auch keine einkommensproportionale Entwicklung der Renten. In Italien schließlich würden die Kosten der Rentenversicherung fast ausschließlich von den Arbeitgebern durch Beiträge abgedeckt; in Großbritannien decke das Beitragsaufkommen alle Risiken ab, so daß man nicht davon sprechen könne, der beitragszahlende Arbeitnehmer finanziere seine eigene Rente. Daraus ergebe sich der grundlegende Zweifel an der Möglichkeit, eine allgemeine Theorie des Beitrags bei der Finanzierung der Kosten der sozialen Sicherung aufzustellen. d) Die Diskussion wandte sich im folgenden der Frage nach den verteilungseffekten der Beitragsfinanzierung zu.
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Schmähl kritisierte in diesem Zusammenhang zunächst die Vergleichsparameter, die üblicherweise bei der Umverteilungsdebatte herangezogen werden. Wenn man von der Regressivwirkung der Sozialversicherungsbeiträge spreche, so beziehe man sich - anders als der Referent - nicht auf die Einkommen der Haushalte, sondern auf die Bruttolöhne. Die Beitragsbemessungsgrenze bedinge dann eine "Verteilungslrurve", die zunächst - proportional zum Bruttolohn - kontinuierlich ansteige und (erst) jenseits der Bemessungsgrenze dann den bekannten regressiven Verlauf nehme. Beziehe man die Verlaufskurve der Beitragsbelastung aber nicht auf die Bruttolöhne, sondern auf die Bruttoeinkommen der einzelnen Haushalte, so gebe es ganz unterschiedliche Verlaufsformen der Verteilungskurve, je nachdem, ob z.13. zwei Haushaltsmitglieder erwerbstätig sind oder nur der Haushaltsvorstand, und je nachdem, wie hoch der Anteil von Transferleistungen am Haushaltseinkommen sei. Eine Betrachtungsweise, die pauschal von der größeren Regressivwirlrung der Beitragsfinanzierung gegen über einer Steuerfinanzierung, gemessen an allen Haushalten, ausgeh!t und die im übrigen ja nur eine Querschnittsbetrachtung sei, die die Einkommensverteilung und Einkommensumverteilung über die Lebensspanne der einzelnen Haushaltsmitglieder hinweg außer acht lasse, trage eher zur Verwirrung bei als zur Klärung der Verteilungsvorgänge. Es empfehle sich vielmehr eine intertemporale Betrachtungsweise über den Lebenseinkommensverlauf hin und es empfehle sich des weiteren eine Differenzierung der zu analysierenden Haushalte nach der Zahl der einkommenbeziehenden Haushaltsmitglieder, nach der Art der Einkommen (Lohn versus Sozialtransfer), wenn man Aussagen über die Regressionswirkung der verschiedenen Finanzierungsmodelle treffen wolle. Schließlich sei in diesem Zusammenhang noch darauf hinzuweisen, daß z. B. 1973 in 16 Ofo der sog. Nichterwerbstätigenhaushalte die Haushaltsvorstände überwiegend von Lohn- und Vermögenseinkünften und nicht etwa von Transfers lebten. Daher sei es auch methodisch höchst angreifbar, bei der Frage der Umverteilungswirkung der Beitrags- bzw. Steuerfinanzierung zwischen Erwerbstätigen- und Nichterwerbstätigenhaushalten zu unterscheiden, wie sie in den Statistiken des Statistischen Bundesamtes erschienen. Hedtkamp wies darauf hin, daß es durchaus problematisch sei, auf der einen Seite Verteilungs aussagen auf Haushalte zu beziehen, wenn man andererseits Daten über die Einnahmen- und Ausgabenverhältnisse nur für Einzelpersonen zur Verfügung habe.
Isensee stellte die Zusatzfrage, ob sich denn wesentliche Verschiebungen gegenüber den bisherigen Feststellungen zur Umverteilungswirkung der Beitragsfinanzierung ergeben würden, wenn man in der
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von Schmähl favorisierten Weise differenzieren würde bzw. wenn man noch weiter innerhalb der Transferhaushalte nach der Quelle der Transfereinkünfte differenzieren würde, z. B. Beamtenpensionen versus Betriebsrenten. Des weiteren sei interessant zu erfahren, ob es denn eigentlich eine Statistik gebe, die die steuerrechtlichen Subventionen, die indirekten Subventionen des Sozialversicherungssystems, berücksichtige und damit erkennen lasse, was alles an Steuerelementen im Sozialversicherungssystem der Rentenversicherung selber stecke. Schließlich sei zu fragen, ob das hier vorgestellte, als "Leistungs- und Lastenmodell" zu bezeichnende Modell, das ja an sich die Verteilungsproblematik rein von der finanziellen Seite her angehe, auch offen sei für mehr sozialpolitische Fragestellungen, nämlich etwa inwieweit überhaupt, vom Sinn und Zweck der Sozialversicherung her gesehen, Umverteilungswirkungen rational oder eher Begleiteffekte seien, die vom Sicherungs auftrag des Systems gar nicht abgedeckt würden. Auch Rüfner wies darauf hin, daß bisher von Umverteilungswirkungen die Rede gewesen sei, ohne sich vorher vergewissert zu haben, ob dieses oder jenes Sozialversicherungssystem überhaupt eine Umverteilung wolle. In der Rentenversicherung sei eine Umverteilung politisch, jedenfalls im Sinne einer Einkommensnivellierung, nicht gewollt. Insoweit sei die Beitragsfinanzierung wohl hier vorzuziehen. Pfaff stimmte zunächst den Ausführungen von Schmähl im wesentlichen zu, vertrat allerdings die Auffassung, daß sich die Ergebnisse nicht wesentlich ändern würden, wenn man in der angegebenen Weise nach der Größe der Haushalte bzw. nach den Einkommensarten dieser Haushalte differenzieren würde. Es sei durchaus richtig, daß alle Verteilungsaussagen und Verteilungsanalysen, die auf Querschnittsbetrachtungen beruhten, apriori fragwürdig seien. Man brauche sich nur einmal eine Gesellschaft vorzustellen, in der alle Jungen arm, alle Alten aber reich seien, so daß im Lebenszyklus diese Individuen alle dasselbe Einkommen bezögen. Wenn man nun in dieser Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt ein Verteilungsmaß berechnen wolle, so finde man eine relativ hohe Ungleichheit innerhalb dieser Gesellschaft, obwohl nach einem bestimmten Gleichheitsbegriff eigentlich eine egalitäre Gesellschaft vorliege. Die Tatsache, daß man mit Lebenszyklen arbeiten müsse, sei allgemein bekannt, ebenso bekannt sei aber die Problematik, daß keine Daten vorlägen, die der Beurteilung jener Lebenszyklen gerecht werden könnten. Darüber hinaus würde eine solche lebenszyklische Betrachtungsweise ihrerseits - auch bei Vorliegen hinreichender Daten - beeinflußt durch Bevölkerungsstrukturveränderungen, durch Gesetzesveränderungen und schließlich auch durch die Änderungen in den Präferenzen, Wünschen und Verhaltensformen der Gesellschafts-
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mitglieder. Die Frage von Isensee nach den Statistiken sei negativ zu bescheiden. Das Sozialbudget erfasse die impliziten Transfers durch indirekte Subventionen nur teilweise; es könnten allenfalls bestimmte Daten aggregiert werden auf der Grundlage der bayerischen Einkommen- und Lohnsteuerstichprobe, also auf der Grundlage einzelner Steuererklärungen. Eine sonstige, anderweitige Einzeldatenbasis sei nicht verfügbar.
Faude gab zu bedenken, daß die bisherige Umverteilungsdiskussion gar zu wenig auf die unterschiedlichen Ausgangspositionen der einzelnen Volkswirtschaften abgestellt habe. Unterschiedliche nationale Produktionsverhältnisse bedingten auch unterschiedliche Verteilungswirkungen des Beitragsfinanzierungsmodells, so daß insoweit der These von Laurent durchaus zuzustimmen sei, eine allgemeine Theorie des Beitrags sei schlechterdings unmöglich. Von den nationalen Produktionsverhältnissen hänge es z. B. ab, ob etwa Arbeitgeberbeiträge auf Löhne oder Preise abgewälzt werden könnten. während in den westlichen Staaten die Primärverteilung des gesellschaftlichen Gesamtprodukts zunächst einmal unter den Tarifpartnern ausgehandelt werde und danach erst der Staat qua Besteuerung über den Rest verteilend und umverteilend verfügen könne, trete der sozialistische Staat selber als Arbeitgeber auf und treffe von vornherein seine Verwendungsentscheidung über das gesellschaftliche Gesamtprodukt. Die Frage, ob die Kosten der sozialen Sicherung über Beiträge oder über Steuern finanziert werden sollten, gewinne hier eine ganz andere Bedeutung. Umverteilungspolitisch sei es relativ unbeachtlich, ob ein sozialistischer Staat die soziale Sicherung vornehmlich über Beiträge oder vornehmlich über den allgemeinen Staatshaushalt finanziere. Immer handele es sich dabei um eine staatliche Verwendungsentscheidung über das gesellschaftliche Gesamtprodukt. Würde zu 100 Ofo über Beiträge finanziert, so würde der Staat dies bei der Lohngestaltung mitberücksichtigen. Würde zu 100 Ofo über den Staatshaushalt finanziert, so wäre das Gleiche der Fall. Die Umverteilung im Sinne einer spezifischen Verwendung des Mehrprodukts finde hier also von vornherein im Rahmen der autonomen Verwendungsentscheidung des Staats über das gesellschaftliche Gesamtprodukt statt. Die Umverteilungsfrage sei also nicht so sehr auf der Finanzierungs-, sondern viel eher auf der Ausgabenseite angesiedelt. So geschehe in der DDR Umverteilung im Rahmen der sozialen Sicherung vor allem dadurch, daß die Mittel der gesellschaftlichen Kon~ sumtionsfonds vornehmlich unter sozialen Gesichtspunkten zur Verteilung gelangten. Eine Theorie der Umverteilung müsse folglich auch die spezifischen Produktionsverhältnisse und ihre Einwirkungen auf die Distributionsverhältnisse in Betracht ziehen. 28 Soziale Sicherung
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Zacher versuchte danach, die Diskussion über die Umverteilungswirkungen der Finanzierungsmodelle sozialer Sicherung vorläufig zusammenzufassen. Er unterschied insoweit mehrere Dimensionen der Umverteilungsdiskussion. Die erste Dimension sei diejenige der Verteilung von "reich" auf "arm", wobei dann schon wieder die Frage auftrete, ob man von der Einkommensverteilung von reichen Individuen zu armen Individuen, von reichen Haushalten zu armen Haushalten oder aber von bestimmten reichen Gruppen zu ärmeren Gruppen spreche. Die zweite Dimension könne durch das Verhältnis Nichtbedürftige (Gesunde brauchen keine Heilleistungen) versus Bedürftige umschrieben werden, betreffe also mehr die Ausgabenseite. Die dritte Dimension sei die der Umverteilung von Einkommensbeziehern zu Nichteinkommensbeziehern. Und es sei sehr interessant gewesen zu hören, daß gerade insoweit das empirische Material sich kaum aussondern lasse und daß es fast hoffnungslos sei, in diesem Feld nach der Um verteilungs rolle des Beitrags zu fragen und eine Antwort zu geben.
Pfaff stimmte in seiner abschließenden Stellungnahme zunächst der Feststellung zu, daß eine Theorie des Beitrags auch die unterschiedlichen nationalen Produktionsverhältnisse in ihrer Wirkung auf die Distributionsverhältnisse in Betracht ziehen müsse und daß in der Tat die Unterschiede der Umverteilungswirkung bestimmter Finanzierungsmodelle so gravierend seien, daß man in einem ersten Zugriff nicht gleich versuchen solle, eine allgemeine Theorie des Beitrags zu entwickeln. Wissenschaftler seien aber aufgefordert, nicht nur Unterschiede aufzuzeigen, sondern auch Gemeinsamkeiten zu suchen. Daher solle man das Bemühen um eine solche Theoriebildung nicht ganz aufgeben. Auch Hedtkamp sei zuzustimmen, wenn er die Problematik der Transformation von Personendaten in Aussagen über Haushalte anspreche. Indessen, für die Problematik der Verteilungswirkungen seien die Wohlfahrtseffekte relevant und diese schienen im allgemeinen eher über das Haushaltskonzept beurteilungsfähig zu werden. Gehe es um fiskalische Effekte, so sei das Einkommenskonzept vorzuziehen. Nicht verwunderlich sei des weiteren, daß unsere Steuerstatistiken natürlich auf Individuen abzielten. Sicherlich sei es erstrebenswert, einerseits die personellen Wirkungen, andererseits auch die haushaltsbezogenen Wirkungen bestimmter Finanzierungsmodelle, insbesondere die des Besteuerungsmodells aufzuzeigen. Und es sei durchaus zuzugeben, daß die im Referat herangezogene sog. EVS-Klassifikation (Einkommen- und Verbrauchssteuern) des Statistischen Bundesamtes nicht der Weisheit letzter Schluß sei; sie werfe sicherlich und insbesondere für die hier in Angriff genommene Fragestellung Probleme auf. Es gebe auch andere Steuerfunktionen, mit denen man arbeiten könne und mit denen man auch arbeite. Hier sei die EVS-Funktion gewählt worden, da - wie
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betont - die Ergebnisse hinsichtlich der Umverteilungswirkungen sich auch bei größerer Differenzierung der Datenbasis nicht wesentlich geändert hätten. Dem Einwand Rüjners, es sei nicht hinreichend bedacht worden, ob überhaupt das Rentenversicherungsrecht eine einkommensnivellierende Umverteilung wolle, sei zu widersprechen; immerhin dürften neun von zehn Sozialpolitik-Lehrbüchern es als eine der wichtigsten Funktionen der Sozialpolitik bezeichnen, neben der sozialen Sicherung auch Umverteilungseffekte zu erzielen. Nicht in vollem Umfange könne auch Zacher zugestimmt werden, wenn er den Eindruck gewonnen habe, es sei gänzlich unmöglich, nach Umverteilungswirkungen zu suchen. Die Frage sei vielmehr, nach welchen Umverteilungswirkungen man suchen wolle. Nach einer Umverteilungswirkung z. B. zu suchen, die sich in den TransfersaIden ausdrücke, sei durchaus nicht ganz hoffnungslos. In der Tat stelle sich dabei freilich die Frage, wie diese Ergebnisse zu interpretieren seien. Eigentlich dürfe man nicht nur temporale, man müsse intertemporale, intergenerationale, lebenszyklusbezogene, bevölkerungsstrukturbezogene TransfersaIden berechnen. Man möge dem Referenten insoweit zugestehen, in den nächsten zwanzig Jahren in dieser Richtung weitere Forschung zu betreiben. Michael Faude
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Finanzwissenschaftliche Untersuchung Finanzwissenschaftliche Aspekte der Sozialversicherung
Von Günter Hedtkamp
1. Die Sozialversicherung im System der öffentlichen Haushalte Die Erfahrung zeigt, daß die Sozialversicherung in den verschiedenen Ländern teils Bestandteil des öffentlichen Haushalts einer Gebietskörperschaft, in der Regel der Zentrale ist, teils jedoch neben den öffentlichen Haushalten als eigenständige Rechnungs- und Planungseinheit geführt wird. Der Systemvergleich zeigt darüber hinaus, daß in den sozialistischen Ländern die Sozialversicherung in den Einheitshaushalt integriert ist, in den marktwirtschaftlich orientierten Ländern jedoch die unterschiedlichsten Formen anzutreffen sind. So liegt die Frage nahe, ob sich finanzwissenschaftliche Kriterien finden lassen, mit deren Hilfe die Eigenständigkeit oder die haushaltswirtschaftliche Zuordnung erklärt werden könnten; dabei wird man zweckmäßigerweise von den Funktionen der öffentlichen Haushalte ausgehen. Einen ersten Anhaltspunkt könnte für die Bundesrepublik Deutschland möglicherweise die Legaldefinition des Haushalts geben, nach der ein Haushaltsplan "der Feststellung und Deckung des Finanzbedarfs des Bundes oder des Landes (dient, G. H.), der zur Erfüllung der Aufgaben im Bewilligungszeitraum voraussichtlich notwendig ist. Der Haushaltsplan ist die Grundlage für die Haushalts- und Wirtschaftsführung. Bei der Aufstellung und Ausführung ist den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen." (§ 2 HGrG). Daraus läßt sich eine fiskalische oder deckungspolitische Funktion für jede einzelne Gebietskörperschaft, eine finanzpolitische im Hinblick auf das (nicht näher definierte) gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht und eine administrative für die Haushalts- und Wirtschaftsführung ableiten l • Eine Antwort auf die uns beschäftigende Frage ist 1 Zu den Aufgaben des Staatshaushalts vgl. P. Senf, Kurzfristige Haushaltsplanung, in: Handbuch der Finanzwissenschaft, 3. Auf!. Bd. I 1977, S. 374 ff.; K. H. Hansmeyer / B. Rürup, Staatswirtschaftliche Planungsinstrumente, 2. Auf!. 1975, S. 6 f.; G. Hedtkamp, Lehrbuch der Finanzwissenschaft, 2. Aufl. 1977, S. 75 ff.
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Günter Hedtkamp
daraus nicht abzuleiten, bleibt doch die Kernfrage, ob es sich hier nämlich um Aufgaben einer Gebietskörperschaft handelt oder nicht, offen; erst danach könnte darüber diskutiert werden, ob die einzelnen Funktionen in einem separaten oder eingegliederten Haushalt der Sozialversicherung besser wahrgenommen werden. Definieren wir den Haushaltsplan ökonomisch als rechnungsmäßige Gegenüberstellung der geplanten Ausgaben und Einnahmen einer bestimmten Wirtschaftseinheit zur Realisierung der von dieser verfolgten Zielsetzungen, so hilft dies für die hier zur Diskussion stehende Frage nicht viel weiter. Es bleibt die Frage offen, welche Ausgaben und welche Einnahmen sollten in einen öffentlichen Haushalt aufgenommen werden, was also sind öffentliche Aufgaben, die dann zu entsprechenden Ausgaben führen, und welches sind schließlich die dafür adäquaten Finanzierungsinstrumente. Das hier zu behandelnde Problem führt mithin unmittelbar in die Theorie von den öffentlichen Gütern2 , den Mischgütern und den privaten Gütern. Sowohl im Hinblick auf im Sinne marktwirtschaftlicher Zielsetzungen optimale Entscheidungen als auch auf eine sachgerechte Allokation ist die Einbeziehung einer Aufgabe in den öffentlichen Haushalt immer dann angezeigt, wenn öffentliche Güter angeboten werden, bei den Mischgütern und privaten Gütern dagegen nur dann, wenn diese unabhängig von den Präferenzen der privaten Nutznießer bzw. in Ergänzung oder Korrektur jener Präferenzen von der öffentlichen Hand bereitgestellt - nicht notwendigerweise auch produziert - werden, d. h., wenn es sich um sogenannte meritorische Güter handelt. Dabei mag die Frage offen bleiben, ob es sich gegebenenfalls empfiehlt, innerhalb des öffentlichen Haushalts einen Sonderhaushalt aus administrativen oder anderen Gründen einzurichten3• Die vorgeschlagene Regel geht davon aus, daß eine Zuordnung zum öffentlichen Haushalt dann sinnvoll ist, wenn bei der Erfüllung einer bestimmten Aufgabe der Staat in Ausübung seiner spezifischen staatlichen Funktionen handelt und sich dabei seiner spezifischen Mittel bedient. Im Bereich der öffentlichen Güter muß er wegen des Marktversagens 4 die Bereit2 Zum Begriff der öffentlichen Güter vgl. G. Krause-Junk, Abriß der Theorie von den öffentlichen Gütern, in: Handbuch der Finanzwissenschaft, 3. Auf!. Bd. I, S. 687 ff. 3 Vgl. hierzu die ältere Diskussion um das Non-Affektations-Prinzip, vor allem K. Heinig, Das Budget, Bd. 1, 1949. 4 Im Gegensatz zu den rein privaten Gütern sind spezifisch öffentliche Güter dadurch gekennzeichnet, daß bei ihnen das Ausschlußprinzip des Marktes nicht angewendet werden kann, da diese Güter ihrer Struktur nach nicht zugerechnet werden können, die Güter nicht teilbar sind, der Gemeinschaft also en bloc zur Verfügung gestellt werden oder fallende Grenzkosten vorliegen oder der Konsum eines Individuums denjenigen eines anderen
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stellung von Gütern garantieren, die wegen der extrem hohen Transaktionskosten nicht über das Ausschlußprinzip des Marktes angeboten werden können und für die Gesamtheit der Bürger en bloc zur Verfügung gestellt werden müssen; bei den meritorischen Gütern schließt der Staat durch politische Setzungen Lösungen aus, die der (aktuellen und tel quel vorgefundenen Präferenzen) Konsumentensouveränität entsprechen würden, auch dann, wenn es sich bei den Gütern in ihrer ökonomischen Grundstruktur um private oder Mischgüter handelt, von denen wenigstens die zuerst genannten durchaus über Märkte bereitgestellt werden könnten. Der Staat wird immer dann private und Mischgüter anbieten, wenn aus politischen Gründen die marktwirtschaftliche Allokation nicht akzeptiert wird, weil etwa das Angebot nach Volumen und/oder Struktur als suboptimal angesehen wird, oder wenn, wie vor allem im Falle der Sozialversicherung, die private Nachfrage nach Umfang und/oder Aufteilung bei politischer Bewertung unbefriedigend erscheint. Die dadurch "meritorischen" (Musgrave)5 Charakter annehmenden privaten und Mischgüter könnten ihre Legitimation zunächst im höheren Bewußtsein der staatlichen Entscheidungsträger, in der größeren Übersicht oder auch im politischen Führungsanspruch einer Elite finden. Ein anderes Legitimationsmuster legt Wert auf die Übereinstimmung der Allokation auch meritorischen Güterangebots mit den individuellen Präferenzen, wenn die privaten Entscheidungen durch mangelnde Information, durch Unsicherheit oder durch Irrationalität gekennzeichnet sind. Gerade für die mit der Sozialversicherung abgedeckten Risiken wird man die zuletzt genannten Argumente gerne heranziehen und auf die Notwendigkeit hinweisen, eine den individuellen Präferenzen entsprechende rationale Entscheidung durch staatliche Aktivität erst zu ermöglichen, so daß Entscheidungen herbeigeführt werden, wie sie bei vollständiger Information und unter Sicherheit gefällt worden wären. Für den Versicherungszwang spielt jedoch auch die vermutete Irrationalität der privaten Entscheidung eine Rolle; inwieweit eine solche tutorielle Verhaltensweise des Staates noch als individualistische Lösung des Allokationsproblems bezeichnet werden kann, mag dahingestellt sein. Es ist freilich bei allen diesen Legitimationsansätzen die Frage zu prünicht reduziert (non-rivalness). Diese Kriterien lassen sich darin zusammenfassen, daß von den rein öffentlichen Gütern nur externe Effekte ausgehen, eine Internalisierung dieser Effekte bei den Nutznießern ohne Zwang u. a. m. nicht möglich scheint. Dies gilt jedoch nicht zeit-raum-unabhängig; es hängt vom Datenkranz, der durch die ideologischen und politischen Vorstellungen einer bestimmten Epoche und eines bestimmten Raumes geprägt ist, ab, in welchem Umfange privater oder gruppenbezogener Zwang zur Internalisierung solcher Effekte möglich ist. S Vgl. R. Musgrave, The Theory of Public Finance, 1959; ders., Provision of Social Goods in the Market System, in: Public Finance, 1971, S. 304 ff.
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fen, ob die individualistische Legitimation nur nachgeschoben wird, um eine auferlegte Präferenzstruktur (imposed welf are function) zu verschleiern. Das wird immer dann anzunehmen sein, wenn der Staat sich anheischig macht, die mittelfristig nur verdeckten Präferenzen der Individuen sichtbar zu machen. Wenden wir die Theorie von den öffentlichen Gütern auf die Sozialversicherung an, so kann kein Zweifel daran bestehen, daß es sich bei den von der Sozialversicherung übernommenen Leistungen ihrer ökonomischen Struktur nach in der Regel um private Güter im Sinne dieser Theorie handelt, die von den privaten Versicherungsunternehmen auch nach dem Prinzip der versicherungstechnischen Äquivalenz hätten bereitgestellt werden können. Das Ausschlußprinzip, nach dem jeder von der Leistung ausgeschlossen wird, der nicht zahlungsbereit ist, hätte ohne technische oder ökonomische Schwierigkeiten angewendet werden können. Die öffentliche Bereitstellung findet ihre Legitimation in den meritorischen Zielsetzungen: es wird eine andere Entscheidung gefällt als diejenige, die von den Bürgern getroffen worden wäre, wenn sie ihren aktuellen unkorrigierten und nicht vervollständigten Präferenzen folgen würden. Damit liegt die Bereitstellung dieser Leistungen durch öffentliche Aktivität logisch auf derselben Ebene wie die staatliche Aktivität im Bildungs- und Gesundheitswesen; Abweichungen sind nur gradueller Art. Wenn diese vom Staat bereitgestellten meritorischen Güter haushaltsmäßig gleichwohl unterschiedlich behandelt werden, so folgt das nicht aus der Natur der Sache, sondern kann nur mit administrativen oder institutionellen Besonderheiten gerechtfertigt werden. Hier könnte auf die Selbstverwaltung oder die viel bemühte "Sozialpartnerschaft" verwiesen werden. Dies wiederum dürfte dann jedoch keine Fiktion sein. Im ersten Fall müßten die Entscheidungen der Selbstverwaltungseinheiten autonom gefällt werden und dürften keine unmittelbare Rückwirkung auf die öffentlichen Haushalte haben, d. h. diese dürften durch die Entscheidungen der Sozialversicherungsträger nicht unmittelbar betroffen sein. Sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt, so ist in Übereinstimmung mit den klassischen Haushaltsgrundsätzen im Interesse der Vollständigkeit voraussetzenden rationalen Entscheidungen eine Integration der Sozialversicherung in den öffentlichen Haushalt angezeigt. Das gilt um so mehr, wenn nicht die Sozialversicherungsträger als solche, sondern der Staat die wichtigsten sozialpolitischen Entscheidungen auch auf diesem Gebiete selbst trifft, wenn er hier das Angebot an meritorischen Gütern ebenso bestimmt wie in den übrigen Bereichen vergleichbarer staatlicher Aktivität. Wie immer die konkrete Regelung aussehen mag, bei Staatsquotenvergleichen sind solche Sozialversicherungsaktivitäten in die Rechnung einzubeziehen6•
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Wenn es in den meisten Ländern Aufgabe der Sozialversicherung ist, neben oder an die Stelle der privaten und individuellen Daseinsvorsorge eine kollektive oder doch zumindest eine die individuellen Präferenzen korrigierende Vorsorge zu etablieren, ja sogar über die eigentlichen Aufgaben des Ausgleichs bzw. der Übernahme der explizit aufgenommenen Risiken hinausgehend allgemeine Aufgaben des Staates von der Verteilungspolitik bis hin zur Regionalpolitik (Italien) zu übernehmen 7 , so ist die Zuordnung zu den meritorischen Staatsleistungen unausweichlich. Das gilt natürlich nicht für diejenigen Sozialversicherungssysteme ohne Beitrags- und Beitrittspflicht, die weitgehend dem Versicherungsprinzip folgen (System der Kassenfreiheit). Solche Systeme wären auch dann nicht in den öffentlichen Haushalt zu integrieren, wenn der Staat die private Aktivität nur subventionieren würde, um über einen ermäßigten Preis eine größere, eventuell auch anders strukturierte Nachfrage zu stimulieren. Eine Einbeziehung solcher privater, nur mittelbar beeinflußter, nach marktwirtschaftlichen Prinzipien arbeitender Sozialversicherungsträger in den öffentlichen Haushalt wäre verfehlt. In den existierenden Sozialversicherungssystemen wird auf das Äquivalenzprinzip in sehr unterschiedlichem Maße zurückgegriffen: das betrifft vor allem die Bemessung der Beiträge nach den jeweiligen Risiken. Je konsequenter das Äquivalenzprinzip angewendet wird, um so mehr wird es auf der Ausgabenseite zu einer starken Differenzierung der Leistungen kommen (durch Homogenisierung der Leistungen nach dem jeweiligen Risiko in Form individuell oder sac...'1lich abgegrenzter Gefahrenklassen). Die Tatsache, daß von der Sozialversicherung auf quasi-äquivalente Beiträge zurückgegriffen wird, steht der Einbeziehung in den öffentlichen Haushalt ebensowenig im Wege wie bei anderen über Gebühren und Beiträge finanzierten Staatsleistungen. Entscheidend ist, ob mit der Sozialversicherung meritorische Zielsetzungen verfolgt werden. Ob dann eine Beitragsfinanzierung im Sinne der politischen Zielsetzungen auch immer effizient ist, ist eine andere Frage. Soweit mit der Sozialversicherung wenigstens im Grundsatz eine Finanzierung von meritorischen Gütern jedoch in Anlehnung an das Äquivalenzprinzip angestrebt wird, kann eine verrechnungstechnische Sonderregelung in Analogie zum Gebührenhaushalt zweckmäßig sein. 6 Wissenschaftlicher Beirat beim Ministerium der Finanzen, Gutachten zur Aussagefähigkeit staatswirtschaftlicher Quoten, in: Bulletin Nr. 90, 30. Juli 1976, S. 849 ff.; K. Littmann, Definition und Entwicklung der Staatsquote, 1975; A. Oberhauser, Stabilitätspolitik bei steigender Staatsquote, 1975. 7 Vgl. A. van Buggenhout, La securite sociale dans l'economie, in: IIFP, Finances Publiques et Securite Sociale, Lyon - Paris - Saarbrücken 1969,
S. 21 ff.
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Mit der Loslösung vom Äquivalenzprinzip wird jedoch die Versicherungsbasis, die Rechtfertigung der Beitragsfinanzierung überhaupt verlassen und auch die haushaltsrechtliche Sonderstellung in Frage gestellt. Der Charakter der Sozialversicherung ändert sich grundlegend, wenn die Leistungen uniformiert werden (meist mit nivellierendem Effekt). Das Grundprinzip der Versicherung wird aber auch dann verlassen, wenn der Kreis der Versicherten unter fiskalischem Aspekt abgegrenzt wird, wenn weder meritorische Zielsetzungen noch Äquivalenz gemeint sind, sondern Kostendeckung für " schlechte " Risiken durch den Vorstoß in "gute" Risiken. Auch der Finanzausgleich zwischen den einzelnen Versicherungsträgern widerspricht im Grundsatz dem Äquivalenz- und Versicherungsprinzip (Homogenisierung der Risiken), wenngleich das Umlageverfahren hier wegen der Strukturdifferenzen einen darauf begrenzten Ausgleich nahelegt. Es wird mit den aufgezeigten Maßnahmen die Grundlage sowohl eines Teilhaushalts innerhalb des öffentlichen Haushalts als auch die Beitragsfinanzierung selbst in Frage gestellt. In Ländern mit Sonderhaushalten für die Sozialversicherung haben diese trotz Mischfinanzierung meist den Charakter von öffentlichen Teilhaushalten. Das ist nicht unproblematisch, denn eine Gesamtbetrachtung aller öffentlichen Aktivitäten ist eine unabdingbare Voraussetzung für rationale finanzwirtschaftliche Entscheidungen. Die mit separaten Sonderhaushalten verbundenen Probleme wurden in der älteren finanzwissenschaftlichen Literatur bei der Erörterung der Haushaltsgrundsätze hinlänglich diskutiert. Darauf sei hier verwiesen. Gerade bei den Sonderhaushalten liegt die Gefahr nahe, daß ausgabewirksame Beschlüsse jeweils auf der anderen Ebene so getroffen werden, als sei dafür die Finanzierung über den als komplementär angesehenen Haushalt gesichert8 • 2. Die Finanzierung der Sozialversicherung im System der öffentlichen Einnahmen Unter den Einnahmen der Sozialversicherung dominieren in vielen westlichen Ländern die lohngebundenen Abgaben der Versicherten einerseits und (mit Schwerpunkt in den sozialistischen Ländern) der Unternehmen andererseits 9• Daneben wird jedoch ein wachsender Teil der Sozialversicherungsausgaben über das allgemeine öffentliche Budget, letztlich also im wesentlichen über Steuern finanziert. Die sonstiB Vgl. A. T. Peacock, The Economics of National Insurance, EdinburghLondon - Glasgow 1952, S. 102. 9 Vgl. G. Hedtkamp und N. Penkaitis, Das sowjetische Finanzsystem, 1974, S. 93 ff. u. 189 ff.
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gen, vor allem aus Sondervermögen stammenden Einnahmen, spielen eine immer geringer werdende Rolle. Die Frage nach der finanzwissenschaftlichen Klassifikation der zuerst genannten "Beiträge" von Versicherten und Unternehmen wird in der Literatur entweder erst gar nicht gestellt oder aber nicht eindeutig beantwortet, da die zur Klassifikation üblicher weise herangezogenen Kriterien wie Zwang, Äquivalenz, direkte oder indirekte Beteiligung des Staates am Wirtschaftsprozeß nur partiell anwendbar scheinen und zudem eine Aussage über die Sozialversicherungsbeiträge schlechthin nicht möglich ist, hängt diese doch von der Ausgestaltung der Sozialversicherung insgesamt und ihrer einzelnen Versicherungs arten ab. Soweit die Sozialversicherungsbeiträge Gegenstand von Klassifikationsbemühungen sind, werden sie in der Regel zusammen mit anderen Beiträgen (z. B. Anliegerbeiträgen) abgehandelt. Dabei wird regelmäßig darauf hingewiesen, daß, wenn überhaupt, ein nur lockerer Zusammenhang mit der allgemeinen Kategorie der Beiträge bestehe, die dann ihrerseits häufig als zwielichtige Kategorie (Hettlage) apostrophiert wird. Sozialversicherungsbeiträge werden in der älteren Literatur z. B. von Büchner10 als Beiträge im weiteren Sinne definiert, da sie im Gegensatz zu anderen Beiträgen nicht an eine Steigerung von Vermögensvorteilen anknüpfen, sondern das Ziel verfolgen, Schäden abzuwehren oder entstandene Schäden zu beseitigen. Solche Argumentation ist jedoch vordergründig, denn in diesen wie in jenen Fällen werden die Beiträge zum Ausgleich von Vorteilen erhoben (Vorteils- und Lastenausgleich). Da diese Vorteile bei den Beiträgen im allgemeinen im Gegensatz zur Gebührenfinanzierung nicht unmittelbar greifbar und zurechenbar sind, muß bei allen diesen Beiträgen von einer mehr oder minder fundierten Hypothese über die Inzidenz der betreffenden Ausgaben ausgegangen werden. Die Unsicherheit gerade in der Inzidenzfrage verursacht jenes Unbehagen, das dazu führt, die ganze Einnahmenkategorie in Frage zu stellen. Soweit private Güter von der öffentlichen Hand angeboten werden, sind über die Zurechenbarkeit noch einigermaßen überzeugende Aussagen möglich. Dann aber werden jedoch in der Regel Gebühren erhoben. Bei öffentlichen Gütern und bei Mischgütern mit hohen externen Effekten ist die Zurechnung jedoch nicht nur problematisch, sondern weitgehend willkürlich. Wenn trotzdem versucht wird, ohne eine theoretisch und empirisch fundierte Hypothese eine bestimmte Verteilung der von solchen Gütern ausgehenden Effekte als Basis für die Beitragsbemessung zu konstruieren, so müssen die Lösungen unbefrie10 Vgl. R. Büchner, Beiträge, in: Handbuch der Finanzwissenschaft, 2. Aufl., hrsg. von W. Gerloff und F. Neumark, Bd. 2, S. 236.
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digend bleiben l l . Da in der Regel öffentliche Güter oder doch Mischgüter mit hohen externen Effekten mit Beiträgen gekoppelt wurden, muß die Kategorie der Beiträge in der Tat insgesamt "zwielichtig" (K. M. Hettlage: Beiträge. In: HdSW, Bd. 1, S. 727) bleiben. Bei der Sozialversicherung werden jedoch in der Regel private Güter bereitgestellt, so daß unter diesem Aspekt die Kategorie der Gebühren eher den Sozialversicherungsbeiträgen gerecht würde, soweit es sich um die Sozialversicherungsbeiträge der Versicherten handelt. Doch stört für diese Zuordnung die Tatsache, daß die Erhebung der Sozialversicherungsbeiträge zwangsweise, in steuer ähnlicher Form geschieht, so daß von dorther, nämlich mit der meritorischen Zielsetzung, wieder die Nähe zur Kategorie der Beiträge im allgemeinen Sinne hergestellt wird. Bei den Beiträgen handelt es sich ja auch in der Regel um Zwangsabgaben, denen sich keiner entziehen kann, der den gesetzlich fixierten Tatbestand erfüllt, an den der Beitrag anknüpft. Es liegt fernerhin allen Beiträgen die Idee des Vorteils ausgleichs zugrunde12 mit der Maßgabe, daß nicht der Vorteil, der sich nach Maßgabe der individuellen Präferenzen ergibt, die Zurechnung bestimmen soll, sondern ein wie immer objektivierter, vom Staat bewerteter Vorteil. Da gerade die auferlegte Präferenz ergänzung oder auch -korrektur die Sozialversicherungspflicht letztlich begründet, kann darin das Spezifische des Sozialversicherungsbeitrags der Versicherten gesehen werden. Insofern ist dieses Definitionskriterium des Beitrags auch hier erfüllt. Ökonomisch handelt es sich bei den Beiträgen der Versicherten um Transaktionen von Strom größen vom privaten auf den öffentlichen Sektor der Volkswirtschaft, die zumindest teilweise mit Gegenleistungen verbunden sind, die jedoch im Gegensatz zur Bewertung durch den Markt vom Staat autonom bewertet werden, zu einem Teil handelt es sich sogar um Abgaben ohne zurechenbare Gegenleistung 13 • Für jenen letztgenannten Teil könnte von einer Besteuerung gesprochen werden, da Steuern als Zwangs transfers (Ströme oder Bestände) vom privaten zum öffentlichen Sektor ohne Gegenleistung definiert werden. Das trifft z. B. für den Teil der Krankenversicherungsbeiträge zu, der unabhängig vom Versicherungs risiko nach Umverteilungsgesichtspunkten 11 Vgl. hierzu die Bemühungen, Nutzen öffentlicher Ausgaben nach verschiedenen Bemessungsgrundlagen zu verteilen, in: G. Hedtkamp, Internationale Finanz- und Steuerbelastungsvergleiche, in: HdF, 3. Aufl., Bd. I, § 4. 12 K. M. Hettlage (Beiträge, in: HdSW, Bd. 1, S. 727 ff.) definiert Beiträge als öffentliche Abgaben, die von den Merkmalen Zwang, Einkommenserzielung, Vorteilsabgeltung und Deckung des Finanzbedarfs eines öffentlichen Gemeinwesens geprägt sind. 13 Vgl. G. Hedtkamp, Klassifikation der öffentlichen Einnahmen, in: Handbuch der Finanzwissenschaft, 3. Aufl., hrsg. von N. Andel, H. Haller und F. Neumark, Bd. II (1978), S. 63 ff.
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erhoben wird. Geschieht dies, so erhebt sich gleich die Frage, ob das Instrument einer Gruppensteuer für das Umverteilungsziel effizient ist, ob nicht die positiv beurteilten Effekte einer gleichmäßigeren Verteilung (wie bei jedem anderen wirtschaftspolitischen Ziel) der Gesamtheit der Bürger ohne Unterschied zuzurechnen sind (d. h. bei den allgemeinen wirtschaftspolitischen Zielen handelt es sich um nichts anderes als um öffentliche Güter), so daß auf der anderen Seite auch alle Bürger zur Finanzierung herangezogen werden müßten, so daß für dieses Ziel die Steuerfinanzierung das adäquate Finanzierungsinstrument wäre14 • Soll jedoch am Versicherungsprinzip und am Äquivalenzprinzip für weite Teile der Sozialversicherung festgehalten werden, so empfiehlt es sich, Beitrags- und Steuerelemente, also Äquivalenzprinzip und Umverteilungsziel nicht im Finanzierungssystem der Sozialversicherung zu vermischen, sondern die Verteilungswirkungen durch Zahlungen aus dem Staatshaushalt an die jeweils zu unterstützenden Bevölkerungsgruppen oder Einzelpersonen herbeizuführen, die ja auch zweckgebunden gewährt werden können. Im Hinblick auf das Verteilungsziel könnte auf diese Weise auch differenzierter, d. h. unter Berücksichtigung der gesamten individuellen Lage der Betroffenen vorgegangen werden. Eine solche Trennung von Versicherung und Verteilungspolitik würde eine zieladäquate, effiziente Allokation begünstigen und auch viele Mißverständnisse vermeiden helfen. Diese sind nicht zuletzt auch auf die Tatsache zurückzuführen, daß in vielen Ländern neben den Versicherten auch die Unternehmen zur Beitragsfinanzierung herangezogen werden (vgl. weiter unten). Einer solchen Trennung von Verteilungsziel und Sozialversicherung könnte die Unmöglichkeit einer Differenzierung zwischen Allokation und Verteilung im öffentlichen Haushalt entgegengehalten werden (in Analogie zur Diskussion über die Budgetaufteilung, wie sie von Musgrave vorgenommen wurde). Das betrifft jedoch nur dann unser Problem, wenn die Allokation nach dem Äquivalenzprinzip selbst als Effizienzregel in Frage gestellt und in diesem Bereich für politisch abwegig gehalten wird. Solange jedoch am Äquivalenzprinzip im Grundsatz festgehalten wird, ist die Trennung von Versicherung und Verteilungspolitik aus Effizienzgründen aufrechtzuerhalten. Die Heterogenität des Gesamtsystems wird noch dadurch verstärkt, daß in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg z. T. unter dem Eindruck 14 Vgl. zu den Verteilungszielen und -wirkungen W. Albers, Die Umverteilungswirkungen sozialer Leistungen, in: Soziale Arbeit, Bd. 14 (1965), S. 307 ff.; N. Andel, Verteilungswirkungen der Sozialversicherung am Beispiel der gesetzlichen Krankenversicherung in der Bundesrepublik Deutschland, in: W. Dreißig (Hrsg.), Öffentliche Finanzwirtschaft und Verteilung II!, 1975, S. 39 ff.; J. Weitenberg, The Incidence of Social Security Taxes, in: Public Finance 1969, S. 193 ff.
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der Weltwirtschaftskris~ als neuer Zweig der Sozialversicherung die Arbeitslosenversicherung 15 geschaffen wurde, die sich insofern nur schwer in das Gesamtsystem einordnen läßt, als hier die individuelle Zufälligkeit und versicherungsmathematische Voraussehbarkeit des Risikos und somit die Grundlage versicherungstechnischer Äquivalenz fehlt. Was in der Arbeitslosenversicherung versichert wird, ist ein gruppenspezifisches kollektives Risiko, das in einer kollektiven Organisation und Finanzierung seine Entsprechung finden muß. Dabei ist zu berücksichtigen - soweit eine Parallele zur Versicherung angestrebt wird -, daß der Einzelne nach Maßgabe seines Einkommens von der Arbeitslosigkeit unterschiedlich schwer betroffen wird. Soll insoweit das Äquivalenzprinzipauch bei dieser Versicherungsart angewendet werden, so ist eine einkommensabhängige gruppenspezifische Bemessung von solchen steuerähnlichen Beiträgen (Gruppensteuern oder Beitragsteuern16) und Leistungen angebracht. Wie bei jeder Abgabe leitet sich die Wahl der speziellen Abgabeart jedoch nicht aus dem ökonomischen Raisonnement ab. Ökonomisch läßt sich zwar sagen, welche Abgaben der öffentlichen Hand für eine Finanzierung überhaupt in Frage kommen, ob eine Finanzierung nach dem Äquivalenzprinzip möglich und effizient ist; die Entscheidung über Steuer-, Gebühren- oder Beitragsfinanzierung hängt jedoch letztlich vom politischen Gewicht ab, das dem Äquivalenzprinzip im Rahmen der Haushaltsfinanzierung überhaupt eingeräumt wird, und von der Bewertung jener externen Effekte, die von der Realisierung bestimmter wirtschaftspolitischer Ziele, in diesem Zusammenhang vor allem des Verteilungsziels, ausgehen. Aus den bisherigen Überlegungen wird deutlich, daß eine undifferenzierte Zuordnung aller Sozialversicherungsbeiträge, sei es zu den Beiträgen oder sei es zu den Steuern, den Unterschieden in den Sozialversicherungssysternen, den Versicherungs arten und den speziellen Ausgestaltungsformen nicht gerecht wird. Die Aussage, es handele sich hier schlechthin um eine payr:oll-tax, die im wesentlichen von den Armen aufzubringen sei, ist daher zumindest in dieser Allgemeinheit nicht haltbar17 • Auch ist in der Auseinandersetzung um den Beveridge 15 Der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung ist in der Bundesrepublik Deutschland inzwischen durch einen "Beitrag" zur Finanzierung der Bundesanstalt für Arbeit abgelöst worden, von der auch allgemeine Aufgaben der Arbeitsmarktpolitik wahrgenommen werden. Damit wurden die Grundlagen der Beitragsfinanzierung vollends verlassen. 16 Vgl. H. Haller, Die Steuern, 1964, S. 283 ff. 17 So argumentiert z. B. J. A. Brittain, The Payroll Tax for Social Security, Washington D. C. 1972, S. 7: "The key misconception is the image of the payroll tax as a ,contribution' to a ,trust fund' analogous to private contribution under a private insurance program. This conception persists despite
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Report, der sich die verschiedensten politischen und ökonomischen Begründungen für eine Beitragsfinanzierung der Sozialversicherung zu eigen gemacht hat, ein pauschales negatives Urteil über die Beitragsfinanzierung angesichts der oft schwachen Argumentation dieses Reports zu schnell formuliert worden. So tritt Peacock18 in Übereinstimmung mit Lady Rhys-Williams für eine allgemeine Finanzierung der Sozialversicherung aus dem Budget ein, die er dann - wie so oft in der Literatur - im wesentlichen mit einer Einkommensteuerfinanzierung gleichsetzt, so als sei dies identisch mit der Haushaltsfinanzierung. Auf diese Weise kommt er zu der - auch dann nicht zwingenden - Folgerung, daß die allgemeine Finanzierung dem Verteilungsziel (im Sinne personaler Verteilung) gerechter werde. Gerade die Umverteilungseffizienz der haushaltsfinanzierten Sozialversicherung muß jedoch bestritten werden. Nicht nur ist die Progressivität des Gesamteinnahmensystems nicht so sicher, wie es Peacock u. a. unterstellen, noch kann von der Ausgabeninzidenz der Sozialversicherungsleistungen ohne weiteres behauptet werden, daß sie dem Verteilungsziel (über alle Personen der Gesellschaft) förderlich sei. Das gilt vor allem dann, wenn nur gruppenspezifisch oder nach verteilungsfremden Kriterien umverteilt wird. Daher spricht auch im Interesse einer effizienten Verteilungspolitik sehr viel dafür, die Finanzierung nach dem Äquivalenzprinzip nicht preiszugeben, dafür aber durch gezielte Transferzahlungen Sozialpolitik im Sinne von Verteilungspolitik und Familienlastenausgleich zu betreiben. Argumente gegen das jetzige System wie die, daß eine zum Teil durch Steuern finanzierte Sozialversicherung ebensowenig Versicherung sei wie eine ganz aus dem Haushalt finanzierte 1D, ist zu undifferenziert, in dieser Form nicht haltbar und geht auch am eigentlichen Problem der äquivalenztheoretisch begründeten Finanzierung vorbei. Noch einen Schritt weiter geht Lady Rhys-Williams, wenn sie implizit die alte Assekuranztheorie der Besteuerung wieder hervorholt und das ganze staatliche Sozialsystem als eine große Versicherung betrachtet, für die jeder nach seiner Leistungsfähigkeit Steuern als QuasiVersicherungsprämien zu zahlen hat: das wäre Versicherung ohne versicherungstechnische Äquivalenz, also nicht Versicherung. Schließlich sagt auch der Hinweis auf angebliche Inkonsistenzen nicht viel, nämlich daß es im heutigen System Vorteile gebe, die entgolten werden müssen, the fact that (1) the tax is involuntary (2) the trust fund at a given moment could finance only about one year's benefits, and (3) individual benefits are only related to tax paid." Die Gegenposition vertritt C. Shoup, Public Finance, Aldine 1969, S. 164 ff. 18 A. T. Peacock, The Economics of National Insurance, Edinburgh - London - Glasgow (1952), S. 99 f. U A. T. Peacock, The Economics ... , S. 101.
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und solche, die kostenlos in Anspruch genommen werden können2o , wenn nicht vorher die Rationalitätskriterien für das System definiert werden. Richtiger müßte es heißen, daß es in der Ökonomie die Regel ist, daß für benefits gezahlt werden muß, daß die marktwirtschaftliche Allokation diesem Prinzip folgt und daß jeder Verzicht darauf schon aus Effizienzgründen legitimiert werden muß, entweder mit absolutem Marktversagen (öffentliche Güter) oder mit dem letztlich politischen Argument, daß bestimmte Einkommensverwendungen der Privaten oder der Empfang bestimmter Leistungen aus dem privaten oder öffentlichen Sektor mit so hohen positiven externen Effekten für die Gemeinschaft verbunden ist, daß eine Internalisierung, d. h. eine Übernahme der Kosten durch die Gemeinschaft angezeigt ist. Dann aber ist die Frage nach dem effizientesten Mittel für diese Internalisierung zu stellen. Bisher wurden die Beiträge der Versicherten betrachtet. Von grundsätzlich anderer Struktur sind die Sozialversicherungsbeiträge der Unternehmen, die meist in Abhängigkeit von der Lohnsumme erhoben werden. Für diese Zwangstransfers ohne Gegenleistung ist die Einordnung als payroll-tax, flat-rate tax oder Lohnsummensteuer in der Literatur offenbar nicht problematisch21 , wenngleich für die nähere Charakterisierung dieser "Steuer" Probleme auftreten. So ist die Frage zu klären, ob die Sozialversicherungsbeiträge der Unternehmen nicht Bestandteil der Lohnsumme sind, was meist gleichzeitig behauptet wird; dann könnte man aber nicht ohne weiteres von einer Steuer sprechen. Dies entspricht zwar der Konvention in den volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen, bleibt aber theoretisch kontrovers. Eine solche Interpretation der Beiträge als Lohnbestandteil müßte diese in Analogie zu Investivlöhnen als zweckgebundene Lohnbestandteile interpretieren, jedoch mit der Absonderheit, daß diese der Tarifauseinandersetzung mehr oder weniger entzogen sind. Diese These ohne gewagte Hypothesen zu begründen, ist gar nicht so einfach. Kann man sich zu einem solchen Konstrukt nicht entschließen, so bleibt die Möglichkeit, in diesen Beiträgen der Betriebe eine zweckgebundene Sondersteuer zu sehen, eine "Beitragsteuer" im Hallerschen Sinne, mit der ein anderer Kreis von Nutznießern der Sozialversicherung, nämlich die Betriebe, wegen der positiven externen Effekte des Sozialversicherungssystems (quantitative und qualitative Mehrung des Faktors Arbeit z. B. über A. T. Peacock, The Economics ... , S. 103. So zählt z. B. B. A. van Buggenhout (La securite sociale ... , S. 40) die Sozialversicherungsbeiträge der Unternehmen zu den (möglicherweise) überwälzten (Lohnsummen-)Steuern. Gleichwohl definiert er aber diese Beiträge auch als vorenthaltenen Lohn, so daß es sich nach dieser Argumentation eher um eine im Quellenabzugsverfahren erhobene zusätzliche Lohnsteuer handeln würde. 20
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besseren Gesundheitsstand der Arbeitskräfte sowie Invisibles: etwa sozialer Friede etc.) zur Internalisierung der empfangenen Nutzen zu einer gruppenspezifischen Beitragsteuer herangezogen werden soll. Bei solchen Überlegungen werden wieder die generellen Probleme des Beitrags deutlich, daß nämlich externe Effekte zugerechnet werden sollen, und zwar meist von Gütern, die sich ihrer Natur nach dem Äquivalenzprinzip entziehen. Hier müßte die Inzidenz der Leistungsseite ebenso bekannt sein wie die der Finanzierung, um zu konkreten Aussagen über die Legitimation und die Ausgestaltung eines Systems zukommen. Eine dritte Möglichkeit der Interpretation bestände darin, in den Beiträgen der Unternehmen einen privaten Transfer von den Unternehmen an die Sozialversicherten ohne (oder mit vermuteter teilweiser) Gegenleistung (einen Zuschuß zu den Beiträgen der Arbeitnehmer) zu sehen, der sich auf ursprünglich private Vereinbarung und staatliche Sanktion gründet. Mehr aus technischen Gründen und wegen der meritorischen Zielsetzung würde der Zuschuß nicht direkt an den Arbeitnehmer gezahlt. Es würde sich danach verbieten, von einer Steuer zu sprechen, da diese voraussetzen würde, daß es sich um einen Transfer vom privaten zum öffentlichen Sektor handelt. Dabei könnte es offen bleiben, ob Äquivalenz nur zwischen Versicherung und Versicherten besteht und der Transfer zwischen Unternehmen und Arbeitnehmern sich ohne Gegenleistung vollzieht, oder ob externe Effekte auch hier wenigstens eine partielle Äquivalenz herbeiführen. Solche Transfers könnten dann auch nicht direkt als Lohnbestandteil interpretiert werden, sondern würden aufgrund von Nebenvereinbarungen außerhalb der eigentlichen Lohnverhandlungen gewährt. Das schließt selbstverständlich nicht aus, daß von solchen Vereinbarungen möglicherweise gleiche ökonomische Effekte ausgehen. Als dritte große Finanzierungsquelle der Sozialversicherung fungieren die schon oft erwähnten Subventionen aus dem öffentlichen Haushalt. Diese Finanzierung (also zum überwiegenden Teil aus Steuern) ist in dem Maße legitimiert, in dem mit den Instrumenten der Sozialversicherung in Abweichung vom Prinzip der versicherungstechnischen Äquivalenz und damit vom individuellen Vorteilsausgleich allgemeine Ziele der Wirtschaftspolitik verfolgt, also öffentliche Güter bereitgestellt werden: sozialer Friede, gleichmäßigere Einkommensverteilung, Familienlastenausgleich etc. Diese nicht exakt bezifferbaren, zum Teil auch unsicheren externen Effekte für die Gemeinschaft insgesamt werden in der Diskussion immer mehr in den Vordergrund gerückt. Dabei wird die Zielsetzung der Sozialversicherung häufig unzulässigerweise auf das Verteilungsziel reduziert. Daran knüpft dann auch die Forderung an, die Beiträge in Steuern zu überführen und nach Steuergrundsätzen 29 Soziale Sicherung
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(Gleichheit, Allgemeinheit, Leistungsfähigkeit etc.) zu erheben. Ist das Problem so weit vereinfacht, so liegt es nahe, das ganze System, also Einnahmen- und Ausgabenseite, steuertechnisch auszugestalten. Wenn sich die Leistungen als Transfers und die Steuern als negative Transfers definieren lassen, so kann in einem einzigen Instrument, in der Einkommensteuer, das Problem mit Hilfe positiver und negativer Einkommensteuern gelöst werden, wenn ein objektiv für bestimmbar gehaltenes einheitliches Existenzminimum (was eine Entscheidung zugunsten der objektiven Wertlehre impliziert) durch Zahlungen im Rahmen der Einkommensteuer ausgeglichen wird22 • Determinieren die allgemeinen wirtschaftspolitischen Ziele die Sozialversicherung ohne Rücksicht auf Äquivalenz, so ist in der Tat eine allgemeine Haushaltsfinanzierung angezeigt; ob das eine sinnvolle Ausgestaltung der Sozialversicherung wäre und ob damit (Volksrente u. ä. m.) nicht die Aushöhlung der Sozialversicherung betrieben und durch Verzicht der Sozialversicherung auf weitgehende (über die Gleichheit minimaler Versicherung hinausgehende) Risikoübernahme wieder der Weg - wie die Erfahrung zeigt - zurück zur privaten Versicherung geöffnet würde, ist eine andere, hier nicht zu entscheidende und zu beurteilende Frage. Zusammenfassung
Während sich weder aus der juristischen noch aus der ökonomischen Abgrenzung der öffentlichen Haushalte Kriterien für die budgetäre Zuordnung der Sozialversicherung (SV) ableiten lassen, bildet die Theorie von den öffentlichen und privaten Gütern einen möglichen Ansatzpunkt. Daß die Bereitstellung öffentlicher Güter im öffentlichen Haushalt zu verbuchen ist, erscheint unzweifelhaft. Aber auch private und Mischgüter müßten aus entscheidungs- und haushaltstheoretischen Gründen immer dann im öffentlichen Haushalt erscheinen, wenn sie meritorischen Charakter haben. Sonder- und Teilhaushalte lassen sich dann nur mit Selbstverwaltung, Versicherungsprinzip resp. dem Äquivalenzprinzip rechtfertigen, das jedoch meritorischen Zielsetzungen entgegensteht. Für eine Subsumtion der Beiträge zur SV unter die finanzwissenschaftliche Kategorie gleichen Namens sprächen gute Gründe, wenn diese Kategorie nicht an sich problematisch wäre, wird doch hier der untaugliche Versuch unternommen, externe Effekte ohne fundierte theoretische oder empirische Basis zuzurechnen. Es kommt auf die je22 Vgl. die verschiedenen Vorschläge von Lady Rhys-Williams für Großbritannien.
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weilige Ausgestaltung der SV an, ob die dafür erhobenen Beiträge eher zum versicherungsmathematisch bestimmbaren Entgelt oder zu steuer ähnlichen Abgaben hin tendieren. Das wird weitgehend von den Zielsetzungen der SV insgesamt oder ihrer einzelnen Zweige (vgl. hierzu vor allem die Sonderstellung der Arbeitslosenversicherung) abhängen. Soweit Umverteilung mit der SV angestrebt wird, empfiehlt sich die Steuerfinanzierung, soweit Versicherung gemeint ist, eine äquivalente Beitragsfinanzierung. Ist beides intendiert, so sollten diese Bereiche nach Organisation und Finanzierung voneinander getrennt werden. Dabei ist überhaupt die Frage zu prüfen, unter welchen Bedingungen welche Verteilungsergebnisse, vor allem zwischen welchen Gruppen, erreichbar scheinen und ob diese politisch erwünscht sind. Bei den Beiträgen der Unternehmen sollte die gängige These von der Lohnsummen- oder der Beitragssteuer nicht ungeprüft übernommen werden, bleibt doch zweifelhaft, ob die implizierten Bedingungen (Lohnbestandteil, externe Effekte) tatsächlich vorliegen, und ist doch zumindest zu prüfen, ob es sich in diesem Falle nicht um (Zwangs-) Transfers (möglicherweise ohne Gegenleistung) innerhalb des privaten Sektors, also nicht um Steuern handelt.
Summary While it is impossible to integrate social insurance into the public budget in terms of economic or legal analysis, such a possibility arises when resorting to the theory of public and private goods. There can be no doubt that the provision of public goods has to be included in the budget. However, for reasons of the rationality of decisions and for budgetary reasons, private and mixed goods as weIl should appear in the budget whenever they have meritory character. Therefore, isolated or integrated special budgets can only be justified with self-government, with the insurance principle or the benefit principle, the latter, however, being opposed to meritory objectives. There may be good reason for qualifying social insurance contributions as contributions in terms of public finance. This, however, is rather problematic, if for no other reason than that it means an inappropriate attempt to include external effects without any sound theoretical or empirical basis. It depends on the structure of a social insurance scheme whether contributions can be said to be benefitsrelated (in actuarial terms) or whether they are rather a form of taxation. The answer to this question is determined by the objectives of a social insurance scheme as a whole or its different branches (see for instance the special position of unemployment insurance). If redistribution is to be the objective of social insurance, financing should be by
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way of taxation, if the emphasis is on the insurance principle, financing should be by way of contributory payments (which are benefitsrelated). If both objectives are aimed at, these two sectors should be separated as to organization and financing. In this connection, the question has to be put which distribution effects can possibly be achieved under wh at conditions and, above all, between which groups, and what is desired politically. With regard to contributions made by enterprises (employers), the common theory of the payroll tax or the "Beitragssteuer" (tax based on a certain equivalence) should not be adopted without examination, as it is doubtful whether the implied hypothesis (parts of wages, external effects) really exist in this connection. The fact should at least be examined whether, in this case, we are dealing with (compulsory) transfers (possibly without equivalent) within the private sector, that is to say, not with taxes.
DISKUSSIONSBERICHT
Die Diskussion wurde durch Zöllner mit einer Frage zur letzten These des Referates eröffnet: ihm sei die Notwendigkeit eines Konnexes zwischen einer Aushöhlung der Sozialversicherung als Folge ihrer Einbindung in den allgemeinen Haushalt und einem dadurch möglichen Rückschritt zur privaten Versicherung nicht ganz verständlich geworden. Hedtkamp stellte dazu klar, daß er diesen Vorgang nicht als notwendig oder im Sinne einer Wertung verstanden wissen wollte. Am Beispiel der skandinavischen Länder sei aber zu sehen, wie Reformen perfektionierter Sozialversicherungssysteme zum Teil wieder dort anknüpfen, wo man vor 1881 war, nämlich bei der Privatversicherung. Faude ließ dem drei grundsätzliche Bemerkungen folgen. Seine erste Frage zielte auf die definitorische Unterscheidung von privaten und öffentlichen Gütern, wie sie im Referat vorgenommen wurde. Er meinte, daß Kriterien wie etwa das Ausschlußprinzip diese Unterscheidung nicht wirklich tragen könnten. Seiner Ansicht nach gebe es keine wirklich objektive Möglichkeit der Differenzierung, sondern jeder Unterscheidung liege ein von Land zu Land verschiedenes normatives Vorverständnis zugrunde. Des weiteren kritisierte Faude die Trennung zwischen Versicherungs- und Verteilungsprinzip. Nach seiner Ansicht sei im System der Versicherung die Idee der Verteilung bereits enthalten. Schließlich wandte sich Faude gegen die Auffassung, daß die Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung den Tarifauseinandersetzungen entzogen seien. Vielmehr gehörten die Arbeitgeberbeiträge zu den notwendigen Reproduktionskosten der Arbeitskraft. Der Referent stimmte mit Faude darin überein, daß der Unterscheidung zwischen privaten und öffentlichen Gütern ein bestimmtes Wertverständnis zugrunde liege. Gleichwohl hielt der Referent daran fest, daß das Ausschlußprinzip jedenfalls in unserer Zeit ein praktikables Mittel der Abgrenzung sei, dies gelte z. B. auch für die sozialistischen Länder. Er habe damit ein praktikables Kriterium genannt, aber nicht behauptet, ein absolutes Kriterium gefunden zu haben.
Zur Trennung von Versicherung und Umverteilung stellte der Referent seinen Standpunkt dahin klar, daß er einen anderen Ausgangspunkt gewählt habe als der Fragesteller; das eine sei die sozialpolitische Zielvorgabe, die von den Politikern geleistet werden müsse, das andere die von den Ökonomen und Finanzwissenschaftlern dafür ange-
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Diskussionsbericht
botene effiziente Technik. Wer eine wirkungsvolle Verteilungspolitik anstrebe, dem müsse er als Ökonom sagen, daß Sozialversicherung für dieses Ziel ein ungeeignetes Instrument sei. Er würde steuerpolitische Maßnahmen für die sehr viel effizientere Methode halten, Umverteilung zu erreichen. Die Mischung aus Versicherungsprinzip auf der einen Seite und Verteilungszielen auf der anderen Seite halte er für ein inkonsistentes System. Zur dritten Frage stellte Hedtkamp fest, daß seine Behauptung, die Arbeitgeberbeiträge seien den Tarifauseinandersetzungen entzogen, eine reine Tatsachenbehauptung sei. Insofern sei hierüber eine Diskussion wenig fruchtbar. Was er seinerseits an der Argumentation des Fragestellers zu kritisieren habe, sei demgegenüber das Abstellen auf die notwendigen Reproduktionskosten der Arbeitskraft. Hierbei stoße man auf die ungelösten Probleme der objektiven Wertlehre und auf die ebenfalls nicht zu lösende Frage, was denn nun die tatsächlich notwendigen Reproduktionskosten seien. Nach seiner Ansicht sei dieser Begriff - da stets subjektiv befrachtet - wissenschaftlich nicht operation ab el. Schmähl und Schenke vertieften das Problem der Aufteilung von Versicherungsaufgaben und Verteilungswirkung im Rahmen der Sozialversicherung. Schmähl erinnerte daran, daß man bei dieser Trennung auch die organisatorische Struktur eines Sozialversicherungssystems und dessen unterschiedliche Finanzierung im Auge behalten müsse, während Schenke ausdrücklich betonte, daß nach seiner Ansicht die Umverteilungswirkung der Sozialversicherung wohl unübersehbar sei. Der Referent stimmte zwar der Ansicht zu, daß eine organisatorische Trennung der Sozialversicherung etwa nach der Finanzierungsseite und der Leistungsseite gerade unter Anbindung an die tatsächlich erbrachten Beiträge zu größerer Leistungsgerechtigkeit führen könnte; er gab auch zu, daß es sehr wohl möglich sei, das Ziel Umverteilung über Sozialversicherung anzustreben, doch wiederholte er, daß er das Instrument Sozialversicherung für dieses Ziel eben nicht für effizient halte. Ruland ging auf einen weiteren Aspekt des Problems der Trennung zwischen Versicherungsprinzip und Umverteilung ein, denn diese Trennung erfordere ja auch eine Antwort darauf, wo genau die genannten Effekte zu subsumieren seien; wo wären Phänomene wie Rente nach Mindesteinkommen, Ausfallzeiten, Ersatzzeiten etc. unterzubringen? Bei diesen und vielen anderen Positionen ließe sich eben nie genau sagen, wo Versicherung ende und Umverteilung beginne. Für den Aspekt des Äquivalenzprinzips verwies Ruland darauf, daß ein versicherungstechnisch streng durchgeführtes Äquivalenzprinzip in der Rentenversicherung nicht vorstellbar sei. Pfaff führte die angesprochene Fragestellung noch weiter aus: Er erinnerte daran, daß beide Probleme, also Versicherung versus Umverteilung und die Frage des
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versicherungstechnischen Äquivalenzprinzips ganz wesentlich vom Problem der Operationalisierung gekennzeichnet seien. So sei im voraus immer nur sehr schwer zu sagen, wie groß der jeweilige private Anteil und wie groß dann das öffentliche Interesse an einer Leistungsgewährung sein werde. Gerade diese letzteren externen Effekte ließen sich nur schwer prognostizieren. Das weitere Problem, inwieweit Sozialversicherung Umverteilungseffekte habe, sah Pfaff vor allem als semantisches Problem. Wenn man nur einen Teil der sozialen Sicherung als Sozialversicherung bezeichne, nämlich die äquivalenten Relationen, dann reduziere sich der Streit plötzlich vollkommen, dann könne man zu Recht sagen, Sozialversicherung diene nicht der Umverteilung. Wenn man jedoch die soziale Sicherung insgesamt nehme, dann scheint diese Aussage nicht mehr haltbar zu sein. Zu der von Ruland aufgeworfenen Frage, wo die verschiedenen Positionen jeweils zuzurechnen seien, meinte der Referent, daß das Hauptproblem für die von der Sozialversicherung angebotenen Leistungen darin liege, daß es für sie keine Marktbewertung gebe; hier wäre immer nur schlicht von Kosten die Rede. Das impliziere für jede versicherungstechnische Lösung selbstverständlich erhebliche Schwierigkeiten. Wenn es eine Marktbewertung gäbe, dann wäre auch eine versicherungstechnische Lösung machbar und die von Ruland genannten Probleme würden verschwinden. Zum Problem der Operationalisierung externer Effekte meinte der Referent, daß dies ein in der Praxis alltäglich vorkommender Vorgang sei. Über die Bewertung dieser externen Effekte, etwa den Stellenwert eines öffentlichen Gutes wie Gesundheit, Einkommensverteilung etc. werde im Bundestag abgestimmt und eine politische Entscheidung gefällt. Er habe in seinem Referat zum Ausdruck bringen wollen, daß diese Bewertung eben ökonomisch nicht möglich sei, sondern ausdrücklich Aufgabe der politischen Abstimmung bleiben müsse. Soweit öffentliche Güter tangiert seien, müsse in einem öffentlichen politischen Prozeß über diese öffentlichen Güter insgesamt entschieden werden. 'Tomandl nannte zum Problemdreieck Sozialversicherung/Umverteilung/Finanzausgleich zwei Beispiele aus der österreichischen Praxis: So werde in Österreich die Sicherung des Mindesteinkommens der Pensionisten dadurch erreicht, daß diese Leistung in die Pension zur Sicherung eingebaut und vom Staat finanziert wird. Dieser Finanzausgleich überbrückt die Differenz zwischen einem bestimmten Gesamteinkommen und den politisch entschiedenen Grenzen für ein soziales Minimum. Dieser vom Bund getragene Ausgleichszulagenanteil ist jederzeit nach der Höhe kontrollierbar, was den Vorteil habe, daß diese Sozialleistung hinsichtlich Verteilung und Aufwand transparent bleibe. Es gebe aber auch negative Beispiele: Denn ein Nachteil staatlicher Finanzierung sei, daß möglicherweise selbst dann Zielkonflikte über die
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Mittelverwendung auftreten, wenn diese Mittel eigentlich zweckgebunden seien. So sei das österreichische Modell des Familienlastenausgleichs dafür ein Beispiel. Der dafür geschaffene Fonds ist beim Finanzminister angesiedelt. Es habe sich nun gezeigt, daß die Mittel, die an sich für soziale Umverteilung bestimmt waren, von den Finanzministern aller couleurs in der Praxis auch für andere Zwecke eingesetzt worden seien.
Rüfner ging auf die Ansicht des Referenten ein, daß der Finanzausgleich zwischen verschiedenen Versicherungsträgern dem Versicherungsprinzip widerspreche. Er meinte, daß dies durchaus systemgerecht und nur eine Konsequenz des Umlageverfahrens sei. Dabei könne auch das Äquivalenzprinzip versicherungstechnisch gewahrt werden. Man müsse den Finanzausgleich im Kontext zum Umlageverfahren als Korrektur disproportionaler Entwicklungen innerhalb zwangsweiser Versicherungsorganisationen sehen. Der Referent ging zuerst auf das von Tomandl zitierte Beispiel negativer Wirkungen staatlicher Finanzierung von Sozialleistungen ein. Er erinnerte daran, daß dieses Problem auch auf der Ebene des Parlaments auftauchen könne, wenn dieses im Laufe der Zeit andere Ausgaben präferiere. So sei gerade das genannte Beispiel des Familienlastenausgleichs nach seiner Ansicht eine typische Umverteilungsleistung im Verantwortungsbereich des Zentralstaates. Wenn von den Instanzen, die zur Entscheidung befugt sind, nun die Zielpräferenzen verändert werden, so sei dies legitim. Schlimm wäre es freilich, wenn etwa der Finanzminister allein ohne eine Entscheidung des Parlaments über derartige Fonds bestimmen könnte. Wenn aber das politische System grundsätzlich als Allokationssystem akzeptiert würde, müßte man auch Änderungen der jeweiligen Zielsetzungen akzeptieren. Auf den Beitrag von Rüfner antwortete der Referent, die eigentliche Frage, die diskutiert werden müßte, sei die, ob disproportionale Entwicklungen in den verschiedenen Versicherungszweigen durch Finanzausgleich zwischen den Trägern oder durch staatliche Zuschüsse überbrückt werden sollten. Fritzsche verwies anschließend auf zahlreiche Probleme aus der Praxis der Sozialversicherung; er meinte insbesondere, daß Reformdiskussionen betreffend größerer Umverteilungsgerechtigkeit durch Beiträge oder Steuern insofern bereits heute an eine Grenze geraten seien, als die Gesamtbelastung von Arbeitnehmern und Arbeitgebern für die Sozialversicherung inzwischen ein nach seiner Ansicht kaum mehr expansionsfähiges Ausmaß angenommen hätte. Er wandte sich in diesem Zusammenhang vor allem gegen eine Besteuerung der Renten, deren Effekt eine Nivellierung der Rentenleistungen und somit eine Abkehr vom Prinzip der Beitragsgerechtigkeit darstellen würde.
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Dieser letzten Ansicht widersprach der Referent: er betonte, daß die Gleichbehandlung von Gleichem nicht als Nivellierung mißverstanden werden dürfe, sondern dem Gebot der Gerechtigkeit entspräche. Es sei nicht einzusehen, daß ein in der Höhe gleiches Einkommen eines Arbeitnehmers, eines Landwirts oder eines Rentners steuerlich je verschieden behandelt würden. Eisen griff noch einmal das in These 3 des Referats enthaltene Problem der Bereitstellung von im ökonomischen Sinne privaten Gütern mit meritorischer Zielsetzung durch die Sozialversicherung auf. Er stellte einmal die eher theoretische Frage, ob durch die Theorie der öffentlichen und privaten Güter unterhalb der Ebene von z. B. Preisstabilität, innere und äußere Sicherheit, Rechtssicherheit etc. praktikable Abgrenzungskriterien gefunden werden können. Wäre es möglich, auf dieser unteren Ebene meritorische Güter auszugrenzen, so wären diese wiederum der politischen Entscheidung zugänglich, was im Effekt womöglich praktisch wirkungsvoller wäre als eine Veränderung der Einkommensverteilung. Der Referent erwidertE) darauf, daß es durchaus vorstellbar sei, auch unterhalb der von Eisen genannten Kategorien Güter mit meritorischem Charakter zu versehen; dies wäre in völliger Übereinstimmung mit der Theorie der öffentlichen Güter möglich. Geschähe dies auf dem Wege der Abstimmung in einem demokratischen Prozeß, so bestehe grundsätzlich Übereinstimmung mit den im Referat vorgetragenen Thesen. Lafranconi stellte daraufhin in kurzen Zügen die italienischen Erfahrungen dar. In Italien hätten die einzelnen Institutionen der sozialen Sicherheit juristische und finanzielle Autonomie, also auch getrennte Budgets. Allerdings kontrolliere der Staat alle Ausgaben und Einnahmen. Die Finanzierung geschehe ausschließlich durch Beiträge. Gleichzeitig finanziere aber der Staat einen großen Teil der sozialen Sicherheit, insbesondere im südlichen Teil des Landes, wodurch die Leistungen im ganzen Lande gleich hoch gehalten werden könnten. Es seien überdies Reformbestrebungen im Gange, das gesamte System der sozialen Sicherheit über Steuern zu finanzieren. Der Referent antwortete darauf mit der Kritik, daß durch eine Vermischung von Sozialpolitik und Regionalpolitik ein Sozialsystem herkömmlicher Art wohl ad absurdum geführt werden würde. Die zusätzliche Befrachtung der Sozialpolitik mit wirtschafts- und regionalpolitischen Zielen sei seiner Ansicht nach eher ein warnendes Beispiel für jede Reformdiskussion. Zacher unternahm den Versuch, die Ergebnisse der Diskussion zusammenzufassen und durch die Fragen zu ergänzen, die noch unerörtert blieben. Er zielte dabei vor allem auf den Gesichtspunkt des interdisziplinären Gedankenaustauschs zwischen Juristen einerseits und
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Ökonomen und Finanzwissenschaftlern andererseits. Dabei sei klar, daß eine abschließende Befriedigung der juristischen Nachfrage nicht in nur einer Diskussion geleistet werden könne. Ein vertiefter Austausch interdisziplinärer Kenntnisse müsse nach Zachers Ansicht auf folgende fünf im Thema enthaltene Problemebenen eingehen: a) Öffentliche Haushalte versus private Haushalte Unter diesem Aspekt indiziere die Aufnahme in den öffentlichen Haushalt, daß öffentliche - meritorische - Güter produziert würden. Der in Frage stehende Unterschied könne sodann aufgereiht werden in eine private Strategie einerseits und eine öffentliche Strategie andererseits. Das eine umfasse z. B. Privatversicherungsbeiträge, soziale Sicherheit als privates Gut in privaten Haushalten und SteuernlSozialversicherungsbeiträge auf der anderen Seite und soziale Sicherheit als öffentliches Gut, das im öffentlichen Haushalt eingebunden werde. b) Haushalt, öffentlicher Haushalt, versus andere Steuerungsmechanismen Bei dieser Fragestellung gehe es darum, daß der öffentliche Haushalt eine große "Wirklichkeitsfunktion" für das Recht habe, während andererseits das Recht eine Ordnungsfunktion habe, die vom öffentlichen Haushalt nicht erreicht würde. Ziel sei die Kongruenz zwischen Rechtsordnung und Haushalt. Dabei schaffe die Rechtsordnung auf der ersten Stufe die Voraussetzungen, daß im Haushalt die Mittel bereitstehen, um die rechtlichen Zusagen einzulösen; auf der zweiten Stufe stellt der Haushalt dann die Mittel bereit, die notwendig sind, um die rechtlichen Zusagen einzulösen. Inkongruenz könne zu einem Leerlauf des Rechts führen. Beispiele dafür finden sich in den Sozialversicherungsgesetzen der Entwicklungsländer, wenn diese ohne die nötigen Mittel ausgestattet seien. Inkongruenz könne aber auch eine Unterfunktion des Rechts bedeuten, so etwa durch die Verlagerung der Ordnungsfunktion auf die Bewirtschaftung von Fonds in den sozialistischen Ländern. c) Sozialversicherungshaushalt versus übrige Haushalte Das allgemeine Haushaltsrecht gehe davon aus, daß die Einnahmen und die Ausgaben je nach ihren eigenen Sachgesetzlichkeiten geordnet bzw. erwirtschaftet bzw. bewirtschaftet würden. Die Aussonderung der Sozialversicherungshaushalte bedeute zunächst, daß bestimmte Mittel für bestimmte Zwecke bereitgestellt würden. Einnahmen und Ausgaben und deren jeweilige Ordnung treten zueinander in eine bestimmte Nähe. Sind die Einnahmen Beiträge anstelle von z. B. Finanzzuweisungen aus dem allgemeinen Staatshaushalt, so stünden sich
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spezifische Einnahmen und spezifische Ausgaben gegenüber. Damit werde die Rationalität einer gewissen Entsprechung möglich, allgemein im Sinne von "Kostengerechtigkeit" des Aufkommens und "Beitragsgerechtigkeit" der Leistungen und individuell im Sinne des Äquivalenzprinzips. Allerdings erscheine dadurch die Möglichkeit der Umverteilung in Sozialversicherungshaushalten begrenzt zu sein. Es komme jedoch darauf an, was man unter Umverteilung verstehe. Sozialversicherung sei immer notwendigerweise "intersituationelle" Umverteilung z. B. zwischen Nicht-Kranken an Kranke oder intertemporale Umverteilung z. B. von Aktiven an Alte. Die Diskussion darüber, ob in Sozialversicherungshaushalten umverteilt werden kann, könne sich deshalb nur darauf beziehen, ob darüber hinaus eine Umverteilung von Reichen an Arme erfolgen könne. d) Sozialversicherungsadministration versus andere Gemeinwesen Hier ginge es zunächst darum, ob den Sozialversicherungshaushalten eine besondere Administration entsprechen müsse oder ob z. B. ein besonderer Sozialversicherungsfonds von einer allgemeinen staatlichen Verwaltung administriert würde, und in welchem Maße die Kompetenz dieser Administration mit der Zweckwidmung des Fonds kongruent sei. Eine besondere Konstellation sei in diesem Zusammenhang die Mitdisposition von Gewerkschaften über die Konsumtionsfonds in sozialistischen Ländern. e) Haushalt versus andere Informationssysteme Diese Frage ziele darauf, was neben dem Haushalt informatorische "Rechnungen" wie "Sozialbudget" und "Sozialberichterstattung" bedeuten. Dies verweise auf die Frage zurück, ob der Haushalt eine Programm-, Informations- und Rechenschaftsfunktion gegenüber der Öffentlichkeit habe. Der Referent schloß sich dieser Zusammenfassung Zachers weitgehend an. Gerade die noch einmal angesprochenen Aspekte von Allokationsmechanismen außerhalb der Haushalte, von den Problemen der Entwicklungsländer und von der Frage, inwieweit Sozialberichte einen Aspekt der Planung und Programmierung darstellten, unterstrich der Referent die Forderung Zachers, weitere interdisziplinäre Diskussionen zu forcieren. Peter A. Köhler
Rechtswissenschaftliche Untersuchung Die Rolle des Beitrags bei der rechtlichen Einordnung und Gewährleistung der sozialen Sicherung Von J osef Isensee
Inhaltsübersicht I. Das dogmatische Vorverständnis: Einheitssystem von Leistungen und Lasten ......................................................
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1. Die dogmatisch unerschlossene Rechtsmaterie . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Unzulänglichkeit einer rein abgabenrechtlichen Betrachtungsweise ........................................................
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II. Strukturanalyse des Sozialbeitrags ..............................
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1. Möglichkeit eines normativen Idealtypus .... , . . .. . . .. . . .. .. ...
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2. Technische Prinzipien des Sozialbeitrags ..................... a) Beitragsdeckung (Globaläquivalenz) ....................... b) Zweckbindung ........................................... c) Junktim Beitragspflicht - Versicherungsschutz ......... ',' . d) Junktim Beitragspflicht - Teilhabe an der sozialen Selbstverwaltung .................. ',' ... . . . . . . ... . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Einkommensteuer-Konformität ............................ f) Typisierung ...............................................
466 466 467 468 469 469 470
3. Teleologische Prinzipien und Legitimationsgründe ............ a) Fiskalprinzip ........................ '" ...... " . . . . . . . . . . . b) Lenkungsziele ............................................ c) Individualäquivalenz und Solidarausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . .
473 473 474 477
IH. Finanzrechtliche Qualifikation des Sozialbeitrags und ihre Folge für die sozialrechtliche oQuali:tiikation des Sicherungs systems ..... 1. Die Alternative ..............................................
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2. Scheitern einer Klassifikation und Legitimation als Steuer ....
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3. Rechtfertigung als nichtsteuerliche Abgabe .................... a) Individualäquivalenz als Legitimationsidee ................ b) Solidargemeinschaft als Legitimationsidee ..................
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4. Standort in einer abgabenrechtlichen Typologie.. ... .. . ... .. ...
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5. Sondertatbestand Arbeitgeber-Beitrag ........................
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J osef Isensee
IV. Der Sozialbeitrag als Grund und Maß einer verfassungsrechtlichen Gewährleistung des Versicherungsschutzes . . . . . . . . . . ... .. . . . .. . . . .
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1. Die vorrechtliche Erwartung ..................................
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2. Nivellierender Bedarfsmaßstab oder/und differenzierender Beitragsmaßstab ................................................
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3. Lösungsansätze .............................................. a) Sozialstaatsklausel als Garantie des sozialen Besitzstandes . . b) Rechtsstaatliche Gewähr von Kontinuität. .. .. . .. . .. .. . . . . . c) "Eigentums"-Schutz der Versicherungsanwartschaft ........
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I. Das dogmatische Vorverständnis: Einheitssystem von Leistungen und Lasten 1. Die dogmatisch unerschlossene Rechtsmaterie
In einem interdisziplinären Colloquium rechnet niemand damit, der Jurist könne bei der Tatsachenerkenntnis behilflich sein. Gleichwohl hofft man, er werde zur Erschließung der Wirklichkeit, die ihm selbst unzugänglich sei, klare Begriffe bereitstellen. Doch sogar diese Erwartung muß ich enttäuschen. Die Rechtswissenschaft hat es bislang nicht verstanden, die angemessenen Kategorien, Definitionen und Begründungen zu entwickeln und in einen Sinnzusammenhang zu fügen. Es gibt keine juristische Theorie des Sozialbeitrags. Der Jurist, der über den Beitrag in der sozialen Sicherung referieren soll, kann nicht auf eine "herrschende Lehre" zurückgreifen. Die Lehre "herrscht" nicht, weil sie sich für diese Rechtsfigur kaum interessiert. Die deutsche Rechtswissenschaft ist traditionell aus einem gewissen Hochmut heraus abgeneigt, in die Niederungen der Finanzfragen hinabzusteigen. Allein diese allgemeine Abneigung erklärt noch nicht, weshalb sie gerade den Sozialbeitrag im Verhältnis zu anderen Abgabentypen besonders vernachlässigtl. Immerhin hat sie einiges an dogmatischem Erschließungsaufwand auf dem Gelände der Steuer, aber auch auf dem vergleichsweise unwichtigen Gebiete der Gebühr geleistet. Eine Ursache für den juristischen Rückstand liegt in der Eigenart des Sozialversicherungsrechts: einer jungen, sich rasch ausdehnenden, kurzatmig ändernden, unübersichtlichen Rechtsmaterie 2 • Das dogmatische Gefälle 1 "Sozialbeitrag" steht im Text synonym mit "Sozialversicherungsbeitrag". Die Kurzform "Sozialbeitrag" ist angebracht, weil die Sozialversicherung das einzige System sozialer Sicherheit darstellt, das sich im wesentlichen über eigene, spezifische Abgaben finanziert. Der Sprachgebrauch ist allerdings nicht eindeutig. So werden als "Sozialbeiträge" des Studenten auch Abgaben bezeichnet, die nichts mit sozialer Sicherung zu tun haben, insbesondere die korporativen "Beiträge" zur verfaßten Studentenschaft. 2 Zum "Theorie-, insbesondere Systemdefizit des Sozialrechts": H. F.
Rechtswissenschaftliche Untersuchung
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zwischen Steuerrecht und Beitragsrecht mag auch praktische Gründe haben: Der Sozialversicherung fehlt eine Entsprechung zu den steuerberatenden Berufen, ein Berufsstand nämlich, der die vollziehende und die richterliche Gewalt unter permanenten Begründungszwang setzt und die juristische Reflexion vorantreibt. Freilich schafft das Beitragsrecht auch keinen Interessengegensatz, wie er zwischen Steuerpflichtigem und Fiskus besteht. Das Verfahren des Beitragsabzugs anästhesiert. Vor allem erhält der Beitragsschuldner die Vorstellung, daß der Beitrag im Gegensatz zur Steuer kein einseitiges Opfer, sondern das Entgelt für den Versicherungsschutz seP. Die Leistungserwartung erleichtert den Abgabengehorsam. Die Rechtslehre und die Rechtspolitik betrachten die Sozialversicherung in erster Linie als Leistungssystem 4• Die Abgabenelemente liegen im dogmatischen Schatten der Leistungselemente. Das neue Sozialgesetzbuch faßt den verstreuten Rechtsstoff nach Maßgabe des "sozialen" Leistungsziels zusammen; der Finanzierungsmodus ist gleichgültig. Soweit die noch torsohafte Kodifikation schon Beitragsrecht aufgenommen hat, schlägt sie nicht die Brücke zum allgemeinen Abgabenrecht. Aufschlußreich ist die Norm über die Verjährung von Beitragsansprüchen5 : Die Verjährung bestimmt sich nicht nach der Abgabenordnung, sondern nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch; sie wird als Leistungsverweigerungsrecht gefaßt, nicht, wie es dem öffentlichrechtlichen Charakter des Anspruchs gemäß ist, als Tatbestand des Erlöschens der Abgabenschuld (obwohl die Rechtsprechung früher mit guten Gründen die abgabenkonforme Lösung gewählt hatte)o. 2. Unzulänglichkeit einer rein abgabenrechtlichen Betrachtungsweise
An sich wäre es ein reizvolles juristisches Experiment, einmal die gewohnte, einseitig leistungsorientierte Betrachtungsweise gegen eine einseitig finanzorientierte Betrachtungsweise auszuwechseln. Ein solches Verfahren ermöglichte es, die abgabenrechtliche Substanz der Zacher, Vorfragen zu den Methoden des Sozialrechtsvergleichs, in: Zacher (Hrsg.), Methodische Probleme des Sozialrechtsvergleichs, 1977, S. 3I. 3 Zur Abgabenpsychologie: G. Schmölders, Finanz- und Steuerpsychologie, 1970, S. 50, 63, 66; J. H. Petersen, Financing Social Security System by Means of Taxation, in: International Social Security Association, Research Conference, Ottawa, 28./30. 5. 1979, S. 19; H. Braun, Soziologische Untersuchung (im Rahmen dieses Colloquiums, s.o.); Hinweise auch: Harald Bogs, Sozialversicherung im Staat der Gegenwart, 1973, S. 573; H. F. Zacher, Gleiche Sicherung von Mann und Frau ... , DRV 1977, 216. 4 Sogar die Elemente sozialer Selbstverwaltung (zumeist nur kümmerlich entwickelt im Vergleich zu anderen Formen der Selbstverwaltung) finden eingehendere juristische Beachtung als die abgabenrechtlichen Elemente. s § 25 SGB IV. 6 Dazu mit Nachw.: B. v. Maydell, in: Krause / Maydell / Merten / Meydam, GK-SGB IV, 1978, § 25/Rn. 22, 23.
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Sozialversicherung zu isolieren. Hier böte sich an, den Sozialbeitrag am Modell des Abgabentatbestandes zu messen und seine fünf Tatbestandsmerkmale herauszuarbeiten: Abgabengläubiger und Abgabenschuldner, Abgabenobjekt und Abgabenmaßstab (Bemessungsgrundlage) sowie Abgabentarif. Die erste Besonderheit, die bei einer solchen Analyse hervorträte, wäre der Umstand, daß die Beitragsgläubiger als rechtlich verselbständigte Fonds organisiert sind. Damit würde der Unterschied der parafiskalischen Sozialversicherung zu den staatsfinanzierten Formen sozialer Sicherung deutlich, mit denen sie im Sozialgesetzbuch vereint ist. Auf der anderen Seite rückten die Sozialversicherungsträger in eine neue Vergleichs reihe ein: nämlich in die der intermediären Finanzgewalten. Nunmehr gerieten sie in die Nachbarschaft zu den Berufskammern und zu den Rundfunkanstalteni. Die anderen Tatbestandsmerkmale des Beitrags wiesen weitgehende Ähnlichkeit mit denen der Einkommensteuer, insbesondere der Lohnsteuer, auf. Allerdings fänden sich auch bemerkenswerte Abweichungen. So gilt derselbe Beitragsmaßstab für verschiedene Beitragsschuldner, für den Arbeitnehmer wie für den Arbeitgeber. Freilich kennt auch das Steuerrecht die Haftung für fremde Steuerschuld; es kennt sogar den gesamtschuldnerischen Verbund mehrerer Steuerschuldner (zwischen Veräußerer und Erwerber bei der Grunderwerbsteuer, zwischen Schenker und Beschenktem bei der Schenkungssteuer). Eine SchuldnerParität aber, wie sie das Beitragsrecht herstellt, ist dem Steuerrecht fremd. - Vollends enthüllte sich die Eigenart des Sozialbeitrags darin, daß seine Bemessungsgrundlage nach oben hin begrenzt und sein Tarif durchgehend proportional gestaltet ist. Spätestens im letzten Punkt würde allerdings auch das Unzulängliche der rein finanzrechtlichen Betrachtungsweise deutlich. Sie bliebe beim Prinzip der Beitragsproportionalität stehen. Das Sozialversicherungssystem aber ist angelegt auf bestimmte Progressions- und Regressionseffekte. Diese zeigen sich nur in der Zusammenschau des abgabenrechtlichen Nehmens und des sozialrechtlichen Gebens. Sozialversicherung ist ein integrales System von Leistungen und Lasten. 7 Dieser Zusammenhang wird von der juristischen Literatur regelmäßig vernachlässigt - in bemerkenswertem Unterschied zum finanzwissenschaftlichen Schrifttum, für das als Beispiele genannt seien: F. K. Mann, Deutsche Finanzwirtschaft, 1929, S. 75 - 88; ders., Die Staatswirtschaft unserer Zeit, 1930, S. 17 - 28; W. Herrmann, Intermediäre Finanzgewalten, 1936, insbes. S. 11 -13; G. Schmölders, Finanzgewalten, intermediäre, in: Handwörterbuch des Steuerrechts I, 1972, S. 350; H. Meinhold, Fiskalpolitik durch sozialpolitische Parafisci, 1976.
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ll. Strukturanalyse des Sozialbeitrags 1. Möglichkeit eines normativen Idealtypus
Bei diesem ersten dogmatischen Vor-Urteil soll es zunächst sein Bewenden haben. Ich verzichte darauf, an den Anfang eine Definition des Sozialbeitrags zu stellen. Es mag sogar offen bleiben, ob dieser Abgabentypus überhaupt schulgerecht definierbar ist. Den Gegenstand der folgenden Überlegungen bilden alle Abgaben, die von den Normen der vier Sozialversicherungszweige als "Beiträge" bezeichnet werden. Es ist überaus schwierig, aus dem Gesetzesmaterial die Struktur "des" Sozialbeitrags zu abstrahieren. "Der" Beitrag hat nämlich in den verschiedenen Zweigen unterschiedliche Gestalt angenommen. Die Schwierigkeiten liegen jedoch tiefer. Das Sozialversicherungsrecht ist nicht more geometrico entworfen, sondern historisch gewachsen, und sicher in mancherlei Richtung wild gewachsen. Wer dem geltenden Recht Regeln entnehmen will, muß sich auf die Vielzahl von Ausnahmen einstellen, und zwar nicht nur auf Ausnahmen, welche die Regel bestätigen, sondern auch auf Ausnahmen, welche die Regel durchbrechen, und solche, die überhaupt Regellosigkeit bekunden - wie in der lateinischen Grammatik mancher Regel eine Unzahl von Unregelmäßigkeiten gegenübersteht. Was auch an Planlosem und Wildwüchsigem aufgewiesen werden mag: die bestehende Sozialversicherung wahrt Kontinuität. Freilich hat sich ihre ursprüngliche Gestalt mit der Übernahme neuer Risiken und mit der Ausdehnung auf immer weitere Personenkreise gewandelt. Gleichwohl läßt die Sozialversicherung noch in ihrer heutigen Erscheinung den Archetypus "Arbeiterversicherung" erkennen8 - besonders auffällig übrigens in der Erstreckung auf arbeiterferne Bevölkerungsgruppen wie Landwirte, Künstler und Studenten. So werden bei der geplanten Versicherung für Künstler Als-ob-Konstruktionen bemüht, Surrogate eines Arbeitsverhältnisses, eines Arbeitsentgelts wie eines Arbeitgebers für den freiberuflich Schaffenden9 • - Eine historische Betrachtung könnte Gesetze der sozialpolitischen Evolution aufweisen. Auch eine verfassungsrechtliche Betrachtung führt auf Strukturnormen des Beitrags oder zumindest auf das Postulat, daß es solche geben müsse. An sich ist der Sozialbeitrag flexibel. Er vermag sich kraft 8 Allgemein zur Herkunft der Sozialpolitik aus der Arbeiterfrage: H. Achinger, Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik, 1958, S. 57 - 63. 9 Zu den eigentümlichen Verfassungsproblemen, insbesondere Finanzverfassungsproblemen, welche die Expansion der Sozialversicherung auf NichtArbeitnehmer auslöst, s. das Rechtsgutachten von P. Lerche und ehr. Graf Pestalozza, Verfassungs fragen einer Künstlersozialabgabe, 1976 (MS).
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seiner hoheits rechtlichen Natur wechselnden Finanzbedürfnissen anzupassen. Der Versicherungszwang und die daraus folgende Unvermeidbarkeit des Beitrags entheben die Sozialversicherung der Abhängigkeiten, in denen die Privatversicherung steht: von vertraglichem Konsens, von versicherungsmathematischer Kalkulation und von Marktnotwendigkeiten. Gerade wegen seiner Beweglichkeit und seines Zwangscharakters bedarf der Sozialbeitrag der rechtlichen Bindung. Die Gestaltungsfreiheit des Beitragsgesetzgebers stößt auf Grundrechte der Beitragsbetroffenen. Die bundesstaatliche Kompetenzordnung ermöglicht nur gegenständlich begrenzte Regelungs- und Vollzugsmacht. Grenzen ergeben sich auch aus dem rechtsstaatlichen Gebot der Systemgerechtigkeit und aus dem finanzverfassungsrechtlichen Formenzwang. Bei dem Versuch, Strukturen anzuführen, die den Sozialbeitrag als Idealtypus konstituieren können, seien Prinzipien, welche die rechtstechnische Gestalt ausmachen, abgehoben von solchen, welche Ziel und Legitimationsgrund bilden1o . 2. TecllDische Prinzipien des Sozialbeitrags
a) Beitragsdeckung (Globaläquivalenz)
Der Beitrag ist das eigentümliche und grundsätzlich auch das einzige Finanzierungsmittel der Sozialversicherungl l • Die Beiträge sind so zu bemessen, daß ihr Ertrag den Bedarf des Versicherungsträgers deckt, also die vorgesehenen Sozialleistungen ermöglicht. Mißverständlich firmiert diese Maxime manchmal als Äquivalenzprinzip. Das Äquivalenzprinzip bezieht sich aber vornehmlich auf das individuelle Sozialversicherungsverhältnis (Individualäquivalenz), ähnlich wie es im finanzrechtlichen Sprachgebrauch die Angemessenheit der Gebührenschuld im Einzelfall und im privatversicherungsrechtlichen Sprachgebrauch die Gleichwertigkeit von jeweiliger Prämienpflicht und korrespondierendem Ver10 Das BSG übt in seiner Rechtsprechung zum Sozialbeitrag pragmatische Zurückhaltung gegenüber abstrakten Prinzipien (s. H. Bley, Der Beitrag zur Rentenversicherung in der Rechtsprechung des BSG, VSSR 3 [1975], 365 f.). 11 § 20 SGB IV nennt als Finanzmittel der Sozialversicherung Beiträge, staatliche Zuschüsse und sonstige Einnahmen, ohne ein klares Rangverhältnis zwischen den Finanzmitteln zu formulieren (vgl. v. Maydell, GK-SGB IV [N 6], § 20/Rn. 19 - 21). Allenfalls mögen sich aus der redaktionellen Reihenfolge, aus dem Wortverständnis des "Zuschusses" als ergänzender Finanzzuweisung und aus der Formel "sonstige" Hinweise auf den Vorrang der Beitragsfinanzierung ergeben. Dieses Prinzip wird aber deutlich in Einzelnormen wie §§ 723, 724 RVO zur Beitragsfinanzierung der Unfallversicherung und § 1384 RVO bzw. § 111 AVG zur Subsidiarität der Bundesgarantie. W. Leisner nimmt einen verfassungsrechtlichen Grundsatz an, daß StaatsZuschüsse zur Sozialversicherung - außer in Krisenzeiten - unter 50 Ofo der Einnahmen bleiben müßten (Sozialversicherung und Privatversicherung, 1974, S. 75, 100 - 104).
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sicherungsschutz bezeichnet l2 • Das Prinzip der Beitragsdeckung dagegen blickt auf das Gesamtvolumen der Einnahmen und Ausgaben eines Versicherungszweiges. Dieses Gebot der Globaläquivalenz stimmt überein mit dem Kostendeckungsprinzip des Finanzrechtsl3 •
Die Alternative zur Kostendeckung durch Beiträge ist die Finanzierung aus allgemeinen Haushaltsmitteln. Gleichwohl ist der (von jeher übliche) Staatszuschuß zur Sozialversicherung nicht schlechthin eine Durchbrechung des Prinzips der Beitragsfinanzierung. Er tastet es nicht an, wenn er sich auf versicherungsfremde Aufgaben beschränkt. Dieser Vorbehalt allerdings setzt seinerseits voraus, daß versicherungseigene und versicherungsfremde Aufgaben unterschieden werden können. Statt einer abstrakten Unterscheidung Beispiele: Wenn der Staat die landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften subventioniert, so übernimmt er versicherungseigene Finanzaufgaben - versicherungsfremde dagegen, wenn er für die "unechte" Unfallversicherung der Lebensretter, Schüler etc. aufkommt, Kriegsfolgelasten trägt oder Arbeitslosenhilfe finanziert. b) Zweckbindung
Die Zweckbindung ist für den Sozialbeitrag die Regel, für die Steuer dagegen die Ausnahme. Immerhin ist sie der Steuer nicht schlechthin fremd; auch der Ausnahmetypus der Zwecksteuer durchbricht das haushaltsrechtliche Prinzip der Nonaffektation. Die Zweckbindung des Beitrags findet aber eine eigentümliche organisatorische Ergänzung darin, daß die Ertragshoheit bei Sonderfonds liegt, deren Ausgabenkompetenz ebenso streng eingegrenzt ist wie die Zweckbindung der Einnahmequelle. Mit dem Grad der Dezentralisation verkürzt sich der Zweckumfang und verstärkt sich die Zweckbindung. Dem gegliederten Organisationssystem entspricht ein differenziertes Finanzsystem, das nicht etwa einen einzigen Beitrag vorsieht, der global alle Sozialleistungen abgilt, sondern einen spezifischen Beitrag für jeden Versicherungszweig. Die Autonomie der Kassen und der Berufsgenossenschaften ermöglicht sogar unterschiedliche Beitragsgestaltung innerhalb eines Versicherungszweiges. Die organisatorische Gliederung bildet den institutionellen Ansatz für die Legitimationsidee der Solidargemeinschaft. Die Zweckspezifikation des Bei12 Legaldefinition des gebührenrechtlichen Äquivalenzprinzips: § 3 nw Gebührengesetz. Vgl. auch BVerwGE 12, 162 (166, 169 f.); D. Wilke, Gebührenrecht und Grundgesetz, 1973, S. 244 - 271; W. Ott, Die gemeindliche Straßenreinigung als Natural- und Geldlast, 1978, S. 138 - 140. - Zur privatversicherungsrechtlichen Äquivalenz: H. Bogs (N 3), S. 413 - 417 (Nachw. S. 413, Anm.7). 13 Vgl. zum Gebührenrecht: BVerwGE 12, 162 (166); Wilke (N 12), S. 271 bis 301; Ott (N 12), S. 136 - 138.
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trags wird allerdings zum Teil rückgängig gemacht durch Finanzausgleich. Die Sozialversicherungsträger, denen die Ertragshoheit zusteht, sind entpolitisiert: abgeschottet gegen die Macht des Haushaltsgesetzgebers (freilich nicht: des Sachgesetzgebers), weithin auch gegen die parlamentarische Haushaltskontrolle. Die Selbstverwaltung bietet also einen gewissen Schutz vor der finanzpolitischen Begehrlichkeit des Staates14 • Darin liegt eine, vielleicht die heute am ehesten plausible Legitimation der sozialen Selbstverwaltung14a • c) Junktim Beitragspflicht -
Versicherungsschutz
Grundsätzlich setzt der Versicherungsschutz das Bestehen der Beitragspflicht voraus. Die Kassenmitgliedschaft kann sich sogar aus irrtümlicher Entgegennahme von Beitragsleistungen ergeben15 • Das Junktim ist allerdings nicht bis zum Synallagma zwischen Leistungsanspruch und tatsächlicher Erfüllung der Beitragspflicht getrieben; ein solches Synallagma vertrüge sich nicht mit dem Fürsorgegedanken der Sozialversicherung. Es genügt, daß die Beitragspflicht rechtlich existiert. Das Junktim zwischen Beitragspflicht und Versicherungsschutz wird in zwei Richtungen durchbrochen - hinsichtlich der Arbeitgeber, die beitragspflichtig, nicht aber leistungsberechtigt, und hinsichtlich der Familienangehörigen, die leistungsberechtigt, nicht jedoch beitragspflichtig sind. Immerhin ist das Arbeitsverhältnis des Versicherten der gemeinsame Anknüpfungspunkt für die Abgabenpflicht des Arbeitgebers und für den Versicherungsschutz des Unterhaltsberechtigten. Die Beitragspflicht öffnet den Zugang zum Versicherungsschutz und hält ihn damit exklusiv. Im Versicherungsfall wird daher leistungsberechtigt grundsätzlich nur, wer zuvor leistungsfähig gewesen ist1 6 • Der Versicherungsschutz bildet zugleich den rechtlichen Zweck der Beitragsleistung17 • Wer Beiträge zu Unrecht entrichtet, erhält einen Anspruch auf Erstattung, falls seine Beiträge keinen Versicherungsschutz von Rechts wegen begründen oder auch nur - als Folge eines faktischen Sozialrechtsverhältnisses - zu realen Sozialleistungen ges. Zacher (N 3), S. 216. Zur Legitimation der sozialen Selbstverwaltung: J. Isensee, Privatautonomie der Individualversicherung und soziale Selbstverwaltung, 1980, S. 8 - 19. 15 § 315 RVO. Im Beitragsrecht der Rentenversicherung: § 1397 VI RVO und § 119 VI AVG. 16 Vgl. Zacher (N 3), S. 217. 17 Anomalie eines Arbeitgeber-Beitrags ohne Bezug auf ein Vorsorgeverhältnis: § 1386 RVO bzw. § 113 AVG. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung: BVerfGE 14, 312 - 320. 14
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führt haben18 • Ein quasi-bereicherungsrechtlicher Erstattungsanspruch entsteht auch, wenn der ursprüngliche Leistungszweck, der Erwerb einer Rentenanwartschaft, später wegfällt19 • Das Bundesverfassungsgericht zieht aus dem Beitragsjunktim verfassungsrechtliche Konsequenzen: die geltende Regelung, daß Renten von Ausländern, die sich freiwillig gewöhnlich im Ausland aufhalten, ruhen, verletze den Gleichheitssatz, weil sie den Betroffenen keinen Anspruch auf angemessene Erstattung der Beiträge zuweise2o •
d) Junktim Beitragspflicht Teilhabe an der sozialen Selbstverwaltung Die Beitragspflicht ist enger verknüpft mit dem status activus als mit dem status positivus21 • Der Arbeitgeber gewinnt mit der Beitragspflicht Zutritt zur Selbstverwaltung. Darin liegt ein Sinn der Regelung des Gesetzes, daß der Arbeitgeber selbst Schuldner seines Beitrags ist, die Abgabe also aus eigenem Vermögen entrichtet und nicht lediglich Lohnelemente des Arbeitnehmers abführt: die Beitragspflicht bildet den Rechtstitel zur Partizipation. Die paritätische Abgabenverteilung rechtfertigt die paritätische Konzeption der sozialen Selbstverwaltung22 • Der Nexus von Beitrag und Mitwirkung enthält Ansätze zum Synallagma: Säumigen Beitragspflichtigen kann das Wahlrecht entzogen werden23 • e) Einkommensteuer-Konformität Gegenstand wie Maßstab des Sozialbeitrags werden weitgehend durch einkommensteuerliche Normen vorgeprägt. Herkömmlich gilt als Rechtsprinzip, daß die Beiträge nach dem für die Lohnsteuer maßgebenden Betrag zu berechnen seien24 • 26 SGB IV. 1303 RVO und § 82 AVG. Kasuistik zum Rückzahlungs- und zum Erstattungsanspruch: Bley (N 10), S. 349 - 365. 20 BVerfGE 51,1 (22 - 29) zu § 94 I 1 AVG-. 21 Exempel: § 457 RVO. Zu den Schwierigkeiten, die sich in der Unfallversicherung ergeben, wenn die nicht beitragspflichtigen Versicherten schematisch Mitwirkungsrechte erhalten: P. Krause, in: GK-SGB IV (N 6), § 47/ Rn. 13,45. 22 Vgl. H. Bogs (N 3), S. 88 - 91. Eine Anomalie gilt für die Bundesknappschaft. Die Anteile der beiden Gruppen an der Selbstverwaltung (zwei Drittel für die Versicherten, ein Drittel für die Arbeitgeber) stehen im umgekehrten Verhältnis zu ihren Anteilen an den Beitragslasten. 23 So die Ermächtigung des § 50 III SGB IV an den Satzunggeber. 24 So ausdrücklich der Gemeinsame Erlaß des Reichsministers der Finanzen und des Reichsarbeitsministers über weitere Vereinfachung des Lohnabzugs v. 10.9.1944 (AN. 1944, S. 281). Zu dessen Fortgeltung als Rechtsnorm: BSGE 6, 47 (50 - 56); 22, 169 - 173. Vgl. auch K. Maier, in: FS-BSG I, 1979, S. 275 f.; D. Merten, in: GK-SGB IV (N 3), § 14/Rn. 5 - 7. 18
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In jüngster Zeit regt sich aber im Sozialrecht die Neigung, nicht länger im Schlepptau des Steuerrechts zu fahren. Das Sozialgesetzbuch definiert eigenständig das Arbeitsentgelt und setzt damit die Bemessungsgrundlage des Sozialbeitrags vom Steuerrecht ab 25 • Gleichwohl bleibt das Sozialrecht weiterhin von der Begrifflichkeit des Einkommensteuerrechts und seinen materiellen Gehalten abhängig. So behält die neue Regelung die steuerrechtliche Kategorie "Einnahmen" bei. Die steuerrechtliche Betrachtungsweise wird auch künftig für Abgrenzungsfragen des Beitragsrechts bemüht werden28 • Das Wenige, das die Legaldefinition des Arbeitsentgelts an Emanzipation geleistet hat, wird zum Teil durch eine Verordnungsermächtigung rückgängig gemacht, auf Grund deren die Bemessungsgrundlage so zu konkretisieren und zu korrigieren sei, daß "eine möglichst weitgehende Übereinstimmung mit den Regelungen des Steuerrechts" sichergestellt werde 27 • Im übrigen verweist die neue Legaldefinition des "Arbeitseinkommens" (Beitragsmaßstab der Selbständigen) offen auf die Gewinnermittlungsvorschriften des Einkommensteuerrechts 28 •
Wenn also immer noch im Grundsatz die Einkommensteuer-Konformität der sozialrechtlichen Bemessungsgrundlage festgestellt werden kann, so fällt erst recht auf, wie archaisch und roh diese Größe ist im Vergleich zum steuerlichen Seitenstück, dem "zu versteuernden Einkommen". Der Sozialbeitrag bleibt beim Brutto-Betrag der Einnahmen stehen, während die direkte Steuer durch Berücksichtigung der Werbungskosten, Sonderausgaben, außergewöhnlichen Belastungen und Freibeträge Feinschliff leistet und stärkere Anpassung an den Einzelfall erreicht. Freilich kann das Sozialversicherungssystem bei der Gestaltung der Leistungen ausgleichen, was es bei der Gestaltung der Abgaben an Individualisierung schuldig bleibt. Das Beitragsrecht jedenfalls ist relativ undifferenziert - und damit besonders praktikabel. Das Grobe des Beitragstatbestandes erspart jenen Verwaltungsaufwand, mit dem im Lohnsteuerrecht die Härten des Abzugsverfahrens ausgeglichen werden, nämlich die Vorweganerkennung von Freibeträgen und das Erstattungsverfahren. f) Typisierung
Im Dienst des Praktikabilitätsgedankens steht die gesetzgeberische Technik der Typisierung 29 • Typisierung ist Gleichbehandlung an sich differenzierungsbedürftiger Sachverhalte um der Einfachheit und Leichtigkeit des Vollzugs willen. Die Technik ermöglicht schematische, mithin ökonomische Abwicklung des Massenverfahrens. Sie enthebt die Zur Legaldefinition des § 14 SGB IV: Merten (N 24), § 14/Rn. 2l. Stichworte etwa: Zuflußtheorie, Annehmlichkeiten. Einzelheiten: Maier (N 24), S. 275 - 279,283; Merten (N 24), § 14/Rn. 24 ff. 27 § 17 SGB IV. 28 § 15 SGB IV. 28 Zum Wesen der gesetzgeberischen Typisierung: J. Isensee, Die typisierende Verwaltung, 1976, bes. S. 96 -100,165 -171. 25
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Verwaltung der subtilen Einzelfallgerechtigkeit; sie erspart ihr, in schwer zugängliche Bereiche der Privatheit einzudringen. Aus der Perspektive des Bürgers bedeutet das: Typisierung verkleinert die Kontakt- und Reibungsfläche gegenüber der öffentlichen Verwaltung. Typisierung schont die Privatsphäre, stiftet Berechenbarkeit. Der Preis besteht in einer Vergröberung der Rechtsrnaßstäbe und einer Einbuße an Einzelfallgerechtigkeit. Das Sozialversicherungsrecht ist, wie auch andere Rechtsgebiete der Massenverwaltung, in weitem Umfang typisiert3o • Die Legitimationsideen der Sozialversicherung - Schutzbedürftigkeit, Leistungsfähigkeit, Äquivalenz - müssen Kompromisse mit der Praktikabilität eingehen, wenn sie normative Gestalt annehmen sollen. Das Sozialversicherungsrecht abstrahiert weitgehend vom Einzelfall und stellt auf den Normalfall ab: auf durchschnittlichen Bedarf und auf durchschnittliche Belastbarkeit. Leistungen und Abgaben bemessen sich nach Durchschnittswerten (Bezugsgröße, Rentenformel, Grundlohn) und nach Wahrscheinlichkeitsrnaßstäben (Einheitswert oder Arbeitsbedarf als Beitragsmaßstab in der Krankenversicherung der Landwirte3!). Nach schematisierten Merkmalen ist der Kreis der Versicherten umschrieben. Wenn ratio dieser Umschreibung das Schutzbedürfnis ist, so handelt es sich um einen unwiderleglich vermuteten Normalsachverhalt, nicht aber um das jeweils besondere Schutzbedürfnis des einzelnen Versicherten; eine derart individualisierende Betrachtungsweise wäre, wie das Bundessozialgericht feststellt, der Sozialversicherung wesensfremd32 • Die Typisierung, die das Sozialversicherungsrecht prägt, ist grundsätzlich zulässig. Das Bundesverfassungsgericht toleriert in weitem Umfang die Härten, die sich unvermeidlich aus der Typisierung für den Einzelfall ergeben33 • Die Härten bestehen vornehmlich in Einbußen an 30 Dazu: L. Richter, Sozialversicherungsrecht, 1931, S. 11 f.; G. Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts I, 1965, S. 32, 180; H. Bogs (N 3), S. 442 f., 548; Zacher (N 3), S. 215; ders., Was können wir über den Sozialstaat wissen?, in: FS-Ipsen, 1977, S. 251 - 256. Typisierung ist auch der Privatversicherung nicht fremd. Wie die Sozialversicherung etwa die Schutzbedürftigkeit und Leistungsfähigkeit nach Pauschalkriterien bemißt, so die Privatversicherung die Risikogemäßheit der Prämie nach statistischen Durchschnittswerten für Alter, Geschlecht etc. Nach Prölss-Martin haben die "entindividualisierenden" Grundsätze Massenprinzip und Versicherungstechnik den Vorrang vor dem individualisierenden Grundsatz von Treu und Glauben (Versicherungsvertragsgesetz, 21 1977, Vorbem. II 4); dazu auch H. Bogs (N 3), S. 415 f. 31 Eine Bestimmung wie § 384 RVO, die gestattet, die Beiträge differenzierend nach der Erkrankungsgefahr abzustufen, ist die sozialversicherungsrechtliche Ausnahme, welche die Regel bestätigt. 32 BSGE 40, 208 (209). Vgl. auch BSGE 14, 104 (109); 41, 41 (48 f.); BSG, E. v. 27.4.1966, in: Breithaupt 55 (1966), 646 (648). 33 Vgl. BVerfGE 9, 20 (31 f.); 11, 105 (120, 122); 17, 1 (23 - 26); 23, 12 (28 f.); 28, 104 (116); 31, 1 (6); 34, 62 (67, 69); 36, 237 (245); 40, 121 (135 f.); 48, 346
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Rechtsgleichheit, oder genauer: in Durchbrechungen der Systemgerechtigkeit, die im Gleichheitssatz wurzelt. Die Grenzen des Typisierungsermessens sind weit gesteckt. Der Normalitäts-Standard muß sachgerecht sein. Der Verlust an Systemkonsequenz darf nicht unverhältnismäßig ausfallen gegenüber dem Gewinn an Praktikabilität. Im übrigen widersetzen sich die einzelnen Grundrechte, allerdings mit unterschiedlicher Kraft, einer Typisierung 34 • Bei einer einzelnen Pauschalregelung kann fraglich sein, ob sie dem technischen Prinzip der Typisierung oder dem teleologischen des sozialen Ausgleichs folgt. Beide Momente können auch zusammentreffen. So begründet das Bundessozialgericht die schematische Abgrenzung der Versicherungspflicht zum einen mit der Arbeitserleichterung für Verwaltung und Gerichte - also als Typisierung -, zum anderen mit dem Solidaritätsgrundsatz und der Abwehr einer negativen Risikoauslese also als Mittel des Solidarausgleichs35 • Wenn das Recht der Arbeitslosenversicherung das individuelle Risiko (etwa das schuldhafte Auslösen des Versicherungsfalles) nicht berücksichtigt, so sind zwei Deutungen möglich: pragmatische Resignation vor der Schwierigkeit, subjektive Faktoren ("moral hazard") in den Griff zu bekommen, oder/und systematische "soziale" Einebnung von realen Unterschieden36 •
(361 - 365); B. v. 3.4.1979 - 1 BvL 30176 - (S. 10 -13). BayVerfGHE 32,29 (38 f.). - Allgemein zu den verfassungsrechtlichen Grenzen gesetzgeberischer Typisierung: Isensee (N 29), S. 165 -171; H. H. Rupp, Art. 3 GG als Maßstab ... , in: FS-BVerfG 11, 1976, S. 377 - 379. - Zu konkreten verfassungsrechtlichen Typisierungsproblemen: W. Ecker, Wege richterlicher Rechtsgewinnung, SGb 1970, 404 f.; H.-J. Papier, Verfassungsschutz sozialrechtlicher Rentenansprüche ... , in: VSSR 1 (1973), S. 56; J. Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, 1973, S. 64; M. B. Ruths / H.-W. Arndt, Die Hinterbliebenenversorgung ..., SGb 1975, 310 f.; Lerche / Graf Pestalozza (N 9), S. 14 f., 43; R. Pitschas, Verfassungsmäßigkeit der Höhe der Witwenrente ... , ZRP 1979, 125. 34 Beispiel: Konflikte der Typisierung mit dem typisierungsfeindlichen Grundrecht des Art. 6 GG - s. BVerfGE 18, 257 (270 f.); 28, 324 (354 - 356); 39, 169 (188 f.). 35 BSGE 40, 208 (209). 36 Das BVerfG rechtfertigt vor Art. 3 I GG, daß die Gesamtleistung an Arbeitslosengeld "im Einzelfall typischerweise nicht in einer Beziehung zur jeweiligen Beitragsleistung" stehe, allein mit der Typisierung, nämlich als Folge dessen, "daß alle Arbeitnehmer ohne Berücksichtigung ihres individuellen Arbeitslosenrisikos gleichmäßig zur Beitragsleistung herangezogen werden" (E 51, 115 [125]). - Der moral hazard der Arbeitslosenversicherung wird dagegen auf der Leistungsseite zum Teil berücksichtigt (s. §§ 103, 119, 120 AFG).
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3. Teleologische Prinzipien und Legitimationsgründe
a) Fiskalprinzip
An der Spitze einer abgabenrechtlichen Teleologie mag der Einnahmezweck erwartet werden. In der Tat trifft das für den Sozialbeitrag zu. Sein erster Zweck besteht darin, den Finanzbedarf des Versicherungsträgers zu decken. Der Primat des Fiskalzwecks ist geradezu Wesensmerkmal des Beitrags. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts kann von einem Beitrag im Sinne des Sozialversicherungsrechts nicht die Rede sein, wenn die Absicht, Einnahmen zu erzielen, hinter einem anderen mit der Leistungspflicht verbundenen Zweck völlig zurücktritt37 •
In dieser Hinsicht stimmen Beitrag und Steuer überein38• Einnahmeerzielung ist das wesensnotwendige (wenngleich nicht das ausschließliche) Ziel der Steuer, darüber hinaus auch ihre Rechtfertigung. Während fiskalischer Zweck und fiskalische Legitimation in der Steuer zur Deckung gelangen, treten sie im Sozialbeitrag auseinander. Das Ziel, das eine Norm verfolgt, ist zu unterscheiden von der Rechtfertigung, die eine Norm trägt und ihr die Anerkennungswürdigkeit verschafft. Legitimationsgrund der voraussetzungslosen, gegenleistungsfreien Abgabe ist der komplexe, unspezifizierte Finanzbedarf der öffentlichen Hand, der nicht weiter juristisch begründet werden muß. Dagegen bedarf die einzige, eng umgrenzte Finanzierungsaufgabe, in welcher der Beitrag aufgeht, ihrerseits der besonderen Rechtfertigung. Am Anfang der sozialversicherungsrechtlichen Legitimationskette steht das soziale Schutzbedürfnis, also die Grundlegung des Leistungsanspruchs39 • Dem Leistungsanspruch folgt die Beitragspflicht. Die jeweilige Versicherungsaufgabe determiniert das Finanzinteresse. Daher ist im Unterschied zur Steuer die Leistungsfähigkeit nicht der primäre Anknüpfungspunkt der Abgabe. Die Leistungsfähigkeit bildet nicht den Grund der Beitragsschuld, sondern nur den Maßstab für deren Höhe. Doch das degradierte Fiskalprinzip schiebt sich auf einem Umweg wieder nach vorn. Wenn nämlich der Gesetzgeber die Solidargemeinschaft erweitert und die Versicherungspflichtgrenze hinaufsetzt, so richtet er sich nicht nur an einem (typisierend unterstellten) Bedürfnis BVerfGE 14, 312 (318). Zustimmend: BayVerfGHE 32, 29 (40). BVerfGE 14, 312 (318) stellt hinsichtlich des Einnahmezwecks Sozialbeitrag und Steuer gleich, wenn es "ebenso für Steuern" als Präjudiz BVerfGE 3, 407 (435 f.) zitiert. Nach der letzteren Entscheidung aber muß die Erzielung von Einnahmen nicht der überwiegende Zweck, sondern nur einer von mehreren sein. Es genügt also für die Steuer, daß die Erzielung von Einnahmen Nebenzweck ist (so heute § 3 I 1/2. Hs. AO 1977). 39 Zur Schutzbedürftigkeit mit Nachw.: Leisner (N 11), S. 55 - 68; Lerche I Graf Pestalozza (N 9), S. 9 - 17. 37 38
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der Neuversicherten aus, sondern auch an dem Bedürfnis der Solidargemeinschaft, ihre Finanzgrundlage durch leistungsfähige Beitragszahler sicherzustellen und zu stärken40 • Hier zeigt sich ein Paradoxon: Die Personenkreise, die nahe an der Versicherungspflichtgrenze liegen, sind in fiskalischer Hinsicht die attraktivsten, weil leistungsfähigsten, in sozialer Hinsicht dagegen die am wenigsten schutzbedürftigen. Der Zielwiderspruch, der bei jeder Anhebung der Pflichtgrenze wirksam wird, läßt sich nicht harmonisieren, sondern allenfalls vertuschen. Daß er aber in der juristischen Diskussion vertuscht und das Prinzip der sozialen Schutzbedürftigkeit so weit gedehnt wird, wie es die Finanzbedürfnisse eines Versicherungszweiges fordern, liegt an dem Respekt, den (trotz allem) eine Grundmaxime des steuerstaatlich fundierten Rechtsstaats genießt: das bloße Fiskalinteresse rechtfertige nur einen einzigen Abgabentypus, die Steuer; alle anderen Lasten (mithin die Versicherungslast) bedürften einer nichtfiskalischen Rechtfertigung aus dem Gemeinwohl 41 • Auch außerhalb der Sozialversicherung neigen parafiskalische Leistungsträger dazu, möglichst weite Bevölkerungskreise mit Verwaltungswohltaten zwangszubeglücken, um die entsprechenden Entgelte zu bekommen. Die verwaltungsgerichtlich eingesegnete Praxis der kommunalen Versorgungseinrichtungen, die mit Anschluß- und Benutzungszwang samt Gebührenhoheit ausgestattet sind, liefert Exempel. So darf der Zwang zum Anschluß an eine Wasserleitung nicht aus fiskalischen Gründen eingeführt werden, sondern nur aus (außerfiskalischen) Gründen des "öffentlichen Wohls" (Volksgesundheit). Jedoch gilt der Anschlußzwang als zulässiges Mittel, die Rentabilität der Einrichtung sicherzustellen, wenn der Widerstand einer Minderheit diese gefährden sollte 42 • Ist allerdings der Kreis der Versicherungspflichtigen erst abgesteckt, so kommen das Fiskalprinzip und das Kriterium der Leistungsfähigkeit offen zum Zuge: als Leitgedanken zur Bemessung der Beitragshöhe. b) Lenkungsziele Der Sozialbeitrag entwickelt im Gegensatz zur Steuer keinen sonderlichen Ehrgeiz, das Verhalten des Abgabepflichtigen in eine bestimmte Richtung zu lenken43 • 40 Exemplarisch zur Einführung der Pflichtversicherung für Landwirte: BVerfGE 44, 70 (90). 41 Dazu näher mit Nachw.: J. Isensee, Steuerstaat als Staatsform, in: FSIpsen, 1977, S. 409 - 436. 42 Vgl. zum bayerischen Kommunalrecht: BayVGH 7, 12 - 26; 14, 24 - 26; BayVerfGH 16, 128 (133). 43 In diesem Zusammenhang geht es um die normativen Ziele des Beitragsrechts, nicht um seine realen Effekte, die den Zielen nicht notwendig entsprechen. Diese Unterscheidung liegt auf anderer Ebene als die wirt-
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Die Pflichtmitgliedschaft enthebt die Beitragsgläubiger von der Notwendigkeit, sich um Attraktivität der Tarife zu bemühen. Aber auch dort, wo der Beitrag zur Sozialversicherung freiwillig ist, bleibt nur geringer Spielraum zur Werbung durch Beitragsgestaltung. Versuche der Ersatzkassen, mit Dumpingangeboten zu locken, geraten in Konflikt mit dem Wettbewerbsrecht und den Grundrechten der konkurrierenden privaten Versicherer44 • überdies gelten die allgemeinen Beitragsgrundsätze auch für die freiwillig Versicherten. So hat das Bundessozialgericht jüngst die Ersatzkassen an das Solidaritätsprinzip erinnert: dieses verwehre ihnen, die Beiträge ihrer freiwilligen Mitglieder nach dem Versicherungs risiko abzustufen und darauf abzustellen, ob jenen Familienhilfe zustehe oder nicht45 • Ein mögliches Lenkungsziel liegt darin, das Versicherungsrisiko zu mindern. Voraussetzung ist allerdings, daß die Beitragspflichtigen darauf einwirken können. Die Beiträge der Unfallversicherung sind darauf angelegt, die Unternehmer für die Unfallverhütung zu aktivieren. Zahl, Schwere und Kosten der anzuzeigenden Unfälle heben oder senken die reguläre Beitragsschuld. Es ist folgerichtig, daß Wegeunfälle außer Ansatz bleiben, weil sie sich dem Einfluß der Unternehmer entziehen 46 • Der Gesetzgeber wahrt bemerkenswerte Zurückhaltung darin, über den Beitrag auf den Versicherten selbst einzuwirken und ihn zu bewegen, eine gesundheitsschädliche Lebensweise oder sonstige Risiken zu meiden und nicht leichtfertig Sozialleistungen, etwa ärztliche Behandlung und Medikamente, in Anspruch zu nehmen. Das geltende Beitragsrecht der Krankenversicherung trägt nicht dazu bei, den Versicherten "kostenbewußt" zu machen47 • Im Gegenteil: es bietet für manchen geradezu die Versuchung, die Folgen seiner Hypochondrie, Pharmasucht und ähnlicher privater Allüren zu so.zialisieren. Mit dem beitragspflichtigen Eintritt in die Versicherung scheint sich ein Reich unbegrenzter und unentgeltlicher Leistung~angebote aufzutun. Gesetzliche Maßnahmen zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen richten sich an schaftswissenschaftliche These Meinholds, die parafiskalische Sozialpolitik betreibe Konjunktur- und Stabilitätspolitik, ob sie es wolle oder nicht (N 7, S.3).
44 Vgl. R. Scholz / J. Isensee, Zur Krankenversicherung der Studenten, 1973. Allgemein zu verfassungsrechtlichen Grenzen der Konkurrenz der Sozialzur Privatversicherung: Leisner (N 11), S. 128 -160. 45 BSGE 48, 134 (136 f.). 46 Vgl. § 725 II RVO. Zum Gefahrkriterium: BSGE 43, 289 - 293; BSG, E. v. 29. 11. 1973, in: Breithaupt 63 (1974), 581 (582 - 586). 47 H. Peters erwähnt eine "erzieherische Funktion" des Krankenversicherungs-Beitrages, erklärt aber nicht, worin diese bestehen soll (Handbuch der Krankenversicherung, Stand 1978, Vorbem. 2 vor § 380 RVO).
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die Kassenärzte, nicht an die Kassenpatienten, also an die Leistungsmittler, nicht an die Leistungskonsumenten. Gesetzespolitische Vorstöße, durch Wahltarife, Selbstbeteiligung, Kostenerstattung und ähnliche Vorkehrungen ökonomisches Eigeninteresse und Sinn für die wirtschaftlichen Folgen zu wecken, sind bisher am herrschenden SozialPaternalismus gescheitert, erstickt von der Sorge, der Versicherte sei nicht fähig, einen Motivkonflikt zwischen Gesundheitsvorsorge und Sparsamkeit sachgerecht zu bewältigen und eine ökonomische Hemmungsschwelle zu überschreiten, wenn es gesundheitlich angezeigt sei. Die rechtlichen Möglichkeiten verhaltenslenkender Beitragsgestaltung sind bisher kaum erprobt worden48 • Fraglich ist, ob und wieweit der Gesetzgeber auch solche Lenkungsziele verfolgen darf, die außerhalb des Vorsorge- und Leistungsverhältnisses liegen: etwa arbeitsmarkt- und konjunkturpolitische Ziele. Jedenfalls ist es den Selbstverwaltungsträgern verwehrt, von sich aus, ohne gesetzliche Ermächtigung, versicherungsfremde Zwecke mit ihrer Beitragspolitik zu verfolgen. So darf die Krankenversicherung der Landwirte, wie der Bayerische Verfassungsgerichtshof zu Recht feststellt, mit ihren Beiträgen keine "agrar-sozialpolitischen" Ziele einer Vergrößerung oder Verkleinerung von Betrieben fördern 49 • So unbedeutend die Lenkungstendenz ist, so mächtig ist die Umverteilungstendenz. Lenkung und Umverteilung sind zu unterscheiden. Umverteilung verschiebt bestehende Lasten, steuert aber nicht notwendig das Verhalten der Betroffenen. So ist Sinn des Familienlastenausgleichs nicht, einen Anreiz zur Eheschließung zu schaffen50 • Es dürfte auch kaum einmal vorkommen, daß ein Junggeselle seine union libre legalisiert, um im Familienlastenausgleich von der Rolle des Spenders in die des Empfängers überzuwechseln.
48 Repräsentativ: Stellungnahme der Bundesregierung gegenüber dem Bundestag am 20. 6. 1979, BT-Protokolle 8/160/S. 12750. - Dokument der sozialpolitischen Gegentendenz: B. Molitor, Die Zukunft der Sozialpolitik, VSSR 5 (1977), 77. 49 Vgl. BayVerfGHE 32, 29 (40). Dagegen hält das BVerfG es für zulässig, daß der Gesetzgeber arbeitsmarkt- und wirtschaftspolitische Gesichtspunkte berücksichtigt (zu § 113 AVG: E 14, 312 [319 f.]). 50 Dagegen hält Herrmann den Beitrag im Familienlastenausgleich für ein hilfsfiskalisches Mittel der bevölkerungspolitischen Absichten des Gesetzgebers (N 7, S. 23 f.). - Echte bevölkerungspolitische Lenkungstendenz gelangte jedoch in das Rentenversicherungsrecht mit dem Reformmodell von Guy Kirsch: Zeugung und Aufzucht der Kinder seien Leistungen für die Erfüllung des Generationenvertrages, folglich solle die Höhe der individuellen Beiträge wie der Renten sich nach der Kinderzahl richten (Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 7.7.1979, Nr. 155, S. 13).
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c) Individualäquivalenz und Solidarausgleich
Damit ist das Zentrum der sozialversicherungsrechtlichen Teleologie erreicht: die Polarität von Beitragsäquivalenz und Solidarität, von versicherungsmäßigem Risikoausgleich und sozialem Lastenausgleich5 !. Die sozialpolitische Aufgabe besteht darin, die widerstreitenden Elemente zu vereinigen. Das juristische Problem greift tiefer. Es besteht erst in zweiter Linie darin, die Antinomie aufzulösen; zuvörderst bedarf es des Nachweises, daß die Antinomie überhaupt vorhanden ist. Fraglich ist nämlich, ob Äquivalenz als Rechtsprinzip im geltenden Sozialversicherungsrecht (noch) Geltung beanspruchen kann. Eine versicherungsmathematische Relation von Beitrag und Anwartschaft scheitert schon daran, daß die Voraussetzungen des Privatversicherungsverhältnisses fehlen: die Ex-ante-Berechnung von Prämie und Versicherungsleistung und deren Festschreibung auf der Basis des Nominalprinzips. Es bedarf spezifisch sozialversicherungsrechtlicher Meßgrößen, damit Äquivalenz in "dynamisierten" Leistungsbeziehungen, insbesondere in der generationenumspannenden Rentenversicherung, erfaßt werden kann. Die Sozialversicherung genießt einkommensteuerliche Vergünstigungen vor privaten Vorsorgesystemen52 • Dieser Umstand erschwert den Vergleich zwischen den jeweiligen Preis-Nutzen-Beziehungen. Überhaupt sind die öffentlichrechtlichen Leistungen Kunstschöpfungen des Gesetzgebers, freigestellt von den Notwendigkeiten der privatwirtschaftlichen Tauschgerechtigkeit: von privatautonomer Einigung, von betriebswirtschaftlicher Rechenhaftigkeit und von der Verstrickung in das Schicksal des Marktes. Es gibt deshalb auch keine "natürlichen", marktwirtschaftlichen Maßstäbe, um die beitragsmäßig "verdienten" Bestandteile der Anwartschaften abzugrenzen gegen reine Sozialgewinne aus fürsorgerischen Maßnahmen des Staates. Freilich vereinfacht die Typisierungstechnik die Suche nach den Kriterien. Es genügt ein Grobraster, um die Reichweite des Äquivalenzprinzips gegenüber dem Sozialprinzip zu bestimmen und herauszuarbeiten, ob und wieweit die beitragsbegründete Anwartschaft umverteilungsfest ist. Der Solidarausgleich bedarf im Unterschied zum Versicherungsprinzip nicht des Nachweises seiner juristischen Existenz (mag auch bei einzelnen Regelungen diskutabel sein, ob sie soziale oder versicherungs51 Dazu mit Nachw.: H. Bogs (N 3), S. 412 - 448; Isensee (N 33), Umverteilung, S. 13 - 22, 44 - 52 und passim; Leisner (N 11), S. 52 - 55, 70 - 84 und passim. Kasuistik des BSG: Bley (N 10), S. 366 - 373. 52 Dazu K. H. Friauf, Gleichmäßigkeit der Besteuerung bei den Versorgungsbezügen der Unselbständigen, DStZA 1974, 51 - 61; K. Tipke, Steuerrecht, 51978, S. 187.
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mäßige Substanz enthalten). Problematisch sind dagegen Eigenart und Reichweite. Es fragt sich, ob der parafiskalische Solidarausgleich sich abhebt vom steuerstaatlichen Solidarausgleich. Das Problem fächert sich auf: -
Darf der Gesetzgeber nach rein finanzpolitischer Zweckmäßigkeit gesellschaftliche Gruppen in das Joch einer Solidargemeinschaft spannen, ohne daß ein Mindestmaß an rechtlicher oder gesellschaftlicher Interessenhomogenität vorhanden ist? Beispiele: Einbeziehung der Studenten in das bestehende Kassensystem zu dem Zwecke, ihre nicht hinlänglich durch eigene Beiträge abgedeckte Krankenversicherung durch Beiträge der Arbeitnehmer zu subventionieren53 • Heranziehung der Kirchen zur Zahlung der Konkursausfall-Umlagen, obwohl die Kirchen dem Konkursrisiko kraft des Staatskirchenrechts, insbesondere kraft ihrer Steuerhoheit, effektiv nicht unterliegen54 •
-
Darf der Gesetzgeber die Versicherungslast einer Solidargemeinschaft auf eine andere Solidargemeinschaft abwälzen, obwohl beide nicht kongruent sind oder gewesen sind? Beispiel: Teilfinanzierung der Krankenversicherung der Rentner durch die Kassen, im Effekt: Subventionierung der Höherverdienenden unter den Rentnern durch die Kassenangehörigen55 •
53 Zu einem solchen gesetzespolitischen Finanzierungsmodell: Isensee (N 33), Umverteilung, S. 22 - 26. 54 Nach Einführung des Konkursausfallgeldes (1974) zogen die Berufsgenossenschaften die kirchlichen Arbeitgeber zur Umlage heran: als "gute Risiken" mit hohen Lohnsummen und minimaler Konkursgefährdung. Das Gesetz stellt zwar Gemeinden und konkursunfähige juristische Personen des öffentlichen Rechts von der Umlage frei (§ 186 c II 2, III 2 AFG), führt die kirchlichen Körperschaften aber nicht eigens auf. Den Kirchen ist nur in Teilen des Bundesgebiets, nach vorgrundgesetzlichem Landesrecht, formell Konkursunfähigkeit zuerkannt. (Vgl. §§ 2 und 4 Preuß. Gesetz über die Zwangsvollstreckung gegen juristische Personen des öffentlichen Rechts v. 11. 12. 1934.) Abgesehen von dieser formellen Eigenschaft kommt ihnen und den wesentlichen ihrer Einrichtungen materielle Konkursunfähigkeit zu auf Grund ihrer privilegierten staatskirchenrechtlichen Stellung, ihrer besonderen Vermögensgarantie (Art. 138 II WRV - Art. 140 GG), ihrer verfassungsrechtlich gewährleisteten Finanzierungsgrundlage, insbesondere der Kirchensteuerhoheit. Ein existenzgefährdendes Sinken der Kirchensteuer durch Massenaustritt ist so unwahrscheinlich, daß dieser Fall vernachlässigt werden kann (ähnlich wie der Fall des Ruins einer kommunalen Gebietskörperschaft durch Massen-Exodus). Die Kirchen teilen daher nicht das Konkursrisiko der Privatunternehmer. Sie fügen sich nicht in die auf dieses Risiko gründende Solidargemeinschaft - ein Testfall also für das Kriterium der Gruppenhomogenität (s. u.). 55 Zur Krankenversicherung der Rentner: W. Schreiber, Einige Gedanken zur Krankenversicherung der Rentner, FS-Bogs, 1967, S. 173 -183; R. Kolb,
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Kann der Gesetzgeber das Beitragsaufkommen auch Finanzierungsaufgaben zuführen, die jedermann, ohne Rücksicht auf Zugehörigkeit zu dem betreffenden Solidarverband zugute kommen? Beispiel: Beitragsfinanzierung der versicherungsfremden Dienste, welche die Bundesanstalt für Arbeit jedermann - ohne Rücksicht darauf, ob jemals Beitragspflicht bestanden hat oder begründet werden soll - anbietet: also Berufsberatung, Arbeitsvermittlung, Förderung der beruflichen Bildung 55a•
111. Finanzrechtliche Qualifikation des Sozialbeitrags und ihre Folge für die sozialrechtliche Qualifikation des Sicherungssystems 1. Die Alternative
Der rechtsdogmatische Prüfstand für die normative Kraft und den wechselseitigen Ausgleich von Versicherungs- und Sozialprinzip bildet die finanzverfassungsrechtliche Qualifikation des Sozialbeitrags. Diese Qualifikation steht vor der Alternative: Steuer oder nichtsteuerliche Abgabe. Die finanzrechtliche Qualifikation enthält die Vorentscheidung für die sozialrechtliche Qualifikation des Leistungssystems. Mit der Qualifikation als Steuer erwiese sich das Leistungssystem als staatliche Versorgung mit lediglich organisatorischer Eigenständigkeit ("hinkende" Volksversicherung). Mit der Qualifikation als nichtsteuerliche Abgabe würde der Weg frei zur Bestimmung eines Vorsorgesystems mit eigenständiger Struktur und Legitimation. Im ersten Falle dürfte sich der Gesetzgeber unbedenklich Zugriff auf die Finanzmasse des Fonds verschaffen. Im zweiten Fall könnten sich die Eigengesetzlichkeit des Sicherungssystems und die Ansprüche der Beteiligten seiner Verfügung entziehen; der Weg würde frei, eine verfassungskräftige Gewährleistung der Anwartschaften zu begründen. Die abgabenrechtliche Qualifikation ist kein selbstzweckhaftes Spiel mit Begriffen, sondern eine Vorentscheidung über die Legitimation. Die Frage der Form ist ein Gerechtigkeitsproblem.
Krankenversicherung der Rentner - Reformen ohne Ende, in: FS-Peters, 1975, S. 109 - 125. 55a Dazu W. Musa, Die Verwendung von Beiträgen zur Gesetzlichen Sozialversicherung für versicherungsfremde Aufgaben oder Personen, BB 1964, 1125 - 1128.
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2. Scheitern einer Klassifikation und Legitimation als Steuer
Die juristischen Schwierigkeiten, die sich im Zeichen von Individualäquivalenz und Solidarausgleich erheben, legen Resignation nahe: das, was schwierig nachzuweisen ist, zu negieren. Unter die:;;er Voraussetzung bliebe nur die Qualifikation des Sozialbeitrags als Steuer übrig 56 • Mit dieser Qualifikation erledigten sich die Aporien. Der Nexus von Abgabe und Versicherungsleistung löste sich auf. Äquivalenz wäre kein Thema mehr, weil das Äquivalenzprinzip für die Steuer nicht gilt57 • Eine steuerliche Umverteilung bedürfte keiner besonderen Rechtfertigung aus der Solidarität engerer Risikogemeinschaften. In der Tat: Je weiter der Kreis der Versicherten gezogen wird, um so größer wird die Ähnlichkeit des Sozialbeitrags mit der steuerlichen Gemeinlast. Wenn etwa 90 % der Bevölkerung unter dem Schutz der gesetzlichen Krankenversicherung stehen, liegt es nahe, den Großteil der Gesellschaft als das Ganze zu nehmen und den Sozialbeitrag als Gemeinlast für eine Volksversicherung zu werten. Ein Problem bleibt allerdings: ob die Lücke zwischen Gesamtgesellschaft und sozialversicherter Bevölkerungszahl als juristische quantite negligeable behandelt werden darf. Irrelevant ist hier das Mehrheitsprinzip. Mehrheit entscheidet für das Ganze und als das Ganze im demokratischen Herrschaftsverband. Die empirische Gesellschaft ist keine demokratische Einheit, die empirische Mehrzahl keine demokratische Majorität. Die Sozialstaatsklausel schweigt zu dem abgabenrechtlichen Problem. Der juristische Kern der Klausel ist ebenso winzig, wie das politische Assoziationsfeld, das ihn umgibt, weit ist58 • Das soziale Verfassungsziel hält sich eine Vielzahl von finanzrechtlichen Realisierungsmöglich56 Im nationalökonomischen Schrifttum wird der Sozialbeitrag häufig als Steuer oder als steuerähnliche Abgabe bezeichnet: E. Liefmann-Keil, Ökonomische Theorie der Sozialpolitik, 1961, S. 159 f., 162, 166 (ArbeitnehmerBeiträge als direkte, Arbeitgeber-Beiträge als indirekte Steuern). Wirtschaftliche Ähnlichkeit zur Steuer wird auch im juristischen Schrifttum konstatiert: Wannagat (N 30), S. 156, 225; W. Rüfner, Die Rechtsform der sozialen Sicherung und das Allgemeine Verwaltungsrecht, in: VVDStRL 28 (1970), S. 200. Weit. Nachw.: Isensee (N 33), Umverteilung, S. 37 f., Anm. 1. 57 Für das Steuerrecht haben die Äquivalenz- und Assekuranztheorien heute nur noch museale Bedeutung. Bemühungen, sie neu zu beleben, müssen unter den gegebenen rechtlichen Bedingungen scheitern (s. etwa K.-H. Hansmeyer, Umbau des Steuersystems?, 1979, S. 39 - 41,91 f.). 58 Exempel einer überdehnung der Sozialstaatsklausel auf Kosten der Beitragsäquivalenz: M. Kloepfer, Sozialversicherungsbeiträge und Gruppensolidarität, VSSR 1974, 162; B. U. Hindrichs, Zur Problematik der Einkommensumverteilung durch die Sozialversicherung, Diss. Kiel 1978, S. 85 - 93. - Über das Verhältnis der sozialversicherungsrechtlichen Strukturen zur Sozialstaatlichkeit: Leisner (N 11), S. 116 - 126. - Grundsätzliche juristische Erkenntniskritik: Zacher, in: FS-Ipsen (N 30), S. 207 - 267.
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keiten offen; soweit die Verfassung diese Möglichkeiten eingrenzt, handelt es sich um ihre föderativen und um ihre rechtsstaatlichen Normen. In der politischen Rhetorik erscheint als das reale Gegenüber des Sozialstaats die "Arbeitnehmergesellschaft" . "Arbeitnehmergesellschaft" gibt sich als empirische Wirklichkeit, ist in Wahrheit jedoch gesellschaftspolitisches Postulat: ideologischer Zweckbegriff. Dieser Begriff stellt die Arbeitnehmerschaft als das relevante Ganze der Gesellschaft vor, identifiziert die Arbeitnehmerinteressen (genauer: die gewerkschaftlich definierten Arbeitnehmerinteressen) mit dem Gemeinwohl und nötigt so Nichtarbeitnehmer (Selbständige, Beamte, höherverdienende Angestellte, Studenten, Hausfrauen), die Sozialstrukturen des Arbeitnehmers anzunehmen, wenn sie nicht Gefahr laufen wollen, mit ihren Interessen aus dem Gemeinwohl heraus definiert zu werden. In der Begriffsmaske tarnt sich das Streben nach Uniformierung der Gesellschaft, eine Gegentendenz zum Pluralismus, wie ihn die Grundrechte freisetzen. Der Topos "Arbeitnehmergesellschaft" vermag also nicht, die Differenz zwischen der Gesamtgesellschaft und der Summe der Sozialversicherten juristisch aufzuheben. Das Problem erledigte sich mit der Einführung einer Volksversicherung. Sie ist nach Meinung vieler der sozialpolitische Trend59 • Die Folgerung liegt nahe: die Entwicklung sei unaufhaltsam, also dürfe juristische Auslegung das Wenige, was den status quo vom Endzustand trenne, vernachlässigen. Es kann dahinstehen, ob die Prognose zutrifft, weil sie, wie immer sie ausfällt, juristisch bedeutungslos ist. Der Jurist ist kein sozialpolitischer Wahrsager. Er ist nicht berufen, dem Gesetzgeber vorzugreifen. Erheblich ist allein das geltende Recht. Da die demographische Lücke sich juristisch weder schließen noch überspielen läßt, scheitert die Klassifikation des Sozialbeitrags als Steuer. Eine Steuer kann nach ihrem Formgesetz als Gemeinlast nur der Allgemeinheit, nicht aber, wie der Sozialbeitrag, bestimmten Bevölkerungsgruppen (mögen diese auch den Großteil der Bevölkerung bilden) auferlegt werden. Eine "Gruppensteuer" wäre Widerspruch in sich. Von der Klassifikation hängt die Verfassungsmäßigkeit ab. Als Steuer bewertet, verletzte der Sozialbeitrag die Lastengleichheit, weil er einzelne Gruppen willkürlich aussparte (zur Klarstellung: "willkürlich" 59 Nach geltendem Verfassungsrecht ist die Einführung einer Volksversicherung nicht zulässig: Walter Bogs, Die Einwirkung verfassungsrechtlicher Normen auf das Recht der sozialen Sicherheit, in: Verh. 43. DJT, 1962, G 14; Leisner (N 11), S. 106 - 114; R. Scholz, Öffentliche und Privatversicherung ... , in: FS-Sieg, 1976, S. 515; Lerche / Graf Pestalozza (N 9), S. 11 f. - Gegenmeinung: Kloepfer (N 58), S. 162, 169; Hindrichs (N 58), S. 125 -146.
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unter dem Vorzeichen der Steuer)60. Eine zusätzliche Inkonsequenz im System der direkten Steuer, um die es sich hier handeln müßte, läge darin, daß gerade die leistungsfähigsten Personen verschont blieben. Durch das Raster der Einkommensteuer gesehen, erwiese sich das Beitragsrecht als Regelungsfragment. Es wäre nur darauf abgestellt, die Einkünfte aus unselbständiger Arbeit zu erfassen, und ließe die Gewinneinkünfte praktisch außer Betracht. Gerade in diesem Umstand zeigte sich übrigens, in welchem Maße das geltende Sozialversicherungsrecht noch seiner Urform als Arbeiterversicherung verhaftet ist. Eine direkte Steuer, welche die leistungsfähigsten Einkommensbezieher aussparte, widerspräche auch der sozialen Gerechtigkeit. Allerdings wird damit nicht gesagt, daß die Last der Sozialversicherung gerade auf den Schultern der sozial Schwächsten liege. Diese nämlich profitieren von der Umverteilung. Das Schwergewicht der Last trifft die Schicht der mittleren Einkommensbezieher, und zwar die Schicht derer, die zu wenig verdienen, um versicherungsfrei, und zu viel, um solidarbegünstigt zu sein61 • Im übrigen zeitigte die Qualifikation als Steuer auch kompetenzrechtliche Bedenken62 . Die Finanzverfassung weist die Steuerhoheit ausschließlich den staatlichen und kommunalen Gebietskörperschaften sowie den Kirchen zu. Sie enthält allen anderen Verwaltungsträgern, somit auch den Trägern sozialer Selbstverwaltung, Steuerhoheit vor. Eine zusätzliche Finesse der bundesstaatlichen Problematik entstünde daraus, daß eine "Sozialversicherungssteuer" zur Einkommensteuer in Konkurrenz träte, die Ertragshoheit hier aber nach bestimmtem Schlüssel zwischen Bund und Ländern verteilt ist. 3. Rechtfertigung als nichtsteuerliche Abgabe
Wenn sich der Sozialbeitrag daher nicht als Steuer werten läßt, greifen spezifische Normgesetze ein, wie sie für die weitgehend gestaltungsoffene, gegenleistungsfreie Steuer nicht gelten. Im Steuerstaat bildet die Steuer das reguläre Finanzmittel. Nichtsteuerliche Abgaben sind die Ausnahme. Sie bedürfen der spezifischen Rechtfertigung und Begrenzung63 • 60 These, daß mit dem Abbau der spezifischen Merkmale der Sozialbeitrag gegen den Gleichheitssatz verstößt: W. Rüfner, Die Rechtsformen der sozialen Sicherung und das Allgemeine Verwaltungsrecht, in: VVDStRL 28 (1970), S. 197; Papier (N 33), S. 55; Isensee (N 33), Umverteilung, S. 62 - 66; P. Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, 1972, S. 369 - 371. 81 Sozialpolitische Kritik an der gruppensolidarischen Umverteilung: Meinhold (N 7), S. 33 - 39, 91 - 94 und passim. 62 Zur Exklusivität der grundgesetzlichen Steuerkompetenzen: Selmer (N 60), S. 183 - 208; Isensee (N 33), Umverteilung, S. 29 - 56.
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a) Individualäquivalenz als Legitimationsidee Als Legitimationsmaßstab scheidet die Individualäquivalenz nicht schon deshalb aus, weil es bisher nicht gelungen ist, ihre sozialversicherungskonforme Gestalt zu finden und Kriterien von leidlicher Trennschärfe zu entwickeln. Dieses Manko erlaubt noch keinen juristischen Agnostizismus. Der Jurisprudenz ist der Grenzenlosigkeitsschluß verwehrt: aus der Schwierigkeit, eine Grenze zu bestimmen, auf das Nichtvorhandensein der Grenze zu schließen64 • Das geltende Sozialversicherungsrecht stellt sich dem Beitragspflichtigen dar als staatlich organisierte Eigenvorsorge. Das System, das den Sozialbeitrag fordert, verheißt, daß der Schuldner davon auch selbst "etwas habe". Am deutlichsten wird diese Verheißung dort, wo die Sozialversicherung sich dem freiwilligen Beitritt öffnet und damit nicht an Opfersinn appelliert, sondern an privatnütziges Kalkül. Die Rechtsfigur des Beitrags als solche erweckt die Erwartung des Pflichtigen, er werde eine Gegenleistung erhalten6s • Der Eigennutz stimuliert den Abgabengehorsam. Die Finanzierung durch Beitrag darf kein bloßer finanzpsychologischer Trick sein. Der Rechtsstaat geriete mit sich selbst in Widerspruch, wenn er Hoffnungen, die er planmäßig weckt und nährt, nicht einzuhalten bereit ist. Das beitragsfinanzierte System sozialer Sicherheit steht und fällt mit der Individualäquivalenz. Damit ist nicht gesagt, daß es eine allgemein akzeptierte, praktikable Meßlatte der Abgaben-Leistungs-Bewertung bereits gebe, sondern nur, daß es innerhalb bestimmter Spielräume Gleichwertigkeit geben müsse. Äquivalenz ist kein vorgegebenes Rechenschema, sondern ein rechtliches Postulat. Sie ist kein Thema der Versicherungsmathematik, sondern ein Gegenstand normativer Wertung. Die Wertung kommt in erster Linie dem Gesetzgeber zu. Sie ist kein Akt logischer oder empirischer Erkenntnis. Sie ist aber auch nicht reine Dezision. Sie ist vielmehr schöpferische Konkretisierung der gesellschaftlichen Vorstellungen über Tauschgerechtigkeit, unter Rücksichtnahme auf die gesetzlich begründeten Erwartungen der Einzelnen, in den Grenzen der realen wirtschaftlichen Möglichkeiten. In der Individualäquivalenz nimmt die Idee der Verhältnismäßigkeit konkrete Gestalt an. Es wird näher bestimmbar, was sonst in Theorie 03 K. H. Friauf, Öffentliche Sonderlasten und Gleichheit der Staatsbürger, FS-Jahrreiß, 1974, S. 45 - 66; ders., Die Zulässigkeit von außersteuerlichen Sonderabgaben, 1977, S. 103 -125; W. Ott, Die gemeindliche Straßenreinigung als Natural- und Geldlast, 1978, S. 145 - 151; Isensee (N 41), S. 428 - 430. 64 Name und Analyse des rechtslogischen Fehlers: earl Schmitt, Freiheitsrechte und institutionelle Garantien (1931), in: Verfassungsrechtliche Aufsätze. 1958, S. 147. 65 s. Nachw. o. N 3.
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wie Praxis der Güterabwägung nebelhaft und willküranfällig ist: die Art der in die Abwägung einzubringenden Güter und die Meßeinheit, nach der zu gewichten ist. Eine solche Zweck-Mittel-Relation als Ansatz für das Übermaßverbot geht der Steuer dagegen ab (von Sonderfällen der Lenkungssteuer abgesehen)S6. Der globale Finanzbedarf des Staates und die individuelle Leistungsfähigkeit des einzelnen Steuerpflichtigen lassen sich nicht auf eine gemeinsame Ebene bringen, auf der die Prinzipien der Verhältnismäßigkeit, der Eignung und der Erforderlichkeit anwendbar würden. Das Beitragsrecht aber findet im Übermaßverbot ein Kriterium, um verfassungsrechtliche Grenzen der Belastbarkeit des Einzelnen aufzuweisen. b) Solidargemeinschajt als Legitimationsidee
Wenn der Sozialbeitrag verfassungsrechtlich Bestand haben und nicht in den Sog der Steuer geraten soll, muß sich die parafiskalische Umverteilung von der steuerlichen absetzen. Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist, daß die Leitfigur der Solidargemeinschaft rechtliche Konturen gewinnt und nicht, wie es in der gegenwärtigen Praxis zu beobachten ist, sich zunehmend in rhetorische Nebel auflöst oder zum ideologischen Vexierbild mißrät. Wenn die Solidargemeinschaft als Legitimationsidee juristisch ernst genommen wird, setzt sie der Umverteilung persönliche und sachliche Grenzen. Persönliche Grenzen: Der Ausgleich darf nicht in den Dienst von Gemeininteressen gestellt werden, die außerhalb des Kreises der sozialversicherten Personen begründet sind. Die Solidarität setzt ein Mindestmaß an Homogenität voraus. Dem Gesetzgeber ist es also verwehrt, lediglich aus finanzpolitischer Opportunität heterogene Gruppen der Gesellschaft in einen parafiskalischen Umverteilungsverband zu zwingen und so eine leistungsfähige Gruppe zur Daueralimentation einer leistungsbedürftigen Gruppe zu verurteilen 67 • 66 Dazu H.-J. Papier, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieprinzip, 1973, S. 76 - 93. 61 Von der Gruppenhomogenität, einem Element des Solidarausgleichs, ist die "Homogenität der Risiken" zu unterscheiden, die Voraussetzung einer versicherungsmäßigen Gefahrengemeinschaft ist, also zum Versicherungsprinzip gehört und äquivalenz-relevant ist (zu dieser "Homogenität" im Recht der Unfallversicherung: BSG, E. v. 29.11. 1973, in: Breithaupt 63 [1974], S. 581 [583 f.]). Zum Erfordernis der Gruppenhomogenität: Isensee (N 33), Umverteilung, S. 17 - 26, 42 f., 49 - 52, 63; Friauf, in: FS-Jahrreiß (N 63), S. 53 - 56; Leisner (N 11), S. 88 - 96, 127, 131. Lerche I Graf Pestalozza (N 9), S. 18; auch die Formel des BVerfG "Interesse der Allgemeinheit an einer homogenen und leistungskräftigen Versichertengemeinschaft": E 24,220 (232); ähnlich E 14, 288 (301, 303). - Gegen das Homogenitätskriterium: Kloepfer (N 58), S. 159 - 162 (mit der verfehlten Prämisse, das normative Kriterium der Gruppenhomogenität stütze sich auf einen "sozialwissenschaftlichen Gruppenbegriff" oder bedürfe einer solchen Stütze); Hindrichs (N 58), S. 47 - 65.
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Sachliche Grenzen: Der Solidarausgleich kann nur Ziele verfolgen, die von der jeweiligen Versicherungsaufgabe abgedeckt sind. Solidarfremde Lasten dürfen nicht über Beiträge finanziert werden. Die Beitragsfinanzierung versicherungsfremder Aufgaben der Bundesanstalt für Arbeit ist systemwidrig und verfassungswidrig. Soweit der Gesetzgeber einem Sozialversicherungsträger fremde Lasten und Auftragsangelegenheiten auferlegt, kommt nur Finanzierung aus Steuermitteln in Betracht. Der Staatszuschuß aus Haushaltsmitteln ist überdies ein Weg, um die Überspannung des Solidarprinzips zu vermeiden und Individualäquivalenz sicherzustellen68. Strukturidentität und Legitimation des Sozialbeitrages hängen davon ab, daß die Individualäquivalenz nicht dem Solidarausgleich geopfert wird. Den Vorrang beansprucht die Äquivalenz. Auf der anderen Seite kann auch das "soziale" Element des Sozialversicherungsrechts nicht völlig beseitigt werden, ohne daß der (kompetenz rechtlich wichtige) Unterschied zwischen Sozialversicherung und öffentlichrechtlicher Privatversicherung entfiele, der Sozialbeitrag sich also in eine öffentlichrechtliche Privatversicherungsprämie wandelte 69 • 4. Standort in einer abgabenrechtlichen Typologie
Praktische Bedeutung hat nur die Unterscheidung Steuer oder Nichtsteuer. Die Frage dagegen, ob und wie sich der Sozialbeitrag in die Typologie der nichtsteuerlichen Abgaben fügt, ist in erster Linie rechtssystematisch erheblich. Diese Typologie leidet von Haus aus an Blässe und an mangelnder Differenziertheit. Der Gebrauch des Wortes "Beitrag" bezeichnet zwei völlig unterschiedliche Formen der Abgabe: auf der einen Seite - als finanz rechtlicher Beitrag - eine Vorzugslast (Beispiel: Erschließungs"Beitrag"), auf der anderen - als korporativer Beitrag - eine Verbandslast (Beispiel: "Beitrag" zu einer Berufskammer). Die Vorzugslast ist die Kompensation eines von der Verwaltung erbrachten Sondervorteils durch den Begünstigten. Handelt es sich dabei um einen tatsächlich genutzten, aktuellen Sondervorteil, so liegt eine Gebühr, handelt es sich lediglich um einen nutzbaren, potentiellen Sondervorteil, so liegt ein (finanzrechtlicher) Beitrag vor. In beiden Spielarten ist die Vorzugslast ausschließlich gegenleistungsbezogen; sie Vgl. Leisner (N 11), S. 104 - 109. Zu den öffentlichrechtlichen Privatversicherern: BVerfGE 10, 141 (162 f.); K. A. Bettermann, Die Verfassungsmäßigkeit von Versicherungszwang und Versicherungsmonopolen ... , in: WiR 2 (1973), 184 - 211,241 - 273. 6B
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ist umverteilungsresistent7°. Der Sozialbeitrag stimmt zwar in seiner Äquivalenzkomponente mit der Vorzugslast überein; seine Solidarkomponente aber sperrt sich gegen die Einordnung in dieses Schema71 • Der Sozialbeitrag paßt auch nicht unter den Begriff der Verbandslast72 . Der korporative Beitrag ist den komplexen Aufgaben des Verbandes gewidmet, ohne Rücksicht auf den jeweiligen Nutzen für das beitragspflichtige Einzelmitglied. Der Sozialbeitrag dagegen gilt eine einzige Art von Leistung ab. Der Gläubiger des Sozialbeitrags tritt dem Schuldner nicht als Korporation, sondern als Leistungsträger gegenüber. Der Sozialbeitrag gründet nicht in der Mitgliedschaft, sondern im Versicherungsverhäl tnis. Freilich spricht dem ersten Anschein nach die Wortfassung des Rechts der Krankenversicherung (insbesondere § 206 RVO) für die gegenteilige Auffassung: dafür nämlich, daß am Anfang die Mitgliedschaft stehe und aus ihr Versicherungsanspruch und Beitragspflicht sich ableiteten. Allein die korporative Substanz der Sozialversicherung ist zu karg, um eine solche Wirkung ausüben zu können. Wenn das Gesetz von "Mitgliedern" spricht, meint es der Sache nach "Versicherte"73. Es bezeichnet zwar alle Versicherungsträger als Körperschaften, jedoch nur die Berufsgenossenschaften und die Kassen verdienen den Namen. Die Bundes-"anstalt" für Arbeit wird vom Gesetz als Körperschaft etikettiert74 , aber als Anstalt mit drittelparitätischem Verbandsregime ausgestaltet. Die Träger der Rentenversicherung (Bundes- wie Landesversicherungs-"anstalten") rekrutieren ihre Organe zwar aus Wahlen; jedoch sind die Selbstverwaltungskompetenzen so schmal, daß es sich auch hier der Sache nach nur um Anstalten mit qualifizierter Partizipation handelt75 • Das korporative Moment ist also weder ein wesentliches noch ein gemeinsames Merkmal des Sozialbeitrags. Der Wirtschaftsinterventionismus hat den neuartigen Typus der nichtsteuerlichen Lenkungsabgabe (Sonderabgabe) hervorgebracht (Beispiel: Konjunkturzuschlag). Doch der Sozialbeitrag zeigt auch zu dieser Abgabenform keine Verwandtschaft, weil er nicht auf Lenkung angelegt ist. 70 Absage an die illegale Praxis umverteilender Gebühren: VGH Kassel, Beschl. v. 28.9.1976, NJW 1977, 452 - 454 (mit zustimmender Anm. Kl. Vogels). Grundsätzliche Verwerfung einer übernahme des steuerlichen Leistungsfähigkeitskriteriums in das Gebührenrecht: W. Leisner, Verwaltungspreis Verwaltungssteuer, in: Peters-Gedächtnisschrift, 1967, S. 730 -747. Gegenposition: M. Kloepfer, Die lenkende Gebühr, AöR 97 (1972), 257 - 259, 264; Wilke
(N 12), S. 304 - 306.
71 Der Sozialbeitrag wird als finanzrechtlicher Beitrag bewertet von: Wolff / Bachof, Verwaltungsrecht I, 91974, § 42 11; Rüfner (N 56), S. 198; G. Püttner, Allgemeines Verwaltungsrecht, 41977, S. 141; Kühn I Kutter, Abgabenordnung, 12 1977, § 3/Anm. 3 a; Peters (N 47), Vorbem. lVII vor § 380. 72 Gegenmeinung: Selmer (N 60), S. 183. 73 Vgl. B. Schulin, Sozialversicherungsrecht, 1976, Rn. 60. 74 § 189 I AFG. 75 Kritisch zur Qualifikation als Körperschaften: Schulin (N 73), Rn. 59, 258; Isensee (N 14 a), S. 13 f.
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Es wäre im übrigen verlorene Liebesmüh, die wichtigste aller nichtsteuerlichen Abgaben in ein ihr ungemäßes juristisches Schema als Ausnahmetatbestand zu zwängen, so daß die Ausnahme wichtiger als die Regel wäre. Die rechtliche wie die ökonomische Bedeutung des Sozialbeitrags rechtfertigt es, ihn als Abgabentypus eigener Art zu werten76 • 5. Sondertatbestand Arbeitgeber-Beitrag
Die Besonderheit des Arbeitgeber-Beitrags liegt darin, daß er nicht dem eigenen Vorsorgeinteresse des Pflichtigen dient. Trotzdem ist es angebracht, diese Abgabe nicht anders zu klassifizieren als den regulären Sozialbeitrag. Arbeitgeber- und Arbeitnehmer-Beitrag leben in rechtlicher Symbiose77• Sie gleichen einander nach Grund und Höhe. Man könnte von einem siamesischen Zwillingspaar des Abgabenrechts sprechen: zwei Abgabenschuldverhältnissse mit gemeinsamem Gläubiger, gemeinsamem Objekt, Maßstab und Tarif. Beide Abgabenschuldverhältnisse folgen aus dem Arbeitsverhältnis. Das Arbeitsverhältnis belastet den Arbeitgeber mit der Fürsorgepflicht und schafft in ihr die Legitimationsgrundlage für den Beitrag78 als Abgabe des Arbeitgebers zugunsten des Arbeitnehmers. Belastet wird der Arbeitgeber. Er entrichtet die Abgabe aus seinem Vermögen; es handelt sich also nicht etwa um einen Abzug vom Entgelt des Arbeitnehmers. Diese Sicht bestimmt die einkommensteuerliche Behandlung. Die Eigenleistung des Arbeitgebers rechtfertigt seine Teilhabe an der sozialen Selbstverwaltung. - Begünstigt wird dagegen der Arbeitnehmer. Auf seine Anwartschaft wirkt sich der ArbeitgeberBeitrag aus. Ihm sind die Leistungen des Arbeitgebers zuzurechnen, wenn Äquivalenz bestimmt wird79 • 75 So BVerfGE 14, 312 (317 f.: "kein Beitrag im Sinne der Abgabenordnung, sondern ein Beitrag im Sinne des Sozialversicherungsrechts"); v. Maydell, in: GK-SGB IV (N 6), § 20/Rn. 8, 9. Wohl auch Tipke I Kruse, Abgabenordnung, 91978, § 3 AO/Rn. 21 ("Sonderstellung" der Beiträge zur Sozialversicherung); Isensee (N 33), Umverteilung, S. 41 f. (weit. Nachw. zur Klassifikation: S. 31 - 42). 77 Die Spielart des Arbeitgeber-Beitrags, dem kein Arbeitnehmer-Beitrag korrespondiert, etwa die Umlage der Unfallversicherung, ist allerdings im Ergebnis nach Legitimation und Klassifikation gleich zu beurteilen wie der paritätische Beitrag. 78 So etwa BVerfGE 11, 105 (113, 116); 14, 312 (317); Richter (N 30), S. 3; Peters (N 47), Vorbem. VIII vor § 380 RVO. 79 Das BVerfG fordert, daß die Beitragserstattung "die bei Pflichtversicherten vom Arbeitgeber ausschließlich im Hinblick auf das Arbeitsverhältnis des Versicherten und nur zu dessen Sicherheit geleisteten Beiträge" einschließt (E 51, 1 [29]).
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Daher verbindet sich auch der Arbeitgeber-Beitrag mit einem individuellen Vorsorgeverhältnis. Er legitimiert sich nicht minder aus der Individualäquivalenz als der Beitrag des Arbeitnehmers, wenngleich seine Motivation altruistisch, nicht wie üblich egoistisch ist. Dieser Konnex erweist den Arbeitgeber-Beitrag als nichtsteuerliche Abgabe so • Es wäre überflüssig, es wäre sogar verfehlt, Partei zu nehmen in der Kontroverse darüber, ob der Arbeitgeber-Beitrag dem Arbeitgeber oder dem Arbeitnehmer als Leistung zuzurechnen seis1 • Der Streit gründet auf der falschen Prämisse, daß die Standpunkte miteinander unvereinbar seien. In Wahrheit gerät eine einseitige Stellungnahme entweder in Widerspruch zum Korporations- und Steuerrecht oder zur Äquivalenz. Die Relativität der Rechtswirkungen wird dagegen sichtbar und plausibel gemacht, wenn man den Beitrag als Sozialabgabe zugunsten eines Dritten deutet. Legitimation und Qualifikation des Arbeitgeber-Beitrags gingen allerdings verloren, wenn der Gesetzgeber den Zusammenhang mit dem individuellen Arbeitsverhältnis löste und Umsatz, Kapital, Wert eines "wegrationalisierten" Arbeitsplatzes oder eine ähnliche Größe zum Beitragsgegenstand bestimmte. Nunmehr wandelte sich der Beitrag notwendig zur Steuer - mit allen verfassungsrechtlichen Folgens1a •
IV. Der Sozialbeitrag als Grund und Maß einer verfassungsrechtlichen Gewährleistung des Versicherungsschutzes 1. Die vorrechtliche Erwartung Der Sozialbeitrag enthält den Schlüssel zur verfassungsrechtlichen Gewährleistung der Versicherungsanwartschaft, wenn es überhaupt eine solche Gewährleistung geben sollte. Die Frage, ob die Bedingung 80 Im nationalökonomischen Schrifttum wird der Arbeitgeber-Beitrag als Steuer qualifiziert: so Liefmann-Keil (N 56), S. 159 f., 162, 166 (indirekte Steuer); W. Neubauer, Makroökonomische Kostenstrukturen im System der Statistik des Sozialprodukts und der Input-Output-Verflechtung, 1966, S. 27 ("eine Art Kostensteuer Gegenposition der Qualifikation als nichtsteuerliche Abgabe: BVerfGE 14, 312 (317 - 319); Lerche 1 Graf Pestalozza (N 9), S. 37 - 45. 81 Die Kontroverse wirkt in die Verfassungsrechtsprechung hinein: Sondervotum Faller und Niemeyer (BVerfGE 51, 41 f.), der Versicherte könne nicht Erstattung des Arbeitgeberanteils verlangen, weil dieser nach § 3/62 EStG nicht zum Arbeitslohn gehöre. These, daß der Arbeitgeber Schuldner seines Beitragsteils sei: Herrmann (N 7), S. 13; H. Bogs (N 3), S. 89 Anm. 39. Gegenthese, daß der Arbeitgeberanteil zum Lohn gehöre: G. Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts I, 1965, S. 153 f.; Schreiber (N 55), S. 178; D. Merten, in: GK-SGB IV (N 6), § 14/Rn. 19. 81a Verfassungsrechtliche Würdigung des "Maschinenbeitrags": R. Kolb, Bemessung des Arbeitgeberanteils ... , DRV 1980, 9 - 12; J. Isensee, Der Sozialversicherungsbeitrag des Arbeitgebers ... , DRV 1980, 145 - 155. U ).
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zutrifft, führt auf ein Feld juristischer Aporien in einer Verfassung, die wie das Grundgesetz nur ihre liberale Substanz institutionalisiert hat und sich im sozialen Bereich mit einer hochabstrakten Zielnorm begnügt. Im Umfeld der Sozialstaatlichkeit ersetzen und besetzen fromme Wünsche leicht juristische Argumentation. Die Sorge vor dem sozialpolitischen Wankelmut des Gesetzgebers und vor den Fährnissen der Wirtschaft führt dazu, Zuflucht im Verfassungs recht zu suchen. Typisch deutsche Verfassungsgläubigkeit läßt sich nicht so leicht von Zweifeln anfechten, ob eine Norm, und sei es auch die höchste der staatlichen Ordnung, überhaupt ökonomische Entwicklungen steuern und ökonomische Krisen verhindern könne. Die Frage nach dem Verfassungsschutz sozialer Anwartschaften ist bisher nur akademisches Problem gewesen. Der Ernstfall des Sozialstaates, der die Belastbarkeit des "sozialen Netzes" und die Verläßlichkeit seiner verfassungsrechtlichen Verankerungen erprobt hätte, ist bisher dank einer glücklichen wirtschaftlichen Entwicklung und eines günstigen sozialpolitischen Klimas ausgeblieben. Rechtliche Bedeutung gewinnt die verfassungsrechtliche Frage im wesentlichen nur für langwährende Versorgungsverhältnisse, vornehmlich also solche der Rentenversicherung. 2. Nivellierender Bedarfsmaßstab oder/und differenzierender Beitragsmaßstab
Die soziale Sicherheit, die das Verfassungsrecht gewährleistet, kann sich am Bedarf des Einzelnen oder an einem "sozialen Besitzstand" orientieren. Bedarf ist eine staatlich zugemessene Konfektionsgröße, der sich der Einzelne, unter Preisgabe persönlicher Wünsche, anzupassen hat. Ein Besitzstand dagegen - mag er auf Leistung oder Glück gegründet sein - verkörpert reale Ungleichheit. Der Sozialstaat findet sich nicht ab mit dem Schicksal als einer Ungleichheit stiftenden Macht. Er läßt nur Leistung als Differenzierungsgrund gelten. Die Leistung im Feld der sozialen Sicherheit ist der Sozialbeitrag. Wenn die Verfassung dem Einzelnen soziale Sicherung gewährleistet, die nicht in eigener Vorleistung begründet ist, so verbürgt sie nur ein Mindestmaß standardisierter Hilfe zu einem menschenwürdigen Leben. Als Rechtsgrundlage kommen die elementaren Menschenrechte und die Sozialstaatsklausel in Betracht82 • Eine solche Verfassungsgarantie rezi82 Richtungsweisend die grundsätzliche Anerkennung eines subjektiven öffentlichen Rechts auf Fürsorge: BVerwGE 1,159 (161 f.). Dazu W. Bogs (N 59), G 14 - 27; G. Dürig, in: Maunz!Dürig!Herzog/Scholz, Grundgesetz, Stand 1977, Art. lIRn. 43/44; 2 lI/Rn. 26 - 28; R. Breuer, Grundrechte als Anspruchsnormen, in: FS-BVerwG, 1978, S. 95 - 98.
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piert gesetzliche Prinzipien der Sozialhilfe: Bedarfsorientierung, Einheitsleistung, Subsidiarität. - Von diesem Ansatz führt kein Weg zur Sozialversicherung. Eine echte sozialversicherungsrechtliche Anwartschaft, die unter dem Schirm der Verfassung ihre Identität behalten soll, kann nicht völlig bedarfsnivelliert, sie muß leistungs-, also beitragsdifferenziert sein. 3. Lösungsansätze
Juristische Phantasie hat verschiedene Anläufe unternommen, um sozialversicherungsgemäße Lösungen zu finden.
a) Sozialstaatsklausel als Garantie des sozialen Besitzstandes Am Anfang steht die Deutung der Sozialstaatsklausel als Garantie aller "sozialen" Einrichtungen83• Eine solche Deutung überfordert die hochabstrakte Verfassungsformel, verkennt ihre Flexibilität und Offenheit. Die grundgesetzliche Formel "sozial" gibt eine politische Idee an, keine rechtliche Institution; ein Ziel, nicht aber den Weg. Wenn die Verfassung eine globale Bürgschaft für die gesetzlichen Sozialleistungen übernehmen wollte, bannte sie nicht die ökonomischen Krisen des Leistungssystems, sondern erweiterte sie zu Verfassungskrisen. b) Rechtsstaatliehe Gewähr von Kontinuität
Der Gleichheitssatz hilft gegen willkürliche Benachteiligungen innerhalb des bestehenden Leistungssystems. Er schützt dagegen nicht vor einer Abschaffung des Systems als ganzem, die alle Nutznießer gleichmäßig träfe. Nichts anderes gilt, wenn man aus dem Gleichheitsgrundrecht das Gebot ableitet, daß der Gesetzgeber von seinen selbstgesetzten Prämissen nicht willkürlich abweichen darf. Denn dieses Gebot der Systemkonsequenz hat nur Gegenwartsbezug, schließt künftige Systemänderung oder Systemaufhebung nicht aus 84 • Zukunftszugewandt dagegen ist das rechtsstaatliche Postulat des Vertrauensschutzes. Vertrauensschutz genießt aber nur, wer im Blick auf die bestehende Gesetzeslage Verfügungen getroffen oder unter83 Bejahung einer derartigen institutionellen Garantie: Sozialenquete, S. 57 (Nr. 123 f.); W. Bogs (N 59), G 13 f.; H. Rohwer-Kahlmann, Rezension, SGb. 1975, 348; J. Burmeister, Vom staatsbegrenzenden Grundrechtsverständnis ... , 1971, S. 21 - 23 (Nachw. Anm. 21), 97 - 99. - Ablehnung der Besitzstandswahrung: BVerfGE 39, 302 (314); ähnlich BSGE 15, 71 (76); 19, 88 (92). Dazu E. Benda, BSG und Sozialstaatsklausel, NJW 1979, 1003. - Zur wesenseigenen Dynamik des Sozialstaats: Zacher, in: FS-Ipsen (N 30), S. 239 - 261. 84 Meinungsstand: U. Battis, Systemgerechtigkeit, in: FS-Ipsen, 1977, S. 11 - 30.
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lassen hat, die mit Änderung des Gesetzes entwertet würden. Der Pflichtversicherte, der sich den Beitragsabzug gefallen lassen muß, hat nur geringe Möglichkeiten zu derartigen Dispositionen85 . Das Verbot rückwirkender Gesetze stiftet relative Rechtssicherheit. Es erfaßt aber nicht zukunftsgerichtete Gesetzesänderungen. Der Rechtsstaat beläßt der "unechten" Rückwirkung, dem Eingriff in bestehende Rechtsbeziehungen, breiten Raum 86 . Es sind aber gerade die offenen Vorsorgeverhältnisse, die der verfassungsrechtlichen Sicherung bedürfen und die Frage nach einer rechtsstaatlichen Garantie von Kontinuität aufwerfen. Der Versicherte fände in diesem rechtsstaatlichen Prinzip allenfalls den Schutz seines "Vertrauensinteresses", kaum aber, worauf es ihm eigentlich ankommt, den Schutz seines "Erfüllungsinteresses" . Kontinuität, damit Schutz eines "Erfüllungsinteresses" des Versicherten, verheißt dagegen die Figur eines Plangewährleistungsanspruches: einer gesetzgeberischen Pflicht zur zukunftsgerichteten Konsequenz. Wenn der Gesetzgeber den Einzelnen der Versicherungspflicht unterworfen hat, so muß er seinem Konzept treu bleiben. Er darf sich nicht aus einer Verantwortung, die er selbst übernommen hat, davonstehlen. Er haftet gleichsam aus "vorangegangenem Tun"87. Diese Ableitung aus der Rechtsstaatsidee kommt am weitesten der vorrechtlichen Hoffnung auf Verfassungssanktion des Versicherungsschutzes entgegen. Das Argument hat verfassungsethische Plausibilität. Allein die notwendige verfassungsrechtliche Geltung ist bisher noch nicht nachgewiesen und anerkannt worden. Die verschiedenen Interpretationsansätze, aus der objektiven Rechtsstaatsidee eine Garantie von Rechtskontinuität zu gewinnen, bedürfen nicht nur des Nachweises ihrer normativen Existenz, wenn sie die vorrechtlichen Erwartungen erfüllen sollen, sondern auch des Nachweises, daß sie dem Einzelnen ein subjektives öffentliches Recht auf Bestandsschutz seiner jeweiligen Position vermitteln. Auch hier tut sich ein weites Feld juristischer Zweifel auf.
85 s. auch Papier (N 33), S. 50 f. Bedeutung des rechtsstaatlichen Vertrauensschutzes für einen freiwillig Weiterversicherten: BVerfGE 51 (362369). 8G übersicht über die Rechtsprechung des BVerfG: Leibholz I Rinck, Grundgesetz, 51975 ff., Art. 20/Rn. 40 ff. (bes. Rn. 45). 87 Der dogmatisch bedeutendste Entwurf einer rechts staatlichen Kontinuitätspflicht: Papier (N 33), S. 48 - 63. - Vorschlag einer Adaptierung von Ipsens Rechtsfigur einer "Plangewährleistung": J. Meydam, Eigentumsschutz und sozialer Ausgleich in der Sozialversicherung, 1973, S. 99 - 105.
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Josef Isensee c) "Eigentums"-Schutz der Versicherungsanwartschaft
Nach dem bisherigen Stand der Verfassungserkenntnis bleibt nur der Weg, den das Bundessozialgericht aufgewiesen hat: die Ortung des Versicherungsschutzes im Eigentumsgrundrecht88• Dieser Ansatz hat eine gewisse historische Folgerichtigkeit für sich. Die Sozialversicherung hat nämlich in bestimmtem Umfang die Daseins sicherung übernommen, die in vorindustrieller Zeit dem Eigentum und (hinsichtlich der Hinterbliebenenversorgung) dem Erbrecht zukam 89 • Juristisch beweist eine solche Feststellung allerdings nichts 90 • Sie begründet nicht, daß das Eigentumsgrundrecht von seiner klassischen Bedeutung als Staatsabwehr, dem historischen Wandel konform, nunmehr zu Staatshilfe umgedeutet (oder zumindest ausgeweitet) werden müsse; daß an die Stelle eines risikobehafteten, privaten Wirtschaftsgutes eine Staatsgarantie sozialer Sicherheit treten solle; daß ein Individualfreiheitsrecht den Rechtstitel abgebe zur Inpflichtnahme einer ganzen Generation, dazu nämlich, ihre ererbten Pflichten zu erfüllen und die Soziallasten aufzubringen: Eigentumsfreiheit als Kündigungsschutz im Generationenvertrag. - Der gut gemeinte Interpretationsvorschlag, die sozialrechtliche Position der Eigentumsgarantie zu unterstellen, könnte im praktischen Effekt darauf hinauslaufen, daß nicht das Grundrecht die sozialpolitische Entwicklung determinierte, sondern diese Entwicklung das Grundrecht. Die übernahme sozialrechtlicher Positionen in den Schutzbereich des Grundrechts kann nur erfolgen, wenn diese Positionen, ungeachtet ihrer Rechtsform, dem prototypischen Grundrechtssubstrat, dem privat88 Richtungsweisend: BSGE 5, 40 (42 - 46); 9, 127 (128). Exemplarisch: BSGE 25, 170 (172 f.). - übersichten über die Judikatur und Analysen: Werner Weber, Die Eigentumsgarantie (Art. 14 GG) in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, in: Weber / Ule / Bachof (Hrsg.), Rechtsschutz im Sozialrecht, 1965, S. 279 - 299; Meydam (N 87), S. 13 - 25; P. Badura, Eigentumsordnung, in: FS-BSG 11, 1979, S. 673 - 694. - Zustimmung und dogmatische Ergänzung: Weber, S. 286 f.; W. Bogs (N 59), G 54 - 59; H. Rohwer-Kahlmann. Sozialversicherung und sozialer Rechtsstaat, FS-Bogs, 1967, S. 110 -121; G. Wannagat, Die umstrittene verfassungs rechtliche Eigentumsgarantie für Renten in der gesetzlichen Rentenversicherung, in: FS-Peters, 1975, S. 171182; Badura, ebd.; W. Rupp / v. Brünneck, Sondervotum, BVerfGE 32, 141 - 143. Das BVerfG schließt sich im U. v. 28.2.1980 der Auffassung des BSG an (NJW 1980, 692 f.). 89 Vgl. die Erwägungen von BVerfGE 40, 65 (82 - 84). Der Umstand, daß die Solidargemeinschaft auch die Vorsorgeleistung der Familie, und zwar der generationenumspannenden Großfamilie, übernommen hat, hat bisher noch nicht den Anstoß gegeben, die grundgesetzliche Garantie von Ehe und Familie "zeitgerecht" umzuinterpretieren. 90 Kritik und Ablehnung gegenüber der These, das Grundrecht des Art. 14 GG erfasse sozialversicherungsrechtliche Ansprüche: Meydam (N 87), S. 15 - 90; Papier (N 33), S. 34 - 48; Skepsis: Rüfner (N 56), S. 199 f.; Zacher (N 3), S.217.
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rechtlichen Eigentum, vergleichbar sind. Von vornherein entfallen damit soziale Ansprüche, denen keine individuelle Leistung gegenübersteht, und Staatsleistungen, die ausschließlich einen staatlich normierten und genormten Bedarf decken. Das Eigentumsgrundrecht bezieht sich nicht auf staatliche Verteilungsgewalt, sondern auf individuelle Vermögensmacht. Es legitimiert nicht soziale Einebnung, sondern reale Ungleichheit. Eigentumsanalog können nur sozialrechtliche Anwartschaften sein, die individuell erworben und individuell abstufbar sind. Das tertium comparationis liegt daher im Beitrag. Der Finanzierungsmodus ermöglicht, die Sozialversicherung als staatlich organisierte Selbsthilfe zu deuten. Soweit das Versicherungsverhältnis vom Äquivalenzprinzip regiert wird und Versicherungsansprüche "Äquivalent und Ausdruck eigener Leistung"91 sind, ist "Eigentums"-Qualität möglich. Die Beitragsleistung gibt den Grund und das Maß (wenn nicht das einzige, so doch das wesentliche) der verfassungsrechtlichen Absicherung 92 . Nicht schutzfähig sind jene Bestandteile der Anwartschaft, die ausschließlich staatlicher Organisations- und Fürsorgeleistung entspringen, insbesondere Umverteilungsgewinne. Nicht kompensiert werden systemgerechte Umverteilungsopfer. Dagegen müssen ArbeitgeberBeiträge dem Versicherten als Arbeitsertrag zugerechnet werden 93 . Die Ausweitung der Eigentumsgarantie vom status negativus zum status positivus, von einem Verschonungsanspruch zum Gewährleistungsanspruch stellt den Begünstigten nicht frei von sozialstaatlichen Beschränkungen und von ökonomischen Risiken, insbesondere vom Risiko einer Finanzschwäche der Solidargemeinschaft. Der Staat, der die soziale Sicherheit garantieren soll, besitzt nur geringe Macht über wesentliche ihrer Voraussetzungen: das wirtschaftliche Wachstum wie das Bevölkerungswachstum. Das Verfassungsrecht kann ihn nicht mit der Verantwortung für Entwicklungen belasten, die er nicht wirksam beeinflussen kann (nicht zuletzt infolge verfassungsrechtlicher Wirksamkeitsschranken). Die Verfassung stellt den Sozialversicherten auch nicht vom Inflationsrisiko frei 94 . Wenn das Gesetz heute die Renten an die allgemeine Einkommensentwicklung anpaßt, so gelangt damit die Dynamisierung nicht unter den Schutz der Verfassung. Die Verfassung mäße mit zweierlei Maß, wenn sie den Sozialrenten über die Eigentumsgarantie jene Wertsicherung und jene Freistellung vom Nominalprinzip erbrächte, Zitat: BSGE 25,170 (173) mit weit. Nachw. Papier leitet das Verfassungsgebot zur "beitragsproportionalen Rentenbemessung" aus der rechtsstaatlichen Kontinuitätspflicht ab (N 33, S. 55 - 57). 93 Vgl. Badura (N 88), S. 687. U Gegenansicht: Papier (N 33), S. 55 - 57 (ohne Bezug zu Art. 14 GG); Badura (N 88), S. 690, 693. 91
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die sie den privatrechtlichen Vorsorgeformen vorenthält95 • Überhaupt kann die Versicherungs anwartschaft die grundrechtliche Absicherung nicht in einer bestimmten Höhe, weder starr noch dynamisiert, erreichen, sondern in einer bestimmten Relation. Unter diesen Vorbehalten vermag das Eigentumsgrundrecht, die Sozialversicherungsansprüche in seine Obhut zu nehmen. Damit erwächst dem Versicherten der Grundrechtsschutz auf beitragsgerechte Leistung - genauer: auf Sicherung des Arbeitseinkommens und der daran haftenden Unterhaltsansprüche, soweit dem Einkommen umverteilungsfeste Beitragsleistungen entsprechen96• Als Modell der Grundrechtskonkretisierung eignet sich - mutatis mutandis - der grundrechtsgleiche Anspruch des Beamten auf amtsgerechten Unterhalt97 • In dieser richterlichen Rechtsschöpfung begegnen sich abstraktes Verfassungsrecht und konkretes Gesetzesrecht. Der Geltung nach handelt es sich um eine Ableitung aus der institutionellen Verfassungsgarantie des Berufsbeamtentums; dem Gehalt nach um die Abstraktion von Grundsätzen aus dem "hergebrachten" Material des Besoldungs- und Versorgungsrechts. Die Rechtsfigur besitzt hinreichende normative Kraft, um den Gesetzgeber zu leiten, hinreichende normative Dichte, um dem Richter als Maßstab zu dienen - zugleich aber auch die sachgebotene Elastizität und Entwicklungsoffenheit. Sollte der Gedanke des Eigentumsschutzes im Sozialversicherungsrecht zu voller dogmatischer Entfaltung gelangen, so böte sich im Grundrecht auf beitragsgemäßen Einkommensersatz auch inhaltlich ein Seitenstück zum Grundrecht auf amtsgemäße Versorgung. Unter der Einwirkung der Eigentumsgarantie stärken sich die Versicherungs-Elemente im Sozialversicherungssystem, wächst deren Widerstandskraft gegen Fürsorge- und Vorsorge-Tendenzen. In dem Maße, in dem die Verfassung die Einkommens-Surrogate abdeckt, verstetigt sie auch die Einkommens-Ungleichheit98 • Soziale Gerechtigkeit, auf der Sozialversicherung, Sozialbeitrag und Individualeigentum gründen, ist immer auch leistungsdifferenzierende Gerechtigkeit.
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s. zur Besteuerung von Sparzinsen: BVerfGE 50, 57 -108. s. die Deutung der Arbeitnehmer-Rentenversicherung durch BVerfGE 34,
62 (66).
97 übersicht über die Rechtsprechung des BVerfG zum Unterhalts anspruch aus Art. 33 V GG: Leibholz / Rinck (N 86), Art. 33/Rn. 6 - 9 C. 98 s. auch Zacher (N 3), S. 218.
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Zusammenfassung I. Dogmatisches Vorverständnis
Die Beitragsfinanzierung begründet die Eigenart der Sozialversicherung innerhalb des Rechts der sozialen Sicherheit. Sozialversicherung ist ein integrales System spezifischer Leistungen und Lasten. Struktur und Legitimation des Systems lassen sich nur aus dem Zusammenhang des sozialrechtlichen Gebens und des abgabenrechtlichen Nehmens erfassen. Eine einseitig abgabenrechtliche Betrachtungsweise wird dem Sozialbeitrag nicht gerecht. D. Strukturanalyse
Der Sozialbeitrag vermag sich kraft seines Hoheitscharakters als Abgabe - im Unterschied zur privatrechtlichen Versicherungsprämie dem Wechsel der Finanzbedürfnisse elastisch anzupassen. Die Flexibilität wird aber von Rechtsprinzipien eingefangen. Diese Prinzipien lassen sich aus dem geltenden Recht (trotz seiner Differenziertheit und mancher Systembrüche) abstrahieren. Normative Determinanten werden auch von der Verfassung gesetzt oder vorausgesetzt, insbesondere von den Grundrechten der Beitragsbetroffenen, vom rechtsstaatlichen Erfordernis der Systemkonsequenz und vom finanzverfassungsrechtlichen Formenzwang. Diese Prinzipien konstituieren den Sozialbeitrag als normativen Idealtypus. Dieser ist in den verschiedenen Zweigen der Sozialversicherung unterschiedlich ausgebildet. Rechtstechnische Momente, die den Abgabentypus prägen, sind vornehmlich: -
Kostendeckung (Globaläquivalenz) durch das Beitragsaufkommen mit der Möglichkeit ergänzender Staatszuschüsse; Zweckbindung des Beitragsaufkommens innerhalb rechtlich verselbständigter, risiko-gegliederter Sonderfonds; Junktim Beitragspflicht - Versicherungsschutz; Junktim Beitragspflicht - Teilhabe an der sozialen Selbstverwaltung; Einkommensteuer-Konformität; Typisierung des Beitrags-(Vorsorge-)Verhältnisses. Teleologie und Legitimation des Sozialbeitrags liegen in
-
der Dominanz des Ausgabenzwecks (Leistungszwecks) über den Fiskalzweck;
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dem weitgehenden Fehlen von Lenkungszielen;
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der Polarität von Individualäquivalenz und Solidarausgleich.
m. Finanzrechtliche Qualifikation Die finanzrechtliche Qualifikation des Sozialbeitrags steht vor der' Alternative: Steuer oder nichtsteuerliche Abgabe. An sich nähert sich der Sozialbeitrag mit der Ausweitung der Pflichtigen der Steuer. Mit der Qualifikation als Steuer löste sich jedwede rechtliche Verbindung zwischen individueller Beitragsleistung und Versicherungsanwartschaft. Es entfiele die Notwendigkeit spezifischer (nichtfiskalischer) Legitimation. Das Leistungssystem erwiese sich als staatliche Versorgung mit lediglich organisatorischer Eigenständigkeit. Das geltende Sozialversicherungsrecht ist aber immer noch darauf angelegt, nur bestimmte "schutzbedürftige" Gruppen der Bevölkerung zu erfassen. Die Differenz zwischen den versicherten Gruppen (mögen diese auch den Großteil der Bevölkerung ausmachen) und dem Ganzen der Gesellschaft ist juristisch beachtlich. Die Qualifikation als Steuer scheitert damit an ihrem Formgesetz als Gemeinlast. Als Steuer qualifiziert, geriete der Beitrag auch in verfassungsrechtlichen Gegensatz zum Erfordernis der Lastengleichheit, zum sozialen Staatsziel und zur bundesstaatlichen Kompetenzverteilung. Der Sozialbeitrag kann nur als nichtsteuerliche Abgabe bestimmt werden. Als solche bedarf er der spezifischen Legitimation. Diese ergibt sich vor allem aus der Individualäquivalenz und aus der Idee der Solidargemeinschaft. Die parafiskalische Umverteilung hebt sich von der steuerstaatlichen ab durch sachliche und durch persönliche Momente: wie Verbot der Finanzierung versicherungs- und solidarfremder Aufgaben, Gruppenhomogenität, Respektierung einer umverteilungsfesten Äquivalenzquote. Der Staatszuschuß ist ein mögliches Mittel, um Zweckentfremdung von Beitragsmitteln und Überspannung des Solidarausgleichs zu vermeiden und Individualäquivalenz sicherzustellen. Der Sozialbeitrag ist ein Abgabentypus eigener Art. Er läßt sich nicht in die hergebrachte Typologie der nichtsteuerlichen Abgaben einordnen. So ist er keine Verbandslast (korporativer Beitrag), weil das korporative Moment zweitrangig ist, und keine Vorzugslast (Gebühr oder finanzrechtlicher Beitrag), weil die Vorzugslast umverteilungsresistent ist. Der Arbeitgeber-Beitrag ist - als Sozialabgabe zugunsten eines Dritten - nach Form und Legitimation ein Sozialbeitrag, solange er an das individuelle Arbeitsverhältnis anknüpft.
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IV. Grund und Maß verfassungs rechtlicher Gewährleistung des Versicherungsschutzes
Der Sozial beitrag bildet Rechtfertigungsgrund und Maßstab einer verfassungsrechtlichen Gewährleistung der Versicherungsanwartschaft. Außerhalb der Beitragsfinanzierung verbürgt die Verfassung allenfalls ein Mindestmaß an standardisierter Fürsorge. In bestimmtem Umfang und unter bestimmten Vorbehalten eignet sich das Eigentumsgrundrecht als verfassungsrechtliche Sanktion eines Anspruchs auf beitragsgerechte Sicherung - genauer: auf Sicherung des Arbeitseinkommens, soweit diesem umverteilungsfeste Beitragsleistungen entsprechen. Der verfassungsrechtliche Eigentumsschutz kann nicht auf soziale Bedürfnisse, sondern nur auf individuell erworbene Vermögenspositionen bezogen werden. Erwerbstitel und Differenzierungsmaßstab ist die Beitragsleistung, soweit sie sich als staatlich organisierte Selbsthilfe begründen läßt. Nicht schutzfähig sind jene Bestandteile der Anwartschaft, die ausschließlich staatlicher Organisations- und Fürsorgeleistung entspringen, insbesondere Umverteilungsgewinne. Nicht kompensiert werden systemgerechte Umverteilungsopfer. Summary I. Conception
The special character of social insurance within the scope of social security legislation is due to the fact that financing is by way of contributions. The social insurance scheme is based on different kinds of benefits and burdens. Social insurance contributions form an essential part of this scheme. They must not be understood as an isolated tax device. 11. Structure
Social insurance contributions as a form of taxation - unlike premiums in private insurance - can be disposed of by the government and can thus be adapted in a flexible way to the permanently changing financial requirements. However, there are certain legal principles restricting the flexibility. These principles can be derived from two sources: firstly, the actual structure of the system itself and, secondly, those constitutional provisions which are most important with regard to social insurance as, for example, the constitutional rights of the persons concerned and some fundamental unwritten principles of the "Rechtsstaat" and the "Bundesstaat". 32 Soziale Sicherung
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Social insurance contributions can be characterized as follows: -
In principle, every social security administration has to cover its expenses by the me ans raised through contributory payments. However, a certain reservation has to be made. In case the amount of all contributions made to a social security administration will not be sufficient to meet its expenses, the state may help by subsidizing.
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The me ans raised through contributory payments have to finance predetermined purposes. Contributions made to a social security administration may in principle only be used by this particular administration to cover its expenses. In some exceptional cases only, contributions made to one social security administration may be transferred to another administration covering the same contingencies and persons.
-
In general, only those persons are entitled to receive benefits who have made contributions. The liability to pay contributions entitles to participate in the administration of a social security system (Selbstverwaltung der Sozialversicherungsträger).
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Social insurance contributions, just like income tax, are calculated and levied on personal income. Therefore, social insurance contributions and income tax correspond to a large extent.
-
While today taxes often serve as an instrument to regulate the behaviour of the citizens, social insurance contributions only have the purpose to raise the funds that are needed.
-
In this connection, we have to distinguish between the "Äquivalenzprinzip" and the "Solidaritätsprinzip" . The "Äquivalenzprinzip" requires that the benefits paid to an insured person have to be in relation with the contributions made by hirn. The "Solidaritätsprinzip" requires that the contributions an insured person is liable to make must not exceed his means and that the benefits paid to hirn have to satisfy his personal needs. 111. Social Insurance Contributions within the System of General Taxation
In the Federal Republic of Germany we distinguish between the following types of taxes. -
"Steuern" are levied in the first pi ace for the purpose of ralsmg funds for the State and the communities. The legal obligation to pay "Steuern" is derived from certain factors, e. g. income, property or turnover, factors that will guarantee that the persons concerned will be in a position to contribute to the public funds of the community.
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-
"Gebühren" have to be paid by those persons to whom the administrative authorities or courts render a service or in whose interest they act. These "Gebühren", for example, have to be paid for an administrative procedure that gives some sort of entitlement.
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"Beiträge" have to be paid by those persons who benefit from certain public services provided by the administration or, who, incorporated into a public association, have be contribute to this.
These types of taxation are deeply rooted in German legislation and are also part of the constitution. The following is most important to note. The different types also decide on the distribution of legislation and administration and the afflux of these funds to the Federal State (Bund), the "Laender", the communities (Gemeinden), and other administrative bodies. Social security contributions do not belong entirely to any of the above-mentioned types, they form a category of their own. IV. The Importance of the Constitution for the Rights of the Contributors
Everybody is entitled to receive benefits in cash, in kind or in service granted by the different social security schemes. This is laid down although indirectly - in the constitution. In this connection, we distinguish between the following two very important principles. -
-
Everybody is entitled to those benefits which guar an tee a certain minimum standard of living to hirn, if he is unable to provide for hirnself. Moreover, the different social security schemes grant further benefits in order to secure a person's standard of living against social risks (e. g. sickness, invalidity, old age). The protection of these benefits by the constitution must be justified on the grounds of specific reasons. One of these reasons consists in the fact that the insured person has made contributions.
The protection by the constitution of an entitlement to social insurance benefits acquired by means of contributory payments is derived from the fundamental right to property. Property is protected because it has been acquired by purchase, by work or the like. Thus, social insurance entitlements are protected because they have been acquired by contributory payments. This protection by the constitution is, however, rather uncertain and has been doubted. The relationship between contributions and benefits constitutes only one of several principles determining the structure of a social insurance scheme; therefore, 32·
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Parliament has rather wide discretionary powers in order to take into account the differences between the insured persons with respect to their means and their needs.
DISKUSSIONSBERICHT
Die Diskussion zum Referat Isensee gruppierte sich um die drei folgenden Schwerpunkte: Um den Komplex Beiträge - Eigentum - verfassungsrechtlicher Schutz, um den Komplex Autonomie - Selbstverwaltung und um den Komplex Äquivalenz von Beitrag und Leistung. Im ersten Diskussionsbeitrag ging es Schmähl um eine Systematisierung des Umverteilungsbegriffes, insbesondere unter dem Aspekt der Grenzen einer Definition der Solidargemeinschaft. Schmähl führte zunächst aus, daß der Begriff Umverteilung ebenso wie der der Einkommensverteilung ein nicht aussagefähiger Begriff sei. Deshalb sei eine Spezifizierung je nach den verschiedenen Fragestellungen notwendig. Schmähl erläuterte, daß der Begriff der Umverteilung zwei Dimensionen habe; man könne sowohl eine Betrachtung im Längsschnitt (im Lebensablauf) wie eine Betrachtung im Querschnitt (bezogen auf eine Periode oder - vereinfacht - auf ein Jahr) anstellen. Bei der Betrachtung im Längsschnitt könne man unterscheiden zwischen einer rein intertemporalen Umverteilung (Beispiel: Sparen - Entsparen) , wo sich die relativen Einkommenspositionen verschiedener Personen nicht veränderten, und einer Umverteilung zu Zwecken des Risikoausgleichs etwa in Form der Versicherung, wobei sich die Frage stelle, welche Gruppe für diesen Risikoausgleich herangezogen werden könne und wie heterogen eine Personengesamtheit in dieser Beziehung sein dürfe. Schließlich könne man eine interpersonelle Umverteilung ausmachen, bei der die relativen Einkommenspositionen der Personen zueinander geführt werden, etwa mit dem Ziel der Annäherung von Einkommen zum Zweck der Minderung von Einkommensunterschieden. Ökonomisch gesehen bestehe eine Schwierigkeit, diese Formen von Umverteilung quantitativ abzugrenzen. Für die Frage, was man etwa noch unter den Risikoausgleich fassen könne, bestehe keine Lösung; vielmehr sei dies entscheidungsbedürftig. Fasse man die Grenzen des Risikoausgleichs enger, so vergrößere sich der Anteil der interpersonellen Umverteilung. Somit wüchse auch der über Steuern zu finanzierende Anteil. Auch bei der Betrachtung der Umverteilung im Querschnitt könne man verschiedene Dimensionen sehen. Von Bedeutung sei hier die Umverteilung zwischen Generationen, so wie es in der Rentenversicherung geschehe. Auch hier bedürfe es
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Diskussionsbericht
einer Entscheidung über das Verhältnis von Belastung und Leistung. Man müsse dann weiter nach der Umverteilung innerhalb der Gruppe der Versicherten und der Umverteilung innerhalb der Gruppe der Rentner fragen. Innerhalb dieser Gruppen könne man dann weiter fragen, ob etwa eine Umverteilung von reichen zu armen Personen stattfinden solle. Auf jeden Fall sei festzuhalten, daß der Umverteilungsbegriff viele Dimensionen aufweise.
Simons befaßte sich dann mit der Frage, wieweit der Beitrag eine eigentumsähnliche Anwartschaft eröffnen könne und wieweit diese Anwartschaften gerichtsförmigem Schutz zugänglich seien. Hier müsse man dann auch die Frage stellen, wie weit der gerichtsförmige Schutz im Sozialrecht reichen kann. Es gäbe hier zwei Idealtypen, auf der einen Seite das Individuum, das ganz alleine über seine eigenen Angelegenheiten entscheide, und auf der anderen Seite die alleinige Entscheidungsmacht eines hoheitlichen Trägers, etwa in der Armenpflege, die für die Interessenwahrnehmung seitens des Individuums keinen Raum mehr lasse. In der Entwicklung des Sozialstaats seien diese beiden Extremformen aufeinander zugeführt und miteinander verbunden worden bzw. seien ineinander aufgegangen. Der 'Zwangscharakter der öffentlichen Intervention habe sich im Obligatorium der Sozialversicherungen geäußert, während auf der anderen Seite Elemente, die aus dem Modell des freien Marktgeschehens entlehnt worden seien, ebenso eingegangen sind: so gewisse Einflußmöglichkeiten des Versicherten im Rahmen des Versicherungsverhältnisses. Weiter seien sehr differenzierte Formen der Kooperation zwischen dem öffentlichen und dem privaten Element entwickelt worden. Eine der wesentlichen Erscheinungen sei dabei die Aufgliederung der Gesellschaft in verschiedene Kollektive gewesen, in denen die Entscheidungen über soziale Leistungen erarbeitet werden. Man könne dabei zwei solcher Gruppen klar unterscheiden: Auf der einen Seite Kollektive, die territorial konstituiert würden (etwa auf der Basis der Kommunen), auf der anderen Seite nach sozioprofessionellen Merkmalen konstituierte Gruppen. Betrachte man nun die Frage, wieweit Sicherungspositionen eigentumsähnlich geschützt seien, so könne man differenzieren nach Entscheidungen, die das Individuum in seiner Sicherungsposition beträfen und Entscheidungen, die das Kollektiv als solches berührten. Im letzteren Falle müsse man fragen, ob hier nicht kollektive Entscheidungsmechanismen ansetzen müßten. Das Problem sei nun, ob bei der Frage nach der eigentumsähnlichen Position eines Versicherten nicht individuelle und kollektive Entscheidungsebenen durcheinander gebracht würden. Zwar könne dies legitim sein, wenn keine brauchbaren kollektiven Entscheidungsmecha-
Diskussionsbericht
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nismen vorhanden seien. Trotzdem müsse man aber die Frage in dieser Form stellen. In seiner Antwort äußerte der Referent, daß hier auf eine wichtige Frage des Bestandsschutzes abgestellt würde: auf der einen Seite die individuelle Position des Versicherten und auf der anderen Seite ein Kollektivrecht der Gruppe, ein Kollektivrecht, das nach unserem Rechtssystem kaum von einem Einzelnen wahrgenommen werden könne. Der Referent führte das Beispiel der sozialen Krankenversicherung an, die einen Teil der Krankenversicherung der Rentner finanzieren müsse. Hier könne nicht das einzelne Kassenmitglied etwas dagegen unternehmen; als Sachverwalter der Gruppe der Versicherten müsse hier etwa das Selbstverwaltungsorgan stehen. Die von Simons angebrachte Unterscheidung führe also auf diese Form der Rechtswahrnehmung hin. Schulte nahm ebenfalls zum Thema des Sozialbeitrages als Grundlage des Eigentumsschutzes Stellung. Zwar sei diese Ansicht sehr verbreitet, jedoch wenig tragfähig. Schulte kritisierte dann eine These des Referenten, die besagt, daß der Schutz der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie nicht auf soziale Bedürfnisse, sondern nur auf selbst erworbene Vermögensdispositionen gegründet werde. Diese These sei deswegen nicht haltbar, da man insbesondere aufgrund der Ausführung der Ökonomen erfahren habe, daß die Mischfinanzierung der Sozialversicherungen eine große Rolle spiele. Weiter wandte sich Schulte gegen die These, daß jene Bestandteile der Anwartschaft nicht schutzfähig seien, die ausschließlich staatlicher Organisations- und Fürsorgeleistung entsprängen, insbesondere Umverteilungsgewinne. Schulte stellte dem entgegen, daß gerade diese Positionen besonders schutzwürdig seien. Er skizzierte in diesem Zusammenhang die Entwicklung des Eigentumsbegriffs, der aus dem 19. Jahrhundert komme und nach dem das Eigentum der Freiheitssicherung dienen sollte. In der Hinwendung des Nachtwächterstaats zum Wohlfahrtsstaat habe auch der klassische Eigentumsbegriff eine Wandlung erfahren. In Anlehnung an das Konzept der "New Property" müsse man konstatieren, daß der Einzelne immer mehr Eigentumsanteile vom Staat zugewiesen bekomme, etwa in Form von Sozialrenten, aber auch in Form von Konzessionen oder Lizenzen. Die Frage sei nun, wie man diese funktionalen Äquivalente des klassischen Eigentums schütze, denn das "New Property" sei nicht identisch mit dem klassischen Eigentum, da es aus dem Volksvermögen geschöpft und nicht in irgendeiner Form angespart sei. Außerdem müsse man auf neue sozialpolitische Zielsetzungen oder auf die wirtschaftliche Konjunkturlage Rücksicht nehmen können. Es gehe also darum, diesem Bedürfnis nach Wandelbarkeit Rechnung zu tragen.
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Diskussionsbericht
Die Aufgabe bestehe darin, dem Einzelnen auch in dieser Abhängigkeit vom Staat einen Freiraum zu gewähren, wie ihn früher das "klassische" Eigentum geboten habe. Hier gäbe es etwa die von Simons erwähnten kollektiven Mechanismen. Ein anderer Punkt sei etwa der Vertrauensschutz, das Rechts- und Sozialstaatsprinzip sowie der Gleichbehandlungsgrundsatz. Es gehe also nicht an zu sagen, der Beitragszahier, der, wie zu hören war, nur 26 % seiner Rente durch Beiträge finanziert habe, sei schutzwürdiger als die Kriegerwitwe oder der Sozialhilfebezieher oder auch ein Behinderter, der nicht in der Lage war, Beiträge aufzubringen. In der Tat seien diese Personenkreise alle gleich schutzwürdig. Schulte zitierte weiter ein Beispiel aus den Vereinigten Staaten, um darzutun, wie der Schutz von Anwartschaften nicht aussehen dürfe. In dem Beispiel wurde einer Witwe eine Hinterbliebenenrente versagt, weil ihr verstorbener Ehemann Mitglied einer kommunistischen Partei gewesen war. Schließlich wandte sich Schulte gegen die Aussage des Referenten, daß die Sozialversicherung nach dem Grundgesetz einen Trend zur Volksversicherung - wenn es einen solchen gäbe - nicht nachvollziehen könne. Man müsse davon ausgehen, daß die bundesdeutsche Gesellschaft immer mehr eine Arbeitnehmergesellschaft werde und daß deshalb auch die Sozialversicherung dem sozialen Wandel unterläge. Im Grundgesetz sei der Begriff der Sozialversicherung nur in eine Kompetenznorm eingegangen. Die dynamisch angelegte Verfassung müsse diesen Prozeß mitvollziehen. In Ergänzung zu den Ausführungen von Schulte wies Leibfried hin auf die in den USA schon im Ursprung anders angelegte Konzeption des Eigentums als Teilhabe; von dieser Konzeption her sei auch die Sicherung von Sozialleistungsansprüchen, wie sie von Schulte erörtert wurde, leichter anzugehen. Der Referent führte in seiner Erwiderung aus, daß Schulte sozusagen ein Potpourri von Verfassungsnormen gebracht habe und damit den Raum der frommen sozialpolitischen Wünsche betreten habe. Das verfassungsrechtliche Problem lasse sich nicht über eine Nipperdey'sche Gesamtschau der Einzelnormen lösen. Die Anwendbarkeit des Eigentumsgrundrechts setze voraus, daß das sozialrechtliche Leistungsrecht dem Privateigentum vergleichbar sei. Soweit Sozialleistungen auf einen sozialen Bedarf abstellten, erfüllten sie die Voraussetzungen nicht. Denn der Bedarf werde vom Gesetzgeber im Sozialstaat nach globalen Kriterien bemessen. Der Mindestbedarf an staatlicher Fürsorge sei zwar - wie es das Bundesverwaltungsgericht aus der Verfassung abgeleitet habe - grundrechtlich gewährleistet - aber eben nicht durch das Eigentumsgrundrecht. Der
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Ansatz des Bundesverwaltungsgerichts decke den Sozialhilfeanspruch dem Grunde nach ab, nicht aber spezifisch sozialversicherungsrechtliche Positionen. Überhaupt liege der mögliche Ansatz dazu, eine soziale Grundsicherung verfassungsrechtlich abzustützen, in den Menschenrechten außerhalb der Eigentumsgarantie und in der Sozialstaatsklausel: in der sozialstaatlichen Dimension der Grundrechte. Das Eigentum schütze notwendig einen Bestand individuell erworbener, daher individuell ungleicher Vermögensrechte. Hier biete sich die Beitragsleistung - der Beitrag als Erwerbstitel der Anwartschaft - als Vergleichsgröße an. Das beitragsfundierte Rentenrecht werde, wenn es unter dem Schutz der Eigentumsgarantie stehen sollte, in seiner realen Ungleichheit geschützt. Zacher habe die These, daß das Rentenrecht den Schutz des Eigentumsgrundrechts genieße, einmal als "gefährlich" für das Eigentum bezeichnet. In der Tat könne eine undifferenzierte Zuweisung sozialrechtlicher Ansprüche zum Eigentumsgrundrecht leicht dazu führen, daß nicht etwa diese Ansprüche wirksam grundrechtlich gesichert, sondern umgekehrt, daß das Grundrecht und sein privatrechtliches Substrat aufgeweicht und nivelliert würden. Das rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot biete nur begrenzten Schutz der Leistungserwartungen der Versicherten. Denn es sichere nicht das Erfüllungsinteresse für die Zukunft. Sodann äußerte sich der Referent zu dem Vorwurf, daß er die Sozialversicherung nur in ihrem Status-quo-Bestand sehe und den Trend zur Volksversicherung außer acht lasse. Der Referent sagte hierzu, daß ein Trend keine juristische Kategorie sein könne. Juristische Kategorie sei nur das geschriebene Gesetz. Wesentlich sei der Trend nur für den Beobachter der Rechtsentwicklung, der außerhalb stehe und nicht selbst zur Interpretation angehalten sei. Insofern sei die Beobachtung des Trends für den Politiker wesentlich. Der Jurist hingegen verfehle sein Handwerk und sein Objekt, wenn er seine Interpretation nicht auf das geschriebene Gesetz richte. Zur Frage, ob die Kompetenznormen des Grundgesetzes eine Volksversicherung zulassen, führte der Referent aus, daß es nach geltendem Recht eine Volksversicherung nicht gebe und daß man die geltenden Regelungen nicht so auslegen dürfe, als ob es sie gäbe. Die Kompetenznormen des Grundgesetzes erschöpfen sich nicht im vorkonstitutionellen oder dem gegenwärtigen Status quo der Sozialversicherung. Das Bundesverfassungsgericht habe einen dynamischen Kompetenzbegriff für die Sozialversicherung entwickelt. Gleichwohl sei die Kompetenz nicht unbegrenzt. Hinter der Frage, ob diese Grenzen sich im Laufe der Zeit verschöben, stehe das Problem von Identität und Wandelbarkeit
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der Verfassung. Dieses Problem führe aber vom gegebenen Thema "Sozialbeitrag" zu weit weg.
Ruland kam auf den Zusammenhang zwischen Beitragsdeckung und eigentumsähnlicher Sicherung zu sprechen, wobei er herausstellte, daß diese schon deswegen fragwürdig sei, weil die heute ausbezahlten Renten nur zu 26 Ofo über Beiträge finanziert würden. Leibfried erläuterte noch einmal das historische Eigentumskonzept und führte aus, daß dies früher als Sicherung des privaten Lebensraums verstanden worden sei und sich dann zu einer Kapitalgarantie entwickelt habe. Man könnte nun die Garantien, die an dieses Eigentumskonzept angeknüpft seien, entsprechend der neuen Bedürfnisse uminterpretieren. Damit würde man aber die Inkonsistenz des Eigentumsbegriffs mithereinnehmen und sehen, daß die Kapitalgarantie dazu querstehe. Fritzsche wies dann darauf hin, daß die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Eigentumsgarantie sehr eng sei. Ein weiterer Spielraum für Änderungen sei nicht gegeben. Schulte erwiderte dem Referenten, daß er vielleicht mißverstanden worden sei. Ihm liege in diesem Zusammenhang an der Abkehr vom herkömmlichen Begriff des Eigentums und an einer Hinwendung zu der Form des "New Property" . Isensee führte abschließend aus, daß er sich alle Argumente zu eigen mache, die das Dilemma der verfassungsrechtlichen Gewährleistung betonten. Ihm gehe es nur darum, die gängigen Interpretationsansätze darauf zu untersuchen, ob und wieweit sie den außerrechtlichen Erwartungen genügten, die sich auf die Verfassung richteten. Wenn man die "Eigentums-Qualität" der Anwartschaften bejahe, werde nicht das Äquivalenzprinzip in einer versicherungsmathematischen oder privatversicherungsrechtlichen Form zu Verfassungsrang erhoben. Bedeutung erlange aber die Bindung des Gesetzgebers an seine selbstgewählten Prämissen: das Gebot der Systemgerechtigkeit. Isensee ging weiter auf den Zusammenhang von Amt und Versorgung ein und stellte die Frage, ob der Versorgung nicht gewisse Einkommensverzichte (also Eigenleistungen) entsprächen. Das Amt könne auch einen gewissen Maßstab für die Höhe der Versorgung bilden. Zacher wandte ein, daß man sich in der weiteren Diskussion weniger auf die spezifisch deutschen Verfassungsprobleme und Verfassungskrankheiten konzentrieren sollte, sondern vielmehr auf die zugrundeliegenden Sachprobleme und Strukturen. Im zweiten Teil der Diskussion ging es um das Thema Äquivalenz von Beitrag und Leistung. Hierzu ergriff Heubeck das Wort. Heubeck erläuterte zunächst, daß gewisse Mißverständnisse dadurch entstanden
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seien, daß man bis jetzt nur noch von nomineller Äquivalenz gesprochen habe. Heubeck kam dann noch einmal auf das Problem der Grenzen des Risikoausgleichs zurück. Er erläuterte dies am Beispiel der Krankenversicherung, bei der die Frauen zunächst mit einem höheren Risiko einstiegen, der gesamte Risikoverlauf sich jedoch in einer flach ansteigenden Kurve darstellen ließe, während die lVIänner mit einem verhältnismäßig geringeren Risiko begännen, die Kurve des Risikoverlaufs jedoch verhältnismäßig hoch ansteige. Nähme man nun einen Durchschnittsbeitrag, so könne man feststellen, daß bereits ein Risikoausgleich zwischen lVIännern und Frauen, d. h. bis zu einem gewissen Alter von den Männern zu den Frauen hin stattfinde. Aber auch in der Zeitdimension sei ein Risikoausgleich gegeben. Bis zu einem gewissen Alter werde zuviel und ab diesem Alter dann zuwenig Beitrag im Verhältnis zum Risikoverlauf gezahlt. Man fände also auch einen Risikoausgleich zwischen den Generationen vor. Hier stelle sich nun die Frage, wo man die Grenzen des Risikoausgleichs ziehen solle. Aber selbst wenn man diese Frage beantworten könne, so führte Heubeck aus, führe sie zu nichts. In seiner Erwiderung sagte Schmähl, daß dies genau die Frage sei, die auch vom Referenten gestellt worden wäre, nämlich ob bei der Erweiterung des Kreises der Sozialversicherungsberechtigten nicht eine Wandlung von Beitrag zu Steuer stattfände. Wenn man nun die Frage nach der Grenze stelle, so müsse man meinen, daß hier ein erhebliches normatives Element zum Tragen käme. Bei der Krankenversicherung habe man sich für den einheitlichen Beitrag für Männer und Frauen entschieden, man sähe an dem Beispiel von Heubeck, daß eben der Risikoverlauf zwischen Männern und Frauen gar nicht so ungleich sei. Wie aber stehe es mit verheirateten und unverheirateten Personen? Sollte hier ein Familienlastenausgleich mit einheitlichem Beitrag stattfinden? Dies alles müsse entschieden werden. Hier müsse man fragen, sei dies noch Risikoausgleich oder schon Familienlastenausgleich, der dann über Steuern zu finanzieren sei. Faude zitierte dann das Beispiel der gesetzlichen Unfallversicherung, um darzulegen, daß in eine Sozialversicherung noch weitere Elemente als nur die des Risikoausgleichs einfließen könnten. Rü!ner stellte an den Referenten die Frage, welcher Trend sich bei dem Äquivalenzgedanken abzeichne. In der letzten Zeit habe es einige Ereignisse gegeben, die auf eine Verstärkung des Äquivalenzgedankens hindeuten, etwa die Beiträge des Bundes für Wehrpflichtige, aber hier handle es sich wohl nicht um systematische und grundsätzliche Änderungen, sondern man wolle ganz einfach finanzielle Lücken füllen. Aus der Sicht des Praktikers betonte Wagner, daß es wichtig sei, nicht nur das Verhältnis von Beitrag und Leistung zu erörtern, sondern in die Betrachtungen auch den Leistungsempfän-
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ger einzubeziehen. Es zeige sich in der Praxis immer wieder die Schwierigkeit, dem Leistungsempfänger die Äquivalenz klarzumachen. Der Praktiker müsse dann immer wieder versuchen, von sozialem Ausgleich zu sprechen. Problematisch sei auch immer wieder die Erweiterung des beitragspflichtigen Personenkreises, die zum Teil aus vordergründigen Zwecken mit dem Ziel der Erweiterung der Finanzierungsmöglichkeiten geschehe. Ein typisches Beispiel bei der Bundesanstalt für Arbeit sei der Arbeitsmarktbeitrag. Wagner begrüßte weiter die These des Referenten, daß die Beitragspflicht auch als Begründung für die Selbstverwaltung der Sozialversicherung stehe. Weiter vermittle der Beitrag dem einzelnen Beitragszahler auch die Möglichkeit, sich innerhalb einer Gruppe zu fühlen und sich mit ihr zu identifizieren. Dies sei gerade in der heutigen anonymen Gesellschaft von Bedeutung. Aus diesem Grunde werde es kaum noch Chancen geben, zu einem Gesamtsozialbeitrag zu kommen. Bär äußerte sich zum Verhältnis von Beitrag und Steuern am Beispiel des Gesetzesentwurfes zur Künstlersozialversicherung. So werde bei der Künstlersozialabgabe an die Honorare angeknüpft. Würde man am Umsatz anknüpfen, so wäre schon der Übergang zur Steuer gegeben. Ein weiteres Beispiel sei die Rechtfertigung des Arbeitgeberbeitrages, eine Rechtfertigung, die mit der Fürsorgepflicht begründet werde. Bei der Künstlersozialabgabe habe man jedoch einen echten Arbeitgeber. Ziehe man die Parallele zur Diskussion um die Beitragspflichtigkeit von öffentlichen Arbeitgebern heran, so könne man sehen, daß die Rundfunk- und Fernsehanstalten und Museen von der Künstlersozialabgabe befreit seien. Bä1· führte weiter aus, daß man bei der Künstlersozialversicherung erstmals die Selbständigen einer Versicherungspflicht unterwerfe. Es stelle sich die Frage, wie es wäre, wenn man alle Selbständigen in die Versicherungspflicht einschließe; ob es sich dann noch um eine Sondergruppe handle oder ob man dann schon die ganze Bevölkerung in die Versicherungspflicht eingeschlossen habe. Wolle man eine Theorie des Beitrags entwickeln, so müsse man immer berücksichtigen, welcher Personenkreis in eine Versicherung einbezogen werden solle und wie es um die finanzielle Leistungsfähigkeit stünde. Dies sei insbesondere bei Selbständigen wichtig. Schließlich ging Bär noch auf die kompetenzrechtlichen Probleme ein, die auftauchten, wenn eine Umstellung des Beitrags zur Steuer stattfinden würde. Bis jetzt würde die Gesetzgebungszuständigkeit für die Beiträge als Annex zur Zuständigkeit für die Sozialversicherung betrachtet. Würde man auf eine Steuerfinanzierung umstellen, so wäre die Finanzverfassung betroffen und damit wären die Gesetze zustimmungspflichtig.
Schenke nahm zu dem Spannungsverhältnis von Individualäquivalenz und Solid ar ausgl eich Stellung und führte den Begriff der Soli-
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daräquivalenz ein. Es handle sich hierbei um das Verhältnis von der in der Vergangenheit erworbenen Anwartschaft zur Höhe der von der aktiven Generation aufzubringenden Mittel. Bei der Bewältigung der gegenwärtigen Probleme müsse man immer wieder fragen, wie und auf welche Weise man der aktiven Generation zumuten könne, die Mittel aufzubringen. Schenke kam weiter auf die schon von Rüfner angeschnittene Frage zu sprechen, wohin der Trend gehe. Anhand von Beispielen aus der jüngeren Gesetzgebung, insbesondere des Mutterschaftsurlaubs, legte Schenke dar, daß immer dann, wenn man der Meinung sei, die Solidargemeinschaft sei nicht zur Finanzierung heranzuziehen, der Bund die Lasten übernehme. Hedtkamp bekundete, daß man bei der Steuerfinanzierung nicht nur vom Modell der Einkommenssteuer, also von der Idee der Besteuerung nach Leistungsfähigkeit, ausgehen dürfe, wie dies in einigen Diskussionsbeiträgen geschehen sei. Für eine Steuer könnten auch andere Tarife als etwa progressive und andere Ziele als Einkommensumverteilung herangezogen werden. Anschließend nahm Isensee zusammenfassend zu den Beiträgen des hier erörterten Komplexes Stellung. Von Heubeck sei das Problem der Äquivalenz in einer Weise entwickelt worden, mit der man auch rechtlich arbeiten könne. Er ersetze die vesicherungsmathematische Äquivalenz, die ex ante auf der Basis des Nominalprinzips festgestellt werde, durch ein wesentlich elastischeres Modell, das auf viele Systeme übertragbar sei. Faude habe mit dem Wegeunfall ein lehrreiches Beispiel gebracht, an dem man sehe, daß eine Rechtfertigung des Unfallversicherungssystems, die allein auf betriebsinterne Unfallgefahren abstelle, hier nicht greife. Es sei nun die Frage, ob sich nicht eine abstraktere Rechtfertigung der Unfallversicherung finde, die den Wegeunfall noch mit einschließe. Es liege jedenfalls nahe, daß die üblichen Rechtfertigungen den Wegeunfall der Krankenversicherung zuweisen müßten. An dem Beispiel sehe man auch, daß die Grundaporie jeder Systematisierung der Sozialversicherung sei, daß jede Regel sehr viele Ausnahmen finde; der Wegeunfall sei eine solche Ausnahme. Zur Frage, wohin der Trend gehe, bezog sich der Referent auf die Ausführungen von Schenke; diesem sei nichts mehr hinzuzufügen, insbesondere auch deswegen, weil sich der Jurist mit den Gegebenheiten zu befassen habe und sich nicht als Prophet äußern solle. Sobald aber Vermarkter ohne Rücksicht auf Bestand und Inhalt von Honorarabreden zum Sozialbeitrag herangezogen würden, wandele sich die Sozialabgabe zur Steuer. Es frage sich, ob der Sozialbeitrag nicht generell Steuercharakter annähme, wenn die ganze Bevölkerung in die Sozialversicherung einbezogen würde. Es sei dann problematisch, ob
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überhaupt noch Momente der Individualäquivalenz überdauern könnten, wenn die sozialversicherungsrechtliche Umverteilung die GesamtgeseIlschaft ergreife. Auch im gegenwärtigen Stand der Entwicklung stelle sich die Frage, ob die Verfassung, insbesondere in den Kompetenznormen, der sozialversicherungsrechtlichen Umverteilung Grenzen setze und sie nur im Rahmen einer "Solidaräquivalenz" zulasse. Wenn die Umverteilung schon den Individualnutzen mindere, dürfe sie wenigstens nicht den Gruppennutzen antasten. Heubeck wies noch einmal darauf hin, daß man im Zusammenhang mit dem Trend feststellen könne, daß man den Weg des geringsten Widerstandes gewählt habe, nämlich über die Steuer, da augenblicklich eine Beitragserhöhung nicht möglich sei.
Zum Komplex der Autonomie der parafiskalischen Institutionen nahm zuerst Ruland mit seiner Frage Stellung, ob dann, wenn man den Arbeitgeberbeitrag dem Arbeitnehmer zurechne, noch eine Rechtfertigung der Selbstverwaltung gegeben sei. Götz erläuterte anhand des Beispiels des Arbeitslosenversicherungsbeitrags nach dem Arbeitsförderungsgesetz von 1969 noch einmal Probleme der Äquivalenz von Beitrag und Leistung. Nach dem Arbeitsförderungsgesetz sei dieser Beitrag ein Beitrag zur Bundesanstalt für Arbeit, da man die Finanzmittel aus dem Beitrag nach dem Gesetz zur Erfüllung aller dort zugewiesenen Aufgaben verwenden könne. Der Sache nach könne man daher nicht mehr von einem Arbeitslosenversicherungsbeitrag sprechen. Dann ging Götz auf die These des Referenten ein, daß die Selbstverwaltung ihre Legitimation daraus herleiten könne, daß die Parafisci gegenüber dem Staat Finanzmittel abschöpfen könnten. Hier müsse man jedoch ein Fragezeichen setzen. Wie weit sei es denn mit der Finanzhoheit der Sozialversicherungsträger her? Noch heute habe die Bundesanstalt für Arbeit keine Beitragsautonomie; auch die Rentenversicherung habe keine Beitragsautonomie. Weder bei der Bundesanstalt für Arbeit sei eine Finanzhoheit auf der Ausgabenseite festzustellen, noch bei der Rentenversicherung, die ja aufgrund der Rentenformel gebunden sei. Insbesondere im Bereich der Lohnersatzleistungen seien die Leistungen festgeschrieben. Echte Möglichkeiten zur Gewährung zusätzlicher Leistungen seien nicht gegeben. Wer also ein Interesse an der Selbstverwaltung habe, solle die Rechtfertigung nicht so sehr in der Finanzautonomie suchen, sondern eher im Bereich der Satzungsautonomie. Kaim-Caudle wies in seiner Intervention zunächst darauf hin, daß es in Großbritannien kein Verfassungsgesetz gäbe. Die Sozialversicherung
sei durch Gesetz festgelegt; wenn die Richter etwas entscheiden, was dem Politiker nicht gefalle, so würde das Gesetz schnell geändert. Es
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sei interessant zu wissen, daß man eben auch ohne Verfassungsgesetz auskommen könne. Aulmann bezog sich auf die letzte These des Referenten zum Sozialbeitrag als Abgabentypus eigener Art. Er wies insbesondere darauf hin, daß gerade im Bereich Unfallversicherung, wo die Möglichkeit von Ab- und Zuschlägen gegeben sei, man die Möglichkeit habe, über die Beitragsgestaltung auf das Verhalten einzuwirken. Weiter zitierte Aulmann das Beispiel des Konkursausfallgeldes und brachte das Problem der Konkursfähigkeit der Kirchen zur Sprache. Es sei schwer vorstellbar, daß die evangelische oder katholische Kirche in Konkurs fallen könne. Hier müsse man überlegungen fortsetzen, wieweit man solche Institutionen zum Beitrag heranziehen könne. Isensee zog sodann wiederum eine Bilanz des zuletzt angesprochenen Komplexes. Zur Konkursfähigkeit der Kirchen führte er aus, daß diese nur in einzelnen Bundesländern gesetzlich vorgesehen sei. Aber selbst diese Regelungen, die vorkonstitutionelles Recht seien, bestreite man in ihrer Fortgeltung. Die Kirchen seien jedoch kraft ihrer Steuerhoheit und kraft der verfassungsrechtlichen Kirchengutsgarantie effektiv konkursunfähig. Sie teilten nicht das Versicherungsrisiko, also dürften sie nicht zu den Versicherungslasten herangezogen werden.
Zur Lenkung durch Beiträge: Im Gegensatz zur Steuer werde der Beitrag praktisch wenig zu Lenkungszwecken eingesetzt. Eine stärkere Aktivierung dieser Ziele sei denkbar (etwa zur Minderung des "moral hazard" in der Arbeitslosenversicherung). Die Selbstverwaltungsträger dürften derartige Zwecke jedoch nicht von sich aus einführen. Die Beitragsautonomie (soweit vorhanden) als solche genüge dazu nicht. Vielmehr bedürften sie der gesetzlichen Ermächtigung. Die Beitragsautonomie sei eine Erscheinung der Beitragshoheit (Finanzhozeit) der Selbstverwaltungsträger, aber die am geringsten entwickelte. Wichtiger seien die Ertragshoheit, die Verwaltungshoheit und die Etathoheit der Selbstverwaltung. Diese Bereiche unterlägen zwar der Sachgesetzgebung des Staates, nicht aber der Haushaltsgesetzgebung; sie entzögen sich auch in bestimmtem Umfang der parlamentarischen Kontrolle. Bezugnehmend auf die Intervention von Kaim-Caudle wies der Referent darauf hin, daß es deutsches Schicksal sei, unter einer Verfassung zu leben und verfassungsgläubig zu sein. So erwarte man auf der einen Seite die Begrenzung des Sozialsystems durch die Verfassung und auf der anderen Seite auch dessen Absicherung durch eben diese Verfassung.
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Zum Arbeitgeberbeitrag sagte der Referent in Anlehnung an seine Ausführungen im Referat noch, daß es sich hier um eine Sozialleistung des Arbeitgebers zugunsten eines Arbeitnehmers handle, die durch das individuelle Arbeitsverhältnis vermittelt werde. Diese Deutung erlaube eine Doppellegitimation. Der Beitrag sei die eigene Leistung des Arbeitgebers in steuerrechtlicher und korporationsrechtlicher Hinsicht, schaffe ihm den Titel zur Teilnahme an der sozialen Selbstverwaltung. Der Beitrag komme jedoch dem Arbeitnehmer zugute und werde auf seine Anwartschaft angerechnet. Im Anschluß an diese Diskussion erörterten Mampel und SandulZi jeweils noch einmal zusammenfassend aus der Sicht der von ihnen bearbeiteten Länder die Ergebnisse der Diskussion. Mampel befaßte sich zunächst mit dem Charakteristikum des Beitrages in der Sozialversicherung der DDR und fragte, ob die Prinzipien des Sozialbeitrages, die Isensee für das bundesrepublikanische System entwickelt habe, auch für die Systemvergleichung nutzbar gemacht werden könnten. Es sei dies eine methodologische Frage, die zu bejahen sei. Man könne dies deswegen tun, weil die hier entwickelten Kriterien keine Systembezüge hätten. Wenn man nun die von Isensee entwickelten Kriterien an den Arbeitnehmerbeitrag anlege, also den Beitrag, der vom Versicherten in der DDR selbst zu zahlen sei, so gelange man zu folgendem Ergebnis: Der Kreis der Versicherten umfasse 100 % der Bevölkerung, die Einkommen beziehen. Der Haushalt der Sozialversicherung sei in den Staatshaushalt eingegliedert und ein fester Bestandteil desselben. Dazu komme als rein technische Maßnahme der Einzug des Beitrags durch die Behörden, die die Finanzämter darstellen. Letzteres wirke sich nur für die Selbständigen aus; denn für die unselbständig Tätigen, auch für die genossenschaftlich Tätigen, erfolge der Einzug des Beitrags im Abzugsverfahren, so daß man nicht unmittelbar merken könne, welcher Behörde der Beitrag zufließe. Ein synallagmatischer Beitrag existiere nicht, auch kein Junktim zwischen Beitrag und Leistung, was darauf beruhe, daß die gesetzliche Versicherung im Grunde genommen ohne Beitragsleistung gewährt werde. Selbst wenn auf dem Sozialversicherungsausweis die Beiträge ungenügend eingetragen seien, gäbe es immer noch die Mindestrente. Was den Zusammenhang zwischen Beitragsverpflichtung und Selbstverwaltung anbelange, so seien hier die beiden Versicherungsträger zu unterscheiden. Die Selbstverwaltung der Sozialversicherung der Arbeiter und Angestellten werde durch den Verwaltungs-FDGB wahrgenommen. Da im FDGB aber nur 90 % der möglichen in Frage kommenden Personen organisiert seien, seien die übrigen 10 Ofo nicht vertreten. Bei der staatlichen Versicherung würden nur Beiräte existieren. In der DDR gebe es eine Viel-
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falt von Solidargemeinschaften, aufgegliedert nach dem jeweiligen Risiko. Es gebe zwar - vorsichtig ausgedrückt - zwei Solidargemeinschaften, einerseits die Solidargemeinschaft der unselbständig Tätigen, also der Arbeitnehmer nach hiesiger Terminologie, andererseits die Solidargemeinschaft der kollektiv Selbständigen, die mit den Selbständigen dann in der staatlichen Versicherung organisatorisch vereinigt seien. Dies stelle aber keine prinzipielle Frage dar, sondern sei eher ein technisches Moment. Die Staatszuschüsse, die für die staatliche Versicherung gegeben werden, seien prozentual höher als die Staatszuschüsse, die der Sozialversicherung beim FDGB zuflössen. So dokumentiere man gewissermaßen, daß die Selbständigen und die kollektiv Tätigen ein schlechtes Risiko darstellten; man wolle dieses schlechte Risiko den Arbeitnehmern aber insofern nicht anlasten, als man gewissermaßen aus ihren Beiträgen die allgemeine Solidargemeinschaft einschließlich der Selbständigen und der kollektiv Tätigen speise, sondern man wähle den Weg der Staatszuschüsse, was aber wohl nur ein rechnerisches Problem sei. Bei den Beiträgen bleibe also im Grunde genommen nur die Zweckbindung übrig und eventuell die Kostendeckung durch Beiträge, dies allerdings mit Hilfe von erheblichen Staatszuschüssen. Aber dies alles reiche nicht aus, um doch zum Ergebnis zu kommen, daß gerade nach den Kriterien, die Isensee aufgestellt habe, der Sozialversicherungsbeitrag in der DDR den Charakter einer Steuer habe.
SanduUi bezog sich zunächst auf die Besonderheiten des italienischen Systems und erläuterte anhand dieser Besonderheiten sodann allgemeine Fragen zum Thema Beitrag. Wesentlicher Punkt sei, daß bei diesem Thema die öffentlichen Interessen im Spiel stünden. Trotz zahlreicher soziologischer und psychologischer Begründungen, die auf dem individuellen wie quasi-privaten Aspekt des Beitrags aufbauten, sei der Sozialbeitrag ebenso wie die Steuer ganz in die Hände des Wirtschaftsgesetzgebers gelegt. Die Benützung des ersten wie des zweiten Finanzierungsinstruments bilde nunmehr eine typische Interventionsmöglichkeit zur Produktionsförderung. Diese verschiedenen und manchmal kontradiktorischen Interventionen stellten die juristische Natur des Sozialbeitrags in Zweifel. Der italienische Gesundheitsdienst beispielsweise sei zu einem großen Teil noch durch die alten Krankenversicherungsbeiträge finanziert. Lafranconi habe an die Beitragsreduzierungen für den Süden Italiens erinnert. Diese Lösungen seien nicht von Prinzipien, sondern von der ökonomischen Notwendigkeit diktiert, aber sie beeinflußten diese Prinzipien.
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In einer weiteren Bemerkung führte Sandulli aus, daß die Diskussion die Unmöglichkeit einer jeden Theoriebildung über den Beitrag gezeigt habe, sofern man nicht die anderen grundlegenden Elemente eines Systems sozialer Sicherheit berücksichtige. Wenn man sage, daß der Beitrag zweckgebunden sei, so sei es auch notwendig, den Leistungsmechanismus zu ergründen. Wegen der Besonderheit der Leistungen könne es möglich sein, daß der Beitrag im Verhältnis zu seiner ursprünglichen Qualifizierung nunmehr anders einzuordnen sei. Man könne hier an das italienische Rentensystem denken, in dem die Beiträge auf der Basis der gesamten Lohnhöhe berechnet werden, während die Renten dann aufgrund des Maximallohns errechnet werden. Bezugnehmend auf die Äußerung von Laurent, daß die Art der Finanzierung von Sozialversicherungen durch Beiträge oder durch Steuern auf die Arbeitslosigkeit keinen Einfluß habe, bemerkte Sandulli, daß hier in Europa erhebliche Unterschiede bestünden. Daraus könne man auch bedeutsame Folgerungen nicht nur auf ökonomischer und politischer Ebene, sondern auch im Hinblick auf die juristische Qualifikation des Beitrags herleiten. So sei zu denken an die Arbeitslosenversicherung, deren Leistungen zum Teil die Beiträge für andere Leistungen, z. B. für Renten, enthielten. Man habe so eine Art "Wasserfallbeitrag" , wo das Äquivalenzprinzip zumindest auf individueller Ebene fast verloren gegangen sei. In dem Maße, wie sich das Phänomen der Arbeitslosigkeit vermehre, löse sich der ursprüngliche Begriff des Beitrags auf in Richtung auf eine Steuer, die an der Lohnhöhe ausgerichtet sei. Gerhard Igl
Teilnehmerverzeichnis Landesbericbterstatter und Referenten Professor Dr. HeZmar BZey, Gesamthochschule Bamberg, Lehrstuhl für Sozialund Arbeitsrecht, Feldkirchenstraße 21, 8600 Bamberg Professor Bley war an der Teilnahme an den Verhandlungen des Colloquiums verhindert Professor Dr. Hans Braun, Universität Trier, FB IV Schneidershof
Soziologie, 5500 Trier,
Dr. JuZian FuZbrook, London School of Economics and Political Science, Houghton Street, London WC 2A 2AE, Großbritannien Dr. Fulbroock war an der Teilnahme an den Verhandlungen des Colloquiums verhindert Professor Dr. Günter Hedtkamp, Seminar für Wirtschaft und Gesellschaft Ost-Europas der Universität München, Akademiestraße 1/II, 8000 München 40 Professor Dr. Georg Heubeck, Robert-Heuser-Straße 16, Postfach 51 0770, 5000 Köln 51 Professor Dr. Josef Isensee, Institut für öffentliches Recht der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität - Juridicum -, Adenauerallee 24 - 42, 5300 Bonn Professor Dr. Siegf,·ied Mampel, Roonstraße 14, 1000 Berlin 37 Professor Dr. Martin Pfaff, und Dr. Markus Schneider, Internationales Institut für Empirische Sozialökonomie, Haldenweg 23, 8901 Leitershofen Professor Dr. Wolfgang Rüfner, Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität des Saarlandes, Postfach, 6600 Saarbrücken 11 Professor Dr. PasquaZe SanduZZi, Universität Rom und Universität Perugia, Via M. Poggioli 3, 1-00161 Rom Professor Dr. Dieter Schäfer, Lehrstuhl für Sozial- und Wirtschaftspolitik der Universität Bamberg, Feldkirchenstraße 21, 8600 Bamberg
Weitere Teilnehmer Dr. Heinz AuZmann, Leiter der Rechtsabteilung des Hauptverbandes der Gewerblichen Berufsgenossenschaften e. V., Langwartweg 103, 5300 Bonn Regierungsrat z. A. Dieter Bär, Abteilung Sozialversicherung im Bayerischen Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Winzererstraße 9, 8000 München 40 Jos Berghmann, Senior Research Fellow, Universiteit Antwerpen, Centrum
voor Sociaal Beleid, Prinsstraat 13, B-2000 Antwerpen
33'
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Teilnehmerverzeichnis
Walter Bonhoeffer, Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedin-
gungen der wissenschaftlich-technischen Welt, Riemerschmidstraße 7, 8130 Starnberg Privatdozent Dr. Roland Eisen, Volkswirtschaftliches Institut der Universität München, Seminar für Versicherungswissenschaft, Ludwigstraße 33/HI, 8000 München 22 Fidel Ferreras Alonso, Ministerio de Sanidad y Seguridad Social, Instituto de Estudios de Sanidad y Seguridad Social, Calle Breton de los Hereros, 41, Madrid, Spanien Rechtsanwalt Hans-Achim Fritzsche, Siemens AG, Wittelsbacher Platz 2, 8000 München 2 Ltd. Verwaltungsdirektor Dr. Gerhard Götz, Bundesanstalt für Arbeit, Postfach, 8500 Nürnberg 1 Dr. Bernt Heise, Hauptabteilung Soziale Sicherheit des Internationalen Arbeitsamtes, Postfach, CH-1211 Genf 22 Professor Dr. Peter Robert Kaim-Caudle, University of Durharn, Department of Sociology and Social Administration, Elvet Riverside, New Elvet, Durharn DHI 3JT, Großbritannien Professor Dr. Andrzej Komar, Zeromskiego nr 6b/9, 60-544 Poznaii, Polen Generaldirektor a. D. Dr. Natale Lafranconi, Via Ugo de Carolis, 94, 1-00136 Rom Andre Laurent, Kommission der Europäischen Gemeinschaften - V/A/3, 200, rue de la Loi, B-I040 Brüssel Professor Dr. Stephan Leibfried, Universität Bremen, Achterstraße. Postfach, 2800 Bremen 33 Professor Dr. Werner Mahr, Bockmayrstraße 2,8132 Tutzing Professor Dr. A. Maurer, Universität Bern, Hadlaubsteig 8, CH-8006 Zürich F. M. Noordam, Rijksuniversiteit Groningen, Faculteit der Rechtsgeleerdheid, Turftorenstraat 13, 9712 BM Groningen, Niederlande Wiss. Assistent Alexander Peltner, Institut für Politik und öffentliches Recht der Universität München, Ludwigstraße 28, Rückgebäude, 8000 München 22 Ltd. Verwaltungsdirektor Dr. Franz Ruland, Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, Eysseneckstraße 55, 6000 Frankfurt/M. 1 Direktor Eberhard Schaub, Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, Eysseneckstraße 55, 6000 Frankfurt/M. 1 Regierungsdirektor Schenke, Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Abteilung IV, Postfach, 5300 Bonn Professor Dr. Winfried Schmähl, Freie Universität Berlin, Fachbereich Wirtschaftswissenschaft (FB 10), Institut für Finanzen, Steuern und Sozialpolitik (WE 2), Ihnestraße 37, 1000 Berlin 33 Dipl.-Kaufmann Hans-Jilrgen Steinmann, Dezernent in der Finanz- und Vermögensabteilung der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, Postfach, 1000 Berlin 88 Dr. Andre Thill, Conseiller de direction, Office des Assurances Sociales, Service Juridique et Contentieux, 1, rue Zithe, Luxemburg
Teilnehmerverzeichnis
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Professor Dr. Peter ThuHen, Postfach 28, CH-1723 Marly Professor Dr. Theodor Tomandl, Institut für Arbeits- und Sozialrecht der Universität Wien, Liebiggasse 4/3 - 4, A-1010 Wien Dipl.-Ing. Heinz Vortmann, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, Königin-Luise-Straße 5,1000 Berlin 33 Verwaltungsdirektor Hans-Georg Wagner, Bundesanstalt für Arbeit, Postfach, 8500 Nürnberg 1 Direktor a. D. Herbert Waldmann, Limesstraße 8, 6382 Friedrichsdorf Professor Dr. Georg Wannagat, Präsident des Bundessozialgerichts, GrafBernadotte-Platz 5,3500 Kassel 1 Dr. Reinhard Wieczorek, Richter am Arbeitsgericht, Lindenstraße 28, 8000 München 90 Professor Dr. Detlev ZöHner, Direktor des Internationalen Arbeitsamtes Zweig amt Bonn, Hohenzollernstraße 21, 5300 Bonn-Bad Godesberg
Teilnehmer aus der Projektgruppe Michael Faude . Klaus Gerz • Armin Hörz . Dr. Gerhard Igl . Peter Köhler Burkard Rappl • Grita Schock . Dr. Bernd Schulte • Thomas Simons • Dr. Peter Trenk-Hinterberger . Prof. Dr. Hans F. Zacher