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German Pages 244 [245] Year 1977
PROJEKTGRUPPE FüR INTERNATIONALES UND VERGLEICHENDES SOZIALRECHT DER MAX·PLANCK·GESELLSCHAFT
Methodische Probleme des Sozialrechtsvergleichs
Schriftenreihe für Internationales und Vergleichendes Sozialrecht Herausgegeben von Hans F. Zacher, München
Bandl
Methodische Probleme des Sozialrechtsvergleichs Colloquium der Projektgruppe für Internationales und Vergleichendes Sozialrecht der Max· Planck·Gesellschaft
Herausgegeben von
Hans F. Zacher
DUNCKER & HUMBLOT I BERLIN
Redaktion: Dr. Bernd Schulte
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Methodische Probleme des Sozialrechtsvergleichs: Colloquium d. Projektgruppe für Internat. u. Vergleichendes Sozialrecht d. Max-Planck-Ges. Tutzing 1976 / hrsg. von Hans F. Zacher. - 1. Auf!. - Berlin: Duncker und Humblot, 1977. (Schriftenreihe für Internationales und Vergleichendes Sozialrecht; Bd. 1) ISBN 3-428-03870-3 NE: Zacher, Hans F. [Hrsg.]; Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften / Projektgruppe für Internationales und Vergleichendes Sozialrecht
Alle Rechte vorbehalten
© 1977 Duncker & Humblot, Berlln 41 Gedruckt 1977 bei Buchdruckerei A. Sayftaerth - E. L. Krohn, Berl1n 61 Printed in Germany ISBN
a 428 00870 S
Inhaltsverzeichnis Erster Teil Hans F. Zacher:
Einleitung
7 Zweiter Teil: Vorbereitende Ausarbeitung
Hans F. Zacher:
Vorfragen zu den Methoden der Sozialrechtsvergleichung ..........
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Dritter Teil: Colloquium Das Programm des Colloquiums
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J ef van Langendonck:
Probleme und Problemlösungen des wissenschaftlichen Sozialrechtsvergleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Zusammenfassung Summary .......................................................... Diskussionsbericht (Faude / Schulte) ................................
77 88 88 90
Bernd von Maydell:
Sozialrechtsvergleichung und internationales Sozialrecht (Kollisionsrecht/Konfliktsrecht) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung ................................................ Summary .......................................................... Diskussionsbericht (Simons / Trenk-Hinterberger) ..................
97 110 111 113
Eugen Pusic:
Erfahrungen der internationalen Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Sozialarbeit und ihre Ergebnisse für die Ziele und Methoden des Sozialrechtsvergleichs .............................................. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Summary .......................................................... Diskussionsbericht (Faude / Trenk-Hinterberger) ....................
117 130 131 132
Inhaltsverzeichnis
6 Wilhelm Wanders:
Was ergeben die Erfahrungen bei der internationalen Zusammenarbeit der Sozialversicherungen für die Frage der Vergleichbarkeit der nationalen Sozialrechtsordnungen? .............................. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Summary .......................................................... Diskussionsbericht (Schulte 1 Simons) ................................
137 160 161 162
J. J. M. van der Ven:
Das rechtsvergleichende Forum der IAO Zusammenfassung Summary .......................................................... Diskussionsbericht (1gll Schulte) ....................................
171 187 187 188
Kurt Jantz:
Was ergeben die Erfahrungen bei der supranationalen Harmonisierung von Sozialrecht für einen Sozialrechtsvergleich? ................ Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Summary .......................................................... Diskussionsbericht (Faude 1 19l) .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
195 209 212 215
Rudolf Echterhölter:
Was ergeben die Erfahrungen bei der sozialrechtlichen Beratung von Entwicklungsländern für die Methoden des Sozialrechtsvergleichs, insbesondere für den Vergleich zwischen Industrie- und Entwicklungsländern? ...................................................... 221 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 231 Summary .......................................................... 232 Diskussionsbericht (1gll Simons) .................................... 234 Teilnehmerverzeichnis
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ERSTER TEIL
Einleitung I. Die Projektgruppe für Internationales und Vergleichendes Sozialrecht Mit diesem Bande tritt die Projektgruppe für Internationales und Vergleichendes Sozialrecht in der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e. V. zum ersten Mal mit einer Veröffentlichung hervor. Darum ist es zweckmäßig, einige Informationen über die Projektgruppe vorauszuschicken. 1. Daten
1972 regte der Präsident des Bundessozialgerichts, Professor Dr. Georg Wannagat, bei der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e. V. an, ein Institut für Vergleichendes und Internationales Sozialrecht ins Leben zu rufen. Die Anhörung von Gutachtern aus dem In- und Ausland sowie die Beratungen innerhalb der MaxPlanck-Gesellschaft bestätigten die Notwendigkeit, das ausländische und internationale Sozialrecht zum spezifischen Gegenstand einer Forschungseinrichtung der Max-Planck-Gesellschaft zu machen. Jedoch war man in den letztzuständigen Organen der Max-Planck-Gesellschaft der Überzeugung, daß ein neuer Forschungsgegenstand, der, wie die Sozialrechtsvergleichung und das internationale Sozialrecht, weder methodisch noch organisatorisch vorbildhaft geformt ist, nicht unmittelbar im Rahmen eines endgültig errichteten, groß angelegten Instituts - nach Maßgabe der herkömmlichen Max-Planck-Institute aufgenommen werden soll. Vielmehr griff man, angelsächsischen Vorbildern (den sogenannten "units") folgend, zu einer kleineren, befristeten Lösung. 1974 fiel in diesem Sinne die Entscheidung, eine Projektgruppe für Internationales und Vergleichendes Sozialrecht für zunächst fünf Jahre in München zu errichten. Das Jahr 1975 war dem personellen und sächlichen Aufbau dieser Projektgruppe gewidmet. Von 1976 bis 1980 läuft die eigentliche "Projektzeit".
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Hans F. Zacher
Aufbau und Leitung der Projektgruppe wurden Professor Dr. Hans F. Zacher übertragen, der diese Funktion grundsätzlich neben seiner Tätigkeit als Hochschullehrer an der Universität München wahrnimmt. Die Gruppe umfaßt fünf wissenschaftliche Mitarbeiter: Michael Faude, Dr. Gerhard Ig1, Dr. Bernd Schulte, Thomas Simons und Dr. Peter Trenk-Hinterberger. Dazu besteht in begrenztem Umfang die Möglichkeit, daß an der Projektgruppe ausländische Wissenschaftler sowie Stipendiaten, Doktoranden und wissenschaftliche Hilfskräfte mitwirken. Die Ausstattung mit nicht-wissenschaftlichem Personal entspricht den sich daraus funktional ergebenden Anforderungen. 2. Das "Projekt"
Ziel der Projektgruppe kann es nicht sein, einen geschlossenen, regionalen und sachlichen Bereich des internationalen und ausländischen Sozialrechts mit dem Anspruch auf Vollständigkeit ermittelnd und vergleichend aufzuarbeiten. Vielmehr geht es gerade darum, durch exemplarische, schwerpunkartig konzentrierte Arbeiten Grundlagen für die Bestimmung der Ziele, Organisationsformen, Techniken und Methoden der weiteren Forschung auf dem Gebiet des internationalen und vergleichenden Sozialrechts, etwa im Rahmen eines künftigen Max-Planck-Instituts, zu finden. Das Verfahren ist als in mehrfacher Hinsicht dialektisch gedacht. Da ist zunächst die Dialektik zwischen der konkret-exemplarischen Arbeit und den unmittelbaren Bemühungen um das Grundsätzliche. Die Arbeit muß in konkreten Schwerpunktbereichen ansetzen. Diese konkretexemplarische Forschung bedarf jedoch der Steuerung und Kontrolle durch allgemeine und prinzipielle Überlegungen, sei es über zentrale Fragen des Wesens des Sozialrechts, sei es methodischer Art. Und sie müssen im Blick auf mögliche, nach der Aufgabe der Projektgruppe sogar notwendige prinzipielle Erträge für die Möglichkeiten und Erfordernisse der Forschung auf dem Gebiet des internationalen und vergleichenden Sozialrechts konzipiert und durchgeführt werden. Innerhalb der konkret-exemplarischen Arbeit ist eine andere Dialektik zu beobachten. Einerseits müssen gewisse Länder und internationale Organisationen zur eher "flächigen" Aufnahme und Beobachtung herausgegriffen werden. In beiderlei Hinsicht ist quantitative Askese oberstes Gebot. Nur eine umsichtige Beschränkung kann bei einem Team, das im Kern aus fünf wissenschaftlichen Mitarbeitern und dem Leiter besteht, überhaupt ein Erfolg erwartet werden. Die Kleinheit des Teams wiederum ist aber nicht nur die äußerliche Konsequenz der Projektgruppen-Lösung, sie entspricht ihr auch in der Sache. Die Neu-
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artigkeit und entsprechende Schwierigkeit des Auftrages verlangt ein Maximum an Kooperation und Kontakt. Zugleich aber besteht das Bedürfnis nach einer gewissen Breite, um den Forschungen hinreichend Anregungen zufließen zu lassen, vor allem auch um Probleme und Problemlösungen, Zustände und Entwicklungen, die hierzulande noch nicht deutlich oder artikuliert sind, in den Blick zu rücken. So ist es notwendig, Länder nicht nur aus dem Bereich der Europäischen Gemeinschaften und dem Kreis der ihnen ähnlichen Industrienationen, sondern auch aus den "sozialistischen" Ländern Osteuropas und aus der "Dritten Welt" einzubeziehen. In diesem Sinne konzentrieren sich die Arbeiten der Projektgruppe auf Algerien, Bundesrepublik Deutschland, Deutsche Demokratische Republik, Frankreich, Großbritannien, Italien, Kanada, Kenia, Mexiko, Peru und die Sowjetunion. Auch ist es notwendig, die einzelnen Sachthemen, die mit besonderem Schwergewicht für die einbezogenen nationalen Rechtsordnungen erörtert werden sollen, so auszuwählen, daß die Arbeit an ihnen Gegenstände, Techniken, Strukturen und Werte der nationalen Sozialrechtsordnungen vielseitig, verläßlich und weiterführend er~ schließt. Dies soll durch die Kombination der folgenden Einzelthemen erreicht werden: -
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Das soziale Risiko des langfristigen Gebrechens Die soziale Sicherung von Autoren und Künstlern Die Rechtsstellung des Sozialarbeiters Die Kategorien des Verschuldens und der Verursachung als Voraussetzungen und Ausschlußgründe für sozialrechtliche Ansprüche und Pflichten Das Sprachproblem als sozialrechtliche Frage.
Von Anfang an stellte sich für die Konzeption der Projektgruppe die Frage der wissenschafts-disziplin ären Zuordnung. Daß Sozialrecht in der Ganzheit der jeweiligen nationalen Rechtsordnung gesehen werden muß, ist ebenso offensichtlich wie die Notwendigkeit, Sozialrecht in den Zusammenhängen der sozialen Gegebenheiten, Normen und Tendenzen eines Landes zu sehen. Somit wäre es nicht nur schwierig, die Grenzen zwischen Sozialwissenschaften und Rechtswissenschaften aufrechtzuerhalten; vielmehr ist interdisziplinäre Kooperation notwendig. Um gefährlichen Dilettantismus und unfruchtbare Konflikte zu vermeiden, muß die Projektgruppe in sich aber primär juristisch arbeiten, während sie kompetente sozialwissenschaftliche Zu- und Mitarbeit von außen bezieht. Dabei verbietet der experimentelle personell, sachlich und zeitlich eng begrenzte Charakter der Projektgruppe einen definitiven institutionellen Rahmen solcher interdisziplinärer Zusammenarbeit zu fixieren.
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Hans F. Zacher 3. "Sozialrecht" - der Gegenstand des Projekts
a) Konkreter Ansatz - offenes Feld Unter "Sozialrecht" wird dabei als Kern und praktikabler Ansatz das Recht der sozialen Sicherheit verstanden: also Systeme der Vorsorge (insbesondere Sozialversicherung), der sozialen Entschädigung (Kriegsopferversorgung usw.), des besonderen sozialen Ausgleichs (wie Familienlastenausgleich) und des allgemeinen sozialen Ausgleichs (Sozialhilfe). Keinesfalls aber kann es dabei nur um monetäre Leistungen gehen. Gerade auch soziale Dienstleistungen müssen einbezogen werden. Um im internationalen Rahmen und rechtsvergleichend arbeiten zu können, darf sich die Projektgruppe aber auch nicht auf die institutionellen und gesetzgeberischen Einheiten beschränken, die etwa der deutschen Sozialversicherung, der deutschen Sozialhilfe usw. entsprechen. Vielmehr muß sie die sozialen Probleme aufsuchen und den Möglichkeiten, sie durch staatliche Leistungen, durch sonstige Umverteilungsprozesse, durch Organisationen, durch Dienstleistungen usw. zu lösen, nachgehen. Zwar hat sie das Recht zu erfassen und zu verglei~ chen und nicht etwa generell soziale Verhältnisse. Aber sie kann und darf nicht etwa nur Vorschriften, auch nicht Gesetze als solche vergleichen. In verschiedenen nationalen Rechtsordnungen und gesellschaftlichen Zusammenhängen sind einzelne Gesetze und erst recht einzelne Vorschriften in Geltungsbereich und Wirkungsweise viel zu unterschiedlich. So muß immer auch das Sprach pro bl em ermittelt werden, das vorausliegt. Dann können die Antworten, die das Recht auf die jeweilige soziale Herausforderung gibt oder zu geben sucht, besser, fruchtbarer miteinander verglichen werden. Die Arbeit der Projektgruppe beruht also auf einem "offenen" Sozialrechtsbegriff. Selbst wenn sie ihre Arbeiten ganz vom eigenen nationalen Standpunkt her definieren wollte, wäre das unvermeidlich, weil auch Recht und Rechtswissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland keinen Sozialrechtsbegriff kennen, der Gegenstandsbereiche des Rechts rational, aus sich abgrenzen würde. Einen "offenen" Sozialrechtsbegriff braucht die Projektgruppe aber auch deshalb, weil sie nur so einen gemeinsamen Gegenstand über die nationalen Rechtsgrenzen hinweg finden kann. Sie muß offen bleiben für den Sprachgebrauch und die Begriffswelt anderer Rechtsordnungen, vor allem aber auch für die Wahrnehmung vergleichbarer Sachzusammenhänge, die in anderen Rechtsordnungen rechtlich und begrifflich anders hervortreten als im deutschen Recht. Die Projektgruppe muß die "Offenheit" des Sozialrechtsbegriffs als zum Wesen ihrer Aufgabe gehörend erkennen. Daß das eine Last für sie selbst und ihre Gesprächspartner ist, ist eine andere Frage.
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b) Versuche begrifflicher Klärung
Da sich gerade das Problem des Sozial rechts begriffs immer wieder als eine zentrale Schwierigkeit der Verständigung über die Arbeit der Projektgruppe erweist, sei ihr noch ergänzend Aufmerksamkeit geschenkt. Der Verfasser dieser Zeilen hat kürzlich an anderer Stelle (Vierteljahresschrift für Sozialrecht, Bd. 4, 1976, S. 1 ff.) versucht, den Denkmöglichkeiten eines Sozialrechtsbegriffs nachzugehen. Er kommt dabei zu vier Ebenen der Bildung eines Sozialrechtsbegriffs. (1) Der pragmatische Sozialrechtsbegrifj addiert je nach Gesichtskreis, Gewohnheit und Bedürfnis gewisse Rechtsbereiche, die im positiven Recht je für sich wahrnehmbar ausgesondert sind und nach Namen oder Sache als "sozial" erkennbar sind. In diesem Sinne ist im deutschen Sprachgebrauch "Sozialrecht" sicher Sozialversicherungsrecht und Sozialhilferecht, meist auch Kriegsopferversorgung, Arbeitsförderung, Wohngeld, Familienlastenausgleich usw. Derzeit breitet sich in der Bundesrepublik Deutschland in diesem Sinne das Postulat aus: "Sozialrecht" ist, was vom Sozialgesetzbuch erfaßt wird. Das wären Ausbildungsförderung, Arbeitsförderung, Sozialversicherung, soziale Entschädigung, Familienlastenausgleich, Wohngeld, Jugendwohlfahrt und Sozialhilfe. Die meisten Antworten auf die Frage "Was ist Sozialrecht" bewegen sich in dieser Ebene. Mit anderen Worten: sie addieren ein Rechtsgebiet mehr oder weniger. Dabei gibt es kein absolutes "Richtig" oder "Falsch". "Richtig" oder "falsch" kann ein solcher Sozialrechtsbegriff immer nur im Hinblick auf den besonderen Zweck sein, dem die Gruppierung von Rechtsbereichen unter dem Namen "Sozialrecht" dienen soll. Solche Zwecke können etwa im Bereich der literarischen Darstellung, der Lehrplangestaltung, der Abgrenzung von Zuständigkeiten und der Formulierung von Aufgaben liegen. Dabei sind fast immer neben rationalen Argumenten auch subjektive, gewillkürte Entscheidungen möglich, nicht selten sogar unvermeidlich. Wird dies verdeckt und das Mögliche zum rational Notwendigen erklärt, erwächst die Gefahr von Mißverständnissen und Scheingefechten. Gleiches gilt dort, wo ein pragmatisch gebildeter Sozialrechtsbegriff auf mehr Zweckzusammenhänge erstreckt wird, als ihn rechtfertigen und als mit ihm vereinbar sind. Dies alles ändert nichts an der Legitimität, ja konkreten Notwendigkeit des pragmatischen Sozialrechtsbegriffs.
(2) Der prinzipielle, sozialpolitische Sozialrechtsbegriff versucht die ratio der pragmatischen Sozialrechtsbegriffe zu isolieren. Die sachliche Gemeinsamkeit, die Rechtsgebiete aufweisen, die als "Sozialrecht" zusammengefaßt werden, ist die gesteigerte Intensität ihres sozialpoliti-
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schen Gehalts. "Sozialrecht im sozialpolitischen Sinn" ist demnach alles Recht, das von einer sozialpolitischen Aufgabe wesentlich bestimmt ist. Dabei kann "sozialpolitisch" in Übereinstimmung mit dem allgemeinen Verständnis von "sozialstaatlich" verstanden werden: als Verwirklichung von Gleichheit und Freiheit in den unmittelbar oder mittelbar ökonomischen Lebensbedingungen durch Sicherung eines menschenwürdigen Daseins für alle, durch Abbau von Wohlstandsunterschieden sowie durch Aufhebung oder Kontrolle von Abhängigkeitsverhältnissen. Die Abstraktheit dieses "sozialpolitischen Sozialrechtsbegriffs" verleiht ihm innere Geschlossenheit und NotwendigkeIt, macht ihn aber untauglich, Grenzfälle der Zuordnung zu entscheiden. Die sozialpolitische Prägung des Rechts ist in einem Sozialstaat, ja wohl in jedem modernen egalitären Gemeinwesen, wenn es sich auch nicht als Sozialstaat erklärt, allgegenwärtig. Der Grad der Dichte sozialpolitischer Prägung, an dem die Grenze zwischen "Sozialrecht" und "Nicht-Sozialrecht" verläuft, entzieht sich operationaler Definition. Seine Feststellung ist etwa auch abhängig von der quantitativen und qualitativen Relation zwischen sozialpolitisch determinierten Einzelregelungen und dem Rechtsgebiet, in das eingeordnet sie gesehen werden. Das schließt nicht aus, daß einzelne Rechtsgebiete - wie etwa das Sozialversicherungs- oder das Sozialhilferecht - eindeutig "Sozialrecht im sozialpolitischen Sinne" sind.
Pragmatischer Sozialrechtsbegrijj und sozialpolitischer Sozial rechtsbegriff stehen also in einem Verhältnis der Komplementarität. Der pragmatische Sozialrechtsbegriff leistet unter je konkreten Zwecksetzungen die definitive Hervorhebung von Rechtsgebieten als "Sozialrecht", ohne dabei durch ein von der konkreten Zwecksetzung unabhängiges Sinnprinzip auch hinsichtlich jeder Einzelzuweisung gesteuert zu sein. Der sozialpolitische Sozialrechtsbegriff weist ein Sinnprinzip solcher Abgrenzung aus, ohne die Einzelzuweisung steuern zu können. Das Prinzip des sozialpolitischen Sozialrechtsbegriffs ist den pragmatischen Sozialrechtsbegriffen immanent, ohne sie erschöpfend erklären zu können. Die von pragmatischen Sozialrechtsb'egriffen erfaßten Rechtsbereiche haben das sozialpolitische Prinzip gemeinsam - jedoch ist es ihnen nicht (notwendig) ausschließlich eigen. Das wohl eindrucksvollste praktische Beispiel für mögliche Unterschiede zwischen dem pragmatischen und dem sozialpolitischen Sozialrechtsbegriff ist das Arbeitsrecht. Im sozialpolitischen Sinn ist Arbeitsrecht sicher "Sozialrecht" . Bei der Bildung pragmatischer Sozialrechtsbegriffe dagegen findet sich das Arbeitsrecht häufig vom "Sozialrecht" ausgeklammert und ihm gegenüber gestellt. Selbst die Formel "Ar-
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beits- und Sozialrecht" bestätigt nur diese Trennung. In der Tat gibt es vom betroffenen Personenkreis, von den Ordnungsaufgaben und Techniken, von der Grobeinteilung in öffentliches und privates Recht her usw. zahlreiche Gründe, in pragmatische Sozialrechtsbegriffe das Arbeitsrecht nicht einzubeziehen. Die Anwendung des sozialpolitischen Sozialrechtsbegriffs dagegen kommt am "Sozialrecht"-Charakter des Arbeitsrechts nicht vorbei. (3) Der Versuch einer mehr sachhaltigen Aussage darüber, was Sozialrecht ist, führt zum positiven Sozialrechtsbegrifj. Vom sozialpolitischen Sozialrechtsbegriff her entspringt er der Frage: Wie sieht Recht aus, das vom sozialpolitischen Zweck geprägt ist? Vom pragmatischen Sozialrechtsbegriff her unterliegt er der empirischen Kontrolle durch die Frage: Welches Recht wird als "Sozialrecht" bezeichnet? Als "positiv" wird dieser Begriff hier benannt, weil er auf eine Aussage über den positiven Stand der Rechtsentwicklung zielt: Inwieweit kann Recht seinem Gegenstand nach von seinem sozialpolitischen Zweck geprägt sein, inwieweit ist es von seinem sozialpolitischen Zweck tatsächlich geprägt, und inwieweit ist dieser Zusammenhang zwischen Rechtsinhalt, Rechtsgestaltung und Sozialzweck bewußt? Dieser Problemkreis ist bis jetzt nicht ausgelotet, deshalb kann ein positiver Sozialrechtsbegriff auch nur als Arbeitshypothese vorgelegt werden: "Sozialrecht" ist die umfassende Ordnung der Erwartungen, die in der Gesellschaft hinsichtlich der wirtschaftlichen und dienstleistenden Sicherung und der annähernd egalitären Entfaltung der physischen und ökonomischen Existenz der einzelnen durch das Gemeinwesen bestehen, und der Erfüllung dieser Erwartungen. Eine weitere Auseinandersetzung mit diesem Begriff könnte vor allem genauere Sachstrukturen (z. B. Negation aktueller Not und Schutz gegen Wohlstandseinbrüche, Darstellung von Chancen und Entfaltungshilfen, weitergehend egalitäre Umverteilungsprozesse und institutionelle Gewährungen, Aufhebung und Kontrolle von Abhängigkeitsverhältnissen usw.) aufgreifen und negative Ausschlüsse (Abwehr von Gefährdungen durch die Politik der inneren und äußeren Sicherheit usw.) klären. (4) Setzt man nun aber historisch vergleichend mit der Frage an, wofür das Wort "Sozialrecht" nicht nur hier und jetzt, sondern seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts in verschiedenen Zeiten und Ländern gebraucht wird, so kommt man zu einem verstehenden Sozialrechtsbegriff. Sozialrecht in diesem Sinne ist ein polemischer Begriff, der auf eine - vermeintlich oder wirklich - bewältigte, neu aufgetretene Herausforderung an das Recht reagiert und Prinzipien oder Sachbereiche des Rechts benennt, die der Bewältigung dieser Herausforderung dienen. Dieser verstehende Sozialrechtsbegriff vermag etwa die Brücke zu
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schlagen von dem Sprachgebrauch Otto von Gierkes und Hermann Roeslers (die im 19. Jahrhundert auf die Notwendigkeit, die vermehrte Begegnung von Menschen in Gesellschaften und Genossenschaften, Betrieben und Unternehmen rechtlich zu erfassen und einzuordnen, mit dem Postulat eines "Sozialrechts" reagierten) über die "sozialrechtliche Schule" der Nationalökonomie, über den Sprachgebrauch bei Nußbaum, Sinzheimer und Radbruch bis herauf zur Gegenwart, wo das Bedürfnis, die Gesamtheit der Sozialleistungen als "Sozialrecht" darzustellen, zur Kodifikation im Sozialgesetzbuch führt. "Sozialrecht" im pragmatischen, sozialpolitischen oder auch positiven Sinn ist für den verstehenden Sozialrechtsbegriff nur (zentrales) Beispiel - nicht mehr. Was die Erfahrung bei der Sammlung pragmatischer Sozialrechtsbegriffe schon anzeigt, vertieft der Blick auf die Erfahrungen, auf denen der verstehende Sozialrechtsbegriff beruht; es dürfte schwer sein, im Recht ein vergleichbares Phänomen eines Wandern amens wie den des Sozialrechts zu finden. Wann und wo dieser Begriff einsetzt, läßt vielfache Rückschlüsse zu auf Abhängigkeiten zwischen der Rechtsentwicklung, den sozialen Veränderungen, den eigentümlichen Weisen einer Gesellschaft, eines politischen Systems und einer Rechtsordnung, solche Veränderungen wahrzunehmen und auf sie zu reagieren, den tatsächlichen Reaktionen und ihrer Bewußtheit. Für die rechtsgeschichtliche Betrachtung fällt zudem ins Gewicht, wie hier eine neue Strukturierung des Rechts (erst) möglich zu werden scheint, nachdem der vieldeutige Begriff "sozial" wissenschaftlich und politisch aktuell und interessant geworden ist; denn erst von der Mitte des 19. Jahrhunderts an entstehen Name und Kategorie des "Sozialrechts". Eine Erläuterung dessen, was mit den skizzierten Sozialrechtsbegriffen gemeint ist, kann ein Blick auf den Begriff und die Sache der sozialen Sicherheit geben. Soziale Sicherheit ist zunächst Schutz gegen elementare Not und (in Grenzen darüber hinaus auch) gegen Wohlstandseinbrüche. Die Technik der sozialen Sicherung hat sich weitgehend an typischen Notsituationen orientiert: Krankheit, Mutterschaft, Arbeitsunfall, Berufskrankheit, Invalidität, Alter, Verlust des Ernährers, Arbeitslosigkeit. Und daher vermittelt der Risikobegriff der sozialen Sicherheit elementare Gemeinsamkeiten mit der Sozialversicherung. Indem andere Systeme sozialer Vorsorge, sozialer Entschädigungen und sozialen Ausgleichs aber gleichen Zwecken dienen, gehören auch sie zur sozialen Sicherung. Problematisch sind dagegen andere Grenzen: der Umschlag von der negativen Gefahrenabwehr zur positiven Entfaltungshilfe; die Sicherung sozial wichtiger Lebensumstände gegenüber anderen Privaten (z. B. des Arbeitsplatzes durch das Arbeitsrecht, der Wohnung durch das Wohnungsrecht, oder allgemeiner der Unversehrtheit der Lebensverhältnisse durch das Schadenersatzrecht); und der
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Chance individueller oder kollektiver Vorsorge außerhalb öffentlicher Systeme (z. B. der Vermögensbildung oder Privatversicherung). Diese Fragen können und sollen hier nicht weiter vertieft werden. Die Hinweise genügen vielmehr, um zunächst auf eine Analogie zur sozialrechtlichen Begriffsbildung aufmerksam zu machen. Auch für den Begriff der sozialen Sicherheit ist es möglich, einen pragmatischen Begriff zu bilden. Er könnte etwa Sozialversicherungsrecht (vielleicht auch Beamtenversorgung), Kriegsopferversorgung und anderes soziales Entschädigungsrecht, allgemeine Ausgleichssysteme (Sozialhilfe) und besondere Ausgleichssysteme - jedenfalls wenn sie "negativ" schützender Natur sind (Familienlastenausgleich, Wohngeld) und nicht primär "positiv" entfaltenden Charakter haben (wie Ausbildungsförderung und Berufsförderung) - umfassen. Es erscheint sinnvoll und es geschieht auch, unter dem Namen der "sozialen Sicherung" Rechtsgebiete zusammenzufassen, die wesentlich dazu bestimmt sind, gegen Not und Wohlstandseinbrüche durch öffentliche Leistungen zu schützen. Daneben wäre es aber auch möglich, analog zum sozialpolitischen Sozialrechtsbegriff einen prinzipiellen Begriff der "sozialen Sicherheit" (des "Rechts der sozialen Sicherheit") zu entwickeln. Er müßte generell definieren, was das Spezifische von "sozialer Sicherheit" ist. Seine Fähigkeit, konkrete Abgrenzungen zu steuern, wäre - analog zum sozialpolitischen Sozialrechtsbegriff - gering, wo die Prägung eines Rechtsgebietes durch den Zweck "sozialer Sicherung" an Intensität verliert. Schließlich könnte von hierher auch ein positiver Begriff der "sozialen Sicherheit" gedacht werden. Ein historisch verstehender Begriff der "sozialen Sicherheit" dagegen wäre nicht - jedenfalls nicht mit der Tragweite des historisch verstehenden Sozialrechtsbegriffs - möglich. Was über den Begriff der "sozialen Sicherheit" angedeutet werden konnte, genügt ferner, um das inhaltliche Verhältnis zum Sozialrechtsbegriff grob zu umreißen. Auf der prinzipiellen Ebene des sozialpolitischen Sozialrechtsbegriffs muß vermutet werden, daß ein analoger Begriff des "Rechts der sozialen Sicherheit" enger wäre. Die sozialstaatliche Aufgabe der Sozialpolitik ist weiter, als soziale Sicherheit sein kann. Sozialpolitik kann und muß mehr tun als soziale Sicherheit herstellen. Das legt auch für die pragmatische Begriffsbildung nahe, daß "Recht der sozialen Sicherheit" immer enger zu fassen als das "Sozialrecht". Schon sprachlich wäre es verwirrend, den spezielleren Namen für das weitere Phänomen zu verwenden. Gleichwohl entspricht es der Eigenart der pragmatischen Begriffsbildung, daß im Einzelfall unter bestimmten Zwecksetzungen und von bestimmten Standpunkten her ein Begriff des "Rechts der sozialen Sicherheit" weiter sein kann als ein "Sozialrechts"-Begriff. Die Arbeiten der Projektgruppe freilich
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setzen gerade bei der konkreten Abgrenzung voraus, daß "Recht der sozialen Sicherheit" enger ist als "Sozialrecht". c) Noch einmal: Die Notwendigkeit, offen zu sein
Diese Überlegungen rechtfertigen und bestätigen die Vorsicht, Sozialrechtsvergleichung nicht aufgrund eines definitorisch geschlossenen Sozialrechtsbegriffs zu betreiben. Definitorische Geschlossenheit könnte nur von einem pragmatischen Sozialrechtsbegriff erwartet werden. Gerade ein pragmatischer Sozialrechtsbegriff ist aber durch seine teleologische und objektive Konkretheit ungeeignet, die Verschiedenheiten zwischen nationalen Rechtsordnungen zu überbrücken. Im Gegenteil: So wie Rechtsvergleichung immer ein Zurücktreten hinter die positivrechtliche Regelung erfordert, um vom Sprachproblem, von der Ordnungsnachfrage her an die zu vergleichenden Rechte heranzutreten, so erfordert Sozialrechtsvergleichung auch ein Zurücktreten hinter den pragmatisch gewillkürten Sozialrechtsbegriff, um vom gemeinsamen Problem des Sozialrechts, der sozialpolitischen Herausforderung an das Recht her an die verschiedenen nationalen Rechtsordnungen heranzutreten. Ergänzend ist darauf hinzuweisen, daß die Aufgabe der Projektgruppe nicht nur die Sozialrechtsvergleichung, sondern auch das internationale Sozialrecht ist. Auch die Frage nach dem internationalen Sozialrecht kann nicht von einem konkreten nationalen Sozialrechtsbegriff her gestellt werden; und sie darf sich nicht auf den gewillkürt abgegrenzten Bereich eines pragmatischen internationalen Sozialrechtsbegriffs beschränken. 11. Das Colloquium 1. Der Grundgedanke der Colloquien
Wie schon oben bemerkt, ist der konkret-exemplarische Ansatz der Arbeit der Projektgruppe von vorneherein in einen dialektischen Zusammenhang mit der Frage nach allgemeinen Prinzipien des internationalen und vergleichenden Sozialrechts und der Forschungsarbeit auf diesem Felde gestellt. Es bot sich an, gleichsam kontrapunktisch zur Kontinuität der konkret-exemplarischen Arbeit den prinzipielleren, allgemeineren Fragen in der Konzentration eines Colloquiums nachzugehen. Deshalb gehört zum "Projekt" von vorneherein das Vorhaben, jährlich ein Colloquium zu veranstalten. Freilich ist nicht nur die Dialektik von konkret-exemplarischer und prinzipieller Fragestellung maßgeblich für dieses Vorhaben gewesen. Vielmehr dienen die Colloquien
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auch der Öffnung der Projektgruppe auf einen größeren Kreis hin. Die Möglichkeit, daß die Mitglieder der Projektgruppe im Rahmen eines Colloquiums einem größeren Kreis von Experten begegnen, stellt einen gewissen Ausgleich gegenüber der Kleinheit der Projektgruppe dar. Die Colloquien dienen so der Innovation und der Selbstkontrolle der Projektgruppe. Schließlich aber ist es für die Projektgruppe auch nötig, "externe" Experten an ihren Arbeiten zu interessieren. Und auch darin liegt einer der Zwecke der Colloquien. Um alle diese Zwecke zum Tragen zu bringen, erschien es notwendig, das Colloquium geschlossen zu halten: es auf einen Gesprächskreis zu erstrecken, der groß genug ist, um der Projektgruppe hinreichend Sachkunde und Kontrolle, vor allem ein Spektrum verschiedener Standpunkte und Erfahrungen zuzuführen, der aber noch klein genug ist, um wirkliche Begegnung und Austausch zwischen allen Teilnehmern zu gewährleisten. Vermieden werden sollte auch die Fluktuation der Teilnehmer, um so dem Samen wechselseitiger Gesprächsbereitschaft eine hinreichende Chance zu geben, im Verlauf des Colloquiums aufzugehen. Das erste der geplanten Colloquien, über das hier berichtet wird, hat so in einem Kreis von 30 Teilnehmern vom 6. bis 9. Juli 1976 im Rahmen der Akademie für Politische Bildung in Tutzing stattgefunden. Allen Teilnehmern sei an dieser Stelle für die Kontinuität ihrer Teilnahme und ihre aktive und passive Gesprächsbereitschaft gedankt, welche die Konzeption des Colloquiums in einem Maße verwirklichte, das kaum erhofft werden konnte. Gedankt sei an dieser Stelle auch der Akademie für Politische Bildung in Tutzing, die dem Colloquium einen ausgezeichneten äußeren Rahmen gab. 2. Die konkrete Sachkonzeption des Colloquiums
Unter den allgemeinen und prinzipiellen Fragen, die sich als dialektisches Gegenstück zu dem konkret-exemplarischen Ansatz denken ließen, erwies sich von vorneherein die Frage nach den Methoden des Sozialrechtsvergleichs als besonders wichtig. Was übrigens zunächst nur eine Arbeitshypothese des Leiters der Projektgruppe war, bestätigte sich, als im Frühjahr 1976 die wissenschaftlichen Mitarbeiter der Projektgruppe ans Werk gingen. Fragen der Methode drängten sich zunächst in den Vordergrund der Diskussionen. Der Frage nach einer Methode der Sozialrechtsvergleichung nachzugehen, schien nun von zwei grundsätzlich verschiedenen Positionen her möglich. Die eine Position wäre die gewesen, nach den bewährten Methoden geübter Rechtsvergleichung vor allem des Privatrechts, des 2 Sozialrechtsvergleich
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Verfassungs- und Verwaltungsrechts und des Strafrechts zu fragen. Die andere Position ist die, das vorhandene Potential praktizierter spezieller Sozialrechtsvergleichung zu nutzen. Die Frage nach den Kenntnissen und Erfahrungen entwickelter Zweige der Rechtsvergleichung versprach, als Prinzip eines Colloquiums, mehr Ertrag für grundsätzliche Einsichten in die Rechtsvergleichung, aber geringere Hilfe, um die konkreten Probleme der sozialrechtsvergleichenden Arbeit zu meistern. Die zweite Frage nach den vorliegenden speziellen rechtsvergleichenden Erfahrungen, als Prinzip eines Colloquiums zugrunde gelegt, implizierte das Risiko einer größeren Distanz zu allgemeinen Einsichten rechtsvergleichender Methode, versprach aber um so mehr verläßliche Auskünfte über den Bestand an sozial rechts vergleichender Erfahrung und Methode und Impulse für die konkreten Arbeiten der Projektgruppe. Bei der Auswahl zwischen diesen beiden Standpunkten wurden u. a. noch folgende Erwägungen berücksichtigt. Zunächst einmal schien der Vorrat an allgemeiner rechtsvergleichender Methode literarisch leichter zugängig als der Vorrat an speziell sozialrechtsvergleichender Methode. Für den Nachholbedarf hier war also ein Colloquium wichtiger als für den Informationsbedarf dort. Ferner erschien es als ein mögliches Korrektiv für den relativ uneinheitlichen sozialrechtlichen und sozialrechtsvergleichenden Erfahrungsstand der Mitglieder der jungen Projektgruppe, speziell im sozialrechtlichen Gegenstandsbereich lernen und fragen zu können. Wie nun der Kreis der Referenten und Referate zusammengesetzt war, ist aus der Liste der Themen und Referenten unschwer ersichtlich. Jedoch muß erwähnt werden, daß nicht nur die Standpunkte und Erfahrungen der Referenten eingebracht werden sollten, daß vielmehr gerade auch die zusätzlich eingeladenen Gesprächsteilnehmer eine Ergänzung darstellen sollten. Von ihnen wurde erwartet, daß sie andere Bereiche der Rechtsvergleichung, verschiedene sozialwissenschaftliche Disziplinen und Erfahrungen, internationale sozialpolitische Organisationen und internationale Sozialarbeit repräsentieren. So hatte fast jeder Gesprächsteilnehmer - außer den Mitgliedern der Projektgruppe - eine nur ihm eigentümliche Kompetenz. Am Rande muß freilich erwähnt werden, daß einige weitere Einladungen aus verschiedenen Gründen der Verhinderung nicht angenommen werden konnten. Eine besondere Aufgabe im Rahmen des Colloquiums hat Dr. Reinhard Wieczorek, Richter am Arbeitsgericht München, übernommen. Er hat alle Diskussionen geleitet. Dabei hat er nicht nur in einem technischen Sinn die Arbeiten des Colloquiums gefördert, sondern auch in der Sache Wesentliches beigetragen. Diese Einleitung ist nicht der Ort, ein Ergebnis zu resumieren. Zu den Erfolgen des Colloquiums zählt, daß die Projektgruppe über die Pro-
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Einleitung
bleme sozial rechts vergleichender Arbeit weitaus Differenzierteres und Konkreteres weiß als vorher. Zu den Erfolgen zählt weiter, daß die Projektgruppe ein wesentliches Stück vorangekommen ist in dem Bemühen nach einer Bestandsaufnahme dessen, was an Methoden der Sozialrechtsvergleichung bekannt ist, oder jedenfalls praktiziert wird. Die Fülle der Informationen und Anregungen, die das Colloquium darüber hinaus für sozial rechtliche und rechtsvergleichende Arbeit hoffentlich nicht nur bei den Mitgliedern der Projektgruppe, sondern bei allen Teilnehmern hinterlassen hat, darf hoch veranschlagt werden. Auf der anderen Seite der Bilanz steht freilich, daß zu den Annahmen, die durch das Colloquium veranlaßt oder bestätigt wurden, nach wie vor ein Defizit an methodischen Zugängen und Hilfen zur sozialrechtsvergleichenden Arbeit zählt. In nicht unerheblichem Maße ist das Ergebnis des Colloquiums für die Projektgruppe eine Art "Negativtest". Aber auch das hilft der Projektgruppe und damit der Erfüllung der Aufgabe, die ihr gestellt ist. III. Dieser Band Dieser Band soll Auskunft geben über dieses Colloquium. Um die Probleme, die der Projektgruppe vor Augen standen und stehen und mit denen sie an das Colloquium herangetreten ist, darzustellen, ist es aber auch notwendig, die Überlegungen mitzuteilen, die der Autor dieser Zeilen den Teilnehmern des Colloquiums als "Vorfragen zu den Methoden der Sozialrechtsvergleichung" unterbreitet hat. Als optimaler Weg, neben den Referaten auch den Inhalt der Diskussion für den Leser zu erschließen, erschien eine sachliche Zusammenfassung der Diskussionen zu den einzelnen Referaten. Die Aufgabe, die Diskussionsberichte zu verfassen, haben die hauptamtlichen wissenschaftlichen Mitarbeiter der Projektgruppe untereinander aufgeteilt. Die Gesamtredaktion hat Dr. Bernd Schulte, Mitarbeiter der Projektgruppe, übernommen, dem hierfür ganz besonders gedankt sei. Hans F. Zacher
ZWEITER TEIL
Vorbereitende Ausarbeitung Vorfragen zu den Methoden der Sozialrechtsvergleicbung Von Hans F. Zacher
VORBEMERKUNG Sozialrechtsvergleichung wurde bisher zwar schon praktiziert, aber kaum grundlegend, insbesondere methodisch reflektiert. Die folgenden Erwägungen sind ein erster Versuch, die sich stellenden Probleme zu skizzieren. Im Hinblick auf die AufgabensteIlung der Projektgruppe haben sie auf kurze und mittlere Sicht die Bedeutung, die Kooperation der konkreten Arbeiten in der Projektgruppe allgemein-theoretisch zu ergänzen. Sie sollen insbesondere die Durchführung der konkreten Arbeiten erleichtern, verbessern und koordinieren. Zugleich sind sie der Bewährung, durch den Erweis der Tauglichkeit im Rahmen der konkreten Arbeiten ausgesetzt. Das kann zu ihrer Entwicklung führen, möglicherweise aber auch ganz oder teilweise zu ihrer Falsifikation. Jedenfalls sollen die konkreten Arbeiten der Projektgruppe von vornherein in Auseinandersetzung mit möglichen Vorstellungen einer allgemeinen Theorie der Sozialrechtsvergleichung erfolgen, so wie die Möglichkeit der Entwicklung einer solchen allgemeinen Theorie in der Auseinandersetzung mit konkreten AufgabensteIlungen erfolgen soll. Jedoch kann, um Mißverständnisse zu vermeiden, der hypothetische, provisorische und vor allem auch fragmentarische, weitgehend nur programmatische Charakter aller dieser Überlegungen nicht genügend betont werden.
Hans F. Zacher
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A. ALLGEMEINE AUSGANGSPUNKTE
I. Zum Rechtsvergleich 1. Allgemeine Zwecke des Rechtsvergleichs
Rechtsvergleich dient dem besseren Erfassen, Verstehen und Bewerten von Recht!. Das Aufsuchen vergleichbarer Probleme und Problemlösungen in verschiedenen Rechtsordnungen läßt im Sinne einer "Differentialdiagnose" sowohl die Eigenart der jeweiligen Lösung als auch insgesamt die Strukturen des Problems und der Regelung schärfer und reicher hervortreten. Das ergibt einen größeren Vorrat an vorrechtlichen und rechtlichen Erwägungen zur Zielsetzung, Gestaltung und Bewertung des jeweils eigenen Rechts. Der entsprechende Dienst kann im Austausch auch dem fremden Recht geleistet werden. In diesem Zusammenhang versteht sich der Rechtsvergleicher oft als "Importeur" oder - seltener - als "Exporteur" der "besseren" Lösung. Jedoch ist die Gefahr, daß dabei das Werturteil" besser" ein Vorurteil sein kann, groß. Die Hilfe, die Rechtsvergleichung für das bessere Erfassen, Verstehen und Bewerten von Recht leisten kann, kann sich rechtspoLitisch (gesetzgeberisch), aber auch rechtsdogmatisch (insbesondere in Bezug auf die Systembildung) sowie rechtsanwendend und exegetisch (vor allem weil Konkretisierung von Recht immer auch Rechtspolitik sein kann) auswirken. Vielleicht ist es nützlich, den hier vertretenen Standpunkt noch in folgender Richtung zu verdeutlichen. In einzelnen Disziplinen der Rechtsvergleichung finden sich der rechtspolitische Zweck der Rechtsvergleichung (die Hilfe für den Gesetzgeber, der auf der Suche nach der besten, adäquatesten oder auch nur politisch "verkäuflichsten" Lösung ist) oder auch der rechtsanwendende Bezug der Rechtsvergleichung (z. B. die Hilfe für den Richter, der seine Entscheidung unter Berücksichtigung ausländischer Erfahrungen und Problemlösungen trifft) mitunter isoliert hervorgehoben. Dazu werden andere Zwecke genannt, wie die Findung und Gestaltung von Völkerrecht oder die internationale Rechtsvereinheitlichung. Diese "Nützlichkeiten" der Rechtsvergleichung sollen hier nicht in Abrede gestellt werden. Jedoch muß klargestellt werden, daß sie den ersten und allgemeinsten Zweck der Rechtsvergleichung, das bessere Erfassen, Verstehen und Bewerten von Recht - oder anders ausgedrückt - das reichere und differenziertere Wissen über Probleme und Lösungen, voraussetzen. Die Frage, ob es die 1
Siehe auch zu Anm. 28 und 39.
Vorfragen zu den Methoden des Sozialrechtsvergleichs
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aufgezeigten "Nützlichkeiten" der Rechtsvergleichung sind, welche die Verfolgung jenes ersten und allgemeinen Zwecks der Rechtsvergleichung rechtfertigen, oder ob dieser seine Rechtfertigung unabhängig von jenen finalen "Nützlichkeiten" in sich trägt, mag hier offen bleiben. (Der Verfasser glaubt letzteres.) Wesentlich aber ist, daß die besagten "Nützlichkeiten" der Rechtsvergleichung die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen können, wenn sie nicht unter Vermittlung allgemeiner Verbesserung, Anreicherung und Differenzierung, der Problem- und Lösungserfahrung verfolgt werden. Das bessere Erfassen, Verstehen und Bewerten von Recht "an sich" ist der allein verläßliche Rahmen, in dem sich dann der rechtsvergleichende Teilvorgang der Hereinnahme verschiedener nationaler Meinungen und Problemlösungen in generelle oder konkrete nationale oder internationale Rechtsgewinnungsvorgänge vollziehen kann. Wo dieser "Filter" fehlt, wo also nationale Lösungen isoliert wahrgenommen und bewertet werden, droht die Gefahr von Kurzschlüssen. Andererseits freilich sind die praktischen "Nützlichkeiten" der Rechtsvergleichung nicht nur eine Rechtfertigung und Bewährung allgemeiner rechtsvergleichender Arbeit, sondern auch ein Stimulanz für sie und schließlich eine Erfolgskontrolle. Im übrigen hängt das Verhältnis zwischen dem ersten und allgemeinen Zweck der Rechtsvergleichung - dem besseren Erfassen, Verstehen und Bewerten von Recht - und der konkreten, "importierenden" Nachfrage nach jeweils anderen nationalen Lösungen auch vom technischen und theoretischen Stand einer Rechtsordnung ab. Eine wenig entwickelte und auch theoretisch wenig kritisch relativierte Rechtsordnung, die sich akuten Regelungsbedürfnissen gegenübersieht, muß u. U. ihren Innovationsbedarf mit "Rechtsimporten" befriedigen, ohne die Entwicklung allgemeiner, selbstzweckhafter Rechtsvergleichung abwarten zu können. Darin liegt ebenso eine Erklärung für den Wandel in der Rechtfertigung der Rechtsvergleichung, der sich im Lauf der Zeit in den entwickelten Ländern vollzogen hat, wie auch ein Hinweis auf die besondere Bedeutung, die Rechtsvergleichung derzeit für Entwicklungsländer haben kann. Gleichwohl wird damit das, was über das Verhältnis des allgemeinen Zwecks der Rechtsvergleichung zu ihren "Nützlichkeiten" gesagt wurde, nicht falsch. Zielt Rechtsverlgeichung auf reichere und differenziertere Problem- und Lösungskenntnis, so ist damit aber auch die Dialektik zwischen vorrechtlicher und rechtlicher Problemfindung, -formulierung und -lösung angesprochen 2 • Soziale Probleme, (etwa im politischen Feld, in der öffentlichen Meinung usw. artikuliert) tendieren auf rechtliche Lösungen, weil das Recht zu den hervorragenden Instrumenten, soziale Probleme zu lösen, gehört. Des2
Siehe auch zu Anm. 14, 15 und 17.
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gleichen können aus rechtlichen Regelungen soziale Probleme abgelesen werden. Das Recht konstituiert aber auch dort soziale Probleme, wo sie ohne einschlägige rechtliche Gestaltung nicht oder wesentlich anders bestünden; und es erinnert an Probleme, deren rechtlicher Reflex die soziale Provokation überdauert hat. Daraus ergibt sich, daß Rechtsvergleichung auch einen Ertrag für die sozialwissenschaftliche Erörterung von Problemen erbringen kann. Auf die Notwendigkeit vorrechtlicher Problemformulierung durch Sozialwissenschaften (oder quasi-sozialwissenschaftliche Hypothesen) eventuell auch mit Hilfe anderer Sachwissenschaften wird demgegenüber später noch zurückzukommen sein3 • 2. Zusätzliche Bezugsebenen: Rechtsbegegnung, internationales und supranationales Recht - horizontaler und vertikaler Rechtsvergleich4
a) Rechtsvergleichung leistet einen Beitrag zur Konfliktlösung bei der Begegnung (im Konflikt) nationaler Rechte (insbesondere im Bereich der Kollisionsnormen jeweils nationaler Provenienz wie z. B. der Normen des Internationalen Privatrechts oder "Internationalen" Sozialversicherungsrechts). Anwendung von Kollisionsrecht ist in gewisser Hinsicht immer Rechtsvergleichung. Und Entwicklung und Anwendung von Kollisionsnormen muß mehr oder minder Erträge für die Rechtsvergleichung abwerfen. Ähnliches gilt für das Fremdenrecht. Die Tragweite von - neu zu setzendem oder konkret anzuwendendem - fremden Recht (z. B. Aufenthaltsrecht oder Auslieferungsrecht) kann weitgehend nur durch Rechtsvergleichung ermittelt werden. b) Auch internationale Standardisierung von Recht setzt Rechtsvergleichung voraus, andernfalls geht sie das Risiko der Unverträglichkeit mit den betroffenen nationalen Rechten ein. Insbesondere ist die Kontrolle der Einhaltung internationaler Rechtsstandards mit dem Problem verbunden, daß ein gleichartiger Regelungsanschein einer unterschiedlichen Regelungswirklichkeit entspricht, während ein unterschiedlicher Regelungsanschein einer gleichartigen Regelungswirklichkeit entsprechen kann. Dies ist nur ein Beispiel dafür, daß die Anwendung internationaler Rechtsnormen, die sich auf Inhalte nationalen Rechts beziehen (z. B. im Urheberrecht und im gewerblichen Rechtsschutz), Rechtsvergleichung voraussetzt und Erträge für die Rechtsvergleichung abwerfen kann. 3 4
Siehe auch zu Anm. 18 und 28. Siehe auch zu Anm. 6, 12, 16, 33, 36, 38.
Vorfragen zu den Methoden des Sozialrechtsvergleichs
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c) In besonderer Weise gilt das zu a) und b) Gesagte, wenn internationale Standardisierung und Begegnung nationaler Rechtsordnungen sich verbinden. Das ist etwa der Fall, wenn kollisions- oder fremdenrechtliche Normen international vereinbart werden. Dabei ist es für die Reichweite der Rechtsvergleichung naturgemäß von Bedeutung, ob es sich um bilaterale oder multilaterale Instrumente handelt. d) In eng verwandter, gleichwohl aber besonders differenzierter Weise tritt diese Problematik in der Konkurrenz und im Konflikt von nationalem und supranationalem Recht zutage. Besonders zu erwähnen ist dabei der Bereich der supranationalen Harmonisierung, dessen Ähnlichkeiten zur internationalen Standardisierung nationalen Rechts ebenso groß erscheinen wie die Unterschiede hierzu. e) Auf sehr vereinfachende (und deshalb gefährliche Weise) kann die zu b), c) und d) skizzierte Problematik so ausgedrückt werden, daß horizontale Rechtsvergleichung (zwischen nationalen Rechtsordnungen) und vertikale Rechtsvergleichung (zwischen internationalem/supranationalem Recht und nationalem Recht) einander ergänzen. Für weitere Untersuchungen vorzumerken ist, daß das Gegensatzpaar von horizontaler und vertikaler Rechtsvergleichung überlagert wird von einem anderen Gegensatzpaar, das grob hier so umschrieben werden soll: "Regelungsrecht" versus "Programmrecht" . Gemeint ist mit "Regelungsrecht" alles Recht, das Lebensverhältnisse unmittelbar regelt, mit "Programmrecht" dagegen Recht, das seinerseits "Regelungsrecht" steuert (anregt, begrenzt). Im nationalen Recht findet sich dieses Spannungsverhältnis häufig zwischen Verfassungsrecht (als "Programmrecht") und einfachem Gesetzesrecht (als "Regelungsrecht"). Im nationalen Recht der Bundesrepublik Deutschland kommt "Programmrecht" vor allem auch im Bundesrahmenrecht vor. Supranationales Recht kennt typisches "Programmrecht" in den Richtlinien und Empfehlungen. Internationale Konventionen - wie etwa die Übereinkommen der internationalen Arbeitsorganisation und des Europarates - sind weitgehend "Programmrecht". "Programmrecht" und "Regelungsrecht" miteinander zu vergleichen, ist etwas anderes als "Regelungsrecht" mit "Regelungsrecht" zu vergleichen. Insofern besteht die Möglichkeit, daß durch dieses Vergleichs- und Gegensatzpaar der Gegensatz zwischen horizontaler und vertikaler Rechtsvergleichung relativiert wird. Die Eigentümlichkeiten des supranationalen Rechts bedürfen im übrigen besonderer Erörterung und Berücksichtigung. Darauf kann hier nur hingewiesen werden.
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3. Rechtsvergleich und Auslandsrechtskunde
Schon in diesem Zusammenhang stellt sich vielleicht auch die Frage nach dem Verhältnis zwischen Auslandsrechtskunde und Rechtsvergleich. Auslandsrechtskunde ist janusköpfig. Einerseits ist sie Auslandskunde. Für den Rechtsvergleich andererseits ist sie Voraussetzung oder Ergebnis. Im Regelfall des Rechtsvergleichs, der einzelne Institute, Normen, Regelungskomplexe usw. vergleicht, ist Auslandsrechtskunde eine Hilfe zum Auffinden und Verstehen des zu vergleichenden ausländischen Rechts (Auslandsrechtskunde als Voraussetzung des Rechtsvergleichs). Je weiter Rechtsvergleich zum Gesamtrechtsvergleich ausgreift, desto mehr nähern Auslandsrechtskunde und Rechtsvergleich sich einander (Auslandsrechtskunde als Ziel und endliches Ergebnis des Rechtsvergleichs). Methodisch ist Auslandsrechtskunde vermutlich in einem - mitunter nicht wahrgenommenen oder wahrnehmbaren - Mindestmaß immer auch Rechtsvergleich. Auslandskunde heißt ja, die ausländischen Verhältnisse von einem anderen als dem dem erschlossenen Land eigenen nationalen Standort her faßbar und verständlich werden zu lassen. Auslandsrechtskunde heißt daher auch, Zugänge zum ausländischen Recht so zu erschließen, daß es von außen her erfaßt und verstanden werden kann. In dem Maße, in dem sich Auslandsrechtskunde an Adressaten eines gemeinsamen nationalen Standortes wendet, bedeutet das schließlich, ihnen den Zugang zum ausländischen Recht vom eigenen Recht her zu ermöglichen. Als Beispiel möge dienen, daß eine Vorlesung "Einführung in das französische Recht" für deutsche Studenten zweckgerecht anders gehalten werden müßte, als etwa für sowjetrussische Studenten. Jedenfalls wird hier die Verwandtschaft zum RechtsvergIeich sichtbar, die im Kern aber schon in jedem Versuch liegt, eine Rechtsordnung nicht nur in sich, sondern "nach außen" darzustellen und zu erklären. Eine besondere Verbindung zwischen Auslandsrechtskunde und Rechtsvergleich bildet der Makrovergleich: die Grobordnung ausländischer Rechte durch Zuordnung zu Rechtsjamilien (nach Geschichte, Stilelementen oder dg1. 5 • Sie hilft der Auslandsrechtskunde durch Vororientierung (wie etwa der Auslandskunde sonst durch Grobeinteilungen in tropische und subtropische Länder, in industrielle und vorindustrielle Länder oder dgl. geholfen wird). Und sie hilft dem Mikrorechtsvergleich durch die Verweisung auf mögliche Sinnzusammenhänge, Analogien mit schon erschlossenen Rechten usw. Somit tritt neben den Austausch "Auslandsrechtskunde - konkreter Rechtsvergleich" der 5
Siehe auch zu Anm. 9, 30 und 31.
Vortragen zu den Methoden des Sozialrechtsvergleichs multiple Austausch "Auslandsrechtskunde landsrechten - konkreter Rechtsvergleich ".
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Grobordnung von Aus-
Im einzelnen ist hinsichtlich der Abgrenzung zwischen Auslandsrechtskunde, Rechtsvergleich und Anwendung ausländischen Rechts manches unklar. Verweist z. B. eine Norm des deutschen internationalen Privatrechts auf britisches Recht, so mag von dem einen oder anderen Verständnis her der Vorgang des Aussuchens und Anwendens britischen Rechts ganz oder teilweise als Auslandsrechtskunde oder Rechtsvergleichung oder als keines von beiden, nämlich schlicht als Anwendung ausländischen Rechts qualifiziert werden. Das kann und braucht hier nicht vertieft zu werden. Der unbestrittene Bereich der Auslandsrechtskunde ist die Information über ausländisches Recht. Darauf beruhen die vorstehenden Überlegungen.
11. Generelle Eigenarten des Sozialrechtsvergleichs 1. Sozialrecht, Gleichheit und Freiheit: internationale
und supranationale Angleichung
a) Zu den wichtigsten Impulsen des Sozialrechtsvergleichs (bisher weitgehend in einem vorwissenschaftlichen und sozialpolitischen Sinn) zählt der elementare Gleichheits- und Gerechtigkeitsbezug des Sozialrechts. Zielt Sozialrecht darauf, Ungleichheiten abzubauen, so gilt das sowohl als national-interne Tendenz als auch für die internationalen Ungleichheiten. Der Gleichheits- und Gerechtigkeitsbezug des Sozialrechts drängt so etwa dazu, daß "bessere" ausländische Regelungen zu einem sozialrechtspolitischen Argument im Inland werden. Andererseits besteht ein Bedürfnis, die jeweils als "besser" ("fortschrittlicher") geltenden Sozialrechtsordnungen auf die jeweils "schlechteren" Länder auszubreiten. Der Sozialrechtsvergleich ist deshalb auch in besonderer Weise in Versuchung und Verdacht des "Imports" und des "Exports". Das Sozialrecht ist wegen seiner internationalen Gleichheitstendenz in besonderem Maße ein klassisches Feld multilateraler internationaler Konventionen (insbesondere die Tradition der ILO; auch die starke soziale Aktivität des Europarates; immer vielfältiger auch die Vereinten Nationen). Auch im supranationalen Rahmen ist ohne ein Mindestmaß sozialer Gleichheit nicht auszukommen. Jedoch ist es hier besonders schwierig, zwischen einer Angleichung mit dem unmittelbaren Ziel sozialer Gleichheit, einer Justierung der ökonomischen Bedingungen und einer Standardisierung im Interesse der Freizügigkeit zu unterscheiden.
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b) Sozialrecht bestimmt die Befindlichkeit des Menschen in seiner nationalen Rechts- und Sozialgemeinschaft - häufig mehr als etwa Privatrecht und Strafrecht, zumindest aber ebenbürtig mit diesen. Die Herstellung einheitlicher Lebensräume (Europa, Europäische Gemeinschaften, Bundesstaaten usw.) ist ohne die Angleichung der sozialrechtlichen Bedingungen des Lebens nicht mehr denkbar. Und die Entwicklung des europäischen Wirtschaftsraumes hat gezeigt, daß die Vereinheitlichung von Wirtschaftsräumen die Harmonisierung des Sozialrechts unter "Zugzwang" setzen kann. Insbesondere Möglichkeit, Wirkung und Bewertung des dauernden oder vorübergehenden Wechsels der nationalen Lebensgemeinschaft (auch schon i. S. der territorialen Grenzüberschreitung, des Wechsels des Aufenthaltsortes oder des Wohnsitzes usw.) hängen weitgehend davon ab, wie offen die nationalen Sozialrechtsordnungen für den Wechsel sind oder welche Hemmnisse sie diesem Wechsel entgegensetzen. So wird etwa die Realität des Grundrechts der Freizügigkeit von seiner sozialrechtlichen Ambiance wesentlich bestimmt. Und der Abbau sozialrechtlicher Hemmnisse für den Fall der Grenzüberschreitung, der temporären Wanderung oder der dauernden Ein- oder Auswanderung wird zu einem Prüfstein der Integration zwischen- und überstaatlicher Einheiten. Hierin steckt etwa der Hauptzweck der harmonisierenden, standardisierenden und sonstwie vereinheitlichenden und angleichenden Aktivitäten der Europäischen Gemeinschaften auf dem Gebiet des Sozialrechts. Hierin ist auch ein wesentlicher Zweck der sozialrechtlichen Aktivitäten des Europarats - in Richtung auf eine soziale Einheit Europa - zu sehen. c) Alles in allem sind so auf dem Gebiet des Sozialrechtsvergleichs die Bezugsebenen des (bi- und multilateralen) internationalen und des supranationalen Rechts von besonderer Bedeutung. Zugleich ist zu sehen, daß das Nebeneinander von "horizontalem" und "vertikalem" Rechtsvergleich für den Sozialrechtsvergleich in besonderem Maße typisch ist 6 • 2. Die Relevanz der sozialen Schichtungen
Indem Sozial recht auf soziale Gleichheit zielt, muß es soziale Ungleichheiten aufgreifen. Um eine praktikable Rechtsordnung zu ergeben, muß es dabei weitgehend typisierend verfahren. Somit hat Sozialrecht sozialen Schichtungen zu entsprechen. Es ist insofern nach dem Grad der Adäquanz von Regelungen und Sozialstruktur zu bewerten. 6
Siehe auch zu Anm. 4, 12, 16, 33, 36 und 38.
Vorfragen zu den Methoden des Sozialrechtsvergleichs
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Und es verfestigt, ja konstituiert möglicherweise selbst soziale Schichtungen. Neben diesen bewußten und gezielten Zusammenhängen gibt es auch die unbewußten und nicht gezielten Zusammenhänge zwischen sozialrechtlichen Strukturen und Sozialstrukturen. Sie können die Effektivität des Sozialrechts eingrenzen. Das gilt etwa für Zusammenhänge zwischen Sozialrecht und Information, Sozialrecht und Bildung, Sozialrecht und Beschäftigungsverhältnissen. So kann etwa ein auf Arbeitnehmer und Industriegesellschaft zugeschnittenes Sozialrecht Landwirte, oder ein auf die individualistische (maximal in Kleinfamilien gruppierte) Gesellschaft zugeschnittenes Sozialrecht Menschen in Großgemeinschaften (insbesondere Großfamilien) nicht gleichermaßen erreichen.
Erfassen, Verstehen und Bewerten von Sozialrecht hängt deshalb in relativ hohem Maß von den korrespondierenden und umgebenden Sozialstrukturen ab. Deshalb ist auch das, was meist zu einfach mit "Entwicklungsunterschieden" bezeichnet wird, von besonderer und befruchtender sowie belastender Bedeutung für den Sozialrechtsvergleich. So zielt etwa die "Sprachenfrage als soziale Frage" dahin, inwieweit Sprachdifferenzen sozialer Berücksichtigung bedürfen, inwieweit das Sozialrecht diesen Notwendigkeiten entspricht, und inwieweit es defizitär ist, indem es Sprachdifferenzen vernachlässigt oder gar ihre negativen Wirkungen vertieft. 3. Die stetige Bewegung des Sozialrechts
Sozialrecht ist in den modernen Staaten - weit über den Prozeßcharakter jeden Rechts hinaus - tendenziell stets sich änderndes Recht. Das kommt vom Nachholbedarf der Gleichheit in der (Rechts-)Geschichte. Es kommt von der stetigen Veränderung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse. Es kommt vor allem von der Relativität der Ungleichheit und damit der Unmöglichkeit endgültig befriedigender Gleichheit, die zu immer neuen Korrekturen führt. Es kommt von der potentiellen Unendlichkeit sozialer Forderungen, die immer wieder zu neuen notwendigerweise nur "vorläufigen" Maßnahmen weiterer Erfüllung treibt. Es kommt auch davon, daß in den meisten nationalen Gesellschaften divergierende sozialpolitische Forderungen einander ausschließen, wodurch eine Politik intendiert ist, die Illusion allseitiger Erfüllung durch je partikulare Entsprechungen aufrecht zu erhalten. Und es kommt von der Idee der Herrschaft in einer Weltgesellschaft, die (verbal oder in der Sache) nur als Herrschaft (durch und/oder) für das Volk gerechtfertigt werden kann. Die Rechtfertigung für das Volk
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geschieht durch möglichst spürbare, möglichst wahrnehmbare und subjektiv bewertbare (insbesondere gruppenbezogene), wiederum also tendenziell partikulare sozialpolitische Schritte. Dieses dynamische Wesen des Sozialrechts schließt nicht aus, daß ihm eine "konservative" Grundströmung entgegenwirkt. Sie hat vor allem zwei Gründe. Der eine ist schlicht die Richtigkeit (Adäquanz) von Lösungen. Gewisse sozialpolitische Lösungen können unter den gegebenen Verhältnissen nicht verändert werden, ohne schlechter zu funktionieren oder sich schlechter auszuwirken. Oder in der Gegenrichtung ausgedrückt: gewisse sozialpolitische Lösungen können entweder schlechthin oder unter den gegebenen Verhältnissen nicht weiter verbessert werden. Der andere Grund der "konservativen" Grundströmung ist das Beharrungsvermögen von Besitzständen. Solche Besitzstände ergeben sich z. B. aus subjektiven Erwartungen (z. B. Rentenanwartschaft), nicht minder hartnäckig, aus dem Bestand von Organisationen und Institutionen (wie typisch in der Organisationsstruktur der deutschen Sozialversicherung). Letztlich determinieren die Kräfte der Beharrung aber nur die möglichen Bereiche und Richtungen von Veränderungen, nicht dagegen hemmen sie die Veränderungen an sich. Daß diese permanente Bewegung der nationalen Sozial(rechts)ordnungen Rechtsvergleichung besonders schwierig werden läßt, ist evident. Darauf wird unten - im Hinblick auf den Gedanken des Tendenzvergleichs - zurückzukommen sein7 • Diese permanente Bewegung läßt Rechtsvergleich aber auch besonders notwendig erscheinen. Je differenzierter Sozialrechtsentwicklungen und -strukturen erkannt werden, desto besser ist das gesamte "Arsenal" möglicher Maßnahmen und Änderungen zu erfassen, desto leichter fällt es schließlich, einzelne Maßnahmen zu relativieren und einzuordnen. Verbesserte Problemkenntnis aus dem Rechtsvergleich kann so zu einer - oft unentbehrlichen - Hilfe für die nationale (insbesondere für eine systematische) Theoriebildung werden, die durch ein Übermaß an Änderungen im nationalen Raum außerordentlich erschwert ist. 4. Sozialrecht als junges Recht
Das Sozialrecht, wie es heute existiert, hängt eng mit dem Entstehen einer modernen, industriellen, von der Polarität zwischen Individuum und Kleinfamilie einerseits und Masse und Staat andererseits geprägten Gesellschaft zusammen. Weitgehend überschreitet es die jeweiligen nationalen Rechtstraditionen. Andererseits ist Sozialrecht doch in 7
Siehe auch zu Anm. 8,27,34,37.
Vorfragen zu den Methoden des Sozialrechtsvergleichs
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die nationale Rechtsgeschichte eingebunden: z. B. durch den Bestand an Rechtsinstitutionen, auf die bei der Gestaltung des Sozialrechts zurückgegriffen wurde oder die das Sozialrecht umgeben. Wichtig ist nicht zuletzt der Unterschied in der Rechtstradition zwischen Gesetzesrecht und Richterrecht. Das nimmt der allgemeinen Rechtsgeschichte die Kraft unmittelbarer Bildung von Sozialrechtsfamilien (wie sie für die Privatrechtsvergleichung weitgehend anerkannt ist), ohne die Vernachlässigung der allgemeinen oder der Sozialrechtsgeschichte zu gestatten. Der "lange Atem" der allgemeinen Rechtsgeschichte spielt - anders als etwa in der Privatrechtsgeschichte - eine eher mittelbare (deshalb nicht unwesentliche) Rolle. Dagegen ist die jüngere Rechtsgeschichte auf dem Gebiet des Sozialrechts in aller Regel lebhafter als die etwa im Privat- oder Strafrecht. Mitunter erscheint im Sozialrecht die Entwicklungsdimension als solche leichter wahrnehmbar zu sein als die statische, was im Rechtsvergleich sich in der Neigung zum Entwicklungsvergleich (Tendenzvergleich) zeigt8 • Schließlich aber hat sich gezeigt, daß das Altern von Sozialrechtsordnungen in sich eigene Entwicklungsgesetzlichkeiten (z. B. hinsichtlich der von Systemen sozialer Sicherung erfaßten Personenkreise) zur Geltung bringt. 5. Das Theorie-, insbesondere Systemdefizit des Sozialrechts
Das dogmatische Defizit des Sozialrechts ist weit verbreitet. Es hat verschiedene schon genannte Gründe: insbesondere die "Jugend" des Sozialrechts und seine ständige Bewegtheit. Dazu kommt etwa seine starke politische Aktualität (die sich der Rationalisierung zugunsten der situationsbedingten Artikulierung widersetzt). Diese Zusammenhänge äußern sich auch in der Analogie zwischen dem Systemdefizit der Wissenschaft von der Sozialpolitik, dem Systemdefizit des Sozialrechts sowie in der Parallelität zwischen der Wissenschaftsfeindlichkeit der Sozialpolitik und der Systemschwäche der Wissenschaft von der Sozialpolitik. Das dogmatische Defizit des Sozialrechts ist in bezug auf den Rechtsvergleich ambivalent. Einerseits erschwert es den Sozialrechtsvergleich. Andererseits aber macht es den Zuwachs an Erfahrung möglicher Problem- und Lösungsstrukturen und Entwicklungen, den Rechtsvergleich einbringen kann, besonders wichtig. Diese Ambivalenz gilt für alle drei Zweckelemente des Rechtsvergleichs: Erfassen, Verstehen und Bewerten von Recht. 8
Siehe auch zu Anm. 7, 27, 34, 37.
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Hans F. Zacher 6. Der Rechtsquellensprung
Die Quellenproblematik beim Rechtsvergleich ist, jedenfalls in dem von deutschen Rechtsvergleichern bisher ausgefüllten Rahmen, weitgehend bereichsspezifisch. Im Privatrecht sind die Verhältnisse scheinbar auf die Alternative reduziert: Gesetzesrecht und Richterrecht. Die normative Ausfüllung autonomer Räume (durch Gesellschaftsverträge, Organisationsstatuten, Vertragsmuster usw.) wird dort vielfach als Bereich der "Rechtstatsachen" angesehen, obwohl sich hier zumindest Bewertungsänderungen abzeichnen. Die Strafrechtsvergleichung kann - jedenfalls hinsichtlich der Straftatbestände - vom Primat des Gesetzesrechts ausgehen. Im öffentlichen Recht hat es der Verfassungsvergleich mit "Verfassungen" sehr verschiedener Art zu tun. Im übrigen Vergleich des öffentlichen Rechts, d. h. vor allem im Vergleich des Verwaltungsrechts, stellt sich die Frage, ob dem "materiellen" Vergleich unter Hintanstellung der Natur der Rechtsquellen (Gesetzesrecht, Satzungsrecht, Verordnungsrecht, Verwaltungsvorschriften, Richterrecht und Rechtsgewohnheiten) oder dem "formellen" Vergleich (z. B. nur von Gesetzesrecht) der Vorzug gegeben werden solle. Dem entspricht entfernt etwa die Polarität zwischen maximaler sachlicher Richtigkeit und maximaler formaler Verläßlichkeit. Die Situation im Sozialrecht ist zunächst der verwaltungsrechtlichen verwandt - wobei von vornherein eine besondere Vielfalt an autonomem Recht, an Anstaltsordnungen, von Förderungsrichtlinien, von Regulativen der Mittelvergabe und Bewirtschaftung, von Berufsordnungen, von Ausbildungsrichtlinien und von Instrumenten inneradministrativer Steuerung usw. auffällt. Sie wird aber zusätzlich dadurch kompliziert, daß weitgehend Privatrecht eintritt: Statute von Wohltätigkeitsorganisationen, allgemeine Aufnahme- und Benutzungsbedingungen von Heimen, Krankenhäusern usw., Versicherungsbedingungen, Statute von Gewerkschaften und Berufsverbänden usw. Die Quellensubstanz des Sozialrechts ist also wohl differenzierter und komplexer als in jedem anderen Rechtsgebiet. Und Zäsuren zwischen "Recht" und "Rechtstatsachen" sind sachlich kaum überzeugend. Werden sie dennoch vorgenommen, so kann zudem eine umfassende Ermittlung von Problemlösungen nicht darauf verzichten, "Rechtstatsachen" wie inner-administrative Vorschriften oder interne Normen sozial aktiver Organisationen einzubeziehen. Diese Schwierigkeit ist zu trennen von der anderen und noch zu erörternden, sozialrechtliche Probleme vorrechtlich zu formulieren.
Vorfragen zu den Methoden des Sozialrechtsvergleichs
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Jedoch ist nicht zu verkennen, daß - zusätzlich - diese zweimalige unvermeidliche Polarität von "Recht" und "Nicht-Recht" im Sozialrechtsvergleich zu eigentümlichen Schwierigkeiten führen kann. 7. Die Ermittlung von "Rechtsfamilien"g
Privatrechtsvergleichung bedient sich - insbesondere im Makrovergleich - des Hilfsmittels der "Familienbildung". Sie erleichtert einerseits den Rechtsvergleich, insbesondere das Verstehen von Recht, weil Erfahrungen eines Rechts in verwandten Rechten nutzbar gemacht werden können. Zugleich ist die Familienbildung selbst wieder ein Ergebnis des Rechtsvergleichs. Man könnte - wie schon bemerkt von einem dialektischen Verhältnis zwischen der generellen GruppenZuordnung von Rechtsordnungen und der konkreteren rechtsvergleichenden Arbeit sprechen. Im folgenden sei nur von der spezielleren Problematik sozialrechtlicher "Familienbildung" und "Stilmerkmale" gesprochen. Die Frage, in welchem Maße die "Familien- oder Stilmerkmale" einer Gesamtrechtsordnung auf das Sozialrecht durchschlagen, kann dabei nur durch konkrete Beispiele (z. B. Sozialrecht in Common-Law-Ländern) angesprochen werden. übrigens ist nicht nur denkbar, daß die "Familienund Stilmerkmale" einer Gesamtrechtsordnung das Sozialrecht prägen. Möglich ist auch, daß gerade die Entwicklung des Sozialrechts Eigenarten einer Gesamtrechtsordnung verändert. Daß Sozialrecht weitgehend nur vom Gesetzgeber durch geschriebenes Recht geregelt werden kann, kann z. B. gerade das Verhältnis von Richterrecht und Gesetzesrecht in einem Land verändern. Rechtsvergleichende Familienbildung knüpft zumeist an Traditionen oder an "Stilelernente" an. Unter beiden Aspekten ist nun Familienbildung im Sozialrecht besonders erschwert. Was die Tradition anlangt, schlägt wieder die "Jugend" des Sozialrechts zu Buche; während andererseits gerade die Ambiance der weiteren Rechtsordnung, deren Teil das Sozialrecht ist, durch ihre Tradition das Sozialrecht mitprägt. Immerhin erscheint es nicht ausgeschlossen, gerade innerhalb des modernen Sozialrechts "Familien" von nationalen Sozialrechten zu unterscheiden, die durch gemeinsame historische Vorbilder ausgezeichnet sind. So gibt es sicher so etwas wie "Bismarck-Länder" und "Beveridge-Länder". Doch ist darüber - über Schlagworte oder doch allzu Vereinfachendes hinaus - offenbar nichts Gültiges erforscht. über Stilelemente der Sozialrechtsordnungen findet sich ebenfalls kein Konsens, nicht einmal eine hinreichend umfassende Diskussionsg
Siehe auch zu Anm. 5, 30 und 31.
3 Sozialrechtsvergleich
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erfahrung. Das ist eine Folge der "Jugend" des Sozialrechtsvergleichs selbst. Es hängt aber auch wieder mit dem dogmatischen Defizit des Sozialrechts und dem Systemdefizit der Wissenschaft von der Sozialpolitik zusammen. Als Hypothesen solcher Stilelemente seien skizziert:
höchst vorläufig -
hier
-
der Rahmen der soziaZökonomischen Entwicklung: z. B. Sozial recht unter vorindustriellen, industriellen oder postindustriellen Bedingungen; Sozialrecht für eine nicht urbanisierte, urbanisierte oder teilweise urbanisierte Bevölkerung;
-
der sozialpolitische (vielfacher Differenzierung bedürftige) Rahmen iO : z. B. subsidiäre (primäre) Sozialpolitik (im Sinne von Hilfe gegen Not) und institutionelle (sekundäre) Sozialpolitik (im Sinne von permanenten Vorkehrungen und deren eigengesetzlicher Entwicklung in Richtung auf Egalität, Chancengleichheit, Sicherstellung von sozialen Standards und Sicherstellung der Befriedigung von Bedarfen, Sicherung des Lebensstandards und Wahrung sonstiger Besitzstände versus Bekämpfung von Not oder Herstellung von Gerechtigkeit; einheitliches oder gegliedertes System sozialer Sicherheit; auf Allgemeinheit oder besondere Gruppen zielendes Sozialrecht; Primat der monetären oder der Sach- und Dienstleistungen; Primat der Einkommensleistungen oder der Befriedigung von Sonderbedarfen (medizinische Versorgung, Wohnung, Ausbildung usw.);
-
der Rahmen der Rechtsordnung ll : z. B. Sozialrecht im Gesetzesrecht oder im Richterrecht (common law); Grad der Verrechtlichung der Sozialpolitik durch Vorschriften und/oder gerichtlichen Schutz; subjektive Berechtigung versus "objektive" Ordnung ("objektive" Anordnung und Erbringung von Leistungen);
-
der international- und der supranationalrechtliche Rahmen 12 : z. B. im Sinne einer Familie der EG-Länder, der Europarats-Länder oder der ILO-Länder;
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der Rahmen der Rechtswertell: Priorität von Individuum und Freiheit oder Priorität von Kollektiv und "Gemeinwesen"; Effektivität (Aktualität, Elastizität, Verfügbarkeit) versus Rechtssicherheit; Anerkennung von Rechtsgütern wie individuelle Autonomie, Privatheit, Familie, Vereinigungsfreiheit, gesellschaftliche soziale Aktivität (kollektive Selbsthilfe, altruistische Fremdhilfe) usw.; Entwick10 11 12
Siehe auch zu Anm. 25 und 29. Siehe auch zu Anm. 26 und 32. Siehe auch zu Anm. 4, 6, 16, 33, 36 und 38.
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lung spezifischer Sozialrechtsgüter wie individuell erreichter Lebensstandard oder soziale Sicherheit. -
die Aufgabenverteilung zwischen Staat und Gesellschaft ("Gesellschaft" weitgehend verstanden i. S. von Organisationen wie Wohltätigkeitsverbänden, Gewerkschaften usw.): z. B. Basissicherung beim Staat, Zusatzsicherung bei der Gesellschaft; Vorsorge und Gesundheitsdienst beim Staat, Sozialarbeit bei der Gesellschaft; Ordnung beim Staat, (Initiative und) Realisierung bei der Gesellschaft;
-
die Akzentuierung von Norm, Leistung und Institution ll : z. B. norm(tatbestands- und rechtsfolge-, insbesondere anspruchs-)orientiertes (und also sowohl einer gesellschaftlichen Nachfrage nach normativer Rechtszusage entsprechendes, aber auch Rechtsgehorsam voraussetzendes oder doch erforderndes) Sozialrecht versus leistungsorientiertes (Leistungen ermöglichendes, auf Leistungserbringung vertrauendes) oder an leistungserbringenden Institutionen (Organisationen) orientiertes - "aktionistisches" - Sozialrecht.
Ergänzend kommen weitere der unten skizzierten Zugänge zur Problemformulierung und Verstehens- und Bewertungskategorien als Stilelemente in Betracht. Schließlich wird für eine "Familienbildung" auf eine Kombinatorik verwandter oder doch verträglicher Stilelemente zu achten sein. Insgesamt wird gerade der Frage nach leistungsfähigen Stilelementen und "Sozialrechtsfamilien" große Bedeutung zukommen. 8. Die nicht-juristische Artikulation der sozialrechtlichen Probleme
Schließlich zählt zu den Besonderheiten des Sozialrechtsvergleichs, daß die Sachprobleme des Sozialrechts mehr als in anderen Rechtsbereichen im nicht-juristischen Schrifttum artikuliert sind. Sozialrecht ist dank seiner Bedeutung und seiner Bewegtheit mehr als viele andere Rechtsgebiete "politisches" Recht. Bestehendes und künftiges Recht wird in hohem Maße politisch (sozialpolitisch, sozialrechtspolitisch) diskutiert. Die juristischen Implikationen der Probleme und die juristischen Techniken seiner Lösung spielen dabei im einzelnen eine sehr unterschiedliche Rolle - bis zur völligen Vernachlässigung. Das ist ein wesentlicher Unterschied vor allem zum Privatrechtsvergleich, der lange Zeit von politischem, auch rechtspolitischem Denken wenig wußte und auch wenig wissen mußte. Der Strafrechtsvergleich ist zwar gerade in der letzten Zeit verstärkt in eine kriminalpolitische Ambiance geraten. Jedoch ist, soweit die spezifischen Garan-
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Hans F. Zacher
tien der Legalität und der Rechtssicherheit im Strafrecht Anerkennung finden, doch die Polarität zwischen Rechtspolitik und positivem Strafrecht konstitutiv für die Probleme geblieben. Selbst im Verfassungsvergleich liegen die Probleme um Nuancen anders als im Sozialrecht. Zwar ist Verfassungsrecht genuin politisches Recht. Aber gerade der Kontrast zwischen normativen Verfassungen und "tatsächlichen" Verfassungen nötigt dazu, Recht und Politik auf eigentümliche Weise zu trennen. Sozialpolitik (Sozialrechtspolitik) sieht sich einer - der Situation im Strafrechtsvergleich oder im Verfassungsvergleich ähnlichen - Polarität von "Recht" und "Politik" nicht ausgesetzt. Die Situation wird nun aber weiter gekennzeichnet dadurch, daß das Sozialrecht selbst systematisch-dogmatisch defizitär ist, so daß sich Auskünfte und Zwecke, Maximen, Wertvorstellungen, aber auch Problemdiagnosen selbst und gerade in bezug auf rechtliche Regelungen häufig im (wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen) sozialpolitischen Schrifttum finden. Diese Eigenart der Artikulation der Probleme und Prinzipien findet sich dort intensiviert, wo sich Sozialpolitik primär über Leistungen und Institutionen realisiert. Was in einem norm- und anspruchsorientierten Sozialrechtssystem mehr oder minder doch in der sozialrechtlichen Literatur gesucht werden kann, muß in einem leistungs- und institutionsorientiertem System primär in der Beschreibung der persönlichen Funktionen (z. B. Sozialarbeiter) oder der Institutionen (z. B. Gesundheitsdienst, sodal administration), die die Leistungen erbringen, oder in Handlungsanweisungen für diese Funktionen und Institutionen oder auch in Beiträgen zur Bewertung und Reform solcher Funktionen und Institutionen gesucht werden13 • B. DIE VERGLEICHSBILDUNG
I. Die Notwendigkeit konkreter Problemformulierung 14 Rechtsvergleichung geschieht gemeinhin unter - ausgewiesener oder nicht ausgewiesener, bewußter oder nicht bewußter - Formulierung eines vom positiven Recht der verglichenen Rechtsordnungen ablös13 Zur Terminologie hinsichtlich der verschiedenen in Betracht kommenden sozialen Rollen sei folgendes bemerkt. "Passivrollen" der sozial Bedürftigen und Betreuten und entsprechend Berechtigten wurden als "Positionen" ("Subjektpositionen") bezeichnet (s. zu Anm.20). "Aktivrollen" z. B. von Sozialarbeitern werden als "Funktionen" bezeichnet (s. zu Anm. 21). Für spezifisch und unmittelbar sozial verpflichtete Private (z. B. Arbeitgeber, Vermieter, Unterhaltsverpflichtete) wurde ein besonderer Begriff nicht eingeführt. Aber für den Bezug von Subjekten zum Sozialrecht insgesamt wurde der Sammelbegriff der (subjektiven) Betroffenheit gewählt (s. zu Anm. 22). 14 Siehe auch zu Anm. 2,15 und 17.
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baren, sachlich begrenzten Problems (formuliert auch als: Ordnungsbedürfnis, Rechtsnachfrage, Funktion, Konflikt usw.). Daß Rechtsvergleich eines von der nationalen, positiven Rechtsordnung ablösbaren, aber auch aus der jeweiligen Gesamtrechtsordnung als Teil ausscheidbaren Problems als Bezugspunkt bedarf, sei hier als Annahme zugrunde gelegt. Zu ihrer Erläuterung diene zunächst, daß diese Hypothese jedenfalls durch zwei Gegenvorstellungen nicht falsifiziert wird: nämlich durch die Alternative eines Gesamtrechtsvergleichs und durch die Alternative eines nominalistischen Vergleichs. Sodann wird sich diese Annahme durch die Erwägungen zur sozialrechts-spezifischen Verwirklichung des Konzepts zu bewähren haben. 1. Die Alternative des Gesamtrechtsvergleichs
Ein Gesamtrechtsvergleich würde zunächst voraussetzen, daß das Vorverständnis über die Summe dessen, was Recht ist, gleich oder vergleichbar gemacht ist. Aber selbst dann ist noch nicht gewährleistet, daß die Rechtsinhalte miteinander verglichen werden können. Dazu bedarf es gleicher oder den Vergleich ermöglichender Strukturen. Daß die auch ohne von außen her problematisierende Nachfrage - wahrnehmbaren Rechtsstrukturen solchermaßen gleich sind, daß es einer problemorientierten aufgliedernden Fragestellung an das Recht nicht mehr bedarf, um strukturelle Vergleichselemente zu ermitteln, würde eine Übereinstimmung der verglichenen Rechte voraussetzen, die in der Regel den Rechtsvergleich uninteressant, wenn nicht gegenstandslos machen würde. Ein Gesamtrechtsvergleich ist daher in gewissem Sinne immer nur (auch) als eine Summe von Teilrechtsvergleichen denkbar: als eine Annäherung an einen Gesamtrechtsvergleich durch die dialektische Annäherung einer Summe prinzipieller Vergleiche an eine Summe von konkreten Rechtsvergleichen. Speziell für den Sozialrechtsvergleich ist die Alternative des Gesamtrechtsvergleichs ohnedies unbehelflich. Daß mehrere miteinander verglichene Gesamtrechtsordnungen übereinstimmende Teile als "Sozialrecht" erkennbar und abgrenzbar erscheinen ließen, widerspricht schon jedem Anschein. Bezeichnung und Verständnis von "Sozialrecht" sind extrem problemorientiert und historisch konkret. Der Vollständigkeit halber sei hierzu angemerkt, daß deshalb auch die Idee eines "GesamtSozialrechts"-Vergleichs die konkrete Problemformulierung nicht vermeiden oder ersparen kann, daß sie vielmehr gerade auf die Notwendigkeit der konkreten Problemformulierung des Sozialrechts hinführt.
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Hans F. Zacher 2. Die nominalistische Alternative
Die nominalistische Alternative des Rechtsvergleichs würde darin bestehen, daß gleich (gleichartig) benannte Maßnahmen, Regelungen, Rechtsinstitute usw. untereinander verglichen werden. Dabei kann tatsächliches Geschehen (Ist) oder können Rechtsnormen (Soll) miteinander verglichen werden. Der Vergleich kann sich z. B. bei Leistungen auf die Regelung des Grundes beschränken, oder auch die Höhe einbeziehen oder sich gar auf die Höhe beschränken. Bei Einbezug der Höhe kann wieder zwischen einem extremen Nominalismus (in absoluten Beträgen) und relativen Angaben (Währungsrelationen, Bedarfsrelationen, Beitrags-Leistungs-Relationen usw.) unterschieden werden. Je vordergründiger ein solcher nominalistischer Vergleich ist, desto weniger stellt er Begriffsprobleme. Im Extremfall darf er keine Begriffsprobleme stellen, um nicht durch die Sachunterschiede "hinter" gleichem Namen irritiert zu werden. Wo jedoch vom nominalistischen Prinzip abgewichen wird, stellt sich die Begriffsfrage. Die kategoriale Zusammenfassung gleichartiger Phänomene aus Bereichen mit unterschiedlichen Systemen und Begriffen setzt eigenständige Definitionen und letztlich Systembildung voraus. Schon diese überlegungen zeigen, daß ein nominalistischer Rechtsvergleich nicht nur keine Gewähr bieten kann, daß sachlich kongruente Regelungen verglichen werden, sondern daß sogar eine große Wahrscheinlichkeit besteht, daß sachlich Inkongruentes verglichen wird. Gleichwohl ist es gerade für den Sozialrechtsvergleich notwendig, den nominalistischen Zugang zum Rechtsvergleich sowohl in die Erwägungen als auch in die Praxis einzubeziehen. -
Zunächst einmal ist der nominalistische Rechtsvergleich ein verbreitetes Phänomen des Sozialpolitik- und Sozialrechtsvergleichs (z. B. der Vergleich zwischen Renten in mehreren Ländern, der Vergleich des "Kindergeldes" in mehreren Ländern usw.).
-
Angesichts des Anfangsstadiums des Sozialrechtsvergleichs ist der nominalistische Zugang weitgehend aber auch ein wichtiger Schlüssel, um auf vergleichbare Regelungen vergleichbarer Probleme in mehreren Sozialrechtsordnungen zu stoßen. Wichtig ist in diesem Falle nur, den nominalistischen Ansatz von vorneherein für die sachliche Korrektur offen zu halten (z. B. bei der Aufschließung fremden Rechts unter dem Stichwort "Sozialarbeiter" von vorneherein auf die komplementären Berufe, Funktionen und Institutionen zu achten).
-
Ausgehend von der Hypothese, daß Begriffe wie "Sozialrecht", Recht der "sozialen Sicherheit", "Sozialversicherung", "Sozialhilfe",
Vorfragen zu den Methoden des Sozialrechtsvergleichs
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"soziale Entschädigung" usw. Antworten des Rechts auf im 19. oder 20. Jahrhundert erwachsene oder wesentlich neu beantwortete sozialpolitische Herausforderungen benennen, kann der nominalistische Zugang auch Aufschlüsse über Bestand und Struktur des Sozialrechts und über sein Verhältnis zur jeweiligen Gesamtrechtsordnung geben. 11. Sachproblem und rechtliche Regelung 15 1. Allgemein
Die Ablösung eines Regelungsproblems als Bezugspunkt des Rechtsvergleichs von der jeweiligen positiven Rechtsordnung stellt vor vielfältige, schwierige Fragen des Verhältnisses einer vorrechtlichen Problemformulierung zur positiven rechtlichen Regelung. Damit ein Sozial problem Bezugspunkt eines Rechtsvergleichs sein kann, ist (1) zumindest notwendig, daß es einer rechtlichen Lösung zugängig ist. Die Rechtsorientierung eines Sozial problems kann (2) darüber hinaus in einer gewissen Ordnungsnachfrage (einem Ordnungsbedürfnis) bestehen, mit anderen Worten: Das Sozialproblem kann eine Tendenz zur rechtlichen Lösung aufweisen. Ist (3) eine rechtliche Ordnung gegeben, so wird die Frage nach der Ordnungsmöglichkeit irrelevant. Für den Rechtsvergleich ist zumindest ein Indiz für eine Ordnungsnachfrage gegeben. In der Gegenrichtung, nämlich von einer rechtlichen Regelung her gefragt, indiziert eine rechtliche Regelung im allgemeinen eine Ordnungsnachfrage. Jedenfalls kann eine rechtliche Regelung - wenn sie nicht obsolet ist - ein Sozialproblem ("sozial" hier im weiteren Sinne von "gesellschaftlich") konstituieren. Selbst der Fall, daß ein soziales Problem gar nicht bestünde, wenn es nicht durch eine unnötige, etwa historisch überkommene rechtliche Regelung bedingt wäre, muß in Betracht gezogen werden. Insgesamt läßt sich damit folgende Skala denken: Sozialproblem - Sozialproblem mit Rechtsnachfrage - rechtliche Regelung (als Problemlösung und/oder Problemkonstitution). Der Rechtsvergleich beschränkt sich auf die letzten beiden Elemente. Das Sozialproblem für sich kann allenfalls eine mittelbare Hilfsfunktion beim Aufsuchen von Rechtsnachfrage und Rechtsregelung haben. In diesem Sinne gibt es grundsätzlich folgende gedanklichen und praktischen Zugänge zum Rechtsvergleich: -
Der Weg kann vom Sozialproblem über seine Rechtsnachfrage zur rechtlichen Regelung führen. Und er kann von der rechtlichen Regelung zum Sozialproblem führen. 15
Siehe auch zu Anm. 2,14 und 17.
40
-
Hans F. Zacher Im Rechtsvergleich kann dabei von einem "einheitlichen" vorrechtlichen Sozialproblem mit Regelungsnachfrage her bei den verschiedenen verglichenen Rechten nach der rechtlichen Lösung gefragt werden. Es kann aber auch von der rechtlichen Regelung auf das Sozialproblem geschlossen und seiner Lösung im anderen Recht (in den anderen verglichenen Rechten) nachgefragt werden. (Dieser Weg ist wohl dann eine Sackgasse, wenn eine rechtliche Regelung durch kein Sozialproblem provoziert ist, sondern wenn nur sie ihrerseits ein Sozialproblem konstituiert).
Jedoch vollzieht sich in der Wirklichkeit dieser Prozeß nicht allein in eine Richtung. Wie mancher andere juristische Denkprozeß auch vollzieht er sich im "Hin- und Herschauen". Das gilt sowohl für die bei den Seiten "Recht" und "Sozialproblem" als auch für die verschiedenen Rechtsordnungen. Ob es sich dabei empfiehlt, einen ersten Schwerpunkt in einem nationalen Bereich zu setzen, oder von den gemeinsamen Erfahrungen in mehreren nationalen Bereichen heranzugehen, hängt ebenso von Objekt, Subjekt und Situation der Forschungsarbeit ab, wie die Antwort auf die andere Frage, ob ein "erster Einstieg" im positiven Recht oder in den sozialen Problemen gesucht werden soll. Wie immer die Anfänge genommen werden und die Arbeitsschritte eingeteilt werden: Anfängliche Schwerpunkte sind ebenso notwendig wie das allmähliche, die Problemsicht differenzierende und anreichernde Aufsteigen zu einer vorrechtlichen Problemformulierung, von der her die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der nationalen Regelungen und die spezifischen nationalen Aspekte des Sachproblems erfaßt und verstanden und möglicherweise auch bewertet werden können. Dieses Endziel - einer umfassenden, maximal differenzierten Formulierung des Problems und einer daran orientierten vergleichenden und vergleichbaren Darstellung der positiven rechtlichen Lösungen - muß freilich auch jeden engeren rechtlichen oder vorrechtlichen Ansatz von vornherein mit determinieren. 2. Unter Beteiligung höherrangigen Rechts 18
Die Fähigkeit des Rechts, Sozialprobleme zu konstituieren, erhält für den Rechtsvergleich dort eine neue Qualität, wo übergeordnetes Recht gemeinsamen Sachproblemen für mehrere Rechtsordnungen gemeinsamen normativen Ausdruck gibt. Wie schon eben angedeutet, spaltet sich der Denkvorgang dort, wo übergeordnete Rechtsquellen übereinstimmende Problemlösungen in verschiedenen Rechtsordnungen fordern. Einerseits entsteht die Mög18
Siehe auch zu Anm. 4, 6, 12, 33, 36 und 38.
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lichkeit, das nationale Recht an dem internationalen (supranationalen) Recht zu messen (vertikaler Vergleich). Die Parallelität dieses Vorgangs für mehrere zu vergleichende Rechte beinhaltet für sich ein Mindestmaß an Rechtsvergleich auch zwischen ihnen (also an horizontalem Vergleich). Andererseits besteht nach wie vor die Möglichkeit des Rechtsvergleichs "unmittelbar" zwischen den nationalen Rechten (horizontaler Vergleich). Dann kann jedoch nicht außer Betracht bleiben, daß das gemeinsame Sachproblem vorgeprägt ist durch die Regelung des übernationalen Rechts. Daß angesichts der großen Bedeutung übernationalen Rechts im Sozialrecht dies zumindest quantitativ ein spezifisch sozialrechtsvergleichendes Problem ist, wurde schon betont.
111. Zur Findung und Formulierung des vorrechtlichen Problems: das Heraustreten aus dem Juristischen17 1. Allgemeines zur Aufgabe
Bei aller Bedeutung der rechtlichen Lösung für Bestand und Formulierung eines sozialen Problems darf nicht verkannt werden, daß eine reine "rechtsinterne" Problemkonstellation nicht den Regelfall international vergleichbarer Rechtsprobleme bildet. Das gilt insbesondere für das Sozialrecht als eine Antwort des Rechts auf sozialpolitische Herausforderungen. Somit besteht prinzipiell die Notwendigkeit, die vorrechtliche (wenn auch nicht auf eine rechtliche Lösung zielende) Problematik zu finden und zu formulieren. Das heißt: Es ist zu versuchen, - in einem logisch untechnischen Sinn - den "Schluß" von den rechtlichen Lösungen auf die Sachproblematik zu ziehen oder - je nach den Umständen - auch statt dieses "Schlusses" die Sachproblematik vorrechtlich zu finden und zu formulieren. Daß dabei "Recht" und "Sache" einander nicht isoliert gegenübergestellt werden können, und daß "Recht" und "Sache" in einem Prozeß des Hin- und Herschauens aufeinander zugeführt werden müssen, wurde schon bemerkt. Jedoch ist es notwendig, noch etwas mehr über die besonderen Probleme zu sagen, die mit diesem - je nach dem Standort - Ausgriff auf die "Sache" oder mit dieser "Hereinnahrne" der Sache verbunden sind. Daß dies nicht vollständig geschehen kann, ist offensichtlich. Eine beträchtliche begriffliche Schwierigkeit besteht schon darin, das, was dabei zu geschehen hat, zu benennen. Mit der soziologischen 17
Siehe auch zu Anm. 2, 14 und 15.
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Manier, "Probleme" in "Konflikte" umzubenennen, ist wenig genützt. In der Sache geht es etwa darum, -
soziale (individualmenschliche und gesellschaftliche) Situationen,
-
die Wertungen, die diese Situationen konstituieren,
-
die Sachgesetzlichkeiten, die diesen Situationen vorausliegen, ihnen immanent sind, ihre Entwicklung ebenso determinieren wie ihre Steuerbarkeit,
-
die ihnen entsprechenden subjektiven Betroffenheiten und die involvierten und weitgehend auch konstitutiven Interessen aufzunehmen,
-
ebenso aber die menschlichen, institutionellen, technischen, ökonomischen Potentiale, Prämissen und Wirkungen der Problemlösungen zu erfassen.
Letztlich ist jedes Sozialproblem hinsichtlich seiner Verflochtenheit und seiner Variabilität unendlich. Mit anderen Worten: Die Problemformulierung verlangt bei aller Gewissenhaftigkeit der Rationalisierung und bei allem Vorbehalt der Offenheit für auch noch wichtiges gewillkürtes - wenn auch bedachtes und legitimiertes - Außer-Betracht-Lassen; und sie ist unvermeidlich auch durch unbewußtes Nichtfür-relevant-Halten bestimmt. 2. Eine Alternative: sachstruktureller
und politisch-institutioneller Ansatz
Gerade wegen der potentiellen Unendlichkeit der aufzusuchenden und zu formulierenden Sozialprobleme muß darüber nachgedacht werden, ob sich der Zugriff auf die Vielfalt sozialer Gegebenheiten, Wertungen, Maßnahmen usw. typisieren läßt. In diesem Sinne seien hier zwei Ansätze zur Diskussion gestellt: -
der sachstrukturelle Ansatz, der aus dem Erfahrungsgut sozialpolitischer Problematik von den sozialen Situationen und Zwecken her fragt, z. B. mit der Frage: Was geschieht für Arbeitnehmer (Personengruppen) im Falle der Krankheit (Risiko), um ihnen die nötige Behandlung (Bedarf + Leistungstyp) und Schutz gegen den Einkommensausfall (ebenfalls Bedarf + Leistungstyp) zu sichern? Von wem wird was vorgekehrt und geleistet (Organisationsfrage)? der positives Wollen und Werten aufsuchende (politisch-institutionelle) Ansatz, der primär von Entscheidungen des Gemeinwesens und/oder maßgeblichen oder doch nicht zu übersehenden Meinungen in der Gesellschaft auf Probleme und Lösungsnotwendigkeiten schließt. Dieser Ansatz trägt vor allem der Erkenntnis Rechnung,
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daß es im Sozialrecht wie anderswo die "Natur der Sache" allein aus der "Sache" und den "Wertungen", die an sie herangetragen werden, gleichermaßen konstituiert wird. Einen ersten Zugang zur Problemformulierung von den "Wertungen" her zu nehmen, erscheint deshalb nicht weniger legitim, als die "Sachstrukturen" aufzusuchen. Auch hier geht es jedoch wieder nur um den Akzent des Anfangs. Letztlich sind "Sache" und "soziales Bewußtsein" aufeinander zugeordnet. Und die Problemformulierung muß beides aufnehmen. 3. Zur disziplinären Kompetenz 18
In jedem Falle können Sozialwissenschaften und andere einschlägige Sachwissenschaften hilfreich sein, um das vorrechtliche Problem zu formulieren. Letzteres wird aber eher für den sachstrukturellen Ansatz von Bedeutung sein, als für den bewußtseinsorientierten. Freilich können gerade auch beim bewußtseinsorientierten Ansatz nicht juristische Wissenschaften eine wertvolle Hilfe sein: einerseits, indem sie das gesellschaftliche Bewußtsein ermitteln (Demoskopie, Ermittlung sozialer Indikatoren); andererseits, indem sie das gesellschaftliche Bewußtsein widerspiegeln (wie das vor allem in der Sozialpolitik, in der Politikwissenschaft usw. der Fall sein kann). Die Heranziehung von Sozialund anderen Sachwissenschaften (allgemeine Soziologie, spezielle Soziologien, Politikwissenschaft, Finanzwissenschaft, Ökonomie, Medizin, Psychologie usw.), insbesondere die Heranziehung der Wissenschaft von der Sozialpolitik, gehört zu den entscheidenden Fragen des Sozialrechtsvergleichs. Die einschlägigen Sachwissenschaften helfen zunächst, die Probleme zu sehen. Für eine genauere Aufnahme der Sachproblematik (Situationen, Sachgesetzlichkeiten, Techniken und Potentiale der Problemlösung usw.) ist ihre Hilfe unerläßlich. Jedoch kann eine völlige Rationalisierung der Findung und Formulierung der Sachprobleme auch von den kompetenten Sachwissenschaften nicht erwartet werden. Die wichtigsten Gründe dafür sind folgende: -
Die potentielle Unendlichkeit der Verstrickung und Variabilität sozialer Sachprobleme stellt sich auch für die Sachwissenschaften.
-
Grundsätzlich sind für die Aufnahme und Darstellung eines Sozialproblems mehrere Sachwissenschaften notwendig, deren interdisziplinäre Kooperation ihrerseits Rationalitätsverluste bedingen kann. Das gilt auch für die Wissenschaft von der Sozialpolitik, die zwar zur allgemeinsten sozialwissenschaftlichen Formulierung sozialer 18
Siehe auch zu Anm. 3 und 28.
Hans F. Zacher Probleme berufen ist, die ihrerseits aber zur Problem aufnahme weitgehend auf speziellere Sachwissenschaften angewiesen ist. -
Für den Rechtsvergleich entzieht sich vor allem die Begegnung von Recht und sozialer Problematik (i. S. der Rechtsgerichtetheit - der Ordnungsnachfrage der sozialen Problematik und ihrer Befriedigung -, aber auch im Sinne der Problemkonstitution durch das Recht) der Letztkompetenz nicht juristischer Sachwissenschaften.
So sieht sich der Rechtsvergleicher letztlich bei aller intensiven Nachfrage nach sachwissenschaftlichen Vorgaben, Hilfen und Anleitungen und bei aller juristisch-methodischer Redlichkeit in der Begegnung von Rechts- und Sachwissenschaft sowie in der Begegnung von rechtlicher und sozialer Problematik auf sein "iudicium" verwiesen.
IV. Einzelne Ansätze 1. Vorbemerkung
Für den Sozialrechtsvergleich wird es vor allem wichtig sein, typische Möglichkeiten solcher Problemformulierung zu ermitteln. Dabei muß von vornherein in Rechnung gestellt werden, daß die Typisierung eine dienende Funktion hat. Sie kann Hilfen geben, um anhand gegebener Erfahrungen die Problemfindung und -formulierung zu erleichtern. Sie darf jedoch nicht dazu führen, daß die Typen der Problemkonstitution Selbstzweck werden. Vielmehr muß die Typisierung stets offen sein für die Korrektur durch neue, bessere Wahrnehmung der Zusammenhänge und für neue Entwicklungen. Andererseits kann von der Entwicklung von Typen der sozialrechtlichen Problemkonstitution ein Beitrag zur Entwicklung einer "Allgemeinen Sozialrechtslehre" erwartet werden. Jedoch ist all das, was hierzu im folgenden gesagt werden kann, in besonderem Maße vorläufig und hypothetisch. Weitgehend können nur Denkmöglichkeiten und Arbeitsvorhaben skizziert werden. Beim gegenwärtigen Stand der Überlegungen könnten die zunächst für möglich gehaltenen und zur Diskussion zu stellenden Ansätze gruppiert werden wie folgt: -
konkrete Ansätze (typische soziale Lagen, soziale Institutionen und Funktionen, Gruppen, Maßnahmen und Leistungen) und generelle Ansätze (allgemeine Ziele, sozialpolitische und juristische Prinzipien und Wertungen);
-
primäre Ansätze (typische soziale Lagen, Institutionen und Funktionen, aber auch soziale Ziele und Werte) und sekundäre Ansätze
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(betroffene Gruppen, Maßnahmen und Leistungen). Maßnahmen und Leistungen sind offenkundig sekundär, indem sie entweder eine Reaktion auf eine typische soziale Lage darstellen oder aus dem Auftrag einer Institution hervorgehen. Betroffene Gruppen sind insofern ein sekundärer Ansatz, als sie sozialpolitisch nur relevant sein können, wenn ihnen eine typische soziale Lage gemeinsam ist. Im Regelfall hat die typische soziale Lage allgemeinere Natur, während gruppenspezifische Elemente das "Ob" und "Wie" der sozialpolitischen Reaktion bestimmen. Im Folgenden wird der Unterscheidung zwischen primären und sekundären Ansätzen - jedenfalls gliederungstechnisch - der Vorrang gegeben. 2. Typische soziale Lagen
a) Die "objektiven" typischen sozialen Lagen Typische soziale Lagen (z. B. Krankheit, Arbeitslosigkeit) sind vermutlich die leistungsfähigste Kategorie der Problembildung. Das gilt jedenfalls vom deutschen Standort aus wegen der tatbestandlich-normativen Orientierung des deutschen Sozialrechts. Auf lange Sicht wird vermutlich aber diese Kategorie auch den leistungsfähigsten Ansatz für die Gestaltung des Sozialrechts überhaupt, für seine internationale Ordnung und für den Rechtsvergleich darstellen. aa) Zur Struktur "typischer sozialer Lagen" Den folgenden Überlegungen ist eine historische Bemerkung vorauszuschicken - nicht weil hier einseitig historische Spuren verfolgt werden sollen, sondern weil ein Blick auf die Geschichte möglicherweise das Verständnis der zu entwickelnden Probleme erleichtert. Als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Sozialversicherung entwickelt wurde, wurde der atypischen Armut, die der öffentlichen Fürsorge und der öffentlichen Wohltätigkeit anvertraut blieb, das typisierbare Sozialproblem gegenübergestellt. Der Gedanke kollektiver sozialer Sicherung verwies auf die Techniken des Versicherungs rechts und somit auf die Prämisse des versicherbaren Risikos. Der Einstieg der Politik sozialer Sicherung über die Risiken Krankheit, Arbeitsunfall, Invalidität, Alter und Tod unter Zurücklassung Unterhaltsberechtigter ist bekannt. Später fügte die Sozialpolitik nicht nur neue "Risiken" hinzu, die den klassischen Vorstellungen eines versicherungstechnischen Risikobegriffs nicht mehr entsprachen (Beispiele dafür insbesondere Arbeitslosigkeit und Kinderreichturn). Man überwand auf vielfache Weise das anfängliche Prinzip, nur gegen den Einbruch der sozialen Biographie zu sichern, der vordem Gegenstand kollektiver Vorsorge sein
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konnte. Man überschritt diese Linie sowohl in Richtung auf den a-priorischen Nachteil (z. B. das angeborene Leiden) als auch in Richtung auf die Unmöglichkeit kollektiver Vorsorge im Stile der Versicherung (z. B. gegen den Kriegsfall). Eine weitere Phase setzte ein, indem man sich über die Abwehr von Not hinaus zunächst der Vorkehrung gegen Not (z. B. Vorsorge gegen Krankheiten) und schließlich der positiven Förderung (der Entfaltungshilfe) zuwandte. Dies sind auch die Entwicklungen, die eine Konvergenz nicht nur der Sozialversicherung mit den sozialen Entschädigungssystemen (vor allem der Kriegsopferversorgung) ermöglichten, sondern auch die typisierende Differenzierung der Ausgleichssysteme (Fürsorge). Weitgehend ist dies auch der Rahmen, in dem sich Sozialversicherung zur sozialen Sicherung weitete. Geblieben ist die tatbestandliche Typisierung als Voraussetzung rechtlicher Absicherung der Maßnahmen sozialen Schutzes und sozialer Förderung. Das Folgende stellt, soweit zu sehen, einen ersten Versuch dar, den Befund, den diese Entwicklung hervorgebracht hat, zu rubrizieren. Für ihn muß daher in besonderem Maße um Nachsicht gebeten werden.
aaa) Das soziale Risiko Den Kernbereich typischer sozialer Lagen, die eine rechtliche Regelung gefunden haben oder auf eine solche hin doch gedacht werden können, bilden die "sozialen Risiken". Sie stellen eine institutionelle Bündelung von sozialer Provokation und politisch-rechtlicher Antwort dar. Rechtstechnisch ergeben sie Tatbestände, an die Rechtsfolgen sozialen Charakters geknüpft werden können. Insofern besteht eine Affinität zwischen diesem Ansatz und dem Stilmerkmal der Normintensität (Tatbestands- und Rechtsfolgeintensität) von Sozialrecht. Dabei ist von folgender Struktur auszugehen. Ein soziales Risiko geht von einer positiven sozialen Erwartung (z. B. der Erwerbsfähigkeit) aus, die durch ein Ereignis (z. B. Krankheit, Invalidität) enttäuscht wird. Die soziale Absicherung eines Risikos bedeutet die Zusage und Verwirklichung der Kompensation dieses Nachteils. Bedeutsam ist nun, daß keine Sozial rechtsordnung alle Erwartungen und alle schädlichen Ereignisse in dieser Weise aufgreift und kompensiert. Vielmehr vollzieht sich hier ein kritischer Prozeß der Selektion. Die Wichtigkeit von Erwartungen und die Schädlichkeit von Ereignissen, aber auch deren Versicherbarkeit (Vorsorgefähigkeit) oder die Gemeinverantwortung für sie (als Legitimation sozialer Entschädigung) bedingt die Kompensation. Die rechtliche Bewertung von Erwartungen und Ereignissen, insbesondere die Zusage der Kompensation, begründet oder intensiviert auch ihrerseits wieder Erwartungen.
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Aus dieser selektiven, schließlich konzentrierenden Dialektik von sozialen Erscheinungen, sozialer Anerkennung und Hilfe und rechtlicher Ordnung haben sich z. B. die klassischen Risiken der Krankheit, der Mutterschaft, des Unfalls, der Invalidität, des Alters 19 , des Todes unter Zurücklassung Unterhaltsberechtigter und der Arbeitslosigkeit herausgebildet. Sie sind keine absolute "Naturnotwendigkeit", und sicher ist das auch nicht ihr Katalog als solcher. Das zeigt sich aus der Aufnahme neuer Risiken wie z. B. des Konkursausfalles oder "sekundärer Risiken" wie der Vorsorgeunfähigkeit Behinderter ("sekundär", weil sie ihren Sinn von der Existenz "primärer" Systeme beziehen). Es zeigt sich auch darin, daß klassische Risiken wieder wegfallen oder neu gruppiert werden können (z. B. das Aufgehen des Arbeitsunfalls in die soziale Sicherung gegen Krankheit und Invalidität; die geschlossene Regelung des Risikos des Straßenverkehrsunfalls).
bbb) Die typischen sozialen Notlagen Sind soziale Risiken zunächst Einbrüche in der sozialen Biographie, so drängt gleichheitliche Sozialpolitik danach, die Fälle gleich zu behandeln, die von vornherein unter einer analogen sozialen Not leiden. Das einfachste Beispiel ist die Gleichstellung von Geburt an Behinderter mit Behinderten, die durch Unfall, Kriegsereignis oder dergleichen geschädigt wurden. Von dieser Ausweitung an ist zu überlegen, von "typischen sozialen Notlagen" zu sprechen. Jedenfalls darf der Begriff "Risiken" von dieser Grenze an nicht mehr ohne weiteres als etwas gebraucht werden, wogegen Vorsorge (im Kern: Versicherung) möglich ist.
ccc) Die Situation sozialer Förderung Gehen "soziales Risiko" und "typische soziale Notlage" im eben erwähnten Sinn noch davon aus, daß die soziale Lage, der entgegengetreten werden soll, eine Normabweichung "nach unten" entweder im individuellen Leben (intertemporal) oder im sozialen Vergleich (interpersonal) ist, so geht entwickelte Sozialpolitik mehr und mehr dazu über, die Ziele zu steigern. Sozialpolitik wird zur Vermittlung zwischen der gegebenen individuellen oder generellen sozialen Situation und "höheren" Zielen, welche die Gesellschaft oder das Gemeinwesen steckt oder doch akzeptiert. Beispiele dieser Art finden sich vor allem im Bereich der Bildungs-, Ausbildungs- und Berufsförderung. Der soziale Tatbe19 Die spezifische Komplikation des "Risikos" des Alters als einer typisierten Invalidität mit der Unsicherheit des Erlebens und der Wahrscheinlichkeit negativer Einkommensentwicklung im Falle des Erlebens, der normativen Gewolltheit der Kompensation von Arbeitseinkommen durch Sozialeinkommen usw. kann hier wie im folgenden nicht genauer analysiert und berücksichtigt werden.
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stand besteht darin, daß das soziale Ziel individuell noch nicht erreicht ist und erreichbar erscheint. Die Situation ist Anlaß zur Förderung (Entfaltungshilfe).
ddd) Zusammenfassung Somit ist es vielleicht möglich, zwischen folgenden "typischen sozialen Lagen" zu unterscheiden:
-
"soziales Risiko im engeren Sinne" "soziale Notlage" ("soziales Risiko im weiteren Sinne") oder "Situation sozialer Förderung".
Gemeinsam ist allen diesen Stufen typischer sozialer Situationen, daß hier Lebenstatbestände typisierend selektiert und normiert und mit ebenso typisierten sozial kompensierenden oder fördernden Maßnahmen (Rechtsfolgen) verbunden werden. Durch diesen Verbund von typischem Tatbestand und typischen Maßnahmen wird ebenso sozialen Wertungen, Erwartungen und Verhaltensweisen entsprochen, wie soziale Wertungen, Erwartungen und Verhaltensweisen beeinflußt, gesteuert, möglicherweise konstituiert werden. bb) Zum Systembezug "typischer sozialer Lagen" Zwischen diesen Stufen "typischer sozialer Lagen" und der Frage der Vorsorgefähigkeit besteht eine gewisse Parallelität. Vorsorgefähigkeit ist im Kern Versicherbarkeit. Das bedeutet Zufälligkeit und Schätzbarkeit eines Bedarfes; Beteiligung der zu Sichernden an der Aufbringung der Mittel zur Deckung dieses Bedarfs; gesonderte Verwaltung dieser Mittel. Nach deutschem Muster heißt das etwa: Beiträge und Selbstverwaltung durch Körperschaften oder Anstalten. Begriff und Sache der "Vorsorge" haben sich in allen diesen Merkmalen als elastisch erwiesen: hinsichtlich der Zufälligkeit, der Schätzbarkeit, des Beitrages (der kollektiven Mittelaufbringung), der Vermögenssonderung (Eintreten des Staatshaushalts). Ohne daß hier alle Einzelheiten geklärt und dargestellt werden können, kann "Vorsorge" als ein Gefüge konzentrischer Kreise gedacht werden, deren innerster "Versicherung" umfaßt, während der nächstfolgende das umschließt, was in der Vorstellungswelt des deutschen Sozialrechts Sozialversicherung und dienstrechtliche Versorgung der Beamten, Richter und Soldaten heißt, während der äußere das umfassen könnte, was zwar "soziale Sicherheit" im Sinne der einschlägigen Konventionen der ILO und des Europarats ist, ohne Versicherung, Sozialversicherung oder dienstrechtliche Versorgung zu sein. Als das wesentliche der Vorsorge erweist sich dabei, daß sie gegen sozial negative Ereignisse und deren Folgen dergestalt
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schützt, daß die unsichere Erwartung des Ausbleibens negativer Entwicklungen durch die Erwartung der Kompensation negativer Entwicklungen komplementiert wird. Und der äußerste Rahmen ist dort erreicht, wo gegen negative Gegebenheiten in gleicher Weise vorgekehrt wird wie gegen negative Ereignisse und Entwicklungen. In diesem "weiteren Sinne" von "Vorsorge" sind nicht nur "soziale Risiken im engeren Sinne", sondern analog auch "soziale Notlagen" "vorsorgefähig". Dagegen scheidet die Kategorie der Vorsorge im Bereich der sozialen Förderung (der Entfaltungshilfen) primär aus. Jedoch können - wie etwa bei der Rehabilitation - Entfaltungshilfen wieder zum Zwecke der Kompensation nachteiliger Entwicklungen angeboten werden. Eine elementare Entsprechung zur Struktur des sozialen Risikos findet sich auch in den kausal definierten Systemen sozialer Sicherung (wie z. B. der Unfallversicherung). Die kausale Zurechnung der Verantwortung für das Ereignis wird zum Gestaltprinzip des Systems. Beson:ders intensiv ist die Entsprechung in Systemen sozialer Entschädigung (wie vor allem der Kriegsopferversorgung). Kausale Zurechnung des Ereignisses und der Kompensationspflicht an das Gemeinwesen konstituieren diese Systeme. Dagegen wird das Element des "Risikos im engeren Sinne" für Systeme sozialen Ausgleichs und sozialer Förderung (die sich weder als kollektive Vorsorge, noch als soziale Entschädigung aus Verantwortung des Gemeinwesens für ein schädliches Ereignis darstellen) unwichtig; ja, Ausgleichs- und Förderungssysteme negieren sogar die historische Rückrechnung des sozialen Bedarfes, wie sie die Anknüpfung an das soziale Risiko impliziert. Sie knüpfen an die "soziale Notlage" und an die "Situation sozialer Förderung" an. Systeme sozialen Ausgleichs und sozialer Förderung konkurrieren aber insofern auch mit Systemen sozialer Vorsorge und sozialer Entschädigung. Wenn sie soziale Bedarfe, wie sie in den Denkkategorien des sozialen Risikos aus der durch das schädliche Ereignis enttäuschenden Erwartung erwachsen, unmittelbar und ohne eine solche historische Rückfrage anerkennen und ausgleichen, "überholen" sie final die "kausalen" Systeme sozialer Entschädigung und die "kausal-finalen" Systeme sozialer Vorsorge. Systeme sozialen Ausgleichs und sozialer Förderung gehen dabei aber weitgehend ähnlich typisierend vor wie Systeme der Vorsorge und der sozialen Entschädigung. Sie greifen typische soziale Lagen auf und knüpfen an sie die Rechtsfolge der Befriedigung des entsprechenden sozialen Bedarfes (z. B. Familienleistungen, Wohnungsleistungen, Ausbildungsleistungen usw.). Nicht selten entsprechen dabei die "typischen sozialen Situationen" denen der klassischen sozialen Risiken (so z. B. im Bereich der medizinischen Versorgung, der Altershilfe usw.). Die Frage, wann 4 Sozialrechtsvergleich
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und inwieweit in solchen Fällen "soziales Risiko" oder "soziale Notlage" den Anknüpfungspunkt geben und eine echte Lösung der sozialen Vorsorge oder des sozialen Ausgleichs gewählt ist, muß hier offen bleiben. Es geht hier nur darum, die Möglichkeiten der Differenzierung des Ansatzes der "typischen sozialen Situation" anzudeuten. ce) Die Relativität und "Typik" der sozialen Lagen Mit dem eben Gesagten verbindet sich eine weitere sozialrechtstheoretische Einsicht. Wie alles Recht ist auch das Sozialrecht gezwungen zu typisieren und Komplexe von Tatbeständen und Rechtsfolgen zu bilden. Die Tendenz hierzu ist besonders stark in tatbestandlich-normativen Sozialrechtssystemen (weil hier nicht untersucht werden kann, ob die generelle Neigung zu tatbestandlich-normativer Orientierung oder die typisierende Sozialrechtsentwicklung primär sein können oder sind). Das typisierende Ausprägen von Komplexen von Tatbeständen und Rechtsfolgen entspricht zudem Wesensgesetzen der Sozialpolitik: z. B. daß soziale Maßnahmen und Ordnungen gruppenbezogen spürbar sein sollen. Daraus erwächst aber die Spannung zu dem Meer der atypischen Fälle sozialen Ungenügens und Bedarfes. Das Nebeneinander von primären, aber typisierenden Systemen (Sozialversicherung) und subsidiären Auffangsystemen (Sozialhilfe) oder sozialen Diensten beweist dies ebenso wie die Dialektik zwischen "institutioneller Sozialpolitik" und dem periodisch neu auftretenden Bewußtsein ihres Ungenügens gegenüber der "Armut" schlechthin, die in ihrer Atypik und Amorphität ihrerseits dem Rechtsvergleich vermutlich nicht als soziale Lage zugrunde gelegt werden kann. Von daher werden zunächst zwei Probleme sichtbar: -
Der Ansatz der typischen sozialen Lagen kann Sozialrecht nicht erschöpfend erschließen. Wegen seiner eigentümlichen Begrenztheit ist es wichtig, daneben den institutionell-funktionellen Ansatz und den prinzipiellen Ansatz komplementär und korrigierend bereitzuhalten. Wie das Gemeinwesen soziale Not bewältigt, die von den rechtlich ausgeprägten typischen sozialen Lagen nicht erfaßt wird, kann vom institutionell-funktionellen Ansatz her durch die Frage nach dem (fremd- oder selbstbestimmten) Aufgabenkreis sozialer Institutionen und Organisationen oder auch individueller Sozialfunktionen erfahren werden. Vom prinzipiellen Ansatz her wäre das umfassendste Korrektiv die Frage nach der Erfüllung des Sozialauftrags des Rechts (des Sozialstaatsprinzips). Jedoch ist diese Frage ihrerseits zu allgemein und die mögliche Antwort deshalb nicht verläßlich genug. Ist von irgendeinem universalen sozialrechtlichen Standpunkt her also der Ansatz der typischen sozialen Lage immer fragmentarisch, so muß andererseits aber festgehalten werden, daß
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gerade seine Begrenztheit den Ansatz der typischen sozialen Lagen für den Rechtsvergleich besonders nützlich macht. -
Wie sich das Sozialrecht auf die konkurrierenden Ziele adäquater und effektiver Typisierung und umfassender, lückenloser sozialer Wirksamkeit einläßt und einrichtet, kann ein Stilmerkmal des Sozialrechts sein. Denkbar ist sowohl die Spannung zwischen typisierenden und komplementär-generalklauselhaften Elementen einund derselben normativen Sozialrechtsordnung als auch - und praktisch bedeutsamer - die Spannung zwischen tatbestandlichnormativer Typisierung und aktionistischer institutioneller Ergänzung. dd) Tatbestände - Folgen - Institutionen und Techniken
Eine weitere Erläuterung ist hinsichtlich des Verhältnisses von Tatbeständen und Folgen sowie der dazwischen vermittelnden "Systeme" geboten. Die wechselseitige Bedingtheit von Tatbeständen und Folgen ist komplex. Vermittelt durch die verfolgten Wertungen und Zwecke beeinflussen ebenso die Tatbestände die Folgen wie die Folgen die Tatbestände. Soziale Lagen führen zur Frage nach der gebotenen und möglichen Hilfe und soziale Hilfen führen zur Verbindung von sozialen Lagen, denen sie gemäß sind. Eigenart und Entwicklung der Sozialpolitik führen nun aber dazu, daß Notlagen und Maßnahmen einander nicht rein "normativ" entsprechen, d. h. nicht so, als ob die Norm an den Tatbestand der sozialen Lage unvermittelt die gewünschte Maßnahme knüpfen könnte. Vielmehr ist die Technik der Realisation der Rechtsfolgen sowohl sachlich als auch historisch von großer Bedeutung: z. B. ob man gegen Krankheit mittels eines beitragsgespeisten, finanziell verselbständigten Systems kollektiver Vorsorge vorkehrt, welches die Behandlungs- und Pflegekostenlast (durch unmittelbare Sach- und Dienstleistung oder durch Geldleistung) ebenso abdeckt wie das Risiko des (kurz- und mittelfristigen) Einkommensverlustes; oder ob man das Behandlungs- und Pflegekostenrisiko Gesundheitsdienst und Krankenhauswesen überträgt und gegen das Risiko des (kurz- und mittelfristigen) Einkommensverlustes die allgemeinen Vorsorgeeinrichtungen gegen die (langfristige) Invalidität mit sorgen läßt, es dem Arbeitgeber auflädt oder es ungesichert läßt. Solche Entscheidungen beeinflussen die Definition der Personenkreise, die sachliche Fassung der Tatbestände, die Finanzierung, die Art, die Höhe und die Kombinatorik der Leistungen sowie institutionelle und verfahrenstechnische Gestaltungen. Dabei spricht die Erfahrung dafür, daß gleichartige Notlagen und gleichartige Leistungen in ein- und demselben nationalen System mehr oder weniger zahlreichen und erklärlichen Subsystemen der Realisation anvertraut sind.
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Speziell von dem Anliegen des Sozialrechts und des Sozialrechtsvergleichs her kommt diesen Institutionen und Techniken der Realisation sogar gesteigerte Bedeutung zu, weil sie die rechtlichen Zusammenhänge bedingen oder doch mitbedingen. Somit ist von folgenden Arbeitsregeln auszugehen: -
Die typischen sozialen Lagen sind in ihrem Wechselbezug zu den Maßnahmen zu ihrer Bewältigung zu sehen. Diese können zunächst als Indikatoren für typische soziale Lagen dienen; aber sie können auch die positive Definition der sozialen Lage mitbedingen und so zu ihrer Erklärung beitragen. Vor allem aber sind sie das elementare Gegenstück zur sozialen Lage: soziale Lage - Abhilfe - relatives soziales Optimum. Wegen dieses Verhältnisses kann es komplementär und korrigierend notwendig sein, den Problemansatz der Maßnahme oder der Leistung zu wählen.
-
Soziale Notlage und soziale Hilfe sind interdependent von den Institutionen und Techniken der Realisation der Hilfen geprägt. Damit ergibt sich ein Problem der austauschbaren Priorität: wird der Gesamtzusammenhang von Tatbestand, von der Folge oder von der Realisation determiniert? Die Frage kann in einem historischpolitischen Sinn unaufklärbar sein. Sie kann in einem forschungspraktischen Sinn für jeden der drei Zugänge zu entscheiden sein. Und darum ist es auch notwendig, neben der Frage nach der sozialen Situation auch die Fragen nach den Leistungen und den Institutionen und Funktionen als Ansatz der Problemformulierung verfügbar zu haben. Aber im Sinne sachlogischer Abfolge wird doch das Hintereinander von Tatbestand, Folge und Realisation primär.
Im Sinne des Vorstehenden wäre aber auch noch genauer zu prüfen, inwieweit von den Folgen, sowie von den Institutionen und Techniken der Realisation her schon Unterscheidungen auch der typischen sozialen Situation möglich sind. -
Ohnedies ist von der sozialen Situation her zu fragen, welche Möglichkeiten der sozialen Besserung bestehen. Diese Frage von der Situation her und die Frage nach den (sozialrechtlich) vorgesehenen und also die Situation prägenden Maßnahmen sind zwei Seiten einund derselben Medaille. In diesem Sinn kann z. B. von einkommensbezogenen, spezifisch bedarfsbezogenen und (Einkommensausfall und Spezialbedarfe umfassenden) komplexen sozialen Lagen gesprochen werden.
-
Andere Differenzierungen können von den Teilsystemen ausgehen, nach denen Maßnahmen bemessen und bewirkt werden. Solchen Differenzierungen muß die Wesensbestimmung der Teilsysteme vorausgehen. Ausgehend von der Dreiteilung in Vorsorge-, Entschä-
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digungs- und Ausgleichssysteme kann davon ausgegangen werden, daß allgemeine Ausgleichs- und Förderungssysteme prinzipiell alle sozialen Lagen aufgreifen können. Kausal definierte Systeme (Kriegsopferversorgung, Regimefolgesysteme, Unfallsicherung usw.) selektieren auch die soziale Situation primär nicht nach ihrem "Inhalt" und nicht nach den möglichen Konsequenzen der Abhilfe, sondern eben nach kausalen Aspekten. Am engsten sind die Grenzen "vorsorgefähiger" sozialer Lagen. Sie werden um so enger, je strenger die Begriffsdefinition der "Vorsorge" die Garantie der Kompensation negativer Entwicklungen an die "Versicherbarkeit" (typischer, zufälliger und schätzbarer Bedarf, kollektives Aufkommen durch die Bedrohten, Sonderung des Fonds) des Risikos knüpft. ee) Die komplex-institutionelle Eigenart typischer sozialer Lagen, insbesondere "klassischer" sozialer Risiken Typisierung und institutionelle Bündelung von Tatbeständen und Rechtsfolgen sowie von Institutionen und Techniken der Realisation führen zu einer sowohl sozialpolitisch und -psychisch als auch rechtspolitisch und -dogmatisch wirkenden Konzentration. Man kann - wie schon angedeutet - von einem noch näher zu untersuchenden dialektischen Prozeß von sozialer und rechtlicher Bewertung, Erwartung und Gewährleistung ausgehen. Diese Konzentration tritt etwa hervor in den "klassischen" Risiken der Krankheit, der Mutterschaft, des Arbeitsunfalles, der Invalidität, des Alters, des Todes unter Hinterlassung Unterhaltsberechtigter, und der Arbeitslosigkeit. Der hohe Grad an Positivität und damit auch an nationaler Individualität - konstituiert durch rechtsnormative Typisierung, Formulierung der Tatbestände, Anordnung der Folgen und Gestaltung und Verwirklichung der Institutionen und Techniken in ihrer letztlich nicht auslotbaren wechselseitigen Bedingtheit - zwingt aber gerade hierbei zu besonderer Sorgfalt bei der Formulierung des vorrechtlichen Problems als eines Bezugsobjekts für den Vergleich verschiedener Rechtsordnungen. Die Schwierigkeit, das Wesentliche, Verallgemeinerbare bei der "Reduktion" der Phänomene auf das vorrechtliche Sachproblem vom Unwesentlichen, Individuellen (nicht Wiederholbaren) zu trennen, ist ebenso groß wie die Gefahr, bei der Anfrage an das je andere Sozialrecht, das dort Unwesentliche, Individuelle (nicht Wiederholbare) zu verkennen. Um auf schon oben Gesagtes zurückzukommen: es besteht die Gefahr, einen nominalistischen Ansatz für einen sachproblematischen zu halten. Darum kann es auch zweckmäßig sein, eine soziale Lage zum Ausgangspunkt zu machen die zwar der Wert- und Ordnungswelt der So-
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zialrechtsordnungen nicht fremd ist, die gleichwohl aber nicht durch jenen sozialrechtIichen Konzentrations- und Institutionalisierungsprozeß absorbiert sind, dem die "klassischen" Risiken unterlagen. In diesem Sinne verläuft etwa das Thema der "langfristigen Gebrechlichkeit" vor und zwischen den "klassischen" Risiken. Und mehr noch ist das Thema der "Sprachenfrage als soziale Frage" den bisher ausgemünzten Soziallagen vorgelagert. b) Die Subjektivierung typischer sozialer Lagensoziale Gruppen als Ansatz
Im Einzelfall kann dem objektiv-tatbestandlichen Ansatz (Krankheit, Arbeitslosigkeit usw.) ein subjektiv-personaler Ansatz (Behinderter, Kriegsopfer, Mutter usw.) vorzuziehen sein. Vor allem im Hinblick auf die vorrechtIiche Problemformulierung kann die Alternative zwischen der Artikulation von Situationen und der Artikulation von subjekttypischen Positionen zu erwägen sein20 • In der sozialpolitischen (sozialrechtlichen) Entwicklung haben Regelungen aber vielfach nicht an die soziale Situation und unmittelbar an die situationsbestimmte Rolle angeknüpft. Vielmehr haben gewisse Gruppen als solche sozialpolitische (sozialrechtliche) Berücksichtigung gefunden. Der "Arbeitnehmer" wurde sogar zu der Leitlinie der Entwicklung sozialer Sicherung. Umgekehrt erweisen sich mitunter bestimmte Gruppen als solche als sozial vernachlässigt und also - zumindest objektiv - als Nachfrager nach Sozialpolitik und Sozialrecht. In diesen Fällen muß auch der Rechtsvergleich diese Gruppen als solche in Betracht ziehen. Dabei wird sich in der Regel erweisen, daß sich die Gruppe in einer besonderen sozialen Situation befindet. So sind eben die Probleme der sozialen Sicherung von Landwirten, Selbständigen, Künstlern und Autoren und dgl. nicht identisch mit den Problemen der sozialen Sicherung von Arbeitnehmern. Im äußersten Fall kann eine spezifische soziale Situation einer Gruppe auch durch ihre historisch-politisch bedingte Privilegierung oder Vernachlässigung entstanden sein. Im Regelfall wird deshalb sowohl bei Rollen als auch bei Gruppen der subjektive Zugang eine Art technischer Erleichterung darstellen. Letztlich wird aber fast immer eine rollen- oder gruppenspezifische soziale Situation ermittelt werden können oder müssen. Genauer: es werden in der Regel analog zu den sonst bekannten "typischen sozialen Lagen" entsprechende soziale Situationen zu ermitteln sein.
20
Siehe Anm. 13.
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c) Maßnahmen, insbesondere Leistungen
Soziale Maßnahmen, insbesondere soziale Leistungen, stellen - sozialpolitisch betrachtet - Antworten auf soziale Herausforderungen (soziale Situationen) dar und ebenso - sozialrechtlich betrachtet Rechtsfolgen in Anknüpfung an sozialrechtliche Tatbestände. Jedoch kann es ausnahmsweise notwendig sein, den Vergleich zunächst bei den Leistungen anzusetzen. Das ist etwa dann der Fall, wenn die sozialen Situationen, auf welche mit den Leistungen reagiert wird, im besonderen Maße diffus sind, während die Leistungen (sozialpolitisch und/oder sozialrechtlich) eine eher geschlossene Ausprägung gefunden haben. In Frage kommt auch, daß die Normierung der sozialen Situation in besonderer Weise von der entsprechenden Leistung determiniert ist. Letztlich kann der Ansatz von den Leistungen her auch eine Korrektur der Blickverengung bewirken, die mit der Typik sozialer Situationen verbunden ist. Sowohl in dem einen wie in dem anderen Zusammenhang kann etwa unterschieden werden zwischen: -
Geldleistungen, Sachleistungen, Dienstleistungen (auch evtl. Geldleistungen, die in Richtung auf Sach- und Dienstleistungen zweckgebunden sind)
-
Einzelleistungen und entsprechende Fortsetzungsleistungen (z. B. Renten)
-
spezielle Leistungen (z. B. Wohngeld) und komplexe Leistungen (z. B. gegen Sprach- oder Bildungsnachteile, gegen soziale Eingliederungshemmungen, Rehabilitation)
-
unmittelbare Leistungen und institutionelle Leistungen (durch Bereitstellung von Krankenhäusern, Pflegestätten, Ausbildungsstätten)
-
öffentliche Leistungen und Leistungen Privater (Arbeitgeber, Familie usw.)
-
wohl besonders bedeutsam nach Zweck- und Sachzusammenhängen (zwischen medizinischen, pflegerischen, pädagogischen, ausbildenden, betreuenden usw. Leistungen). 3. Institutionen und Funktionen21
Das elementare Gegenstück zu den sozialen Situationen - als primärer Kategorie der Problemformulierung - sind die aktiven sozialen Institutionen und Funktionen. Dieser Ansatz ist freilich in besonderem Maße vielfältig und wenig vorgebildet. 21
Siehe Anm. 13.
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a) Zum Gegenstand des Ansatzes Die Erscheinungen, die für diesen Ansatz in Betracht kommen können, können hier zunächst nur durch einige Unterscheidungen angedeutet werden:
-
Organisationen (z. B. Gesundheitsdienste) und individuelle Funktionen (z. B. Sozialarbeiter);
-
staatliche und quasi-staatliche (kommunale usw.) und gesellschaftliche Organisationen und Funktionäre; u. U. auch öffentliche und private Funktionen und Träger;
-
allgemeinzuständige Organisationen (Kommunen), mehrfachzuständige Organisationen (z. B. Gewerkschaften), spezielle Organisationen (z. B. Sozialversicherungsträger, Wohltätigkeitsverbände); systemtypische Organisationen (z. B. Sozialversicherungsträger), systemunspezifische, aber notwendige Träger (z. B. Kommunen) und ergänzende Organisationen (z. B. freie Wohlfahrtsverbände neben einem umfassenden öffentlichen Apparat) usw.
Dazu kommt das Problem sonstiger Betroffenheiten22 im Zusammenhang mit Schutz-, Ausgleichs- und Verantwortlichkeitsregelungen, die durch Inpflichtnahme gesellschaftlicher (privater) Elemente entstehen: z. B. im Familienrecht, im Arbeitsrecht (zu Lasten des Unternehmens, des Betriebs usw.), im Verbraucherschutzrecht, im Mietrecht. Dabei entstehen vielfach Vbergangserscheinungen zu den vorher skizzierten Phänomenen, so wenn der Betrieb (das Unternehmen) Träger von sozialen Sicherungsfunktionen ist, oder wenn Private sich in sozialen Funktionen (Nachbarschaftshilfe, Genossenschaften) begegnen. b) Zur Bedeutung des Ansatzes
Der Ansatz der Institutionen und aktiven Rollen kann alternativ oder kumulativ (komplementär) zu dem Ansatz der typischen sozialen Situationen gewählt werden. Der alternative Ansatz kann seinen Grund in positiven Gegebenheiten haben. Wie schon vermerkt, besteht ein elementarer Stilunterschied zwischen einer Sozialpolitik und einem Sozialrecht, die das primäre Anliegen der Po si ti vierung und Regulierung sozialer Situationen sehen, und einer Sozialpolitik und einem Sozialrecht, die das primäre Anliegen in der Existenz und Wirksamkeit (Schaffung, Freisetzung, Disziplinierung, Förderung usw.) sozialer Agenturen sehen. In diesem Fall muß erprobt werden, ob es eher möglich ist, einen gemeinsamen Nenner von dem Vergleich dieser Agenturen, ihrer Aufgaben und Wirkungs22
Siehe Anm. 13.
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weisen her Zu finden, um von da her zu den bewältigten sozialen Situationen voranzuschreiten, oder ob es besser ist, gleichwohl auch "hinter" diesen Agenturen nach deren Aufgaben und damit nach den von ihnen getroffenen sozialen Situationen zu fragen. Der Ansatz der Institutionen und Funktionen kann aber auch auf folgende Weise komplementär zum Ansatz der typischen sozialen Situationen gesehen werden. Soziale Institutionen können imstande sein, nicht normierten, nicht "anerkannten" und also typisierten sozialen Situationen nachzugehen und abzuhelfen. Ein ausschließlich oder doch primär tatbestandlich-normativ orientiertes System stellt mehr oder minder die normative typisierende "Anerkennung" einer sozialen Situation vor deren Bewältigung. In entwickelten sozialrechtlichen Systemen kommt sozialen Agenturen (wie z. B. Wohltätigkeitsverbänden) insofern zumindest eine Komplementär- und Innovationsfunktion zu. Ihr nachzugehen kann selbst bei prinzipiell tatbestandlich-normativem Ansatz in typischen sozialen Situationen einen "Mehrwert" an Erkenntnis erbringen. Die Probleme und Konflikte, die spezifisch von den Institutionen und Funktionen her sichtbar werden, können möglicherweise vom Ansatz der sozialen Situation allein her nicht voll gesehen werden. c) Exkurs: System-Ansatz 23 ?
Schon im Zusammenhang mit dem Ansatz der sozialen Situation und mit seiner sekundären Ausprägung, dem Ansatz der sozialen Leistung und Maßnahme, lag immer wieder die Frage nahe, inwieweit komplexe sozialrechtliche Systeme als solche - wie z. B. die Sozialversicherungzum Ansatz vorrechtlicher Problemformulierungen gemacht werden können. Vor allem die nicht zu übersehende Bedeutung, die den Techniken und Institutionen der realisierenden Verbindung von typischer sozialer Situation und abhelfender sozialer Leistung zukommt, drängt dazu, die komplexe Verbindung von Techniken, Institutionen und Potentialen als Zugang zu wählen, von dem her aus die abgedeckten sozialen Situationen und die erbrachten sozialen Leistungen erschlossen und einbezogen werden können. Hier, wo die Institutionen und Funktionen zum primären Ansatzpunkt gemacht werden, fragt sich erneut, inwieweit nicht funktionale Systeme als solche zum Gegenstand des RechtsvergIeichs gemacht werden können. Wenn diese Frage gestellt wird, so setzt sie nicht voraus, daß eine klare Scheidung zwischen diesem Systemansatz und dem "institutionellen und funktionellen Ansatz" überhaupt möglich ist. Ebensowenig setzt sie voraus, daß eine klare Trennung zwischen dem "Systemansatz" und dem "Ansatz der typischen sozialen Situation" (der ja die Maß23
Siehe Anm. 35.
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nahmen und Leistungen der Abhilfe einschließt), durchführbar ist. Vielmehr geht es um den Akzent. Während sowohl der Ansatz der "typischen sozialen Situation" als auch der Ansatz der "sozialen Institution und Funktion" versuchen, den Zugang zur Problem formulierung über ein relativ einfaches, in sich geschlossenes Objekt zu nehmen und dafür den Preis einer gewissen (anfänglichen) Einseitigkeit zahlen, zielt der Systemansatz auf einen von vornherein hochgradig komplexen Gegenstand. Der Systemansatz muß - geht man einmal von den bisher zugrunde gelegten "Versatzstücken" aus - soziale Situation, Maßnahme und Leistung der Abhilfe, Institutionen und Funktionen sowie Techniken und Potentiale von vornherein gleichermaßen einbeziehen, gleichermaßen ernstnehmen und gleichermaßen für bestimmend halten. Damit wird der Gegenstand der Erörterung von vornherein in hohem Maße individualisiert. Ein auf dieser Grundlage versuchter Vergleich setzt ein hohes Maß an Ähnlichkeit der zu vergleichenden Erscheinungen im jeweils anderen Recht voraus. Um schließlich Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausarbeiten zu können, wird es sekundär dann doch notwendig sein, die "Versatzstücke" zu isolieren. Damit kann hier kein endgültiges Wort über die Tauglichkeit eines "Systemansatzes" gesprochen werden. Er muß hier als Problem genannt aber auch offen gelassen werden 24 • 4. Prinzipien und Werte
a) Beispiele Ein wesentlich anderer Zugang zur Problemfindung und -formulierung ist von Prinzipien und Werten her denkbar. Dabei kann es sich handeln um:
-
primär sozialpolitische Grundsätze 25 : Existenzminimum, Abwesenheit von Not, Gleichheit, Sicherheit, Emanzipation, Selbstverwirklichung, Entfaltung, Erwerbschance, Leistungspflicht und Leistungschance, Chance sich etwas zu "erwerben", individuelle und kollektive Vorsorge, Versicherungsprinzip, Subsidiarität, Solidarität, soziale Planung usw.;
-
primär rechtliche Werte und Prinzipien26 : subjektive Berechtigung, individuelle Autonomie (Freiheit), körperliche Integrität, Privat-
24 Nur angemerkt werden kann hier die Alternative zwischen dem Vergleich von Makrosystemen und Mikrosystemen. Der Text zielt im wesentlichen auf den Vergleich von Makrosystemen. Mikrosysteme (z. B. das Sozialversicherungsverhältnis) erscheinen eher anderen Ansätzen zuordbar. 25 Siehe auch Anm. 10 und 29. 26 Siehe auch zu Anm. 11 und 32.
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heit, Eigentum und Rechte auf Anteile am Allgemeinen, Selbst- und Fremdverantwortung (negativ: Verschulden), Verursachung als Kriterium der Zurechnung von Risiken, 'Rechtssicherheit, Vertrauensschutz, gerichtlicher Rechtsschutz, Selbstverwaltung usw. b) Möglichkeiten de1' Durchführung
Der Grad, in dem dieser Ansatz zu einem sachhaltigen Rechtsvergleich führen kann, ist offenbar unterschiedlich. Zunächst ist offensichtlich, daß sich die Alternative "Nominalismus" oder "materieller Zugang" gerade auch hier stellt. Indem solche Prinzipien definiert werden müssen, schließen sie also mit einer gewissen Notwendigkeit Sachprobleme in die Erörterung ein. Indem schließlich solche Prinzipien in ihrer Wirksamkeit untersucht werden, wird der Zusammenhang zwischen "Prinzip und Wirklichkeit" noch deutlicher. Schließlich kann vom Prinzip her direkt nach der Verwirklichung gefragt werden und das Prinzip als eine Leitlinie genommen werden, um die konkreten Sozialrechtssysteme zu durchleuchten. Allerdings wird spätestens hier die Notwendigkeit entstehen, ein Mindestmaß an Problemaufnahme von der Bewältigung der sozialen Situationen und/oder von den Institutionen und Funktionen vorausgehen zu lassen. Hier liegt der Übergang zur sekundären, ergänzenden Verwendung dieses Ansatzes. Ausgehend von grundsätzlichen Einsichten in die verglichenen Sozialrechtsordnungen kann die Verfolgung eines Prinzips (wie z. B. das der Verursachung oder des Verschuldens) hinsichtlich seiner Ausgestaltung und seiner Relevanz zu einem vertieften Verständnis der Systemzusammenhänge und der involvierten Werte führen. Im einzelnen ist eine generelle Antwort für die Möglichkeiten des prinzipiellen Ansatzes kaum möglich. Es gibt primäre Prinzipien (z. B. das des Zieles des Existenzminimums, der Abwesenheit von Not, der Gleichheit usw.) und sekundäre eher "technische" Prinzipien (z. B. Vertrauensschutz, gerichtlicher Rechtsschutz, Selbstverwaltung). Primäre Prinzipien können Maßstäbe abgeben, um die generellen Ziele einer Sozialpolitik und eines Sozialrechts damit zu vergleichen, in welcher Weise typische soziale Lagen normiert und reguliert sind und/oder in welcher Weise soziale Institutionen die sozialen Probleme angehen und meistern. Sie geben gewissermaßen die Möglichkeit des Verstehens und der Bewertung des Besonderen vom Allgemeinen her - man könnte auch sagen: einer Betrachtung der positiven Gegebenheiten von einem außerhalb liegenden Standort aus. Primäre Prinzipien haben zugleich aber den Nachteil zu großer Allgemeinheit und Abstraktion. Ihre Interpretation führt deshalb schließlich doch wieder an die positiven
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Gegebenheiten heran, oder sie impliziert Alternativen zu diesen Gegebenheiten (die möglicherweise subjektiv vom Interpreten gewillkürt sind). Sekundäre Prinzipien dagegen setzen Gestaltelemente voraus (z. B. ein gegliedertes System sozialer Sicherung: etwa kausal-final, kausal und final definierte Systeme, oder kollektive Vorsorgesysteme versus staatliche Ausgleichs- und Förderungssysteme usw.). Sie sind von diesen Vorgaben abhängig. Sie sind aber von vornherein präziser. Und sie erlauben ein besseres Verstehen und Bewerten der größeren Systemzusammenhänge und der Regelungen, die ihnen vorgegeben und denen sie immanent sind. c) Der Tendenzvergleich 27
Eine besonders schwierige Frage, die hier zunächst offen bleiben muß, ist die nach Wesen und Möglichkeiten des Tendenzvergleichs. Er nimmt in der Praxis des Sozialrechtsvergleichs einen besonders breiten Raum ein. Was dabei im einzelnen geschieht, ist jedoch sehr unterschiedlich. Zum Teil werden Entwicklungen einzelner Elemente (soziale Lagen, Leistungen, Institutionen usw.) historisch oder/und prognostisch registriert. In diesem Fall handelt es sich darum, daß der Vergleich anhand sozialer Lagen, sozialer Leistungen, sozialer Institutionen und Funktionen usw. um eine dynamische (historische/prognostische) Dimension bereichert und möglicherweise auf sie konzentriert wird. Zum Teil wird die Veränderung leitender Prinzipien registriert. Dann geschieht Analoges hinsichtlich des Vergleichs nach Maßgabe des prinzipiellen Ansatzes. Zum Teil wiederum handelt es sich darum, daß leitende Prinzipien vorangestellt werden, auf die sich typische soziale Situationen, Maßnahmen, Leistungen, Institutionen und Funktionen zubewegen. In diesem Falle ist der Tendenzvergleich eine spezifische Ausprägung des "prinzipiellen Ansatzes" in dem hier spezifisch gemeinten Sinn. Denkbar ist schließlich auch noch, daß die Entwicklung als eine besondere Kategorie des Verstehens der verglichenen Rechtsbestände herangezogen wird. Dies alles bedarf noch besonderer Untersuchung. Die Untersuchung ist dringlich. Das ergibt sich aus der Häufigkeit von Tendenzvergleichen im Sozialrecht. Die Notwendigkeit von Tendenzvergleichen ergibt sich auch aus der Tendenz des Sozialrechts zu rascher Veränderung. Jedoch kann diese Dringlichkeit nichts daran ändern, daß der Versuch einer differenzierenden Darstellung und Beurteilung in diesem Rahmen vorschnell wäre. Nur am Rande sei bemerkt, daß als ein Vorzug des Tendenzvergleichs häufig der dadurch mögliche Verzicht auf das - im Sozialrecht so lästige - Detail genannt wird. Daß damit der Sozialrechts27
Siehe auch zu Anm. 7,8,34 und 37.
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vergleich aber auch eine wichtige immanente Kontrolle verliert, ist offensichtlich. V. Kategorien des Verstehens und des Bewertens28 1. Vorbemerkung
Wenn eingangs als Ziel des Rechtsvergleichs das bessere Erfassen, Verstehen und Bewerten von Recht angegeben wurde, so gilt auch für die Problemformulierung und für den Lösungsvergleich, daß nicht nur Tatbestände und Regelungen aufgenommen werden können, sondern von vornherein Kategorien des Verstehens und des Bewertens mit erschlossen werden müssen. Dabei sind im Prinzip zwei Wege denkbar. Man kann versuchen, von einem einmal formulierten positiven (sachund rechtsproblematischen) Ansatzpunkt aus die Zusammenhänge des Verstehens und des Bewertens aufzusuchen. Der Versuch, diese Zusammenhänge zu erschöpfen, wäre freilich eitel. Die Verstrickung der Phänomene in mögliche Bezugssysteme ist potentiell unendlich. Hier sind je konkrete Kriterien der Wichtigkeit und Ergiebigkeit, möglicherweise auch der "Machbarkeit" zu entwickeln, zu handhaben und nach Möglichkeit offen zu legen. Der andere der beiden Wege ist, zu versuchen, anhand von Leitlinien möglichen Verstehens oder Bewertens her - selektiv - die Probleme vorzuordnen und die Phänomene spezifisch zu befragen. Im einzelnen handelt es sich dabei um schwierige Fragen der Interpretation des Verstehens sozialer, insbesondere rechtlicher Phänomene. Die sozialrechtsvergleichende Arbeit sollte sich insofern so wenig als möglich mit methodentheoretischen Untersuchungen und Entscheidungen (und damit evtl. auch Einseitigkeiten und Fehlhaltungen) belasten. Vielmehr wird es geboten sein, pragmatisch zu verfahren, dabei aber die Zusammenhänge des Verstehens und Bewertens bewußt - und evtl. bewußt auswählend - zu verfolgen. 2. Einzelne Bereiche
Im folgenden können nur einzelne Merkposten notiert werden.
a) Der sozialpolitische Bezugsrahmen 29 Sozialrecht muß primär von seinen sozialpolitischen Voraussetzungen und Zielsetzungen her verstanden und bewertet werden. Gerade diese Kategorien sind so spezifisch, daß sie hier nicht ausgebreitet werden 28
2U
Siehe auch zu Anm. 1, 3, 18 und 39. Siehe auch zu Anm. 10 und 25.
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können. Vielmehr kann hier nur auf das verwiesen werden, was schon oben unter dem Aspekt der Stilmerkmale 30 und des prinzipiellen Ansatzes zu möglichen sozialpolitischen Kategorien des Verstehens und der Bewertung gesagt wurde. b) Juristische Ambiance
Die Rechtsordnung, der das Sozialrecht angehört, kann wichtige Kriterien sowohl für das Verstehen als auch für die Bewertung des Sozialrechts abgeben. Das gilt zunächst für das nationale, supranationale und internationale positive Recht in seiner Gesamtheit und potentiell für alle seine Einzelregelungen. Wie schon unter den Stilmerkmalen 31 des Sozialrechts hervorgehoben, spielt der allgemeine Charakter der Gesamtrechtsordnung eine bestimmende Rolle auch für das Sozialrecht: die Einbettung in ein common law-System, ein Gesetzesrechtssystem, ein verfassungsstaatliches System; die Gewährleistung subjektiver Rechte evtl. durch gerichtlichen Rechtsschutz usw. Andererseits spielen zentrale juristische Prinzipien 32 (wie teils oben schon unter dem Gesichtspunkt der Stilmerkmale, teils soeben unter dem Gesichtspunkt zentraler Prinzipien als Problemansatz erwähnt) eine Rolle als Kriterien der Deutung und der Bewertung sozialrechtlicher Systeme. Hinzu kommt aber die Insichspannung des Rechts zwischen geschriebenem, judiziertem, literarisch bekundetem Recht und "lebendem Recht", der Vergleich zwischen allgemeiner Rechtskultur und Subkultur unter Bedingungen der Abhängigkeit, der Armut usw., die unterschiedliche Reichweite des Rechts, Zäsuren des Rechtsgehorsams und der Erzwingbarkeit von Recht usw. Diese Hinweise gehen zunächst vom nationalen Recht aus. Ein anderer Rahmen des Verstehens und Bewertens wird betreten, wenn Normen des supranationalen und internationalen Rechts infrage stehen33 • Die Ambiance weitet sich aus auf die erfaßten und betroffenen nationalen Rechtsordnungen. Die Funktion des Rechts ist durch das Gegenüber von nationalem und internationalem bzw. supranationalem Recht bestimmt. Und Zustande kommen und Verwirklichung des internationalen/supranationalen Rechts sind von den besonderen Bedingun30
31
32 33
Siehe auch zu Anm. 5, 9 und 31. Siehe auch zu Anm. 5, 9 und 30. Siehe auch zu Anm. 11 und 26. Siehe auch zu Anm. 4, 6, 12, 16, 36 und 38.
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gen internationaler übereinkommen, internationaler Organisationen und supranationaler Gemeinschaften her zu beurteilen. c) Allgemeine politische Ambiance
Sowohl zum Verständnis als auch zur Bewertung von Sozialrecht kann sein Standort in totalitären oder freiheitlichen und pluralistischen, autoritären oder demokratischen, etatistischen oder gesellschaftsorientierten, kollektivistischen oder individualorientierten politischen Systemen beitragen. d) Die demographische und gesellschaftliche Ambiance
Analoges gilt für die endlose Vielfalt gesellschaftlicher Gegebenheiten und Strukturen: Bevölkerungszahlen, Bevölkerungsdichte, Bevölkerungsstrukturen (Alter, Erwerbstätigkeit usw.), Bevölkerungsverteilung; der Grad der Verstädterung und Industrialisierung; Zuschnitt und Bedeutung der Familie, des Betriebs und des Unternehmens (für den Arbeitnehmer), der örtlichen Lebensgemeinschaften (Dörfer, Straßen usw.), Kasten, Klassen und sonstige Schichtungen, religiöse, ideologische, sprachliche Gruppierungen, regionale Unterschiede usw.
e) Die sozio-kulturelle Ambiance Die im Zusammenhang der gesellschaftlichen Ambiance schon anvisierten zivilisatorischen, kulturellen, religiösen und ideologischen Elemente einer Gesellschaft können als eigenständige Kategorien des Verstehens und des Bewertens herangezogen und ausgebaut werden. Daß sie in besonderer Weise mit nahezu allen anderen Kategorien verflochten sind, ist offensichtlich. f) Die informatorische Ambiance
Ein spezieller Bereich ist die informatorische Ambiance des Sozialrechts: wie wird es für wen wahrnehmbar? Sozialrecht lebt gewiß anders in einer alphabetischen oder einer analphabetischen Gesellschaft, in einer Gesellschaft mit entwickeltem Mediensystem oder ohne ein solches. Sozialrecht erreicht vor allem auch innerhalb ein- und derselben Gesellschaft die Alphabeten und sonst Informierten besser als die Analphabeten und sonstwie Nicht-Informierten. Hierin steckt ein elementares Problem. Sozialrecht muß in der Bevölkerung "nach unten" dringen. "Unten" sind die schlechter Informierten. Sozialrecht ist aber - wie jedes Recht -, um gelten zu können, auf Information angewiesen.
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Hans F. Zacher g) Ökonomische Bedingungen und Wertungen Von größter Vielfalt sind die ökonomischen Zusammenhänge.
Weitgehend unaufgeklärt ist schon das Verhältnis zwischen der ökonomischen Natur der Sozialprobleme und der Möglichkeit nichtökonomischer Sozialprobleme und nichtökonomischer Lösungen. Probleme des sozialen Ausschlusses z. B. sind dem Grunde nach weitgehend nichtökonomischer Natur, und hinsichtlich ihrer Lösung jedenfalls öfter als gemeinhin angenommen wird. Auch Bildungsprobleme werden pervertiert, wenn sie primär als Probleme ökonomischer Chancengleichheit gesehen werden. Ökonomische Lösungen sind prinzipiell leichter verfügbar als nichtökonomische. Andererseits ist nicht zu verkennen, daß Sozialpolitik primär mit ökonomischen Wertungen und Mitteln arbeitet. Vor allem ist die ökonomische Wirksamkeit der Sozialpolitik bedeutsam. Soweit nun ökonomische Zusammenhänge für die Sozialpolitik und das Sozialrecht bedeutsam sind, ergeben sich in größter Vielzahl ökonomische Prämissen und Konsequenzen von Sozialpolitik und Sozialrecht: Verteilungs- und Umverteilungswirkung der sozialpolitischen Systeme, Möglichkeiten der Umverteilung im Verhältnis zum Sozialprodukt, Sozialpolitik als wirtschaftspolitische Intervention (z. B. antizyklische Wirkung, wirtschaftliche Tragweite der Disposition über soziale Fonds; Relation zwischen Währungsstabilität und Währungsverfall auf der einen Seite und sozialer Sicherung auf der anderen; ökonomische Möglichkeiten "sozialer Sicherung" außerhalb der öffentlichen Systeme durch Sparen, Vermögensbildung, Privatversicherung; scheinbar überholt, aber für die Entwicklungsländer aktuell, etwa die Zäsur zwischen Natural- und Geldwirtschaft als Gestaltelement sozialer Sicherung und Umverteilung - um nur einiges zu nennen. h) Finanzwissenschajtliche Studien Ohne daß sie von den vorigen (und auch von den nachstehend skizzierten) Zusammenhängen gesondert werden könnten, seien hier auch noch weitere finanzwirtschaftliche Zusammenhänge genannt. So steht etwa die Beteiligung der gesicherten (zu sichernden) Personen an der Aufbringung der Mittel des Vorsorgesystems sowohl in dem Zeichen der Begründung von Interessen und des Erwerbs von Anteilen als auch unter dem Zeichen der Differenzierung der finanzwirtschaftlichen Zurechnungs- und Entscheidungsprozesse. Auf der anderen Seite bedeutet die Aufbringung der Mittel für die soziale Sicherheit allein über den Staatshaushalt (mit oder ohne eine besondere allgemeine Abgabe) zwar größere Flexibilität, aber auch eine konzentrierte Belastung der zentralen haushaltstechnischen Entscheidungsprozesse.
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Zahlreiche Probleme stehen im Zusammenhang mit der haushaltsrechtlichen, finanz-, wirtschafts- und geldpolitischen Koordination von Staatshaushalten und sozialen Parafisci. i) Sozial recht und Arbeitswelt
Von größter Tragweite und Differenziertheit sind die Zusammenhänge zwischen Sozialrecht (Sozialpolitik) und Arbeitswelt (im weitesten Sinne, nicht nur dem der abhängigen Arbeit). Auch sie können freilich nicht klar von den übrigen Bezugsfeldern geschieden werden. Die zentrale Bedeutung, die der Ausdehnung des industriellen Sektors, der Arbeitnehmerquote und der Frauenarbeitsquote für die Entwicklung der Systeme sozialer Sicherung zukommt, ist bekannt. Weniger bewußt, weil selbstverständlich, ist die Rolle, die der Bejahung des Prinzips des Einkommens durch eigene Leistung und der Selbstverwirklichung durch eigene Leistung zukommt. Es steuert - im Sinne von Regel und Ausnahme oder im Sinne der Definition des Ersatzes durch das Ersetzte - weitgehend auch Regelungen für die Gruppen, denen, wie etwa Schwerbehinderten, die Verwirklichung des Prinzips apriori nicht angesonnen werden kann. Wird dieses Prinzip nicht mehr bejaht, so verlieren die gängigen Regulative der Risiken des Einkommensverlusts und die Sicherungen gegen die manipulierte Inanspruchnahme von Sozialleistungen weitgehend den Sinn und Wirksamkeit. Auf der anderen Seite ist die Selbstverwirklichung durch Leistung Sinnprinzip der Rehabilitation. Kaum geringere Bedeutung hat die Differenzierung und Entfaltung des Leistungsprinzips durch den Lohnanreiz. Zahlreiche sozialrechtliche Regelungen verlieren ihren Sinn, ja werden pervertiert, wenn die Möglichkeit von Einkommenszuwachs und die Angst vor Einkommensminderung keinen Leistungsanreiz mehr darstellen. Das Prinzip der Selbsterhaltung durch Arbeit vorausgesetzt, wird die Möglichkeit der Arbeit zu einem sozialen Gut. Von da her bezieht nicht nur die Sicherung gegen die Arbeitslosigkeit ihre Bedeutung. Vielmehr kann im Falle der Knappheit dieses Gutes die Ausgestaltung der sozialen Sicherung zu einem Instrument der Beschäftigungspolitik werden (z. B. indem sie den Rückzug aus dem Arbeitsleben begünstigt). Andererseits schafft ein realisiertes "Recht auf Arbeit" weitgehend andere Bedingungen für die Techniken der sozialen Sicherung als ein System, in dem das Risiko der "Arbeitslosigkeit" (in einem weiteren untechnischen Sinn) höher ist. Wo, wie und in welchem Verband gearbeitet werden kann, ist eine wichtige Bedingung der Ausgestaltung sozialer Sicherheit. Arbeit im agrarischen oder vorindustriell-städtischen Großfamilien- und Gesinde5
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verband schafft andere soziale Gefährdungen und Kompensationen als individualistische, industrielle Arbeitswelt. Die Art der Diversifikation von Arbeitsgelegenheit und die Streuung der verschiedenen Arten ist - neben der objektiven Begrenztheit der Mittel und neben der Vermischtheit von Natural- und Geldwirtschaft - eine der wesentlichen Schwierigkeiten der Sozialpolitik in den Entwicklungsländern. Soziale Sicherung ist weithin orientiert an der Lohn-Zeit-Relation des industriellen Arbeitslebens. Damit entstehen Probleme, Einkommen dort zu sichern, wo etwa eine ausgeprägte Lohn-Leistung-Relation besteht: z. B. bei individuell arbeitenden Selbständigen (Autoren usw.), oder wo eine schwer auflösbare Verbindung von "Unternehmerrente" und individueller Leistung gegeben ist (wie möglicherweise bei Land~ wirten, bei freiberuflich Tätigen usw.). k) Technische Ambiance
Schließlich sind auch noch die Umstände zu nennen, unter denen Sozialrecht sich technisch zu verwirklichen hat. In Betracht zu ziehen sind Fragen der Größenordnung und der notwendigen personellen und technischen Apparate. Nicht unwesentliche Rückwirkungen sind z. B. auf das Sozialrecht vom Einsatz elektronischer Datenverarbeitung ausgegangen. l) Natürliche Umwelt
Einen besonderen Stellenwert für das Verstehen und Bewerten von Recht hat seit jeher das Klima. Nicht nur der Zusammenhang mit den wirtschaftlichen und arbeitstechnischen Gegebenheiten ist offensichtlich. Offenbar steuern klimatische Bedingungen auch soziokulturelle Entwicklungen. Auch bestehen Wechselbeziehungen zwischen der technischen Ambiance und den klimatischen Verhältnissen. Jedoch ist es notwendig, diesen Gesichtspunkt auszuweiten und die gesamte natürliche Umwelt als bedingenden Faktor auch für die soziale und rechtliche Entwicklung in Betracht zu ziehen. 3. Die historische Dimension des Verstehens
Eine ganz andere Dimension des Verstehens eröffnet die historische Sicht auf die Phänomene. Dabei ist wiederum sowohl an die engere Sozialrechtsgeschichte (Sozialpolitikgeschichte) als auch an den weiteren Zusammenhang etwa der Rechtsgeschichte oder der Wirtschafts- und Sozialgeschichte oder eben der allgemeinen Geschichte zu denken. Dabei hat nicht nur das Sozialrecht selbst diese sich weitenden Bezugs-
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kreise seiner eigenen Geschichte, der Rechtsgeschichte, der Sozialgeschichte und der allgemeinen Geschichte. Auch jede einzelne Kategorie des Verstehens kann selbst historisch gesehen und in ihr nähere historische Zusammenhänge gestellt werden. Das macht die historische Dimension ebenso umfassend bedeutsam, wie es die Herauslösung einzelner historischer Aspekte gefährlich erscheinen läßt. Einmal mehr ist hier an das offene Problem des Tendenzvergleichs zu erinnern34 • Im Vorstellungsbereich des Tendenzvergleichs scheint die Möglichkeit sich abzuzeichnen, daß die Geschichte statt zum Medium der Erklärung der Phänomene zum Gegenstand ihres Vergleichs wird. Sowohl diese Polarität (Medium oder Objekt!) selbst als auch die eigentümlichen Schwierigkeiten der Herausarbeitung einer zur Tendenz komprimierten Geschichte können hier nur als Problem genannt werden. 4. Ergänzende Bemerkungen
Erfassen, Verstehen und Bewerten des Rechts bedingt sich wechselseitig. Das heißt, daß der Prozeß der Ermittlung und Auswertung nicht nach Kategorien des Erfassens, Verstehens und Bewertens getrennt werden kann. Das wiederum schließt nicht aus, schwerpunktartig die Darstellung des Rechts, die erschlossenen Zusammenhänge, aus denen es zu verstehen ist, und die Kategorien, die seiner Bewertung zugrunde liegen, auszuweisen. Wichtig ist jedoch, daß die Gleichheit des Gegenstandes gewahrt bleibt. So wie Erfassen, Verstehen und Bewerten von Recht ein interdependenter Prozeß ist, so muß beim Rechtsvergleich auch die vorrechtliche Findung und Formulierung des Problems gleichermaßen allgemein sein. So darf etwa nicht der "Stoff" des Erfassens aus verschiedenen nationalen Rechten genommen werden, während die Werthorizonte nur einer der beteiligten Rechtsordnungen entnommen werden. Vielmehr ist es notwendig, in einem Prozeß des Hin- und Herschauens sowohl den positiven Rechtsstoff als auch die Elemente des Verstehens als auch die Kategorien der Bewertung - als mögliche Kategorien der Bewertung - allen beteiligten Rechtsordnungen zu entnehmen. Dabei ist von vornherein in Rechnung zu stellen, daß möglicherweise den verschiedenen nationalen Regelungen auch und gerade verschiedene Maximen der Bewertung entsprechen. Das bedeutet auch, daß die Problemformulierung offen und flexibel genug sein muß, um eine solchermaßen gestaffelte Vielfalt aufzunehmen. Eine wieder andere Frage ist, ob nach diesem Prozeß gewissen Kategorien der Bewertung der subjektive (wenn auch begründbare) Vorzug '34
Siehe auch zu Anm. 7, 8, 27 und 37.
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des Beobachters gegeben wird, so daß er schließlich diese Kategorie der Bewertung an die verglichenen Rechtsordnungen anlegt. C. ZUR DURCHF'OHRUNG DES RECHTSVERGLEICHS
I. Die Auswahl des Gegenstandes 1. Die sachliche Abgrenzung
Zur sachlichen Abgrenzung eines möglichen Sozialrechtsvergleichs ist zunächst auf das unter B. Aufgeführte zu verweisen. Möglich ist jeder Gegenstand, für den sich eine vorrechtliche Problemformulierung finden läßt. Dabei können die erwähnten Ansätze (typische soziale Lage, auch als subjekttypische Position oder typische soziale Gruppenlage, soziale Maßnahmen, insbesondere Leistungen; soziale Institutionen und Funktionen; sozialpolitische und rechtliche Prinzipien) möglicherweise variiert werden: -
Im Sinne exemplarischer Problemverengung: etwa durch die Annahme exemplarischer Sozialrechtsfälle (z. B. Tod eines Familienvaters mit vier Kindern in gewisser beruflicher Stellung bei gewissem Alter usw.). Dabei ist jedoch zu beachten, daß die Selektion von tatsächlichen Umständen bei der Konstitution eines Rechtsfalles immer auch rechtsabhängig ist. Die exemplarische Auswahl von Rechtsfällen macht also ein weiteres Ausgreifen im Sinne der umschriebenen allgemeineren Ansätze (vor allem im Sinne der typischen sozialen Lage) nicht schlechthin entbehrlich.
-
Die Ausweitung zu (vor allem territorial) umfassenden Vergleichen von typischen sozialen Situationen, von für sie vorgesehenen Maßnahmen (Leistungen) und evtl. auch von insofern wirksamen Institutionen und Funktionen. Jedoch ist damit die Alternative zwischen aufwendiger Differenzierung oder extremer Verdünnung der Aussage (möglicherweise auch in Richtung auf den nominalistischen Zugang) verbunden. In der Regel erwachsen daraus - meist tabellarische - Grobvergleiche, die ihrerseits dem Rechtsvergleich als Hilfsmittel dienen können, ohne selbst Rechtsvergleich darzustellen.
-
Eine "mittlere Lösung" scheint der Versuch darzustellen, vergleichbare Teilsysteme (etwa zur sozialen Sicherung im Krankheitsfall, zur Sicherung gegen Arbeitslosigkeit und dgl.) herauszugreifen. Eine besondere Spannung besteht in diesem Fall zwischen der komplexen
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Verbindung gleicher und ungleicher Elemente und dem übermäßigen Anschein der Gleichartigkeit, der von einem solchen Vergleich vorausgesetzt oder erzeugt wird. Hier ist dem Ausweis über Gleiches und Ungleiches größte Aufmerksamkeit zu widmen. Auf diese besondere Problematik wurde oben bereits aufmerksam gemacht35 • 2. Die einbezogenen Rechtsordnungen36
Für das Ausgreifen des Rechtsvergleichs ist zunächst wieder auf die Unterscheidung zwischen dem horizontalen und dem vertikalen Rechtsvergleich zurückzukommen. Im rein horizontalen Rechtsvergleich können zwei oder mehr nationale (oder auch internationale) Rechtsordnungen miteinander verglichen werden. Dabei ergeben sich Besonderheiten, wenn diese nationalen Rechtsordnungen gemeinsamen Rechtsfamilien angehören oder die Rechtsordnungen - insbesondere die Sozial rechtsordnungen - sonstwie durch gemeinsame Stilmerkmale, durch soziale, ökonomische, politische oder ähnliche Gemeinsamkeiten verbunden sind. Ebenso ergeben sich - in der Gegenrichtung - Besonderheiten, wo wesentliche Unterschiede bestehen. Alles in allem vollzieht sich etwa der Rechtsvergleich zwischen zwei Ländern, die den Europäischen Gemeinschaften angehören, unter wesentlich anderen Bedingungen als der Rechtsvergleich zwischen der Bundesrepublik Deutschland und einem Entwicklungsland, oder auch der Rechtsvergleich zwischen der Bundesrepublik Deutschland und einem kommunistischen Staat. Der vertikale Rechtsvergleich steht im Vergleich einer oder mehrerer nationaler Rechtsordnungen mit dem (gemeinsam) übergeordneten internationalen und supranationalen Recht. Jedoch kann dieser vertikale Rechtsvergleich immer auch ein besonderes Sinnprinzip für den Vergleich der nationalen Rechtsordnungen untereinander sein. Es handelt sich dann um eine Verbindung von horizontalem und vertikalem Rechtsvergleich. 3. Die Zeitdimension
a) Vorbemerkung - Rechtsgeschichte als Rechtsvergleich Angesichts der Bewegtheit des Sozialrechts, aber auch angesichts der Enwicklungsabhängigkeit des Sozialrechts kommt der Zeitdimension, in der der Rechtsvergleich angelegt wird, eine große Bedeutung zu. 35
36
Siehe auch zu Anm. 23. Siehe auch zu Anm. 4, 6, 12, 16, 33 und 38.
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Dazu ist vorweg zu sagen, daß Rechtsgeschichte in sich immer auch ein Fall des Rechtsvergleichs ist: Vergleich des Rechts in verschiedenen Epochen. Jedoch ist von der Rechtsgeschichte (Sozialrechtsgeschichte) innerhalb ein- und derselben Rechtsordnung hier abzusehen. Davon ausgehend lassen sich folgende Möglichkeiten unterscheiden: b) Vergleich von Rechtsbeständen
-Der Zeit ans atz mehrerer untereinander zu vergleichender mehr oder minder statisch gedachter Rechtsbestände kann wie folgt variieren: -
er kann auf der Grundlage schlichter Gleichzeitigkeit vorgenommen werden (z. B. Bestandsaufnahme über Systeme sozialer Sicherheit in den Europäischen Gemeinschaften oder auf der ganzen Welt). Dieser Ansatz ist vielfach unentbehrlich oder doch allein möglich, aber wegen der Unterschiede und des raschen Wechsels besonders problematisch.
-
Der Vergleich entsprechender Stadien nach Maßgabe der allgemeinen sozialen Entwicklung, der sozial rechtlichen Entwicklung usw. Hier besteht die entscheidende Schwierigkeit in der sachgerechten Ermittlung. Dieser Vergleich stellt deshalb ein außerordentliches Wagnis dar. So berechtigt es ist, ihn als Möglichkeit zu denken, so begrenzt sind die Möglichkeiten überzeugender Realisation. c) Der Vergleich von Entwicklungen 37
Der Entwicklungsvergleich ist zunächst auf die Vergangenheit gerichtet (historischer Vergleich). Dabei ist es wieder denkbar, schlicht gleichzeitige Epochen zum Vergleich heranzuziehen oder entsprechende Stadien. Und hier mag es sogar eher - als beim statischen Vergleich nahe liegen, den letzteren Weg zu gehen. Wie schon mehrfach erwähnt, erscheint es denkbar und wird es weitgehend praktiziert, die beobachteten geschichtlichen Entwicklungen zu Entwicklungstendenzen zu komprimieren. Von da her wird der Versuch eines Tendenzvergleichs unternommen, Bestandsermittlung und Tendenzbeobachtung scheinen schließlich auch die Voraussage künftiger Entwicklungen zu ermöglichen (Prognose). Die geschichtliche Betrachtung schlägt um in Futurologie. Diese Verbindung ist für die Tendenzvergleiche weithin typisch: aus der Geschichte heraus auf die "Stattrampe" der Gegenwart und dann extrapolierend vorstoßen in die Zukunft! Daß angesichts der elementaren Bedeutung des Sozialrechts 37
Siehe auch zu Anm. 7,8,27,34.
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für den Menschen und der Veränderungsträchtigkeit des Sozialrechts gerade die Prognose von besonderem Interesse wäre, ist offensichtlich. Auf die Vergleichsdimension überführt zeigt sich die Möglichkeit einer vergleichenden Prognose. Sie könnte etwa für Strategie in der Harmonisierung bedeutsam sein. Nicht weniger aber könnte sie der nationalen Sozialpolitik helfen, das Kalkül des internationalen Vergleichs zu meistern. Abgesehen von der vergleichenden Geschichte des Sozialrechts im zuerst erwähnten Sinne erscheinen diese Verfahren aber auch in besonderem Maße problematisch und ungesichert. Schon der Tendenzvergleich ist nach Gegenstand und Methode noch zu ungeklärt, als daß er hier weiter erörtert werden könnte. Vor allem ist die Einschätzung von Entwicklungslinien und -determinanten als wesentlich oder unwesentlich sehr arbiträr. Noch mehr gilt dies für die Prognose. Für sie kommt die Schwierigkeit hinzu, daß es sich wohl nur selten um spezifisch sozialrechtliche Prognosen handeln kann. Diese Bedenken schließen nicht aus, daß auf diesem Felde weiter experimentiert wird. Und sie wollen nichts dagegen sagen, daß über diese Fragen weiter nachzudenken ist.
11. Gegenstände, Quellen und Verfahren der Ermittlungen 1. Zum Gegenstand
Hinsichtlich des Gegenstandes ist zu unterscheiden zwischen der Ermittlung des Rechts und der Ermittlung der tatsächlichen Verhältnisse (die rechtlich strukturiert sein können), einschließlich der Sachgesetzlichkeiten, die diese bestimmen. Die Ermittlung tatsächlicher Verhältnisse entzieht sich einer spezifischen Methode. Hinsichtlich der Ermittlung des Rechts ist zu unterscheiden zwischen der Ermittlung des "geschriebenen Rechts" im engeren Sinne als Gesetzesrecht, dem "geschriebenen Recht" im weiteren Sinne als Summe von Gesetzesrecht, Judikatur und Schrifttum, und den Rechtstatsachen, der Wirklichkeit des Rechts. Der in der Rechtsvergleichung übliche Begriff des "living law" ist nicht eindeutig. Offenbar wird er teils in dem Sinne des "geschriebenen Rechts" im weiteren Sinne verstanden, teils aber auch im Sinne der Konfrontation des "geschriebenen Rechts" im weiteren Sinne mit den Rechtstatsachen. Jedenfalls für das Sozialrecht scheint das Ausgreifen in die Rechtstatsachen notwendig zu sein.
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2. Zum Vorgehen
Jedoch ist ganz offensichtlich, daß dieses Ausgreifen mit extremen Gefahren der Unvollständigkeit und der Unrichtigkeit belastet ist. Insofern wird das "geschriebene Recht" im weiteren Sinne stets die Grundlage der Arbeit bleiben müssen. Das Ausgreifen in die Rechtstatsachen bedarf besonderer Absicherung und Offenlegung. Ungesicherte Informationen sollten nicht außer Betracht gelassen, aber als solche bezeichnet werden. Für die Ermittlung des "living law" in dem bezeichneten zurückhaltenden Sinne kommen im einzelnen in Betracht: -
Abkommen, Gesetze, Entscheidungen und/oder
-
Literatur (welche? nur juristische; auch nicht-juristische wissenschaftliche Literatur; oder auch Presse u. ä.) und/oder
-
Befragung (wessen? - mit wie gestalteten Fragen?)
-
und/oder persönliche Beobachtungen und Erfahrungen.
Auch insofern ist weder die Beschränkung der Arbeit auf Gesetzestexte, Literatur und dgl. zweckmäßig, noch die unreflektierte übernahme der Ergebnisse von Interviews, von allgemeinen Befragungen und eigenen Erfahrungen. Geboten ist vielmehr, neben den Texten auch weitere Informationen auszuwerten. Und dabei ist aber doch die gesteigerte Gefahr der Teilhaftigkeit und Unrichtigkeit stets mit zu bedenken. Wichtig ist vor allem auch der entsprechende Ausweis bei der Auswertung und Darstellung der Ergebnisse.
111. Darstellung - Ergebnisse 1. Allgemeine Aspekte
Im sozialrechtlichen Schrifttum sind bisher zwei Typen rechtsvergleichender Darstellung weit verbreitet: -
die nicht-koordinierte Addition von je systeminternen Berichten über nationale Rechtsordnungen und
-
die Auftragung nationaler Angaben auf meist wenig aussagekräftige, zu allgemeine vergleichende Rubriken. Beide Methoden sind letztlich nicht hinreichend ergiebig.
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Anzustreben ist eine von der Sachproblematik her determinierte, gegliederte Darstellung. Dabei ist eine offene Frage, ob es zweckmäßig ist, - die sachproblematische Systembildung oder - die nationalen Rechtsordnungen als Gliederungsmaximen dominieren zu lassen. 2. Gliederungsvarianten
Keines der beiden Prinzipien kann vermutlich rein durchgehalten werden. Wollte man einen Versuch primär nach nationalen Systemen darstellen, so müßte die Umschreibung und Auffächerung des vorrechtlichen Problems und dessen Ordnungsfrage vorher dargestellt werden. Damit ergäbt sich in etwa eine Dreiteilung: nach einer differenzierenden Problemdarstellung die Wiedergabe der Problemlösungen nationalen Rechts und schließlich wohl eine zusammenfassende Würdigung dieser nationalrechtlichen Ergebnisse. Wollte man die gemeinsamen Sachkategorien dominieren lassen, so müßte eher die Einführung in die wesentlichen Zusammenhänge der nationalen Rechtsordnungen vorausgehen. Und ein abschließender Teil müßte wohl wiederum die inmitten stehende gemeinsame Systemdarstellung in einer Reflexion der nationalrechtlichen Zusammenhänge verorten. Mit anderen Worten ausgedrückt, geht es um folgendes. Immer das Element (Sachproblem oder nationale Rechtsordnung), das die Darstellung eröffnet, kann zunächst nur vorläufig und vorsichtig erschließend behandelt werden. Sonst müßte zuviel vom anderen Element im ungeeigneten Zusammenhang vorweggenommen werden. Das aber läßt das Bedürfnis offen, nach Erörterung des anderen Elements die Ansätze des "Erörterungselements" fortzuführen. Soweit in eine Untersuchung außer nationalen Rechten auch internationales (supranationales) Recht38 einbezogen ist, stellt sich die Frage, ob das internationale (supranationale) Recht parallel zu den nationalen Rechtsordnungen behandelt werden soll oder eher als ein gemeinsames Element. In diesem Falle wäre etwa folgende Abfolge denkbar: Problemformulierung - internationales Recht (supranationales Recht) nationale Rechte - Zusammenführung. Oder auch: internationales Recht (supranationales Recht) als Provokation - gemeinsames Sachproblem der nationalen Rechte (unter Vorgabe der internationalen/ supranationalen Provokation) - nationale Rechtsordnungen - Zusammenführung. In wieder anderer Betrachtungsweise könnte auch so verfahren werden: gemeinsames Sachproblem - nationale Rechtsordnungen - internationale/supranationale Steuerung - Zusammenführung. 38
Siehe auch zu Anm. 4, 6, 12, 16, 33, 36.
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Hans F. Zacher 3. Zielbedingte Besonderheiten39
Die bisherigen Überlegungen gehen davon aus, daß die Elemente des Erfassens, des Verstehens und des Bewertens in ihrer Verflochtenheit belassen werden sollen. Nun kann es aber das besondere Ziel einer Arbeit sein, etwa eine besondere Kategorie des Verstehens (z. B. die Umverteilungswirkung eines Regelungskomplexes oder seine Abhängigkeit von gewissen Bedingungen der Arbeitswelt) in besonderer Weise zu verfolgen. Ebenso kann es möglich sein, daß nicht nur die Maximen der Bewertung, die in den nationalen Rechten angetroffen werden, aufgenommen werden, sondern daß - aus dem angetroffenen Vorrat heraus oder unabhängig davon - gemeinsame einheitliche Maximen der Bewertung angelegt werden sollen. Schließlich ist eine weit verbreitete Vorstellung, daß der Rechtsvergleich die Ermittlung einer "bestmöglichen Lösung" erlaube. Dabei kann es sich um eine der angetroffenen nationalen (internationalen/ supranationalen) Lösungen handeln, oder auch um die Zusammenfügung von Elementen verschiedener nationaler Lösungen, oder auch um die Fortentwicklung der angetroffenen nationalen Lösungen. In jedem dieser Fälle ist zunächst einmal die Klarstellung der Besonderheit (z. B. der "Einseitigkeit" des Verstehens oder der Anwendung von Bewertungsmaximen über ihre positivrechtliche Immanenz hinaus oder der Ermittlung einer Ideallösung) notwendig. Dabei wird die selektive Betonung einzelner Kategorien des Verstehens wohl weniger Probleme der Redlichkeit aufwerfen als die Unterscheidung zwischen vorgefundenen und auf ihren eigenen Geltungsbereich projizierten Bewertungsmaßstäben und darüber hinaus mit einem allgemeineren Anspruch entwickelten Bewertungsmaßstäben. Die Entwicklung einer "Ideallösung" ihrerseits ist wohl weitgehend eine Funktion der Entwicklung solcher allgemeineren Bewertungsmaßstäbe. Denkbar ist freilich auch der Fall, daß etwa nationale Bewertungsmaßstäbe in Widerspruch oder doch Spannung zu den "eigenen" nationalen Lösungen stehen, während fremde Lösungen ihnen eher gemäß erscheinen. Jedoch handelt es sich dabei vermutlich im Regelfall um die Kollision von Prinzipien des jeweiligen nationalen Rechts. Sie muß aufgenommen werden, und ihre Auflösung in einer anderen Richtung als der des geltenden Rechts muß ausgewiesen werden. Welche Konsequenzen sich aus solchen Komplikationen und Ausweitungen für die Gliederung ergeben, entzieht sich einer allgemeinen Programmatik. Generell wichtig ist nur, daß die Gliederung Raum für die gebotenen Unterscheidungen und Klarstellungen schafft. 39
Siehe auch zu Anm. 1 und 28.
DRITTER TEIL
Colloquium Das Programm des Colloquiums Zeit: 6. Juli 1976, Mittag, bis 9. Juli 1976, Mittag Ort: Akademie für Politische Bildung, Tutzing (Starnberger See) Themen und Referenten 1. Probleme und Problemlösungen des wissenschaftlichen Sozialrechts-
vergleichs Referent: Professor Dr. Jef van Langendonck (Leuven) 2. Das internationale Sozialrecht (Kollisionsrecht/Konfliktsrecht) als Hilfe für den Sozialrechtsvergleich Referent: Professor Dr. Bernd von Maydell (Berlin) 3. Erfahrungen der internationalen Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Sozialarbeit und ihre Ergebnisse für die Ziele und Methoden des Sozialrechtsvergleichs Referent: Professor Dr. Eugen Pusic (Zagreb) 4. Was ergeben die Erfahrungen bei der internationalen Zusammenarbeit der Sozialversicherungen für die Frage der Vergleichbarkeit der nationalen Sozialrechtsordnungen? Referent: Dr. Wilhelm Wanders, Direktor der Landesversicherungsanstalt Schwaben (Augsburg) 5. Was ergeben die Arbeiten an internationalen Sozialrechtskodifikationen für Ziele und Methoden, insbesondere für die Kategorien des Sozialrechtsvergleichs? Referent: Professor Dr. Heribert Golsong (Straßburg)*
* Das Referat Golsong mußte entfallen, da der Referent wegen Erkrankung an dem Colloquium nicht teilnehmen konnte.
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Das Programm des Colloquiums
6. Was ergeben die Erfahrungen bei der Kontrolle der Durchführung internationaler Sozialrechtsabkommen für die Ziele und Methoden, insbesondere für die Kategorien des Sozialrechtsvergleichs? Referent: Professor Dr. Dr. h. c. J. J. M. van der Ven (Utrecht) 7. Was ergeben die Erfahrungen bei der supranationalen Harmonisierung von Sozialrecht für die Ziele, Methoden, insbesondere für die Kategorien des Sozialrechtsvergleichs? Referent: Ministerialdirektor a. D. Professor Dr. Kurt Jantz (Bonn) 8. Was ergeben die Erfahrungen bei der sozialrechtlichen Beratung von Entwicklungsländern für die Methoden des Sozialrechtsvergleichs, insbesondere für den Vergleich zwischen Industrie- und Entwicklungsländern? Referent: Ministerialrat Dr. Rudolf Echterhölter (Bonn)
Probleme und Problemlösungen des wissenschaftlichen Sozialrechtsvergleichs Von J ef van Langendonck
Für den Rechtsvergleicher ist die Sprache ein sehr wichtiges Mittel, nicht ein Ziel. Rechtsvergleicher sollten so viele Sprachen wie möglich verstehen und auch einige Sprachen aktiv beherrschen, wenigstens in dem Maße, daß eine Verständigung mit fremdsprachigen Rechtssystemen durch Texte und durch Gespräche möglich ist. Diese Notwendigkeit macht die Rechtsvergleicher sehr tolerant gegenüber der wenig eleganten und oft fehlerhaften Verwendung ihrer Sprache durch fremde Kollegen. An diese Haltung appelliere ich bei Ihnen wegen meiner geringen Kenntnis des Deutschen, das ich hier als reines Verständigungsmittel, nicht als literarische Sprache betrachte. Ich habe einen Rechtfertigungsgrund dafür, daß ich hier das Wort ergreife, und zwar ist das der Umstand, daß ich mich einige Jahre lang mit einer rechtsvergleichenden Untersuchung über die soziale Krankenversicherung befaßt habe. Von 1967 bis 1971 habe ich meine Habilitationsschrift geschrieben über die Harmonisierung der Krankenversicherung in der EG1; in den Jahren 1973 bis 1975 habe ich dieses Werk neu bearbeitet für eine englische Ausgabe2 ; und in den Jahren 1974/75 habe ich die Vereinigten Staaten und Israel besucht, um dort die Krankenversicherung im Rahmen des Systems der sozialen Sicherheit zu studieren. Bevor mich Professor Zacher zu diesem Colloquium einlud, hatte ich mir noch keine Gedanken über die Methodologie meiner Arbeit gemacht. Die Einladung war mir ein willkommener Anstoß zur Selbstreflexion. Letzteres habe ich in den vergangenen Monaten versucht, und die Frucht dieser Betrachtungen biete ich Ihnen hiermit dar.
1 J. van Langendonck, De harmonizering von de sociale verzekering voor gezondheidszorgen in de E.E.G., Leuven, Rechtsfakulteit, 1971. ! J. van Langendonck, Prelude to Harmony on a Community Theme, Health Care Insurance Policies in the Six and Britain, London, Oxford University Press, 1975.
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J ef van Langendonck
Rechtsvergleichung und Sozialrechtsvergleichung Sie werden bemerken, daß ich nur über Rechtsvergleichung spreche, nicht über Sozialrechtsvergleichung. Ich bin der Meinung, daß es keinen wesentlichen Unterschied in der Methode gibt zwischen beiden. Nur der Gegenstand, auf den die Methode angewendet wird, ist verschieden. Es gibt gewiß große und wichtige Unterschiede zwischen dem Bereich des Sozialrechts und anderen Rechtszweigen, die für die Untersuchungsmethode sehr wichtig sind, z. B. die Struktur der Rechtsquellen, der Wandel der Rechtsinhalte, das Ausmaß juristischer Begriffsbildung, die sozial ökonomischen Auswirkungen, usw. All dieses führt dazu, daß die Forschung auf dem Gebiet des Sozialrechts dem klassischen Juristen "anders", "schwieriger" erscheint. Das Sozialrecht ist aber nicht als monolithische Einheit anzusehen. Als in meinem Leuvener Institut parallel zu meiner Studie über die Sicherung gegen Krankheitskosten ein Kollege über die Feststellung des Ausmaßes der Arbeitsunfähigkeit3 und eine Kollegin über die Behinderten4 arbeiteten, da zeigte es sich, daß alle diese nicht so weit voneinander liegenden Untersuchungsgegenstände eine ganz verschiedene Methodik erforderten. Der eine wählte mehr Länder aus, der andere weniger, der eine ging mehr historisch vor, der andere beschränkte sich mehr auf die Entwicklung der jüngsten Jahre. Auch der Nutzen der Rechtsvergleichung für Schlußfolgerungen und Ergebnisse war sehr unterschiedlich: sie war die Grundlage für die Ergebnisse des einen und nur eine Illustration der Arbeit des anderen. Sehr wahrscheinlich ist der Unterschied zwischen zwei Untersuchungsthemen innerhalb des Sozialrechts ebenso groß wie zwischen einem sozialrechtlichen und einem mehr klassischen Thema. Wenn ich mich an meine Kontakte mit Kollegen aus den Instituten für Bürgerliches Recht und für Handelsrecht unserer Fakultät erinnere, die gleichzeitig mit mir rechtsvergleichende Arbeiten ausgeführt haben, dann habe ich keineswegs das Gefühl, in einer ganz anderen Art und Weise wie sie gearbeitet zu haben. In ihren Arbeiten tauchen sozialrechtliche Probleme auf, und in meiner Arbeit bürgerrechtliche und handelsrechtliche Fragen, in allen Arbeiten finden sich verfassungsrechtliche, verwaltungsrechtliche sowie strafrechtliche Probleme, mitunter Probleme aus nahezu allen Rechtsbereichen. In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, daß die Einteilung der gesamten Rechtsstoffe 3 J. van Steenberge, Evaluatie von de arbeidsongeschiktheid in het recht, Schade aan de mens, vol. I, Antwerpen, Kluwer, 1975. , B. Wauters-van Buggenhout, Het juridisch statuut van de minder-valide, Gent, Story-Scientia, 1975.
Probleme des Sozialrechtsvergleichs
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in einzelne Bereiche nicht auf Wesensunterschieden beruht, sondern letztlich nur didaktische Ursachen hat. Einige Zeit lang habe ich geglaubt, es gäbe eine "zivilistische" Methode, die darin bestehe, über ein Problem alle Rechtsprechung und Literatur zu sammeln und zu systematisieren, sowie eine sogenannte "soziale" Methode, die mehr auf eine Untersuchung der faktischen Verhältnisse gegründet sei5 • Ich habe aber mittlerweile Zivilisten getroffen, die sich mit Statistiken und soziologischen Daten beschäftigten, und Sozialrechtler, die nur Rechtsprechung und Rechtslehre studierten. Wenn ich die Reihe meiner Rechtsvergleicherkollegen betrachte, so hat ein jeder seine eigene Methodik. Das scheint mir nicht mit dem Rechtsbereich zusammenzuhängen, sondern mit dem Gegenstand oder vielmehr mit der Person des Forschers und mit dem, was er sich als Ergebnis seiner Untersuchung vorstellt.
Methode und Ziel Damit komme ich zum Wichtigsten, was ich hier sagen möchte: Rechtsvergleichung meint etwas ganz anderes je nach dem Zweck, zu welchem man sie anwenden will. Es gibt sehr viele Methoden der Rechtsvergleichung, deren Praktizierung zu eher technischen oder eher wissenschaftlichen Erkenntnissen führt, zu theoretischeren oder praktischeren Ergebnissen, zu eher allgemeinen oder eher spezifischen Aussagen. Jeder rechtsvergleichenden Untersuchung muß die Methodologie angepaßt werden. Das Kriterium für diese Anpassung liegt nicht in der Methodologie selbst, sondern in dem Ziel der Untersuchung. Es gibt eine weit verbreitete Meinung, wonach wissenschaftlich sei, was sich aus der korrekten Anwendung einer "wissenschaftlichen" Methodik ergebe. Die Rechtsvergleichung sei also wissenschaftlich, wenn sie einer korrekten Methodik folge. Meines Erachtens ist das falsch. In den N aturwissenschaften wie auch in den Geisteswissenschaften spielt die Methodik nur eine sekundäre Rolle. Sie ist dem Ziel der Untersuchung untergeordnet. Eine Methodik kann nicht "korrekt wissenschaftlich" sein ohne Beziehung zu ihrem Ziel (Wie gen au man auch alle Regelungen über die Sozialversicherung in zwei oder mehr Ländern vergleicht, der Vergleich 5 Diese Unterscheidung entnehme ich der Praxis der Leuvener Juristischen Fakultät, wo die älteren Professoren die "zivilistische", die jüngeren aber mehr die "soziale" Methode praktizieren. Mir ist nicht bekannt, ob hierüber Veröffentlichungen erschienen sind. Zur allgemeinen Auseinandersetzung über die wissenschaftliche Methode siehe z. B. E. Nagel, The structure of science, 1961; K. R. Popper, Logik der Forschung, 1971 (1934); die Verteidigung einer extremen "Anti-Methodik" findet man bei P. K. Feyerabend, Against Method, 1975.
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führt zu nichts, wenn man nicht weiß, was man damit bezweckt). In der wissenschaftlichen Forschung sind alle Methoden gut, wenn sie legitim und zum Erreichen der Forschungsziele geeignet sind. Nahezu alles in den fremden Rechtssystemen kann einen interessanten Untersuchungsgegenstand darstellen. Wenn man aber auch nur einem Teilaspekt eines Bereiches des fremden Rechts ohne genaue Zielsetzung entgegentritt, so führt das zu einer enzyklopädischen Beschreibung, die zwar als Dokumentation für rechtsvergleichende Arbeit nützlich sein kann, aber nur wenig ganz unmittelbar zur rechtsvergleichenden Forschung beiträgt. Wenn es wirklich darauf ankommt, eine bestimmte Rechtsfrage zu beantworten, wird es viel zu viel Informationen geben über irrelevante Aspekte, und nicht genug über das, was man gen au wissen muß. Wissenschaft und Technik Wenn man sich aber ein klares Ziel für seine Untersuchungen setzen will, kommt man sofort zu der Frage: Was wollen wir eigentlich mit der Rechtsvergleichung erreichen? Auf welche Art von Fragen wollen wir welche Art von Antworten geben? usw. Es ist sehr wichtig, hier - wie auch in anderen Bereichen - einen Unterschied zu machen zwischen Wissenschaft und Technik. Die Wissenschaft kümmert sich um die Menge und die Qualität des Wissens, die Technik um seine Anwendung zur Lösung aktueller Probleme. Leider wird im Rechtsstudium beides öfter verwechselt. Das Studium des Rechts wird "wissenschaftlich" genannt, bleibt aber meistens auf dem Niveau der Technik. Das ist, was ich gerne als "Kanzleirecht" be~ zeichne 6 • Es handelt sich um eine Weitergabe schon bestehender Rechtskenntnisse an andere, damit sie diese Kenntnisse anwenden können zur Lösung ihnen vorliegender Probleme. Es geht um die Vertrautheit mit möglichst vielen Vorschriften des positiven Rechts, mit ihrer Anwendbarkeit, ihrer Interpretation. Diese Aufgabe ist sehr wichtig. Sie entspricht einem wesentlichen Bedürfnis der Gesellschaft. Aber es handelt sich dabei um Technik, nicht um Wissenschaft. Die Rechtswissenschaft beschäftigt sich mit Grundfragen des Rechts. Es sind Fragen verschiedener Art, auf verschiedenen Ebenen, betreffend kleine Detailpunkte oder große Teilbereiche, oder sogar das Recht als allgemeines Phänomen. Es geht um solche Fragen wie: Woher kommt das Recht? Warum ist es so und nicht anders? Was bezweckt das Recht? Hat es diee J. van Langendonck, De studie van de sociale zekerheid en het recht, in: Jura Falconis (lustrumnummer), Leuven 1974, S. 205 - 219.
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sen seinen Zweck auch erreicht? Welche gewollten und ungewollten Wirkungen hat es? Kann es verbessert werden? usw. Das alles kann man zusammenfassen als Fragen nach der Bedeutung des Rechts, seiner Bedeutung für den Menschen und für die menschliche Gesellschaft. Wenn die Rechtsvergleichung "wissenschaftlich" sein soll, muß sie dazu dienen, die Bedeutung des Rechts zu erforschen.
Die Kunst der Entscheidung Aber was ist das, die "Bedeutung des Rechts"? Was bedeutet "Recht"? Im Laufe meiner Untersuchungen habe ich mir oft diese Frage gestellt. Man kann nicht streben nach einer besseren Erkenntnis über einen Gegenstand, wenn man nicht zuvor eine genaue Vorstellung von diesem Gegenstand hat. Man braucht ja eine Hypothese, oder eine Theorie, auf welche man seine Untersuchungen gründen kann. Unter dem Einfluß meines Kollegen Walter Van Gerven von unserer Rechtsfakultät in Leuven7 und meines Freundes Dr. Hector Bartolomei im Internationalen Arbeitsamt8 bin ich in Berührung gekommen mit der Rechtstheorie. Das hat mich zu einer Vorstellung von Recht geführt, die mir für die rechtswissenschaftliche Forschung als brauchbar erscheint. In diesem Konzept ist Recht nichts anderes als die Festlegung einer politischen Entscheidung in solchen Bereichen, in denen sie gesellschaftlich notwendig ist. Das Bedürfnis der Gesellschaft nach solchen Entscheidungen kann man an einem Beispiel verdeutlichen, welches ich neulich gehört habe, dem Bild einer gemeinschaftlichen Wiese in einem Dorfe, auf welcher die Schäfer des Dorfes ihre Schafe weiden; solange diese Wiese groß genug ist, kann man jedermann den Platz für seine Herde frei wählen lassen; werden die Herden aber so groß, daß die Wiese nicht alle Tiere mehr ernähren kann, dann braucht man eine Entscheidung darüber, welche Tiere getötet werden sollen; dann werden möglichst viele Kriterien vorgeschlagen, die alle für den einen mehr und für den anderen weniger vorteilhaft sind - aber es ist notwendig, daß eine Entscheidung getroffen wird, die für alle Beteiligten gilt. Dann hat das gesellschaftliche Leben in diesem Bereich das Stadium des Rechts erreicht. Das Recht ist aber mehr als das Phänomen der notwendigen Entscheidung; es ist die "Kunst" der Entscheidung. In den weitaus meisten 7 Van Gerven ist der Autor eines vielgelesenen rechtstheoretischen Buches: Het beleid van de rechter, Antwerpen 1973. 8 Bartolomei ist Autor einer Dissertation über "La famille dans le droit de la securite sociale beIge" (Leuven, Rechtsfakulteit, 1970), und einer rechtsvergleichenden Untersuchung, Protection against anti-union discrimination, Geneve, ILO, 1976.
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Fällen ist es gar nicht möglich, genau zu ermitteln, welches die beste Lösung für ein gesellschaftliches Problem ist. Meistens erscheinen alternative Lösungen als gleichwertig oder indifferent. Die Entscheidung hängt ab von der Abwägung der Konsequenzen der verschiedenen vorgeschlagenen Lösungen. Diese Konsequenzen sind von sehr unterschiedlicher Art. Sie liegen auf dem Gebiet der Wirtschaft, der Soziologie, der Psychologie, der Religion und vielleicht noch auf vielen anderen Gebieten, die alle nicht untereinander vergleichbar sind. Dieses Unvergleichbare vergleichen, und dieses Unentscheidbare entscheiden, das ist die notwendige Aufgabe des Rechts. Sich auf diese Praxis vorzubereiten ist die Aufgabe des Juristen. Und über die schon vorhandenen und die zukünftigen, die notwendigen und die gewünschten Entscheidungen ein Mehr an Kenntnis zu sammeln ist die Aufgabe der Rechtswissenschaft. Die Rechtsvergleichung Die Rechtsvergleichung erscheint dann als eine ganz natürliche Methode des rechtswissenschaftlichen Studiums. Die Hirten unserer zu kleinen Wiese werden, wenn sie sich fragen, welches eine gute Lösung für ihr Problem sein könnte, sich natürlich erkundigen bei den Nachbarn der umliegenden Dörfer über die Lösung, die diese gewählt haben. Auch später, wenn schon eine Entscheidung getroffen ist, werden die Hirten sich fragen, ob sie nicht verbessert werden kann, sie werden den Blick auf die Lösungen der Nachbarn richten, um von da her das eigene System zu entwickeln. Dieses Vorgehen ist notwendig, weil es fast unmöglich ist zu experimentieren, auszuprobieren, und weil es völlig unmöglich ist, alle denkbaren Lösungen zu überprüfen, bevor man eine Entscheidung trifft oder sie abändert. Diese Methode ist deswegen sinnvoll, weil sie eine Art Experiment "in vivo" darstellt, aus dem viel - freilich nicht alles - gelernt werden kann über die Vor- und Nachteile einer bestimmten Lösung. Die Rechtsvergleichung erleichtert auch die Selektionsprobleme bei dem Studium alternativer Lösungen, da man davon ausgehen kann, daß die anderen Rechtssysteme solche Lösungen ausgewählt haben, die sie für die beste halten. Also beschränkt sich die Rechtsvergleichung auf eine Vergleichung einer Auswahl der besten Lösungen. Schließlich kommt sie auch einer Tendenz der Internationalisierung entgegen. Wenn man sein nationales Recht in irgend einem Punkt reformieren will, warum soll man sich nicht inspirieren lassen durch das Recht der Nachbarstaaten, damit eine gewisse internationale Angleichung zustande kommen kann?
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Für die Rechtstechnik ist die Rechtsvergleichung viel weniger bedeutsam. Um die vorhandenen Lösungen auf Einzelfälle anzuwenden, braucht man keine Betrachtung ausländischer Alternativen. Nur wenn internationales Kollisionsrecht zur Sprache kommt, muß der Rechtstechniker sich über das fremde Recht informieren. Diese Auskunft wird den letzten Stand und das gen aue Detail des fremden Rechts betreffen. Die gesellschaftliche Bedeutung des fremden Systems bleibt dabei völlig außer Betracht. Hier sieht man sehr gut den wichtigen Unterschied zwischen Rechtstechnik und Rechtswissenschaft. In der wissenschaftlichen Rechtsvergleichung ist der jüngste Stand des fremden Rechts völlig irrelevant und die ganze anstrengende Arbeit, den neuesten Entwicklungen zu folgen, ist verlorene Mühe. Was hier wichtig ist, ist eine Auswahl zu treffen unter gewissen Reformen oder Entwicklungstendenzen, und diese zu studieren nach ihrem Ursprung, ihrem Zweck, ihren Zeitumständen, ihrem Erfolg, und nach ihrer Relevanz für die Lösung des vorliegenden Problems. Ein hundert Jahre altes Gesetz kann dabei vielleicht mehr Ertrag bringen als die jüngste Reform. Was der Rechtswissenschaftler bei der Rechtsvergleichung macht, ist eigentlich nichts anderes als eine Einübung in die Entscheidung sozialer Konflikte mit dem besten vorhandenen Material: entsprechenden Entscheidungen anderer Rechtssysteme. Hier wird eine Parallele zum britischen System des precedent law sichtbar: es kommt darauf an, nachzuspüren, welche Lösungen andere für dasselbe Problem schon gegeben haben, und dann, ob dieses Problem identisch ist, ob die Umstände dieselben waren, ob die determinierenden Elemente für die Wahl der Lösungen dieselben waren. Und dazu kommt dann noch die Frage, inwieweit die gewählte Lösung erfolgreich und zweckmäßig erscheint, das heißt, in welchem Maße sie zur Nachahmung nötigt 9 •
Methodologische Probleme Man kann die Rechtsvergleichung betrachten als das Laboratorium der Rechtswissenschaft, in welchem die den Gegenstand der Untersuchung bildenden Lösungen der fremden Rechtsordnungen die Stelle der wissenschaftlichen Experimente einnehmen10 • Es ist aber ein Labor, wo man die Begleitumstände der Experimente nicht in vollem Umfang beherrschen kann; man kann lediglich auswählen, was man aus dem vorliegenden Material studieren möchte. Das grundsätzliche methodolo9 Die gegenteilige Ansicht vertritt: U. Maas, Rechtsvergleichung als Methode soziologischer Rechtswissenschaft, in: Rechtstheorie, Berlin, 1971, 2, S. 155 -168. 10 Vgl. "Maximum an Experimenten!", A. Podlech, Recht und Moral, in: Rechtstheorie, Berlin, 1972, 2, S. 148.
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gische Problem ist also das der Auswahl des ausländischen Rechts, d. h. also: welches ausländische Recht will man zum Gegenstand der rechtsvergleichenden Untersuchung machen? Man könnte versucht sein zu antworten: das, welches dem eigenen Recht am ähnlichsten ist. Eine Bewertung fremder Lösungen für ein gemeinsames Problem ist um so überzeugender, je mehr der ganze Zusammenhang des Problems in der eigenen und in der fremden Rechtsordnung derselbe ist, oder mindestens so ähnlich wie möglich. Dies würde den Bereich der Rechtsvergleichung beschränken auf Länder mit gleicher sozioökonomischer und politischer Struktur; in unserem Fall z. B. auf die EG-Länder. Es geht aber nicht um den Vergleich von Ländern, sondern um den Vergleich von Problemlösungen. Es ist nicht möglich, irgendwo ein Land zu finden, wo dasselbe Problem unter genau denselben Begleitumständen vorkommt, so daß man mit Exaktheit vorhersagen könnte, was geschieht, wenn in beiden Ländern dieselbe Lösung übernommen würde. Man sollte daher für die Analyse und Bewertung der fremden Lösung die signifikanten Ähnlichkeiten und Unterschiede mit der Problemlage im eigenen Land untersuchenl l • Signifikant heißt hier: alles das, was auf das Problem und seine Lösung Einfluß ausübt. So gesehen ist es nicht mehr so wichtig, daß der Vergleich verwandte Länder betrifft. Entscheidend ist, daß es sich um Länder handelt, über welche man ausreichende Informationen besitzt oder doch ohne große Schwierigkeiten sammeln kann. Selbstverständlich werden die Nachbarländer dafür zuerst in Betracht kommen. Heutzutage gibt es aber genug Wege, auch Informationen über weit entfernte Länder zu bekommen. Es kommt vor, daß spezialisierte Institute auf einem anderen Kontinent mehr über eine spezifische Problemlage in einem bestimmten Land wissen, als die Leute, die dort mit dem Problem leben. Es bleibt natürlich nützlich, das Problem dort zu untersuchen, wo es der nationalen Situation am ähnlichsten ist, weil dort nur eine geringere Anzahl von Ungleichheiten signifikant werden kann. Man sollte aber nicht die Bedeutung der Gegenprobe vernachlässigen: durch Vergleichung mit einer völlig verschiedenen Situation - wie z. B. der eines unterentwickelten Landes, z. B. einer zentralafrikanischen Kultur - kann die Signifikanz der wenigen ähnlichen Problemelemente mit mehr Klarheit vorgebracht werden. Eine Mischung ähnlicher und völlig verschiedener Vergleichsgebiete scheint die adäquate Lösung zu sein. Das Auswahlproblem beinhaltet auch ein Zeitelement. Soll man nur gleichzeitige Situationen in verschiedenen Ländern vergleichen? Nicht unbedingt: Rechtsgeschichte ist Vergleichung in der 11 Vgl. z. B. L. P. Suetens, Gerechtelijke toetsing van de wet en het constitutionaliteitsprobleem van wetten met regionaal toepassingsgebied, in: Rechtskundig Weekblad, 1974 -75, S. 1733.
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Zeit, mit dem Vorzug, daß bessere Informationen vorhanden sind. Man muß die rechtlichen Lösungen in ihrem zeitlichen Zusammenhang studieren. Je jünger sie sind, desto mehr Ähnlichkeiten wird es in der Regel geben. Aber auch hier wird die Gegenprobe nützlich sein. In einer völlig anderen Situation, z. B. zu einem früheren Zeitpunkt, kann dasselbe Problem aufgetaucht sein. Auch aus einer argurnenturn a contrario-Schlußfolgerung kann man viel lernen über die Signifikanz von Elementen, die auf die Problemlösung Einfluß haben; die wenigen ähnlichen Elemente können besser in ihrem Einfluß auf die Problemlage betrachtet werden. Auch hier scheint eine Mischung von neu und alt am besten zu sein. Sonstige Auswahlprobleme werden praktischer Art sein, sie werden abhängen von der Sprache, von vorhandenen Kontakten, bestehenden Dokumentationen usw. Sie werden auch durch die Art des Problems bedingt sein, das mehr oder weniger universell sein mag. Darüber kann nur im Einzelfall gesprochen werden. Wenn ich das Ergebnis meiner Untersuchungserfahrung und meiner Reflexionen dazu in konkreten Richtlinien niederlegen soll, dann lauten diese wie folgt: 1. Ehe man eine rechtsvergleichende Untersuchung in Angriff nimmt, sollte man sich klarmachen, was man damit bezweckt. Für einen Rechtstechniker ist das durchaus klar. In der Rechtswissenschaft bleibt es oft ganz unbestimmt.
Dieser Zweck ist gerichtet auf die Lösung einer gesellschaftlichen Frage, die einer Entscheidung bedarf. Diese Frage kann sehr umfassend sein, z. B.: Müssen die Frauen völlig gleich behandelt werden wie die Männer? oder sie kann ein kleines Detail betreffen, z. B.: Wie lange soll die Rechtsmittelfrist sein gegen Entscheidungen der Sozialversicherungsträger? Die Rechtsvergleichung soll dann durch Bewertung der fremden Lösungen Elemente anbringen für eine (bessere) Lösung dieser Frage für das eigene Recht. 2. Es geht grundsätzlich um die Lösung einer Rechtsfrage im eigenen Rechtsraum. Man kann sich also ruhig bei der Wahl des Vergleichsgegenstandes von den eigenen Rechtsbegriffen und Rechtskategorien leiten lassen. Man soll sich nur bewußt sein, daß es dieselben Begriffe und Kategorien im fremden Recht vielleicht nicht, oder nur mit einer anderen Bedeutung gibt. 3. Selbstverständlich gibt es ein Problem der Beschränkung. Auch das scheinbar kleinste Problem hat noch viele Aspekte. Hier muß eine Auswahl, oder wenigstens eine Rangfolge, getroffen werden. Darüber will ich mich nicht weiter auslassen.
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4. Es geht grundsätzlich um eine Problemlösung, also um die Abwägung der Konsequenzen alternativer Lösungen. Das hat zur Folge, daß der Rechtsvergleicher, nach typischer juristischer Entscheidungsart, sich von Experten auf den verschiedenen relevanten Wissenschaftsgebieten - wie zum Beispiel Wirtschaft, Psychologie, Medizin, Soziologie, etc. - aufklären lassen muß, um dann eine Lösung zu wählen. Wie ein Richter sollte man versuchen, sich so viele Informationen wie möglich zu beschaffen, und sich diese, wenn nötig, von Sachverständigen erklären lassen, bis man glaubt, man wisse genug, um entscheiden zu können. Für diese Entscheidung gibt es dann ein Kriterium: das unbestimmte und unbestimmbare Gefühl der Gerechtigkeit12 , wovon wir hoffen, daß es bei den meisten Menschen in ähnlicher Form vorkommt. Um es ganz klar zu sagen: es kommt darauf an, für ein bestimmtes gesellschaftliches Problem zu entscheiden, welche angesichts der besten vorhandenen Informationen die gerechteste Lösung ist. Das mag als ein sehr schwacher Grund erscheinen, um die ganze Rechtswissenschaft darauf zu bauen; in der Praxis aber bietet er dem Wissenschaftler einen guten Halt, genauso wie der Begriff der "Exaktheit" in den Naturwissenschaften. 5. Das schwierigste Problem ist das der Information. Jede Entscheidung wird bestimmt durch die vorliegende Auskunft. Auch im rechtswissenschaftlichen Bereich ist das so. Wenn zwei Personen über die gerechteste Lösung eines Konfliktes entgegengesetzter Meinung sind, ist die Ursache dafür meistens nicht ein unterschiedliches Gerechtigkeitsgefühl, wie man oft meint, sondern unterschiedliche Information. Die beste Methodik kann nicht zu einer richtigen - in diesem Falle gerechten - Entscheidung führen, wenn ein wichtiges Element der Information fehlt. Es ist natürlich klar, daß niemals alle möglichen Informationen über ein Problem gesammelt und überprüft werden können. Zu den typischen juristischen Fähigkeiten gehört die Auslese und die Bewertung von Informationen, damit nur das für die Entscheidung relevante beibehalten wird und die verschiedenen Elemente nach ihrer Gewichtigkeit abgewogen werden. Darin wird traditionell die Aufgabe des Richters gesehen. Wenn man aber die Tätigkeit des Anwalts, des Rechtsberaters, und sogar die des Rechtswissenschaftlers genau betrachtet, erscheint sie ihrem Inhalt nach vollkommen gleich: auch hier geht es um Auswahl und Wertung von Informationen, damit man abwägen kann, um dann eine Entscheidung vorzuschlagen. Nur die Sanktionsgewalt des Staates gibt der richterlichen Entscheidung eine besondere 12
Vgl. H. Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?, Wien 1953, S.43.
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Bedeutung (die Entscheidungen des Gesetzgebers und der Verwaltung lasse ich hier unberücksichtigt). 6. Das Informationsproblem stellt sich auf zwei Ebenen: zuerst bei der Frage, welches die gen aue Lösung ist, die das fremde Recht für das Problem gibt; und zweitens dabei, welche die Wirkungen, die Vor- und Nachteile, dieser Lösung sind. Das erste ist ein rechtstechnisches Problem. Es kommt darauf an, zu entdecken, was die wirkliche Rechtslage ist für die Personengruppen, die an der Problemsituation beteiligt sind. Dies erfordert einen kritischen Blick auf die Gesetzgebung, die Rechtsprechung, die Verwaltung, und die möglichen Absprachen zwischen den interessierten Parteien, oder auch auf einfache Usancen. Wenn ein belgisches Gesetz vom 30. April 195813 sagt, daß Mann und Frau gleich sind, sollte man daraus nicht vorschnell den Schluß ziehen, daß es auch wirklich so ist! Wenn man weiter sieht, daß die Regelung der belgischen Krankenversicherung die Ehefrau verpflichtet, mit dem Krankenversicherungsschein ihres Gatten ihr Recht auf Rückerstattung auszuüben l 4, sieht es schon anders aus! Wenn es dann aber weiter so ist, daß in der Praxis Frauen in "delikaten Fällen" doch Rückerstattung bekommen ohne diesen Schein, dann erst wird klar, wie die Rechtslage der Frau unter diesen Umständen wirklich ist16 • Dieses Beispiel zeigt hinreichend, daß solche Fragen nicht ohne die Anleitung durch einen Fachmann aus dem zu untersuchenden Land gelöst werden können. Das zweite Problem gehört zu den allgemeinen juristischen Techniken der Abwägung von Argumenten pro und contra. Wie der Richter, so läßt der Rechtswissenschaftler sich von Sachverständigen der relevanten Wissenschaftsbereiche aufklären. Das mag ruhig geschehen in schriftlicher Form, indem man Bücher und Artikel liest, die von verschiedenen Seiten über das Problem geschrieben worden sind. Meiner Erfahrung nach kommt man schon sehr weit mit der Lektüre der einzelnen Studien, welche eine beabsichtigte und schließlich durchgeführte Reform zeitlich begleiten. Doch bleibt es immer wichtig, darüber hinaus mit nationalen Experten für die relevanten Fachbereiche zu konferieren, um den Zugang zu den besten Quellen zu finden. 13 Gesetz, 30. April 1958. Kommentar dazu: G. Baeteman und J. P. Lauwer, Droits et devoirs des epoux, Brussel 1960. 14 Gesetz, 9. August 1963, Artikel 21, und Kön. Erlass 4. Nov. 1963, Artikel 165, § I, in der Fassung des Kön. Erlass vom 23. Okt. 1967, Art. 1, 14, 1°. 15 Vgl. dazu E. Vogel-Polski, S. De Munter, A. Meyer, u. a., L'insecurite sociale des femmes, in: Les Cahiers du GRIF, 1974, 4; Belgische Vereniging van Vrouwelijke Juristen, Ongelijkheden tussen man en vrouw in het Belgisch Recht, Balans en opties, Antwerpen, 1975; M. van Look, Het juridisch rolpatroon, Brussel 1976, S. 48 - 63.
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Jef van Langendonck Zusammenfassung
Die Rechtsvergleichung als Methode - die nicht wesentlich anders anzuwenden ist im Sozialrecht wie in den mehr traditionellen Rechtsbereichen - ist dem Ziel untergeordnet, das man damit zu erreichen versucht. Dieses Ziel ist ganz unterschiedlich, je nachdem ob man eine Studie durchführt auf dem Gebiet der "Rechtswissenschaft" oder dem der "Rechtstechnik" (welche beide oft verwechselt werden). Die Rechtstechnik wendet schon bestehende Kenntnisse über das Recht auf ein gegebenes Problem an. Die Rechtswissenschaft versucht, die Kenntnisse über das Recht als solches zu vermehren und zu verbessern. Was das konkret bedeutet, hängt davon ab, welches Konzept von Recht man vertritt. Hier wird das Recht gesehen als "die notwendige Entscheidung über nicht entscheidbare Konflikte, die in der menschlichen Gesellschaft einer für alle geltenden Lösung bedürfen". Rechtswissenschaft ist also das Vermehren oder Verbessern der Kenntnisse über dieses gesellschaftliche Phänomen, über diese "Kunst der Entscheidung". Sie sucht schließlich Antwort auf die Frage, welche die beste Lösung ist für gesellschaftliche Konfliktsituationen jeglicher Art. Die Rechtsvergleichung muß gesehen werden als eine angemessene, beinahe unentbehrliche Methode dieser wissenschaftlichen Forschung. Sie ist in gewisser Weise das "Labor" der Rechtswissenschaft. Das Stu~ dium fremder Lösungen für identische Konfliktsfälle ist eine Art Experiment "in vivo", aus welchem man lernen kann, was die Konsequenzen der dort gewählten Lösungen sind. Darauf ist dann eine Methodologie anzuwenden, die dem britischen "precedent law" ähnlich ist; es kommt darauf an, nachzuspüren, inwieweit das Problem und die Lösung wirklich ähnlich sind im fremden Recht, und ob die determinierenden Elemente für die Wahl der Lösung dieselben (oder etwa unterschiedlich bzw. sogar gegenteilig) sind. Aus diesem theoretischen Konzept werden einige konkrete Schlußfolgerungen gezogen für den Bereich der Auswahl der zu studierenden Gegenstände und Länder, der anzuwendenden Begriffe und Kategorien, der Verwendung anderer Wissenschaftszweige, der Information. Summary The method of comparative law, which is substantially the same in social security law as in the more traditional forms of law, is determined by the aim that is to be reached. This aim may be different, it depends on whether a study is made in the field of "legal science" or in the field
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of "legal technics" (these terms are often confounded). In legal technics existing knowledge on the law is applied to a given problem. In legal science it is tried to increase and improve the knowledge on the law. What this means in reality depends on the concept of the law. In this study law is seen as "the necessary decision on conflicts that cannot be decided but in human society require a solution applicable to allee. Thus legal science means to increase or improve the knowledge on this social phenomenon, on this "art of decision". It seeks to answer the question of the best solution to social conflicts. Comparative law must be seen as an adequate, almost indispensable method of this scientific research. In a certain way it is the "laboratory" of legal science. To study foreign solutions of identical conflicts is a kind of in vivo experiment from which one can learn about the consequences of the solutions chosen. The methodology that must then be applied is similar to the British law of precedent. It must be found out whether the problem and its solution are similar in the foreign law and whether the elements determining the choice of the solution are the same or exactly contrary. From this theoretical concept concrete conclusions are drawn on the objects and countries to be studied, on the terms and categories to be used, on the approach by other branches of science, and on information.
DISKUSSIONSBERICHT
Das Referat von Professor van Langendonck über seine persönlichen Erfahrungen mit der rechtsvergleichenden Arbeit auf dem Gebiet des Sozialrechts gipfelt in einer Reihe bewußt provokatorisch vorgetragener Thesen, die im Laufe der Diskussion unter verschiedenen Aspekten kontrovers erörtert wurden. Ausgangspunkt der Diskussion war die These des Referenten, daß es keine besondere Methodologie des Sozialrechtsvergleichs geben könne, und zwar deshalb, weil die Gegenstände, mit denen sich der Sozialrechtsvergleicher befasse, mindestens ebenso unterschiedlich seien wie diejenigen der herkömmlichen Rechtsvergleichung, und sie auch sonst den Rechtsvergleicher vor identische Probleme stellten. In der Folge wurde die Frage nach einer besonderen Methodologie der Sozialrechtsvergleichung dahingehend differenziert, daß die Sozialrechtsvergleichung auch Rechtsvergleichung sei und insofern der herkömmlichen Rechtsvergleichung entspreche; andererseits wurde aber übereinstimmend festgestellt, daß bei der Vergleichung von Sozialrecht bestimmte spezifische Probleme auftauchen, die zwangsläufig auch einen Einfluß auf die Methode haben. In der Anpassung der Vergleichsmethode an die noch näher zu erarbeitenden Spezifika des Sozialrechts sei die Aufgabe zu erblicken, die mit der Frage nach den Methoden des Sozialrechtsvergleichs umschrieben sei.
Eines der spezifischen Probleme des Sozialrechtsvergleichs sei die vom Referenten angeführte Vielzahl verschiedenartiger Fallgestaltungen, die es im Sozialrecht gebe. Die Rechtsvergleichung habe daher auf sozialrechtlichem Gebiet eine ähnliche Spannweite wie sie z. B. zwischen der Privatrechtsvergleichung und der Strafrechtsvergleichung bestehe. Hier stelle sich die Frage, welche verschiedenen Fälle es wirklich gebe und wie sie methodisch angefaßt werden könnten. Ein Weg, den damit angesprochenen methodischen Zugang zum Sozialrechtsvergleich zu eröffnen, könne darin bestehen, Kategorien der Verallgemeinerung zu suchen, die bestimmte, bei der Vergleichung von Sozialrecht auftretende Problemlagen unter einem gemeinsamen Nenner erfaßten. Anstatt von der Problemlage könne das Methodenproblem aber auch von der Zielbestimmung der Sozialrechtsvergleichung her angegangen werden, etwa indem man versuche, eine gewisse Zieltypisierung zu
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erreichen, die aus den unterschiedlichen Zwecken abgeleitet werden könne, denen die Rechtsvergleichung im konkreten Fall dienen soll. Dies lasse sich an einem Beispiel aus der Völkerrechtsvergleichung verdeutlichen: dort sei es eines der Ziele der Rechtsvergleichung, allgemeine Rechtsgrundsätze im universalen Raum zu gewinnen, wie sie im Völkerrecht eine der möglichen Rechtsquellen sind. Dieses Ziel verlange zunächst, daß auch die zur Vergleichung herangezogenen Rechtsordnungen möglichst universell sind, da eben nur so die Universalität eines Rechtsatzes festgestellt werden könne. Das Ziel der rechtsvergleichenden Arbeit wirke hier in zweifacher Weise auf die Rechtsvergleichung selbst ein. Einmal bestimme es die Anzahl der heranzuziehenden Rechtsordnungen. Zum anderen aber bestimme es auch Funktion und Relevanz der Rechtsvergleichung; sie habe in diesem Beispiel eine positive Funktion, weil nur alle Rechtsordnungen den allgemeinen Rechtssatz bilden könnten und sich vom möglichen Ergebnis der Rechtsvergleichung - alle Rechtsordnungen stimmen darin überein, daß sie einen bestimmten Rechtsgrundsatz anerkennen - auch die universale Geltung eines bestimmten Rechtssatzes ableiten lasse. Anders verhalte es sich etwa bei der Heranziehung der Rechtsvergleichung für die Auslegung einer bestimmten Vorschrift des EWG-Vertrages. Hier sei die Auswahl der für den Vergleich heranzuziehenden Rechtsordnungen durch die regionale Geltung des Vertrages auf die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten der EG beschränkt. Auch die Relevanz der Rechtsvergleichung sei geringer, da sie zwar zur Auslegung mit herangezogen werde, es aber entscheidend auf Wortlaut und Inhalt des entsprechenden Artikels des EWG-Vertrages ankomme. Insofern beeinflusse das Ziel der Rechtsvergleichung sowohl deren Funktion als auch die Methode, mit welcher sie betrieben wird. In diesem Zusammenhang wurde die vom Referenten getroffene, am Ziel der rechtsvergleichenden Arbeit orientierte Unterscheidung zwischen Rechtswissenschaft und Rechtstechnik grundsätzlich anerkannt, jedoch mit Einschränkungen versehen. Der Referen:t stellte klar, daß mit dieser Unterscheidung keine strikte Trennung zwischen Rechtswissenschaft und Rechtstechnik vorgenommen werden solle, wie auch keine unterschiedliche Bewertung mit dieser Unterscheidung verbunden sei. Als eines der Unterscheidungskriterien wurde die Zwecksetzung der Beteiligten hervorgehoben. Während der "Rechtstechniker" ein konkretes Problem lösen wolle, sei für den Wissenschaftler auch zweckfreie "Neugier" Grund genug, sich mit einer bestimmten Fragestellung zu befassen. Von daher sei es z. B. ein legitimes Ziel der Rechtsvergleichung, Unterschiede in den verschiedenen Sozialrechtsordnungen aufzuzeigen oder aber auch Gleichheiten in unterschiedlichen Systemen zu erkennen und sich dann die Fragen vorzulegen,
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woraus sich diese Unterschiede erklären und was denn der Grund dafür sei. Dieses Erkenntnisinteresse als Selbstzweck mache die spezifische überfunktion der Wissenschaft im Vergleich zur Rechtspraxis aus. Den Wissenschaftler unterscheide so vom Praktiker unter anderem die freie Wahl des Forschungsgegenstandes (an dieser Stelle solle die Frage der Unfreiheit gegenüber bestimmten Interessen ausgeklammert bleiben), eine Freiheit der Wahl, die dem Sozialpolitiker, Richter, Anwalt, denen jeweils ein bestimmtes Problem zu lösen aufgegeben ist, nicht zustehe. Weiteres Unterscheidungskriterium zwischen RechtswissenschaftIer und Praktiker bei der Bewältigung der ihnen gestellten Probleme sei der unterschiedliche Erfahrungshorizont, der sich aus ihrem sozialen Umfeld und der Natur der ihnen zur Verfügung stehenden Informatio~ nen ergebe. Schließlich beziehe der Rechtswissenschaftler im Gegen~ satz zum Rechtspraktiker, der als social engineer tätig werde, andere Dimensionen des Rechts in seine Betrachtung ein, bis hin zu philoso~ phischen und anthropologischen Fragen. Allerdings könne man auch in diesem Punkt keine strikte Unterscheidung treffen, komme doch auch der Praktiker bei der Erarbeitung einer Konfliktlösung nicht umhin, auf die hinter der rechtlichen Regelung stehenden unterschiedlichen "Philosophien" einzugehen, um die Verschiedenheiten der Rechtsordnungen in vollem Umfang zu erfassen, bis hin zu dem Menschenbild, das hinter den Unterschieden der zu vergleichenden Rechtsordnungen stehe. An dieser Stelle wurde auf die Notwendigkeit hingewiesen, daß sich der Rechtsvergleicher der Abhängigkeit des Rechts von unterschiedlichen Sozialstrukturen bewußt sei und damit auch vor die Frage ge~ stellt werde, warum bestimmte gesellschaftliche Strukturen ein bestimmtes Recht hervorbringen. Damit stelle sich zugleich die Frage nach einer möglichen Zusammenarbeit zwischen Rechts~ und Sozialwissenschaftlern. Die Sozialwissen~ schaftler hätten es bislang versäumt, die sozialen Probleme hinsichtlich ihrer Wechselwirkung mit der spezifischen Rolle des Rechts zu analy~ sieren. Daraus resultiere auch die Schwierigkeit, sozialwissenschaftliche Erkenntnisse unmittelbar für den Sozialrechtsvergleich fruchtbar zu machen. Der Rückgriff auf sozialwissenschaftliche Erkenntnisse sei aber für den Sozialrechtsvergleicher notwendig, wie sich insbesondere dort zeige, wo ein Vergleich bestimmter rechtlicher Lösungen ohne eine funktionale Betrachtung nicht möglich sei. So würden z. B. Probleme, die in der einen Rechtsordnung mit Mitteln des Sozialrechts gelöst werden, in anderen Rechtsordnungen arbeitsrechtlich oder zivilrechtlich gelöst. Beim Vergleich dieser unterschiedlichen Lösungen müsse dann geprüft werden, ob die verschiedenen Problemlösungen funktionell äquivalent seien, ein Problem, welches sich beim Sozialrechtsver~
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gleich in stärkerem Maße stelle als bei anderen Arten des Rechtsvergleichs. Die Lohnfortzahlung sei in einigen Ländern zivilrechtlich oder arbeitsrechtlich ausgestaltet, in anderen sozialversicherungsrechtlich, in tJritten Ländern teils arbeitsrechtlich, teils sozialversicherungsrechtlich. Es handele sich dabei in den Vergleichsländern um an sich ähnliche Problemlösungen, die aber technisch ganz anders ausgestaltet seien. Die Unterschiedlichkeit der technischen Ausgestaltung mache die Frage der Vergleichbarkeit, die Frage nach der besseren Lösung, besonders schwierig. Sie sei letztlich nur zu lösen, wenn man die Funktion der Lohnfortzahlung jenseits ihrer rechtlichen Ausgestaltung im Einzelfall mit berücksichtige. Ein Eingehen auf wirtschafts- und sozial wissenschaftliche Erkenntnisse sei unerläßlich. Der Rechtsvergleicher stehe gegebenenfalls vor der Notwendigkeit, juristische Kategorien in sozialstrukturelle Kategorien umzusetzen und zu fragen, welche sozialen Konfliktlösungen die rechtlichen Regelungen denn intendierten und erreichten, wobei dann auch Interessen und politische Wertungen in den Rechtsvergleich einflössen. Außer bei dieser Form der Rechtsgewinnung spielten die Sozialwissenschaften beim Rechtsvergleich auch dort eine Rolle, wo es darum gehe, die Elemente zu erfassen. In diesem Zusammenhang wurde an der Meinung des Referenten Kritik geübt, daß man bei der rechtsvergleichenden Arbeit von den vertrauten Begriffen und Kategorien des eigenen Rechts ausgehen könne. Dieser These wurde entgegengehalten, daß die Brille der eigenen Rechtsordnung oft den Blick auf fremde Rechtsprobleme verstelle und zudem geeignet sei, Mißverständnisse hervorzurufen. So habe z. B. der Begriff "social security" verschiedene Inhalte, je nachdem, ob man ihn aus der Sicht des englischen Rechts, des amerikanischen Rechts oder der Sicht der IAO betrachte. Es könne daher notwendig sein, möglichst von der eigenen Rechtsordnung und deren Begriffsbildung wie auch von den fremden nationalen Begriffsbildungen zu abstrahieren und eigene, einheitlich definierte Begriffe als Oberbegriffe zu verwenden. Soweit die Sozialwissenschaften, insbesondere die Soziologie eine eigene Terminologie herausgebildet hätten, könne es sich empfehlen, eine derartige nicht-rechtliche Terminologie zu verwenden, die natürlich auch Probleme aufwerfe, aber die oben genannten Schwierigkeiten vermeiden helfe. Besondere Beachtung fanden die vom Referenten aufgrund seiner Erfahrungen mit dem Sozialrechtsvergleich hervorgehobenen Schwierigkeiten, sich die für den Rechtsvergleich erforderlichen Informationen zu verschaffen. Dies sei ein Problem, das sich bei der Vergleichung von Sozialrecht deswegen in besonderem Maße stelle, weil es hier in gesteigertem Maße auf die Berücksichtigung nicht nur des geschriebenen,
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sondern des praktizierten Rechts ankomme. Denn der jeweilige Gesetzgebungsstand sage nichts aus über die Beziehung des Rechts zur sozialen Wirklichkeit. Ein und derselbe Text könne ganz unterschiedliche gesellschaftliche Entwicklungsstufen reflektieren. Das damit auftretende Diskrepanzproblem zwischen Rechtsentwicklung und gesellschaftlicher Entwicklung müsse bei der Sozialrechtsvergleichung berücksichtigt werden. Eine allgemeine Sozialversicherung könne, werde sie in einem Gemeinwesen eingeführt, auf unterschiedliche soziale Entwicklungsstadien treffen und deshalb sehr unterschiedliche Auswirkungen haben. Zum einen könne eine durch Gesetz eingeführte Sozialversicherung vollkommen bedeutungslos sein, sich als eine bloße gesetzgeberische Geste darstellen, die keine praktischen Auswirkungen habe und noch nicht einmal Erwartungen bei der Bevölkerung hervorrufe. Eine derartige Neuregelung könne zum anderen einen Bumerangeffekt auslösen, etwa wenn sie zwar rechtlich verbindlich sei, ökonomisch aber nicht durchgeführt werden könne und sie dann Ausgangspunkt werde für Kritik an den herrschenden politischen Verhältnissen. Zum dritten könne eine solche Regelung auch ein einlösbares Normversprechen darstellen, das lediglich einen sozialen Mindeststandard sichere, obwohl die soziale Wirklichkeit längst darüber hinausgelangt sei. In den drei genannten Fällen habe das Gesetz völlig verschiedene Auswirkungen, sei es auch nach Wortlaut und Inhalt identisch. Alle diese sozialen Implikationen und die Dialektik zwischen Norm und Rechtswirklichkeit seien beim Rechtsvergleich zu berücksichtigen. Unterschiedliche Problemvorstellungen könnten ein unterschiedliches methodisches Vorgehen verlangen. Es wurde daher bei der Behandlung der Erfordernisse der praktichen Arbeit hervorgehoben, daß in gewisser Weise ein Methodenpluralismus Platz greifen müsse. Einerseits seien die Erfahrungen, die aus der "klassischen" Rechtsvergleichung gewonnen worden seien, gewissermaßen als "Merkposten" bei der Sozialrechtsvergleichung zu berücksichtigen. Andererseits sei dem Umstand Rechnung zu tragen, daß es spezifische sozialrechtliche Probleme gebe, die bei der klassischen Rechtsvergleichung nicht oder nicht in derselben Weise auftauchten, wie es ja auch bereits eine Schwierigkeit darstelle, daß es keinen klaren Begriff des Sozialrechts gebe und er international auch durchaus unterschiedlich definiert werde. Angesichts der Erkenntnis, daß die Methodenfrage von den Rechtsvergleichern, die sich in der Vergangenheit mit Sozialrechtsvergleichung befaßt haben, auch nicht annähernd hinreichend reflektiert worden ist, wurde die Notwendigkeit betont, eine Bestandsaufnahme dessen zu machen, was Rechtswissenschaftler und Rechtsanwender zur
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Lösung dieses Problems beitragen könnten, und zu versuchen, eine ähnliche Systematisierung und Typisierung auf dem Gebiet der Sozialrechtsvergleichung zu erreichen, wie es sie für die " klassische " Privatrechtsvergleichung bereits gebe. Bearbeiter: Faude / Schulte
Sozialrechtsvergleichung und internationales Sozialrecht (Kollisionsrecht/Konfliktsrecht) Von Bernd von Maydell I. Vorbemerkungen 1. Erläuterung der ThemensteIlung
Zunächst bedarf das Thema einer kurzen Erläuterung und Präzisierung. Geht man davon aus, daß das Thema im Gesamtzusammenhang des Colloquiums über Methoden der Sozialrechtsvergleichung steht, so läge es nahe, in den Mittelpunkt der Untersuchung die Frage zu stellen, welche Erkenntnisse aus dem internationalen Sozialrechti für die Rechtsvergleichung gewonnen werden können. Es wäre demnach zu untersuchen, inwieweit im internationalen Sozialrecht rechtsvergleichende Erfahrungen gesammelt worden sind, die Aussagen für eine allgemeine Theorie der Sozialrechtsvergleichung erlauben. Dies setzt allerdings entsprechende Untersuchungsergebnisse im internationalen Sozialrecht voraus (vgl. dazu nachfolgend unter I 3.). Daneben ist aber auch eine Ausfüllung des Themas dahingehend möglich, daß die Hilfestellung verdeutlicht wird, die der Sozialrechtsvergleich für die Durchdringung und Weiterentwicklung des internationalen Sozialrechts zu leisten vermag. Dazu bedarf es einer Herausarbeitung der Fragestellungen, die speziell mit den Mitteln des Sozialrechtsvergleichs angegangen werden können. Dieses Vorgehen liegt dann besonders nahe, wenn man den Sozialrechtsvergleich vor allem als Methodenfrage qualifiziert, während es sich beim internationalen Sozialrecht um ein Teilrechtsgebiet handelt2 • 1 Zu diesem Begriff, wie er hier verstanden werden soll, vgl. nachfolgend unter 12. 2 Mit dieser Aussage ist die vieldiskutierte Frage nach der Rechtsvergleichung als einer eigenen Wissenschaft nicht entschieden (vgl. dazu Constantinesco, Rechtsvergleichung, Bd. I, 1972, S. 217 ff.); dazu bedürfte es im übrigen zunächst einer Klärung des verwendeten Wissenschaftsbegriffes. Bei der Untersuchung des Verhältnisses von Rechtsvergleichung und internationalem Sozialrecht (Kollisionsrecht) geht es vor allem um Methodenfragen, demgemäß interessiert hier primär die Rechtsvergleichung als eine Methode rechtswissenschaftlichen Arbeitens.
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Diese kurzen Hinweise zeigen, daß das Verhältnis zwischen internationalem Sozialrecht und Sozialrechtsvergleichung ein ambivalentes ist. 2. Zum Begriff des internationalen Sozialrechts im Rahmen dieser Untersuchung
Der Begriff des internationalen Sozialrechts ist mehrdeutig. Überwiegend wird dieser Begriff dahingehend interpretiert, daß zum internationalen Sozialrecht alle die Rechtsnormen zählen, die Sachverhalte mit Auslandsberührung regeln3 • Bereits durch die Formulierung des Themas ist klargestellt, daß der Begriff des internationalen Sozialrechts hier mit einem verengten Inhalt gebraucht werden soll, nämlich als Zusammenfassung aller Kollisionsnormen und Kollisionsregeln, also der Rechtssätze, die bei Sachverhalten mit Auslandsberührung das anwendbare Recht bestimmen4 • Dieser Gebrauch des Begriffes internationales Sozialrecht entspricht der Begriffsbildung im Privatrecht, wo das internationale Privatrecht die Zusammenfassung aller Kollisionsnormen darstellt. Den Kollisionsnormen stehen die Sachnormen gegenüberS. Kollisionsnormen können im innerstaatlichen Recht, im supranationalen a Vgl. v. Maydell, Die dogmatischen Grundlagen des inter- und supranationalen Sozialrechts, VSSR 1973, S. 347 ff. 4 In der Diskussion ist diese Definition des Kollisionsrechts in Frage gestellt worden, insbesondere hinsichtlich ihrer Ergiebigkeit für die Behandlung des gestellten Themas. Für die im Referat zugrundegelegte Definition des Kollisionsrechts sprechen folgende Gesichtspunkte: 1. Der hier verwendete Begriffsinhalt, der zum Kollisionsrecht nur Rechtsanwendungsnormen, nicht aber Sachnormen zählt, entspricht dem allgemeinen rechtswissenschaftlichen Sprachgebrauch, wie er durch das internationale Privatrecht maßgebend geprägt ist. Jede davon abweichende Begriffsbildung würde bedeuten, daß man für das Sozialrecht nicht auf die Erkenntnisse zurückgreifen könnte, die für andere Rechtsgebiete zum Kollisionsrecht entwickelt worden sind. 2. Die Verwendung des überkommenen Begriffs des Kollisionsrechts gewährleistet, daß eine exakte Abgrenzung der dazu gehörenden Normen und Grundsätze möglich ist. Zählt man dagegen zum Kollisionsrecht auch andere Normen, so z. B. Regeln über die Gewährung von Leistungen bei Auslandsaufenthalt, so wird eine Abgrenzung des Kollisionsrechts seinem Normbestand nach unmöglich. Letztlich könnte man dann alle Regeln, die speziell Sachverhalte mit Auslandsberührung betreffen (wie z. B. das gesamte Fremdrentenrecht) zum Kollisionsrecht zählen. 3. Das Kollisionsrecht hat eine fest umrissene Funktion, die Bestimmung des anwendbaren Rechts. Entsprechend dieser einheitlichen Funktion handelt es sich bei dem Kollisionsrecht um ein weitgehend homogenes Rechtsgebiet, über das eindeutige wissenschaftliche Aussagen möglich sind. Zählt man zum Kollisionsrecht dagegen auch das Fremdenrecht, so verliert dieses Rechtsgebiet jede Kontur. Dies würde sich auch auf die Aussagen zum Verhältnis zwischen Rechtsvergleichung und Kollisionsrecht auswirken. 5 Zu dieser grundsätzlichen Unterscheidung vgl. v. Maydell, Sach- und Kollisionsnormen im internationalen Sozialversicherungsrecht, 1967, S. 22 ff.
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Recht oder in zwei- oder mehrseitigen Sozialversicherungsabkommen enthalten sein. Aus dem internationalen Privatrecht ist die scharfe Trennung zwischen Kollisions- und Sachnormen bekannt, auch wenn die These von der Zwangsläufigkeit dieser Trennung heute nicht mehr unbestritten ist 6• Für das öffentliche Recht ist bezweifelt worden, ob es überhaupt ein echtes Kollisionsrecht in diesem Bereich geben könne 7 • An dieser Stelle bedarf diese Frage keiner Vertiefungs. In jedem Fall muß man im Vergleich zum Privatrecht feststellen, daß für das öffentliche Recht die strenge Trennung zwischen Kollisions- und Sachnormen nicht in demselben Maße gilt. Dieser Befund ergibt sich bereits daraus, daß nur verhältnismäßig wenig Kollisionsnormen vorhanden sind. Sie finden sich zudem meist in zwei- oder mehrseitigen Abkommen oder EWGVerordnungen. Es zeigt sich dabei, daß die Funktion von Kollisionsnormen auch durch die jeweilige Sachnorm übernommen werden kann, die dann eine zumindest mittelbare Aussage über ihren räumlichen Anwendungsbereich treffen muß9. Diese Feststellung, daß die Funktion von Kollisionsnormen auch für Sachnormen wahrgenommen werden kann oder durch Kollisionsgrundsätze, die aus diesen Sachnormen abgeleitet worden sind 10, ist für die Rechtsvergleichung insoweit bedeutsam, weil dadurch die Feststellung der zu vergleichenden Tatbestände in diesem Bereich erschwert wird. 6 So wird z. B. vom französischen Recht das Fremdenrecht als Teil des internationalen Privatrechts behandelt, vgl. dazu Dölle, Internationales Privatrecht, 2. Aufl. 1972, S. 2. 7 So Vogel, Der räumliche Anwendungsbereich der Verwaltungsrechtsnorm, 1965, S. 205 ff. 8 Vgl. dazu v. Maydell, Gedanken zur Formulierung von Kollisionsnormen im geplanten Sozialgesetzbuch, ZSR 1972, S. 264 ff., 267 ff. Diese Frage könnte im übrigen auch Gegenstand einer rechtsvergleichenden Betrachtung werden; zur französischen Auffassung vgl. Lyon-Caen, Droit international et europeen, 3e edition, 1974, S. 119 ff. 9 Sofern also der Gesetzgeber keine Kollisionsnormen schafft, wie dies z. B. in § 30 SGB-AT geschehen ist, muß aus der Sachnorm entnommen werden, ob die Vorschrift auf Sachverhalte mit Auslandsberührung anwendbar ist. So kann z. B. der Gesetzgeber die Leistungsgewährung von dem Bestehen eines Inlandsaufenthalts abhängig machen und durch diese fremdenrechtliche Sachnorm gleichzeitig den Geltungsbereich des inländischen Leistungsrechts abgrenzen. 10 So kann aus den Einzelregelungen über eine Einschränkung der Leistungsgewährung bei Auslandsaufenthalt gefolgert werden, daß der Wohnsitz im Ausland die Anwendbarkeit des eigenen Rechts nicht ausschließt (so letztlich die Entscheidung des Großen Senats des BSG v. 21. 12. 1971, SGb 1973, S. 100 ff.). Für den Leistungsbereich der Sozialversicherung könnte man einen Kollisionsgrundsatz des Inhalts entwickeln, daß deutsches Sozialversicherungsrecht stets anwendbar ist, wenn ein Versicherungsverhältnis zu einem deutschen Versicherungsträger besteht (vgl. dazu v. Maydell (Anm.8), ZSR 1972, S. 277).
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Bernd von Maydell 3. Defizit in der wissenschaftlichen Aufarbeitung des sozialrechtlichen Kollisionsrechts
Für das Sozialrecht insgesamt gilt, Zacher hat besonders eindringlich darauf aufmerksam gemachtl l , daß die Rechtsmaterie weitgehend einer wissenschaftlichen Durchdringung ermangelt. Für das Kollisionsrecht im Bereich des Sozialrechts kann diese Aussage potenzierte Geltung beanspruchen, denn zu den typischen sozialrechtlichen Defiziten kommt hinzu, daß die Existenz eines Kollisionsrechts im öffentlichen Recht und damit auch im Sozialrecht umstritten ist1 2 • Auch diejenigen, die diese Zweifel für nicht berechtigt erachten, müssen jedoch zugeben, daß diese Bedenken für die Herausbildung eines sozialrechtlichen Kollisionsrechts hinderlich gewesen sind. Es fehlt daher bislang an einem festgefügten und allgemein anerkannten Bestand von methodischen Erkenntnissen und Ergebnissen, die für den Sozialrechtsvergleich nutzbar gemacht werden können. Zurückkommend auf die erste Aussage zur Abgrenzung des Themas ist festzustellen, daß das Kollisionsrecht im Sozialrecht, da es selbst in seinem Bestand nicht genügend gefestigt ist, keine methodischen Hilfen für den Sozialrechtsvergleich zu geben vermag. Wohl aber sind im Rahmen des Kollisionsrechts Fragen zu formulieren, die sich an die Rechtsvergleichung richten und von ihr eine Hilfe erwarten. Hilfestellung leistet insoweit also primär die Rechtsvergleichung dem Kollisionsrecht. Immerhin, und insoweit kann man von einer Wechselwirkung sprechen, kann die Formulierung rechtsvergleichender Fragen gewisse methodische Aussagen über das rechtsvergleichende Vorgehen erlauben. Nachfolgend ist dies im Einzelnen noch zu verdeutlichen.
11. Der Vergleich materieller Sozialrechtsnormen (Sachnormen) in seiner Bedeutung für das Kollisionsrecht 1. Allgemeines
Objekt eines Vergleichs können die Kollisionsnormen sein (dazu später unter IH.), aber auch die sozialrechlichen Sachnormen. Ein solcher Vergleich kann in vielfältiger Weise auch für das Kollisionsrecht bedeutsam werden, was nicht zuletzt daran liegt, daß weitgehend Kollisionsnormen fehlen und der räumliche Anwendungsbereich insoweit aus der jeweiligen Sachnorm hergeleitet werden muß. 11 12
Vorfragen zu den Methoden der Sozialrechtsvergleichung, oben, S. 31. Siehe oben Anm. 7 und 8.
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Was der Vergleich sozialrechtlicher Sachnormen für das Kollisionsrecht zu leisten vermag, kann abschließend nicht dargestellt werden; ein geschlossenes System dürfte insoweit auch gar nicht möglich sein. Die Darstellung kann daher nur beispielhaft sein. Die Beispiele sollen drei Ansätze rechtsvergleichender Fragestellung verdeutlichen, wobei diese Ansätze nach unterschiedlichen praxisorientierten Funktionen ausgerichtet sind 13 • Das erste Beispiel soll zeigen, wie eine rechtsvergleichende Frage der theoretischen Erkenntnis des eigenen Kollisionsrechts dienen kann; beim zweiten Beispiel ist die rechtsvergleichende Untersuchung Voraussetzung für eine gesetzgeberische Rechtsgestaltung; schließlich - dieser Gruppe gehören die weiteren Beispiele an - kann die rechtsvergleichende Betrachtung des fremden Sozialrechts auch für den Rechtsanwender im konkreten Einzelfall bedeutsam werden, wobei es zumeist allerdings nur um die Heranziehung einzelner bestimmter fremder Rechtsordnungen gehen wird. 2. Der Rechtsvergleich als Hilfe bei dem Erkennen von innerstaatlichen Kollisionsnormen und Kollisionsgrundsätzen
Soweit weder Abkommen noch EWG-Verordnungen eingreifen, ist der räumliche Anwendungsbereich des deutschen Sozialrechts im konkreten Fall durch innerstaatliche Kollisionsnormen abzugrenzen. An solchen Normen fehlte es bislang weitgehend. Dies führt dazu, daß von Rechtspraxis, Rechtsprechung und Wissenschaft Kollisionsgrundsätze herausgearbeitet werden müssen. Als Kollisionsgrundsatz ist bisher weitgehend das Territorialitätsprinzip herangezogen worden. Jedoch ist dieses Prinzip in Anbetracht der Vielzahl territorialer Anknüpfungspunkte zu ungenau 14 • Die Aufgabe besteht daher darin, die für die jeweiligen Sachverhalte maßgebenden Anknüpfungspunkte herauszuarbeiten; dadurch soll sichergestellt werden, daß die Sachverhalte vom deutschen Recht erfaßt werden, die ihren Schwerpunkt in Deutschland haben. Diese Herausarbeitung von Anknüpfungspunkten (wie Beschäftigungsort, Wohnsitz, Staatsangehörigkeit usw.) setzt eine Analyse des jeweiligen Sozialrechtsverhältnisses voraus. Hierbei kann dem Rechtsvergleich eine wichtige Hilfsfunktion zukommen, weil dadurch das Verständnis für die Grundstruktur der jeweiligen Rechtsverhältnisse verstärkt wird. 1a Diese verschiedenen Funktionen lassen sich alle auf den allgemeinen Zweck jeder Rechtsvergleichung, das Recht besser zu erfassen, zu verstehen und zu bewerten (so Zacher (Anm. 11), S. 1) zurückführen. 14 Vgl. dazu v. Maydell (Anm. 8), ZSR 1972, S. 272 f.
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Zu den rechtstheoretischen Erkenntnissen, die eine Rechtsvergleichung in diesen Fällen vermitteln kann, kommt noch ein rechtspolitischer Effekt hinzu. Je stärker sich nämlich die Erkenntnis darüber, wo der Schwerpunkt von Sozialrechtsverhältnissen liegen sollte, annähert, desto eher sind auf der Grundlage gleicher Anknüpfungspunkte inhaltlich korrespondierende Kollisionsnormen zu erwarten. Die Rechtsvergleichung kann hier das Verständnis für die Gemeinsamkeiten wekken, indem sie gleiche Interessenlagen aufzeigt. Auf die Frage der Angleichung von Kollisionsnormen wird im übrigen noch einzugehen sein15 • 3. Der Rechtsvergleich als Voraussetzunlr für die Schaffung von internationalen und supranationalen Kollisionsnormen
Der Vergleich des materiellen Sozialrechts kann auch, wovon hier zu handeln sein wird, die Voraussetzung für die Schaffung von internationalen und supranationalen Kollisionsnormen schaffen und damit eine Funktion für die gesetzgeberische Arbeit in diesem Bereich erfüllen. Kollisionsnormen in Abkommen und in EWG-Verordnungen sind regelmäßig als unvollständig zweiseitige Kollisionsnormen ausgestaltet, d. h. diese Regeln treffen eine Auswahl zwischen zwei oder mehreren (vgl. z. B. das Rheinschifferabkommen und die EWG-Verordnungen über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer) Sozialrechtsordnungen. Voraussetzung für die Schaffung solcher Normen ist, daß zu.. nächst einmal in den verschiedenen zu koordinierenden Rechtsordnungen die vergleichbaren Rechtsinstitute ermittelt werden. Das setzt einen umfassenden Systemvergleich voraus. Erst nach diesen rechtsvergleichenden Vorarbeiten können Kollisionsnormen formuliert werden. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen. Das Invaliditätsrisiko kann der Krankenversicherung (so in Frankreich) oder der Rentenversicherung (so in Deutschland) zugeordnet werden16 • Will man eine Koordination zwischen verschiedenen Sozialsystemen herbeiführen, in denen solche unterschiedliche Zuordnung besteht, so bedarf es besonderer Koordinationsregeln, wie sie sich z. B. in Art. 37 ff. der va (EWG) 1408/71 finden 17 • Diese Koordinationsnormen stellen eine Besonderheit des internationalen Sozialrechts dar. Sie werden notwendig deshalb, weil es im SoSiehe nachfolgend unter III 2 c. Vgl. dazu van den Hout, Die Koordinierung der beiden Typen der Invalidenversicherung nach der Verordnung 1408/71, Referat gehalten auf dem Seminar über die Durchführung der Gemeinschaftsverordnungen über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer im Rentenbereich, Augsburg, 1. - 5. 10. 1973, Interne Drucksache der Europäischen Gemeinschaften, S. 161 ff. 17 Siehe van den Hout (Anm. 16), S. 178 ff. 15 16
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zialrecht nicht genügt, bei Sachverhalten mit Auslandsberührung eine bestimmte Rechtsordnung für anwendbar zu erklären. Regelmäßig erfordern die Besonderheiten dieser Sachverhalte eine Anpassung des materiellen Sozialrechts der anwendbaren Rechtsordnung. Dies wird durch Koordinations- und Harmonisierungsbestimmungen 18 erreicht, die zwar in engem Zusammenhang mit der Kollisionsregel stehen, inhaltlich aber den Sachnormen zuzuordnen sind, weil sie eine materielle Regelung beinhalten. 4. Der Sozialrechtsvergleich als Hilfe bei der Lösung von einzelnen Kollisionsfällen
Bei allen Sachverhalten mit Auslandsberührung, bei denen keine ausdrückliche Kollisionsnorm eine Entscheidung über das anwendbare Recht trifft, kann der Vergleich mit anderen Rechtsordnungen, mit denen der Sachverhalt in Berührung steht, hilfreich sein, und zwar sowohl bei der Auslegung der deutschen Sachnorm als auch bei der ad hoc-Entwicklung einer Kollisionsnorm. Soweit dabei nur bestimmte einzelne Rechtsordnungen gefragt werden, könnte es allerdings zweifelhaft sein, ob eine echte Rechtsvergleichung notwendig wird; doch ist die Grenze insoweit schwer zu ziehen. Zwei Fälle sollen beispielhaft zeigen, wie der Rechtsanwender in Kollisionsfällen auf die Hilfe der Rechtsvergleichung zurückgreifen kann, um damit zumindest seine Entscheidung abzusichern. Der erste Beispielsfall betrifft die Anwendung des § 539 Abs. 1 Nr. 9 a RVO auf Sachverhalte mit Auslandsberührung 19 • Diese Vorschrift regelt den Unfallversicherungsschutz des Lebensretters. Folgender Sachverhalt liegt gerade dem Bundessozialgericht20 zur Entscheidung vor: Ein seit 1970 in der Bundesrepublik beschäftigter türkischer Gastarbeiter verbrachte seinen Urlaub mit der Familie in der Türkei. Auf dem Rückweg in die Bundesrepublik zog sich der Türke schwere Verletzungen zu bei dem Versuch, seinen Sohn bei der Überquerung einer Straße vor einem vorbeifahrenden Auto zurückzureißen. Diese Rettungshandlung ereignete sich in Österreich. Es war die Frage zu entscheiden, ob in einem solchen Fall der Türke Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung gemäß § 539 Abs. 1 Nr. 9 a beanspruchen kann. Eine ausdrückliche Kollisionsnorm fehlt bislang. Sie ist allerdings im Sozialgesetzbuch in dem Entwurf über die Gemeinsamen Vorschriften 18
19 20
Vgl. v. Maydell (Anm. 3), VSSR 1973, S. 362 ff. Vgl. v. Maydell (Anm. 8), ZSR 1972, S. 277 f. 8 RU 124175, BSG-Vorbericht Nr. 40176.
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zur Sozialversicherung vorgesehen, wonach ein neuer § 539 Abs. 3 RVO eingefügt werden soll, der bei einer Lebensrettung im Ausland darauf abstellt, ob der Retter seinen Wohnsitz in der Bundesrepublik hat21 • Denkbar wäre hier eine Heranziehung des Territorialitätsgrundsatzes dergestalt, daß die deutsche Unfallversicherung deshalb für unzuständig erklärt wird, weil der Unfall sich in Österreich abgespielt hat. Gegen eine solche territoriale Beschränkung hat sich allerdings das Bundessozialgericht bereits früher aus Anlaß einer Lebensrettung in Spanien ausgesprochen22 • Denkbar wäre auch, daß man die anderen in Frage kommenden Rechtsordnungen, nämlich die türkische und die österreichische, daraufhin untersucht, ob sie für einen solchen Fall Leistungen vorsehen und sich damit praktisch für zuständig erklären. Diese Fragestellung setzt eine Erforschung des betreffenden ausländischen Rechts voraus23 • Losgelöst vom konkreten Fall stellt sich auch hier wieder die Frage, wo der Schwerpunkt dieses Rechtsverhältnisses liegt, wie also eine allgemeine Kollisionsnorm aussehen sollte. Insoweit ist dieser Fall nicht nur ein Beispiel für die Rechtsvergleichung als Hilfe bei der Auslegung, sondern auch dafür, daß die Rechtsvergleichung Hilfestellung bei der Entwicklung von Kollisionsnormen leisten kann. Für die Frage, wo der Schwerpunkt in diesen Fällen der Lebensrettung liegt, wäre ein umfassender Rechtsvergleich sinnvoll und notwendig. Ein solcher Vergleich könnte aufdecken, daß in anderen Rechtsordnungen die Entschädigung des Lebensretters durch Aufopferungstatbestände und nicht durch die Sozialversicherung gewährleistet wird. Damit erweisen sich alle Versuche als verfehlt, für den Fall der Lebensrettung im Ausland die Ausstrahlungstheorie heranzuziehen24 • Ein zweites Beispiel stammt ebenfalls aus der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts. Es geht dabei um die Vorfrage 25 , wie zivilrechtliche Begriffe in Sozialrechtsnormen auszulegen sind. Diese Entschei21 Art. II § 1 Ziff. 10 des Entwurfs eines Sozialgesetzbuches Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung (BT-Drucks. 7/4122). 22 BSGE 35, S. 70 ff. 23 Das BSG hat mit Urteil vom 22. 6. 1976 8 RU 124/75 - im Ergebnis eine Ersatzpflicht der deutschen Unfallversicherung verneint, weil es "an dem rechtlich wesentlichen Zusammenhang mit dem deutschen öffentlichen Interesse" fehle (Presse-Mitteilung v. 17.8.1976, Nr.40/76). Das BSG weicht damit von der im SBG vorgesehenen Lösung ab. 24 Siehe dazu bereits v. Maydell, Probleme des internationalen Sozialrechts, DVBl. 1971, S. 905 ff., 908 Anm. 25. 25 Der Begriff der Vorfrage wird hier nicht mit dem rechtstechnischen internationalprivatrechtlichen Begriffsinhalt verwendet (siehe dazu Kegel, Internationales Privatrecht, 3. Auf!. 1971, S. 134 ff.).
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dung bereitet insbesondere bei Sachverhalten mit Auslandsberührung erhebliche Schwierigkeiten. Das Bundessozialgericht hat sich in ständiger Rechtsprechung auf den Standpunkt gestellt, daß zivilrechtliche Begriffe in Sozialrechtsnormen mit dem zivilrechtlichen Begriffsinhalt zu verwenden sind. Bei Sachverhalten mit Auslandsberührung bedeutet dies, daß z. B. die Witweneigenschaft voraussetzt, daß eine nach deutschem Recht, soweit deutsches Recht nach dem IPR anwendbar ist, wirksame Ehe vorgelegen hat26 • Schließen also Spanier in Deutschland lediglich vor dem Geistlichen eine Ehe, so fehlt es nach deutschem Eherecht an einer wirksamen Eheschließung; in Spanien sind die beiden Spanier jedoch wirksam verheiratet. Verstirbt der Mann, so kann die zurückgebliebene Frau nach der Auffassung des Bundessozialgerichts nicht als Witwe im Sinne der Sozialversicherungs- und Versorgungsgesetze angesehen werden27 • Das Bundessozialgericht hat sich mit rechtsvergleichenden Betrachtungen nicht aufgehalten. Eine solche rechtsvergleichende Untersuchung anderer Rechtssysteme hätte jedoch ergeben, daß in anderen Staaten, so z. B. in den USA, solche zivilrechtlichen Begriffe in Sozialrechtsnormen autonom ausgelegt werden28 • Insbesondere das amerikanische Beispiel zeigt, daß durch eine solche autonome Auslegung der gesetzgeberische Zweck der jeweiligen Sozialrechtsnorm am besten erreicht werden kann, indem ein Gleichklang von Unterhaltsbeziehungen mit der Rentenberechtigung herbeigeführt wird.
111. Der Vergleich von Kollisionsnormen miteinander 1. Die verschiedenen Formen des Redltsvergleichs
Es ist eben gezeigt worden, wie der Vergleich des materiellen Sozialrecl1ts für die Herausbildung von Kollisionsnormen und für ihre Anwendung von Bedeutung sein kann. Nachfolgend sollen die Funktionen untersucht werden, die der Rechtsvergleich von Kollisionsnormen miteinander haben kann. Ein solcher Rechtsvergleich ist als horizontaler und als vertikaler Vergleich möglich29 • Man kann die innerstaatlichen Kollisionsnormen mit den internationalen und supranationalen Kollisionsregeln vergleichen (vertikaler Vergleich) oder aber die verschiedenen nationalen Kollisionsnormen der einzelnen Staaten miteinander (horizontaler Vergleich). Ein horizontaler Vergleich wäre auch auf der 2G 27 28
28
BSGE 10, S. 1 ff.; 27, 96 ff.; 33, 219 ff. Siehe Anm. 26. Vgl. Ehrenzweig, Private International Law, General Part, 1969, S. 83 ff. Zu diesen Begriffen vgl. Zacher (Anm. 11), S. 24 f.
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Stufe der völkerrechtlichen Abkommen denkbar, indem z. B. die verschiedenen Kollisionsnormen in Sozialversicherungsabkommen miteinander verglichen werden. Es zeigen sich hier teilweise Unterschiede, die bisweilen durch die Besonderheit des Sozial rechts systems des anderen Staates bedingt sind, bisweilen fehlt es aber auch an einer solchen sachlichen Begründetheit von Unterschieden 30 • Ein Vergleich wäre auch möglich zwischen Abkommensregeln und den Kollisionsgrundsätzen in den EWG-Verordnungen. Bei jedem vertikalen Rechtsvergleich ist allerdings zu berücksichtigen, daß ein solcher Vergleich eine besondere Komponente insofern hat, als die verschiedenen miteinander verglichenen Rechtsregeln aufeinander einwirken können. Es tauchen dabei Fragen der Rechtsanwendung auf. Insofern liegen nicht voll vergleichbare Tatbestände beim vertikalen Rechtsvergleich vor. 2. Einige Aspekte eines Rechtsvergleichs von Kollisionsnormen miteinander
a) Das Kollisionsrecht ist in Deutschland im Bereich des Sozialrechts nur sehr unvollständig entwickelt. Für die Weiterentwicklung sind die Erfahrungen anderer Staaten interessant und bedeutsam. Es geht z. B. darum, inwieweit in anderen Staaten die Abgrenzung des räumlichen Anwendungsbereichs durch Sach- oder durch Kollisionsnormen erfolgt, welche Anknüpfungspunkte in Kollisionsnormen bestimmt werden, inwieweit bei der räumlichen Abgrenzung auch berücksichtigt wird, ob eine andere Rechtsordnung eingreift oder nicht 31 ; es ließe sich noch eine Vielzahl ähnlicher Fragen formulieren, die eine Rechtsvergleichung notwendig und sinnvoll erscheinen lassen. Es wäre zu begrüßen gewesen, wenn vor der Formulierung des § 30 SGB-AT und der Bestimmungen in den gemeinsamen Vorschriften für die Sozialversicherung durch eine rechtsvergleichende Untersuchung eine weitere Basis geschaffen worden wäre. Die dadurch gewonnenen Erkenntnisse hätten sicherlich zumindest dazu geführt, daß die unglückliche Formulierung des § 30 SGB-AT vermieden worden wäre 32 • 30 Eine rechtsvergleichende Untersuchung der verschiedenen Abkommen könnte damit Erkenntnisse vermitteln, die bei der Änderung bereits bestehender Abkommen und der Erarbeitung neuer Abkommen bedeutsam werden könnten. 31 SO Z. B. § 3 Abs. 3 ASVG (Österreich). 32 Zur Kritik des § 30 SGB-AT vgl. Lohmann, Die Auswirkungen des Territorialitätsprinzips (§ 30 SGB-AT) in der gesetzlichen Rentenversicherung, SGb. 1976, S. 121 ff.; v. Maydell, Kritische Anmerkungen zum Entwurf des Allgemeinen Teils eines Sozialgesetzbuches, BlStSozArbR 1974, S. 65 ff.,
68.
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b) Alle Kollisionsnormen und Kollisionsgrundsätze im Bereich des Sozialrechts lassen sich auf eine Grundfrage zurückführen. Es ist die Frage danach, wie ein Sachverhalt beschaffen sein muß, damit deutsches Recht auf ihn Anwendung finden kann. Dieselbe Frage stellt sich entsprechend für alle anderen Staaten. Die Antwort, d. h. die Kollisionsregel, sollte idealiter darauf ausgerichtet sein, die Rechtsordnung für anwendbar zu erklären, die dem Sachverhalt am nächsten steht. Die Kollisionsnorm beschränkt sich auf die Bestimmung des anwendbaren Rechts, sie enthält keine Regelungen in der Sache selbst. In Anbetracht dieser für die Kollisionsrechte aller Staaten geltenden allgemeinen Grundsätze ist das Kollisionsrecht weitgehend von den konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen abstrahierbar, selbst wenn mittelbar die unterschiedlichen Sozialrechtssysteme durch eine Modifizierung der konkreten Kollisionsnormen wirksam werden können 33 • Die Gemeinsamkeit aller Kollisionsnormen in dem grundsätzlichen Ansatz führt dazu, daß das Kollisionsrecht in einem Maße einem Rechtsvergleich zugänglich ist, wie dies für keinen anderen Bereich des Sozialrechts der Fall sein dürfte. Alle die Erwägungen, die aus der Situationsgebundenheit des Sozialrechts, seinem häufigen Wechsel und den zahlreichen politischen Implikationen einen Vergleich im Bereich des materiellen Sozialrechts erschweren, entfallen weitgehend für den Bereich des Kollisionsrechts. Ein Rechtsvergleich erscheint daher hier besonders aussagekräftig und sinnvoll. c) Eine wichtige Funktion, die der Rechtsvergleichung zukommt, ist es, Vorarbeiten für die Rechtsangleichung zu schaffen. Auf dem Gebiet des Sozialrechts stehen einer Rechtsangleichung wegen der engen Verbundenheit des Sozialrechts mit dem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem der einzelnen Staaten große Hindernisse entgegen. Die bisherigen Erfahrungen mit einer Harmonisierung des Sozialrechts in der EWG bestätigen diesen Befund34 • Etwas anderes gilt jedoch für das Kollisionsrecht. In Anbetracht der gleichen Ausgangsfragen sind die Ergebnisse, zu denen die einzelnen Staaten bei der Gestaltung ihres Kollisionsrechts gelangen, weitgehend ähnlich. So finden sich fast überall Abgrenzungen der sozialen Versicherungs systeme nach dem Prinzip des Beschäftigungsortes. Dieser Grundsatz wird durch die Theorie von der Aus- und Einstrahlung mo33 Die spezifischen Schwierigkeiten des Sozialrechtsvergleichs, wie sie Zacher (Anm. 11), S. 27 ff. herausgestellt hat, bestehen daher beim Vergleich von Kollisionsnormen nur zum Teil. 34 In realistischer Einschätzung dieser Situation wird von der EWG heute keine Angleichung des nationalen Sozialrechts sondern eine Koordination der verschiedenen Systeme erwartet (vgl. Hillery, Die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer und das soziale Aktionsprogramm der Europäischen Gemeinschaften, Referat gehalten auf dem Seminar ... (s. Anm. 16), S. 1 ff.
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difiziert. Nur in Einzelfragen finden sich Unterschiede, so z. B. bei der Dauer der Ausstrahlung und der Einstrahlung. Allerdings ist in den sonstigen Bereichen des Sozial rechts das Bewußtsein der gemeinsamen Lösung des Kollisionsproblems noch nicht so weit verbreitet wie im Sozialversicherungsrecht. Eine Angleichung ließe sich jedoch erreichen, wie die Erfahrungen mit den EWG-Verordnungen für das Sozialversicherungsrecht zeigen. Voraussetzung wäre aber eine Herausarbeitung der Gemeinsamkeiten und der Unterschiede, wobei zu untersuchen wäre, worauf diese Unterschiede zurückzuführen sind. Oft werden sie ihre Ursache darin haben, daß Kollisionsnormen und Sachnormen ineinander übergehen und damit gleichzeitig mit der Bestimmung des anwendbaren Rechts eine Entscheidung in der Sache, z. B. für die Gewährung von Sozialleistungen an Ausländer oder an Personen mit Auslandswohnsitz getroffen wird. Bisweilen wird man auch feststellen können, daß hinter der scheinbar nur technischen Kollisionsregel nationale Interessen stehen, die gar nicht sozialpolitischer Art zu sein brauchen. Ein Beispiel dafür ist die Einstrahlung, deren enge Begrenzung häufig mit Wettbewerbsgesichtspunkten gerechtfertigt wird. Von einer weitgehenden Zulassung der Einstrahlungswirkung wird befürchtet, daß ausländische Firmen, die in Deutschland tätig werden, unter Berufung auf die Einstrahlung Sozialversicherungsabgaben einsparen können, und damit Kostenersparnisse erzielen. d) Eine Angleichung der Kollisionsnormen erscheint - wie gezeigt wurde - möglich, wobei der Rechtsvergleichung eine wichtige Rolle zufällt. Eine solche Angleichung ist aber auch sozialpolitisch notwendig und sinnvoll, weil durch sie die Nachteile der einseitigen Kollisionsnormen weitgehend verhindert werden können. Diese Nachteile bestehen darin, daß bei der Entscheidung über die Anwendbarkeit oder Nicht-Anwendbarkeit des eigenen Rechts regelmäßig unberücksichtigt bleibt, ob eine andere Rechtsordnung Anwendung findet oder nicht. Das kann zu Doppelbelastungen, z. B. bei der Sozialversicherungspflicht, führen, oder auch dazu, daß keinerlei sozialer Schutz besteht. Diese Folge tritt insbesondere dann ein, wenn in den verschiedenen Staaten Aus- und Einstrahlung unterschiedlich lang bemessen werden. Dieser unerfreuliche Zustand kann naturgemäß durch möglichst umfassende Abkommen und supranationale Regeln beseitigt werden. Darüber hinaus ist aber auch eine Angleichung der nationalen Kollisionsregeln auf der Basis einer umfassenden rechtsvergleichenden Bestandsaufnahme eine adäquate Lösung.
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IV. Zusammenfassende überlegungen zum Verhältnis von Rechtsvergleichung und Kollisionsrecht Aus den zu Beginn dargelegten Gründen sind primär die Einwirkungen und Hilfen der Rechtsvergleichung für das Kollisionsrecht behandelt worden. Der systematische Entwicklungsstand des sozialversicherungsrechtlichen Kollisionsrechtes erlaubte kein anderes Vorgehen. Nun hat sich gezeigt, daß die rechtsvergleichende Methode für das Kollisionsrecht unentbehrlich ist, und zwar sowohl für die Entwicklung und Formulierung von Kollisionsnormen durch Wissenschaft, Gerichte und den Gesetzgeber, als auch bei der Lösung konkreter Kollisionsfälle in der Rechtspraxis. Auf dieser Grundlage kann die Frage nach den Rückschlüssen von dem Kollisionsrecht auf die Rechtsvergleichung nochmals gestellt werden. Es geht dabei um die nähere Präzisierung des Verhältnisses zwischen Rechtsvergleichung und Kollisionsrecht, speziell aber auch um die Frage, welche methodischen Erkenntnisse bei der Heranziehung der rechtsvergleichenden Methode im Rahmen des Kollisionsrechts sich generalisieren lassen, d. h. allgemeinen Aussagewert für die Rechtsvergleichung insgesamt haben. 1. Die besondere Bedeutung der Rechtsvergleichung für das Kollisionsrecht beruht darauf, daß das Kollisionsrecht ebenso wie die rechtsvergleichende Methode das Bestehen verschiedener nationaler Rechtsordnungen voraussetzt. Selbst wenn das sozialrechtliche Kollisionsrecht überwiegend nur Aussagen über die Anwendbarkeit des eigenen Rechts trifft, so kann auch im Kollisionsrecht die andere Rechtsordnung von Bedeutung sein, wie gezeigt worden ist. Dies andere Recht wird durch die Rechtsvergleichung erschlossen35 • 2. Das Kollisionsrecht stellt der Rechtsvergleichung zahlreiche Aufgaben, die nur mit Hilfe der rechtsvergleichenden Methode bewältigt werden können. 3. Dieser Rechtsvergleich ist als vertikaler, vor allem aber als horizontaler Vergleich denkbar. Es kann zunächst von einem nominalen Vergleich ausgegangen werden, wobei sich allerdings zeigen kann, daß die Begriffsbildung in den verschiedenen nationalen Rechtsordnungen eine unterschiedliche ist. Bereits der Begriff des Kollisionsrechts ist nicht einheitlich. Besonders deutlich werden die Grenzen des nominalen Vergleichs dort, wo es in einer Rechtsordnung überhaupt keine ausdrücklichen 35 Zum Vergleich der Rechtsvergleichung mit dem internationalen Privatrecht vgl. Constantinesco, Rechtsvergleichung, Bd. II, 1972, S. 407.
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Kollisionsnormen gibt. Hier hilft nur der funktionale Ansatz, in dem gefragt wird, wie in der ausländischen Rechtsordnung die Abgrenzung des Anwendungsbereichs des eigenen Rechts erfolgt. Bei der Auswahl der zu vergleichenden Systeme ist zu berücksichtigen, daß kollisionsrechtliche Regelungen - sei es nun im innerstaatlichen Recht, sei es in Abkommen - dort am ehesten zu erwarten sind, wo es sich um entwickelte Sozialleistungssysteme und gleichzeitig um Staaten handelt, deren Bevölkerung eine beachtliche Mobilität über die Grenzen hinweg aufweist. 4. Daß das Kollisionsrecht sich besonders für eine rechtsvergleichende Betrachtung eignet, liegt an der einheitlichen Funktion aller Kollisionsnormen. Es bestätigt sich hier ein methodisches Grundprinzip jeder Rechtsvergleichung, nämlich das der Funktionalität36 • Vergleichbar ist im Recht nur das, was dieselben Funktionen erfüllt. Je exakter diese Funktion umschrieben werden kann, desto eher ist ein Rechtsvergleich mit aussagekräftigen Ergebnissen möglich. Da die Funktion der Kollisionsnormen exakt zu bestimmen ist, ist der Rechtsvergleich in diesem Bereich besonders effektiv. Übertragen auf andere Bereiche bedeutet das, daß der exakten Umschreibung der Funktion einer Regelung oder eines Instituts eine entscheidende Bedeutung zukommt. Ist diese Umschreibung möglich, so verspricht der rechtsvergleichende Ansatz Erfolg. 5. Die durch einen Rechtsvergleich zu gewinnenden Erkenntnisse können im Rahmen konkreter Aufgabenstellungen nutzbar gemacht werden 37 • Für den Bereich des Kollisionsrechts liegen diese Aufgaben vor allem bei der Entwicklung eines vollständigen Systems von Kollisionsregeln und bei der Rechtsvereinheitlichung.
Zusammenfassung Das internationale Sozialrecht verstanden als Kollisionsrecht umfaßt die Normen und Regeln, die bei Sachverhalten mit Auslandsberührung das anwendbare Recht bestimmen. Fehlen Kollisionsnormen, so ist der räumliche Anwendungsbereich durch Auslegung der Sachnorm abzugrenzen. Die aus dem Kollisionsrecht gewonnenen Erfahrungen könnten Hilfen für den Sozialrechtsvergleich bieten. Das Kollisionsrecht im Be38
Siehe dazu Zweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, Bd. I,
1971, S. 29 ff.
37 Zweigert / Kötz (Anm.36), S. 15 ff. nennen vier spezifische praxisbezogene Funktionen der Rechtsvergleichung, nämlich Hilfe bei Gesetzgebungsvorhaben, bei der Auslegung, beim Rechtsunterricht und bei der übernationalen Rechtsvereinheitlichung.
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reich des Sozialrechts verfügt bislang jedoch noch nicht über einen festgefügten und allgemein anerkannten Bestand von methodischen Erkenntnissen und Ergebnissen, die für den Sozialrechtsvergleich nutzbar gemacht werden könnten. Deshalb liegt das Schwergewicht des Verhältnisses von Sozialrechtsvergleichung und Kollisionsrecht bei der Frage, inwieweit der Sozialrechtsvergleich Hilfestellung für das Kollisionsrecht gewähren kann. Bei der Herausarbeitung von Kollisionsnormen ist zu berücksichtigen, daß durch diese Regeln die Sachverhalte dem deutschen Recht zugeordnet werden sollten, die ihren Schwerpunkt in Deutschland haben. Bei der Ermittlung des Schwerpunktes von Lebenssachverhalten kann ein horizontaler Vergleich des materiellen Sozialrechts anderer Staaten hilfreich sein. Ein Vergleich materiellen Sozialrechts ist ebenso bei der Herausarbeitung internationaler (dem Ursprung nach) und supranationaler Kollisionsnormen notwendig. Es müssen die vergleichbaren Rechtsinstitute in den erfaßten Rechtsordnungen ermittelt und eine Koordination zwischen ihnen herbeigeführt werden. Neben dem Vergleich materiellen Rechts ist auch der Vergleich von Kollisionsnormen miteinander möglich und läßt in Anbetracht der rudimentären Entwicklungen des innerstaatlichen Kollisionsrechts neue Erkenntnisse erwarten, die auch für die Weiterentwicklung des innerstaatlichen Kollisionsrechts bedeutsam werden können. Die Vergleichbarkeit ist in weitem Umfang gegeben, weil die Kollisionsproblematik sich auf eine einheitliche Fragestellung zurückführen läßt. Der Vergleich von Kollisionsnormen kann auch dazu dienen, das Kollisionsrecht der verschiedenen Staaten einander anzugleichen. Einer solchen Angleichung sollte im Rahmen der internationalen Sozialpolitik eine besondere Priorität zuerkannt werden. Summary International social law seen as conflict of laws comprises those rules and regulations that determine the applicable law in cases of international scope. In the absence of rules and regulations on conflict of laws jurisdiction is to be confined by the interpretation of rules of substantive law. The experience gained with conflict of laws could be helpful in a comparison of social law. However, conflict of laws cannot yet draw on solid, generally accepted methodical knowledge and on results that could be made use of in a comparison of social law. Therefore the
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question is rather to what extent a comparison of social law can be of assistance for the conflict of laws. When working out conflict rules facts that mainly relate to Germany should be subsumed under German law. When determining the main aspects of particular circumstances a horizontal comparison of substantive sociallegislation in other countries may be helpful. A comparison of substantive social law is necessary in order to work out international (by origin) and supranational rules on confliets. Comparable legal institutions of the legal orders investigated must be ascertained and coordinated. Apart from substantive social law one can also compare with each other existing conflict rules, and in view of the rudimentary development of national laws on conflict of laws new results may be expeeted which in turn may effect the development ot national laws on conflict of laws. Conflict rules are to a large extent comparable because the problems of conflict of laws involved can be brought to a common denominator. A comparison of conflict rules may be helpful for a harmonization of national laws on conflict of laws, and this harmonization should be given priority in international social policy.
DISKUSSIONSBERICHT
Die Diskussion bewegte sich zunächst um das Verhältnis und den Unterschied zwischen Kollisionsnormen und Sachnormen, die ihren räumlichen Anwendungsbereich selbst begrenzen. Im Ergebnis bestand Einigkeit darüber, daß die sogenannte "autolimitierte" Sachnorm eine einseitige Kollisionsregel enthalte, die eine Rechtswahl stillschweigend treffe und zugleich eine Regelung in der Sache selbst vornehme. Im Gegensatz zur französischen Rechtslehre wurden deshalb Kollisionsnormen und "autolimitierte" Sachnormen nicht als zwei streng voneinander zu trennende Normbereiche, sondern - was ihre kollisionsrechtliche Wirkungsweise betreffe - als eng verwandt angesehen. Übereinstimmend hielt man ferner Kollisionsnormen für ersetzbar durch Sachnormen, in denen der räumliche Anwendungsbereich abgegrenzt werde. Von Kollisionsnormen und "autolimitierten" Sachnormen wurden in der Diskussion sogenannte Auslandssachverhalte unterschieden, also Fälle, in denen zu entscheiden sei, wie das nach Kollisionsrecht anwendbare eigene materielle Recht auf einen Ausländer oder einen im Ausland verwirklichten Tatbestand reagiere, ob es zu modifizieren sei, ob das eigene materielle Recht gar auf eine ausländische rechtliche Regelung des Sachverhaltes Rücksicht nehme. Ergänzend wurde darauf hingewiesen, daß zweiseitige Kollisionsnormen im internationalen Sozialrecht - mit Ausnahme zwischenstaatlicher Abkommen und des supranationalen Bereichs - ausgeschlossen seien, da sie ebenso wie z. B. im Steuer- oder Staatsangehörigkeitsrecht einen Übergriff in die Souveränität des ausländischen Staates darstellen würden. Widerspruch fand freilich der Vorschlag, den Begriff des Kollisionsrechts so weit zu fassen, daß er auch Normen erfaßt, die zwar im Gewande einer Sachnorm auftreten, aber zugleich eine Kollisionsregel enthalten. Man gab zu bedenken, daß mit der Aufgabe einer prinzipiellen .Trennung zwischen Kollisionsnormen, die nur die Frage des anwendbaren Rechts beantworten, und Sachnormen, die eine unmittelbare rechtliche Regelung des Lebensverhältnisses selbst treffen, ein wichtiges Band zu den methodischen Erkenntnissen des internationalen Privatrechts zerschnitten und damit das internationale Sozialrecht, das bislang über keinen vergleichbaren Fundus solcher Erkenntnisse verfüge, isoliert werde.
8 Sozialrechtsvergleich
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Diskussionsbericht
In der weiteren Diskussion wurde die vom Referenten angesprochene Frage der Auslegung zivilrechtlicher Begriffe in Normen des Sozialrechts auf die parallele Problemlage im Entschädigungsrecht übertragen. Dabei wurde deutlich, daß auch im Entschädigungsrecht das Problem auftaucht, ob zivilrechtliche Vorfragen - z. B. die Gültigkeit sogenannter "Rabbinatsehen" - aus der Sicht des Zivilrechts oder vom Standpunkt des Entschädigungsrechts aus zu entscheiden sind. Durchweg Zustimmung fand die Ansicht, daß eine sachgerechte Antwort nur aus Sinn und Zweck des Rechtsgebietes gegeben werden könne, dem die mit der zivilrechtlichen Vorfrage verknüpfte Norm angehöre, hier also - nicht anders als im Sozialrecht - aus der Sicht des Entschädigungsrechts. Schwerpunkt der weiteren Diskussion war die Frage nach Rolle und Tragweite der Rechtsvergleichung für die Verweisungsnormen des Sozialrechts. Keine Einigkeit bestand allerdings über die Frage, ob Rechtsvergleichung eine Methode oder eine Wissenschaft sei. Einig war man sich hingegen darüber, daß der Rechtsvergleich wichtige Erkenntnisse für die Korrektur bestehender und die Formulierung neuer Kollisionsnormen des eigenen Rechts vermitteln könne: So sei etwa aufgrund eines Vergleichs mit ausländischen kollisionsrechtlichen Lösungen das im deutschen internationalen Sozialrecht lange unangefochten herrschende Territorialitätsprinzip modifiziert worden. Der Vergleich mit dem österreichischen ASVG zeige auch, daß man z. B. nicht unbeschränkte Einstrahlungstatbestände schaffen dürfe mit der Folge, daß ausländische Arbeitnehmer, die in ihrem Herkunftsland nicht geschützt seien, auch bei uns ohne sozialversicherungsrechtlichen Schutz dastünden. Ausländische Regelungen könnten somit durchaus als nachahmenswerte Modelle für nationale Kollisionsnormen dienen. Als ein Land, das auf reiche Erfahrung im internationalen Sozialrecht verweisen könne, wurde in diesem Zusammenhang Luxemburg genannt. Andererseits wurde zu bedenken gegeben, daß die beträchtlichen Unterschiede zwischen den einzelnen nationalen Sozialrechtsordnungen dazu führen könnten, die Angleichung von Kollisionsnormen zu erschweren: Auf verhältnismäßig einfache und allgemeine Kollisionsnormen könne man sich international wohl einigen. Angesichts der im Detail doch sehr verschiedenen nationalen Systeme des Sozialrechts bestehe jedoch die Gefahr, daß jeder Staat seine nationalen Eigenheiten gegenüber den ausländischen abgrenze und auch in seinem Kollisionsrecht berücksichtige, sich mithin kollisionsrechtlich von anderen Staaten abkapsele. Dieses Streben nach einem differenzierten System des nationalen Kollisionsrechts stehe aber im Widerspruch zu der Tendenz, sozialrechtliche Verweisungsnormen international anzugleichen. Fraglich sei zudem, ob dieses Streben nach einem differenzierten Sy-
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stem nationalen Kollisionsrechts in zwischenstaatlichen Abkommen und auf supranationaler Ebene aufgefangen werden könne, zumal sich die internationale Angleichung schon auf der Stufe der Begriffsbildung für überstaatlich einheitliche Kollisionsnormen wegen der unterschiedlichen nationalen Begriffswelten vor große Schwierigkeiten gestellt sehe. Keine Zustimmung fand die These, daß man bei Kollisionsnormen in beträchtlichem Umfang von sozialen Verhältnissen und sozialpolitischen Zielen abstrahieren könne, weil eS sich um Normen handle, die keine materielle Entscheidung in der Sache selbst träfen, sondern nur das räumlich zuständige Recht bezeichneten. Demgegenüber wurde darauf hingewiesen, daß z. B. die Ausstrahlungstheorie gerade deshalb entwickelt worden sei, weil es in den Entwicklungsländern keine Sozialversicherung gebe, die der unsrigen annähernd vergleichbar sei, und dem deutschen Arbeitnehmer im Ausland der sozialversicherungsrechtliche Schutz erhalten bleiben müsse. Gegen die These vom weitgehend sozialpolitisch neutralen Charakter des Kollisionsrechts wurde noch eine ganze Reihe weiterer Einwände erhoben: Im nationalen Kollisionsrecht und beim internationalen Vergleich von Kollisionsnormen komme es darauf an, das eigentliche Problem aus seiner jeweiligen rechtlichen "Verpackung" herauszulösen, um einen verstärkt differenzierten Problemkreis zu gewinnen. Erst dann sei der Gegenstand umschrieben, über den man sich mit dem ausländischen Juristen - gewissermaßen auf gemeinsamem Boden - besser unterhalten könne und über den auch mit dem Sozialwissenschaftler eine Verständigung möglich sei. Gerade mit dem Sozialwissenschaftler könne man sich eher verständigen, wenn man das Problem zwar in seinen Rechtstendenzen darstelle, aber aus seiner unmittelbaren rechtlichen Regelung herauslöse. Hierin könne man gerade eine eigenständige Aufgabe der Rechtsvergleichung sehen. Von diesem Ansatz her könnten beim Vergleich von Kollisionsnormen eine Reihe von Ähnlichkeiten und Grundzügen sichtbar gemacht werden, die sehr wohl Sozialpolitik mit Kollisionsrecht verknüpfen: So gehe in das nationale Kollisionsrecht das Sicherungsbedürfnis der eigenen Sozialrechtsordnung ein, das in der sogenannten Ausstrahlungstheorie zum Ausdruck komme. Aufgabe der Rechtsvergleichung sei es dann, zu ermitteln, ob jedes Sozial recht das Bedürfnis habe, die von ihm Geschützten nicht ins "soziale Nichts" fallen zu lassen, wenn sie etwa im Ausland als Arbeitnehmer tätig seien oder sich als Lebensretter verletzten. Wie dieser Sicherungszweck verwirklicht werde - etwa über das Personalitätsprinzip - sei ein wichtiger Aspekt des Kollisionsrechts. Eng damit hänge zusammen, daß nach dem Zweck des nationalen Sozialrechts der Geschützte nicht aus dem Netz gehobener sozialer Sicherung fallen solle. Man frage nämlich nicht, ob der S·
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Geschützte im fremden Land durch allgemeine soziale Auffangnetze z. B. die Sozialhilfe - das Gleiche wie im eigenen Land erhalte. Man frage vielmehr nur, ob er im Ausland in der gleichen Klasse eine Sicherung genieße. Gedacht werde also nur an einen Vergleich des Sozialversicherungsrechts; infolgedessen kämen die Klassenunterschiede zwischen Systemen gehobener sozialer Sicherung und den allgemeinen sozialen Auffangsystemen im internationalen Sozialrecht ungemein stark zum Ausdruck. Dieses "Klassensystem " werde gerade hier ungemein gepflegt und könne fast als ein Grundsatz angesehen werden. Weiterhin sei als wichtiger Grundzug im Kollisionsrecht der Komplex der individuellen Sphäre zu beachten: So scheine das Erreichen von Freizügigkeit mehr und mehr ein Rechtsgut des internationalen Sozialrechts geworden zu sein. Gleiches gelte für die Sicherung von Anwartschaften in Gestalt eines "Mitnahmerechts" . Ein wichtiger Aspekt sei ferner die Familieneinheit, insbesondere die Einbeziehung von Kindern (z. B. Kindergeld). Ein weiterer Grundzug sei, daß es Gruppen von negativen Normen gebe, die einer Einbeziehung in das nationale Sozialrecht entgegenstünden: "Zugangsnormen" etwa dienten der Aufrechterhaltung der Leistungsfähigkeit des eigenen Systems, indem sie das Einschwemmen beliebiger Leistungsnehmer verhindern sollen. Andere Normen erschwerten die gewillkürte Inanspruchnahme des nationalen Sozialrechts. Diese Normengruppe spiele freilich für das Sozialversicherungsrecht eine untergeordnete Rolle, weil man in dieses System nur langfristig Eingang finde. Denn eine besondere Eigentümlichkeit der Vorsorgesysteme sei gerade, daß man erst nach einer bestimmten Leistungszeit auf die Seite der Anspruchsinhaber gelangen könne. Wo aber ein solches langfristiges "Voreintreten" oder "Einkaufen" nicht erforderlich sei, dort könne sich jemand willkürlich in das soziale System einschleichen, indem er sich in den normativ vorausgesetzten "Territorialstand" begebe. Abschließend wurde darauf hingewiesen, daß man beim Vergleich von Kollisionsnormen des Sozialrechts mehr als bisher unterscheiden müsse zwischen "Ereignisfällen", die nur eine einheitliche Lösung zuließen (z. B. ob der verunglückte Lebensretter Rente bekomme) und den "Kumulationsfällen", die einer differenzierten Lösung bedürften (z. B. hinsichtlich der einzelnen Stadien, in denen jemand eine Rentenversicherung "erdiene", und den mehreren Rechtsgründen, aus denen ihm der Rentenanspruch zustehe). Bearbeiter: Simons / Trenk-Hinterberger
Erfahrungen der internationalen Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Sozialarbeit und ihre Ergebnisse für die Ziele und Methoden des Sozialrechtsvergleichs Von Eugen Pusic
I. Das Grundproblem jedes Vergleichs ist die Verschiedenheit der zu vergleichenden Gegenstände. Andererseits aber heißt vergleichen Gleiches in Verschiedenem feststellen. Die Dialektik dieser gedanklichen Situation ist nicht ohne Gefahr. Sie mag ebensowohl in den Irrgarten endloser Einzelbeschreibungen als auch in die Wüste einer nur in den Annahmen des Betrachters vorhandenen Gleichförmigkeit führen. Als erste Vorbedingung, dieser Gefahr zu begegnen, erscheint mir die Aufgabe, die Dimensionen herauszuarbeiten, an denen sich vorhandene Verschiedenheiten am sinnvollsten vergleichen lassen, so daß sie sich einem einordnenden Bezugsrahmen fügen und gleichzeitig Hypothesen über allgemeine zeitbedingte Veränderungen bzw. Entwicklung erlauben. Ebenso bin ich der Meinung, daß solche Dimensionen für den Sozialrechtsvergleich vornehmlich vorjuridischer und metajuridischer Natur sein müssen, um von den Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten rechtlicher Formulierungen nicht von Anfang an irregeleitet zu werden. Gerade im Recht, und vor allem im Sozialrecht, ist es von größter Wichtigkeit, die antäusartige Verbindung mit der Erde gesellschaftlicher Wirklichkeit nicht zu verlieren. Die für ihre sozialpolitische Lage relevanten Unterschiede zwischen Gebieten, Ländern, Nationen scheinen sich überwiegend um die Dimension der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zu gruppieren. Verallgemeinernd kann von einem stetigen Differenzierungsprozeß gesprochen werden, der für die verschiedensten Domänen und Subsysteme gesellschaftlichen Lebens bezeichnend ist. Die Zahl der verschiedenen Elemente und ihrer verschiedenen Attribute im System manifestiert die Tendenz, mit der Zeit zu wachsen. Das Grundmuster der ständig wachsenden Anzahl von Beschäftigungen und Berufen spiegelt sich in ähnlichen Vervielfältigungsprozessen, in Sprachen und an-
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deren Symbolsystemen, in den Wissenschaften, in Normensystemen, in Institutionen und Organisationen. Der Prozeß zunehmender Differenzierung läuft im Rahmen des jeweiligen gesellschaftlichen Macht-, Institutionen- und Wertsystems ab. Dieser Rahmen ermöglicht die Integration differenzierter gesellschaftlicher Elemente in ein System, begrenzt aber zugleich die Möglichkeit fortschreitender Differenzierung durch seine relativ starre Struktur. Jeder Integrationsrahmen wird daher früher oder später dem Druck zunehmender Differenzierung weichen und durch einen weiteren Rahmen ersetzt werden müssen. In der Entwicklung der Produktionstechnologie zum Beispiel sind solche Rahmenänderungen in den verschiedenen technologischen "Revolutionen" erkenntlich - von der Agrarrevolution im Neolithikum über die industriellen Revolutionen der letzten zweihundert Jahre, bis, vorerst, zur Informations- und Automatisierungsrevolution der sechziger Jahre. Jedes gesellschaftliche System und Subsystem - inwiefern die "Gesellschaft" als Ganzes überhaupt als ein System zu werten ist, bleibt übrigens fraglich - läßt sich daher als ein Prozeß konstanter Differenzierung und zeitweiliger Erweiterung des Integrationsrahmens auf wachsende Komplexität zu verstehen. Gesellschaftliche Systeme als offene Systeme entwickeln sich jedoch in Wechselwirkung mit ihrer Umgebung. Sie können der allgemeinen, ihre Struktur zersetzenden Entropie nur durch die Einfuhr von "Energie" aus der Umwelt entgegenwirken. Das heißt aber, daß regressive Strukturentwicklung - Dedifferenzierung und der Übergang auf engere, restriktivere Integrationsrahmen - theoretisch möglich sowie praktisch historisch nachweisbar ist. Diese Skizze ist nicht als Originalbeitrag, sondern als eine vereinfachende Beschreibung des Konvergenzpunktes gemeint, auf den sich viele Disziplinen hinzuentwickeln scheinen. In den Sozialwissenschaften nähert sich das Konzept gesellschaftlicher Arbeitsteilung noch am ehesten dem Status eines allgemeinen akzeptierten Paradigmas im Sinne von Thomas Kuhn. Seit Adam Smith, Karl Marx und Emile Durkheim bis auf moderne systemtheoretische Ansätze, industriesoziologische Kritik (z. B. Georges Friedmann) und organisationstechnische Modelle scheint das Phänomen gesellschaftlicher Arbeitsteilung von ansonsten diametral entgegengesetzten Lehrmeinungen benützt zu werden.
ß. Je enger die tatsächliche Differenzierungsspanne gesellschaftlicher Arbeitsteilung in einem Gemeinwesen ist, um so weiter wird der Begriff gesellschaftlicher Fürsorge - welcher vorerst als umfassender
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dem spezielleren Begriff von Sozialarbeit vorzuziehen ist - zu fassen sein. Der Begriff wird - im Extremfall - von unserem heutigen Standpunkt aus ganz verschieden zu wertende Maßnahmen umfassen, vom Geborgensein in der Großfamilie bis zur Aussetzung am Tarpeischen Felsen, und von Stammessolidarität bis zu den Armenverfolgungen nach den Elisabethinischen Armengesetzen. Begrifflich wäre somit als gesellschaftliche Fürsorge im weitesten Sinne jede systematische Reaktion einer Gesellschaft zu bezeichnen auch und gerade in ihrer primitiven Gemeinschaftsform - auf Sachbestände, die sich auf die Lebensweise ihrer Mitglieder beziehen und von den in dieser Gesellschaft geltenden Wertmaßstäben abweichen. Innerhalb dieser weitesten Begriffsbestimmung entwickeln sich konkrete Systeme gesellschaftlicher Fürsorge in Prozessen allmählicher, aber ununterbrochener Differenzierung und zeitweiliger Änderung des jeweils herrschenden Integrationsrahmens. Eben die relative Starrheit des Bindematerials erlaubt es, diese Systeme in einer ersten gröbsten Annäherung auf drei grundlegende gemeinsame Nenner zu bringen: a) Solidarität in eng umgrenzten gesellschaftlichen Verbänden; b) Polarisierung innerhalb erweiterter Verbände in wertmaßgebliche Machthaber und normunterworfene Untertanen; c) Allgemeine Wohlfahrt als Wert und als System von Institutionen, die, zumindest als Tendenz, jegliche begrenzende Bindung an umschriebene Gruppen und Gebiete verneint. Diese Begriffe können als Integrationsprinzipien im weitesten Sinne verstanden werden, welche für die innerhalb ihres Rahmens stattfindenden Differenzierungsprozesse zugleich richtungsweisend und limitierend sind. Die letzteren können dann innerhalb der so gesetzten Grenzen im einzelnen an charakteristischen Aspekten verfolgt werden: -
Differenzierung der Entscheidungs- bzw. Leistungsträger, Differenzierung und Erweiterung der Angesprochenen- bzw. Nutznießerkreise, Differenzierung und Milderung der Anwendungs- bzw. Einschlußkriterien.
So sind innerhalb eines Systems von Solidarität die Entscheidungsbzw. Leistungsträger sowie die Verpflichteten und Nutznießer gesellschaftlicher Fürsorgetätigkeit schon allein durch ihre Mitgliedschaft im System legitimiert und in ihren zwei Grundsituationen eigentlich von Fall zu Fall durch einschlägige Umstände definiert. Differenzierung ist hier gleichbedeutend mit der Erweiterung des Systems: neue Familienmitglieder, Stammesangehörige, Gläubige einer Religionsgemeinschaft. Die Differenzierung der Anwendungs- und Einschlußkriterien
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dient der Erweiterung der Gemeinschaft, in der tatsächliche stetige Interaktion als soziales Faktum bereits vorexistiert, z. B. der Einschluß von Sklaven und Klienten in die patriarchalische Familie, von stadtansässigen Meteken in die Solidaritätsgemeinschaft der Stadt, von Katechumenen in die geistige Solidarität ihrer zukünftigen Glaubensgemeinschaft. Der emotionsgeladene und emotionsabhängige Charakter der Solidaritätsnorm setzt jedoch dem System verhältnismäßig enge Grenzen. Jenseits der Möglichkeit relativ frequenter Kontakte und gemeinsamer symbolgebundener und gemeinschaftsbejahender Rituale ist Solidarität schneller Erosion und "Erkaltung" ausgesetzt. Als historische Tatsache ist die Entstehung größerer territorialer Gemeinschaften an die Polarisierung der Einwohner in Machthaber und Untertanen gebunden, was auch immer der Werdegang dieser Schichtung im konkreten Fall gewesen sein mag, Eroberung, differenzielle Bereicherung, Kontrolle ausschlaggebender Produktions- und Kampfmittel, Kontrolle von Quellen beständiger und charismatischer Autorität. Ganz allgemein wird in territorialen Machtsystemen das in Solidaritätsgesellschaften geltende Merkmal der Mitgliedschaft durch den Wertungsmaßstab der Leistung ersetzt, was immer auch die Natur der erwarteten Leistung ist, von militärischer Tüchtigkeit zum ökonomischen Erfolg bis hin zur schlichten Arbeitsleistung. Die Differenzierung der Entscheidungs- und Leistungsträger gesellschaftlicher Fürsorge in solchen Gemeinschaften ist eine Begleiterscheinung innerer Strukturierung der machttragenden Schichten (z. B. Staat, Kirche, Reichtum). Die Differenzierung der Angesprochenen- bzw. Nutznießerkreise wird durch die Ausbreitung des Systems sowie durch die allmähliche Differenzierung und Milderung der Anwendungs- bzw. Einschlußkriterien angeregt, nämlich der akzeptablen Gründe für den Ausfall der sonst erwarteten Leistung. Stets neue Situationen werden als schutzauslösend gewertet, während gleichzeitig die Krisen, denen polarisierte Systeme normalerweise ausgesetzt sind, periodisch neue Probleme aufkommen lassen und stets größere Gruppen von Menschen mit Problemsituationen konfrontieren. Die systemintegrierende Grenze, welche das Maß möglicher Differenzierung bestimmt, wird durch die von den Machthabern als wesentlich definierten Interessen gebildet. So werden z. B. unter Umständen die von ihren Höfen vertriebenen Bauern auch im ärgsten materiellen Notstand nicht als schutzbedürftig angesehen, und Arbeitslosigkeit wird als ein der für das System wesentlichen freien Konkurrenz von Arbeitskräften zuträglicher Zustand gewertet. "Gesellschaftliche" Schutzmaßnahmen teilen sich immer schärfer einerseits in Repression von Tatbe-
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ständen, welche die von den Machthabern als wesentlich angesehenen Interessen gefährden, und andererseits in Fürsorge. Letztere bedeutet dann - unter diesen Bedingungen - nurmehr die Summe jener systematischen Reaktionsformen von Machthabern auf Sachbestände, die sich auf die Lebensweise der Untertanen beziehen und von den geltenden Maßstäben abweichen, aber den Machtträgern nicht als mit ihren wesentlichen Interessen unvereinbar und daher repressionsbedürftig erscheinen. In einem System allgemeiner Wohlfahrt endlich wird der Begriff von Fürsorge auf Leistungen und Tätigkeiten eingeengt, die darauf ausgerichtet sind, Einzelnen und Gruppen, welche den akzeptierten minimalen Wohlfahrtsstandard nicht erreichen, zu helfen, in einem oder dem anderen Spezialbereich diese negative Distanz zu überwinden. Dabei sind die Bereiche, auf die sich diese Leistungen und Tätigkeiten erstrecken, nur unvollständig definiert, so daß Fürsorge als Restkategorie gegenüber anderen gesellschaftlichen Tätigkeiten, die auf Leistungen an Einzelne und Gruppen ausgerichtet sind, verstanden werden kann. Dieses Konzept von Fürsorge überschneidet sich weitgehend mit dem Begriff von Sozialarbeit. Letztere muß jedoch auch in ihrem Aspekt als differenzierter Sachverstand gewürdigt werden. Sozialarbeit ist, von diesem Standpunkt aus gesehen, eine überwiegend berufliche Tätigkeit, die auf gewisse negativ bewertete soziale und sozial-psychologische Sachbestände spezialisiertes Fachwissen anwendet, um es den Betroffenen zu ermöglichen, ihre gesellschaftlich nachteilige Situation zu überwinden. Natürlich darf bei dieser vereinfachenden Systematisierung nicht übersehen werden, daß eben komplexe Gesellschaften in sich die Möglichkeit mannigfaltiger Kombinationen einschließen. Es ist daher keine Ausnahme, sondern eher die Regel, daß in modernen Gemeinwesen parallel Fürsorgeinstitutionen bestehen, die begrifflich zu verschiedenen Systemen gehören. Solidaristische lokale und berufliche Fürsorgegenossenschaften, autoritative staatliche Intervention zugunsten von Minderjährigen und ein nationaler Gesundheitsdienst widersprechen einander nicht. Sie beziehen sich eben auf verschiedene Situationen und können in ihren Bereichen relativ dauernde Einrichtungen vorstellen. Ein Grund mehr, dem Begriff "Gesellschaft" mit Reserve zu begegnen.
Irr. Das neueste und heute vornehmlich in der entwickelten Welt vor allem aktuelle Fürsorgesystem der allgemeinen Wohlfahrt wird auf der Unterlage traditioneller nationaler Machtgebilde ausgebaut. Trotz-
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dem steht es zu diesen in prinzipiellem Widerspruch, denn seine Anwendungs- und Einschlußkriterien können logischerweise an Staatsgrenzen nicht Halt machen und Machträson nicht anerkennen. Dies ist der Hauptgrund, aus dem sich in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts das Netz internationaler Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Fürsorge wesentlich verdichtet. Zusätzliche Gründe sind der zunehmend transnationale Charakter von sozialen Problemen und die allgemeine Frequenzsteigerung internationaler Kontakte. Viele neue soziale Probleme gehen unmittelbar aus Prozessen und Situationen hervor, die sich nicht innerhalb nationaler Grenzen lokalisieren lassen. Ströme von Gastarbeitern bedeuten einen notwendigen Prozentsatz sozialer Probleme, die mit der - wenn auch nur zeitweiligen - Teilung von Familien, mit der Anpassung von Menschen an fremde Arbeits- und Gesellschaftsmilieus, mit Unfällen und erhöhten Risiken vielerlei Art verbunden sind. Auch auf der tieferen Ebene neuer sozialer Schichtungen und möglicher Interessenpolarisierung zwischen fremden und einheimischen Arbeitskräften oder gar zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmervölkern schafft die internationale Freizügigkeit von Arbeitskräften neue soziale Problemlagen. Politische Flüchtlinge dramatisieren solche Problemlagen im Extremfall, aber zwischen sozial unproblematischer Migration und ernstem politischen Konflikt gibt es so manche Situationen, die sozialtechnisch nur in einem internationalen Rahmen erfaßt werden können. Die Frequenzsteigerung internationaler Kontakte hat als erstes die Folge, daß sich kaum ein Land gegen die Folgen und Auswirkungen von sozialen und ökonomischen Mißständen in Nachbarländern abschließen kann. Es gibt große Teile der Erde, wo Seuchen und Hungersnot noch immer Probleme von größter praktischer Aktualität sind. Die Reperkussionen solcher Zustände, wie auch die von natürlichen Katastrophen, brauchen wohl nicht näher erläutert zu werden. Jedoch auch in Ländern, deren Entwicklungsstufe es erlaubt, solche Probleme zu beherrschen, wird man sich den Folgen von Massenarbeitslosigkeit, Verarmung, politischen Unruhen, erhöhtem demographischen Druck, grober Umweltschädigung in Nachbarländern nicht entziehen können, sei es, daß solche Zustände unmittelbar wesentliche Variablen des eigenen Systems beeinflussen - z. B. verminderte Ausfuhrmöglichkeiten, übertragene Umweltschädigung - sei es, daß sie Spannungen erhöhen, Induktionseffekte hervorrufen, als Auslöser eigener Konfliktsituationen wirksam werden. Die Frequenzsteigerung internationaler Kontakte spiegelt sich in der Ausbreitung des Netzes internationaler Institutionen und Organisationen auch auf dem Gebiet gesellschaftlicher Fürsorge. Staaten regeln
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Kontakte auf diesem Gebiet durch bilaterale und multilaterale Verträge, durch regionale und kontinentale Zusammenschlüsse, durch die Errichtung von supranationalen Institutionen. Die auf lange Sicht wohl wirksamste Plattform in dieser Beziehung stellen die UNO und ihre spezialisierten Randorganisationen vor. Immer wieder wird in diesem Zusammenhang die Möglichkeit erwähnt, UNICEF als spezialisierte Organisation für internationale soziale Fürsorge auszubauen, ähnlich wie UNESCO für das Bildungswesen, WHO für das Gesundheitswesen, ILO für Arbeitsprobleme bereits bestehen und funktionieren. Gerade da so viel Fürsorgetätigkeit sich eigentlich noch streng genommen in einer experimentellen Phase befindet und von mancher Kontroverse über Grundlagenfragen begleitet wird, kommt auf diesem Gebiet nichtstaatlichen internationalen Organisationen und Verbänden eine besondere Wichtigkeit zu. Diese Organisationen lassen sich heute annäherungsweise in drei Hauptgruppen einteilen: Eine sind professionelle internationale Verbände von Sozialarbeitern, Sozialschulen (die IASSW), Fürsorgeinstitutionen u. a., die vor allem der Wahrung und Verwirklichung der professionellen und sonstigen Interessen ihrer Mitglieder gewidmet sind. Die zweite Gruppe bilden Organisationen, die unmittelbar auf das operative Erfassen und die Bearbeitung von Sozialproblemen mit transnationalen Merkmalen ausgerichtet sind, wie z. B. der International Social Service. Zur dritten Gruppe endlich gehören Rahmenverbände, die nationale Fürsorgeorganisationen zwecks internationalen Zusammenschlusses und internationaler Zusammenarbeit erfassen, so wie es der International Council on Social Welfare tut. Die meisten Schwierigkeiten in der internationalen Zusammenarbeit auf dem Gebiet gesellschaftlicher Fürsorge lassen sich auf zwei grundlegende Differenzen zurückführen: a) Der Unterschied in der Spanne gesellschaftlicher Arbeitsteilung zwischen entwickelten und Entwicklungsländern, wo grundverschiedene Konzeptionen gesellschaftlicher Fürsorge herrschen mögen. Allgemeine Wohlfahrt, wenigstens tendenziell auf ein weltweites Fürsorgesystem ausgerichtet, kann Entwicklungsländer, wo zwei Drittel der Menschheit beheimatet und manche der schwersten und massenhaftesten Sozialprobleme zu finden sind, aus ihrer Kompetenz prinzipiell nicht ausschließen. Um diesen Problemen jedoch gerecht zu werden, haben entwickelte Länder bisher nicht nur ganz mengenmäßig ungenügende Mittel eingesetzt. Sie begegnen undifferenzierten Problemlagen mit dem differenzierten und institutionell spezialisierten Instrumentarium, das ihrem eigenen Komplexitätsgrad angepaßt ist.
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Diese im Grunde für die Empfängerländer untauglichen Strukturen und Methoden werden den Adressaten oft mit der Autorität der Macht, des Reichtums und der fortgeschrittenen "Zivilisationsstufe" aufgedrängt. Dies hat zur Folge, daß auch das Wenige, was in den verschiedenen Formen der Entwicklungshilfe an internationaler Zusammenarbeit in der Fürsorge auch wirklich geleistet wird, wegen der Inkongruenz von Differenzierungsstufen sich manchmal als Schlag ins W asser herausstellt. b) Der Unterschied zwischen einer marginalistischen Auffassung von Sozialarbeit, wonach jeder Einzelne imstande sein sollte, mit allen seinen Problemen selber fertigzuwerden, und soziale Hilfsbedürftigkeit den Empfänger als minderwertig stempelt, und einer etatistischen Auffassung, wonach die allgemeinen sozialpolitischen Maßnahmen des Staates im Rahmen der erkannten allgemeinen Gesetzlichkeiten gesellschaftlicher Entwicklung genügen, soziale Mißstände zu beseitigen, und eine besondere Sozialarbeit sich überhaupt erübrigt. Dieser Unterschied hängt mit der Tatsache zusammen, daß Fürsorgeinstitutionen auch in den höchst entwickelten Ländern mit den jeweiligen Machtsystemen, auf deren Nährboden sie gewachsen sind, unmittelbar verbunden sind. Ist für das betreffende Machtsystem auf Privateigentum gegründete wirtschaftliche Macht entscheidend, so werden herrschende Wertvorstellungen dazu neigen, privater Initiative und individueller Selbstgenügsamkeit eine hohe Position auf der gesellschaftlichen Wertskala einzuräumen und Hilfsbedürftigkeit in irgendeiner Form von vorneherein als negativ bezeichnen. Die entsprechende Ideologie der Sozialarbeit stellt es dann auch als höchstes Erfolgskriterium ihrer Intervention dar, wenn es gelungen ist, den Betroffenen, wenn auch nur vorübergehend, "auf seine eigenen Füße zu stellen", um ihn danach prompt dem Spiel derselben Kräfte, die seine anfängliche Problemlage verursacht hatten, wieder zu überlassen. Man sollte meinen, daß Systeme, deren Machtinstitutionen auf einer paternalistischen Vorstellung von der Rollenfunktion politischer Instanzen fußen, die Scylla einer solchen Verzerrung von Fürsorgezwecken vermeiden können. Dafür sind sie aber um so mehr der Charybdis einer Auffassung ausgesetzt, wonach soziale Entwicklung ehernen Gesetzen gehorcht und Einzelprobleme im Gang der Geschichte eben von selbst gelöst oder gegenstandslos werden. Allgemeine sozialpolitische Maßnahmen des Staates sind das allein akzeptable Mittel, veränderte großgesellschaftliche Interessenlagen auf dem Gebiet der Fürsorge zum Ausdruck kommen zu lassen. Auf den Einzelnen ausgerichtete Sozialarbeit kann nach dieser Auffassung nur zum Zweck haben, den Einzelnen mit ungerechten Gesamtverhältnissen auszusöhnen und ihn an eine in ihrem Wesen mangelhafte Gesellschaftssituation anzupassen.
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Nicht nur, daß sowohl die eine als auch die andere Auffassung die Analyse verbauen und tatsächliche soziale und menschliche Probleme ungelöst lassen; sie machen es fast unmöglich, in der internationalen Zusammenarbeit auf dem Gebiet gesellschaftlicher Fürsorge eine gemeinsame Sprache zu finden, über Probleme und mögliche Lösungen zu diskutieren, ohne einander problemfremder politischer Hintergedanken zu verdächtigen. Dieser Stand der Dinge unterstreicht die Wichtigkeit des sozialrechtlichen Ansatzes in der heutigen internationalen sozialen Fürsorge. IV.
Sozialrecht als Zweig des nationalen Rechts bedeutet die Gesamtheit der letztendlich durch das staatliche Zwangsmonopol gestützten Normen zur Regelung gesellschaftlicher Fürsorge und der daraus entstehenden Verhältnisse. Weder kann Fürsorge in irgendeiner Phase ihrer Entwicklung von dieser Regelung vollständig erfaßt werden, noch erschöpft sich Regelung von Fürsorge in den Normen des Sozialrechts. Wo Fürsorge eine Frage der Qualität ist, also über rein quantitative meßbare Renten und Leistungen hinausgeht, ist mit normativem Eingriff nicht viel zu erreichen. Der jeweiligen Entwicklungsphase entsprechend wandert der Schwerpunkt in der Regelung gesellschaftlicher Fürsorge von moralischen, religiösen oder weltlichen und konventionellen Normensystemen über Rechtsnormen auf kognitiverfaßte objektive Invarianzen menschlichen Verhaltens und sozialen Geschehens zu. Die Phasen überschneiden sich weitgehend, so daß auch in bezug auf rechtliche Regelung einige Varianten in der Grundorientierung und der gesellschaftlichen Funktion des Sozialrechts beobachtet werden können. a) Sozialrecht als Ausschluß Unbefugter ist die rechtsnormative Bestimmung des Kreises, in dem Solidaritätsansprüche - innerhalb der Familie, der Gemeinde, des Betriebes, des Staates - zu im Rechtswege realisierbaren Rechten und Verpflichtungen führen. Mit dem allmählichen Absterben vorrechtlicher Solidaritätsnormen kommt es keinesfalls zum gleichzeitigen Verschwinden aller zum Solidaritätssystem gehörenden Institutionen. Es verändert sich nur die Grundlage ihrer Verbindlichkeit. Die ursprüngliche emotionale Ladung der gegenseitigen Hilfsverpflichtung verflüchtigt sich und wird durch die erzwingbare Rechtsverpflichtung ersetzt. So stark ist das Beharrungsvermögen von Institutionen, daß manche sich dem neuen Integrationsrahmen vollständig anpassen und von neuen, diesem Rahmen entspringenden Institutionen kaum noch zu unterscheiden sind. So ist es zu erklären,
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daß Friedrich Engels in seiner bekannten Schrift neben dem Privateigentum und dem Staat auch die Familie zu den Kernstücken der Klassengesellschaft zählt. Es bedarf wohl keiner Beweisführung, daß die Familie den Urtypus des Solidaritätsverbandes darstellt. Im Laufe der gesellschaftlichen Schichtung in Machthaber und Untertanen wird jedoch auch die Familie immer mehr zum Herrschaftsverband umgedeutet und in ein Rechtsverhältnis verwandelt. Wohl am überzeugendsten ist dieser Prozeß an der römischen Familie zu verfolgen. Aber auch in anderen Bereichen wird gesellschaftliche Regelung auf Ausschluß eingestellt, den Ausschluß von Nichteigentümern vom ius utendi, fruendi, disponendi in Bezug auf materielle Güter, den Ausschluß von Nichtbürgern von der Schutzgemeinschaft des Staates, aber auch den Ausschluß von Familienmitgliedern von den Privilegien des pater familias. Trotz möglicher Reziprozität im einzelnen konkreten Rechtsverhältnis ist Regelung durch Ausschluß logischerweise auf den Schutz von Minderheiten gegen die unbefugte Intervention unbestimmter Mehrheiten gerichtet, so daß auch im Sozialrecht diese Regelungsmethode nur zum Fürsorgeschutz genau definierter und eng umschriebener Nutznießergruppen mit Erfolg angewendet werden kann. b) Sozialrecht als Begrenzung der Machthaber ist die rechtsnormative Festsetzung von Situationen, in welchen tatsächliches Machtübergewicht von Eltern, Arbeitgebern, Staatsfunktionären usw. nicht auf Kosten gewisser gesellschaftlich geschützter Interessen der Untertanen zum Ausdruck gebracht werden darf. Konstruktionsmethoden der politischen Architektur, wobei strukturelle Gleichgewichte absichtlich entwickelt werden, um einen Bremseffekt in Bezug auf die wichtigsten Machtzentren zu erzielen, haben unsere Aufmerksamkeit von den viel zahlreicheren, obwohl weniger spektakulären Fällen abgelenkt, wo Rechtsnormen Untertanen direkt gegen die tatsächliche Übermacht von Machtfiguren in den verschiedensten bilateralen und multilateralen Konfrontationen schützen. Macht jedoch, wie Wasser, fließt nicht bergauf. Daher ist auch jede Selbstbeschränkung der Macht durch Rechtsnormen, die in letzter Instanz auf dieselbe Macht zurückgreifen müssen, eine prekäre Bindung, immer widerruflich und oft widerrufen. Zwei Momente müssen trotzdem dabei berücksichtigt werden. Deduktive Normensysteme pflegen ein gewisses Eigengewicht zu entwickeln und durch ihre innere Logik die ursprüngliche Willkür auch der normsetzenden Instanz selber zu begrenzen. Die politische Geschichte wie die Rechtsgeschichte bieten genügend Beispiele dafür, daß der princeps, obwohl persönlich legibus solutus, seine eigenen Rechtsnormen brechen mußte, um die ihm notwendig erscheinende Ma-
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növrierfreiheit in der Verfolgung politischer Zwecke zu bewahren. Bei genügender Dichte der Rechtsverflechtungen - ein Spezialaspekt der erreichten Differenzierungsspanne - entstehen durch jede Rechtsnorm stabilisierende Interessenkonstellationen, die dem Regelungszustand eine gewisse Trägheit verleihen und Änderungen entgegenwirken. Auch ist es nicht unrealistisch, zwischen Normen und Wirklichkeit einen gewissen Grad von Wechselwirkung anzurechnen. Die Rechtsnorm selber mag ihre ratio in einer gewissen Verschiebung, Verundeutlichung der anfänglich ganz eindeutigen Machtverhältnisse haben. So mag die rechtliche Einschränkung väterlicher Macht dem Entstehen von neuen Quellen ökonomischer Unabhängigkeit der Familienmitglieder durch Arbeit in der Industrie entspringen, die gesetzliche Regelung von Arbeitgeberprärogativen der Entwicklung einer aktionsfähigen Gewerkschaftsbewegung entsprechen, der rechtliche Schutz von Empfängern sozialer Hilfeleistungen politischen Druck vermuten lassen. Eine gesetzte Norm jedoch ist ihrerseits ein Teil der Wirklichkeit und kann Prozesse der Machtverschiebung beschleunigen, indem sie neue Wertbegriffe festigt, entsprechende Erwartungen verbreitet, entgegengesetzte Interessen ins Unrecht versetzt. e) Sozialrecht als allgemeines Normversprechen, wodurch für die normsetzende Körperschaft die Verpflichtung geschaffen wird, gewisse Leistungen zu sichern bzw. gewisse Tätigkeiten institutionell zu organisieren und für ihre stetige und ordentliche Abwicklung Sorge zu tragen, während potentiellen Nutznießern aus solchem Rechtssatz subjektive Rechte erwachsen und ihnen auch Instrumente in die Hand gegeben werden, sie im Rechtswege zu realisieren. Während Sozialrecht als Ausschluß Unbefugter in einem gewissen Sinn den Fortbestand von Solidaritätssystemen unter veränderten Umständen vorstellt, bedeutet Sozialrecht als allgemeines Normversprechen einen Vorgriff auf allgemeine Wohlfahrtsysteme. Die entsprechende Wert konzeption ist bereits vorhanden, gewöhnlich mangelt es jedoch an Mitteln im weitesten ökonomisch-gesellschaftlichen Sinne -, die Konzeption im vollen Umfang zu realisieren. Alterssicherung, in der die Renten unterhalb eines Minimalstandards bleiben, nationaler Gesundheitsdienst mit ungenügendem medizinischen Personal oder zu weit gestreuter institutioneller Infrastruktur sind wohlbekannte Beispiele. Die Frage ist, was sind die Folgen eines solchen Vorgriffs, oder vielleicht auch, wo ist die Schwelle, oberhalb derer man von so einem Vorgriff einen propulsiven Einfluß auf die Entwicklung erwarten kann? Vor allem darf nicht vergessen werden, daß Systeme, die ökonomisch zum größten Teil auf traditioneller Landwirtschaft zum Eigenver-
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brauch beruhen, in dieser Hinsicht wenig riskieren, und daß daher Machthaber in solchen Systemen oft der Versuchung ausgesetzt sind, durch "Phantasiemaßnahmen" in sozialer Fürsorge politisches Prestige zu gewinnen. Das Problem beginnt eigentlich erst, wenn durch solche Maßnahmen effektive politische Erwartungen in nennenswerten Teilen der Bevölkerung entstehen. In diesem Fall können uneinlösbare Normversprechen leicht das Gegenteil ihres intendierten Effektes bewirken und sowohl die Glaubwürdigkeit der Machthaber in für sie politisch gefährlichem Maße herabsetzen als auch die ganze Konzeption, die in den Maßnahmen impliziert ist, auf lange Zeit kompromittieren. Viel~ leicht ist darin auch der Grund für die Bereitwilligkeit zu suchen, mit welcher Machthaber in ökonomisch-gesellschaftlichen übergangssituationen auf das Konzept der Sozialarbeit reagieren. Auf umschriebene Einzelfälle und schwer meßbare Effekte ausgerichtet, vermeidet es Sozialarbeit, generelle und in ihren Folgen nicht gut überschaubare Verpflichtungen der Machthaber zu schaffen. Der entscheidende Wendepunkt dürfte in der Alternative zu suchen sein, ob die Distanz zwischen Versprechen und Wirklichkeit durch Umverteilung des Nationaleinkommens überbrückt werden kann, oder ob ihre Wurzel eine allgemein ungenügende Produktivität ist. Im ersten Falle können Normversprechen zum Katalisator sozialer Umgestaltung werden, im zweiten sind die Folgen der durch enttäuschte Erwartung erzeugten Frustration weniger vorhersagbar.
v. Im internationalen Maßstabe ist die rechtliche Regelung gesellschaftlicher Fürsorge zugleich höchst wichtig und am wenigsten entwickelt. Sie ist höchst wichtig, da in jeder der drei grundlegenden Fürsorgekonzeptionen - Solidarität, Polarisierung, allgemeine Wohlfahrt beim heutigen Stand der Dinge die Grenzen der einzelnen Staaten zugleich auch die äußersten Grenzen jedes Fürsorgeanspruchs sind. Im Grunde leben wir ja fast alle, entwickelte sowie Entwicklungsländer, in Gesellschaftssystemen, in denen Macht - bereits oder noch immer für soziale Verhältnisse letzthin entscheidend ist. Nur durch ausdrückliche Rechtsvorschrift, letztendlich auf bestehende politische Machtzentren zurückführbar, können Solidaritätsansprüche sowie Wohlfahrtsversprechen effektiv werden. Um so mehr läßt sich nur durch ausdrückliche Rechtsvorschrift der Solidaritätskreis über Staatsgrenzen hinaus erweitern, lassen sich Machthaber auch gegenüber NichtUntertanen verpflichten, Ausländer in Wohlfahrtsleistungen einbeziehen.
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Dies ist zugleich auch der Grund, aus dem die rechtliche Regelung internationaler Fürsorge am wenigsten entwickelt ist. Der Staat, von dessen Machtmitteln diese Regelung heute abhängt, geht dauernde Bindungen über seine Grenzen hinweg nur ungern ein. Diese Unwilligkeit wird noch verstärkt durch Unterschiede in der erreichten Entwicklungsstufe, die sich im äußersten Fall in prinzipiell verschiedenen Systemen gesellschaftlicher Fürsorge ausdrücken. Ist dieser Unterschied groß genug, so werden Rechtsnormen, die einem System angepaßt sind, im anderen irrelevant, und Leistungen inkongruent. So ist z. B. Regelung von Vormundschaft und Adoption durch Rechtsnormen gegenstandslos in Gesellschaften mit starker Familiensolidarität und zwingender Haftung festgesetzter Familienmitglieder. Oder Ölscheichs, die samt Gefolge in den teuersten Londoner Hotels absteigen, sich aber dann im nationalen Gesundheitsdienst umsonst behandeln lassen, machen sich faktisch, wenn auch nicht rechtlich, des Mißbrauchs einer Sozialrechtsnorm schuldig. Bereits erwähnte ideologische Unterschiede in der Bewertung von Problemen und Leistungen der Fürsorge und Sozialarbeit sind ein weiteres Moment, das berücksichtigt werden muß, wenn man die Bereitschaft von Staaten, transnationale Regelung von Problemen gesellschaftlicher Fürsorge zu akzeptieren, realistisch abschätzen will. Einer marginalistischen Auffassung z. B. ist die Idee permanenter gesellschaftlicher Fürsorge für Einzelne, etwa für schwer Behinderte und Geschädigte, grundsätzlich fremd; das Problem löst sich in Fragen von Entschädigungsansprüchen auf. Ein etatistisches System hingegen muß unabhängige Rechtsansprüche von Einzelnen auf Fürsorgeleistungen, die in irgendeiner Weise der Staatsräson widersprechen, prinzipiell ablehnen. Zukünftige Entwicklungen auf diesem Gebiet werden zum großen Teil von der Entfaltung internationaler Institutionen, in erster Linie von Netzen unmittelbarer Leistungsträger, abhängen. Wir leben in einer Welt von großer Organisationsdichte, und dies ist ein Merkmal, das in Zukunft kaum abnehmen dürfte. Internationale Regelung von Fürsorge scheint mir von der Entwicklung internationaler Organisationen auf diesem Gebiet in zweifachem Sinn abzuhängen. Organisationsdichte jenseits einer bestimmten Schwelle bedingt die Tragfähigkeit internationaler Institutionen, sie bildet letztendlich die internationale Gemeinschaft, schafft die reale Grundlage ihrer Existenz. Internationale Regelung von Fürsorgeleistungen kommt beispielsweise der Wirklichkeit viel näher, wenn organisierte internationale Träger von solchen Leistungen existieren. Andererseits erzeugen Organisationen zähe und beständige, wenn auch nicht immer laute, Interessen, und ein wichtiges Interesse ist das Interesse an bindenden Regelungen, da diese 9 Sozialrechtsvergleich
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ein wichtiges Mittel darstellen, die Organisation zu stabilisieren und ihren Fortbestand zu sichern. Es handelt sich jedoch auch hier nicht um einseitige Einflußnahme, sondern um Interdependenz. Organisationen bewirken Normen, aber auch Rechtsvorschriften haben die Tendenz, sich in organisatorisch verankerten Institutionen niederzuschlagen. Auf diese Weise werden internationales Sozialrecht und internationale Sozialarbeit durch gegenseitige Einflußnahme allmählich erweitert und gefestigt. Damit jedoch aus dieser Tendenz nicht vorschnell auf die Entstehung eines Weltwohlfahrtssystems geschlossen wird, darf man nicht vergessen, daß wir bisher die schwierigsten Probleme einer solchen Entwicklung noch überhaupt nicht ins Auge fassen konnten. Diese Probleme sind sowohl mit einer Umverteilung im Weltrnaßstabe als auch mit den absoluten Grenzen unserer Ressourcen verbunden; also im Grunde mit der Frage von Gerechtigkeit, vielleicht in ihrer endgültigen Form, und mit der Frage von objektiver Wirklichkeit als letzter Bedingung unseres Wollens und Trachtens. Zusammenfassung Die Rechtsvergleichung im Sozialrecht hat zur Vorbedingung das systematische Erfassen von Verschiedenheiten in der Sozialstruktur und im herrschenden Fürsorgesystem in den verglichenen Ländern. Als erste Annäherung wird die Einteilung von Fürsorgesystemen - dem Komplexitätsgrad der Gesellschaft entsprechend - in Solidaritätssysteme, polarisierte Systeme und Systeme der allgemeinen Wohlfahrt vorgeschlagen. Die Rolle der Rechtsnorm im Fürsorgesystem kann sein: der Ausschluß von Unbefugten aus Solidaritätskreisen; die Begrenzung der Träger von Machtpositionen gegenüber den ihnen konkret untertanen Personen; die Formulierung von Normversprechen, Fürsorgeleistungen bereitzustellen und Fürsorgetätigkeiten zu organisieren. Internationale Zusammenarbeit in der Fürsorge und in der Sozialarbeit - als fachgeschulte Berufsarbeit verstanden - hat sich in der letzten Zeit schnell entwickelt als Folge des Aufkommens internationaler Sozialprobleme und der Verdichtung transnationaler Kontakte im allgemeinen. Die Schwierigkeiten, welche von dieser Zusammenarbeit überwunden werden müssen, entspringen dem Unterschied im Entwicklungsgrad der verschiedenen Fürsorgesysteme sowie der Gegenüberstellung von marginalistischen und etatistischen Anschauungen über Fürsorge und Sozialarbeit. In dieser Situation ist der Ausbau von internationalem Sozialrecht in Wechselwirkung mit dichteren Netzen internationaler Fürsorgeorganisationen der sicherste Weg zu einem tragfähigen internationalen Fürsorgesystem.
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Summary Aprerequisite for a comparison of welfare law is the systematic coverage of differences in social structures and welf are schemes of the countries compared. As a first step towards approximation it is proposed to classify welfare schemes, in accordance with the complexities of the society concerned, into solidarity schemes, polarized schemes, and general welfare schemes. Rules of law in a welfare scheme can help to exclude non-eligible persons from solidarity schemes, to restrict the influence of those in powerful positions on subordinates or to formulate standardized promises to provide for provident relief and organize welfare work. As a result of growing international social problems and a general intensification of international contacts international cooperation in welfare and social work, i. e. among specially trained professionals, has recently developed at a rapid pace. The difficulties to be overcome by this cooperation arise from differences of development of the various welfare schemes and from the confrontation of marginal ("marginalistisch") and state-controlled ("etatistisch") views on welfare and social work. In this situation the improvement of international welfare law in conjunction with an ever closer network of international welfare organizations is the safest way towards a solid international welf are system.
DISKUSSIONSBERICHT
Gleich zu Beginn der Diskussion wurde deutlich, daß die vom Referenten unterschiedenen drei Phasen der Entwicklung gesellschaftlicher Fürsorge, nämlich Solidarität, Polarisierung und allgemeine Wohlfahrt als wichtiger Beitrag zu einer Art "Groblandschaft" für den Sozialrechtsvergleich angesehen wurden. Denn als eine der zahlreichen Schwierigkeiten, vor denen die Projektgruppe steht, betrachtete man die Strukturierung der Problematik und die Bildung brauchbarer Vergleichskategorien. Uneingeschränkte Zustimmung fand denn auch die These, daß eine wichtige Aufgabe des Sozialrechtsvergleichs die Diagnose von Vergleichbarkeiten und Unvergleichbarkeiten sei: Auch wenn man hierbei auf eine Schwelle stoße, jenseits derer ein unmittelbarer Vergleich nicht durchgeführt werden könne, so sei jedenfalls das Finden dieser Schwelle ein wichtiger Ertrag der Vergleichsarbeit. Der Versuch, vergleichbare Phänomene gegenüberzustellen, könne zu einer gewissen Katalogisierung und darüber hinaus zu einem Erkennen und Verstehen wichtiger Unterschiede führen, damit aber auch zu besserem Verständnis und Zusammenleben zwischen Ordnungen verschiedener Struktur beitragen. Wer aber die Trennung von Vergleichbarem und Unvergleichbarem vernachlässige, Unvergleichbarkeit also gewissermaßen "überspringe", der müsse zwangsläufig zu schiefen Ergebnissen kommen. Dies gelte auch und gerade für die internationalen Organisationen, z. B. ILO und leWS. Betont wurde ferner, daß man nicht über große strukturelle Unterschiede "hinwegkleistern" dürfe, sondern auf die Probleme der einzelnen Länder im Rahmen der gegebenen Sozialstrukturen zurückgehen müsse. Auf jeden Fall sei auch zu vermeiden, rechtliche Strukturen hochentwickelter Länder über supranationale Instrumente anderen Ländern mit anderen Sozialstrukturen aufzupfropfen, ohne die Eigenheiten dieser Länder zu berücksichtigen. An diesem Punkt wurden allerdings Zweifel geäußert, ob und inwieweit man überhaupt zu wirksamen internationalen Instrumenten gelangen könne, ohne die sehr unterschiedlichen rechtlichen, sozialen und kulturellen Faktoren der einzelnen Länder allzusehr einzuebnen und zu übergehen. Im weiteren Verlauf der Diskussion stand die Frage im Vordergrund, in welchem Umfang Erforschung und Vergleich der sozialen Wirklichkeit als Vorstufe und Korrelat des Rechtsvergleichs zu betreiben sei. Man gab zu bedenken, daß ein wirkliches Erfassen der sozialen Wirk-
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lichkeit schon aus Zeitgründen sehr problematisch sei: Was immer man auch nach gründlicher Forschung über die sozialen Realitäten aussage, sei oft schon nicht mehr wahr. Das entscheidende Problem sei also, wie man eine Entwicklung in den Griff bekommen könnte. Bewußt überspitzt wurde formuliert: Die Erforschung der sozialen Wirklichkeit dürfe nicht soweit gehen, daß erst die nächste Generation von Rechtsvergleichern den eigentlichen Rechtsvergleich beginnen könne. Als problematisch wurde auch die Bildung fest umrissener Kategorien einschlägiger sozialer Situationen angesehen, weil solchen Kategorien die Tendenz innewohne, statisch zu werden und deshalb nur in eingeschränktem Umfang für den Rechtsvergleich brauchbar zu sein. Als Ausweg aus der Unsicherheit über Art und Umfang des Auslotens sozialer Gegebenheiten wurde vorgeschlagen, beim Sozialrechtsvergleich allein von der Norm auszugehen und die soziale Wirklichkeit nur insoweit heranzuziehen, als dies zum Verständnis der einzelnen Norm erforderlich sei. Nur so könne die rechtsvergleichende Arbeit sinnvoll begrenzt werden. Diesem Vorschlag wurde nur bedingt zugestimmt: Ein solches methodisches Vorgehen könne in bestimmten Situationen, insbesondere bei "praktischem" Sozialrechtsvergleich, vom Prinzip der Denkökonomie geradezu geboten sein. Wie tief man in die soziale Wirklichkeit eindringe und wie man ihre Komplexität reduziere, hänge stets von der Zielsetzung des Rechtsvergleichs ab. Sei das Ziel nicht eine eng begrenzte Fallstudie, d. h. ein kleiner Ausschnitt aus einem Rechtssystem, sondern ein wissenschaftlicher Vergleich verschiedener Sozial rechts systeme, so müsse man wesentlich tiefer in die soziale Wirklichkeit eindringen. Denn wer Rechtssysteme vergleichen wolle, könne nicht ohne das Verstehen sozialer, ökonomischer, psychologischer usw. Systeme auskommen, in denen diese Rechtssysteme lebten und angewendet würden. In diesem Zusammenhang wurde darauf hingewiesen, daß es für den Rechtsvergleicher zwar sinnvoll und wichtig sei, über Sozial- und Gesellschaftsstrukturen Bescheid zu wissen, daß aber für ihn noch wichtiger Erkenntnisse darüber seien, wie jene Sozial- und Gesellschaftsstrukturen in Rechtsstrukturen umgesetzt würden. Gerade im Erkennen dieser Umsetzung liege ein weiteres originäres Feld der Sozialrechtsvergleichung. Ein weiterer Teil der Diskussion betraf die Frage, in welchem internationalen Bezugsrahmen der Vergleich von Sozialrecht vorkomme. Genannt wurden - freilich nicht im Sinn einer erschöpfenden Aufzählung - folgende Bereiche: Das Individuum interessiere beim Wechsel von einem Staat in den anderen auch, wie das Sozialrechtssystem der neuen Heimat aussehe. Dies sei der einfachste Bezugsrahmen für den Sozialrechtsvergleich. Auf der nächsten Stufe stehe der Vergleich, der auf den "Import" ausländischer Muster ziele. Solche "Einfuhr" wirklicher oder
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vermeintlicher Vorbilder befriedige nicht nur ein individuelles Gerechtigkeitsverlangen, sondern spiele auch eine zentrale innenpolitische Rolle. Typisches Beispiel sei der stets wiederkehrende Hinweis auf das vorgeblich nachahmenswerte schwedische Muster. Auf einer anderen Stufe stehe der Sozialrechtsvergleich als Instrument zur Standardisierung des Rechts, wie sie etwa im Rahmen der ILO oder des Europarats angestrebt und teilweise auch verwirklicht werde. Andererseits dürfe nicht übersehen werden, daß Sozialrechtsvergleichung - wieder auf einer anderen Stufe - im Dienste des wiederauflebenden Nationalismus stehen könne. Mit dem Rückzug des Internationalismus werde nämlich der Rechtsvergleich für den einzelnen Staat interessant, der sich gegen andere Länder abschirmen wolle. Dies sei dort der Fall, wo die heimischen Institutionen wegen ihrer unterschiedlichen Strukturen gegenüber ausländischen Institutionen auf fremde Staatsbürger eine solche Anziehungskraft ausübten, daß sich der inländische Staat gegen diesen Zuzug Fremder durch Errichten von Barrieren zur Wehr setzen wolle. Schließlich könnten mit Hilfe der Rechtsvergleichung auf einer weiteren Stufe die verschiedenen Grade an Homogenität bzw. Heterogenität zwischen den einzelnen Rechtsordnungen festgestellt und damit der Bereich abgesteckt werden, in dem ein sozialpolitischer Ausgleich zwischen Staaten über internationale rechtliche Instrumente überhaupt möglich sei. In eingehender Weise wurden die vom Referenten unterschiedenen drei Entwicklungsstufen Solidaritätsgesellschaft, (Polarisierungs-) Leistungsgesellschaft und allgemeine Wohlstandsgesellschaft diskutiert. Im Vordergrund stand zunächst die Frage nach dem Verhältnis der drei Stufen zueinander, sowie nach ihrem Vorkommen in Geschichte und Gegenwart. Dabei wurde vom Referenten klargestellt, die Tryptik der Entwicklungsstufen solle lediglich vor Augen führen, daß Gesetzlichkeiten der sozialen Entwicklung durch Differenzierung und zeitliche Änderung des Interpretationsrahmens vor sich gehen. Was das Verhältnis der einzelnen Stufen zueinander und ihr Vorkommen betreffe, so seien heute die erste und zweite Stufe (Solidaritäts- und Leistungsgesellschaft) fast überall miteinander verbunden. Die reine Solidaritätsgesellschaft bestehe in den meisten Agrargesellschaften dieser Erde; sie sei dadurch gekennzeichnet, daß der einzelne unmittelbar in der sozialen Wirklichkeit seiner engeren Familie, seiner Großfamilie und seines Dorfes lebe. Die Stufe der Polarisierung erläuterte der Referent in größerem Zusammenhang der im Widerstreit stehenden Tendenz zur Polarisierung einerseits und der Tendenz zur Integration andererseits: Die Polarisierung nehme um so weniger zu, je mehr sie sich den Grenzen nähere, die von den herrschenden Integrationsgrundsätzen gezogen würden. Das Ergebnis des stetigen Drucks zur Polari-
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sierung und des der Polarisierung entgegenwirkenden, sich dem Gegendruck ändernden Integrationsrahmens stellte der Referent graphisch als Abfolge von "S"-Kurven dar:
Integrationsrahmen
Grad der Polarisierung -
- -
Integrationsrahmen
Zeit
Die drei Stufen Solidarität, Polarisierung und allgemeine Wohlfahrt wollte der Referent - auf eine entsprechende Frage hin - nicht mit den Entwicklungsphasen gleichsetzen, die nach der Lehre des historischen Materialismus aufeinander folgen. Die drei Stufen seien lediglich als eine grobe Gliederung für den Rechtsvergleich auf dem Gebiet des Sozial rechts gedacht. Im 19. Jahrhundert habe man freilich den systemlogischen Aufbau mit der empirischen Realität verwechselt. Die Marx'sche Analyse sei eine typische Systemanalyse, die gewisse Axiome voraussetze und davon ausgehe, daß sich ein bestimmtes System bei Zugrundelegen dieser Axiome auf eine ganz bestimmte Weise entwikkeIn müsse. Diese Systemanalyse sei aber zu Unrecht als empirische Prognose verstanden worden, weil in Wirklichkeit die Dinge wesentlich komplizierter lägen. In der Realität gehe es um Interaktion und innere Verbundenheit sehr vieler einzelner Systeme. Nach der Systemlogik könne es z. B. in einem staatlichen Distributionssystem keine Sozialprobleme geben, weil - immer der Systemlogik nach - jeder bekommt, was er braucht. Die Wirklichkeit sähe natürlich auch in einem System staatlicher Distribution ganz anders aus. Dies führe dazu, daß Positionen, die aus der Systemlogik deduziert würden, in Konfrontation mit der wirklichen Problem situation aufgegeben werden müßten. Diskutiert wurde schließlich die spezielle Rolle des Sozialarbeiters. Es wurde vor allem darauf aufmerksam gemacht, daß es eine gewisse Form der Sozialarbeit eigentlich schon immer gegeben habe, nämlich stets dann, wenn die Familie nicht mehr ganz sich selber überlassen gewesen sei, z. B. die Pflege von Kranken und die Betreuung von Waisen nicht bei der Familie, sondern in den Händen Außenstehender gelegen habe. Hingegen gebe es in komplizierten sozialpolitischen Systemen eine Erscheinungsform der Sozialarbeit, von der man sagen könne,
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daß sie früher nicht bekannt gewesen sei. Diese moderne Sozialarbeit könne auf zwei gemeinsame Nenner gebracht werden: Einmal sei es Aufgabe heutiger Sozialarbeit, das komplizierte Sozialsystem auf den einzelnen Fall hin zu integrieren, also etwas zu leisten, wozu der Bedürftige selbst nicht in der Lage sei. In diesem Sinne könne man den Sozialarbeiter als den "Vormund" des modernen Sozialstaats bezeichnen. Zum anderen sei typisch für die moderne Sozialarbeit das "Wandern" zu immer neuen Bedürfnissen: Wenn nämlich eine Not erkannt sei und wenn sich die Sozialarbeit einige Zeit lang mit dieser Not befaßt habe, dann werde diese Not institutionalisiert, werde sie typisch. Weitere Folge sei, daß sich die Gesellschaft gegen diese Not gleichsam immunisiere. Sei dieser Zustand erreicht, so wandere die Sozialarbeit zu neuen - atypischen - Notfällen und erschließe so neue Aufgabenbereiche, die dann nach gewisser Zeit wieder typisch würden. In dieser Wanderbewegung sei der Sozialarbeiter eine Art "Verfügungstruppe des modernen Sozialstaats" . Diskutiert wurde auch die Rolle des Sozialarbeiters in Ländern mit marginalistischer und etatistischer Auffassung der Sozialarbeit. So wurde die Frage aufgeworfen, ob sich nach etatistischer Auffassung nicht Sozialarbeit im Grunde genommen erübrige, weil - systemlogisch betrachtet - die allgemeinen sozialpolitischen Maßnahmen des Staates genügten, um soziale Mißstände zu beseitigen. Der Referent gab hier zu bedenken, daß heute beide Auffassungen - sowohl die marginalistische als auch die etatistische - in gewissem Umfang von ihrer anfänglichen ideologischen Stärke und Starrheit verloren hätten. Zwar seien von den ideologischen Strömungen des 20. Jahrhunderts auf dem Gebiet der Fürsorge prinzipielle Positionen errichtet worden, die nicht nur verschieden, sondern antagonistisch gewesen seien. Dieser Unterschied in den grundlegenden ideologischen Positionen sei auch heute noch in der internationalen Zusammenarbeit von Bedeutung und für den Rechtsvergleich daher besonders wichtig. Auf der anderen Seite sei aber zu beobachten, daß die beiden gegensätzlichen Auffassungen sich nicht vollkommen voneinander abkapselten, sondern im Gegenteil einzelne Denkmodelle voneinander übernähmen. So gebe es z. B. in der Sowjetunion Tendenzen, die Sozialarbeit als spezielle Profession auszubauen, und zwar mit eigener Ausbildung und mit Tätigkeitsbereichen, die der alten klassischen - marginalistischen - Fürsorgetheorie entstammten. Die Wirklichkeit mildere also auch hier die ideologischen Positionen. Bearbeiter: Faude / Trenk-Hinterberger
Was ergeben die Erfahrungen bei der internationalen Zusammenarbeit der Sozialversicherungen für die Frage der Vergleichbarkeit der nationalen Sozialrechtsordnungen ? Von Wilhelm Wanders 1. Sozialversicherungsabkommen Sozialversicherungsabkommen und die EWG-Verordnungen über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer verpflichten die Träger der deutschen Sozialversicherung in vielfältiger Form zur Zusammenarbeit mit ausländischen Systemen der sozialen Sicherheit. Seitdem Deutschland den Abschluß eines Sozialversicherungsabkommens nicht mehr davon abhängig macht, daß das Sozialversicherungssystem des anderen Staates dem deutschen gleichwertig ist, dem erfaßten Personenkreis also den gleichen sozialen Schutz gewährleistet!, dienen die internationalen Regelungen in erster Linie dem Vorteil der ausländischen Wanderarbeitnehmer; ihnen werden durchweg die gleichen Rechte eingeräumt, die die deutsche Gesetzgebung sonst nur den Deutschen zugesteht, auch wenn der deutsche Wanderarbeitnehmer im Ausland keinen gleichwertigen sozialen Schutz erwarten kann2 • Während Deutschland vor dem Zweiten Weltkrieg nur mit einigen Nachbarstaaten3 sozialversicherungsrechtliche Vereinbarungen getroffen hatte, bestehen heute völkerrechtliche oder supranationale Bindungen alleine zu 23 europäischen Staaten4, darunter drei Staaten des Ostblocks: Jugosla1 So aber noch Anfang der sechziger Jahre. Siehe Jantz, Die Hauptgrundsätze der zwischenstaatlichen Sozialversicherung, in: Die Sozialversicherung der Gegenwart - Jahrbuch für die gesamte Sozialversicherung und Sozialgerichtsbarkeit - Dokumentation für das Jahr 1963, Band 3, Jahrgang 1964, S.24. 2 Wanders, Internationale soziale Sicherheit, in: Deutsche Rentenversicherung, 1969, S. 409. - Terbach, Ergebnisse der internationalen Zusammenarbeit in der sozialen Sicherung, in: Bundesarbeitsblatt 1971, S. 234; er sieht den Zweck der zweiseitigen Abkommen darin, Nachteile zu mildern oder zu beseitigen, die den Bürgern aus der Auslandsberührung erwachsen. Diese Betrachtungsweise ist jedoch im Verhältnis zu den Staaten zu eng, die für ihre Bürger keine der deutschen Sozialversicherung gleichwertige soziale Sicherheit geschaffen haben. 3 Siehe hierzu Wagemann, Die deutsche Rentenversicherung im Rahmen völkerrechtlicher Verträge, in: Amtliche Mitteilungen der LVA Rheinpro'ri~l~&~ft .
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wien, Polen, Rumänien. Außerhalb Europas ist Deutschland mit den Vereinigten Staaten und Kanada, demnächst5 auch mit Algerien, Marokko und Tunesien, verbunden. Diese zahlreichen rechtlichen Berührungen mit anderen Staaten könnten zu der Vermutung führen, die Sozialversicherungen verfügten über einen dementsprechend reichen Erfahrungsschatz und einen daraus resultierenden hervorragenden Überblick über die ausländischen Sozialrechtsordnungen. Aber abgesehen davon, daß die Bestimmungen und die Bedeutung eines ausländischen Sozialversicherungssystems vor Abschluß eines Sozialversicherungsabkommens nicht mehr geprüft werden müssen, sind es vornehmlich zwei Gründe, die diesen Überblick auch in der Praxis der Versicherungsträger nicht haben entstehen lassen. Schon die mit den Abkommen verfolgten unterschiedlichen Zwecke haben diesen Überblick ausgeschlossen. Vier verschiedene Abkommensgrundsätze lassen sich unterscheiden: 1. Der Grundsatz der Ausgliederung 6 wurde in dem deutsch-polnischen Abkommen vom 25.4.1973 und dem deutsch-rumänischen Sozialversicherungsabkommen vom 29. 6. 1973 verwirklicht. Danach bleiben die polnischen und rumänischen Versicherten trotz einer Beschäftigung in Deutschland mindestens 2 Jahre lang von der deutschen Sozialversicherung ausgeschlossen. Nach dem deutsch-rumänischen Abkommen werden früher entrichtete Beiträge erstattet, so daß Ansprüche gegen die deutsche Sozialversicherung nicht mehr entstehen können. Die gleiche Wirkung hat nach dem deutsch-polnischen Abkommen vom 9. Oktober 1975 die dort vereinbarte Zahlung einer Rentenpauschale.
2. Mit der Gleichstellung der Staatsangehörigen begnügte sich der deutsch-amerikanische Freundschafts-, Handels- und Schiffahrtsvertrag vom 29. Oktober 1954, der für den Bereich der Rentenversicherung bald durch das Sozialversicherungsabkommen vom 7. Januar 1976 ab4 1. Belgien, 2. Dänemark, 3. Finnland (nur Unfallversicherung), 4. Frankreich, 5. Griechenland, 6. Großbritannien - Nordirland, 7. Irland (vorl. Europ. Abk.), 9. Israel, 10. Italien, 11. Jugoslawien, 12. Luxemburg, 13. Niederlande, 14. Norwegen (vorl. Europ. Abk.), 15. Österreich, 16. Polen, 17. Portugal, 18. Rumänien, 19. Schweden (vorl. Europ. Abk.), 20. Schweiz, 21. Spanien, 22. Türkei, 23. Zypern (vorl. Europ. Abk.). Siehe auch Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Übersicht über die Soziale Sicherung, Bonn 1975, S. 320 ff. SAufgrund der am 25., 26. und 27. April 1976 unterzeichneten Kooperationsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und diesen Staaten. 6 Ausgliederungs- und Eingliederungsprinzip müssen sich nicht in jedem Fall ergänzen. Jedenfalls wird die Ausgliederung aus der deutschen Sozialversicherung nicht davon abhängig gemacht, daß der Vertragsstaat an Stelle Deutschlands den sozialen Schutz übernimmt.
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gelöst werden solF. Er enthält neben den handelsrechtlichen Vereinbarungen als sozialrechtliche Bestimmung nur einen einzigen Artikel sozialrechtlichen Inhalts (Artikel IV). Danach stehen den amerikanischen Staatsangehörigen für die Gewährung der Leistungen aus der deutschen Sozialversicherung die gleichen Rechte zu wie den deutschen Staatsangehörigen. Auf den Gleichheitsgrundsatz beschränken sich auch die vorläufigen europäischen Abkommen vom 11. Dezember 1953, die inzwischen jedoch überwiegend durch zweiseitige Sozialversicherungsabkommen und die EWG-Bestimmungen ersetzt wurden. 3. Das Eingliederungsprinzip führt zur Berücksichtigung ausländischer Zeiten in der deutschen Sozialversicherung. Ähnlich wie bei dem für Flüchtlinge geltenden Fremdrentengesetz sind nach dem deutschpolnischen Abkommen über Renten- und Unfallversicherung vom 9. Oktober 1975 ausländische Zeiten den deutschen Zeiten bei der Anspruchsbegründung und Leistungsberechnung gleichgestellt. Nach dem deutsch-polnischen Abkommen sind die Leistungen nur von dem Versicherungsträger des Staates zu zahlen, in dessen Gebiet der Berechtigte wohnt, und zwar nach Maßgabe der dort geltenden Vorschriften. Dabei sind die im Gebiet des anderen Staates zurückgelegten Versicherungszeiten entsprechend den anzuwendenden Rechtsvorschriften so zu berücksichtigen, als ob sie im eigenen Staatsgebiet zurückgelegt worden wären (Artikel 4 Absatz 1 und 2 des Abkommens). Zuordnung und Bewertung der polnischen Versicherungszeiten bestimmt sich somit in Deutschland ausschließlich nach deutschem Recht (RVO, FRG). 4. Eine Koordination der Sozialversicherungssysteme sehen die EWG-Bestimmungen und die mit den übrigen Staaten abgeschlossenen Sozialversicherungsabkommen vor. Danach sind z. B. für den Erwerb des Leistungsanspruchs die in diesen Staaten zurückgelegten Versicherungs- und gleichgestellten Zeiten zusammenzurechnen, wobei die Leistungen - meist nach dem pro-rata-Verhältnis der Zeiten - von jedem Staat getrennt erbracht werden. In Sonderbestimmungen ist stets auch die Verpflichtung der Staaten zur Gewährung der Familienleistungen geregelt. Die Bestimmungen der beiden erstgenannten Abkommens-Typen schließen einen Einblick in die Sozialrechtsordnungen der Vertragsstaaten grundsätzlich aus. Sie betreffen nur die deutsche Sozialversiche-:, rung. Dagegen verpflichten die letztgenannten Typen regelmäßig die Versicherungsträger beider Staaten zur Zusammenarbeit. Allerdings erlaubt das Eingliederungsprinzip nur in beschränktem Umfang einen 7 Siehe BT-Drucksache 7/5359 vom 10. Juni 1976. Für die Krankenversicherung und Unfallversicherung sowie für die Leistungen bei Arbeitslosigkeit gilt weiterhin der Freundschaftsvertrag.
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Einblick in die Sozialrechtsordnung des anderen Staates. Das gesamte Leistungsrecht bleibt von der Zusammenarbeit ausgeklammert. So werden die deutschen Versicherungsträger nach dem deutsch-polnischen Abkommen vom 9. Oktober 1975 lediglich zur Anrechnung der polnischen Zeiten verpflichtet, wobei sich der Charakter der polnischen Zeiten für den deutschen Versicherungsträger nicht nach polnischem Recht, sondern nur nach den deutschen Rechtsvorschriften bestimmt; der deutsche Träger hat also nach deutschem Recht zu beurteilen, ob die polnische Zeit wie eine deutsche Beitragszeit, Beschäftigungszeit, Ersatzzeit oder Ausfallzeit anzurechnen ist. Immerhin werden gewisse Unterschiede der Versicherungssysteme dabei offenbar werden, so daß es zu späterer Zeit möglich sein wird, aufgrund der Erfahrungen der Versicherungsträger auch die polnische Sozialversicherung in eine vergleichende Betrachtung einzubeziehen.
2. Koordinierung der Sozialversicherungssysteme Die Koordination der Sozialversicherungssysteme führt zu einer stärkeren Beachtung der Sozialrechtsordnungen anderer Staaten. Seit vielen Jahren sind die deutschen Versicherungsträger zu einer umfassenden Zusammenarbeit insbesondere auf dem Gebiet des Leistungsrechts mit den Mitgliedstaaten der EWG und den übrigen Abkommensstaaten verpflichtet. Hat ein Versicherter als Wanderarbeitnehmer außer der deutschen Sozialversicherung auch dem System eines anderen Staates angehört, führt nahezu jeder Leistungsfall entweder schon bei der Leistungsfeststellung, spätestens aber bei der Verrechnung der gewährten Leistungen zu einem gemeinsamen Handeln der beteiligten Versicherungsträger. Sind die Anspruchsvoraussetzungen nicht schon nach innerstaatlichem Recht erfüllt, so müssen die beteiligten Versicherungsträger z. B. nach der EWG-Verordnung 1408171 bei Leistungen wegen Krankheit und Mutterschaft (Artikel 18), wegen Invalidität (Artikel 38), Alter, Tod (Artikel 45) und Arbeitslosigkeit (Artikel 67) sowie bei der Gewährung von Sterbegeld (Artikel 64), Familienleistungen und -beihilfen für Arbeitnehmer und Arbeitslose (Artikel 72) auch die Zeiten des anderen Mitgliedstaates berücksichtigen. Sachleistungen bei Krankheit, Mutterschaft, bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheit, sowie unter gewissen Voraussetzungen auch Leistungen bei Arbeitslosigkeit werden vom Wohnsitzstaat gewährt; der an sich zuständige Versicherungsträger des anderen Staates muß diesem jedoch die entstandenen Aufwendungen erstatten (Artikel 36, 63, 70 Verordnung 1408/71). Ähnliche Regelungen enthalten die übrigen Sozialversicherungsabkommen. Darüber hinaus sind die Versicherungsträger der EWG-Mit-
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gliedstaaten nach einem Beschluß der EWG-Verwaltungskommission verpflichtet, zur Beschleunigung der Leistungsfestsetzung bereits den Beginn der versicherungspflichtigen Beschäftigung eines Wanderarbeitnehmers dem Versicherungsträger des Staates zu melden, dessen Staatsangehörigkeit der Wanderarbeitnehmer besitzt. Schließlich müssen sie sich auch bei der verwaltungsmäßigen und ärztlichen Kontrolle der Rentenempfänger gegenseitig unterrichten (Artikel 57 ff. EWGVerordnung 574/73). Doch trotz dieser vielfältigen Zusammenarbeit, die nahezu alle denkbaren Vorkommnisse im Leben eines Versicherten erfaßt, bleiben den Versicherungsträgern die außerhalb der Sozialversicherung bestehenden Sozialrechtsordnungen anderer Staaten überwiegend verschlossen. Zwar darf nicht übersehen werden, daß sich die Zusammenarbeit der deutschen Sozialversicherung mit den Sozialversicherungssystemen anderer Staaten stets schon aus sachlichen Gründen über den engen Rahmen der nach deutschem Verständnis klassischen Sozialversicherung hinaus zu erstrecken pflegt. Ebenso wie in Deutschland hat sich auch im Ausland der Kreis der geschützten Personen sowie der Fächer der Leistungen erheblich ausgeweitet. So mag hier die eine oder andere Personengruppe auf eine private Vorsorge angewiesen, mag dort eine Leistung unbekannt sein; ist die gleiche Personengruppe oder Leistung aber wenigstens in einem der beteiligten Staaten in ein Sozialversicherungssystem eingebettet, so umfaßt der Vergleich der Sozialversicherungssysteme insoweit auch die abweichenden Sozialrechtsordnungen der beteiligten Staaten. Tatsächlich ist der Begriff der Sozialversicherung viel zu eng geworden. An die Stelle einer Risikoversicherung sind in allen Staaten längst Systeme einer umfassenderen sozialen Sicherheit getreten, die außer den Elementen der Versicherung Elemente der Versorgung und Fürsorge einschließen. Dennoch ist der Einblick, den die Versicherungsträger in das Versicherungssystem des anderen Staates gewinnen, im Regelfall grob oder oberflächlich. Der fast deckungsgleiche Inhalt der Sozialversicherungsabkommen aller Staaten zeigt zur Genüge, daß die Unterschiedlichkeit der Systeme auch bei der Abfassung der Vertragstexte geradezu unwichtig geworden ist. Die funktionale Gleichstellung der Zeiten des anderen Staates macht die Feststellung entbehrlich, ob der Versicherte unter den gleichen Voraussetzungen auch in Deutschland versichert gewesen wäre. Der deutsche Versicherungsträger hat daher die vom ausländischen Versicherungsträger gemeldete Zeit - solange der Versicherte nicht widerspricht oder die Anrechnung zusätzlicher ausländischer Zeiten verlangt8 - so zu berücksichtigen, als ob es sich um Zeiten 8 Siehe hierzu außer den unter Ziffer 3 folgenden Ausführungen über· die versicherten Personen auch das BSG-Urteil vom 26.11.1975 - 5 RKn 11/72
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handelte, die nach deutschen Vorschriften zurückgelegt worden wären (u. a. Artikel 45 EWG-Verordnung 1408/71). Dabei braucht er nicht einmal zu unterscheiden, ob es sich bei den vom anderen Staat gemeldeten Zeiten um Versicherungs- oder Wohnzeiten handelt. Muß er umgekehrt die deutsche Versicherungszeit dem anderen Staat melden, weil der ausländische Versicherungsträger diese Zeiten zur Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen nach seinem Recht benötigt, so erfährt er zwar, daß der Versicherte z. B. eine Leistung wegen Invalidität, Alter oder Tod beantragt hat, die unterschiedlichen Leistungsvoraussetzungen oder Abweichungen in der Leistungsberechnung bleiben ihm jedoch unbekannt. Diese durchweg nur oberflächliche Berührung mit dem Sozialversicherungsrecht der anderen Staaten ist vom Gesetzgeber beabsichtigt. Die Regeln zur Koordinierung verschiedener Sozialversicherungssysteme sollen möglichst im Verhältnis zu allen Staaten anwendbar sein und die Kenntnis des abweichenden Sozialversicherungsrechts praktisch entbehrlich machen, ja sie dienen gerade dem Zweck, die einmal erkannten Unterschiede durch die Fiktion der Gleichheit negieren zu können. Je vollkommener die Koordinierung gelungen ist, desto weniger wird die Unterschiedlichkeit der Systeme bei der Zusammenarbeit der Versicherungsträger in Erscheinung treten. Einen genaueren Einblick in die Eigenheiten des anderen Sozialversicherungssystems gewinnt der Versicherungsträger in der Praxis dennoch dort, wo es absichtlich oder ungewollt oder nach der Ansicht des beteiligten Versicherungsträgers an der Koordinierung fehlt, wo es also in seiner Hand gelegen ist, trotz der offen zu Tage getretenen Unterschiede einen Weg zur Zusammenarbeit zu finden oder die Zusammenarbeit in diesem Bereich zu unterlassen. Erst durch die unvermeidlichen Koordinationslücken werden die speziellen Unterschiede des anderen Sozialversicherungssystems sichtbar. Dadurch bedingt verfügen die Verbindungsstellen der Versicherungsträger über die einzigen praktischen Erfahrungen, die für einen Vergleich unterschiedlicher Sozialrechtsordnungen genutzt werden können. Die für den Einzelfall wesentlichen Unterschiede des sozialversicherungsrechtlichen Schutzes können ohnehin erst in der Praxis in Erscheinung treten, da die Koordinationsregelungen der Sozialversicherungsabkommen und EWG-Verordnungen nur die generellen, nahezu in allen Staaten gleichermaßen bestehenden Unterschiede betreffen. Immer wieder tauchen in der Praxis Fragen auf, die die Unterschiede der Sozialversicherungssysteme offenlegen und trotz ihrer allgemeinen über die Anrechnung von Zeiten der algerischen Knappschaftsversicherung, deren Anrechnung durch den deutschen Versicherungsträger vom französischen abgelehnt worden war.
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Bedeutung vorher nicht erkannt werden konnten. Es verwundert daher nicht, daß die beteiligten Regierungen in der Regel erst durch die Versicherungsträger veranlaßt werden, die getroffenen sozialrechtlichen Vereinbarungen zu verbessern oder weiter zu entwickeln. Das beweist jedoch auch, wie leicht ein bloß oberflächlicher Vergleich der formulierten Rechtsordnung zu Fehlschlüssen verleiten kann. Allerdings sind die Versicherungsträger bei der Durchführung der Sozialversicherungsabkommen oder EWG-Verordnungen innerhalb ihres Zuständigkeitsbereiches in der Regel nur zu einem horizontalen Rechtsvergleich verpflichtet. Nur in Ausnahmefällen gehört es auch zu ihren Aufgaben, die Übereinstimmung der nationalen Normen mit internationalen Verpflichtungen zu prüfen9• Dagegen sind sie von einem Vergleich der Rechtsentwicklung gänzlich entbunden, obgleich die jahrelange Zusammenarbeit der Versicherungsträger und die Fortgeltung alten Rechts für frühere Versicherungsfälle dazu zwingen, die in den jeweiligen Zeiten geltenden unterschiedlichen Rechtsordnungen zu beachten.
3. Versicherte Personen Im Vertrag zur Gründung der EWG haben sich die Mitgliedstaaten der EWG verpflichtet, die Hindernisse für den freien Personen- und Dienstleistungsverkehr zu beseitigen (Artikel 3). Als ein solches Hindernis wurde auch der Verlust der Anwartschaften und Rechte auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit angesehen, der z. B. nach deutschem Recht mit dem Verlassen des Hoheitsgebietes verbunden ist. Daher hat Artikel 51 EWG-Vertrag den Rat verpflichtet und bevollmächtigt, die "für die Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer notwendigen Maßnahmen" zu beschließen. In Ausführungen dieser Vertragsverpflichtungen hatte der Ministerrat schon 1958 die Verordnung Nr. 3 und 4 über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer erlassen, die folgerichtig nur "auf Wanderarbeitnehmer und ihnen Gleichgestellte" sowie deren Hinterbliebene Anwendung finden sollten (Artikel 4 Verordnung Nr. 3). Schon bald führte der unbestimmte Rechtsbegriff der "Gleichgestellten" zu Auslegungsschwierigkeiten. Unter Berufung auf den Vertragswortlaut des Artikels 51 wollte man unter den Gleichgestellten nur Personen verstehen, die wegen ihrer Tätigkeit oder Abhängigkeit wie Arbeitnehmer anzusehen seien. 9 Siehe hierzu den Vorlagebeschluß des BSG vom 29. 6. 1976 5 RKn 35/75: Durch ihn wird der EuGH um die Entscheidung der Frage gebeten, ob der Gleichbehandlungsgrundsatz des Artikel 3 EWG-Verordnung 1408/71 dazu verpflichtet, entgegen dem Wortlaut des § 108 c RKG die Kannleistung bei gewöhnlichem Auslandsaufenthalt auch für die Staatsangehörigen der übrigen EWG-Mitgliedstaaten zu gewähren.
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Während von den bilateralen Sozialversicherungsabkommen üblicherweise alle Staatsangehörigen erfaßt werden, die bestimmten Sozialversicherungssystemen angehören, schienen innerhalb der EWG die nicht zu den Arbeitnehmern gehörenden Versicherten zunächst benachteiligt zu sein lO • Die Auseinandersetzung um den Begriff der Gleichgestellten zwang dazu, sich mit der unterschiedlichen Struktur des versicherten Personenkreises in den Mitgliedstaaten der EWG zu befassen. Der italienische Rentenversicherungsträger vertrat zunächst scheinbar zu Recht den Standpunkt, die Versicherungszeiten eines Handwerkers seien als Versicherungszeiten eines Selbständigen nicht von der Verordnung über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer erfaßt. Erfolgreich klagte jedoch ein italienischer Handwerker (De Cicco) auf Anrechnung dieser Zeiten. Sein deutscher Rentenanspruch war wegen Nichterfüllung der Wartezeiten abgelehnt worden. Die deutschen Versicherungszeiten hatten zur Erfüllung der Wartezeiten all eine nicht ausgereicht. Obwohl der italienische Versicherungsträger nach nationalem Recht die italienischen Handwerksbeiträge zur Erfüllung der italienischen Anspruchsvoraussetzungen anrechnete, lehnte er deren Berücksichtigung durch den deutschen Versicherungsträger ab. In dem anschließenden Rechtsstreit hatte der Europäische Gerichtshof daher zu prüfen, ob die selbständigen Handwerker nach italienischem Sozialversicherungsrecht den Arbeitnehmern gleichgestellt waren. In seinem Urteil erinnerte der EuGH daran, daß von der EWG-Verordnung Nr. 3 "nicht nur die Arbeitnehmer im engen Sinn, sondern auch alle ihnen Gleichgestellten erfaßt" seien. Grundsätzlich stellte er deshalb - in übereinstimmung mit der üblichen Abgrenzung in bilateralen Sozialversicherungsabkommen - fest, daß eine Gleichstellung stets dann vorliege, "wenn nach dem Recht eines Mitgliedstaates die Vorschrüten über ein allgemeines Sozialversicherungssystem auf eine Personengruppe erstreckt werden, die nicht zu den Arbeitnehmern im Sinne der Verordnung Nr. 3 gehört"l1. Diese Gleichstellung war nach Ansicht des EuGH bei den italienischen Handwerkern gegeben. In Deutschland ist diese Frage nie umstritten gewesen; die deutschen selbständigen Handwerker sind schon seit 1939 Pflichtmitglieder der allgemeinen gesetzlichen Rentenversicherung. Die deutschen Versicherungsträger zogen aus diesem Urteil die Folgerung, daß die Verordnungen der EWG dementsprechend auch für andere selbständige Personengruppen galten lO • Um dem Urteil entsprechen zu können, mußten auch die anderen Versicherungsträger der EWG alle Selbständigen, 10 Dazu Wanders, Internationale soziale Sicherheit, in: Deutsche Rentenversicherung, 1969, S. 411 ff. 11 Rechtssache 19/68 (De Cicco), Urteil vom 19. Dezember 1968, EuGH-Rspr.
XIX, S. 718.
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die den allgemeinen Versicherungssystemen der EWG-Mitgliedstaaten angehörten, wie Arbeitnehmer behandeln12 • Ein Überblick über die verschiedenen Versicherungssysteme läßt die Unterschiedlichkeit der Zusammensetzung des versicherten Personenkreises und vielleicht auch gewisse Entwicklungstendenzen erkennen12a • Der italienische Staat, der in den Anfängen seiner Sozialversicherung neben dem allgemeinen für etwa 12 Millionen Arbeitnehmer bestehenden Pflichtversicherungssystem zunächst Sondersysteme für bestimmte Arbeitnehmergruppen eingerichtet hatte, war in den letzten 20 Jahren dazu übergegangen, die großen sozial schutzbedürftigen Gruppen der Selbständigen in das allgemeine System einzubeziehen13 • Hierzu zählen seit 1957 rund 1,4 Mill. Handwerker und seit 1966 rund 1,5 Mill. Kleinkaufleute14 • Eine ähnliche Regelung kennt das französische Sozialversicherungsrecht. Dort gehören dem allgemeinen System für Arbeitnehmer der Landwirtschaft außer den Land- und Forstarbeitern auch die Kleinpächter (les petits metayers) und auf Zeit aushelfende Landwirte (tächerons) an, obwohl letztere eigentlich nicht zu den Arbeitnehmern gehören 15 • Für Handwerker, Händler, Unternehmer, freie Berufe und selbständige Landwirte bestehen dort eigene Versicherungssysteme, die zunächst nur die Alters- und Hinterbliebenenversicherung, später auch die Invalidenversicherung einbezogen16 • Damit ist in Frankreich nahezu die ganze Bevölkerung in der Rentenversicherung erfaßt. Diese Tatsache hat den Präsidenten der französischen Republik ermutigt, am 24. Dezember 1974 ein Gesetz zur Ausdehnung der Sozialversicherung auf die ganze Bevölkerung zu verkünden17 • Das Gesetz, 12 Eine rechtsvergleichende Untersuchung der Sozialversicherungssysteme aller Mitgliedstaaten wäre interessant und aufschlußreich gewesen. Weder für die Gesetzgebung der Mitgliedstaaten noch für die Praxis der Rentenversicherungsträger war sie jedoch erforderlich, da die Versicherungsträger die Konsequenzen für ihre nationalen Versicherungssysteme jeweils selber zogen. 12a Die nachfolgenden Angaben sind, soweit nicht anderweitig vermerkt, nicht veröffentlichten Unterlagen entnommen. 13 Seventy years of the national social insurance institute Fifty years of general compulsory insurance for dis ability and old-age. Collection of studies. 1. N. P. S. Rome 1970. 14 Die Zahlen beziehen sich auf das Jahr 1976. Siehe auch Carlo Mustacci, L'automazione degli archivi dei lavoratori in Italia, in: Previdenza sociale, rivista delI' 1. N. P. S., Roma 1974, Heft 1, S. 36 f. 15 Memento de lE:~gislation sociale agricole; edition septembre 1973. UCCMA, Paris, S. 9. 16 Einzelangaben siehe Wanders, Die Systeme der Pensionsversicherungen in den Mitgliedstaaten der EWG, in: Die Versicherungsrundschau, Wien
1975, S. 234.
11 Gesetz Nr. 74-1094 vom 24. Dezember 1974, in: Journal officiel de la Republique Fran!;aise vom 26. Dezember 1974, S. 13020.
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das insbesondere zur Vereinheitlichung des Beitragsrechts dient18 , sieht die Schaffung eines Sozialversicherungssystems mit den 3 Versicherungszweigen Krankheit / Mutterschaft, Alter und Familienleistungen für alle Franzosen spätestens ab 1. Januar 1978 vor. Dieses französische Modell einer Volksversicherung unterscheidet sich von den nordischen Systemen insbesondere dadurch, daß die Träger und Vorteile, die für die verschiedenen Berufsgruppen bestehen, weiterhin erhalten bleiben. Im Vereinigten Königreich ist seit 1974 eine gegenläufige 18 Entwicklung zu beobachten 19 • Während nach dem Beveridgeplan zunächst die ganze Bevölkerung von der Sozialversicherung erfaßt wurde, wurden die Selbständigen von der Pflichtzugehörigkeit zu der am 20. März 1975 eingeführten Alters- und Hinterbliebenenversicherung ausgenommen. Seitdem ist es im Vereinigten Königreich den Selbständigen ähnlich wie in Deutschland - freigestellt, als freiwillige Mitglieder der neugestalteten Rentenversicherung anzugehören. Die freiwillige Mitgliedschaft ermöglicht ihnen jedoch nur eine Basisversicherung wie im alten Recht. Die Pflichtmitgliedschaft ist auf Personen beschränkt, die für ihre Tätigkeit ein Entgelt beziehen (earners) und daher ab 1978 einen Anspruch auf die entgelt abhängigen "additional" oder "retirement pensions" erwerben können. Damit gehören die englischen Selbständigen nicht mehr zu den Versicherten, die innerhalb der EWG den Arbeitnehmern gleichgestellt sind: Nur noch im Einzelfall kann eine frühere Pflichtzugehörigkeit ihre Gleichstellung bewirken20 • Während die selbständigen Handwerker in Deutschland der gesetzlichen Rentenversicherung angehören 2 t, sehen die Bestimmungen der EWG-Verordnung für die selbständigen deutschen Landwirte eine gespaltene Gleichstellung vor. Ihre gesetzliche Altershilfe hat eine eigenständige Alterssicherung geschaffen, die von der Rentensicherung der Arbeiter und Angestellten erheblich abweicht 22 • Im Bereich der Renten18 Mit den Neuregelungen in Frankreich und Großbritannien-Nordirland wird - trotz entgegengesetzter formaler Lösungen - übereinstimmend eine bessere Finanzierung der Rentenversicherungen angestrebt. Dieses Motiv kann, da es in den gesetzlichen Regelungen nicht erwähnt wird, bei einer rechts vergleichenden Betrachtung leicht übersehen werden. 19 Sie begann am 6. April 1974 mit einer Änderung des Beitragsrechts, das für Pflichtversicherte die Beitragshöhe in Prozent des Lohnes bemaß, Selbständige also nicht mehr erfaßte (Social Security Act 1973 Chapter 38). Die umfassende Neuregelung geschah durch den Social Security Act 1975, Chapter 14, vom 20. März 1975. 20 Wegen der Zugehörigkeit der britischen Selbständigen zum Personenkreis der VO 1408171 wurde der EuGH erstmals in der Rechtssache 17176 um Vorabentscheidung gebeten (Amtsblatt C 62 vom 18. März 1976, S. 4 f.). Die Rechtsfrage wurde bisher noch nicht entschieden. 21 Handwerkerversicherungsgesetz vom 8. September 1960. 22 Gesetz über eine Altershilfe für Landwirte vom 27. Juli 1957 in der Fassung vom 14. September 1965.
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versicherung ist daher keine Gleichstellung mit den Arbeitnehmern möglich. Dagegen wurde die eigenständige Krankenversicherung der Landwirte 23 in Anlehnung an die gesetzliche Krankenversicherung der Arbeiter und Angestellten geschaffen, so daß den Landwirten in der Krankenversicherung die Vergünstigungen der EWG-Verordnungen eingeräumt werden können24 • Diese nationalen Unterschiede, die in der Praxis der Rentenversicherungsträger durch den Rechtsstreit des italienischen Handwerkers (De Cicco) erstmals störend in Erscheinung traten, erzwangen eine weitergehende Koordination der Systeme. Die 1972 in Kraft getretenen neuen EWG-Verordnungen gelten daher in fast wörtlicher Befolgung der EuGH-Rechtsprechung nunmehr für jede Person, die im Rahmen eines für Arbeitnehmer geltenden Systems der sozialen Sicherheit gegen ein oder mehrere Risiken pflicht- oder freiwillig versichert ist (Artikel 1 EWG-Verordnung 1408/71). Selbständige, die der Rentenversicherung nicht oder nur als freiwillige Mitglieder angehören, fallen jedoch weiterhin nicht unter den Kreis der begünstigten Personen. Ihre Versorgungssysteme bleiben von der Koordinierung ausgeschlossen. In Frankreich sind hiervon die Handwerker, Händler, Unternehmer, freien Berufe und selbständigen Landwirte betroffen. In Italien sind es insbesondere die Versorgungswerke der Anwälte und Notare, Ärzte und Hebammen, Journalisten und Architekten. In Deutschland und im Vereinigten Königreich verhält es sich ähnlich. Diese Lücke in der Koordination der sozialen Rechtsordnungen wird mit Recht als unbefriedigend empfunden. Tatsächlich hängt es nur von der zufälligen Organisation der Sozialversicherungssysteme ab, ob die freien Berufe in einigen Mitgliedstaaten der EWG zu den Pflichtversicherten des allgemeinen Systems zählen, in anderen dagegen nicht. Die EWG beabsichtigt daher, auch für sie ähnliche Regelungen zu schaffen, wie sie für die sog. Arbeitnehmer schon gelten. Das sozialpolitische Aktionsprogramm, das auf der Pariser Gipfelkonferenz im Oktober 1972 von den Staats- und Regierungschefs gefordert, am 25. Oktober 1973 von der Kommission vorgelegt und am 21. Januar 1974 vom Rat verabschiedet wurde, sieht vor, bis zum Jahre 1976 auch die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit für Selbständige zu fördern 25 • Erste Vorschläge liegen hierzu vor. Wie vor vier Jahren soll 23
Gesetz über die Krankenversicherung der Landwirte vom 10. August
1972.
24 Erklärung der ursprünglichen Mitgliedstaaten zu Artikel 5 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 in ABI. C 12 vom 24. März 1973, S. 12. 25 Bulletin der Europäischen Gemeinschaften, Beilage 2174, Seite 24, 28. Die Koordinierung der Versicherungssysteme für Selbständige wurde erneut in dem zweiten Aktionsprogramm gefordert, das die Kommission dem Rat
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die Lösung in einer Neudefinition des Arbeitnehmerbegriffs gefunden werden, der damit praktisch durch den Begriff der versicherten Person ersetzt wird 26 • So scheint die von den Versicherungsträgern gemachte praktische Erfahrung dazu zu führen, daß zukünftig alle versicherten Personen innerhalb der EWG von der Freizügigkeit Gebrauch machen können, ohne ihre soziale Sicherheit zu beeinträchtigen27 • 4. Leistungsvoraussetzungen Ein Vergleich des Sozialrechts zweier Staaten wird stets zum Ziele haben, den sozialen Schutz zu vergleichen, der den jeweils geschützten Personen gewährt wird. Dabei wäre es unvollkommen, wollte man nur die Leistungsarten und die Leistungshöhe einander gegenüberstellen28 • Fast noch mehr interessiert in diesem Zusammenhang die Frage, unter welchen Voraussetzungen die jeweiligen Leistungen gewährt werden. Diese Voraussetzungen können die Wirksamkeit des sozialen Schutzes erheblich beeinflussen. Während in der Krankenversicherung und Unfallversicherung in der Regel schon ab Beginn des Versicherungsverhältnisses ein Leistungsanspruch entstehen kann, hemmen in der Rentenversicherung oft strengere Voraussetzungen die Entstehung des Leistungsanspruchs. Abgesehen von den persönlichen Voraussetzungen wirken sich hier insbesondere die längeren Wartezeiten erschwerend auf den Erwerb des Leistungsanspruchs und damit auf die soziale Sicherheit des geschützten Personenkreises aus. 4.1 Bedeutung der Versicherungsdauer
Innerhalb der EWG besteht der auffallendste Unterschied in der Tatsache, daß der Leistungsanspruch in einigen Staaten von der Versicherungsdauer abhängig, in anderen Staaten dagegen davon unabhängig ist. So ist z. B. in den Niederlanden weder für die Erwerbsmindeam 18. Dezember 1974 vorlegte und von diesem am 9. Februar 1976 beschlossen wurde; siehe Bulletin der Europäischen Gemeinschaften, Beilage 3176, S. 20. 26 Siehe dazu Bulletin der Europäischen Gemeinschaften, 1976 Nr. 1, S. 35, Ziffer 2207. 27 Die Versicherungsträger werden dann allerdings bei ihrer Zusammenarbeit mit den übrigen Mitgliedländern der EWG von jeder differenzierten Betrachtung in bezug auf die betroffenen Personen entbunden sein. Die Erfahrungen der Versicherungsträger der EWG-Mitgliedstaaten, die jetzt noch interessante Ansätze für eine vergleichende Betrachtung der geschützten Personengruppen liefern, werden sich in der EWG zukünftig im allgemeinen verlieren. 28 Siehe dazu ausführlich Wanders, Die Systeme der Pensionsversicherungen in den Mitgliedstaaten der EWG, S. 238 ff. (oben Fn. 16).
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rungsrente noch für die Altersrente eine Wartezeit vorgeschrieben. Es genügt, daß die Erwerbsminderung während einer Versicherungszeit eingetreten ist. Allerdings ist auch in den Niederlanden ähnlich wie in Deutschland die Höhe der Alterspension von der Dauer der Versicherungsjahre oder damit gleichgestellten Jahre abhängig. Selbst die Hinterbliebenenrente, die die Witwe in den Niederlanden ab Vollendung des 65. Lebensjahres beanspruchen kann, wird ohne Wartezeit gewährt, wenn der verstorbene Versicherte bereits eine Invaliditäts- oder Altersrente bezogen hatte; andernfalls genügt für die Hinterbliebenenrente eine relativ kurze Wartezeit von 40 Beitragswochen des Verstorbenen. Vor Vollendung des 65. Lebensjahres erhält die Witwe in den Niederlanden anstelle einer Witwenrente eine sog. Witwenpension, die lediglich von bestimmten Voraussetzungen in der Person der Witwe abhängig ist (z. B. stets, wenn die Witwe am letzten Tag des Monats, in dem der Ehemann verstorben ist, mindestens 40 Jahre alt ist)29. Im Gegensatz hierzu macht Deutschland den Rentenanspruch davon abhängig, daß eine Versicherungszeit von mindestens 60 Monaten, im Falle des Altersruhegeldes sogar von 180 Monaten zurückgelegt wurde; auch bei Erfüllung dieser Voraussetzung bleibt die Höhe des deutschen Leistungsanspruchs von der Dauer der Versicherungszeit abhängig. Nur bei vor dem 55. Lebensjahr eintretenden Versicherungsfällen wird unter bestimmten Voraussetzungen die gesamte Zwischenzeit als fiktive Versicherungszeit hinzugerechnet, so daß in Bezug auf die Rentenhöhe eine dem Wohnsitzprinzip ähnliche Wirkung entsteht. Diese Unterschiede im Leistungsrecht beider Staaten führen in der Praxis zu einer Leistungskumulation, wenn einerseits das Wohnsitzprinzip, andererseits z. B. die Anrechnung einer fiktiven Zeit garantierte Mindestleistungen zur Folge haben. Zwar sah die EWG-Verordnung Nr. 3 eine pro-rata-Berechnung der Leistungen entsprechend dem Zeitenverhältnis vor, der EuGH hielt die pro-rata-Kürzung jedoch für unzulässig, wenn der Anspruch auch ohne Zusammenrechnung der Zeiten schon all eine nach nationalem Recht gegeben war 30 • Das war aufgrund der leichteren Anspruchsvoraussetzungen stets in den Niederlanden der Fall. Diese praktische Erfahrung veranlaßte die Niederlande, in einem innerstaatlichen Gesetz ab 1. 7. 1965 die pro-rata-Kürzung der niederländischen Renten im Verhältnis der Zeiten sicherzustellen, sobald auch Zeiten eines anderen Staates anzurechnen sind31 • 29 Pensioenen en renten - Pensionen und Renten, herausgegeben vom Bureau voor Duitse Zaken van de Vereeniging van Raden van Arbeid, Nijmegen, September 1974, S. 17 ff. Siehe auch Spitaels / Klaric / Lambert / Lefevre: Le salaire indirect et la couverture des besoins sociaux, Volume III: La comparaison internationale Allemagne / France / !talie / Pays-Bas, Tome III: Les Pensions, Brüssel 1970, S. 182 ff. 30 EuGH-Urteil vom 15. Juli 1964 in der Rechtssache 100/63 (Van eier Yen), EuGH-Respr. Band X/1964, S. 1213.
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Eine weitere Entlastung des niederländischen Versicherungsträgers entstand dadurch, daß die EWG-Verordnung 1408171 vom 14. Juni 1971 den Leistungsanspruch im zwischenstaatlichen Bereich erst entstehen läßt, wenn der Versicherte wenigstens ein Jahr lang als Arbeitnehmer in den Niederlanden beschäftigt war (Artikel 48). Diese Zeitgrenze führt dazu, daß die Vorteile des niederländischen Systems bei der Zusammenarbeit der Versicherungsträger nicht mehr in Erscheinung treten, so daß die Unterschiede, die zwischen den nationalen Systemen an sich bestehen, in der Praxis verwischt sind. Ein Vergleich des Sozialrechts zweier Staaten wird jedoch diese durch Koordinierungsregelungen beseitigten oder umgangenen Unterschiede nicht übersehen dürfen, sondern versuchen müssen, die hinter den unterschiedlichen Versicherungsprinzipien und Regelungen bestehenden sachlichen Gemeinsamkeiten und Differenzen aufzuzeigen. Von größter Bedeutung ist auch ein anderer Unterschied, der sich damit erklärt, daß die Invalidität in einigen Staaten als eine länger dauernde Krankheit verstanden wird, in anderen dagegen mehr als ein vorzeitiges Altern und dadurch bedingtes frühzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben. Aufgrund dieses unterschiedlichen Verständnisses der Invalidität wird die Invalidenrente im ersten Fall wie eine Art unbegrenzt gewährtes Krankengeld, im anderen Fall wie ein vorzeitig gewährtes Altersruhegeld aufgefaßt. Sowohl in den Niederlanden und Belgien als auch im Vereinigten Königreich ist die Invalidität die Fortsetzung einer vorher bestehenden Arbeitsunfähigkeit. In Belgien wird Invalidität nach einer zwölfmonatigen Arbeitsunfähigkeit (in der knappschaftlichen Versicherung nach 6 Monaten) angenommen32 • Auch in den Niederlanden wird die Invalidenrente von der 53. Woche seit Beginn der Arbeitsunfähigkeit an gezahlt, nachdem für die ersten 52 Wochen gewöhnlich Krankengeld oder eine ähnliche Leistung gewährt wurde 33 • Im Vereinigten Königreich hängt der Anspruch auf Invalidenrente ebenfalls nicht von einer vorhergehenden Beitragszeit, sondern davon ab, daß der Versicherte im Zeitraum der Arbeitsunterbrechung für 168 Tage Krankengeld bezogen hat34 ; die beitragsrechtlichen Voraussetzungen sind nur für die Gewährung von Krankengeld von Bedeutung. Diese britische Bestimmung führt bis heute in der Zusammenarbeit der Versicherungsträger zu erheblichen Störungen. 31 Gesetz vom 30.7.1965 (Stb. 347) und der zu seiner Durchführung ergangene Königliche Beschluß von 20. 3. 1968 (Stb. 174). 32 Artikel 50 ff. des belgischen Gesetzes vom 9. August 1963. Siehe dazu Nationalinstitut der Kranken- und Invalidenversicherung: übersichtliche Darstellung der belgischen Regelung in Sachen der Kranken- und Invalidenpflichtversicherung, Brüssel, September 1973, S. 33. 33 Pensioenen en renten, S. 22. 34 Sodal Security Act 1975, Chapter 14, Part II Chapter I, Section 15.
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Die EWG-Vorschriften enthalten keine Regelungen, durch die sichergestellt wird, daß der Anspruch auf Gewährung einer britischen Invalidenrente auch durch einen Krankengeldbezug im Ausland erfüllt werden kann. Mangels einer entsprechenden Koordinationsregel lehnt das Vereinigte Königreich den Invalidenrentenanspruch daher immer dann ab, wenn die Invalidität im Ausland eintritt. Selbst eine Gleichstellung der ausländischen Krankengeldbezugszeiten würde weiterhin diejenigen Personen benachteiligen, die bei Eintritt der Invalidität einem Versicherungssystem angehören, das diesen Versicherungsfall nicht der Krankenversicherung, sondern der Rentenversicherung zuordnet, somit den Anspruch auf eine Invalidenrente nicht von dem vorherigen Bezug eines Krankengeldes, sondern von der Zurücklegung einer längeren Versicherungszeit abhängig macht. Eine solche auf den Krankengeldbezug beschränkte Koordinationsregel würde die bestehenden Systemunterschiede nicht überbrücken35 und daher Italiener und Deutsche benachteiligen. 35 Die Schwierigkeit ist typisch für eine Systemkonkurrenz, wie sie auch in dem Streit um die Zusammenrechnung ausländischer Zeiten mit deutschen Versicherungszeiten zum Erwerb eines Anspruchs auf Leistungen der Rentenversicherung wegen Tuberkulose zum Ausdruck kam. Der von deutscher Seite vertretene Standpunkt, es handele sich dabei um Maßnahmen zur Seuchenbekämpfung mit der Folge, daß die EWG-Verordnungen nicht anzuwenden seien, wurde vom EuGH nicht geteilt (EuGH Rechtssache 14 bis 16172, Urteile vom 16. November 1972, EuGH Rspr. Band XVIII, S. 1105 ff., 1127 ff. und 1141 ff.). Die EuGH-Entscheidung, es handele sich um Leistungen wegen Krankheit, führte jedoch zur Zurückweisung des Anspruchs in der Rentenversicherung, da die für die Krankenversicherung geltenden besonderen Voraussetzungen des Artikels 17 EWG-Verordnung Nr. 3 nicht erfüllt waren (BSG-Urteile vom 21. Februar 1973 - AZ 4 RJ 213170 und 4 RJ 473/69, SozR Nr. 29 zu § 1244 a RVO). Nach dieser Vorschrift hätte die für die Rentenversicherung erforderliche Mindestversicherungszeit durch Zusammenrechnung mit den ausländischen Versicherungszeiten nur erfüllt werden können, wenn der Versicherte innerhalb eines Monats nach Beendigung der ausländischen Versicherung Mitglied der deutschen Versicherung geworden wäre. Obwohl diese Voraussetzung in einem Fall dadurch erfüllt worden war, daß der Versicherte bis zum vorletzten Tage vor Beginn einer deutschen kranken- und rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung Beiträge zur italienischen Krankenversicherung und Tuberkulosenversicherung entrichtet hatte, erkannte das BSG den Anspruch gegen die deutschen Rentenversicherungen deshalb nicht an, weil nicht feststand, ob der Versicherte ebenso lange der italienischen Invaliditätsversicherung angehört hatte. Vielmehr verlangte das BSG, daß die Beiträge in einer der deutschen Rentenversicherung funktionell, d. h. in ihrer Aufgabe, ihrer Wirkungsweise und ihrem Gehalt nach der deutschen Rentenversicherung ähnlichen ausländischen Versicherung entrichtet wurden (BSG 4/1/4 RJ 433/69). Diese Ansicht führt zu Ergebnissen, die von der zufälligen Organisationsform ausländischer Versicherungssysteme abhängig sind. Die Zusammenrechnung deutscher Rentenversicherungszeiten mit ausländischen Krankenversicherungszeiten sollte jedenfalls immer dann möglich sein, wenn das betreffende ausländische Krankenversicherungssystem auch für die Invalidenversicherung zuständig ist. Siehe hierzu Wanders, Internationale soziale Sicherheit im Spiegel der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, in: Deutsche Rentenver-
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Man wird dieses Problem einer System konkurrenz in der EWG durch eine Gleichstellung der Zeiten nicht nur des Krankengeld-, sondern auch des Invalidenrentenbezugs und der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle zu lösen suchen. Dies wird ausreichen, um eine Koordination zwischen den unterschiedlichen Voraussetzungen der EWG-Mitgliedstaaten zu erreichen. Für die Praxis der Rentenversicherungsträger genügt dies. Ein Vergleich der Sozialrechtssysteme dürfte sich m. E. hiermit aber nicht zufriedengeben. Die in der EWG beabsichtigte formale Lösung geht zu Unrecht von unterschiedlichen Voraussetzungen aus. Man wird nicht übersehen können, daß auch im britischen System versicherungsrechtliche Voraussetzungen verlangt werden und daß sie für den Anspruch auf Invalidenrente nicht all eine deshalb weniger wichtig sind, weil sie schon bei dem vorausgesetzten Anspruch auf Krankengeld vorliegen müssen. Die britische Invalidenrente ist auch nach britischer Auffassung im Grunde nichts anderes als eine Art langfristiges Krankengeld; es handelt sich um eine Leistung, die für dieselbe Arbeitsunfähigkeit lediglich unter einer anderen Bezeichnung gezahlt wird. Dadurch kann der Fall eintreten, daß eine Person die Invalidenrente nach Ablauf von 168 Tagen möglicherweise nur eine Woche lang erhält, weil sie anschließend wieder gesund wird. Eine vergleichende Betrachtung müßte deshalb die Frage stellen, ob die britische Krankengeldzahlung überhaupt eine Anspruchsvoraussetzung darstellt. Ähnlich wie in Deutschland die Berufs- oder Erwerbsunfähigkeitsrente auf Zeit erst nach 26 Wochen beginnt (§ 1276 RVO) und vor 1957 meist erst nach dem Wegfall eines ebenso lange bezogenen Krankengeldes begann (§ 1286 Abs. 2 RVO a. F.), dürfte auch die britische Regelung weniger eine eigentliche Anspruchsvoraussetzung darstellen, als vielmehr den Beginn der Invalidenrente bestimmen. Auch die nach deutschem Recht mögliche Umwandlung der Berufsunfähigkeitsrente in die Erwerbsunfähigkeitsrente, bei der ebenfalls keine neuen beitragsrechtlichen Voraussetzungen für die höhere Rente verlangt werden, stellt eine Parallele zu der englischen Umwandlung des Krankengeldes in die Invalidenrente dar. Eine rechtsvergleichende Betrachtung wird daher bemüht bleiben müssen, sich von der formellen Gestaltung der Rechtsvorschriften zu lösen. Erst wenn der Sinn und Zweck der Regelungen erkannt ist, können aus ihrer Gegenüberstellung fruchtbare Ansätze für einen Vergleich gewonnen werden. Darüber hinaus wird die rechte Bewertung einer einzelnen Bestimmung nicht ohne Berücksichtigung der gesamten sicherung, 1972, S. 390 ff. - Gerlach, Berücksichtigung der EWG-Verordnungen Nr. 3, 4, 1408/71 und 574/72 bei der Gewährung von Rehabilitationsmaßnahmen durch die gesetzlichen Rentenversicherungsträger, in: Deutsche RenteJlversiGherung, 1974, S. 164 ff.
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Sozialrechtsordnung möglich sein. Dies gilt auch für die im Vereinigten Königreich bestehende Abhängigkeit des Invalidenrentenanspruchs von einem unmittelbar vorausgehenden Krankengeldbezug. Sie ist eine Auswirkung der Tatsache, daß dort die ganze Bevölkerung dem Schutz der Krankenversicherungspflicht unterliegt. 4.2 Wartezeit und Invalidenrente
Soweit in anderen Ländern keine allgemeine Krankenversicherungspflicht besteht, muß der Invalidenversicherungsschutz von anderen Voraussetzungen abhängig gemacht werden, will man nicht alle jene Personen von der Invalidenversicherung ausschließen, die nicht der Krankenversicherungspflicht unterliegen. In diesen Ländern führt die Abhängigkeit des Anspruchs von der Erfüllung einer Wartezeit zu einem allgemeineren Versicherungs schutz, da dann auch die nicht mehr der Beitragspflicht unterliegenden Personen gegen Invalidität versichert bleiben. Lange Wartezeiten kennen außer Deutschland auch Italien und Irland12 • Italien verlangt fünf Versicherungsjahre und mindestens 260 Wochenbeiträge, davon 52 in den letzten fünf Jahren vor Rentenantragstellung 36 • Irland fordert 156 Wochenbeiträge, also 3 Jahre, davon mindestens 48 Wochenbeiträge in dem Beitragsjahr vor Eintritt der Invalidität, wobei das Beitragsjahr für Männer am 1. Januar, für Frauen am 1. Juli beginnt. Alle anderen Mitgliedstaaten der EWG begnügen sich mit einer kürzeren Beitragszeit12 • Die Niederlande verlangen bei Eintritt der Arbeitsunfähigkeit bzw. dauernden Erwerbsminderung lediglich, daß eine Versicherung besteht; die Dauer der Versicherung ist ohne Bedeutung37 • Belgien verlangt eine Versicherungs dauer von 6 Monaten und 120 Arbeitstagen in den zwei Kalendervierteljahren vor dem Kalendervierteljahr, in dem die Leistung beantragt wird 38 • Die dänische Invalidenrente setzt eine einjährige Wohnzeit und die Vollendung des 15. Lebensjahres voraus, während die Wartezeit in Luxemburg nach einjähriger Versicherung erfüllt ist39 • Frankreich gewährt die Invalidenrente nur, wenn der Versicherte am ersten Tage des Monats, in dem die Invalidität eintritt, mindestens 12 Monate der Versicherung angehört und in diesen zwölf Monaten 800 Arbeitsstunden nachgewiesen hat. Um der Manipulation vorzubeugen, verlangt Frankreich zusätzlich, daß von Luigi Giuliano, Contributi e prestazioni sociali, o. J., S. 162. Pensioenen en renten, S. 22. 38 Artikel 66 des belgischen Gesetzes vom 9. August 1963. Siehe übersichtliche Darstellung der belgischen Regelung ... , S. 21. 39 Grand-Duche de Luxembourg: La securite sociale, Lois et reglements, 1967, S. L 61, Art. 187 geändert durch Gesetz vom 14. Mai 1974. 36
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den 800 Arbeitsstunden 200 in den ersten 3 Monaten bzw. im ersten Kalendervierteljahr liegen (seit 10.7. 1964 bzw. 1. 5. 1969). Der Anspruch besteht jedoch auch dann, wenn der Versicherte durch bestimmte äußere Umstände daran gehindert worden ist, einer Arbeit nachzugehen. Zeiten der angemeldeten Arbeitslosigkeit, des Bezuges von Krankengeld, von Rente wegen Arbeitsunfähigkeit, von Invalidenpension, von Mutterschaftsgeld, Zeiten der Untersuchungshaft und der Umschulung während des Empfanges von Arbeitsunfallrenten, sind daher wie Arbeitsstunden anzurechnen40 • Durch die Gleichstellung dieser Zeiten ist es praktisch ausgeschlossen, daß in Frankreich die Invalidenrente nur deshalb nicht gewährt werden kann, weil die Invalidität schon innerhalb der ersten 12 Monate nach Beginn der Versicherung eintritt. Dies berechtigt zu der Feststellung, daß auch die französische Invalidenversicherung im Grunde eine Fortsetzung der Krankenversicherung darstellt, dies um so mehr, als der Krankenversicherungsschutz in Frankreich Vorrang vor der Invalidenversicherung genießt. Die französische Krankenversicherung ist verpflichtet, drei Jahre lang ihre Leistungen wegen Krankheit zu gewähren und in dieser Zeit die Rehabilitation des Versicherten anzustreben. Erst wenn trotz der Rehabilitationsmaßnahmen eine Invalidität von 66 2/3 % eintritt, muß die Krankenversicherung eine Invalidenrente gewähren. In Deutschland besteht während der ersten 60 Versicherungsmonate dagegen grundsätzlich kein Schutz gegen eine vorzeitig eintretende Invalidität. Eine Ausnahme gilt nur, wenn der Versicherte infolge eines Arbeitsunfalls oder als Wehrdienstleistender berufsunfähig wird. Auf die Erfüllung der Wartezeit wird auch verzichtet, wenn der Versicherte durch einen anderen Unfall vor Ablauf von 6 Jahren nach Beendigung einer Ausbildung erwerbsunfähig geworden oder gestorben ist und in den vorausgegangenen 24 Kalendermonaten mindestens für 6 Kalendermonate Beiträge aufgrund einer versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit entrichtet hat (§ 1252 RVO). Im übrigen kann der Invalide, der noch keine Versicherungszeit von 60 Monaten zurückgelegt hat, von der Rentenversicherung nur Rehabilitationsmaßnahmen zur Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit verlangen. Diese Regelung ist deshalb ungünstig, weil die Krankenversicherung wegen derselben Krankheit nur bis zu höchstens 78 Wochen innerhalb von 3 Jahren Krankengeld zahlen muß (§ 183 RVO). Danach beschränkt sich ihre Verpflichtung auf die Gewährung von Krankenpflege, die u. a. die ärztliche Behandlung und die Versorgung mit Arzneimitteln umfaßt (§ 182 RVO). 40 Luigi Giuliano, Contributi e prestazioni sociali, INPS-INAM-INAIL, quinta edizione 1970, S. 162.
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Großzügiger ist die italienische Regelung, die zur Erfüllung der Wartezeit von 60 Monaten außer den Beitragszeiten auch andere sog. figurative Zeiten, wie Zeiten der Krankheit, der Schwangerschaft, des Wochenbetts und der Arbeitslosigkeit anrechnet41 • Nach deutschem Recht bleiben Krankheitszeiten, Arbeitslosigkeitszeiten und andere Ausfallzeiten von der Anrechnung auf die Wartezeit ausgenommen. Hat ein italienischer Wanderarbeitnehmer in Deutschland weniger als 60 Monate Versicherungs zeiten nachgewiesen, so müssen die deutschen Versicherungsträger dennoch außer den ausländischen Beitragszeiten auch die figurativen italienischen Zeiten wie deutsche bzw. ausländische Beitragszeiten anrechnen. Zu dieser Gleichstellung sind die deutschen Versicherungsträger durch die EWG-Verordnung 1408/71 verpflichtet. Artikel 45 dieser Verordnung bestimmt, daß die Versicherungs- oder Wohnzeiten eines anderen Mitgliedstaates für den Erwerb des Leistungsanspruchs so zu berücksichtigen sind als handelte es sich um Zeiten, die nach deutschen Rechtsvorschriften zurückgelegt worden sind. Die Versicherungsträger müssen die vom ausländischen Versicherungsträger gemeldeten Zeiten daher mit der Wirkung übernehmen, die ihnen nach dem Recht des anderen Staates zukommt. Werden die gleichgestellen Zeiten im Ausland wie Beitragszeiten angerechnet, müssen sie grundsätzlich auch von den deutschen Versicherungsträgern für den Erwerb des Leistungsanspruchs wie Beitragszeiten behandelt werden. Trotz dieser Gleichstellung der Zeiten kann auf subtile Kenntnisse des anderen Rechts nicht verzichtet werden, wenn die ausländischen Zeiten in anderem Zusammenhang zu berücksichtigen sind. Sinn und Zweck der deutschen Bestimmungen verlangen im Einzelfall z. B. immer dann Ausnahmen, wenn das deutsche Recht ausdrücklich die Entrichtung eines Pflichtbeitrages verlangt, freiwillige Beiträge oder gleichgestellte Versicherungszeiten also nicht genügen läßt42 • Der Versicherungsträger kann sich daher einer unterscheidenden Betrachtung nicht entziehen. Die vorgeschriebene Zusammenrechnung der Zeiten führt ihn immer wieder vor die Notwendigkeit eines Vergleichs der Versicherungssysteme. Mag dabei auch stets nur eine Einzelbestimmung zu untersuchen sein, so sind doch auch die in Einzelheiten zu beobachtenden Unterschiede meist Ausfluß einer tiefergreifenden Verschiedenheit der sozialen Rechtsordnungen. In diesem Zusammenhang wurde von einem deutschen Gericht eine Frage von größter Tragweite angeschnitten. In mehreren noch nicht Luigi Giuliano, S. 109. Dies ist z. B. bei der Halbbelegung zur Anrechnung einer Ersatzzeit (§ 1250 Abs. 2 RVO), Ausfallzeit (§ 1259 Abs. 3 RVO) und Zurechnungszeit (§ 1260 Abs. 1 RVO) der Fall. 41
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rechtskräftigen Fällen ist zu entscheiden, ob der deutsche Versicherungsträger zur Erfüllung der deutschen Wartezeit auch eine Beitragszeit berücksichtigen muß, die erst nach Eintritt der Invalidität zur italienischen Rentenversicherung zurückgelegt wurde43 • Der deutsche Versicherungsträger hat dies in einer bisher unbestrittenen zwanzigjährigen Praxis regelmäßig abgelehnt. Nach italienischem Recht muß jedoch jeder Pflicht- oder freiwillige Beitrag auf die Wartezeit angerechnet werden, der vor Beginn des Rentenbezuges entrichtet wurde. Tatsächlich entrichten die italienischen Versicherten die fehlenden Wochenbeiträge sehr häufig erst nach Eintritt der Invalidität und stellen durch eine solche freiwillige Beitragsentrichtung den Anspruch auf eine italienischen Invalidenrente sicher. In Deutschland kann dagegen die Wartezeit nach Eintritt des Versicherungsfalls nicht mehr erfüllt werden. Dieser der privaten Schadensversicherung entnommene Grundsatz gilt nicht in Italien. Es wird interessant sein, wie der EuGH dieses Problem entscheiden wird. Es geht um die Koordination zweier Versicherungsprinzipien, die sich nach ihrem Sinn und Zweck gegenseitig ausschließen. Sollte der EuGH dem Kläger stattgeben, würde dies innerhalb der EWG zur Beseitigung des deutschen Versicherungsprinzips führen. Hier wird ein wichtiger Aspekt sichtbar, der bei einem Vergleich der Sozialrechtsordnungen nicht übersehen werden darf: Trotz gleicher formaler Gestaltung - im vorliegenden Fall einer gleich langen Wartezeit von 60 Monaten für den Erwerb eines Anspruchs auf Invalidenrente - können zwei Versicherungssysteme sich im grundsätzlichen unterscheiden. Daß diese Frage erstmals nach einer nahezu 20jährigen Praxis aufgeworfen wird, zeigt, wie leicht auch solche wesentlichen Unterschiede übersehen werden können.
5. Sozialer Hintergrund Nur selten wird dem Praktiker der soziale Hintergrund einer bestehenden Sozialrechtsordnung bewußt. Er befaßt sich in der Regel mit dem Einzelfall, ohne die sozialen Bedingungen oder gar die zugrunde liegenden gesellschaftlichen Verhältnisse zu hinterfragen. Dennoch schafft erst das gegenseitige Verständnis für die Andersartigkeit der Sozialrechtsordnung die Basis für eine enge befruchtende Zusammenarbeit. Hieran fehlt es noch allerorten. Die Versicherungsträger werden schon durch die Sprachbarrieren daran gehindert, sich und ihre sozialen 43 Das SG Augsburg hat den zuständigen Versicherungsträger in allen Fällen zur Anrechnung der italienischen Beitragszeit verurteilt (Urteile vom 16. Dezember 1975 - S 8 ArIt 133/73, vom 5. Februar 1976 - S 6 ArIt 431/74 und vom 1. April 1976 - S 4 ArIt 147/75). Gegen die Urteile wurde Berufung bzw. Sprungrevision eingelegt.
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Lebensbedingungen besser verstehen zu lernen. Erschwerend wirkt sich vor allem die unterschiedliche Rechtssystematik aus. Ohne Spezialstudium ist es nahezu unmöglich, sich im englischen, französischen oder italienischen Recht zurechtzufinden. Meist fehlt es an Koordinationen, die einen Gesamtüberblick erlauben. Gesetzesänderungen im anderen Lande werden daher häufig erst lange nach ihrem Inkrafttreten durch einen Zufall bekannt. Die Motive, die zu den neuen gesetzlichen Maßnahmen geführt haben, bleiben dem Außenstehenden fast immer verborgen. Ähnlich verhält es sich mit der Kenntnis über die Wirksamkeit der bestehenden unterschiedlichen Sozialrechtsordnung. Gilt dies schon für Deutschland, wo nach einer fast hundertjährigen ständigen Ausweitung der Sozialversicherung plötzlich die vom Rheinland-pfälzischen Sozialminister Dr. Heinrich Geißler vorgelegte Dokumentation über die "Neue soziale Frage" die Sozialpolitiker aufschreckt 44 , so gilt dies um so mehr für das Ausland. Ist es schon in Deutschland umstritten, ob die Nettoeinkommen von 2 Millionen Haushalten mit 5,8 Millionen Personen im Jahre 1974 unter den Bedarfssätzen der Sozialhilfe lagen45 , wie sollte man zu einem zutreffenden Urteil über die soziale Lage eines anderen Volkes kommen? Ohne nähere Kenntnisse lassen sich auch aus der Rentenhöhe keine Rückschlüsse auf das durchschnittliche Einkommen der Bevölkerung schließen. Wenn in Deutschland die Durchschnittsrenten der Männer dreimal so hoch sind wie die der Frauen46 , so liegt das keineswegs an einer entsprechend schlechteren Frauenentlohnung während der versicherungspflichtigen Beschäftigung, sondern in großem Umfang auch an einer erheblich kürzeren Versicherungszeit und dar an, daß die nicht mehr berufstätigen Frauen vor 1957 nur die niedrigsten freiwilligen Beiträge entrichtet haben, um die damals noch bestehende Mindestrente zu erreichen47 • Möglicherweise wirken sich ähnliche Umstände in Italien aus12 • Dort mußten von den 7,2 Millionen Renten, die das allgemeine Versicherungssystem an pflichtversicherte Arbeitnehmer zahlt, 4,5 Millionen oder 63 Ofo auf die gesetzliche Mindesthöhe angehoben werden. Andere Gründe scheinen dafür maßgeblich zu sein, daß der Anteil der italienischen Mindestrenten, die an die versicherungspflichtigen Selbständigen gezahlt werden, noch größer 44 "Neue Soziale Frage" Zahlen, Daten, Fakten -, Dokumentation, als Manuskript vervielfältigt, Bonn 1975. Siehe auch H. Geißler, Armut im Wohlfahrtsstaat, in: Sozialer Fortschritt, 1976, S. 123 ff., und ders., Katholische Soziallehre und politische Praxis, in: Zeitschrift für Sozialreform, 1976, S. 277 ff. 45 Ulrich Geißler, Armut in Deutschland eine Neue Soziale Frage, in: Sozialer Fortschritt, 1976, S. 49 ff. 48 Verband Deutscher Rentenversicherungsträger: Statistik der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung, Band 44, Frankfurt 1975. 47 Fehn, Millionen Mini-Renten, in: Mitteilungen der LVA Oberfranken und Mittelfranken, 1976, S. 182 ff.
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ist. Von den italienischen Kleinlandwirten, Halbbauern und Pächtern erhalten 98,9 %, das sind über 2 Millionen, nur die Mindestrente. Fast gleich groß ist mit 97,6 Ofo oder 343500 der Anteil der Mindestrenten bei den Kleinkaufleuten. Nur unwesentlich geringer ist mit 90,8 Ofo oder 381 000 der Anteil der Mindestrenten bei den Handwerkern. Der große Anteil der Mindestrenten bei den versicherungspflichtigen Selbständigen Italiens scheint vorwiegend damit geklärt werden zu können, daß die Versicherungspflicht für diese Personengruppen erst 1957, 1959 und 1966 eingeführt wurde 48 • Dennoch fällt auf, daß unter ihnen die schon am längsten versicherungspflichtigen Kleinlandwirte, Halbbauern und Pächter immer noch fast ausschließlich auf die Mindestrenten angewiesen sind. Bezeichnend mag gerade für die Personengruppe der Selbständigen in Italien auch ein anderer Umstand sein. Da die italienischen Selbständigen erst vor wenigen Jahren versicherungspflichtig wurden, konnten sie in der Vergangenheit die große Wartezeit für das Altersruhegeld nicht erfüllen. Im vorgeschrittenen Alter fühlten sie sich jedoch als Invalide und strebten daher zu ihrer Alterssicherung die Invalidenrente an. Selbst wenn nach Ansicht des italienischen Versicherungsträgers keine Invalidität vorlag, erhielten sie im Gerichtswege häufig die begehrte Rente zugesprochen. Diese Situation hat sich bis heute nicht verändert. Da in Italien keine eigene Sozialgerichtsbarkeit besteht, entscheiden dort über den Rentenanspruch die örtlichen Zivilgerichte49 , die die Invalidenrente als eine Art Sozialunterstützung oft unter erleichterten Bedingungen zusprechen. Hieran wird deutlich, wie sehr sich eine vergleichende Betrachtung auch darum bemühen muß, die Auswirkungen einer anderen Entstehung und gesellschaftlichen Verpflichtung des Sozialrechts aufzuzeigen. Ungeachtet aller notwendigen Vorbehalte scheinen die Auswirkungen des Sozialrechts unter gewissen Umständen aber doch die unterschiedlichen Bedürfnisse eines anderen Volkes unmittelbar sichtbar zu machen. So können bestimmte soziale Leistungen schlagartig die abweichenden Lebensbedingungen eines anderen Volkes erkennen lassen. Die in Italien in so hoher Zahl gewährten Mindestrenten lassen z. B. nicht den Schluß auf eine soziale Unterversorgung der italienischen Staatsangehörigen zu. Neben anderen Gründen, z. B. der früheren Rentengewährung, die eine Weiterarbeit und dadurch bedingte Rentenerhöhung gestattet, scheint mir - jedenfalls im Süden Italiens - auch die bestehende Großfamilienstruktur mit ihrem noch selbstverständlichen solidarischen Eintreten der Familienmitglieder füreinander eine Erklärung dafür zu sein, daß die staatlich garantierte Mindestrente nur als eine ergänzende Maßnahme zur Sicherstellung 48
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Seventy years, S. 491, 500 und 505. Luigi Giuliano, S. 185 ff.
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des Lebensunterhalts angesehen wird. Das Bestehen der Großfamilienstruktur hat im italienischen Sozialrecht sogar einen direkten Niederschlag gefunden. Während in der italienischen Rentenversicherung neben der Rente nur Familienleistungen für die Kinder und die Ehefrau, also nur für die Kleinfamilie gewährt werden, zahlt die italienische Arbeitslosenversicherung außerdem Leistungen für Eltern und Geschwister50, die zusammen mit den übrigen Mitgliedern die Großfamilie bilden. Auch in der Türkei, wo ebenfalls noch die Großfamilie das allgemeine gesellschaftliche Leben bestimmt, wird eine Elternrente gewährt. Die Elternrente hat in der Türkei eine wichtige gesellschaftspolitische Funktion, da die älteren Personen gewöhnlich noch keine eigenen Rentenansprüche erwerben konnten; dort wurde die Sozialversicherung erst im April 1950 eingeführt51 • In auffallendem Gegensatz zu den europäischen Staaten gewährt die Türkei dagegen keine Kinderzuschüsse zu den Renten. Dies hat dazu geführt, daß die deutschen Rentenversicherungsträger jedem türkischen Rentner den nach dem Sozialversicherungsabkommen zustehenden Anteil des Kinderzuschusses zahlen müssen. Allerdings ist ein eigener deutscher Rentenanspruch bisher noch selten gegeben, da die türkischen Wanderarbeitnehmer sich erst seit 1964 in größerer Zahl in Deutschland aufhalten. Renten werden in der Türkei fast ausschließlich nur für den Todesfall gewährt12 • 96,5 % aller Renten sind Hinterbliebenenrenten. Unter den Hinterbliebenenrenten zeigt sich jedoch eine eklatante Abweichung von dem im übrigen Europa bestehenden Verhältnis zwischen Witwenund Waisenrenten. Während die Waisenrenten nur rund 25 % aller Hinterbliebenenrenten ausmachen, überragen sie unter den türkischen Rentenberechtigten die Zahl der Witwenrenten erheblich. Dies ist um so auffallender, als die Waisenrenten nach deutschem Rentenrecht nahezu ausnahmslos mit Vollendung des 18. Lebensjahres eingestellt werden. Auf jede Witwe eines türkischen Versicherten entfallen nahezu 6 Waisen. An der Gesamtzahl aller Renten waren die Witwen am 1. 1. 1976 mit 14,50/0, die Waisen mit 82 % beteiligt. Dieser erdrückend hohe Anteil der Waisenrente zeigt auf den ersten Blick den andersartigen gesellschaftlichen Zustand dieses Landes. Zwar gibt es auch in der Türkei nur die Einehe, seit Atatürk 1926 das Schweizer Zivilrecht übernommen hatte. Trotzdem blieb die nach dem Koran erlaubte Vielehe 50 Luigi Giuliano, S. 50. Das deutsche Sozialversicherungsrecht kennt die Elternrenten nur in der Unfallversicherung (§ 596 RVO). Das Kindergeld und die Waisenrente werden in der deutschen Sozialversicherung ebenfalls an Enkel und Geschwister gezahlt, die der Versicherte in seinen Haushalt aufgenommen oder überwiegend unterhalten hat (§§ 654 Nr. 2 und § 1267 RVO i. F. des 19. RAG vom 3. Juni 1976). 51 Marten, Die Bedeutung des deutsch-türkischen Sozialversicherungsabkommens für die Leistungen der Rentenversicherung der Arbeiter, in: Mitteilungen der LVA Oberfranken und Mittelfranken, 1975, S. 142 ff.
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in den ländlichen Gegenden der Türkei weiterhin existent. Allerdings ist die Koranfrau nach türkischem Recht seit 1926 rechtlos; sie ist prak..; tisch geächtet. Daher kann sie als illegitime Beifrau auch keinen Anspruch auf eine Witwenrente erwerben. Ihre Kinder sind uneheliche Kinder. Der türkische Staat, der einerseits nicht mehr von seinem Zivilrecht abweichen wollte, hat andererseits nach 1926 zur Verringerung der gesellschaftlichen Spannungen in fast regelmäßigem Abstand von 4 bis 5 Jahren Sondergesetze erlassen, die es den Vätern erlaubten, ihre nach dem Gesetz unehelichen Kinder als eheliche anzuerkennen52 • Somit wurde die Möglichkeit einer legitimen Zugehörigkeit zum Vater geschaffen mit der Folge, daß auch für die Kinder der Koranfrau nach dem Tode des versicherten Mannes Waisenrente zu zahlen ist. Obgleich die Koranfrau selbst keine Witwenrente beanspruchen kann, bleibt sie somit berechtigt, für ihre Kinder die Waisenrente in Empfang zunehmen. Nicht immer tritt der andersartige soziale Hintergrund eines anderen Staates für den Praktiker so deutlich in Erscheinung. Eine rechtsvergleichende Betrachtung wird jedoch stets versuchen müssen, hinter der eigentlichen Sozialordnung auch deren Einbettung in die allgemeinen sozialen Bedingungen eines Volkes aufzuweisen. Nur wenn ein Vergleich der Sozialrechtsordnungen sich dieser Aufgabe unterzieht, wird er voreilige und oberflächliche Folgerungen vermeiden und die wesentlichen Bedingungen für eine soziale Befriedigung und Sicherheit eines Volkes erkennen lassen. Zusammenfassung Die unterschiedlichen Zwecke der Sozialversicherungsabkommen ermöglichen entweder keinen oder einen nur oberflächlichen Einblick in die Versicherungs systeme anderer Staaten. Aufschlußreich sind jedoch die Fälle der Zusammenarbeit, in denen Koordinierungsregeln fehlen oder zu fehlen scheinen. Stark voneinander abweichende Regeln über die Versicherungspflicht der Selbständigen und über die Anspruchsvoraussetzungen führten in der EWG zu Schwierigkeiten, die sich bei einer nicht nur formalen Betrachtung hätten vermeiden lassen. Schwierig ist die richtige Bewertung des sozialen Hintergrunds einer Sozialrechtsordnung, der allerdings in der Praxis nur selten sichtbar wird. 52 Kudret Ayiter, Das Staatsangehörigkeitsrecht der Türkei, in: Sammlung geltender Staatsangehörigkeitsgesetze, herausgegeben von der Forschungsstelle für Völkerrecht und ausländisches öffentliches Recht der Universität Hamburg, Band 31, Frankfurt - Berlin 1970, S. 33.
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Summary In view of the varying objectives of social insurance conventions the insurance systems of other countries can only be studied superficially or not at all. However, those cases of cooperation where rules of coordination are lacking or seem to be lacking are quite informative. Largely divergent regulations within the EEC on the compulsory insurance of theself-employed and on the conditions of claims have led to difficulties which could have been avoided by a less formal approach. It is difficult to correctly evaluate the social background of a social insurance system, which, it is true, hardly manifests itself in practice.
DISKUSSIONSBERICHT
Die Diskussion behandelte vornehmlich die Frage, welche Rolle im internationalen Sozialversicherungsrecht der Rechtsvergleichung zukommen könne. Insbesondere ging es darum, zu klären, in welchem Umfang aus der vom Referenten geschilderten Funktion der Rechtsvergleichung in diesem Bereich Ansätze für eine Methode der Sozialvergleichung zu gewinnen seien, die auch für den wissenschaftlichen Sozialrechtsvergleich nutzbar gemacht werden könnten. Es wurde an der Problematik angesetzt, welche sich aufgrund der Ungleichartigkeit einzelner nationaler Sozialrechtsordnungen ergibt, wo bei der Anwendung internationaler sozialrechtlicher Abkommen Systemberührungen stattfinden. Angeknüpft wurde dabei an das von dem Referenten angeführte Beispiel der funktionalen Gleichstellung von Versicherungszeiten in einzelnen Sozialversicherungsabkommen. Eine solche Gleichstellung mache in den beteiligten Vertragsstaaten die Feststellung entbehrlich, ob der Versicherte unter den gleichen Voraussetzungen auch in dem jeweiligen anderen Staat versichert wäre. Im Bereich eines solchen Abkommens habe etwa der deutsche Versicherungsträger die ihm von dem ausländischen Träger gemeldeten Zeiten so zu berücksichtigen, als ob es sich um nach den deutschen Vorschriften zurückgelegte Zeiten handele. Es komme dann nicht mehr darauf an, ob es sich um Versicherungszeiten oder etwa nur um reine Wohnzeiten handele. Diese Praxis könne dann zu Unzuträglichkeiten führen, wenn etwa einer ungleichartigen Berechnung der Versicherungszeiten auch eine Ungleichwertigkeit der hieran geknüpften Versicherungsleistung entspreche. In diesem Zusammenhang wurde die Frage aufgeworfen, ob und in welchem Umfang es möglich sei, derartige Unzuträglichkeiten jedenfalls dort aufzufangen, wo ein gewisser Toleranzbereich an Ungleichartigkeit überschritten werde. Problematisch sei etwa, ob - im Extremfall- eine Versicherungszeit, die in einem Land zu einer Rente in Höhe von DM 20,- führen würde, in der Bundesrepublik Deutschland auch dann angerechnet werden müsse, wenn hier eine Versicherungsleistung in Höhe von DM 1800,- aus ihr folgen würde? Was gelte für Leistungsberechtigte aus Ländern, die, wie etwa Schweden oder die Niederlande, eine Basissicherung im Sinne einer allgemeinen Staatsbürgerversorgung mit versicherungstechnisch orientiertem Aufbau-
Diskussionsbericht
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system kennen, in welchem Umfang seien für sie Zeiten aus ihren Heimatländern auch in solchen Ländern anzurechnen, in denen es ein gehobenes System sozialer Sicherung gebe, welches durchgängig nach dem Versicherungsprinzip aufgebaut sei? Für die praktische Anwendung von internationalen Sozialversicherungsabkommen sei an dieser Stelle festzuhalten, daß es im Geltungsbereich eines derartigen Abkommens auf die Gleich- bzw. Ungleichartigkeit der in ihm verbundenen Systeme nicht mehr ankomme. So müßten etwa die "figurativen Wartezeiten" des italienischen Rechts, die z. B. auch aus Zeiten der Krankheit oder der Schwangerschaft bestehen könnten, im Rahmen der deutschen Rentenversicherung voll angerechnet werden. Das gelte auch dann, wenn das deutsche Recht entsprechende Zeiten nicht als Wartezeiten anerkenne. Gleiches gelte auch für solche Zeiten, die allein nach italienischem, nicht hingegen nach deutschem Recht anspruchsbegründend seien. Ganz allgemein wurde zu diesem Problemkreis hervorgehoben, daß nach der Bedeutung des ausländischen Rechts dann nicht mehr gefragt werden müsse, wenn das Sozialversicherungsabkommen eine Koordination mehrerer Systeme vorsehe. Die Praxis sei hier allein auf die Anwendung des Abkommensrechts und der in ihm enthaltenen Koordinationsregeln beschränkt, so daß die Problemstellung sich für sie auf die Frage nach der Anwendbarkeit des Abkommensrechts verkürze. Die Problematik, die durch die mögliche Ungleichartigkeit der in einem Abkommen miteinander verbundenen Sozialsysteme aufgeworfen werde, stelle sich daher nicht für die Rechtsanwendung, sondern werde bereits zu einem früheren Zeitpunkt entschieden, nämlich dann, wenn bei der Aushandlung dieser Abkommen danach zu fragen sei, inwieweit sich ihr Inhalt in das jeweilige nationale System sozialer Sicherheit einpasse. Auch der Gesichtspunkt des ordre public könne im Stadium der Anwendung der Abkommen nicht mehr Platz greifen: Im Bereich des Abkommensrechts, d. h. im Rahmen des besonderen Völkerrechts, werde die Berücksichtigung dieses Gesichtspunktes durch die entgegenstehende vertragliche Regelung ausgeschlossen. Auf den ordre public könne nur dort abgestellt werden, wo das fremde Recht in anderer Weise als aufgrund eines völkerrechtlichen Vertrages angewendet werden solle; der ordre public biete hingegen keine Handhabe, im nachhinein als ungünstig erkannte Regelungen einmal ausgehandelter Abkommen einseitig zu korrigieren. Für die Rechtsvergleichung bedeute dies, daß sie zwar nicht mehr bei der Anwendung der Abkommen, dafür jedoch in um so größerem Maße in dem davorliegenden Stadium des Aushandelns und des Abschlusses
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Diskussionsbericht
des Abkommens Bedeutung erlange. Hier nämlich sei es für die Beurteilung der Auswirkungen, die ein solches Abkommen für den nationalen Bereich mit sich bringe, unerläßlich, das fremde Recht und seine Abweichungen zum eigenen Recht genau zu kennen. In diesem Zusammenhang wurde ein ganz allgemein für die Rechtsvergleichung geltender Grundsatz hervorgehoben: Es könne nicht genügen, nur auf die Einzelregelung des fremden Rechts abzustellen. Sie müsse vielmehr in dem systematischen Zusammenhang gesehen werden, in den sie gestellt sei, wobei möglicherweise die Entwicklungstendenzen des ausländischen Rechts Berücksichtigung finden müßten. Eine Vertragspartei habe sich dabei gegebenenfalls etwa die Frage vorzulegen, ob auch solche Ansprüche in ein bei ihr bestehendes Beitragssystem übernommen werden sollen, die sich im Ausland tendenziell in Richtung auf eine Finanzierung über die Steuer hin entwickeln. Gewisse Disharmonien zwischen nationalen Systemen würden immer nur in der Weise überbrückt werden können, daß eines der nationalen Systeme Elemente in der Begegnung zum anderen sozialen System preisgebe. Die Integrität des nationalen Systems, mit all ihren Implikationen wie etwa der Beitragsgerechtigkeit oder der Relation zwischen Einkommensentwicklung und Leistungen der sozialen Sicherheit, müsse als Wert dann in Relation zu der Fähigkeit der einzelnen Systeme zur grenzüberschreitenden Öffnung gesehen werden. Hier gehe es vor allem darum, Wanderungsbewegungen verstärkt zu ermöglichen, Gesichtspunkte, die letztlich auf eine Vergrößerung individueller Freiheit (Freizügigkeit) und auf die Schaffung größerer gemeinsamer Rechtsund Lebensräume abzielten. Die Abwägung gegenüber diesen Werten könne im Einzelfall dazu führen, daß demgegenüber der Preis eines "Systembruchs" im nationalen System geringer veranschlagt werde. Einigen der Probleme, die bei dem Abschluß internationaler Sozialversicherungsabkommen auftreten können, wurde in der Diskussion vertiefend nachgegangen. Unter dem Stichwort "Systemkonkurrenz" wurde die Frage erörtert, wie das Problem zu lösen sei, daß in verschiedenen Ländern inhaltlich an sich vergleichbare Regelungen häufig systematisch unterschiedlich eingeordnet werden. Dies könne insbesondere dann der Fall sein, wenn sie verschiedenen Zweigen sozialer Sicherheit zugeordnet würden, oder auch dann, wenn sie in dem einen Land an Voraussetzungen geknüpft würden, die in dem anderen Land nicht bekannt seien und daher dort auch nicht erfüllt werden könnten. Es wurde hier auf das von dem Referenten angeführte Beispiel aus Großbritannien Bezug genommen, wo der Anspruch auf Invalidenrente von einem vorhergehenden 168tägigen Bezug von Krankengeld abhängig gemacht sei. Mangelnde Koordination der Regelungen der nationalen Sozialversicherungsvorschriften habe hier dazu geführt, daß
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von Großbritannien Ansprüche auf Invalidenrente auch dann abgelehnt worden seien, wenn es im Ausland überhaupt nicht möglich war, diese Anspruchsvoraussetzungen zu erfüllen. Hierzu wurde darauf hingewiesen, daß diese Schwierigkeiten daraus herrührten, daß die betreffenden Versicherungsleistungen in den einzelnen Ländern unterschiedlichen Teilsystemen sozialer Sicherheit zugeordnet seien. So könne man die britische Regelung in der Weise interpretieren, daß es sich bei der 168-Tage-Regel gar nicht um eine Anspruchsvoraussetzung für die Invalidenrente handele, da letztere nach britischem Recht lediglich eine besondere Form langfristigen Krankengeldes sei; hier verbleibe der Betroffene nur innerhalb desselben Teilsystems. Nach deutschem Recht bedeute dagegen der übergang von der Krankenversorgung zur Invalidenrente gleich einen Wechsel in ein anderes Teilsystem sozialer Sicherheit. Es stelle sich hier die Frage, ob Koordinationsregeln nicht auch so gefaßt werden könnten, daß nicht zwischen einzelnen Zweigen der Systeme der sozialen Sicherheit verwiesen werde, sondern zwischen den betroffenen Gesamtsystemen als solchen. Es würde dann etwa verwiesen vom britischen System der sozialen Sicherheit in das deutsche und umgekehrt. Systemkonkurrenz würde - so begriffen Konkurrenz verschiedener Systeme sozialer Sicherheit. Dem Problemkreis der Systemkonkurrenz seien auch die unterschiedlichen Auffassungen zuzuordnen, die zu der Regelung der Tuberkulosenhilfe in § 1244 a RVO vertreten worden seien. Die Tuberkulosenhilfe sei im deutschen Recht zwischen Krankenversicherung, Rentenversicherung und Sozialhilfe aufgeteilt und in allen 3 Bereichen angesiedelt. Das Bundessozialgericht habe zunächst eine Anrechnung ausländischer Versicherungszeiten auf die besondere Wartezeit des § 1244 a RVO mit der Begründung abgelehnt, daß diese Leistung auf besonderen gesundheitspolitischen Erwägungen beruhe; sie diene der Seuchen bekämpfung und habe insoweit eine gesundheitspolizeiliche Funktion. Sie sei deshalb keine Krankenleistung im eigentlichen Sinne und werde somit von den EWG-Verordnungen nicht erfaßt. Der EuGH habe sich demgegenüber auf den Standpunkt gesteIlt, daß auch hier eine Krankheitsleistung vorliege. Das Bundessozialgericht habe sich dieser Auffassung inzwischen angeschlossen und entschieden, daß eine Ausklammerung aus der Krankenversicherung nicht schon deshalb gegeben sei, weil § 1244 a RVO mit der Seuchenbekämpfung zugleich auch anderen Zielsetzungen als der reinen Krankenversorgung diene. Dieses Beispiel zeige anschaulich, daß letztlich nicht die mehr oder weniger zufällige organisatorische Einordnung im nationalen System sozialer Sicherheit den Ausschlag geben dürfe. Es müsse vielmehr auf eine inhaltliche Analyse und Bewertung der einzelnen Regelungen ~b-
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gestellt werden. Diese Notwendigkeit zeige zugleich, wie tief in diesem Zusammenhang bei der auslandsrechtskundlichen bzw. rechtsvergleichenden Arbeit in die fremde Rechtsordnung eingestiegen werden müsse. Auch diejenigen Schwierigkeiten wurden angesprochen, die auftreten können, wenn jemand zum Bezug gleichartiger Sozialleistungen in mehreren Ländern berechtigt ist. Eine derartige Kumulation von Sozialleistungen könne z. B. dann auftreten, wenn die Voraussetzungen für einen Rentenversicherungsanspruch in verschiedenen Ländern erbracht würden. Die Sozialversicherungsabkommen sähen hier nicht etwa eine konzentrierte Zuständigkeit nur eines Rententrägers vor: Es bestehe - möglicherweise erst aufgrund der Anrechnung von Wartezeiten - vielmehr in jedem Land ein besonderer Rentenanspruch, dessen Höhe sich nach den in diesem Lande erbrachten Beitragszeiten richte. Probleme träten hier dann auf, wenn eine Leistung nicht allein im Verhältnis zu der jeweiligen Versicherungszeit berechnet werde. Dies sei vor allem dort der Fall, wo, wie etwa in Italien, eine Rentenanhebung in jedem Falle bis auf einen bestimmten Mindestbetrag vorgenommen werde. Die Kumulation der Teilrenten in den einzelnen Ländern könne hier dazu führen, daß der Versicherte mehrfach in den Genuß einer derartigen Anhebung auf einen Mindesstandard gelange. Es könne so die Summe der Leistungen, die der Versicherte von den einzelnen Leistungsträgern erhalte, insgesamt höher sein als die Versicherungsleistung, die er erhielte, wenn dieselbe Versicherungszeit nur in einem einzigen Lande zurückgelegt worden wäre. Der Versicherte sei so möglicherweise gegen das Risiko, wegen geringer Beitragszeit zur Rentenversicherung nur eine unzureichende Rente zu erhalten, in mehreren Systemen und damit mehrfach abgesichert. Er gelange so in den Genuß eines Vorteils, der letztlich darauf beruhe, daß mit dieser zusätzlichen Risikoabdeckung eine Systemunregelmäßigkeit in die allein nach Versicherungszeiten vorgenommene Leistungskumulation hineingetragen werde. In der Rechtsprechung des EuGH werde dennoch eine Angleichung derartiger Unregelmäßigkeiten nicht zugelassen: Es sei hierfür vor allem wohl die Überlegung entscheidend gewesen, daß durch die Harmonisierungsbestrebungen im Bereich der Europäischen Gemeinschaften Nachteile für einzelne Wanderarbeitnehmer ausgeschlossen werden sollten, während eine Verpflichtung zur Verhinderung von möglicherweise nicht gerechtfertigten Vorteilen nicht angenommen worden sei. Im Zusammenhang mit der Fortenwicklung des europäischen Gemeinschaftsrechts wurde auf die vom Referenten bereits erwähnte Ten..;
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denz eingegangen, in den einschlägigen EWG-Verordnungen vom Begriff des "Arbeitsnehmers" abzugehen und ihn durch den Begriff der "versicherten Person" zu ersetzen. Diese Tendenz sei im Zusammenhang mit den allgemeinen Harmonisierungsbestrebungen innerhalb der Europäischen Gemeinschaften zu sehen, die ihrerseits in entscheidendem Maße der Ergebnisse rechtsvergleichender Arbeit bedürften. Die ursprüngliche Anknüpfung allein an den Arbeitnehmerbegriff sei im Zusammenhang zu sehen mit der Durchsetzung der Freizügigkeit im EG-Bereich, die im EWG-Vertrag prinzipiell den Selbständigen in gleichem Maße gewährt werde wie den Arbeitnehmern. Was den Wanderarbeitnehmer anbetreffe, so setze diese Realisierung der Freizügigkeit unmittelbar seine Einbeziehung in die Sozialversicherungen der Vertragsstaaten voraus. Demgegenüber sei die Freizügigkeit der Selbständigen bislang nur durch die Niederlassungsfreiheit verwirklicht worden; von einer sozialversicherungsrechtlichen Integration habe man abgesehen, da nicht alle nationalen Systeme sozialer Sicherheit den Selbständigen mit einbezogen hätten. In Anbetracht fortschreitender Eingliederung der Selbständigen in eine zunehmende Zahl der nationalen Sozialversicherungssysteme der EG-Staaten - dies insbesondere nach dem Beitritt Großbritanniens - erscheine es nunmehr nur konsequent, dieser Entwicklung auch auf der supranationalen Ebene Rechnung zu tragen. Mit dem übergang auf die Anknüpfung an den Begriff der "versicherten Person" würden es die EWG-Verordnungen auch dem Selbständigen ermöglichen, beim überwechseln von einem Mitgliedstaat der EG in einen anderen das bereits erworbene Maß an sozialer Sicherheit "mitzunehmen", wodurch vermieden werde, daß der Wechsel zum Verlust bereits erworbener sozialversicherungsrechtlicher Anwartschaften führe. Umgekehrt könne von der gerade erwähnten supranationalen Tendenz zur Einbeziehung der Selbständigen im Rahmen des EG-Rechts auch ein Impuls in Richtung auf eine Harmoniniserung der nationalen Systeme sozialer Sicherheit ausgehen. Bei der Erarbeitung internationaler oder auch supranationaler sozialversicherungsrechtlicher Regelungen tauchten schließlich besondere Probleme insoweit auf, als dabei auf die jeweiligen gesellschaftlichen Besonderheiten der beteiligten Länder Bedacht zu nehmen sei. So führten z. B. die häufig sehr großen Unterschiede in den Familienstrukturen und ihre Widerspiegelung in den einzelnen nationalen Rechtsordnungen mitunter zu problematischen Ergebnissen. So wurde in Anlehnung an das von dem Referenten dargelegte Beispiel der Auswirkungen der türkischen Koranehe auf das deutsche Rentenrecht die Frage aufgeworfen, ob in solchen Fällen immer an die ausländische Familienrechtsregelung angeschlossen werden müsse i ob es
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sich nicht vielmehr empfehle, nach einer gesonderten sozialrechtlichen Anknüpfung zu suchen. Für eine derartige gesonderte Anknüpfung, für die es Parallelen im 'Kollisionsrecht gebe (vgl. in diesem Zusammenhang das Referat von Herrn Professor von Maydell und die anschließende Diskussion), wurde vor allem der Gesichtspunkt der Gleichbehandlung vorgebracht; es müsse vermieden werden, daß - um bei dem Beispiel des Referenten zu bleiben - die Waisenrentenberechtigung z. B. für Türken leichter zu erreichen sei als für Deutsche. Andererseits wurde jedoch bezweifelt, ob es richtig sei, den Gesichtspunkt der Gleichbehandlung lediglich auf die Anbindung eines Teilbereichs des Systems sozialer Sicherung zu beziehen, also z. B. allein die möglicherweise günstigere' Stellung von Türken im Rentenrecht zu berücksichtigen. Denn der größeren Anzahl von Waisenrenten im Beispielsfall zugunsten türkischer Arbeitnehmer entspreche umgekehrt eine geringere Inanspruchnahme der Altersrentenversicherung durch denselben Personenkreis; aufgrund der geringeren Lebenserwartung in der Türkei sei es derzeit nämlich so, daß Altersrenten an Türken in vergleichsweise weitaus geringerer Zahl erbracht würden als an Deutsche, so daß die von türkischen Arbeitnehmern erbrachten Beiträge in größerem Umfange der Alters,:, sicherung deutscher Staatsbürger zugute kämen. Auch eine allein sozialrechtlich ausgerichtete Anknüpfung sei allerdings nicht unproblematisch. So bestehe z. B. in Belgien ein Anspruch auf Kindergeld bereits dann, wenn der Anspruchsteller den Unterhalt eines Kindes tatsächlich zu mehr als 50 Ofo erbringe; auf die familienrechtliche Verwandschaftsbeziehung komme es dann nicht mehr an. In einigen Fällen der Auslandsberührung mit Marokko sei es hier dazu gekommen, daß für eine große Anzahl von Kindern - in Einzelfällen für bis zu 40 Kindern - Kindergeldansprüche für marokkanische Arbeitnehmer in Belgien entstanden; dies, obgleich umgekehrt das marokkanische Recht die Kindergeldgewährung an sehr viel engere Voraussetzungen knüpfe, so daß entsprechende Ansprüche nach marokkanischem Recht nicht hätten entstehen können. Die Schwierigkeit habe hier weniger in der Erstreckung der belgischen Regelung auch auf diese Auslandsfälle gelegen als vielmehr darin, daß dabei die unterschiedlichen Lebensverhältnisse in den beteiligten Ländern nicht hinreichend berücksichtigt worden seien: Angesichts des niedrigen Lebensstandards in weiten Gebieten Marokkos sei es durchaus möglich, allein von dem belgischen Kindergeld den Unterhalt eines Kindes zu mehr als der Hälfte zu finanzieren. Zu den geschilderten Extremfällen habe es deshalb kommen können, weil die bedingungslose Einbeziehung auch von in Marokko lebenden Kindern erfolgt sei, ohne daß den besonderen Gegebenheiten in Marokko Rechnung getragen worden wäre. Einig";
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keit bestand unter den Diskussionsteilnehmern darüber, daß ganz allgemein bei dem Abschluß von internationalen Sozialversicherungsabkommen eine größtmögliche Kenntnis des darin mit dem deutschen Recht verbundenen fremden Sozialversicherungsrechts erforderlich sei. Die bedeutende Aufgabe, die der Rechtsvergleichung hier zukomme, stehe außer Frage. Aber auch für die Praxis liege hier eine wichtige Aufgabe: Dies nicht so sehr, weil sie mit dem fremden Recht arbeiten müsse; hier habe sich ja eine weitgehende Beschränkung auf die Anwendung der Sozialversicherungsabkommen gezeigt. Der praktischen Arbeit mit dem Abkommen komme hier jedoch die wichtige Aufgabe zu, Anregungen zu erteilen für eine möglicherweise notwendige Korrektur der Regelungen des internationalen Sozialversicherungsrechts (vgl. das oben erwähnte marokkanische Beispiel) oder neue Entwicklungen in die Wege zu leiten. Erst in der täglichen Praxis zeige sich häufig, wo brauchbare Lösungen gefunden worden seien, und wo es umgekehrt zu Systembrüchen gekommen sei. So wurde im Zusammenhang mit der Problematik der Anrechnung ausländischer Versicherungszeiten die Frage aufgeworfen, inwieweit überhaupt die vom deutschen Recht geforderte Leistungsvoraussetzung der Erfüllung von Wartezeiten noch eine Berechtigung habe. In diesem Zusammenhang wurde darauf hingewiesen, daß die Vorstellungen im Ausland zum Teil bereits weiter in Richtung auf den Ausbau eines selbständigen Systems sozialer Sicherung i. e. S. entwickelt seien als dies in der Bundesrepublik Deutschland der Fall sei. Das deutsche System sei auch heute noch in wesentlichen Punkten von Grundsätzen bestimmt, die auf einer privatversicherungsrechtlich orientierten Denkweise beruhten. Dieser letzte Gedanke zeige, in welchem Maße die Rechtsvergleichung auch die sozialpolitische Diskussion um Entscheidungshilfen und Anregungen bereichern könne. Bearbeiter: Schulte / Simons
Das rechtsvergleichende Forum der IAO Von J. J. M. van der Yen Was ergeben die Erfahrungen bei der Kontrolle der Durchführung internationaler Sozialrechtsabkommen für die Ziele und Methoden, insbesondere für die Kategorien des Sozialrechtsvergleichs? van der Yen 1. Sozialrechtsvergleichung in der IAO
Im Rahmen der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) steht Sozialrecht auf der Tagesordnung. Rechtsvergleichung auf diesem Gebiet gibt es in zwei Richtungen, einmal horizontal, zum andern vertikal. Damit ist gemeint, daß sowohl Rechtsvergleichung auf formaljuristisch gleicher Ebene, zwischen nationalen Gesetzgebungen untereinander, wie auch Vergleichung zwischen Rechtsordnungen ungleichen Ranges, namentlich zwischen internationalen Rechtsinstrumenten (der IAO) und nationalen Gesetzen durchzuführen ist. In diesem Referat beschränken wir uns in der Hauptsache auf die vertikale Rechtsvergleichung, da aus persönlichen Erfahrungen eines Mitglieds der "Commission d'experts pour l'application des conventions et recommandations" (im folgenden: die Kommission) zu berichten ist. Wie sich aus diesem Namen schon ableiten läßt, hat sich die Kommission mit dem vertikalen Rechtsvergleich zu beschäftigen, da die Anwendung von Abkommen und Empfehlungen in den Gesetzgebungen der Mitgliedstaaten zu untersuchen ist. Es sei aber im voraus vor allzu großen Erwartungen gewarnt, und zwar aus drei Gründen: Erstens ist das Gebiet, auf dem sich die IAO in ihren Aktivitäten auch bezüglich der vertikalen Sozialrechtsvergleichung bewegt, viel weiter als das Gebiet des Sozialrechts, so wie es für dieses Colloquium umrissen worden ist. Auch das weitest abgesteckte Feld des Arbeitsrechts gehört "aus der Natur der Sache" zum Tätigkeitsgebiet der IAO und liefert somit die Themen für manche Abkommen, die aber für das heutige Anliegen außer Betracht zu bleiben haben. Das Sozialrecht stellt zwar einen gewichtigen Teil dar - aber auch nicht mehr als einen Teil- der Vergleichsarbeiten der Kommission1 • .1 Bei einer vorläufigen Bestandsaufnahme scheinen mir etwa 40 Abkom'; men der lAO voll oder jedenfalls hauptsächlich ihrer Thematik nach.zum
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Zweitens - und umgekehrt - lassen sich im Sozialrecht Themen denken und auch aufweisen, die von der IAO in ihren Instrumenten bloß gelegentlich gestreift oder überhaupt nicht bearbeitet werden2 • Es gibt also keine reine Parallelität zwischen internationalem Sozialrecht und dem Recht der IAO. Es sind hier vielmehr zugleich ein Mehr und ein Weniger zu vermerken. Drittens - und dies scheint mir wohl am wichtigsten - hat die Rechtsvergleichung in der Kommission nicht den von der Projektgruppe verfolgten Zweck der Theorie- und Methodenbildung für die Sozialrechtsvergleichung, sondern bezweckt ganz einfach und pragmatisch, Mitgliedstaaten der IAO, nationale Regierungen also, zu möglichst genauer Anpassung ihrer nationalen Gesetzgebung an ratifizierte eventuell auch an noch nicht ratifizierte - Übereinkommen oder an Empfehlungen der lAO zu bewegen. Es läßt sich allenfalls hinterher feststellen, ob und inwiefern dabei eine eigene Methodik ausgearbeitet und konsequent befolgt wird, die zudem in eine saubere Methodologie umgeprägt und als solche präsentiert werden könnte 3 • Schlußfolgerungen werden darum bescheiden ausfallen müssen. Nur unter diesen Voraussetzungen wende ich mich der mir hier zugewiesenen Aufgabe zu.
2. Das Material Das Material, das der Kommission für ihre rechtsvergleichende Arbeit vorliegt, besteht zu einem Teil aus den gesamten 144 Abkommen, welche die IAO bisher4 verabschiedet hat, zum anderen Teil aus den hier angenommenen Begriff des "Sozialrechts", in Sond€rheit zum Recht der sozialen Sicherheit zu zählen. Die übrigen 100 fallen vielmehr in den weiten Bereich des eigentlichen Arbeitsrechts. 2 Das Referat von Professor von Maydell spricht von solchen Themen, die kaum einen Widerhall in den IAO-Abkommen finden. a In der Rechtsvergleichung, die sich vielfach auf die horizontalen Dimensionen, also auf den Vergleich gleichrangiger Gesetze und Institutionen zweier oder mehrerer Rechtsgemeinschaften beschränkt, haben sich die Methoden und M€thodologien allmählich aus der Praxis entwickelt, einer Praxis, die entweder in wissenschaftlicher Neugier ihren Ursprung hatte, oder auf Harmonisierung und Vereinheitlichung abzielte. Ohne an den bahnbrechenden Arbeiten von Ancel und David, von Gutteridge und Lambert, von Kahn-Freund, Schnitzer und Zweigert vorbeizugehen, verweise ich hier auf einige neue Monographien zur rechtsvergleichenden Methodik im niederländischen Sprachbereich: M. C. Burkens, Methodologie von staatsrechtlijke rechtsvergelijking, und J. G. Sauveplanne, De methoden van privaatrechtelijke rechtsvergelijking, zwei Gutachten für die niederländische Vereinigung für Rechtsvergleichung, Deventer 1975 (45 bzw.54 S€iten, mit weiteren Literaturhinweisen). 4 Hier wird auch für die nachstehenden Zahlenangaben - auf den Stand des·1. Juli 1976, also nach Schließung der letzten Allgemeinen Arbeitskonferenz, Bezug genommen.
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Gesetzgebungen der bisher 132 Mitgliedstaaten, soweit sich diese Gesetzgebungen mit gleichen oder vergleichbaren Themen wie die Abkommen befassen. Der Begriff des Materials kann und muß allerdings noch weiter gefaßt werden, indem auf internationaler Ebene neben den Abkommen auch die Empfehlungen5 in den Vergleich einbezogen werden, und auf der nationalen Ebene nicht nur formelle Gesetze, sondern auch Rechtsprechung und Rechtspraxis ins Auge gefaßt werden müssen. Auf dieses zuletzt erwähnte Material der Rechtswirklichkeit muß später (unter 7 und 8) näher eingegangen werden. Neben diesen vornehmlich formaljuristischen Materialien stehen die Berichte, welche von den Mitgliedstaaten pflichtgemäß eingereicht werden. Darin wird, sachgerechte Berichterstattung vorausgesetzt, von jedem Mitgliedstaat gewissermaßen schon der ihn betreffende Rechtsvergleich vorgenommen, indem das nationale Recht am Maßstab der lAD-Instrumente geprüft wird und eventuelle Unstimmigkeiten vermerkt und erklärt werden, wobei gegebenenfalls auch auf laufende Gesetzgebungsvorhaben hingewiesen wird. Das hierfür erforderliche Material steht aber beileibe nicht immer und überall in gleicher Fülle und Qualität zur Verfügung. Natürlich liegen die Texte der lAD-Abkommen und Empfehlungen immer vor. Soweit dies gewünscht wird, können auch ihre Entstehungsgeschichte und ihre sonstigen Hintergründe im Internationalen Arbeitsamt, seinem Archiv, seiner Bibliothek, und, nicht zu vergessen, seinem ständigen Arbeitsstab, leicht zurückverfolgt werden. Die nationalen Gesetzestexte liegen der Kommission jedoch nicht immer vollständig und nicht immer auf dem letzten gesetzgeberischen Stand vor. Informationen über ihre historische, ökonomische, soziale, kulturelle Bedeutung sind noch viel schwieriger erreichbar. Ihre Aus';' wirkungen in Rechtsprechung und Rechtspraxis sind des öfteren nur ganz lückenhaft oder gar nicht bekannt. Diese Unvollständigkeit hängt damit zusammen, daß die Berichterstattung durch die Regierungen nicht konsequent den von der lAD dazu ausgegebenen Fragebögen folgt, weshalb die nationalen Berichte oft allzu mangelhaft sind, nur teilweise die verlangte Auskunft erteilen oder in nicht einmal seltenen Fällen Jahr um Jahr gänzlich fehlen 6 • Die 5 Die Zahl der Empfehlungen ist mittlerweile auf 152 gestiegen. Die Konventionen und Empfehlungen sind als echte Rechtsinstrumente, also als Regelungen mit eigener Rechtswirkung zu betrachten. Vgl. Nie. Valtieos, Droit international du travail (Bd. VIII von G. H. Camerlynck, Hrsg., Traite de droit du travail), Paris 1970, mit einer Mise a jour 1973, besonders §§ 150156. Vgl. aber zur Rechtskraft von Empfehlungen G. I. Tunkin, Das Völkerrecht der Gegenwart, Berlin (DDR) 1963, S. 104. • In ihren Berichten sieht sich die Kommission denn auch veranlaßt, solche Mängel zu vermerken, wozu sie eine Skala von Formeln entwickelt hat.
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Materialien, die für eine tragfähige und wissenschaftlich einwandfreie Rechtsvergleichung benötigt würden, sind infolgedessen in mancherlei Hinsicht dürftig. Nichtsdestoweniger soll der erforderliche Vergleich zwischen internationalen Instrumenten und nationalen Rechten alljährlich durchgeführt werden. Welches ist nun das Organ, dem diese rechtsvergleichende Arbeit in concreto zugewiesen ist?
3. Die Kommission Das "Committee of Experts for the Application of Conventions and Recommendations" wurde 1927 von der IAO ins Leben gerufen 7, begeht somit im nächsten Jahr seine 50-Jahrfeier. Es zählt heute 18 Mitglieder. Sie werden vom Verwaltungsrat der IAO auf Vorschlag des Generaldirektors bestellt, und zwar grundsätzlich unter dem Gesichtspunkt anerkannter Sachverständigkeit, einwandfreier Unabhängigkeit und unterschiedlicher nationaler Herkunft. So setzt sich die Kommission zur Zeit aus fünf Westeuropäern (je einem aus den drei großen und zwei kleineren Industrieländern), drei Osteuropäern (neben einem sowjetrussischen auch einem polnischen und einem jugoslawischen Experten), drei Afrikanern (aus Ägypten als einem arabischen Mittelmeerland, aus Madagaskar und aus Nigeria, zwei ehemaligen - französischen bzw. englischen - Kolonialgebieten), drei Asiaten (einem Japaner, einem Inder und einer Pakistani, dem einzigen weiblichen Mitglied) und vier Amerikanern (je ein Mitglied aus den Vereinigten Staaten, aus einem großen, einem kleineren südamerikanischen und einem karibischen Land) zusammen. Ob mit dieser Verteilung das höchst denkbare Maß an Gleichgewicht erreicht ist, möge dahingestellt bleiben. Wesentlich ist allerdings, daß man sich nicht als Repräsentant seines Landes, sondern als völlig unabhängig und unbefangen zu betrachten und zu fungieren hat. Mit einer einzigen Ausnahme, die wohl unmittelbar mit politischen, ja weltanschaulichen Ansichten zusammenhängt und auf die wir später (unter 9) nach zurückkommen, kann man zwar eine Divergenz der Meinungen, nicht aber eine fundamental unterschiedliche Denkweise etwa zwischen West und Ost (dem fernen Osten) oder zwischen Nord und Süd feststellen. Die Frage sei hier aufgeworfen - ich wage nicht, sie zu beantworten -, ob das vergleichende Rechtsdenken überhaupt für die oft unbestreitbaren tiefen Divergenzen in den Denktraditionen verschiedener Kulturen anfällig ist8 • 7 Darüber: F. M. Baron van Asbeck, der jahrelang Kommissionsmitglied war, Une Commission d'Experts, in der Festschrift Symbolae Verzyl, The Hague 1958; Valticos, §§ 635 ff., der neben van Asbeck noch andere Literatur erwähnt.
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Die fachliche Qualifikation der Kommissionsmitglieder liegt weniger auf dem typischen Gebiet der Rechtsvergleichung als rechtswissenschaftlicher Disziplin als vielmehr auf dem von Arbeits- und Sozialrecht, auch von Völkerrecht und internationalem Privatrecht, teilweise auch auf dem der Rechtsprechung allgemein, oder sie leitet sich aus politischen und diplomatischen Erfahrungen ab. So wird die Kommission gebildet von Professoren, teilweise schon emeritiert, Präsidenten (aktiv oder ehemalig) oberster Gerichtshöfe, ehemaligen Ministern und Diplomaten.
4. Die Arbeitsweise Die so zusammengesetzte Kommission würde, sich selbst überlassen, dem trotz seiner Fülle recht unzulänglichen Material9 ziemlich hilflos gegenüberstehen, wenn nicht ihre Sitzungen (alljährlich in der zweiten Märzhälfte) in den Büros des Internationalen Arbeitsamtes (Genf) stattfänden und ihr dort der ständige und ausgezeichnete Stab qualifizierter Juristen (Abteilung für die internationalen Normen der Arbeit) unerläßlichen Beistand leisten würde. In dieser Abteilung wird eine umfangreiche Vorarbeit geleistet, so daß die Kommission die benötigten Vorentwürfe für ihre Berichterstattung und eine ständige Beratung während der Sitzungen vorfindet10 • Sämtliche Abkommen sind in der Kommission auf die Mitglieder verteilt, so daß jedes Mitglied für eine Anzahl von Abkommen die Veranwortung trägt, die öfters um das gleiche Hauptthema (etwa Organisationsfreiheit, Zwangsarbeit, Entlohnungsnormen, soziale Sicherheit, Arbeitsinspektion) gruppiert sind. Insofern hat jedes Mitglied der Kommission innerhalb derselben eine direkte und individuelle Verantwortung. Der Text des Kommissionsberichtes (rund 250 Seiten), worin sich der gesamte Befund der Untersuchungen niederschlägt, wird ausschließlich in Plenarsitzungen, also kollektiv festge8 In mehreren Aufsätzen hat sich der Referent mit dem Rechtsdenken befaßt, ohne aber diese spezielle Frage behandelt zu haben. Vgl. J. J. M. van der Ven, Die Rechtswissenschaft und ihre methodologische (gemeint war: in ihrer methodologischen) Problematik, in: Festschrift für Erich Fechner, Tübingen 1973; ders., Das juridische Denken und das Juridische denken, ARSP LXII (1976); und in niederländisch ders., De beoefening van het privaatrecht als discipline van juridisch denken (Privatrechtspflege als Disziplin des juristischen Denkens), in: Van Opstallbundel, Deventer 1972. 9 Oder auch: dem trotz seiner Unvollständigkeit recht umfangreichen Material. ' 10 Infolge eines 2jährigen Turnus sind nicht alle Abkommen und Empfehlungen jedes Jahr an der Reihe. Nachdem die Kommission in ihren Berichten von 1969 und 1971 über ihre Methoden und Arbeitsverfahren detaillierte Mitteilungen aufgenommen hatte, meldet sie in ihrem letzten Bericht (1976, § 23) eine kritische überprüfung und eine Revision ihrer Arbeitsweise für ihre Sitzung 1977 an. .
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setzt. Die Entwürfe dazu werden von den verantwortlichen Experten vorgelegt, nachdem sie vor den Sitzungen den übrigen Mitgliedern zu... geleitet woden sind. Das alles soll in einer Zeitspanne von zwei Wochen bewältigt werden. Die Kommission als solche kann auf der Grundlage der viel gründlicheren und umfassenderen Vorarbeiten eigentlich lediglich den "finishing touch" besorgen und das Endergebnis in ihre Verantwortung übernehmen und unter ihre Autorität stellen. Der Generalbericht der Kommission, der die Mehrzahl der Abkommen der lAO berücksichtigt, ist für das höchste Organ der lAO, die allgemeine Arbeitskonferenz bestimmt, wo er zu den wichtigsten Dokumenten für die fast vierwöchige Jahressitzung (im Juni) gerechnet wird. Ein eigener Ausschuß der Konferenz, der weit über 100 Mitglieder verschiedener sozialer und politischer Provenienz zählt, befaßt sich ausgiebig mit diesem Bericht und informiert darüber die Vollkonferenz. Dort wird das ganze noch einmal kritisch diskutiert. Der Bericht der Kommission wird zusammen mit dem Bericht des oben erwähnten Ausschusses dann von der Konferenz meistens bestätigtl l. Darüber hinaus hat die Kommission, ebenfalls kollektiv und auf der Basis individueller Vorarbeit, ihre rechtsvergleichenden Untersuchungen auch in andere Dokumente einfließen zu lassen, und zwar geschieht das auf zwei Weisen: erstens durch sogenannte Direktanfragen, wobei sich die Kommission brieflich an Regierungen wendet, um nähere Auskunft wegen gewisser Unklarheiten zu erbitten oder um auf kleinere, mehr technisch als grundsätzlich einzuschätzende Unzulänglichkeiten aufmerksam zu machen. Der Wortlaut solcher Anfragen bleibt dem bilateralen Briefverkehr vorbehalten, gelangt also nicht in gedruckter Form an die Öffentlichkeit. Ein Dokument dagegen, das wie der Generalbericht veröffentlicht wird, ist der Sonderbericht über eine "etude d'ensemble", worin alljährlich auf Weisung des Verwaltungsrates ein bestimmtes übereinkommen (mit oder ohne eine dazugehörige Empfehlung) oder eine einzelne Empfehlung besonders umfassend auf seine Durchführung oder auch Nicht-Durchführung in jedem Mitgliedstaat untersucht wird. Von jeder Regierung soll dazu ein eigener Bericht eingereicht werden. Eine solche rechtsvergleichende Monographie erstreckt sich über 50 bis 100 Seiten12 • Es wäre verwegen zu behaupten, daß die Kommission in der Lage ist, in ihrer umfangreichen Arbeit den anstehenden Sozialrechtsvergleich in vollem Umfange und erschöpfend durchzuführen. 11 Die allgemein zugänglichen Sitzungsprotokolle geben darüber jede gewünschte Auskunft. 12 z. B.: im Jahre 1974: Das Ende des Arbeitsverhältnisses (Empfehlung 119, 1963, 116 S.); 1975 (Jahr der Frau): Gleichheit der Entlohnungen (Abkommen 100 und Empfehlung 90, beide 1951, 89 S.); 1976: Beratung auf wirtschaftlicher und nationaler Ebene (Empfehlung 113, 1960, 54 S.).
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5. Die Zielsetzung Soviel über den äußeren Rahmen, in dem sich die Sozialrechtsvergleichung in der IAO abspielt. Bevor wir uns den methodischen Problemen, welche dabei auftauchen, und den daraus resultierenden Ergebnissen zuwenden, wollen wir uns die Zielsetzung dieser Rechtsvergleichung noch einmal vor Augen führen, denn wie immer wird auch hier die Methodik weitgehend von der Zielsetzung bestimmt1 3• Für die IAO ist es von entscheidender Bedeutung, ja die eigentliche "raison d'etre", ob und wie ihre Instrumente-Konventionen und Empfehlungen - in die Gesetzgebung ihrer Mitgliedstaaten eingehen und in der nationalen Rechtspflege verwirklicht werden14 • Unter Aufrechterhaltung ihrer (quasi-)richterlichen Aufgaben, nämlich ein klares Urteil über die Anpassung oder die Anpassungsmängel nationaler Gesetzgebung an die lAO-Instrumente zu fällen, versucht die Kommission so vorzugehen, daß durch ihre Berichterstattung zunächst der Sonderausschuß, dann die Vollversammlung in die Lage versetzt werden, möglichst praktische Erfolge zu erzielen. Man sollte dabei nicht aus dem Auge verlieren, daß die Kommission (wie auch die allgemeine Konferenz und ihr Sonderausschuß) nur informierend, keineswegs rechtsgestaltend tätig werden können. Die Kommission kann allenfalls von Jahr zu Jahr auf dieselben Umstimmigkeiten hinweisen, sie kann aber keine nationalen Gesetze abändern, erneuern oder außer Kraft setzen. Die Kontrollarbeit der IAO, nun als Rechtsvergleich betrachtet, steht infolgedessen in der Mitte zwischen der Tätigkeit einer rechtsprechenden Instanz, die, indem sie Gesetze an Rechtsregeln höheren Ranges mißt, ihnen gegebenenfalls jede Rechtsgeltung abzusprechen vermag, und andererseits einer wissenschaftlichen Tätigkeit, die rein theoretisch ejne Rechtsvergleichung ohne irgendwelche praktische Konsequenzen durchführt. Wir haben es hier mit einer Rechtsvergleichung zu tun, die den praktischen Zweck verfolgt, darauf hinzuwirken, daß nationale Gesetze nach Maßgabe der IAO-Instrumente geändert werden, ohne daß aber im übrigen im geringsten eine derartige Änderung zwangsweise herbeigeführt werden könnte. Die Eigenart dieser Rechtsvergleichung ist es, daß sie einerseits mehr ist als rein theoretische oder akademische Rechtsvergleichung, zugleich aber weniger als die oben erwähnte Rechtsprechungstätigkeit, da sie nicht über Sanktionsmög13 Ein paar Bemerkungen dazu bei J. J. M. van der Ven, Rechtsvergelijking, een rechtstheoretisch probleem, in der Festschrift für I. Kisch, 't Exempel dwinght, Zwolle 1975. Anders über den Zusammenhang zwischen Zielsetzung und Methodik J. G. Sauveplanne, a.a.O. 14 Die Ratifizierung eines Abkommens genügt nicht, um die rechtliche Wirklichkeit genau nach den Normen des Abkommens zu gestalten. über die hier auftauchende Problematik des "non-self-executing" der Abkommen: Valticos, §§ 643·ff.
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lichkeiten verfügt. Eben deshalb ist diese Art der Rechtsvergleichung zwar strikt juristisch, zugleich aber unter dem Vorzeichen "diplomatischen Taktes" durchzuführen. Eine schroffe Stellungnahme verbietet sich schon deshalb, weil nicht die Möglichkeit des erwünschten Dialoges mit den nationalen Gesetzgebungsinstanzen erschwert oder blokkiert werden soll.
6. Das Sprachenproblem Wegen ihrer Universalität hat es die internationale Rechtsvergleichung in der IAO vorrangig mit dem Problem der Sprache zu tun. Bei ihren eigenen Instrumenten ist diese Schwierigkeit, wenn einmal die Texte definitiv vorliegen, relativ gering. Der englische und der französische Text sind beide authentisch. Es darf unterstellt werden, daß derjenige, der sich mit dem internationalen Rechtsvergleich beschäftigt, ohne allzu große Schwierigkeiten wenigstens auf einen der beiden authentischen Texte zurückgreifen kann. Größer sind schon die Schwierigkeiten mit der Berichterstattung aus den Mitgliedstaaten. Als "Arbeitssprachen" sind in der IAO auch noch russisch und spanisch zugelassen. Berichte dürfen also auch in einer dieser Sprachen abgefaßt werden. Es schleicht sich auch bisweilen ein~ mal ein Bericht in deutscher oder portugiesischer Sprache dazwischen. Viel schwerer aber wiegen die Probleme, die durch die nationalen Gesetzgebungen aufgeworfen werden. Der offizielle Text liegt selbstverständlich in der nationalen, oft einer seltenen einheimischen Sprache vor. Während die ehemaligen Kolonialgebiete in Afrika nicht nur in ihrer Berichterstattung, sondern auch in ihrer Gesetzgebung sich manchmal noch der französischen oder der englischen Sprache zu bedienen pflegen, ergeben sich manche Schwierigkeiten mit asiatischen Ländern und deren Gesetzen, die in autochthoner Sprache abgefaßt sind. In derartigen Fällen muß der Dolmetscherdienst zuverlässige Übersetzungen in englisch oder französisch herstellen. Schon aus sprachlichen Gründen sieht sich dann die Kommission manchmal veranlaßt, die Prüfung weniger wortwörtlich, sondern möglichst annäherungsweise nach sachlichen Kriterien vorzunehmen und es dabei bewenden zu lassen. Darin liegt ein weiterer Grund für die Kommission, mit großer Vorsicht und Zurückhaltung ihr Urteil abzugeben. Es soll jedoch nicht außer Betracht bleiben, daß Mehrsprachigkeit nicht ausschließlich negativ zu beurteilen ist. Namentlich der Vergleich zwischen den beiden Textfassungen in den authentischen Sprachen kann zu einem genaueren Verständnis des Sinnes führen. Es sei angemerkt, daß es auch neben der alttestamentlichen Interpretation des babylonischen Turmbaus und seiner verheerenden Sprachverwirrung
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bereits in der Vorantike schon zeitgenössische Auffassungen über eine wenigstens teilweise positive Bewertung gegeben hat15 • Über dem internationalen Sprachenproblem sollte jedoch nicht das nationale Sprachproblem, die Problematik eines eindeutigen Sprachverständnisses innerhalb desselben Sprachgebietes außer acht gelassen werden. Die Vieldeutigkeit einer einzigen Sprache innerhalb eines Sprachgebietes stellt ein anerkanntes Verständnisproblem dar16 • Insofern soll die hier angesprochene Problematik nicht nur in der Vielzahl der Sprachen gesucht werden, sie fängt bereits mit der Mehrdeutigkeit an, die in einer jeden Sprache an und für sich schon angelegt ist. Dies ist ein Grund mehr, bei der Rechtsvergleichung mit aller gebotenen Behutsamkeit vorzugehen. 7. Zum Sachvergleich innerhalb der Instrumente Es handelt sich bei dem internationalen Rechtsvergleich innerhalb der lAD nicht so sehr um den Wortlaut der internationalen Instrumente, sondern vielmehr und letztendlich um die Frage, ob in den Mitgliedstaaten die Rechtswirklichkeit so aussieht, wie es sich die lAD laut ihrer Abkommen und Empfehlungen vorstellt und wie sie es für wünschenswert erachtet. Wie schon erwähnt, ist es nicht leicht, des öfteren sogar unmöglich, ein genaues Bild der rechtlichen Wirklichkeit zu erhalten. Zwar sind die Fragebogen, die als Grundlage der nationalen Berichte von den Regierungen beantwortet werden sollen, so ausgestaltet, daß auch nach Zahlen und Statistiken, nach Geldwerten und Preisen, nach Gerichtsurteilen und etwaigen Entscheidungen der Arbeitsinspektion oder einer anderen Behörde gefragt wird, aber die Beantwortung ist bisweilen recht mangelhaft, ein klares Bild, wie das alles im betreffenden Land aussieht, ist daraus bei weitem nicht immer zu ermitteln. Nicht nur die Kommission, auch schon vorher die lAD selbst bei der Feststellung ihrer Normen in Konventionen oder Empfehlungen stößt auf erhebliche Probleme hinsichtlich der wirklichen Sachlage. Das fun15 Alf. Rosenberg, Hrsg., Der babylonische Turm, München 1975, bes. der Beitrag von Wolfgang RÖllig. 18 Die Literatur über die Interpretation und ihre Methoden ist in der Rechtswissenschaft ins Unüberschaubare gewachsen. Keine "Einführung", keine Rechtstheorie oder Methodologie geht daran vorbei. Das allgemeinere Problem vom Verhältnis zwischen Recht und Sprache ist besonders in den letzten Jahrzehnten auf der Grundlage von Sprachanalyse und Sprachphilosophie hinzugetreten. Um hier noch einmal die niederländische Literatur zu Wort kommen zu lassen, sei verwiesen auf: H. Ph. Visser 't Hooft, De Engelse analytische Filosofie en het denken over recht, 1969; J. J. Loeff, in mehreren Aufsätzen, besonders in: Speculum Langemeyer, Zwolle 1973 (in dieser Festschrift befindet sich auch mein Beitrag, Recht spreken [Vergleichende überlegungen über Recht und Sprache als Kultursysteme]).
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damentale und wichtigste dieser Probleme ist wohl das, wie dem sozialen und ökonomischen Entwicklungsstand begegnet werden soll. Die weltbekannte Kluft zwischen den hochentwickelten Industrieländern und den Entwicklungsländern, die zudem oft erst neuerdings von einem kolonialen Status zur staatlichen Souveränität und Autonomie vorgedrungen sind, macht sich auch hier empfindlich bemerkbar. Daran vermag das Sozialrecht, in Sonderheit das allmählich werdende Sozialrecht internationaler Prägung, nicht vorüberzugehen. Die IAO hat diesen Tatsachen in ihren Instrumenten weitgehend Rechnung getragen. Ihre Verfassung (§ 19 Abs. 3) ermahnt die Allgemeine Arbeitskonferenz, beim Entwerfen eines Abkommens oder einer Empfehlung besonders auf diejenigen Länder zu achten, deren Klima oder industrielle Unterentwicklung oder andere Gegebenheiten die wirtschaftlichen Bedingungen wesentlich beeinflussen 17 • Ohne nun das ganze Abkommen, die ganze Empfehlung auf den niedersten Stand zu fixieren, womit ja kein Fortschritt zu erzielen und niemandem gedient wäre, hat die Allgemeine Konferenz dreierlei Arten von Bestimmungen entwickelt, wodurch trotz des hoch gesteckten Zieles eine gewisse geschmeidige Anpassung an die Realität ermöglicht wird. Der erste Weg wird gebildet von den sogenannten "dispositifs de souplesse" (nachgiebigen Bedingungen), die es gewissen Ländern ermöglichen sollen, dem Abkommen beizutreten, ohne es in vollem Umfang verwirklichen zu müssen. Es werden dann unterschiedliche Normen aufgenommen oder eine Beschränkung angeboten, wobei man ein paar Verpflichtungen zu übernehmen hat und andere, wenigstens vorläufig, liegen lassen darf. Das Abkommen Nr. 102 etwa (über Minimalstandards der sozialen Sicherheit, von 1952)18 erlaubt es den Staaten, deren wirtschaftliches oder medizinisches Niveau ungenügend entwikkelt ist, das Abkommen nur z. T. zu ratifizieren und eine beschränkte Auswahl aus den Bestimmungen zu treffen. Andere Abkommen enthalten die Möglichkeit, dasselbe zwar in vollem Umfang zu ratifizieren, zugleich aber für gewisse Regionen des eigenen Landes eine Ausnahme anzumelden, z. B. für solche Bereiche, in denen die Realisierung der Abkommensnorm wegen des geringen Entwicklungsstandes in der betreffenden Region oder wegen der ausgedehnten Streuung der Bevölkerung über ein nur dünn besiedeltes Gebiet allzusehr gehemmt wäre. 17 Zu diesem und dem nächsten Abschnitt meiner Ausführungen benutze ich einige interne Akten, die allerdings in den Kommissionsberichten mehrmals durchgeklungen sind. Vgl. auch Valticos, bes. §§ 236 ff. und 646 ff. 18 Inhaltlich zu jedem der angeführten Abkommen: Valticos, vgl. seine "Table des matieres" und seinen "Index alphabetique".
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Noch auf eine dritte Weise haben die IAO-Instrumente eine Rechtsfigur geschaffen, die den unterschiedlichen Bedingungen, den "conditions economiques et sociales", Rechnung zu tragen geeignet ist, nämlich in den Abkommen (oder Empfehlungen) mit den sogenannten "normes promotionelles" , bei denen es sich um Zielsetzungen handelt, die anzustreben sind, nicht aber auf einmal voll verwirklicht oder unter allen Umständen durchgehalten werden können l9 • Das Abkommen 100 (über den "Equal Pay" von 1951) besagt klar, was letzten Endes erreicht werden soll, und geht zugleich davon aus, daß sogar für besonderes hoch entwickelte Industrieländer, wo es oft eine mehr oder weniger ungleiche Entlohnung für gleiche Arbeit gibt, die Bedingungen nicht von heute auf morgen angepaßt werden können. Ein anderes Beispiel, das ebenfalls sofort einzuleuchten vermag, ist das Abkommen 122 (über die Vollbeschäftigung von 1964), worin einerseits "full employment" befürwortet, zugleich und andererseits aber die Unmöglichkeit einer sofortigen Realisierung anerkannt wird. Damit aber möglichst viele Ratifizierungen erhalten werden, ist das Abkommen so abgefaßt, daß seine Ratifizierung eine Politik zur Vollbeschäftigung in Gang setzen und in dauernder Bewegung halten muß. 8. Der sozio-ökonomische Sachvergleich in der Kommission Wir sind ein wenig von der Arbeit der Kommission abgerückt und wollen nun dahin zurückkehren, indem wir uns vergegenwärtigen, daß unsere Vergleichungs- und überprüfungsarbeit von solchen flexiblen Instrumenten weitgehend beeinflußt (ich sage nicht beeinträchtigt) wird. Die Kommission hat ja, wenn diese und ähnliche übereinkommen vorliegen, zu untersuchen, ob und wie Fortschritte in dem einen oder anderen Sinne gemacht worden sind, kann aber nicht den Staat rügen oder anprangern, der ein ratifiziertes Abkommen, das solche Grenzen und Ausnahmen bereitstellt, innerhalb des dadurch eingeräumten Spielraums noch nicht voll verwirklicht hat. Die Kommission begegnet aber auch mancherlei Situationen, in denen das ratifizierte Abkommen keine Ausnahmebestimmungen enthält, aber dennoch nicht in dem gebotenen Umfang in die nationale Rechtswirklichkeit eingegangen ist. Dann wird oft der ernste Hinweis vorgetragen oder aber auch der Vorwand vorgebracht, daß, unbeschadet der bereits stattgefundenen Ratifizierung, die ökonomische oder soziale Lage eine vollständige übernahme des Abkommens in die nationalen Gesetze nicht zulasse, möglicherweise eine solche übernahme sogar schädlich sei. Auch hier gilt es dann säuberlich zu unterscheiden: Wo 19 Dazu siehe unter anderem §§ 21 ff. des Kommissionsberichtes 1973, und § 24 des Kommissionsberichtes 1974.
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wirklich die Voraussetzungen für eine Durchführung des Abkommens ganz oder teilweise fehlen, da sollte auf Anpassung oder Ausweitung der nationalen Gesetzgebung nicht gedrängt werden. Ein Land ohne Meeresküste beispielsweise braucht in seine Gesetzgebung nichts aufzunehmen, was lediglich für Seehafenarbeiter vorgeschrieben sein mag, ein Staat ohne Bergwerke braucht seine Gesetzgebung nicht mit einer Regelung über die Arbeit im Bergbau zu belasten. Tritt aber nur momentan oder vorübergehend die im Abkommen vorgesehene Lage nicht (noch nicht, nicht mehr) auf - etwa bei Berufskrankheiten als Risiken der Sozialversicherung -, dann muß der nationale Gesetzgeber damit rechnen, daß sich die Lage auch ändern kann, und deshalb sollte dann der Gesetzgeber die vollständige Verwirklichung des ratifizierten Abkommens rechtzeitig in Angriff nehmen. Es gibt in dieser Hinsicht allerdings ungeheuer viele Variationen, etwa durch den technischen Fortschritt (von der Dampfmaschine zur Elektrizität z. B.) oder aufgrund einer regionalen Entwicklung, wodurch Abkommensnormen für einen Staat obsolet geworden sein können. Da hat man dann sorgfältig zu überlegen, ob schon eine bleibende Änderung eingetreten ist oder ob vielleicht mit einer Rückentwicklung zu rechnen sei. Kann angenommen werden, daß die Situation, auf die sich das Abkommen bezieht, endgültig weggefallen ist, dann sollte man so realistisch sein, nicht auf leeren Rechtsformeln zu beharren. Ist man in dieser Hinsicht aber weniger sicher, dann ist es vorzuziehen, streng vorzugehen, d. h. auch dort auf die genaue Übernahme von Abkommensnormen in die nationale Gesetzgebung zu bestehen, wo eine Regierung sich für berechtigt hält zu behaupten, daß in ihrem Land eine von einem Abkommen vorgesehene Situation bereits überholt ist. Einschlägige Beispiele: Wegen der nicht nur angestrebten, sondern schon erreichten Vollbeschäftigung brauche man keine Arbeitslosenversicherung mehr; wegen der starken Position und Aktivität der Gewerkschaften bestehe kein Bedürfnis nach gesetzlichen Garantien in Sachen Entlohnung, Lohnvorschüssen und ähnlichem; wegen des hohen Arbeitnehmerschutzes sollten Beschwerden von Arbeitnehmern und Gewerkschaften bei der Arbeitsinspektion nicht länger vertraulich behandelt werden, wie es gewisse Abkommen vorsehen. Auch eine nur verschwindend kleine Zahl von Arbeitnehmern einer bestimmten Kategorie - etwa von Arbeitnehmern in einer kaum nennenswerten Seefischerei oder von Büroangestellten bei nur seltenen freien Berufen kann nicht davon befreien, gesetzliche Maßnahmen in Übereinstimmung mit den diesbezüglichen Abkommen zu ergreifen. Wiederholt wird eine ökonomisch bedrängte Lage als Grund angeführt, Abkommensnormen nicht erfüllen zu können. Sowohl was die Leistung in der Sozialversicherung, als auch die medizinische Kontrolle,
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die Beschränkung oder das Verbot der Nachtarbeit, die Arbeitsinspektion oder die Statistik angeht, sieht sich die Kommission manchmal genötigt, derartige Argumente zurückzuweisen, zumal es nur dem höchsten Organ der IAO, der allgemeinen Konferenz zusteht, eventuelle Ausnahmen und Begrenzungen in die Abkommen einzubauen. Soweit dies nicht geschehen ist, soll die Kommission ihre Rechtsvergleichung auf eine strikte Handhabung der Abkommensbestimmungen hin orientieren. Ein Fall von "force majeure", eine wirkliche Notlage, darf nur höchst selten zur Geltung kommen2o, eine unterentwickelte Wirtschaft als allgemeiner Zustand kann dafür nicht angeführt werden. 9. Ein politischer Sachvergleich? Neben dem Unterschied zwischen hoch- und unterentwickelten Ländern mit ihren wirtschaftlichen und sozialen Implikationen fällt noch ein anderer Unterschied ins Gewicht, ein Unterschied in den gesellschaftlichen Verhältnissen, in den politischen Strukturen, besonders zwischen den sogenannten kapitalistischen und den sozialistischen (kommunistischen) Ländern21 • Der Unterschied läßt sich, wie ich glaube, sehr scharf bei der Zwangsarbeit (Abkommen 29 von 1930, und 105 von 1957) herausschälen. Diese Instrumente gehören wegen ihres Gegenstandes wohl nicht mehr zum eigentlichen Sozialrecht. Die Problematik kreist hier um eine Philosophie der Arbeit: Die Abkommen sind auf endgültige Zurückdrängung von Zwangsarbeit, von jedem Arbeitszwang, gerichtet und gehen somit von der Vorstellung aus, die Arbeit sei nur dann menschenwürdig, wenn sie nach Art und Ort frei gewählt worden ist. Sie hängt unmittelbar mit der individuellen Freiheit als Selbstentfaltungschance des Menschen zusammen22 • Seitens einiger Länder wird aber die Pflicht zur Arbeit, ja die Ehre der Arbeit in den Vordergrund gerückt. Der Menschenwürde werde gedient, wenn sich der Mensch seiner Arbeitspflicht, seines Dienstes an der Gemeinschaft, gerade in der wirtschaftlichen Arbeit, vollauf bewußt sei. Wenn Bewußtsein ungenügend vorhanden sei oder gar völlig fehle, solle man aus seiner antisozialen, parasitären Existenz befreit und zur Arbeitsaufgabe hingeführt werden. Dialektisch gesagt: Arbeitszwang gilt als soziale Befreiung. Aus dieser Sicht, mit der sich die Kommission eben20 Eine solche Notlage wurde vor ein paar Jahren bejaht für Nicaragua, als die Hauptstadt mit den darin befindlichen offiziellen Büros von einem Erdbeben stark mitgenommen war. 21 Allerdings wurden nicht nur einige sozialistische Länder, auch etwa Liberia und Indonesien in den letzten Jahren ernsthaft wegen gewisser, gegen die Konvention 29 verstoßender Gesetze und Maßnahmen in Sachen Zwangsarbeit angezeigt. 22 Siehe J. J. M. van der Yen, La liberte, motif juridique dans l'Organisation Internationale du Travail, in: Revue des droits de l'homme 1975, S. 669.
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falls auseinanderzusetzen hat, sollen Maßnahmen, die manchmal von einer sozialistischen Gesellschaftslehre untermauert werden, gerade nicht gegen das Verbot der Zwangsarbeit, so wie dieses in den Konventionen 29 und 105 gesehen wird, verstoßen; denn dabei soll es sich lediglich darum handeln, Mißstände aus früherer Kolonialherrschaft oder veralteten Stammesverhältnissen abzubauen, nicht aber sei intendiert, eine sozialistisch geprägte, in die Zukunft weisende Wirtschaftspolitik zu verhindern 23 • Auf einem anderen Gebiet, ebenfalls außerhalb des Sozialrechts im eigentlichen Sinne, zeigt sich ähnliches. Die Rede ist von der Organisationsfreiheit. Die Abkommen 87 (von 1948) und 98 (von 1949) zielen darauf ab, zum Gewerkschaftsmonopol und Gewerkschaftszwang Stellung zu nehmen, nicht nur in sozialistischen, sondern ganz klar auch in faschistischen und korporativ strukturierten Ländern. Mit dem mehrmals vorgebrachten Argument, das Monopol bezwecke eben die Stärkung der Arbeitnehmerposition, der proletarischen Solidarität, des gesellschaftlichen Aufbaues, oder ähnlichem, kann sich die Rechtsvergleichung von der strengen und objektiven Fragestellung nach Konkordanz oder nach Diskrepanz in Ansehung eines eindeutigen Abkommenstextes nicht abdrängen lassen. Im allgemeinen muß sich an diese Problematik die Frage anknüpfen, ob die Rechtsvergleichung überhaupt dem auf tiefgreifende philosophische Differenzen zurückzuführenden Unterschied zwischen staatsund gesellschaftsrechtlichen Strukturen und Systemen Rechnung zu tragen habe. Mit der übergroßen Mehrheit der Mitglieder der Kommission glaube ich, diese Frage für die rechtsvergleichende Arbeit in der IAO und deren Zielsetzung verneinen zu müssen24 • Die Rechtsvergleichung in der Arbeit der Kommission soll nicht dazu dienen, Abkommen dort, wo sie einen klaren Sachverhalt enthalten und umschreiben, an politische Strukuren, wirtschaftliche Möglichkeiten, soziale Verhältnisse anzupassen. Es scheint dies ausschließlich in der Kompetenz der höchsten Instanz, der Allgemeinen Arbeitskonferenz, zu liegen, der ja die Verantwortung für Inhalt und Wortlaut der Abkommen obliegt. Sie kann, soweit es ihr wünschenswert zu sein scheint, irgendwelchen Unterschieden zwischen den Mitgliedstaaten Rechnung tragen. Die Diskrepanz zwischen Abkommen und nationaler Gesetzgebung kann im Rechtsvergleich aufgedeckt und angezeigt werden. Dann müßte entwe": der die Allgemeine Arbeitskonferenz das Abkommen revidieren, oder 23 Es sei für die gegensätzlichen Ansichten, die hier zu Wort kommen, sowohl auf die Berichte der Kommission, als auch auf jene des Sonderausschusses der Allgemeinen Arbeitskonferenz und auf die Sitzungsprotokolle dieser Konferenz hingewiesen, die alle gedruckt vorliegen. 24 Man sehe auch hier meinen oben in Anm. 13 angeführten Aufsatz, in welchem .für einen umfassenden und fundamentalen Rechtsvergleich der Rückgriff auf das jeweils zugrunde liegende Menschenbild gefordert wird.
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die betreffende Regierung müßte sich die Ratifizierung abermals überlegen. 10. Die Frage nach einer Methodologie In einem Rückblick drängt sich die Frage auf, ob die hier behandelte Vergleichsarbeit von einer klar zu umreißenden Methodik getragen wird und ob sich diese in eine theoretische Methodenlehre einbringen läßt. Die folgenden Stichworte sollen Schlußfolgerungen aus den vorgetragenen Erfahrungen geben: 1. Man braucht eine möglichst genaue und umfassende Dokumentation und Information, bevor man sich zu ganz bestimmten Schlußfolgerungen vorwagen kann. Die Dokumentation soll von einer genauen Kenntnis der einschlägigen Texte ausgehen, wobei den unumgänglich auftauchenden Sprach- und übersetzungsproblemen besondere Aufmerksamkeit zu widmen ist. Die Information soll der im Einzelfall geübten Rechtspraxis gen aue Beachtung schenken, auch wenn hier keineswegs mit einer vollständigen und einwandfreien Einsicht gerechnet werden darf.
2. In dem zur Verfügung stehenden Rahmen hat die Vergleichung darauf abzuzielen, auch die geringsten Unstimmigkeiten zwischen Abkommen (und Empfehlungen) und den nationalen Gesetzen aufzudekken, allen Ländern mit den gleichen Beurteilungsmaßstäben entgegenzutreten und eine kontinuierliche "Jurisprudenz" zu entwickeln und zu handhaben. 3. Den Differenzen in politischen Systemen (auch wenn sie auf philosophische oder ideologische Grundlage zurückzuführen sind), in wirtschaftlicher Wirklichkeit und Möglichkeit (auch wenn diese vielfach z. B. von dem Klima oder der geographischen Lage mitbestimmt sind), in sozialen Verhältnissen (die häufig mit der eigenen historischen Entwicklung zusammenhängen) wird grundsätzlich nur dann Rechnung getragen, wenn und soweit die IAO-Instrumente selbst Anlaß dazu geben. Manche Abkommen enthalten dazu differenzierende Klauseln, die zu unterschiedlichen Rechtsfiguren von Beschränkung und Ausnahme führen. 4. Aus mehreren Gründen sieht man sich bei der Arbeit in der Kommission in den Urteilen zu einem klaren, zugleich aber vorsichtigen Vorgehen genötigt. Bei ungenügender Information ist Zurückhaltung bei der Vergleichsarbeit geboten (weswegen sich auch eine umfangreiche Praxis von Anfragen und Rückfragen entwickelt hat). Außerdem. aber wird es bei dieser Form des internationalen Rechtsvergleichs für
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höchst bedeutend erachtet, den Dialog zwischen der Kommission (bzw. der IAO, namentlich im Sonderausschuß ihrer Generalkonferenz) und dem jeweiligen Land aufrechtzuerhalten und möglichst ertragreich zu gestalten. Ob man diesen Methodenkomplex als eine Methodenlehre ansprechen kann, wage ich zu bezweifeln. Nicht einer vorgefaßten Theorie ist die Vergleichsarbeit der Kommission entsprungen, sondern sie hat sich wie so oft in der Wissenschaft, auch in der Rechtswissenschaft, in Sonderheit auch in der Rechtsvergleichung - aus der anstehenden Aufgabe und einer jahrelangen Praxis ergeben. Diese methodische Praxis in eine Methodentheorie umzumünzen, scheint mir kaum aussichtsreich zu sein. Es fehlt übrigens eine ausgearbeitete Interpretationslehre, Kernstück oder wenigstens eines der Hauptelemente jeglicher juristischen Methodologie. Der hier beschriebenen Rechtsvergleichung fehlt die grundlegende Rolle, die sonst in der Rechtswissenschaft von einer Interpretationslehre gespielt wird 25 • Die Texte werden meistens wörtlich genommen, die historischen, systematischen, soziologischen Hinter- und Untergründe kaum berührt. Ein letztes: In der Methodologie (etwa bei Larenz)26 nimmt noch eine andere Methode einen wichtigen Platz ein, nämlich das Hin- und Herwandern, und zwar zwischen Rechtssystem oder Rechtsregel und Tatbestand. Wie sieht in dieser Hinsicht die weit gespannte vertikale Rechtsvergleichung aus? Es mag klar geworden sein, daß es sich dabei um eine Mehrzahl von Systemen und Situationen, von Rechtsregeln und Rechtswirklichkeiten handelt. Der Blick, die Aufmerksamkeit hat (vertikal) zwischen internationalen und nationalen Rechtsinstrumenten hin- und herzuwandern. Er soll außerdem auch den (horizontalen) Vergleich zwischen mehreren nationalen Gesetzgebungen nicht scheuen, und er muß schließlich bereit sein, nichts weniger als die totale Rechtswirklichkeit mit zu umfassen. Von höchster Bedeutung ist es es hier, angesichts der hier gebotenen "Rastlosigkeit des Blickes", über das komplizierte, an Einzelheiten oft allzu reichliche Blickfeld nicht die Korrektheit und Klarheit der Aussage zu verfehlen. 25 Oben, Anm. 3. Infolge des § 37, Abs. 1 der Verfassung der IAO ist für Interpretationsfragen der Internationale Gerichtshof anzurufen, weshalb prinzipielle Probleme der Interpretation von Abkommen der Kompetenz der IAO-Organe entzogen sind. Vgl. aber darüber Valticos, §§ 161 f. und §§ 638. 28 Vgl. K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl., Berlin u. a. 1975. Das "Hin- und Herwandern des Blickes" bildet ein eigenes Stichwort im Sachverzeichnis. Sowohl bei ihm wie etwa auch bei Zippelius (Einführung in die juristische Methodenlehre, 2. Aufl., München 1974) nimmt auch die "Lückenlehre" eine wichtige Stelle ein, die aber hier als Methode zur Lückenausfüllunggar nicht zu Wort kommt.
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Zusammenfassung Die Kontrollarbeit, die sich in der IAO auf die Anpassung der nationalen Gesetze der Rechtspflege und der Rechtspraxis an die Abkommen und Empfehlungen der IAO erstreckt, wird hier unter dem Blickwinkel internationaler Rechtsvergleichung betrachtet. Die Materialien und die Kontrollorgane, insbesondere die Expertenkommission, und ihre Arbeitsweise werden beschrieben. Der Rechtsvergleich, den die Expertenkommission anstellt, bezweckt, so wird herausgestellt, die möglichst gen aue Übernahme internationaler Rechtsnormen in die nationalen Rechtsordnungen, ohne aber anders als im Wege der Information dazu beitragen zu können. Wegen der internationalen Spannweite ermahnt insbesondere das Sprachenproblem zur Vorsicht bei den abschließenden Beurteilungen. Als besondere Schwierigkeiten werden Unterschiede der wirtschaftlichen Entwicklung und des politischen Systems hervorgehoben. Methodologisch folgt aus dieser Art der Rechtsvergleichung die Notwendigkeit zuverlässiger und umfassender Dokumentation (einschließlich Übersetzung), auch im Hinblick auf die Rechtswirklichkeit. Erforderlich ist die Gleichheit der Vergleichsmaßstäbe, soweit nicht in den Abkommen selbst, also von der Allgemeinen Arbeitskonferenz, gewissen Unterschiedlichkeiten von vornherein Rechnung getragen wird.
Summary The control work of ILO, which comprises the adaptation of national laws in the administration of justice and in law practice to the conventions and recommendations of ILO, is considered from the angle of international comparative law. The materials used and the control organs involved, in particular the Committee of Experts for the Application of Conventions and Recommendations, and their working methods are described. The aim pursued by the Committee of Experts in the comparison of social legislation is, as is pointed out, to incorporate as strictly as possible international standards of law into the various national legal orders, though this can be done only by way of information. In view of the international scale and above all the existing language problems great care must be taken in a final evaluation. Other difficulties are the differences in economic development and in the political systems. From the methodological viewpoint this manner of comparing social legislation requires a reliable and comprehensive documentation (including translations), also with a view to the legal reality. The standards of comparison applied must be equal, unless in the conventions, i. e. by the General Conference, allowances are made from the outset for certain differences.
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Die Diskussion ging aus von der vom Referenten beschriebenen Heranziehung der Rechtsvergleichung im Rahmen der Arbeit der "Commission d'Experts pour l'Application des Conventions et Recommandations" (im folgenden: Kommission). Es bestand Einmütigkeit darüber, daß die Rolle der Rechtsvergleichung bei der Arbeit der Kommission unter dem allgemeineren Gesichtspunkt der Aufgabenstellung dieser Kommission betrachtet werden müsse. Die Kommission verfolge den Zweck, die Mitgliedstaaten der IAO zur Anpassung ihrer nationalen Gesetzgebung an die übereinkommen und Empfehlungen der IAO zu veranlassen. Bereits daraus ergebe sich, daß Maßstab für die Arbeit der Kommission die Texte dieser Abkommen und Empfehlungen sein müßten. An dieser Stelle wurde auf die allgemeine Problematik hingewiesen, daß Gesetzestexte jeweils in einer "Ambiance des Sinnes" lebten und insofern gewissermaßen nur die Spitze eines Eisberges darstellten insofern, als sie nicht losgelöst von den hinter ihnen stehenden gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen gesehen werden können. Das gilt sowohl für die Texte der IAO als auch für das nationale Recht, dessen übereinstimmung mit den Normen der IAO von der Kommission geprüft werden müsse. Was zunächst die Abkommen und Empfehlungen der IAO angeht, so tritt die Rechtsvergleichnug in zweifacher Hinsicht in Erscheinung: einmal bei der Ausarbeitung dieses Abkommens und zum anderen bei der Interpretation dieser Abkommen durch die Kommission. Was den ersten Gesichtspunkt angehe, so stellten die IAO-Abkommen letztlich die Einigung über eine bestimmte Modellvorstellung durch die an der Ausarbeitung dieser Abkommen beteiligten Staaten dar. Die Universalität der IAO führe nun dazu, daß die den einzelnen, an der Erstellung dieser Modelle beteiligten Staaten eigenen Vorstellungen in den Abkommen auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden ·müßten. Die hieraus resultierenden Schwierigkeiten wurden in der Diskussion am Streikrecht sowie der Arbeitslosenunterstützung exemplifiziert. So bildeten in den westlichen Ländern, welche die Tarifautonomie kennen, die Gewerkschaften ein Gegengewicht zu den Arbeitge-
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bern. Deswegen hätten sie hier eine ganz andere Rolle inne als die Gewerkschaften der sozialistischen Länder, die in einer spezifischen Weise in den Staat eingebunden seien und andere Aufgaben wahrnähmen. Das damit angesprochene Problem der Stellung der Arbeitnehmerschaft im Staat, das in jüngster Zeit besonders in Großbritannien aktuell geworden sei, werfe die weitere Frage nach der unterschiedlichen politischen Verfassung der einzelnen Staaten auf. Vor diesem Problem stünden internationale Organisationen wie IAO, aber auch UNO und Europarat in unterschiedlicher Weise; mit zunehmendem Grad der Unterschiedlichkeit der politischen Verfassung der Mitgliedstaaten vergrößerten sich die Koordinationsprobleme und die Divergenzen, die bei dem Abschluß von Abkommen in Einklang gebracht werden müßten. Die eben angesprochene Frage des Streikrechts, die in verschiedenen Staaten eine durchaus unterschiedliche Bedeutung habe, erfahre wiederum Weiterungen für andere Sachfragen. So könne z. B. die Garantie der Arbeitslosenunterstützung vom Streikrecht nicht beliebig getrennt werden; daher sei also bei den Staaten, die das Streikrecht kennen, dieses Recht bei der Behandlung der Arbeitslosenunterstützung mit zu berücksichtigen. Die Beispiele verdeutlichten, in welcher Weise die in IAO-Abkommen verankerten Grundsätze, insbesondere auch die dort begründeten sozialen Garantien, aus ihrem nationalrechtlichen Zusammenhang gerissen seien. Die bei der Erarbeitung und Ratifizierung derartiger Abkommen beteiligten Staaten unterschieden sich sowohl in ihren eigenen Modellvorstellungen als auch hinsichtlich des Umfanges, in dem diese ihre Modellvorstellungen den Modellvorstellungen der IAO-Abkommen bereits entsprächen. Diese Frage leite über zur konkreten Arbeit der Kommission, die nach der Verwirklichung der IAO-Modellvorstellungen in den Mitgliedstaaten fragt und in diesem Zusammenhang bei Ländern mit abweichenden Vorstellungen zu prüfen habe, inwieweit die lAO-Modelle, auch reduziert auf Essentialia, zu realisieren seien. Diese Reduktion scheine ein wesentliches Kennzeichen der Arbeit der Kommission zu sein; sie sei rein rechtstheoretisch deshalb von Interesse, weil hier ein stufenweises Weglassen der rechtlichen Umwelt erkennbar sei. In einem Land sei etwa die Realisierung der in einem Abkommen vorgesehenen Zielvorstellung voll möglich, in einem anderen Land sei dies nur zum Teil der Fall. Die Kommission habe sich dann die Frage zu stellen, in welchem Umfang das betreffende Land das Abkommen einhalten könne, d. h. welcher Teil des Abkommens von der nationalen Gesetzgebung vollzogen sei bzw. vollzogen werden könne.
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An dieser Stelle wurden in der Diskussion Zweifel an der praktischen Arbeit der Kommission geäußert. Die oben beschriebene Prüfung der Übereinstimmung von nationaler Gesetzgebung und IAO-Normen durch die Kommission setze nämlich voraus, daß die nationale Gesetzgebung erfaßt werde; ob dies der Kommission immer gelinge, erscheine vor allen Dingen deswegen fraglich, weil das für die oben erwähnte Überprüfung heranzuziehende nationale Material vornehmlich von den betroffenen nationalen Regierungen selbst zur Verfügung gestellt werde. Diese darin begründete Einseitigkeit der der Kommission zur Verfügung stehenden Informationen stelle ein auch vom Referenten zugestandenes Hindernis für die Arbeit der Kommission dar. Die Verfahrensweise der Kommission selbst, wie sie vom Referenten beschrieben worden sei, führe zu einer selektiven Anwendung der rechtsvergleichenden Methoden. Sie beschränke sich im wesentlichen auf den Vergleich von Gesetzestexten und lasse das "living law" weitgehend unberücksichtigt. Diese spezifische Vorgehensweise der Kommission dränge den Vergleich auf mit der Überprüfung von Gesetzesrecht, wie sie von Verfassungsgerichten vorgenommen werde. Der Blick des Rechtsvergleichers werde in der Praxis der Kommission verengt auf die Elle der IAO-Norm, an der die Vorschriften und - in der Praxis in geringerem Maße - die tatsächlichen Sachverhalte in den Mitgliedstaaten gemessen würden. In dieser Hinsicht könne man es möglicherweise als eine besondere Qualität der vertikalen Rechtsvergleichung ansehen, daß der Blick des Rechtsvergleichers auf einen bestimmten Bezugsrahmen verengt werde, so wie die Kommission bei ihrer rechtsvergleichenden Arbeit - der Gegenüberstellung von nationalem Recht und IAO-Abkommen - eben diese IAO-Abkommen zum Bezugsrahmen ihrer Vergleichsarbeit nehme. Rechtsvergleichung, wie sie von der Kommission betrieben werde, zeichne sich also praktisch durch eine zweifache Beschränkung aus: einmal durch den engen Bezugsrahmen der IAO-Norm, zum anderen aber auch durch die bereits erwähnte Beschränkung des Einblicks in die Rechtswirklichkeit, die nur in Einzelfällen aufgehoben werde. So könne tatsächlichen Sachverhalten durch die Kommission dann genauer nachgegangen werden, wenn etwa auf Einladung eines bestimmten Landes ein Mitarbeiter des Internationalen Arbeitsamtes in dieses Land entstandt werde, der dann bestimmte Probleme direkt vor Ort studieren könne, oder wenn die Kommission von :iich aus die Initiative zu einem solchen Schritt ergreife, wie es in der Vergangenheit im Zusammenhang mit einigen fundamentalen Fragen, so z. B. der Vereinigungsfreiheit, geschehen sei. Eine weiter gefächerte rechtsvergleichende Tätigkeit werde demgegenüber bei der Erarbeitung der IAO-Normen entfaltet, wenn die bereits erwähnten unterschiedlichen nationalen Modellvorstellungen auf-
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einanderträfen und auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden müßten. An dieser Stelle tauchten zwischen den verschiedenen Vorstellungen der Einzelstaaten Divergenzen auf, die später von der Kommission bei ihrer Überprüfungsarbeit, die sich maßgeblich an den Wortlaut der ihr vorgegebenen Texte anlehne, würden ausgeklammert. In diesem Zusammenhang sei jedoch zu beachten, daß die IAO ihrer "Philosophie" nach einige zumindest theoretisch allen Mitgliedstaaten gemeinsame Grundsätze kenne, die auch in ihrer Verfassung einen Niederschlag gefunden hätten. So deute bereits die Struktur der IAO, in der neben den Staaten auch deren Arbeitgeber - und Arbeitnehmerorganisationen Sitz und Stimme haben, auf ein bestimmtes staatspolitisches Modell in den Mitgliedstaaten hin, nach welchem es in den Mitgliedstaaten freie Organisationen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gebe, die in der Lage seien, Delegierte zu entsenden. Daraus folge, daß die IAO-Verfassung bereits von einem bestimmten Werteprogramm getragen sei und insofern auf einem Modell aufbaute, das schon in den Mitgliedstaaten verfassungsmäßig angelegt sein sollte. Angesichts der Universalität der IAO sei es aber offenkundig, daß bestimmte Staaten, welche an der Ausarbeitung der Abkommen der IAO mitwirken und sie auch ratifizieren, im Einzelfall den in den IAO-Normen angelegten Modellvorstellungen nicht entsprächen. In der Vergangenheit seien einzelne Länder, wie z. B. auch das nationalsozialistische Deutschland, wegen derartiger Divergenzen aus der IAO ausgeschieden. Wenn ein solches Land nicht austrete, würden diese oben aufgezeigten Divergenzen jedoch mit in die Arbeit der IAO hineingenommen. Für deren praktische Arbeit bedeute das, daß einzelne Staaten, die gemeinsam ein Abkommen ausarbeiten und ratifizieren, unter seinem Inhalt u. U. etwas Verschiedenes verstehen. Die Kommission müsse sich jedoch bei ihrer Überprüfungstätigkeit auf eine bestimmte Modellvorstellung einigen, wobei sie vornehmlich vom Wortlaut der Abkommen auszugehen habe und sich möglichst wenig von den Auslegungen in den verschiedenen Mitgliedstaaten leiten lassen dürfe. Es sei offensichtlich, daß die Kommission bei dieser Arbeit keine rein theoretische Rechtsvergleichung betreiben könne. Ihre Vorgehensweise müsse sich an ihrer Aufgabe im Einzelfall orientieren, die dahin gehe, ein bestimmtes Land dazu zu bringen, seine Gesetzgebung besser an die IAO-Normen anzupassen. Dies bringt es nach Ansicht des Referenten mit sich, daß die Kommission bei ihrer Vergleichsarbeit auch keiner bestimmten rechtsvergleichenden Methode folgen könne. Die vom Referenten in Ansehung der rechtsvergleichenden Methode beschriebene Selbstbeschränkung der Kommission bei der Wahrnehmung der ihr übertragenen Aufgabe und im Hinblick auf die angestrebten Ergebnisse wurde schlagwortartig als "die Anwendung von
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Forrnelkompromissen auf oberflächlich wahrnehmbare Verhältnisse" (Zacher) definiert. Dabei seien die Formelkompromisse das,was normativ "machbar" sei, die oberflächliche Wahrnehmbarkeit von Verhältnissen dagegen das, was bei der Rechtsanwendung durch die Kommission aus den nationalen Staaten zur Kenntnis der Kommission gelange. Im Anschluß daran wurde die Frage aufgeworfen, ob die Kommission aufgrund dieser ihrer spezifischen Art des Tätigwerdens überhaupt in der Lage sein könne, eine bestimmte Methodik zu entwickeln. Dies wurde insbesondere deswegen bezweifelt, weil die Arbeit der Kommission weitgehend vom Ergebnis her bestimmt sei und die Theorie lediglich - wie auch bei richterlicher Tätigkeit - die Rolle spiele, einen Argumentationsboden zu liefern und dadurch eine Argumentationskontrolle zu gewährleisten, welche die Entscheidung im Einzelfall rechtfertige und den Vorwurf der Willkür vermeiden helfe. Im Anschluß an diese auf die Arbeit der Kommission zugeschnittene Erwägung wurde erörtert, ob es für "insider", d. h. für diejenigen, die in der Kommission und anderswo praktische Arbeit im oben beschriebenen Sinne leisten, überhaupt möglich sei, eine eigene Methodologie zu entwerfen, oder ob es nicht vielmehr Aufgabe Außenstehender sein müsse solches zu tun; Innenstehende würden nämlich jeweils durch die Konsequenzen ihrer Entscheidungen im Einzelfall davon abgehalten, eine bestimmte Methode rein zu verwirklichen, so daß das von ihnen durch die Summe ihrer Entscheidungen entstehende Argumentationstableau auch nicht selber eine Methode darstelle. Abschließend wurde allgemein anerkannt, daß die Arbeit der Kommission insoweit ein Beitrag zu einer Methodenlehre des Sozialrechtsvergleichs sein könne, als sie weltweit Rechtsordnungen unter ganz partikularen Aspekten vergleiche. Unter diesem Blickwinkel sei zwar keine allgemein "richtige" Sicht auf diejenigen Probleme zu gewinnen, welche die Sozialrechtsvergleicher beschäftigten. Man müsse jedoch auch die anderen Standorte berücksichtigen, von denen aus z. B. im Verlauf des Colloquiums das Sozialrecht rechtsvergleichend beleuchtet worden sei. Es sei zu hoffen, daß die Summe der jeweiligen von einem anderen Standort aus angestellten Betrachtungen einen tieferen Einblick in das Sozialrecht ermögliche, als dies bei einer partikularen Sicht der Fall sei. Es sei offensichtlich, daß der Ertrag je nach Standpunkt des Betrachters unterschiedlich sei. So sei für den Rechtsvergleich der Ertrag der Arbeit der Kommission zweifellos höher zu veranschlagen als derjenige, der sich bei der Anwendung internationaler Sozialrechtsabkommen ergebe. Dies einfach deswegen, weil die Arbeit der Kommission in viel stärkerem Maße auf Rechtsvergleichung ange-
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wiesen sei, während z. B. der "Anwender" von internationalen Sozialversicherungsabkommen bzw. von entsprechenden EWG-Verordnungen von vorneherein nur in beschränktem Umfang seinen Blick auf die fremden Rechtsordnungen richten müsse (und auch dürfe). Insofern gelte hier im Bereich der Rechtspraxis gleiches wie auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft, wo z. B. für das Kollisionsrecht - wie das Referat von Professor von Maydell gezeigt habe - die Rechtsvergleichung lediglich die Funktion einer Hilfswissenschaft spiele, während sie bei der Sozialrechtsvergleichung im eigentlichen Sinne im Vordergrund der Betrachtung stehe. Bearbeiter: Igll Schulte
Was ergeben die Erfahrungen bei der supranationalen Harmonisierung von Sozialrecht für einen Sozialrechtsvergleich ? Von Kurt Jantz Das dem Referenten übertragene Thema bahnt eine Klärung an, ob, in welcher Weise und mit welchem zunächst vorläufigen Ergebnis Erfahrungen bei der "supranationalen Harmonisierung von Sozialrecht" für einen "Sozialrechtsvergleich" nutzbar gemacht werden können. Supranationale Rechtssetzung setzt zum Unterschied von internationalen Regelungen eine partielle Preisgabe der Souveränität der einzelnen Staaten zugunsten einer überstaatlichen Institution voraus. Der Gesetzgebungsgang richtet sich nicht mehr nach der innerstaatlichen Verfassung, sondern nach Regelungen, die zwar in einem internationalen Vertrag vorgegeben sind, in diesem Vertrag aber die genannte Abgabe von Souveränitätsrechten, insbesondere von Gesetzgebungsrechten, an die supranationale Institution schaffen. Ein solcher Vorgang hat sich in einigen Normen des Gründungsvertrages zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vollzogen. Diese supranationale Gesetzgebungsbefugnis unterscheidet sich von den Wirkungsmöglichkeiten der Internationalen Arbeitsorganisation sowie des Europarates, um von den verschiedenen Institutionen nur diese beiden herauszugreifen. Es gehört zum Wesen des Gründungsvertrages der EWG - und an diesem Wesenszug hat sich durch die Ausweitung des Kreises der Mitgliedstaaten in den Europäischen Gemeinschaften (EG) nichts geändert -, daß es eine Fülle von Wirkungsmöglichkeiten gibt, zum Teil unter voller Wahrung der Souveränität der beteiligten Staaten, zum Teil in Formen, bei denen durch supranationales Handeln die Organe der EWG/EG an die Stelle des nationalen Gesetzgebers treten. Es sind auch Möglichkeiten vorgesehen, wonach ein zunächst souveränes Handeln der Mitgliedstaaten in supranationales Handeln der EG einmündet. Hinzu kommt, daß der sprachliche Ausdruck "Harmonisierung" und ähnliche sogleich noch zu nennende Worte in dem Gründungsvertrag der EWG weniger eine definitorisch klärende als vielmehr eine atmosphärisch politische Bedeutung haben. Er drückt auch nicht präzise ein
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Ziel aus, das auf eindeutig konstruktivem Wege zu erreichen ist, sondern zeigt eine allgemeine Tendenz mit unterschiedlicher Wirkungsintensität. Insbesondere bei Bestrebungen im Bereich des Sozialrechts ist unter diesen Begriff vieles untergeordnet worden, was zwischen der Bekundung eines gemeinsamen Interesses und einer materiell rechtlichen Vereinheitlichung oder darüber hinausgehend einer organisatorischen Uniformierung der Sozialrechtssysteme liegt. Unterschiedliche Vorstellungen über den Begriffsinhalt hängen nicht selten mit unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Zielvorstellungen, aber auch mit unterschiedlichen sozialpolitischen Tendenzen der einzelnen nationalen Betrachter zusammen. Aber bereits der EWG-Vertrag selbst hat in seiner sprachlichen Elastizität zunächst erheblich zu dieser Begriffsunsicherheit beigetragen. Es muß deshalb sehr knapp auf die Verwendung des Ausdrucks "Harmonisierung" und synonymer Worte im Gründungsvertrag eingegangen werden, wobei der Begriff "synonym" bereits seinerseits einer elastischen Interpretation bedarf. Zu diesen teils vertauschbaren, teils die Bedeutung gegenseitig eingrenzenden oder ausweitenden Begriffen oder auch nur Umschreibungen mit näher ausfüllbarem Inhalt gehören folgende: Angleichung, Annäherung, Anpassung, Harmonisierung, Abstimmung, Vereinheitlichung, gemeinsame Politik und Koordinierung. In einer sorgfältigen, die Texte in den damaligen vier Amtssprachen vergleichenden Ausarbeitung hat Lochner1 diese Begriffe untersucht und aufgezeigt, daß von der sprachlichen Verwendung her grundlegende Unterschiede in der Bedeutung zwischen diesen Begriffen in dem zustandegekommenen Vertragstext nicht bestehen. Es mag sein, daß die Verfasser der Verträge bei einer Reihe von Normen solche Unterschiede beabsichtigt haben. Jedenfalls ist es nicht gelungen, diesen etwaigen Willen in einer aus "dem" - in mehreren Sprachen mit gleicher Geltungskraft abgefaßten - Vertragstext und seinem Zusammenhang ableitbaren Weise in Erscheinung treten zu lassen. Der unterschiedliche Gebrauch der einzelnen Begriffe, Bezeichnungen, sprachlichen Ausdrücke in den verschiedenen vom Vertrag angesprochenen Bereichen wird besonders deutlich, wenn man auf die unterschiedlichen Ausdrücke in den damaligen vier Amtssprachen eingeht. Was die hier insbesondere interessierenden, das Sozialrecht betreffenden Vorschriften des Vertrages angeht, so verwendet z. B. Artikel 117 Abs. 1 EWG-Vertrag im deutschen Text den Begriff "Angleichung", im niederländischen Text dagegen "egalisatie" bzw. "aanpassing", fran1 Norbert Lochner, Was bedeuten die Begriffe "Harmonisierung, Koordinierung und gemeinsame Politik in den europäischen Verträgen", Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 1962, Band 118, Heft 1, S. 35 ff.
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zösisch dagegen gleichlautend "egalisation" und italienisch "parificazione". Artikel 100 und Artikel 117 Abs. 2 EWG-Vertrag verwenden den deutschen Begriff "Angleichung", während im französischen Text "rapprochement", im niederländischen Text "nader tot elkaar brengen" und im italienischen Text "ravvicinamento" gebraucht werden. Für die gleichen fremdsprachigen Begriffe wird aber im Artikel 2 des EWGVertrages und in der gemeinsamen Erklärung über die Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten der internationalen Organisationen (Anlage zum EWG-Vertrag) das deutsche Wort "Annäherung" verwendet, während das in Artikel 117 Abs. 1 verwendete niederländisch!" Wort "aanpassing" an anderer Stelle des EWG~Vertrages (Artikel 111 Abs. 4) mit "Anpassung" im deutschen Text (französisch " amenager" , italienisch "adattare") wiedergegeben wird. Ähnliches finden wir bei dem Ausdruck "Harmonisierung" bzw. "harmonisieren". Im deutschen Text des EWG-Vertrages wird dieser Ausdruck nur in dem die Umsatzsteuer und anderes betreffenden Artikel 99 verwendet. An anderen Stellen des Vertrages wird der französische Ausdruck "harmonisation" (italienisch "armonizzatione", niederlän4 disch "harmonisatie" oder "met elkaar in overeenstemming brengen") mit "Abstimmung" oder (Artikel 112 Abs. 1) mit "Vereinheitlichung" wiedergegeben. Andererseits wird das deutsche Wort "Abstimmung" auch häufig verwendet, wenn im französischen Text von "coordination" (italienisch "coordinamento", niederländisch "coördinatie") gesprochen wird. Die vertauschbare Verwendung von sprachlichen Ausdrücken steht nicht nur einer grundsätzlichen begrifflichen Unterscheidung entgegen, sie erschwert oder verhindert auch eine Abstufung nach dem Grade der Intensität. Diese wäre im Sozialrecht von besonderem Interesse. Sie ist auch verschiedentlich unternommen worden. So ist z. B. in dem Kommentar von Wohlfahrt2 u. a. versucht worden, die Harmonisierung graduell zwischen Koordinierung und Angleichung oder Vereinheitlichung einzuordnen. Dabei wurde unter Vereinheitlichung eine völlige Gleichheit aller Einzelregelungen mit minimalem Gestaltungsraum für die Mitgliedstaaten verstanden, während die Koordinierung eine gegenseitige Abstimmung der Regelungen in den Grundzügen bedeuten sollte, bei der die Mitgliedstaaten Handlungsfreiheit behalten. Art und Umfang der Abstimmung sollte durch den Rat erfolgen. Auch Angleichung und Annäherung wurden· zwischen die beiden Begriffe eingeordnet. Sie sollten übereinstimmende Tendenzen in den Grundzügen und entsprechend weitgehende übereinstimmende nationale Einzelregelungen bedeuten. Diese Intensitätsabstufung ist im Grunde ein 2 Wohlfahrt / Eberling / Glässner / Sprung, Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, Kommentar zum Vertrag, BerUn 1960.
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Verzicht auf exakte begriffliche, für die Rechtsanwendung brauchbare Unterscheidung. Das definitorische Problem wird beiseite geschoben. An seine Stelle treten Unterschiede zwischen den Ermessensspielräumen, die den Mitgliedstaaten verbleiben sollen. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch der NederhorstBericht3 • In diesem ist dargelegt, daß der Begriff "Harmonisierung" für die zukünftige Entwicklung einen Spielraum von der geringfügigen Annäherung bis zur völligen Vereinheitlichung läßt. Ähnliche Gedanken finden sich in dem Aktionsprogramm der Gemeinschaften für die zweite Stufe im Zusammenhang mit dem, wie oben ausgeführt, in das gesamte Wortfeld mitgehörenden Ausdruck "Koordinierung": Die Koordinierung - an dieser Stelle der nationalen Wirtschaftspolitiken geht tendenziell bis zur Vereinheitlichung Um die sich hiernach ergebende definitorische Unsicherheit nicht in eine jedem Zugriff sich entziehende Konturlosigkeit abgleiten zu lassen, zugleich aber künftige Möglichkeiten des Erkennens und des Handelns durch vorschnelle Einengungsversuche nicht zu behindern, hat der frühere Präsident der EWG Hallstein bei seiner Ansprache zur Eröffnung der Europäischen Konferenz über die soziale Sicherheit 1962 in Brüssel das Prinzip der "progressiven Konvergenz" aufgestellt: Es entspreche dem Geist des Vertrages, die konvergierenden Tendenzen zu fördern 4 • Hallstein hat aber ausdrücklich darauf hingewiesen, daß Mitgliedstaaten rechtlich nicht gezwungen seien, sich Schritten der Kommission in dieser Richtung anzuschließen. Um die Möglichkeiten der Förderung einer konvergierenden Tendenz zu verdeutlichen, ist es nützlich, im Blick auf die allgemeinen Zielsetzungen des EWG-Vertrages die möglichen Formen des Zusammenwirkens kurz darzulegen. Der Vertrag arbeitet Ziele der Wirtschaftspolitik heraus und verbindet sie mit Zielen der Sozialpolitik. Aus der allgemein-politischen Willenstendenz, "die Grundlagen für einen immer engeren Zusammenschlußder europäischen Völker zu schaffen", werden die besonderen Tendenzen herausgearbeitet, "den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt" der Mitgliedstaaten zu sichern und "die stetige Besserung der Lebens- und Beschäftigungsverhältnisse ... als wesentliches Ziel anzustreben". Auch das Bestreben, die "Volkswirtschaften zu einigen Und deren harmonische Entwicklung zu fördern", ist wesenhaft mit dem Bemühen verbunden, "den Abstand zwischen den einzelnen Gebieten 3 G. M. Nederhorst, Bericht im Namen des Sozialausschusses über die soziale Harmonisierung, Sitzungs dokumente des Europäischen Parlaments 1961162, Nr. 87 vom 14. November 1961. ( So auch Beermann, Gewerkschaften - Entwicklung der sozialen Sicherung, in: Festschrift für Kurt Jantz, 1968, S. 47 ff., insbes. S. 53. .
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... zu verringern". Ökonomische und soziale Ordnung als wesentliche Inhalte einer politischen Ordnung sind einander im nationalen wie im supranationalen zugeordnet. Diese in der Präambel zum Ausdruck kommende Tendenz zeigt sich auch in dem Artikel 2 des Vertrages, der allgemein-politische, wirtschaftspolitische und sozialpolitische Ziele als Aufgabe der Gemeinschaft miteinander verbindet. Die Erreichung solcher Ziele erfordert ein Zusammenwirken der Mitgliedstaaten. Dabei ist der Grad des Zusammenwirkens der Mitgliedstaaten untereinander und der Mitgliedstaaten mit den Organen der Gemeinschaft unterschiedlich. Supranationales, nationales und internationales Recht stehen nebeneinander. Man kann vier Grade des Zusammenwirkens unterscheiden. Der stärkste Grad des Zusammenwirkens ist die "gemeinsame Politik". Diese ist z. B. für die Gebiete der Landwirtschaft, der Verkehrspolitik sowie der Beseitigung von Hindernissen für den freien Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten vorgesehen. Die "Koordinierung" als zweiter Grad des Zusammenwirkens betrifft insbesondere die Anwendung von Verfahren, welche der allgemeinen Wirtschaftspolitik und der Behebung von Störungen im Gleichgewicht der Zahlungsbilanzen der Mitgliedstaaten dienen. Ein wesentlich schwächerer Grad des Zusammenwirkens läßt sich unter dem Begriff "Förderung einer engen Zusammenarbeit" einordnen. Hierhin gehört die Sozialpolitik (Artikel 118). Der schwächste Grad des Zusammenwirkens wird mit dem Kriterium "gemeinsames Interesse" charakterisiert (Artikel 103: Konjunkturpolitik). Zur prinzipiellen Einordnung der Sozialpolitik in den zweitschwächsten Grad des Zusammenwirkens sei noch folgendes bemerkt: Artikel 2 des Vertrages stellt der Gemeinschaft die Aufgabe, durch Errichtung eines Gemeinsamen Marktes und schrittweise Annäherung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten damit zusammenhängende Ziele zu erreichen, u. a. "eine beschleunigte Hebung der Lebenshaltung". Im Artikel 3, der eine nähere Entfaltung bringt, ist zwar eine Reihe von Bereichen der Politik entweder als Gegenstand gemeinsamer Politik oder der Koordinierung der Politik der Mitgliedstaaten aufgeführt, u. a. auch die Schaffung eines Europäischen Sozialfonds, um die Beschäftigungsmöglichkeiten der Arbeitnehmer zu verbessern und zur Hebung ihrer Lebenshaltung beizutragen (Artikel 3 Buchst. i), die Sozialpolitik selbst aber ist nicht aufgeführt. Sie wird nicht'beiden höchsten Stufen des Zusammenwirkens zugeordnet. Man' stößt auf den
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Begriff Sozialpolitik überhaupt nicht im ersten Teil, welcher die Grundsätze des Vertrages enthält, auch nicht im zweiten Teil, welcher die Grundregeln der Gemeinschaft, freier Warenverkehr, Landwirtschaft, Freizügigkeit, freie Dienstleistung und Kapitalverkehr und Verkehr regelt, sondern erst im dritten Teil, der die Politik der Gemeinschaft betrifft. Lediglich der Begriff der Freizügigkeit gibt Anlaß, zur Förderung dieser sowohl im Interesse des einzelnen wie auch insbesondere im gesamtwirtschaftlichen Interesse liegenden Freizügigkeit im Artikel 51 Ermächtigungen für Sozialversicherungsregelungen zu schaffen, die dem Wand er arbeitnehmer, der von einem Mitgliedstaat in den anderen und damit vom Bereich eines Systems sozialer Sicherheit in ein anderes wandert, Schutz gegen Rechtsverlust zu sichern. Von dieser Ausnahme abgesehen, werden im Teil Sozialpolitik nach gemeinsamen Regeln (Wettbewerb, steuerliche Vorschriften, Angleichung der Rechtsvorschriften) und im Anschluß an die Wirtschaftspolitik Grundregeln für die Sozialpolitik in den Artikeln 117 bis 128 aufgestellt, wobei ein Kapitell die Sozialfragen, ein Kapitel 2 den Europäischen Sozialfonds betrifft. In dem Artikel 117, welcher das Kapitel über die Sozialfragen eröffnet, wird das Prinzip aufgestellt: "Die Mitgliedstaaten sind sich über die Notwendigkeit einig, auf eine Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitskräfte hinzuwirken und dadurch auf dem Wege des Fortschritts ihre Angleichung zu ermöglichen." Fragt man nach dem Instrumentarium, mit dem diese Ziele erreicht werden sollen, so verweist der Absatz 2 des Artikels 117 zunächst auf das "eine Abstimmung der Sozialordnungen begünstigende Wirken des gemeinsamen Marktes" als auch auf die in diesem Vertrag vorgesehenen Verfahren und die Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften. Einen näheren Hinweis bringt dann Art. 118, der aber, wie oben gesagt, nur die Förderung der Zusammenarbeit vorsieht. Der Artikel 117 trägt einen allgemeinen Charakter. Er bringt eine allgemeine Tendenz zum Ausdruck, er setzt ein Ziel, gibt aber nicht die Möglichkeit, in die Rechtsordnungen der Staaten auf dem Gebiet der Sozialpolitik, insbesondere dem der sozialen Sicherheit, unmittelbar einzugreifen. Die nur sehr allgemein gehaltenen Vertragsziele auf sozialem Gebiet und die schwache Ausgestaltung der Durchführungsinstrumente führen zu dem Schluß, daß die Harmonisierung der sozialen Sicherheit - abgesehen von den Verordnungen über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer - in eine niedrige Stufe des Zusammenwirkens eingeordnet worden sind. Diese einengende Auslegung des Begriffs der sozialen Harmonisierung läßt sich auch historisch erklären. Bei Vertrags abschluß wurden den sozialen Bestimmungen des Vertrages überwiegend wirtschaftliche Erwägungen zugrunde gelegt. Ur-
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sprünglich wurde aus Konkurrenzsorge von einzelnen nationalen Delegationen eine völlige Vereinheitlichung der sozialen Sicherheit und anderer sozialrechtlicher Bereiche gefordert. Man wollte gleiche Startbedingungen im Konkurrenzkampf schaffen. Diese wirtschaftlich begründete Forderung nach Vereinheitlichung wurde im Verlaufe der Vertragsverhandlungen ausgeräumt. Die ursprünglich weitgehenden Bestimmungen blieben nur noch in Bruchstücken erhalten, können aber ihre wirtschaftliche Entstehungsursache nicht verleugnen. Wettbewerbsverfälschungen sind auch heute noch Begründungen für die Forderung nach einer sozialen Harmonisierung. Zwar hat sich in der weiteren Entwicklung die sozialpolitische Komponente des Vertrages zunächst mehr in den Vordergrund geschoben. Hallstein hat 1962 die Notwendigkeit der Harmonisierung aus allgemeinen, politischen, sozialen und ethischen Gründen für notwendig erklärt. Die "Angleichung" (!) der sozialen Sicherheit sei nicht statisch zu sehen, sondern könne nur in einer progressiven Entwicklung verlaufen. Einem radikalen Umbau der bestehenden Systeme stünden politische, wirtschaftliche und rechtliche Gründe im Wege. Sie erforderten Beschränkungen auf das Notwendige. Einer solchen Zielsetzung dürften aber nicht Argumente partikularistischer Genügsamkeit entgegengehalten werden. Diese behutsam optimistische Auslegung der sozialen Harmonisierung hatte seit dem Jahre 1963 einen Rückschlag erhalten. Die sozialpolitische Ausweitung des EWG-Vertrages, die parallel mit der ursprünglichen allgemeinen politischen Integrationsbemühung verlief, hatte mit dem Rückschlag dieser Entwicklung gleichfalls eine Einbuße erlitten. Die zwischenzeitlich restriktive Haltung, die von einem Mitgliedstaat zur inneren politischen Zielsetzung des Vertrages, zu der auch die soziale Integration gehört, eingenommen worden ist, hat in der Frage der Annäherung auf dem Gebiete der sozialen Sicherheit zu einer Stagnation geführt. Es ist dabei geblieben, daß im Bereich des Sozialrechts den Mitgliedstaaten grundsätzlich ihre souveräne Rechtsetzungsbefugnis belassen bleibt. Eine Übertragung nationaler Souveränitätsrechte auf die Europäischen Gemeinschaften und damit die Befugnis, supranationales Recht zu setzen, ist abgesehen von dem bereits erwähnten Artikel 51 nicht geschaffen worden. Auch dieser Artikel 51 geht von den selbständigen nationalen Systemen der sozialen Sicherheit aus. Die Aufrechterhalung der nationalen Souveränität im Bereich der sozialen Sicherheit hatte und hat zur Folge, daß sich diese Systeme in den Mitgliedstaaten selbständig weiterentwickeln. Die Gesetzgebungsverfahrenwurden weder koordiniert noch harmonisiert. Das unterschiedliche sozialpolitische Wollen und von Land zu Land unterschied-
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lich auftretende Bedürfnisse haben dazu geführt, daß die Systeme der sozialen Sicherheit sich unabhängig voneinander weiterentwickelt haben. Diese Entwicklungen haben Parallelen, aber auch Divergenzen gezeigt. Die Niederlande haben z. B. die Unfallversicherung als einen besonderen Zweig der Sozialversicherung abgeschafft. Divergierende Tendenzen wurden auch durch den Beitritt weiterer Staaten zunächst verstärkt. Das Vereinigte Königreich hat bekanntlich in seinem System der sozialen Sicherheit einen staatlichen Gesundheitsdienst. Andere Mitgliedstaaten haben ihr bisheriges System weiter ausgebaut und dabei sowohl materiell-rechtlich als auch organisatorisch an den vorhandenen Strukturen keine prinzipielle Änderung herbeigeführt. Eine Harmonisierung im Sinne eines gleichmäßigen und gleichzeitigen Vorgehens aller Mitgliedstaaten könnte sogar ein Hemmnis des sozialen Fortschritts sein. Noch immer bestehen hinsichtlich der Grundauffassungen über Schwerpunkte und der unterschiedlichen Bedürfnisse Differenzen, die es wenig aussichtsreich erscheinen lassen, noch dazu in Anbetracht der erheblichen organisatorischen Unterschiede, eine Leistungsart gleichmäßig weiterzuentwickeln oder auch nur ein gleichmäßiges Niveau dieser Leistungsart zu erreichen. Es ist z. B. zu beachten, daß in den französischen Familienbeihilfen gewisse Leistungsteile enthalten sind, die im deutschen System durch Maßnahmen der Wohnungsfürsorge geregelt werden. Der von der einen Seite her bestehenden Befürchtung, daß eine Harmonisierung in Form einer Harmonisierung "nach oben" erfolgen und damit eine vorschnelle Belastung der gesamten Wirtschaft einhergehen könnte, steht auf der anderen Seite die Sorge gegenüber, daß ein gemeinsames Vorgehen wegen der wirtschaftlichen, finanziellen und in der unterschiedlichen Tradition und Lebensauffassung begründeten Differenzen die Fortschritte nicht erreichen könne, die in den nationalen Gesetzgebungen erzielbar sind. Das gilt insbesondere bei der· Verbindung von Maßnahmen auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit mit anderen sozialpolitischen Maßnahmen. Hinzu kommt, daß selbst eine rechtliche Harmonisierung noch keineswegs eine tatsächliche Harmonisierung bedeuten würde. Als Beispiel sei an die niederländische Regelung der Invaliditätsversicherung gedacht. Hier sind auch bei einer nicht auf Unfall beruhenden Invalidität Stufen der Minderung der Erwerbsfähigkeit als ein Faktor für die Bemessung der Invaliditätsrenten vorgesehen. Dabei wird aber der Abnutzungszustand, der für ein bestimmtes Lebensalter und für den von dem Betreffenden ausgeübten Beruf typisch ist, als Normalzustand angesehen und erst eine darüber hinausgehende Beeinträchtigung der Arbeitskraft in Invaliditätsgraden bemessen. Selbst wenn man ein solches System für die übrigen EWG-Staaten übernehmen
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würde, so würde sich nach den zumindest in einigen Staaten herrschenden Traditionen der medizinischen Beurteilung, die im Einklang steht mit der allgemeinen Auffassung, praktisch eine andere Beurteilung der Invalidität ergeben. Harmonie heißt auch unter sozialen Aspekten nicht Schematismus. Eine angemessen progressive Konvergenz, d. h. eine weitere, den wirtschaftlichen Möglichkeiten und sozialen Auffassungen entsprechende Entwicklung der sozialen Leistungen und der zu sichernden Personenkreise, führt in sich auf die Dauer der Entwicklung zu einer Leistungssteigerung, die unter dem Aspekt des Funktionierens des gemeinsamen Marktes sowohl in wirtschaftlicher wie in sozialer Hinsicht als harmonisch angesehen werden kann, sofern man nicht Harmonie mit Egalität gleichsetzt. Diese Gedankengänge haben in den einzelnen Mitgliedstaaten eine wesentliche Rolle gespielt. Der Rechtszustand weitgehender Souveränität der Mitgliedstaaten auf dem Gebiete der sozialen Sicherheit und damit die Möglichkeit konvergierender, paralleler, aber auch divergierender Entwicklungen haben sich bisher nicht geändert. Hat sich die politische und damit die rechtspolitische Zielsetzung geändert? Zeigen sich Tendenzen, insbesondere für die Politik der sozialen Sicherheit, einen stärkeren Grad des Zusammenwirkens anzustreben, um zumindest in der Weiterentwicklung Divergenzen möglichst zu vermeiden und Parallelen oder konvergierende Entwicklungen zu fördern? Hier müssen wir noch einmal zurückgreifen auf den Zeitraum seit dem Jahre 1962, den wir soeben in seiner restriktiven Tendenz charakterisiert haben. Auf einer Zusammenkunft der Staats- und Regierungschefs vom 1. und 2. Dezember 1962 in Den Haag ist von den Fragen der Sozialpolitik lediglich eine Reform des Europäischen Sozialfonds angesprochen worden. Der Sozialfonds hat nach Artikel 123 die Aufgabe, "innerhalb der Gemeinschaften berufliche Verwendbarkeit und die örtliche und berufliche Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu fördern". Dieser Beschluß hat eine Reform im Bereich der Arbeitsmarktpolitik eingeleitet, die inzwischen durchgeführt worden ist. Er macht deutlich, welche besondere Aufmerksamkeit innerhalb der Europäischen Gemeinschaften diesem Teil der Sozialpolitik zugewendet wird. Der Sozialfonds dient dem Ausgleich von Kosten für Maßnahmen, die in den Mitgliedstaaten für Ausbildung, berufliche Weiterbildung, Umschulung u. ä. aufgewendet werden. Dagegen sind Hinweise auf die Politik der sozialen Sicherheit in diesen Haager Beschlüssen nicht enthalten. Eine besondere Aufmerksamkeit schien der Beschluß des Rates vom 6. März 1970 über das Verfahren für die Zusammenarbeit in Wirtschafts- und Währungsfragen zu verdienen. In diesem Beschluß wurde
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einer Expertengruppe unter dem Vorsitz des luxemburgischen Ministerpräsidenten und Finanzministers Pierre Werner der Auftrag erteilt, unter Analyse der verschiedenen Anregungen "Grundauffassungen für eine schrittweise Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion der Gemeinschaft" herauszuarbeiten. Der Werner-Gruppe gehörten u. a. an die Präsidenten des Währungs ausschusses und des Ausschusses der Gouverneure der Zentralbanken, die Vorsitzenden der Ausschüsse für mittelfristige Wirtschaftspolitik, für Konjunkturpolitik und für Haushaltspolitik, sowie ein Vertreter der Kommission. Auftrag und Zusammensetzung der Werner-Gruppe machten es erklärlich, daß sie entsprechend ihrer Ausrichtung an den sozialpolitischen Problemkreis von der Haushaltspolitik heranging. Diese nahm unter den Schwerpunkten der Politik für die erste Zeitstufe der Gesamtentwicklung einer Wirtschafts- und Währungsunion die erste Stelle ein (es schlossen sich Analysen und Vorschläge zur Steuer-, Kapitalmarkt-, internen Geld- und Kredit- sowie zur externen Währungspolitik und zu weiteren Gebieten an). Zur Haushaltspolitik waren folgende, damals alarmierend wirkende Grundsätze erarbeitet worden: "Nach Maßgabe der Wirtschaftslage des Landes sind quantitative Orientierungsdaten für die Eckwerte der öffentlichen Gesamthaushalte anzugeben, z. B. für die Gesamteinnahmen und -ausgaben, die Verteilung der Ausgaben auf Investitionen und Verbrauch sowie die Entwicklung und Größe des Haushaltssaldos. Besondere Aufmerksamkeit wird schließlich der Art der Finanzierung der Defizite oder der Verwendung der überschüsse gewidmet werden müssen." Diese zunächst scheinbar nur die allgemeinen Haushalte betreffenden Ausführungen erfahren aber sofort eine besondere Zuspitzung: "Zur Erleichterung der haushaltspolitischen Harmonisierung werden die Arbeiten über den Haushaltsvergleich quantitativ und qualitativ vertieft werden müssen. Quantitativ hätte der Vergleich sämtliche öffentlichen Haushalte, also auch die Haushalte der Gebietskörperschaften und der Sozialversicherung einzuschließen. Die Steuerbelastung und das Gewicht der öffentlichen Ausgaben in den einzelnen Ländern der Gemeinschaft sowie Auswirkungen wären zu berechnen, die von den öffentlichen Einnahmen und Ausgaben auf die inländische Gesamtnachfrage und die Geldwertstabilität ausgehen. Außerdem sollte ein Berechnungsverfahren entwickelt werden, das eine Bestimmung der Impulse ermöglicht, welche die öffentlichen Gesamthaushalte auf die Wirtschaft ausüben. Das alles dient dem Zweck, "ganz besonderen Nachdruck auf die bedeutenden Anstrengungen zu legen, die zur Koordinierung und Harmonisierung der Haushaltspolitik unternommen werden müssen". Für die Weiterentwicklung setzte der Werner-Bericht folgendes Ziel: Während des übergangs zum Endpunkt werden in der Haushaltspolitik
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"die Normen für die Änderung des Volumens für die Entscheidung und Größe der Salden der öffentlichen Haushalte zunehmend verbindlicher werden müssen". Im Endpunkt der Entwicklung wird die Wirtschaftsund Währungsunion auf dem Gebiete der Haushaltspolitik zu der Konsequenz führen, daß "die Eckwerte der öffentlichen Gesamthaushalte, insbesondere die Änderung ihres Volumens, die Größe der Salden sowie die Art ihrer Finanzierung oder Verwendung ... auf Gemeinschaftsebene festgelegt werden" müssen. Bei einer Weiterverfolgung dieser Zielsetzung hätte es, von technischen Fragen abgesehen, keinen entscheidenden Unterschied gemacht, ob es sich um Beitrags- oder aus Steuern finanzierte Systeme oder eine Mischform handelt. Leistungen und Finanzierung der Systeme, nicht institutionell, sondern funktional aufgeteilt, hätten sich einer vergleichenden Durchleuchtung des Finanzvolumens nicht entziehen können, mit entsprechenden konvergierenden und harmonisierenden Schlußfolgerungen. Hier war eine haushaltsrechtlich begründete Tendenz zur Harmonisierung zum Zwecke der Förderung einer schrittweisen Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion der Gemeinschaft herausgearbeitetworden. Auch von der Leistungsseite her sind zu Beginn der 70er Jahre harmonisierende Tendenzen hervorgetreten. So hatte im April 1972 im "Bulletin" der Bundesregierung der damalige Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Freiherr von Braun, drei Aufgaben der Sozialpolitik hervorgehoben: Die Reform des Europäischen Sozialfonds als Voraussetzung für eine aktive und dynamische Beschäftigungspolitik auf europäischer Ebene; die Freizügigkeit der Arbeitskräfte als ein europäisches Grundrecht und ihre Basis, ein einheitlicher Arbeitsmarkt; schließlich eine gemeinsame Sozialpolitik, die unverkennbar die soziale Sicherheit mit umfassen sollte. Ausgehend von dem Gedanken, daß die verschiedenen sozialpolitischen Grundvorstellungen und Strukturen zu spürbaren Unterschieden in Leistungen und Belastungen führen, stellt von Braun die Frage, "ob in der angestrebten weitgehenden Verschmelzung der nationalen Wirtschaftskörper der soziale Sektor aus der Integrierung herausgehalten werden kann". Er verneinte die Frage mit dem Hinweis, daß eine solche Heraushaltung: "zu einer starken Verzerrung der Startbedingungen" führen würde. Er schloß mit dem Gedanken: Vor allem kann unser verkündetes Ziel, diese noch unvollkommene Gemeinschaft an die Spitze des sozialen Fortschritts zu tragen, nur durch eine gemeinsame Politik verwirklicht werden." Gemeinsame Politik ist, wie oben dargelegt, die stärkste Form des Zusammenwirkens in den Europäischen Gemeinschaften. Hier war die leistungsrechtlich begründete Tendenz zur "Harmonisierung" der sozialen Sicherheit in Erscheinung getreten.
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Zu einer Verdichtung dieser Tendenzen mit einer erkennbaren normativen Auswirkung ist es jedoch nicht gekommen. Vielmehr ist es bei einer atmosphärischen Behandlung dieser Problemkreise geblieben. Das zeigte sich auf der Pariser Gipfelkonferenz vom 19. bis 21. Dezember 1972. Damals wurde auch unter dem Einfluß der deutschen Initiative die Zusammengehörigkeit der beiden großen Aufgabenbereiche, nämlich der Entwicklung einer Wirtschafts- und Währungsunion und der Förderung des sozialen Fortschritts, hervorgehoben. "Ein zu entwickelnder Katalog sozialer Grundprinzipien sollte zur Basis der gemeinschaftlichen Weiterentwicklung und schrittweisen Annäherung der Sozialpolitiken der Mitgliedstaaten gemacht werden." Zu diesem Zweck hatte die deutsche Bundesregierung angeregt, "die Methoden und Instrumente der europäischen Sozialplanung nachhaltig auszubauen". Insbesondere wurde gefordert, das Europäische Sozialbudget zügig voranzutreiben. Es sollte zunehmend ein Instrument zur Abstimmung der Sozialpolitiken der Mitgliedstaaten werden und einen Bericht darüber enthalten, welche Fortschritte in der stufenweisen Verwirklichung der gemeinschaftlichen Perspektive jeweils erreicht werden konnten. Die hierzu erarbeiteten Prinzipien müßten, "ausgehend von der Sicherung der Lebensgrundlagen, die sozialen Grundtatbestände (z. B. Krankheit, Invalidität, Alter, Arbeitslosigkeit) erfassen und gleichzeitig geeignete Verfahren zu ihrer schrittweisen Verwirklichung aufzeigen. Als übergreifende Zielsetzung sollte angestrebt werden, durch regelmäßige und dynamisierte Anpassung der Sozialleistungen das Niveau dieser Leistungen in jedem Mitgliedstaat an seiner wachsenden Wirtschaftskraft zu orientieren". Tritt im Werner-Bericht mehr die staatspolitische Seite der Sozialpolitik in einer bestimmten Perspektive, nämlich der Finanz- und Währungspolitik, hervor, so zeigt sich in der deutschen Initiative auf der Pariser Gipfelkonferenz mit unübersehbarer Eindringlichkeit der gesellschaftspolitische Affekt der Sozialpolitik: ihre Bedeutung für den Menschen und für menschliche Organismen und im Zusammenhang mit dieser humanitären Seite die Unentbehrlichkeit des gesellschaftspolitischen Elements für eine Integration Europas. Es ist nicht nur ein Zusammenschluß von Wirtschaftskräften, sondern ein Zusammenschluß der Bürger von Staaten und der in ihnen existierenden Gesellschaften. Das ergibt sich insbesondere aus folgenden, der Begründung der deutschen Initiative dienenden Gedankengängen: "Die fortschreitende wirtschaftliche Integration verlangt, daß die Systeme sozialer Sicherung für alle Bürger der Gemeinschaft geöffnet werden. Es darf keine Inseln der Schutzlosigkeit geben: Die Gemeinschaft muß zugleich ein Raum für soziale Stabilität und für die soziale
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Sicherung der in ihr lebenden Menschen sein. Nur auf diese Weise wird sich eine europäische Solidarität entwickeln, die eine dynamische Integration ermöglicht und gewährleistet." Nun aber schließt sich in der Begründung folgende, normative Konsequenzen stark einschränkende Erklärung an: "Die Perspektive gemeinschaftlicher Grundprinzipien sozialer Sicherung muß nicht bedeuten, daß die Sozialleistungssysteme auch institutionell vereinheitlicht werden: Sie soll vielmehr sicherstellen, daß die Qualitäten der sozialen Sicherung der Menschen in der Gemeinschaft im Wege des Fortschritts einander angenähert werden." In den politischen Zielvorstellungen ist die soziale Komponente stärker akzentuiert worden. Wirtschaftliche Expansion mit dem vorrangigen Ziel, regionale Disparitäten abzubauen und eine allgemeine Verbesserung der Lebensqualität und des Lebensstandards zu erreichen, kommen auch in der These zum Ausdruck, daß einem energischen Vorgehen im sozialpolitischen Bereich die gleiche Bedeutung zukommt wie der Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion. Hiervon ausgehend haben die Staats- und Regierungschefs auf der Pariser Gipfelkonferenz die Gemeinschaft aufgefordert, ein Aktionsprogramm bis zum 1. Januar 1974 vorzulegen. Dieses sozialpolitische Aktionsprogramm ist von der Kommission dem Rat am 25. Oktober 1973 vorgelegt worden. Der Rat hat in seiner Entschließung vom 21. Januar 1974 den politischen Willen zum Ausdruck gebracht, in einer ersten, den Zeitraum von 1974 bis 1976 umfassenden Stufe - zusätzlich zu den Maßnahmen, die im Rahmen anderer Politiken der Gemeinschaft beschlossen werden - die notwendigen Maßnahmen zur Verwirklichung bestimmter Ziele zu verabschieden. Unter diesen Zielen ist in dem Abschnitt über "Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, um auf dem Wege des Fortschritts ihre Angleichung zu ermöglichen", auch die Aufstellung eines Aktionsprogramms intendiert worden, das u. a. folgenden Tendenzen entspricht: "Weitere Bemühungen um eine beschleunigte Ausarbeitung des Europäischen Sozialbudgets; schrittweise Ausweitung der sozialen Sicherung, insbesondere im Rahmen der Systeme der sozialen Sicherheit, auf die Personengruppen, die durch die bestehenden Systeme nicht oder nur ungenügend gesichert sind; Förderung der Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit für Selbständige im Rahmen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs; Aufforderung an die Kommission, dem Rat einen Bericht über die Probleme der Koordinierung der Zusatzversorgungssysteme für Arbeitnehmer, die innerhalb der Gemeinschaft zu- oder abwandern, vorzulegen; schritt-
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weise Einführung von Verfahren zur Anpassung der Sozialleistungen an den wachsenden Wohlstand in den einzelnen Mitgliedstaaten." Entsprechend diesem dem politischen Willen des Rates der Europäischen Gemeinschaften betonenden Teil der Entschließung enthält der für die Durchführung der in dieser Entschließung vorgesehenen Aktionen Prioritäten setzende Teil folgendes: "Einführung einer geeigneten Abstimmung der Politiken der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der sozialen Sicherung; Aufstellung eines ersten Aktionsprogrammes insbesondere in bezug auf Gesundheitsschutz, Sicherheit am Arbeitsplatz, Gesundheit der Arbeitnehmer und Gestaltung der Arbeit, wobei auf den Gebieten begonnen wird, auf denen die Arbeitsbedingungen am schwierigsten sind; in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten Durchführung verschiedener besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut durch Ausarbeitung von Modellvorhaben." Die Pariser Gipfelkonferenz - und das zeigt sich auch in dem durch sie initiierten sozialen Aktionsprogramm - hatte nicht zu detaillierten Entschließungen geführt, welche die nationalen Systeme der sozialen Sicherheit und ihre Weiterentwicklung unmittelbar berühren konnten. Man hatte sich aber von den Akzentuierungen eine Signalwirkung versprochen. Es war eine Richtung gewiesen und ein Prinzip herausgearbeitet worden: nämlich das allen einzelnen Zielvorstellungen übergeordnete, sie alle umfassende und durchdringende Prinzip, alle Gebiete, die mit dem gemeinsamen Markt zusammenhängen, in den Tätigkeitsbereich der Gemeinschaft einzubeziehen. Dieses Prinzip trägt den Namen: Strukturelle Konvergenz. Die organisatorische Komponente des Prinzips zeigt sich u. a. darin, daß auf der Pariser Gipfelkonferenz die Staats- und Regierungschefs nicht, von Ausnahmen abgesehen, die Mitgliedstaaten, sondern die Organe der Gemeinschaft aufgefordert haben, die erforderlichen Aktionsprogramme und Maßnahmen in den einzelnen Bereichen der Politik, so z. B. der Sozialpolitik, zu beschließen. Selbstverständlich werden in diesen Gemeinschaftsorganen alle Mitgliedstaaten zur Wirkung kommen, aber es handelt sich doch um die Tendenz, den Organen der Gemeinschaft ein größeres Gewicht gegenüber den Mitgliedstaaten zu verschaffen. Dazu sollen "alle Bestimmungen der Verträge ... weitestgehend" ausgeschöpft werden. In diesem Zusammenhang ist auf Artikel 235 des Grundvertrages hingewiesen worden: "Erscheint ein Tätigwerden der Gemeinschaft erforderlich, um im Rahmen des gemeinsamen Marktes eines ihrer Ziele zu verwirklichen und sind in diesem Vertrag die hierfür erforderlichen Befugnisse nicht vorgesehen, so erläßt der Rat einstimmig auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung der Versammlung
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die geeigneten Vorschriften." Inwieweit Artikel 235 zur Fortentwicklung von Gemeinschaftsrecht und damit zur Begrenzung und Steuerung von nationalem Recht herangezogen werden kann, bleibt ein zu untersuchendes Problem, das auch als Ansatz für künftige Entwicklungsmöglichkeiten von Bedeutung werden kann. Auf der Pariser Gipfelkonferenz vom 10. und 11. Dezember 1974 ist der belgische Ministerpräsident Tindemans beauftragt worden, darzulegen, was unter dem Begriff "Europäische Union" zu verstehen ist. In seinem Bericht arbeitet Tindemans zum speziellen, sehr kurzen Abschnitt "Soziale Sicherung" den Gedanken heraus, daß die Europäische Union für "Löhne und Gehälter (Tarifhoheit?), für Renten, für die Sozialversicherung, für die Arbeitsbedingungen - unter besonderer Berücksichtigung der Probleme der arbeitenden Frau - ,Normen' setzen" muß, "die in allen unseren Staaten gelten". Der Begriff "Normen", welche die Europäische Union "setzen" soll hat hier eine aufgelockerte Bedeutung. Dies ergibt sich auch durch Einbettung in den vorangestellten allgemeinen sozialpolitischen Grundsatz, wonach die Sozialpolitik der Union "in ge zielten Maßnahmen zum Ausdruck kommen muß", "die auf europäischer Ebene die sozialen Zielsetzungen unseres Unternehmens in die Tat umsetzen und die für das Vorgehen der Mitgliedstaaten die Richtung setzen und ergänzen". Entscheidend aber bleibt: "Die Verteilung der Früchte des Wirtschaftswohlstands über Steuern, Sozialversicherung und öffentliche Investitionen bleibt im wesentlichen immer noch Sache der Staaten, die den - je nach Land verschiedenen - Traditionen und tatsächlichen Verhältnissen Rechnung tragen." Zusammenfassend zu diesem rechtspolitischen Abschnitt ist hervorzuheben: Besonders konkret war das Problem der "Harmonisierung" vom haushaltsrechtlichen Ansatz her angegangen worden (WernerBericht); intensiv war die Bedeutung der sozialen Sicherheit unter dem Gesichtspunkt auch der strukturellen Konvergenz auf der Pariser Gipfelkonferenz von 1972 hervorgehoben worden; rechtlich fast konturlos zeigt sich der Bereich der sozialen Sicherheit in Zusammennennung mit Arbeitsentgelten und Arbeitsbedingungen im Tindemans-Bericht. Als vorläufiges Ergebnis für Fragen des Sozialrechtsvergleiches ist folgendes hervorzuheben: Zusammenfassung 1. Der Ausdruck "Harmonisierung" und die zum gleichen Wortfeld gehörenden Ausdrücke "Angleichung", "Annäherung", "Anpassung", "Abstimmung" und "Vereinheitlichung ", "gemeinsame Politik", "Koordinierung" in dem Gründungsvertrag der EWG 14 Sozialrechtsvergleich
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Kurt Jantz und in den anderen Amtssprachen teils sich überkreuzend verwendeten Ausdrücke und die daraus sich ergebende teilweise vertauschbare Verwendung stehen sowohl einer grundsätzlichen begrifflichen Unterscheidung als auch einer eindeutigen Abstufung nach dem Grade der Intensität entgegen. 11. Von der Gründung der EWG bis zu der jetzigen Rechtssituation in der EG haben sich der Rechtszustand weitgehender Souveränität der Mitgliedstaaten auf dem Gebiete der sozialen Sicherheit und damit die Möglichkeiten konvergierender paralleler, aber auch divergierender Entwicklungen nicht geändert. III. Eine Übertragung nationaler Souveränitätsrechte auf die EWG/EG ist lediglich im Artikel 51 des Gründungsvertrages, der die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer betrifft, geschaffen worden. Auch dieser Artikel und die auf ihn gestützten EWG/EG-Verordnungen gehen vom selbständigen nationalen System der sozialen Sicherheit aus. IV. Allgemein politische, wirtschafts- und sozialpolitische, finanzund monetärpolitische Tendenzen haben auf dem Gebiete der sozialen Sicherheit nicht zu einer Verdichtung rechtspolitischer Bestrebungen mit dem Ziele einer normativen Vereinheitlichung der nationalen Systeme geführt. V. Eine Annäherung der Systeme der sozialen Sicherheit mit Förderung einer konvergierenden Tendenz ist rechtspolitisch aussichtsreicher als mit einer uniformierenden Tendenz. Ein Sozialrechtsvergleich mit der Ermittlung und Feststellung von Übereinstimmungen und Unterschieden wird sich zweckmäßig auch auf Möglichkeiten einer rechtskonstruktiven Annäherung der Sozialrechtssysteme erstrecken. VI. Ein funktioneller Vergleich verdient den Vorzug vor einem institutionellen Vergleich. VII. Eine Annäherung der Systeme kann sich gesetzgebungstechnisch in verschiedenen Formen vollziehen: gegenseitige Konsultation der nationalen Gesetzgebungsorgane, Förderung dieser Konsultation durch eine supranationale Institution, Ausweitung der supranationalen Gesetzgebungsbefugnisse.
VIII. Zur Förderung der Annäherungstendenzen ist es nützlich, durch Sozialrechtsvergleich die begrifflichen Voraussetzungen für gesetzgebungstechnische Verwirklichungen zu schaffen. IX. Ein wirklichkeitsnaher Sozialrechtsvergleich muß sich auch auf einen Vergleich der Sozialstrukturen erstrecken. Dadurch wird
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zugleich ein besserer Raum für Rechtsgestaltung geschaffen und die Gefahr eines unmittelbaren Überganges von allgemeinpolitischen Begriffen zu formulartechnischer Verengung beseitigt oder doch gemildert. X. Bei der teils bereits verwirklichten, teils sich immer mehr ausbreitenden Tendenz zur Universalität des geschützten Personenkreises bietet sich dieser Problemkreis als realisierungsgünstig für einen Rechtsvergleich an unter Berücksichtigung der verschiedenen Formen - Versorgung oder Versicherung mit der Unterteilung in Pflichtversicherung, Möglichkeiten freiwilliger Versicherung sowie Pflichtversicherung auf Antrag. XI. Hinsichtlich des Leistungsrechts ist im Rechtsvergleich ein sehr umfangreiches Problemfeld zu bearbeiten. Das gilt nicht nur für "quantitative" Unterschiede, sondern auch für die Art der Leistungen, für unterschiedliche Begriffsinhalte bei den Leistungsvoraussetzungen - z. B. bei "Invalidität" -, bei der Struktur der Leistungen - Geldleistungen, Sachleistungen, funktionale Leistungen -, bei der Verzahnung der Leistungen. Im gesamten Leistungsrecht verdient die funktionale Methode unter jeweiliger Begrenzung der Untersuchung auf einzelne Problemkreise den Vorzug. XII. Der Sozialrechtsvergleich ist sowohl für die Erfüllung der Aufgabe nützlich, den Einzelnen vor Nachteilen zu schützen, als auch für die weitere Aufgabe, daß durch eine Kumulierung von Ansprüchen aus den verschiedenen Systemen dem Wanderarbeitnehmer in bestimmten zufälligen Situationen ungerechtfertigte Vorteile gegenüber den in seinem Heimatland verbliebenen Arbeitnehmern entstehen (Vermeidung einer Diskriminierung der letztgenannten Personen). XIII. Der Sozialrechtsvergleich muß gegebenenfalls benachbarte Gebiete (Arbeitsrecht, Steuerrecht) begrenzt miteinbeziehen. XIV. Die unterschiedliche Finanzierung - Beitragssysteme, Nichtbeitragssysteme = aus Steuern finanzierte Systeme - bringt insbesondere das methodische Problem, Sozialrechtsvergleich abzugrenzen gegen ökonomische Untersuchungen, die u. a. im Zusammenhang mit einem Europäischen Sozialbudget anzustellen sind. XV. Hinsichtlich der Organisationsstruktur - z. B. staatliches System oder Selbstverwaltungskörperschaften - wird man auch bei konvergierenden Tendenzen hinsichtlich des Personenkrei-
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Kurt Jantz ses und des Leistungsrechts in jedem einzelnen Staat mit einem Festhalten an der vorhandenen Organisationsform oder allenfalls an einer eigenständigen Weiterentwicklung rechnen müssen.
XVI. Jede Tendenz zu einer Annäherung der Sozialrechtssysteme, insbesondere der Sozialversicherungsrechtssysteme in den EG setzt erfolgreiche Parallelbemühungen der Haushalts- und Steuerpolitik, der Kapitalmarkt-, Geld- und Kreditpolitik voraus. In diesem Zusammenhang ist die Aufgabe des Sozialrechtsvergleichs nicht aufschiebbar, etwa bis zu dem Zeitpunkt, in dem die Harmonisierung des Lebensstandards der Erwerbstätigen, die Einheitlichkeit der Währung und die Harmonisierung der Finanzierung erreicht wäre. Vielmehr muß der Sozialrechtsvergleich gleichzeitig mit rechtsvergleichenden Arbeiten in den anderen Sachgebieten durchgeführt werden. XVII. Auf diese Weise kann erreicht werden, daß in einem späteren Zeitpunkt gesamtpolitischer Willensbildung auch im Sozialrechtsbereich in konkreter, die Sozialstrukturen einbeziehender Weise begriffskonstruktiver Arbeit die notwendige Vorbereitung für ein gemeinsames europäisches Recht mitgeschaffen sein wird. Summary I. The term "harmonization" and its synonyms "approximation", "alignment", "agreement", "unification", "common policy" and "co-ordination" which are to be found in the Rome Treaty as weIl as the sometimes overlapping terms used in the other official languages defy a fundamental definition of terms and a clear differentiation by degree of intensity. 11. From the days of foundation of the EEC up to the present day of the EC the legal status of far-reaching sovereignty of the member states in the field of social security, with its possibilities of parallel or convergent and of divergent developments, has not changed. II!. A transfer of national sovereignty rights to the EEC/EC has only be ein provided for by Artic1e 51 of the Rome Treaty dealing with the social security of migrant workers. However, this Artic1e as weIl as relevant EEC/EC regulations are based on the concept of independent national social security schemes.
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IV. Economic, social, financial, and monetary policies have failed to intensify efforts of legal policy in the field of social security to standardize and unify the various national schemes. V. In legal policy it is more promising to support convergent tendencies than unifying tendencies towards approximation of social security schemes. When comparing social legislation with the aim of determining similarities and differences it is useful also to investigate the possibilities of a legally constructive approximation of social security schemes. VI. A functional comparison is preferable to an institutional comparison. VII. In the field of legislature approximation may assurne different forms: mutual consultations of the national legislative bodies, establishment of a supranational institution in support of these consultations, extension of supranational legislative powers. VIII. To promote the tendencies towards approximation it is useful to provide legislature with an appropriate terminology by a comparison of sociallegislation. IX. A realistic comparison of social legislation must include a comparison of social structures. This gives more room for the making of law and eliminates or at least re duces the risk of a direct transition from the more general political terms to the narrow terminology of printed forms. X. In view of the partly materialized, partly growing tendency towards universal coverage the problems of social security particularly lend themselves to a comparison of social legislation including the different forms of income maintenance or insurance with its subdivisions compulsory insurance, voluntary insurance and compulsory insurance on application. XI. As regards the benefit schemes many a problem must be dealt with in the comparative social legislation. This does not only imply "quantitative" differences but also the kind of benefits granted, different notions associated with terms used in the conditions for benefits, e. g. "Invalidität" (disablement), the structure of benefits - pecuniary benefits, benefits in kind, functional benefits - and the interdependence of benefits. Where benefits are concerned the functional method of investigating individual problems is to be preferred. XII. A comparative social legislation is not only useful in order to protect individuals from dis advantages but also in order to
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Kurt Jantz prevent that under certain circumstances migrant workers will enjoy unwarranted privileges over employees in their home countries as a result of cumulating claims under different schemes (avoiding the discrimination of the latter persons).
XIII. If necessary, the comparison of sociallegislation must extend to neighbouring fields (industriallaw, tax law). XIV. The differences in finaneing - eontributory schemes, noneontributory schemes = tax-finaneed schemes - entail the methodological problem of limiting eomparative soeial legislation against eeonomie investigations made inter alia in· eonneetion with an European social budget. XV. On the organizational level - e. g. state-eontrolled schemes or self-governing schemes - each country will presumably adhere to existing struetures or at best promote the development of independence in spite of convergent tendencies with regard to the persons insured and the benefits granted. XVI. Every tendeney towards an approximation of social legislation systems, in partieular social seeurity schemes, in the EEC countries must be aeeompanied by eorresponding suecessful efforts in budgetary, monetary, eredit and investment policies. In that eonneetion the tasks to be fulfilled by eomparative social legislation eannot be put off to a time when for instanee the living standards of the employed have been adjusted, monetary standardization has been reached and financing has been harmonized. On the eontrary, simultaneously with the comparison of so ci al legislation similar eomparisons must be made in other branches of law . . XVII. In this way it can be achieved that at some later date through the eommon will·of the people the neeessary basis for a eommon European law will have been laid also in the field of social legislation by eoncrete, terminologie al work taking into eonsideration the social struetures.
DISKUSSIONSBERICHT
Dem Referat schlossen sich zunächst Überlegungen zur Integrationsfunktion des EuGH an; den Schwerpunkt der weiteren Diskussion bildete dann die Frage nach der spezifischen Bedeutung der Rechtsvergleichung für die Harrnonisierung europäischer sozialrechtlicher Regelungen. Zum Schluß wurden noch einige besondere Probleme der europäischen Sozialpolitik erörtert. Die Diskussion um die Rolle des EuGH bei den Integrations- und Harmonisierungsbestrebungen innerhalb der EG entzündete sich an der Feststellung, daß im Bereich des Sozialrechts der EuGH den Leistungskumulationen keinen Einhalt gebiete. Diese Leistungskumulationen treten z. B. bei Wanderarbeitnehmern auf, die ihre Rentenansprüche bzw. -anwartschaften aus dem Heimatstaat behalten, auch wenn sie in einem anderen EG-Staat die Arbeit aufnehmen und dort zusätzliche neue Ansprüche erwerben, und zwar ungeachtet dessen, daß nach ihrem Heimatrecht die zu beanspruchenden Rentenleistungen eine bestimmte Höhe nicht überschreiten dürfen. Dieser Fehlentwicklung sei der EuGH aus rein auf das Interesse der Betroffenen abgestellten Erwägungen nicht entgegengetreten und habe insoweit integrationshemmend gewirkt. Der Gesichtspunkt des "sozialen Mitleids", der nach Ansicht des Referenten im Bereich der Sozialrechtsprechung des EuGH vorherrschend sei, sei wenig geeignet, das Sozialrecht der verschiedenen EG-Staaten auf europäischer Ebene supranational fortzubilden. Es überraschte hier auch die Diskrepanz zur sonst anzutreffenden Integrationsfreudigkeit des EuGH, etwa auf dem Gebiet der Grundrechtsinterpretation. Die Zurückhaltung des EuGH im Bereich seiner Sozialrechtsprechung, solche Fehlentwicklungen zu steuern, beruhe vorwiegend wohl auf zwei Gründen: Einmal sei das Sozialrecht so komplex, daß die Fernwirkungen einer Entscheidung schlecht absehbar seien, zumal die Richter des EuGH mit dieser schwierigen Materie vielleicht weniger vertraut seien als mit verfassungs- und wirtschaftsrechtlichen Fragen; zum andern seien oftmals die einer Entscheidung zugrundezulegenden sozialrechtlichen Regelungen so lückenhaft, daß sie kaum eine Basis für Weiterentwicklungen abgeben könnten. Die EuGHRechsprechung berge so die Gefahr in sich, daß mehr und mehr die Rentenanwartschaften zu Besitzständen würden, das gehobene System der sozialen Sicherheit sich immer weiter von der Grundidee der sozia-
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len Sicherung als Basissicherung und Hilfe zur Besitzstandwahrung entferne und so zu einem Mittel werde, Besitzstände letztlich auf Kosten der bodenständigeren Arbeitnehmer zu vermehren. Hieran schlossen sich überlegungen zur spezifischen Rolle des Rechtsvergleichs bei der Abfassung und der Auslegung von EWG-Verordnungen an. Zunächst wurden die Unterschiede zur Funktion des Rechtsvergleichs im Rahmen der ILO betont. Während es bei den internationalen Abkommen, die die ILO vorbereite, darum gehe, gewisse soziale Mindeststandards verbindlich zu machen und die rechtsvergleichende Arbeit hierfür die grundlegenden Voraussetzungen schaffe, habe es die EG-Kommission mit unterschiedlichen und sehr entwickelten sozialrechtlichen Regelungen zu tun, die es einander näherzubringen gelte. Der Rechtsvergleich spiele hier zwar als Voraussetzung für die Abfassung von EWG-Verordnungen auch eine gewisse Rolle, vornehmlich aber doch bei der Auslegung dieser Verordnungen. EWG-Recht sei zunächst zwar autonom aus sich heraus auszulegen. Es trete aber auch die rechtsvergleichende Auslegungsmethode hinzu. Dadurch entstehe ein Spannungsverhältnis der beiden Auslegungsmethoden, das die Bedeutung des Rechtsvergleichs einschränke. Es sei zu fragen, ob dies vielleicht auch impliziere, daß in praxi die Rechtsvergleichung auch bei der Schaffung neuer EWG-Verordnungen eine sekundäre Rolle spiele. Dies würde bedeuten, daß im Bereich des vertikalen Rechtsvergleichs noch zu differenzieren wäre zwischen dem Vergleich nationalen Rechts mit internationalem Recht einerseits und dem Vergleich nationalen Rechts mit supranationalem Recht andererseits. Die EG-Harmonisierung sei nicht zuletzt gerade deshalb so viel schwieriger als die Aushandlung internationaler ILO-Abkommen, weil jede Harmonisierungsentscheidung der EG-Kommission unmittelbar ein Stück Souveränitätsverlust für die europäischen Nationalstaaten bedeute. Im übrigen tue man sich mit der Harmonisierung des Sozialrechts der EG-Staaten auch deshalb so schwer, weil es vielfach um Detailfragen gehe, deren unterschiedliche nationale Regelungen oft auf grundlegenden Systemunterschieden beruhten. Kein Staat sei aber bereit, seine - oft auch nur vermeintlichen - sozialen Errungenschaften dem europäischen Gedanken zu opfern. So trennten sich Luxemburg und die BRD nicht von ihrem Altersrentensystem, Frankreich nicht von seiner Organisation der Familienbeihilfen und England nicht von seiner Errungenschaft des nationalen Gesundheitsdienstes. Dies alles sei bei der rechtsvergleichenden Arbeit, die einen Beitrag zur Harmonisierung der europäischen Sozialrechte leisten solle, zu berücksichtigen. So biete sich hier der funktionale Ansatz besonders an. Es sei nicht zu erwarten, daß die unterschiedlichen Strukturen der sozialrechtlichen Systeme vereinheitlicht werden könnten, solange man
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nicht wisse, wo der gleiche Lebenssachverhalt von ihnen besser oder schlechter erfaßt werden könne. Es komme daher darauf an zu wissen, wie z. B. der Invalide, der Arbeitslose oder der Kranke konkret in den jeweiligen nationalen Sozialrechtsordnungen gestellt sei, welche Leistungen diese Adressatengruppen konkret erhielten, was diese Leistungen wert seien. Es wurden weiter Methodenfragen der Rechtsvergleichung im Zusammenhang mit der Harmonisierung von Vorschriften im Rahmen der EG angesprochen. Hier biete sich eine grobe Unterscheidung an: Man könne Rechtsvergleichung im Hinblick auf die Rechtsanwendung betreiben, etwa in Hinblick auf die Anwendung einer EWG-Verordnung oder die Anwendung einer ILO-Norm. Rechtsvergleichung könne weiter in Hinblick auf Rechtsschöpfung betrieben werden. Das Spezifische in der europäischen Rechtsschöpfung liege in der doppelten Verankerung im europäischen Recht, den EG-Verträgen, und auf der anderen Seite in den bestehenden mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen. In der Harmonisierung stecke ein gewisser Konservativismus, der darauf beruhe, daß diese Rechtsordnungen hingenommen werden müssen. In diesem Zusammenhang müsse man die Rolle der Rechtsvergleichung in drei Phasen sehen. Da sei zunächst die Tatbestandsaufnahme von Gleichheiten und Ungleichheiten. Zum zweiten müsse man die Möglichkeiten der Veränderungen, der Angleichung sehen. Schließlich gehe es zum dritten um die Kontrolle der Konsequenzen und Wirkungen. Für die Feststellung von Gleichheiten und Ungleichheiten (erste Phase) sei ein doppelter Zugang zu erwägen. Zunächst sei hier ein funktionaler Ansatz angebracht: Welche Probleme sind hier wie dort zu regeln und geregelt? Von Bedeutung sei weiter aber auch der nominalistische Zugang: die Frage nach gleich benannten Regelungen. Dieser Zugang diene dazu, die Scheu davor zu nehmen, daß man glaube, Sachen opfern zu müssen, wo nur Begriffe zu opfern seien. Die Aufklärung des Sachhintergrundes von Begriffen sei hierfür ein wichtiger Schritt der Rechtsvergleichung. Die funktionale Betrachtungsweise dürfe sich nicht in partikularen Ansätzen erschöpfen, sie müsse vielmehr möglichst umfassend sein. In dieser Phase sei echter wissenschaftlicher Rechtsvergleichmöglich. Bei der zweiten Phase, der Entwicklung der Möglichkeiten von Angleichung und ihrer Bewertung werde der Weg der rein wissenschaftlichen Rechtsvergleichung verlas,.. sen. Die Rechtsvergleichung könne hier zwar noch Hilfen geben, die Entscheidungen müßten jedoch politisch getroffen werden. In der dritten Phase, . bei der Wirkungskontrolle, könne man wieder primär wissenschaftlich arbeiten. Die Frage nach den Fernwirkungen einer Entscheidung sei objektiver Natur und könne rein wissenschaftlich'
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beantwortet werden, wenn man sich auch über die grundsätzliche Unendlichkeit dieser Wirkungen im klaren sein müsse. Zum Schluß der Diskussion wurden noch Ausführungen zum Standort der Sozialpolitik in der Europapolitik gemacht. Zur Einigung der EG-Staaten dränge die Einheit des Wirtschaftsraumes mit ihren sozialen Konsequenzen aus Gründen der Wettbewerbsbedingungen und aus Gründen der Freizügigkeit der Arbeitnehmer. Die Freizügigkeit sei überhaupt eine Grundbedingung der Einigung. Das nächste sei das Ziel, auch über die Grenzen hinweg eine gewisse Gleichheit zu erreichen. Hier dränge sich aber wieder der Gedanke auf, daß bei starker Annäherung der Lebensverhältnisse auch die Konfliktsgefahr steige. Der Integrationstrieb zur Gleichheit hin sei deshalb nicht mehr völlig ungebrochen. Eine Einigung bei der Sozialpolitik sei aber aus mehreren Gründen gehindert. Die Sozialpolitik stelle heute den Schatz der nationalen Politik dar. Keine nationale Politik könne auf die eigene Gestaltung der Sozialpolitik verzichten. Solange der Schwerpunkt der Politik insgesamt bei den Nationalstaaten liege, könne keine wirkliche europäische Sozialpolitik betrieben werden. Weiter seien die gesellschaftlichen Strukturen, welche die Sozialpolitik tragen und bestimmen, für eine Konzentration auf die Nationalstaaten verantwortlich. Keine Politik sei so verbandspolitisch besetzt wie die Sozialpolitik. Es sei verfehlt, nur die Regierungsstruktur nach Europa übertragen zu wollen. Wenn man eine wirkliche europäische Politik haben wolle, müsse man die gesellschaftlichen Strukturen stärker nach Europa ziehen. Die gesellschaftlichen Strukturen seien jedoch bisher nicht nach Europa übertragbar, da in den jeweiligen Ländern die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände über ein eingespieltes System verfügten, und man nicht wisse, welches dieser Systeme für Europa anwendbar sei. Diese gesellschaftliche Schwelle von der nationalen zur europäischen Politik werde nicht überschritten, und deswegen bleibe gerade die Sozialpolitik im nationalen Rahmen verfangen. Die von Europa anvisierte Sozialpolitik habe bisher einen ganz bestimmten Bereich, nämlich den der typisierenden Sozialpolitik, der abgrenzbaren, wahrnehmbaren Maßnahmen. Die Sozialpolitik spreche gezielt Gruppen an. Sie sei deshalb auch gerade verbandspolitisch besetzt. Diese typisierende Sozialpolitik sei kompliziert und schaffe Besitzstande. Wegen der Kompliziertheit der Sozialpolitik weiche man in der Europapolitik aus auf robuste Durchlässigkeitsmechanismen. Außerdem könnten die sozialpolitischen Besitzstände nicht mehr abgebaut werden, eher im Gegenteil, sie würden aufgestockt. Deshalb werde auch in der europäischen Harmonisierungspolitik eher kumuliert als abgebaut.
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Weil sie nun gerade die typisierende Sozialpolitik nur begrenzt aus der nationalen Ebene habe lösen können, habe sich die Kommission der EG neuerdings auf die Armutspolitik gestürzt. Armutspolitik sei atypisch. Die mächtigen sozialpolitischen Organisationen befaßten sich nicht mit ihr. Die gesellschaftlichen Strukturen könnten aber auf diese Weise nicht nach Europa gebracht werden. Neuerdings sei nun aber auch der Versuch zu sehen, die Verbandsstrukturen nach Brüssel zu ziehen. Dabei tauche auch eine Konkurrenz zwischen der Kommission und dem Rat auf. Die Kommission versuche auf diese Weise, einen Vorsprung vor dem Rat zu bekommen. Die im Rat sitzenden nationalen Regierungen wollen die verbandspolitische Dominanz der Nationalstaaten erhalten. Die Überführung gesellschaftlicher Strukturen nach Brüssel versuche man auf zweierlei Weise. Die Kommission versuche, die Gewerkschaften an sich zu binden. Da aber gerade die Gewerkschaften schwer an Brüssel zu binden seien, versuche man jetzt weiter, die freien Wohlfahrtsverbände heranzuholen. Sachlich decke sich das mit der "Armutspolitik" der Kommission. Möglicherweise sollten die Gewerkschaften so vor die Bedrohung gestellt werden, auf europäischer Ebene ihr allgemeines sozialpolitisches Mandat einzubüßen, wenn sie nicht selbst "europäischer" würden. Ferner wurde noch auf allgemeine Probleme der Harmonisierung eingegangen. So müsse man untersuchen, ob die Unterschiede in den einzelnen Staaten auf unterschiedlichen tatsächlichen Sozialstrukturen beruhten, oder ob die rechtlichen Systeme der sozialen Sicherheit anders geprägt seien. Hier komme es wiederum darauf an zu unterscheiden, ob die Unterschiede nur rechtstechnischer, verwaltungsmäßiger Art seien, oder ob die Systeme der sozialen Sicherheit unterschiedlich strukturiert seien. In diesem Zusammenhang wurde noch darauf hingewiesen, daß man untersuchen müsse, wie sich seit Bestehen der EG die Sozialsysteme in den einzelnen Staaten zueinander hin entwickelt hätten. So wende sich z. B. das System der englischen Rentenversicherung wieder mehr dem System Bismarcks zu; es sei eine Abkehr von der allgemeinen Staatsbürgerversorgung festzustellen. Könnte man diese Tendenzen herausschälen, so würden sich für die Harmonisierungsproblematik neue Aspekte ergeben. Bearbeiter: Faude / Igl
Was ergeben die Erfahrungen bei der sozialrechtlichen Beratung von Entwicklungsländern für die Methoden des Sozialrechtsvergleichs, insbesondere für den Vergleich zwischen Industrie- und Entwicklungsländern? Von Rudolf Echterhölter
I. Wenn ich hier über die sozial rechtliche Beratung von Entwicklungsländern berichte und aus den gemachten Erfahrungen einige Folgerungen für die Methoden des Sozialrechtsvergleichs ziehe, so bin ich mir dessen bewußt, daß auf diese Weise bestenfalls einige Mosaiksteinchen in ein großes Gesamtbild eingefügt werden können. Gestatten Sie mir einige Vorbemerkungen: 1. Man könnte die ganze für das Referat zur Verfügung stehende Zeit damit verbringen, abzugrenzen und zu definieren, was Entwicklungsländer sind und ob man im Zusammenhang mit der Sozialrechtsberatung diesen Begriff anders als üblich abgrenzen und definieren sollte. Ich will mich damit nicht aufhalten, sondern statt dessen hier rein positivistisch ansetzen: Mit Entwicklungsländern meine ich jene Länder, denen wir in der Praxis der Bundesregierung "Technische Hilfe" leisten, wobei der Ausdruck "Technische Hilfe" alles das umfaßt, was an Wissen und Können vermittelt wird. Bei den wenigen Ländern, denen wir solche Hilfe im Bereich der sozialrechtlichen Beratung bereits gewährt haben oder noch gewähren, ergeben sich insoweit ohnehin keine besonderen Abgrenzungsprobleme.
2. Das mir vorliegende Erfahrungsmaterial ist recht begrenzt: Es betrifft neben den Eindrücken, die ich in 15jähriger Tätigkeit im Rahmen der Entwicklungshilfe gesammelt habe - ohne daß ich jedoch selbst konkrete Beratungsaufgaben zu übernehmen hatte - die Erfahrungen von 4 deutschen Experten, die Entwicklungsländer sozialrechtlich beraten haben. Selbstverständlich trage ich allein die Verantwortung für etwaige Mißverständnisse, die mir dabei unterlaufen sein sollten.
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Das ist nicht viel, vor allem, wenn man es mit den umfassenden Erfahrungen vergleicht, die beispielsweise die Internationale Arbeitsorganisation gesammelt hat: Sie wurde in diesem Bereich bereits helfend und beratend tätig, als der Begriff der Entwicklungshilfe noch nicht in die internationale Diskussion eingegangen war. Gleichwohl hat die Behandlung des Themas durch jemand, der nicht Beamter einer internationalen Organisation ist, möglicherweise zwei Vorteile: a) Die Entwicklungshilfe ist in mancherlei Hinsicht ein "heißes Eisen", und da pflegen internationale Beamte sich besonders vorsichtig auszudrücken, wenn sie überhaupt etwas von sich geben, was den Informationsgehalt ihrer Äußerungen nicht gerade erhöht. b) Die Besonderheiten eines Entwicklungslandes oder mehrerer Entwicklungsländer treten plastischer hervor, wenn man sie vor dem Hintergrund der nationalen Sozialrechtsordnung eines bestimmten Industriestaates betrachtet, als wenn man als Ausgangspunkt jene aus vielfältigen Elementen gemischten Vorstellungen verwertet, die häufig das Denken eines internationalen Beamten beherrschen. 3. Die sozialrechtliche Beratung von Entwicklungsländern unterscheidet sich m. E. von jenen anderen Formen internationaler Zusammenarbeit im Sozialrechtsbereich, die wir hier als Ausgangspunkt der verschiedenen Referate gewählt haben. Der Unterschied vor allem zum Setzen und zur Anwendung internationaler Normen, seien sie multilateral oder bilateral, liegt vor allem darin, daß bei der Entwicklungshilfe der Sozialrechtsvergleich in weniger engem Zusammenhang zu dem zu lösenden Problem steht als bei anderen Formen internationaler Zusammenarbeit. Lassen Sie mich konkret werden: Bei den von internationalen Organisationen erarbeiteten multilateralen Instrumenten geht es um eine Harmonisierung der Sozialrechtsordnungen mehrerer oder vieler Länder. Eine solche Harmonisierung kann die Grundlagen der Sozialrechtsordnung betreffen, wie dies etwa beim Weltpakt der Vereinten Nationen über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte der Fall ist, oder bei der Europäischen Sozialcharta. Die Harmonisierung kann aber auch einzelne Gebiete des Sozial rechts betreffen, wie dies bei zahlreichen Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation der Fall ist. Ein solches Streben nach Harmonisierung setzt eine realistische Einschätzung der Möglichkeiten voraus, entsprechende Schritte in den einzelnen Ländern zu vollziehen, und damit eine gute Kenntnis ihrer rechtlichen Gegebenheiten. Je besser sie ist, desto leichter wird es fallen, bei der Ausarbeitung der Texte Formulierungen zu finden, die schließlich für alle annehmbar sind.
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Noch deutlicher wird der Bezug zum Rechtsvergleich, wenn es darum geht, durch ein Sozialversicherungsabkommen zwei oder mehrere Sozialrechtsordnungen miteinander zu verknüpfen. Man denke etwa an die Probleme, die sich aus der Verknüpfung beitragsfreier Systeme (z. B. staatlicher Gesundheitsdienst, allgemeine Volksversorgung) mit entsprechenden Bestandteilen von Sozialversicherungssystemen (Krankenversicherung, Rentenversicherung) ergeben, oder aus dem Zusammentreffen eines Systems der Kostenerstattung in der Krankenversicherung mit einem System, das weitgehend auf Sachleistungen beruht wie das unsrige. Ganz anders sind die Aufgaben eines Sozialrechtsexperten, der ein Entwicklungsland berät. Zwar ist es nützlich und sogar notwendig, daß er über fundierte Kenntnisse eines funktionierenden modernen Sozialrechtssystems verfügt, in der Regel des Systems seiner Heimat. Doch muß er sich im Laufe seiner Arbeit davon weitgehend loslösen, wenn er seine Aufgabe lösen will: dem Entwicklungsland praktikable Möglichkeiten zum Aufbau oder Ausbau eines Sozialrechtssystems zu geben, das den besonderen Gegebenheiten des betreffenden Landes Rechnung trägt. 4. Gleichwohl ist es wichtig, in die Überlegungen zum Sozialrechtsvergleich auch die Erfahrungen im Rahmen der Entwicklungshilfe einzubeziehen wegen der besonderen Kenntnisse der Entwicklungsländer, welche sich die Sozialrechtsexperten im Laufe ihrer Tätigkeit aneignen. Damit soll nicht gesagt sein, daß nicht auch anderswo solche Kenntnisse vorhanden wären - etwa bei internationalen Organisationen, oder bei jenen, die Sozialversicherungsabkommen und andere bilaterale Verträge im Bereich des Sozialrechts mit einem Entwicklungsland schließen oder an ihrer Durchführung mitwirken. Doch können die Experten der Entwicklungshilfe manches zusätzlich einbringen: a) Die Informationen der internationalen Organisationen - soweit sie nicht selbst anläßlich der Durchführung von Aufgaben der Entwicklungshilfe gesammelt werden - beruhen im wesentlichen auf Angaben der Regierungen der betreffenden Länder. Sie sind oft lückenhaft und lassen häufig eher erkennen, was sein sollte, als was wirklich ist. Der Informationsgehalt solcher Angaben wird vielfach weiter verdünnt, wenn sie zu Veröffentlichungen verarbeitet werden: Meist sind die internationalen Organisationen ängstlich bestrebt, dem Vorwurf einseitiger Auswertung vorzubeugen. So bemüht man sich um eine regional und politisch ausgewogene Darstellung, welche die bestehenden Unterschiede eher verschleiert als offenbart. b) Beim Abschluß bilateraler Abkommen ist die deutsche Seite in der Regel auf das angewiesen, was ihr die andere Seite über die dort herr-
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schenden Verhältnisse sagt. Auch ist der Blick über unsere Grenzen in einem solchen Falle eher punktuell und zeitlich beschränkt. Die Auswertung der Erfahrungen der Entwicklungshilfe stellt also eine wertvolle Ergänzung zur Auswertung anderer Vorgänge internationaler Zusammenarbeit im Bereich des Sozialrechts dar.
11. Ich wies bereits darauf hin, daß ich lediglich 4 Experten befragen konnte. Dennoch ergeben sich hieraus einige Einsichten, die sich mit den von mir selbst gesammelten Eindrücken decken. Sie lassen sich in zwei Gruppen zusammenfassen, von denen die erste Umstände betrifft, die entweder in den Normen selbst liegen oder eng mit ihnen zusammenhängen, während die zweite Gruppe die allgemeinen Verhältnisse betrifft, soweit sie Auswirkungen auf die Sozialrechtsordnung haben. Ich habe sie in den Thesen unter Nr. I/2 einerseits und Nr. I/3 andererseits behandelt. 1. Daß Rechtsnorm und Rechtswirklichkeit sich nicht voll decken, ist eine allgemeine Erscheinung, die sich nicht auf die Entwicklungsländer beschränkt.
Gleichwohl haben die Entwicklungsländer insoweit ihre besonderen Probleme. Einerseits wird man sagen können, daß die Gefahr einer erheblichen Divergenz zwischen Rechtsnorm und Rechtswirklichkeit erheblich größer ist als bei uns - obwohl mir einer der befragten Experten versicherte, es gäbe auch erstaunliche Beispiele dafür, mit welcher Akribie - partiell- an der Durchsetzung der Normen gearbeitet wird, während gewissermaßen nebenan ein erheblicher Schlendrian herrscht. Andererseits sind die Unterschiede weniger vorausberechenbar als etwa in "sozialistischen" Staaten, die das geschriebene Recht dogmatisch und ideologisch als "Momentaufnahme des Klassenkampfes" im Zeitpunkt des Erlasses der Normen ansehen und daher keine Hemmungen haben, die Rechtswirklichkeit grundlegend zu verändern, ohne daß zunächst die Normen geändert werden - das wird dann bei passender Gelegenheit nachgeholt. Die Unterschiede zwischen Rechtsnorm und Rechtswirklichkeit in den Entwicklungsländern sind qualitativ anderer Natur: Sie erklären sich aus der menschlichen Natur und aus der geschichtlichen Entwicklung jener Länder, die häufig mit Fremdherrschaft und Unterdrückung verbunden war, aber auch aus dem Umstand, daß der Übergang in eine moderne Gesellschaft und zu einem modernen Staatsbewußtsein noch nicht vollzogen ist.
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Die Bevölkerung steht vielfach noch dem staatlichen Recht mit jener Haltung gegenüber, die bei uns in der Zeit nach dem zweiten Weltkriege gegenüber wirtschaftslenkenden Normen bestand: "Man darf sich nicht erwischen lassen", bisweilen sogar vergleichbar der Haltung, die Götz von Berlichingen gegenüber kaiserlichen Erlassen einnahm. Es fehlt vielfach an einem Consensus, daß die Normen legitim seien: Dieser aber ist notwendig, damit Normen ihre Funktion erfüllen können. So wird das Recht der Sozialleistungen z. B. dazu mißbraucht, sich unberechtigt Einkommen zu verschaffen. Um nur ein Beispiel zu nehmen: Kenia sah sich genötigt, die Sozialversicherungsunterlagen mit Fingerabdrücken zu versehen, um sicherzustellen, daß nicht Leistungen für einen Versicherten kassiert wurden, der inzwischen längst gestorben war. In anderen Fällen stellen sich Loyalitäten, die in vorindustriellen Gesellschaftsformen (z. B. der Großfamilie, der Dorfgemeinschaft, der Stammesgemeinschaft) wurzeln, einer Durchsetzung der Sozial rechtsnormen entgegen. So kann es durchaus vorkommen, daß der Beamte der Arbeitsverwaltung, der draußen im Lande ein von einem Vetter zweiten Grades geleitetes Unternehmen zu überprüfen hat, "Fünfe gerade sein läßt", wenn er entdeckt, daß der Betrieb nicht vorschriftsmäßig geführt wird. Es muß übrigens nicht immer böser Wille sein - es kann auch ein Unvermögen sein, mit den praktischen Problemen einer modernen Verwaltung fertig zu werden. Insbesondere fehlt es vielfach an der Delegation der Verantwortung. Wenn aber der Minister oder der Staatssekretär die kleinsten Kleinigkeiten selbst entscheiden muß, so bildet sich bei ihm rasch ein "Flaschenhals", und die Arbeit stockt. Schließlich kann es auch in einem Entwicklungsland - vor allem in entlegenen ländlichen Gegenden - vorkommen, daß der Arbeitgeber Arbeitnehmer nicht zur Sozialversicherung anmeldet. Zwar kommt dies auch bei uns vor, doch ist die Gefahr eines solchen Verhaltens in einem Entwicklungsland quantitativ größer als bei uns. Häufig wird der Arbeitgeber dabei auf die Zustimmung des Arbeitnehmers rechnen können, dessen Abstraktionsvermögen nicht ausreicht, um einen Zusammenhang zwischen dem Lohnabzug und seiner künftigen Altersrente herzustellen, oder der diese gering einschätzt. 2. Bedeutsam ist auch die Frage, welche Bevölkerungskreise von den geltenden Sozialrechtsnormen erfaßt werden. Es macht natürlich einen Unterschied aus, ob die gesetzliche Krankenversicherung mehr als 80 0/0 der Bevölkerung umfaßt oder nur 10 Ofo - wie in einem lateinamerika15 Sozialrechtsvergleich
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nischen Entwicklungsland -, oder ob eine gesetzliche Altersversorgung nur für den öffentlichen Dienst und größere Industriebetriebe besteht, nicht aber für das Kleingewerbe und die Landwirtschaft. Hier darf man allerdings nicht ungerecht sein: So wird man z. B. die noch völlig wild lebenden Amazonasindianer nicht der "Bevölkerung" zurechnen können, die auf absehbare Zeit in das System der sozialen Sicherheit einbezogen werden könnte, und bei anderen Gruppen mag die Zurechnung zweifelhaft sein. Jedenfalls gibt es auf dem Lande noch heute in zahlreichen Entwicklungsländern funktionsfähige herkömmliche Systeme sozialer Sicherung - insbesondere auf der Basis der Großfamilie und der Dorfgemeinschaft; sie verhindern, daß das Elend in diesen Ländern noch größer wird, als es ohnehin schon ist. 3. Schließlich wird derjenige, der sich über die Tragweite und Wirkkraft sozi al rechtlicher Normen in einem Entwicklungsland ein zuverlässiges Bild verschaffen will, häufig mit dem reinen Text der Normen allein gelassen. Es fehlt vielfach noch an jener Ausformung der Normen, wie sie durch Rechtsprechung, wissenschaftliches Schrifttum und eine gefestigte Verwaltungspraxis bewirkt wird. Nicht einmal auf Nachbarländer mit im Wortlaut gleichen oder ähnlichen Normen kann man ohne weiteres zurückgreifen, da ein gleicher Ursprung der Normen nicht ausschließt, daß sie in der Praxis verschiedene Bedeutung erlangen - man denke z. B. an die berühmte Frage des internationalen Privatrechts, ob das Verbot des gemeinschaftlichen Testaments im Code Civil und von ihm abgeleiteten Gesetzbüchern die Form letztwilliger Verfügungen betrifft oder die materielle Testierfähigkeit. In diesem Zusammenhang sind auch politische Verschiebungen zu beachten, die zu einer Veränderung des Sinngehalts von Normen führen können - bei gleichbleibendem Wortlaut. Man denke hier etwa an das Vordringen arabischen Rechtsdenkens in den Maghreb-Staaten. Ähnliche Wirkungen könnten eintreten, wenn in früheren britischen Kolonien die dort noch herrschenden indischen Juristen eines Tages durch Afrikaner ersetzt werden. Dies kommt natürlich auch anderswo vor - man denke etwa an die Zeit des Nationalsozialismus. Aber die Entwicklungsländer sind vielfach politisch besonders wenig stabil.
111. Ich komme nunmehr zu jenen Faktoren, die ich in der These V3 behandelt habe: also allgemeine Verhältnisse, die Auswirkungen auf die Sozialrechtsordnung haben und deshalb bei einem Rechtsvergleich beachtet werden müssen.
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1. Hier ist zunächst auf das relativ hohe Maß an politischer Instabilität hinzuweisen, das zahlreiche Entwicklungsländer kennzeichnet. Lateinamerika ist geradezu sprichwörtlich für seine politischen Revolutionen und Umstürze. Auch in Afrika haben viele Umstürze stattgefunden - selbst in Ländern, die eine scheinbar stabile Ordnung hatten (Äthiopien, Nigeria). Auch künftig ist mit Veränderungen zu rechnen, die sich sozialpolitisch auswirken können (z. B. Übernahme bestimmter ausländischer Modelle). 2. Die Bedeutung, welche den Vorstellungen der jeweiligen politischen Machthaber zukommt, ist um so größer, als es an Gegengewichten fehlt, wie sie bei uns etwa die Sozialpartner darstellen. Soweit sie überhaupt vorhanden sind, nehmen sie keinen maßgeblichen Einfluß auf die Entwicklung des Sozialrechts. Die Gewerkschaften, die hierfür 'am ehesten in Betracht kämen, werden von den Machthabern vielfach als ihr verlängerter Arm zur Kontrolle der Massen mißbraucht. Sie entbehren jedenfalls häufig wirklicher Eigenständigkeit. Auf der Arbeitgeberseite geht das Interesse allenfalls dahin, im eigenen Unternehmen befriedigende soziale Verhältnisse zu haben - was z. B. bei den viel geschmähten "Multis" regelmäßig der Fall ist. Im übrigen aber ist man ganz zufrieden, wenn es keine Sozialrechtsordnung gibt, welche die Kosten erheblich erhöht, sind doch die Produktionen in den Entwicklungsländern häufig wegen der relativ niedrigen Kosten des Faktors Arbeit aufgenommen worden. Manche Regierungen (z. B. SüdKorea, Singapur) sind sogar bestrebt, diese Kostenvorteile zu erhalten, Um weiterhin für ausländische Unternehmen attraktiv zu sein. Ein anderer Teil der Arbeitgeber in Entwicklungsländern entstammt ethnischen Minderheiten (Inder und Libanesen in Afrika, Chinesen in Südostasien), bei denen man nur ein begrenztes Interesse am Wohlergehen der einheimischen Bevölkerung voraussetzen darf. Sie sehen sich oft politischem Druck ausgesetzt, und ihre Zukunft ist ungewiß. 3. Vielfach wird der Sozialrechtsordnung keine große Bedeutung beigemessen. Das zeigt sich z. B. an der Besetzung der Spitze der betreffenden Ressorts mit zweitrangigen Persönlichkeiten und an dem Drängen junger Akademiker in Ministerien mit mehr Prestige (Wirtschaft, Finanzen, Planbehörde). Der Arbeitsverwaltung haftet demgegenüber noch der Geruch einer "Arme-Leute-Behörde" an. Selbst heute, da in der Entwicklungstheorie und der Praxis der Entwicklungspolitik die sozialpolitischen Elemente klarer erkannt und in ihrer Bedeutung höher eingeschätzt werden, geht es weniger um das, womit wir uns hier befassen, sondern eher um arbeitsmarktpolitische und berufspolitische Aspekte. 15·
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Dieser Einstellung der herrschenden Schichten entspricht vielfach auch das Vorstellungsbild der breiten Massen. So äußerte ein befragter Experte, in dem von ihm aufgesuchten Lande sehe die Bevölkerung in dem System der sozialen Sicherung vielfach nur einen "Volksbetrug". Das mag damit zusammenhängen, daß für diese Bevölkerungsschichten auch heute noch jene herkömmlichen Systeme sozialer Sicherung wirksam sind, die auf der Großfamilie oder Dorfgemeinschaft basieren. Man sollte in diesem Zusammenhang nicht vergessen, daß auch bei uns das Ansehen der Sozialversicherung erst nach den Erfahrungen zweier Weltkriege und ihrer Folgen so gestiegen ist, daß beachtliche Kreise beruflich Selbständiger die Aufnahme in die Sozialversicherung in der einen oder anderen Weise anstreben und erreicht haben. 4. Schließlich sieht sich der Sozialrechtsberater in einem Entwicklungsland fast durchweg einem erheblichen Mangel an aussagekräftigen Statistiken gegenüber. Dies ist um so bedauerlicher, als er einhergeht mit einem nahezu magischen Glauben an die Möglichkeiten der Planung, von der aus dem sozialpolitischen Bereich hier nur das "manpower planning" erwähnt sei, von dem man sich geradezu Wunderwirkungen verspricht. Solange aber verläßliche Statistiken fehlen, geht solchen Planspielen auch jener begrenzte Wert ab, den sie andernfalls haben mögen. Selbst wenn Statistiken bestehen, verschweigen sie oft mehr, als sie von den wirklichen Verhältnissen offenbaren. So sagen z. B. Zahlen über das Pro-Kopf-Einkommen wenig über Wohlstand oder Armut aus, so lange darin nur das Geldeinkommen erfaßt wird. Außerdem können statistische Durchschnittswerte extreme Unterschiede verbergen, die sozialpolitisch bedenklicher sein können als das niedrige Gesamtniveau. Diese statistischen Probleme nötigen also beim Sozialrechtsvergleich zu besonderer Zurückhaltung. IV. Ich habe in den Thesen I/4 und 1/5 noch auf einige Gesichtspunkte hingewiesen, die vielleicht nur begrenzt etwas für den Sozialrechtsvergleich ergeben, aber gleichwohl kurz behandelt werden sollen. 1. Der Sozialrechtsberater wird bei der Prüfung der bestehenden Möglichkeiten, das bestehende Sozialrechtssystem fortzuentwickeln, vor allem sein Augenmerk auf diejenigen Rechtsordnungen richten, die das betreffende Land schon bisher beeinflußt haben, weil sich bei der Übernahme von Anregungen aus jenen Rechtsordnungen meist die geringsten praktischen Probleme ergeben. Für den reinen Sozialrechtsvergleich - gewissermaßen ohne außerwissenschaftlichen Zweck be-
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trieben - ist diese Beschränkung natürlich nicht notwendig, vielleicht nicht einmal angebracht. Es gibt übrigens auch in der praktischen Sozialpolitik Beispiele für die Übernahme von Sozialrecht aus Rechtsordnungen, die sonst das Sozialrecht des betreffenden Landes nicht intensiv beeinflußt haben: So hat z. B. Japan unsere Gesetzgebung über die Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand (624-DM-Gesetz) übernommen, und Israel hat sich beim Aufbau einer Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit vom deutschen Beispiel inspirieren lassen. Welche engen Grenzen hier aber u. U. bestehen, zeigt der - gescheiterte - Versuch der britischen Heath-Regierung, tragende Elemente des deutschen kollektiven Arbeitsrechts in das britische System einzuführen. 2. Der Sozialrechtsberater muß stets selbstkritisch prüfen, was von seinen Ideen durchsetzbar erscheint - gesellschaftlich, wirtschaftlich/ finanziell, politisch und administrativ. Diese Schranke besteht für den wissenschaftlichen Sozialrechtsvergleich nicht, solange er nicht die zu erwartende künftige Entwicklung einbezieht. Dann allerdings werden auch die Hindernisse interessant, die sich bestimmten, an sich denkbaren oder sogar wünschenswerten Entwicklungen entgegenstellen können.
v. Ich habe den weitaus größeren Teil der mir zur Verfügung stehenden Zeit einer Darstellung dessen gewidmet, wie sich die Dinge dem Sozialrechtsexperten in einem Entwicklungsland darstellen; abschließend will ich nur kurz auf die Folgerungen eingehen, die man daraus ziehen könnte. Die Kürze dieses Teils meiner Ausführungen beruht auf der alten Volksweisheit, daß der Schuster am besten bei seinen Leisten bleibt. Ich bin nicht von Berufs wegen mit Rechtsvergleichung befaßt - schon gar nicht mit Sozialrechtsvergleichung, und ich sehe mich daher auch nicht in der Lage, schöpferisch zur Systembildung beizutragen. Meine nachstehenden Ausführungen orientieren sich an dem Schema des Leiters der Projektgruppe, das er uns am 28. Januar 1976 übersandt hat, und ich muß es der Weisheit der Experten der Rechtsvergleichung überlassen, aus den mitgeteilten Erfahrungen ggf. zusätzliche Erkenntnisse zu entnehmen oder solche, die von meinen abschließenden Ausführungen abweichen. Wie Sie aus meinen Thesen entnehmen können, habe ich die Folgerungen, die ich persönlich aus den mir vorliegenden Erfahrungsberichten und eigenen Eindrücken ziehen möchte, in 10 Punkten zusammengefaßt. 1. Apriori ist keine an sich denkbare Methode des Rechtsvergleichs auszuschließen. Es kommt stets darauf an, welche Aufgabe gestellt ist.
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Meine Ausführungen mögen aber Hinweise darauf geben, ob bei der Wahl bestimmter Methoden nützliche Aussagen über Entwicklungsländer zu erwarten sind. - Dabei muß natürlich auch berücksichtigt werden, daß die Entwicklungsländer zwar einiges gemeinsam haben, was sie von den Industrieländern unterscheidet, aber untereinander auch große Unterschiede aufweisen. 2. Der nominalistischen Methode stehe ich mit großer Zurückhaltung gegenüber, soweit sie sich mit Entwicklungsländern befaßt. Allein sprachliche Barrieren können hier erhebliche Schwierigkeiten bereiten, vor allem, wenn das Material aus dem Entwicklungsland nicht in englisch, französisch oder spanisch vorliegt. Hinzu kommt eine Eigenart der deutschen Fachsprache, Modetrends in den Rang dogmatischer Aussagen zu erheben. Man denke etwa an den "Unterschied" zwischen beruflicher Fortbildung und beruflicher Weiterbildung, oder zwischen sozialer Sicherung und sozialer Sicherheit, zwischen gesetzlicher Krankenversicherung und sozialer Krankenversicherung und ähnliches. Für dergleichen etwas Adäquates in einer anderen Sprache zu finden, ist häufig ein vergebliches Unterfangen. Besonders fruchtlos erscheint mir ein Vergleich des "Soll", wenngleich er natürlich am wenigsten Arbeit macht. Soweit Leistungen der Höhe nach verglichen werden, erscheint mir dies besonders problematisch. 3. Einfacher wird es bei der sachlich-funktionellen Methode sein zumindest, wenn man nicht den juristischen Ansatz wählt, sondern den der sozialen Situation oder den politisch-institutionellen. Will man aber den juristischen Ansatz, so muß nicht nur das geschriebene Recht berücksichtigt werden, sondern auch das Gewohnheitsrecht, und darüber hinaus überhaupt die Sitten und Gewohnheiten. Andernfalls besteht die Gefahr, sich ein Zerrbild von den dortigen Verhältnissen zu machen. 4. Hinsichtlich der auszuwählenden Gegenstände habe ich keine Kontraindikationen, aber auch keine deutlichen Präferenzen. Will man auf Personengruppen abstellen, so könnte ein Vergleich zwischen der unter urbanen Verhältnissen lebenden Bevölkerung einerseits und der unter ruralen Verhältnissen lebenden andererseits interessant sein - ebenso aber auch die Unterschiede zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen (Stämmen) mit ihrer abweichenden geschichtlichen Erfahrung, aber auch religiös abgegrenzten Gruppen. 5. Soweit es um die Zeitdimension geht, scheint mir ein Vergleich nach Maßgabe gleicher Stadien der Entwicklung von besonderer praktischer Bedeutung.
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6. Beim "Vergleich der Ambiance" bezweifle ich, daß sich grOße Unterschiede in der informatorischen Ambiance unter dem Gesichtspunkt des Analphabetentums heute noch ergeben: Dieses Handicap wird heute weitgehend durch den Aufbau von Fernsehen und Rundfunk bis in die Dörfer hinein - z. T. mit Gemeinschaftsanlagen - ausgeglichen. Die sozialen, politischen und ökonomischen Relationen erscheinen mir demgegenüber interessant. 7. Hinsichtlich der "Reichweite" scheint mir ein Vergleich mehrerer Länder mit weitgehend übereinstimmendem Sozialrecht besonders interessant, weil man dann die bestehenden Unterschiede leichter auf ihre Ursachen hin verfolgen kann. 8. Angesichts der nur spärlich sprudelnden juristischen Quellen meine ich, daß auf andere Quellen - z. B. Tageszeitungen und nichtjuristische Zeitschriften - nicht verzichtet werden sollte. Allerdings setzt dies einen erheblichen Arbeitsaufwand voraus. 9. Soweit Auskunftspersonen befragt werden, sollte es sich um Menschen handeln, die auch die Mentalität des Fragers kennen. Andernfalls besteht die Gefahr erheblicher Mißverständnisse. Man sollte daher soweit vorhanden - nicht auf Europäer, Nordamerikaner usw. im Lande verzichten; nützlich können aber auch Angehörige des Entwicklungslandes sein, die mit der Denkweise der Europäer vertraut sind. Ein Studienaufenthalt in Europa oder den USA allein gewährleistet dies allerdings noch nicht, ebenso wie keineswegs alle im Lande ansässigen Europäer ein zuverlässiges Urteil über die im Lande herrschenden Verhältnisse abzugeben vermögen - sie sind oft in ihren Vorurteilen befangen. 10. Die Methode der Darstellung wird von der gestellten Aufgabe abhängen. Dabei dürfte eine eigenständige Systembildung besonders schwierig sein. Zusammenfassung
Unter Entwicklungsländern werden hier diejenigen Länder verstanden, denen in der Praxis der Bundesregierung "technische Hilfe" geleistet wird, wobei der Ausdruck "technische Hilfe" alles das umfaßt, was an Wissen und Können vermittelt wird, also auch die Beratung im Bereich der Sozialpolitik und des Sozialrechts. Bei der sozialrechtlichen Beratung von Entwicklungsländern kann dem Sozialrechtsvergleich eine wesentliche Aufgabe zukommen. Gleichzeitig ist jedoch zu beachten, daß sich der Sozialrechtsexperte, der ein Entwicklungsland berät, im Laufe seiner Arbeit weitgehend von den Vorstellungen des Sozialrechtssystems seines eigenen Staates lösen muß, um seine spezifische
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Aufgabe zu erfüllen, nämlich dem Entwicklungsland praktikable Möglichkeiten zum Aufbau oder Ausbau eines Sozialrechtssystems zu geben, das den besonderen Gegebenheiten des betreffenden Landes Rechnung trägt. Die oben bezeichnete spezifische Aufgabe des Sozialrechtsberaters bringt es mit sich, daß er sich im Laufe seiner Tätigkeit besondere Kenntnisse der Entwicklungsländer aneignet. Aus den gemachten Erfahrungen lassen sich folgende Einsichten herleiten: Die allgemeine Erscheinung, daß Rechtsnorm und Rechtswirklichkeit oft erheblich divergieren, ist bei Entwicklungsländern besonders stark ausgeprägt; sie erklärt sich insbesondere aus der geschichtlichen Entwicklung jener Länder sowie aus dem Umstand, daß der Übergang in eine moderne Gesellschaft und zu einem modernen Staatsbewußtsein noch nicht vollzogen ist. Die Einbeziehung der Bevölkerung in das System der sozialen Sicherheit ist oft sehr unterschiedlich; große Bevölkerungskreise werden häufig von den geltenden Sozialrechtsnormen überhaupt nicht erfaßt. Dadurch - und auch aufgrund der vielfach fehlenden Ausformung der Sozialrechtsnormen durch Verwaltungspraxis, Rechtsprechung, wissenschaftliches Schrifttum - wird es dem Beobachter sehr erschwert, sich über die Tragweite und Wirkkraft sozialrechtlicher Normen ein zuverlässiges Bild zu verschaffen. Politische Instabilität und Präponderanz der Vorstellungen der jeweiligen politischen Machthaber behindern die Entstehung einer gefestigten Sozialrechtsordnung. Der Mangel an allgemeinen Informationen, verläßlichen Statistiken u. ä. nötigen beim Sozialrechtsvergleich in Bezug auf Entwicklungsländer zu besonderer Zurückhaltung.
Summary In this study developing countries are regarded as countries obtaining "technical aid" from the Federal Republic of Germany. "Technical aid" is understood to be every knowledge and skill imparted and also comprises advice in the field of social policy and social legislation. The social legislation adviser of a developing country will very much benefit from a comparison of social legislation. At the same time, however, the social legislation expert in a developing country will have to set aside the social legislation concepts of his own country in order to be able to offer practicable solutions for the establishment or development of a system of social legislation that takes into account the peculiarities of the country concerned. In the course of his work the social legislation adviser will have to acquire special knowledge about
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developing countries. From the experience made the following conclusions can be drawn: The general phenomenon of large differences between legal standards and legal reality can be observed particularly in developing countries. It is explained by the historical development of these countri es and by the fact that they have not yet grown into modern societies and acquired a modern state perception. There are great differences in social security coverage, existing rules of social security law often leave out of account large parts of the population. This and the frequently lacking development of standards of social legislation by the administration, the courts and legal writings makes it very difficult to obtain a true picture of the extent and effectiveness of rules and regulations of social legislation. Political instability and the predominance of the concepts of the political rulers prevent the establishment of a firm system of sociallegislation. In view of the lack of general information and statistical data great care must be taken when comparing social legislation with respect to developing countries.
DISKUSSIONSBERICHT
Die besonderen gesellschaftlichen Schwierigkeiten, denen sich die Entwicklungsländer heute gegenübergestellt sehen, wurden in der Diskussion erneut aufgegriffen, und es wurde versucht, sie einer weiteren Klärung zuzuführen. Hieran knüpften Fragen hinsichtlich der möglichen Zielsetzungen an, die einer Sozialrechtsberatung der Entwicklungsländer durch die entwickelten Länder zukommen können; umgekehrt wurde erörtert, in welchem Umfang Lösungen, die in den Entwicklungsländern für die dort bestehenden eigenen Schwierigkeiten gefunden wurden, auch im Hinblick auf vergleichbare Problemstellungen in den entwickelten Ländern nutzbar gemacht werden könnten. Neben diesen Überlegungen, die vor allem auf die Verwertbarkeit der durch die rechtsvergleichende Arbeit gewonnenen Ergebnisse abzielten, standen in der Diskussion die besonderen Eigenarten im Vordergrund, denen sich die Rechtsvergleichung bei der Befassung mit dem Recht von Entwicklungsländern ausgesetzt sehe. Ausgegangen wurde zunächst von der in dem Referat Pusic getroffenen Unterscheidung zwischen Solidar- und Leistungsgesellschaft. Hier wurde auf das in den Entwicklungsländern zu beobachtende Phänomen hingewiesen, daß dort die Rechtsnormen der Rechtswirklichkeit nur bedingt entsprechen. Es wurde die Frage aufgeworfen, ob dies darauf zurückgeführt werden könne, daß vor allem während der Kolonialzeit mit dem Recht der Kolonialländer Normen, die in einer wesentlich als Leistungsgesellschaft zu charakterisierenden Umwelt gewachsen waren, auf eine Realität aufgepfropft wurden, die vorwiegend noch in den Vorstellungen der Solidargesellschaft verharrte. Diese Unverträglichkeit könne hier durchaus negative Auswirkungen mit sich gebracht haben: Der Versuch der Strukturierung einer Solidargesellschaft etwa über ein System normativer Ansprüche könne zum einen dazu geführt haben, daß ein solches Recht mangels einer korrespondierenden Rechtswirklichkeit sich nur sehr bedingt habe in dieser entfalten können; zum anderen jedoch könne ein solches Rechtssystem die Auflösung der solidargesellschaftlichen Sozialstrukturen fördern, indem es Erwartungshaltungen erzeuge, die den Vorstellungen einer Leistungsgesellschaft entsprächen und die von der Solidargesellschaft nicht oder nur erschwert erfüllt werden können. Das Recht der Entwicklungsländer sei in seinen Grundstrukturen sicherlich entscheidend geprägt vom Recht der ehemaligen Kolonial-
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länder, zu dem meist ein Verhältnis des Tochterrechts zum Mutterrecht bestehe. In welchem Umfang dabei allerdings Rechtswerte und Rechtsordnungen aus den damaligen Kolonialländern unbesehen auf die ganz anderen gesellschaftlichen Verhältnisse in den Kolonien übertragen wurden, wurde nicht abschließend beantwortet. Der Referent merkte in diesem Zusammenhang an, daß die Einflußnahme im allgemeinen kulturellen Bereich größer gewesen sei als im Rechtsbereich: So sei etwa der Code de Travail d'Outre-Mer nicht eine bloße Umschreibung des französischen Code de Travail gewesen; jedenfalls in einem gewissen Umfang sei hier den Verhältnissen in den Gebieten des Geltungsbereiches Rechnung getragen worden. Daran wurde die Frage geknüpft; wie weit der Einfluß des Kolonialrechts für die zentralen Probleme von Bedeutung sei, vor die die Entwicklungsländer sich heute gestellt sähen. Es bestand Einigkeit darüber, daß diese Probleme wesentlich von dem Nebeneinander von gesellschaftlichen Bereichen herrühren, die ganz unterschiedlichen Entwicklungsstufen angehören. Diese Situation schlagwortartig als die "Gleichzeitigkeit des Ungleich zeitigen" bezeichnet - sei dadurch gekennzeichnet, daß sich eine urbane Lebensform übergangslos einer agrarischen, zuweilen gar noch einer nomadischen Lebensform gegenübersehe. Dabei führe das unabgestimmte Nebeneinander zu einer gegenseitigen Störung der verschiedenen Lebensformen. Wer vom Lande in die Stadt komme - angezogen von der Sogwirkung, die die urbane Lebensform mit ihren gesteigerten Erwartungshaltungen ausübe - gelange damit zumeist aus einer Solidar- in eine Leistungsgesellschaft. Die urbane industrielle Leistungsgesellschaft sei in den Entwicklungsländern nun ihrerseits keineswegs in der Lage, den großen Zustrom der Zuwanderer einzugliedern, weshalb der aus der Agrarwelt in die Stadt Zuwandernde in einer Vielzahl der Fälle in die Slums abwandere. Hier konstituiere er ein soziales Problem: Die Leistungsgesellschaft, die nicht stark genug war, ihn aufzunehmen, werde doch entscheidend von ihm betroffen. Ausschlaggebend sei aber nicht allein die Tatsache des Nebeneinanders der unterschiedlichen Lebensformen. Auch in den industrialisierten Ländern sei ja das Nebeneinander von agrarischer und urbaner, durch die industrielle Produktionsweise geprägter Lebensform lange Zeit hindurch bestimmend gewesen, was auch heute in manchen Bereichen noch beobachtet werden könne. So habe es etwa in Deutschland lange Zeit gedauert, bis das agrarische Sonder-Arbeitsrecht des Gesinderechts abgeschafft worden sei. Die Übergänge seien hier jedoch konsekutiv gewesen: Die Entfaltung der industriellen, urbanen Lebensform, geprägt vor allem von dem allmählichen Ausbau eines Systems sozialer Sicherheit für Arbeitnehmer, sei im wesentlichen parallel zu einer Entwicklung verlaufen, in der die agrarische Lebensweise in ihrer
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Bedeutung immer weiter dahinter zurückgetreten sei. Eine weitgehende Anpassung der agrarischen an die urbane Lebensform und das zunehmende quantitative Übergewicht der letzteren hätten dazu geführt, daß in vielen entwickelten Ländern heute auch die Landwirtschaft in das wesentlich von der industrialisierten Gesellschaft geprägte System sozialer Sicherheit eingegliedert sei. In den Entwicklungsländern sei dieses zeitliche und zahlenmäßige Verhältnis hingegen gerade umgekehrt. Dort sei die agrarische Produktions- und Lebensform noch die Regel, die industriell-urbane die Ausnahme. Strukturell möchten gewisse Problemlagen und Entwicklungen in den entwickelten und in den Entwicklungsländern durchaus gleich gelagert sein. Die "Komplexität der Kumulation", die extrem größere Dichte der einzelnen Probleme und die Häufung ihres Auftretens, sei es, die die Entwicklungsländer und ihre sozialpolitischen Schwierigkeiten charakterisiere. Diese ihre besondere Situation gegenüber den industrialisierten Ländern müsse bei der rechtsvergleichenden Arbeit stets im Auge behalten werden. Das gelte für unscheinbare Äußerlichkeiten, etwa für die besonderen Schwierigkeiten bei der Informationsbeschaffung, und es gelte nicht minder für die Aufnahme und Interpretation von Tatbeständen und Gesetzmäßigkeiten in der Sache. Sie stehe stets unter dem Vorbehalt, daß die Unbekanntheit von Unbekannten in besonderem Maße wesentlich sei und sich der Aufklärung durch den Betrachter aus einem entwickelten Land entziehe. Zu welchen Ergebnissen könnten der Sozialrechtsvergleich und die Sozialrechtsberatung für die Entwicklungsländer dann aber führen? Die Frage, was die entwickelten Länder eigentlich zu bieten haben, führte zunächst einmal zu der Feststellung, daß Sozialrechtsberatung nur in sehr geringem Umfang tatsächlich stattfinde. Der Referent wies hierzu auf die vielfältigen Hindernisse hin, denen sich gerade die Sozialrechtsberatung gegenübersehe: außenpolitische Rücksichten auf mögliche Empfindsamkeiten, die die Beratung als innenpolitische Einmischung auffassen ließen; Schwierigkeiten insofern, als es nur wenige sprachlich und sachlich versierte Sozialrechtsexperten gebe, die in dem erforderlichen Maße mit den Verhältnissen in den einzelnen Entwicklungsländern vertraut seien. Vom Gegenstand her stehe die Sozialrechtsberatung vor der entscheidenden Schwierigkeit, daß unser Sozialrecht weitgehend als in der industriellen Gesellschaft gewachsen und von ihr geprägt angesehen werden müsse. Hier seien Elemente und Kriterien ausschlaggebend wie etwa urbane Lebensform; industrielle Produktionsweise; individuelle Lebensführung, die eine Verankerung nur noch in der Kleinfamilie kenne; soziale Voll rollen (etwa des Verdieners in der Kleinfamilie) als Anknüpfungspunkt für soziale Leistungen und Lasten; Leistungen vorwiegend monetärer Art; Leistungs-
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fähigkeit als positiver Wert. Die in den Entwicklungsländern noch weitaus überwiegende Lebensform sei hingegen nach anderen Gesichtspunkten ausgerichtet: agrarische Produktionsweise; Naturalwirtschaft; Lebensführung im Groß verband wie Sippe, Dorf oder Großfamilie, so daß etwa eine Einzelzurechnung von Unterhalt zu groben Verzerrungen führe, wenn nicht gar überhaupt unmöglich sei; multiple Teilrollenverteilung, wobei individuelle Leistung als Zurechnungsansatz für Bedürfnisbefriedigung nur bedingt zum Tragen komme. Während z. B. etwa Krankheit in den industrialisierten Gesellschaften zumeist Einkommensausfall bedeute, sei dies in vorwiegend agrarischen Gesellschaften anders, wo diese negative Auswirkung meist vom Großverband aufgefangen werde. Ganz allgemein lasse sich sagen, daß sich die Lösungsmuster für soziale Problemlagen, wie sie von den entwickelten Gesellschaften her bekannt seien, auf die unterentwickelten Gesellschaften nicht oder doch nur unter großen Modifikationen übertragen ließen, da die Sozialprobleme dort in anderer Form aufträten. Umgekehrt seien Lösungen für die traditionellen Probleme vorindustrieller Gesellschaften gerade in diesen Ländern häufig viel eher anzutreffen als in den industrialisierten, weshalb eine Sozialrechtsberatung insoweit sicherlich ins Leere gehen würde. Als wirklich sinnvolle AufgabensteIlung für die Beratung konnte demgegenüber im Verlauf der Diskussion vor allem die Übermittlung der Erfahrungen herausgestellt werden, die die industrialisierten Länder selbst auf dem Wege ihrer Entwicklung sammeln konnten. Vor allem was die Vermeidung von Fehlern anbetreffe, die Verhinderung von Entwicklungsrichtungen, die sich angesichts von schädlichen Auswirkungen als unerwünscht erwiesen hätten, könne der Erfahrungsschatz der Industrialisierten für die Entwicklungsländer von großem Wert sein. Für die Rechtsvergleichung bedeute dies, daß ausgehend von der Einteilung in einen diagnostischen (Analyse des bestehenden Rechtszustandes), einen prognostischen (Abschätzung von Entwicklungstendenzen des Rechts), und einen therapeutischen Zweck (Korrektur von Fehlentwicklungen im Recht) im Vergleich mit Entwicklungsländern vorwiegend der prognostische Ansatz zum Tragen kommen könne. Im Sinne der obigen Warnung vor Fehlentwicklungen, wie sie in anderen Ländern bereits stattgefunden hätten und in den Entwicklungsländern möglicherweise noch vermieden werden könnten, handele es sich dann vorwiegend negativ um eine präventive Prognose. Ob aus den in anderen Ländern gesammelten Erfahrungen auch positive Schlüsse abgeleitet werden könnten, müsse im Hinblick auf die andersartigen Verhältnisse bezweifelt werden. So tauchte der Gedanke auf, daß danach gefragt werden könnte, inwieweit etwa die Erfahrungen,
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die mit dem Einsatz von Sozialarbeitern in den entwickelten Ländern gemacht worden seien, auf die unterentwickelten Länder übertragen werden könnten. Die Antwort war hier eher negativ. Es müsse als zweifelhaft gelten, ob diese AufgabensteIlung der Sozialarbeiter in Entwicklungsländern mit jener vergleichbar sei, wie sie in den entwickelten Ländern an den Sozialarbeiter gerichtet werde. In diesem Zusammenhang wurde darauf hingewiesen, daß im letztjährigen Ostafrikaseminar für Sozialarbeit an die Stelle des Begriffs "Social Worker" der Terminus "Social Development Worker" gesetzt worden sei. Auch die Frage, inwieweit es möglich sei, bei der Sozialrechtsberatung von Entwicklungsländern von Modellen auszugehen, wurde ablehnend beurteilt. Ein derartiges Modell, das als Ergebnis rechtsvergleichender Arbeiten erstellt werden könnte, müßte, so der Referent, angesichts der zahlreichen spezifischen Besonderheiten eines jeden Landes jeweils in derartigem Umfang Änderungen unterworfen werden, daß der Aufwand seiner Erstellung schwerlich lohnend wäre. Diskutiert wurde auch, ob nicht umgekehrt aus der besonderen Problemlage der Entwicklungsländer rechtsvergleichend Schlüsse hinsichtlich der Behandlung einzelner Fragestellungen in den entwickelten Ländern abgeleitet werden könnten. Als Beispiel wurden die Schwierigkeiten bei der Einbeziehung der Landwirte in ein System sozialer Sicherheit genannt. Wenn in Mitteleuropa nur noch etwa vier bis fünf Prozent der Bevölkerung, dagegen ca. 92 Prozent der afrikanischen Bevölkerung ihren Lebensunterhalt unmittelbar aus dem Agrarbereich bezögen, so könne daran gedacht werden, daß die Problematik in Afrika, da quantitativ ungleich größer, klarer erkennbar sein müsse. Hier führe jedoch die quantitative Verschiedenheit auf einen qualitativen Unterschied: In den afrikanischen Ländern könne kaum die Rede davon sein, die Agrarbevölkerung in ein von industrieller, urbaner Lebensweise geprägtes System sozialer Sicherheit mit einzubeziehen. Der Lerneffekt, der von der Befassung mit diesen Fragen im Entwicklungsland für die europäischen Länder erwartet werden könne, müsse daher gering eingeschätzt werden. In eingehender Weise wurde in der Diskussion auch den Schwierigkeiten nachgegangen, die sich der praktischen Arbeit mit dem Recht der Entwicklungsländer stellen. Der Gegensatz zwischen normativer Regelung und Rechtswirklichkeit - für den Rechtsvergleicher ein tägliches Brot - stelle sich in den Entwicklungsländern sehr viel akzentuierter als in den entwickelten Ländern, die auf eine gefestigte Rechts..; tradition zurückblicken könnten. Zu der Tatsache, daß Gesellschaften in den Entwicklungsländern häufig noch in nur geringem Maße als rechtUchstrukturiert angesehen werden könnten, komme hier eine weitere
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Besonderheit. Das Recht sei hier während der Kolonialzeit zumeist von außen her eingebracht worden und sei so mit den gesellschaftlichen Vorstellungen nicht in dem Maße verflochten, wie es dort der Fall sein dürfte, wo es aus der Gesellschaft selbst herausgewachsen sei. Im Entwicklungsland müsse darüber hinaus in erheblich verstärktem Umfang gelten, daß die rechtsvergleichende Arbeit der normativen Situation allein nicht vertrauen darf. Während jedoch in den Industrieländern eine zumeist entwickelte Rechtskultur Sekundärquellen zur Verfügung halte, die vergleichsweise leicht zu erschließen seien - gedacht wurde hier vor allem an Rechtsprechung und juristische Literatur -, könne in den Entwicklungsländern oft auch hierauf nicht zurückgegriffen werden. Der Referent führte hier als Beispiel einen von ihm selbst verfolgten Prozeß im kenianischen Arbeitsrecht an. Dieses Verfahren - es ging um die Arbeitsentgeltklage einiger Eisenbahner gegen die ostafrikanische Eisenbahn, die aufgrund der gemeinsamen Betreibung durch Kenia, Tansania und Uganda Gegenstand häufiger politischer Schwierigkeiten war - habe aufgrund der politischen Bedeutung, die diesem Fall zukam, erhebliche öffentliche Beachtung erzielt. Tatsachenberichte und auch rechtliche Hinweise habe man hier nur der Tagespresse entnehmen können. Der Beobachter, der sich allein auf "rechtliche" Quellen im obigen Sinne stützen wollte, habe eine über die Gerichtsentscheidung hinausgehende Darstellung kaum auffinden können. Daß die Frage von einem Juristen des Landes vielleicht einer Abhandlung für würdig befunden und diese veröffentlicht würde, sei unwahrscheinlich. Die Quellensuche in den Entwicklungsländern werde auch dadurch erschwert, daß dort in verstärktem Maße damit gerechnet werden müsse, daß eine Frage eine normative Regelung nicht erfahren habe. Selbst wenn die Untersuchung des Rechts eines Landes auf eine Frage zu keiner Antwort führe, müsse dies ja nicht bedeuten, daß die angesprochene Problematik in diesem Lande nicht aufgetreten sei. Sie könne ungelöst sein und gesellschaftlichen Übereinkommen, Regeln, Zwängen und Mächten überlassen sein. Das staatlich gesetzte Recht stelle sich zudem nur als eine unter mehreren Problemlösungsmöglichkeiten dar, so daß es durchaus möglich sei, daß ein Problem von außerrechtlichen oder privatrechtlichen Lösungen bereits hinreichend erfaßt werde. Als sozialpolitisches Beispiel aus den Industrieländern wurde hierzu der weite Bereich der betrieblichen Sozialpolitik angeführt, in dem die beteiligten Sozialpartner dahin tendieren - so eine in der Diskussion hierzu geäußerte Ansicht unter Ausschluß der hoheitlichen Regelung soziale Maßnahmen unmittelbar gegeneinander durchzusetzen (die Bedeutung dieses Bereiches auch für die staatliche Sozialpolitik dürfe schon im Hinblick auf
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mögliche Folgelasten nicht unterschätzt werden: wenn heute etwa in einem Unternehmen geregelt werde, wie schnell ein Fließband laufen dürfe, wann ein Arbeiter wohin versetzt werde, so möge die öffentliche Sozialpolitik sich hier nur mittelbar involviert sehen; es könne sich dabei aber um Umstände handeln, die auf lange Sicht gesehen sehr konkrete Auswirkungen etwa für die soziale Krankenversicherung oder die Beschäftigungspolitik nach sich ziehen könnten). Im Entwicklungsland würden derartige von staatlichem Recht freie Problemlösungen ungleich häufiger anzutreffen sein. Zuweilen würden schon die Mittel dafür fehlen, daß ein Problem als öffentliches erkannt und mit einer sozialpolitischen Maßnahme in Angriff genommen werden könne. In diesem Zusammenhang wurde noch eine weitere Frage berührt: die der Rechtsbildungsfaktoren. Sie sei in den Ländern mit einer längeren Rechtstradition umfänglich erörtert worden. Eine Untersuchung des Rechts der Entwicklungsländer könne zu dieser Frage vielleicht interessante Ergebnisse ermöglichen. Es könne gefragt werden, ob im Bereich des Sozialrechts die Feststellung möglich sei, daß das Regelungsbedürfnis in dem Maß wachse, wie die alten sozialen Einheiten (Familie, Sippe, Stamm) mit dem in ihnen bestehenden Ordnungsgefüge zurücktreten. Ein allgemeines Problem des Rechtsvergleichers sei es, daß er gezwungen sei, aus seinem eigenen Rechtsverständnis möglichst weitgehend herauszutreten, wenn er sich mit dem fremden Recht befasse. So werde er, wenn fremdes Sozialrecht zu erforschen sei, sich der Gefahr bewußt sein müssen, dieses etwa auch dann durch die "nationale Brille" des Bismarck-Systems zu betrachten, wenn es sich um ein auf die Konzeption von Beveridge zurückgehendes Recht handele, oder umgekehrt. Der für den Rechtsvergleicher unerläßliche Zugang zu den grundlegenden Strukturen des ausländischen Rechts könne bei den Entwicklungsländern mitunter noch über das ehemalige Mutterrecht erfolgen. Wenn auch mit Vorsicht, so werde hier doch in den meisten Fällen der Rückschluß auf das Tochterrecht möglich sein. Nicht zuletzt kann hier an eine gewisse "Rechtstrigonometrie" gedacht werden. Der Unterschied zwischen Mutter- und Tochterrecht kann vielleicht relativ leicht erfaßt werden. Ebenso sei der Unterschied zwischen Mutterrecht und eigenem entwickelten Recht in der Regel aufbereitet. Von daher werde es vielleicht dann eher möglich, auch die dritte Seite des Dreiecks, das Verhältnis zwischen eigenem Recht und (Tochter)Recht der Entwicklungsländer zu erfassen, als dies ohne die vermittelnden "Vorgänge" möglich wäre. Auch rein praktisch werde es sich empfehlen, bei der Arbeit mit dem Recht der Entwicklungsländer auch über die ehemaligen Mutterländer zu gehen, weil dort vielfach diesbezügliche Forschungseinrichtungen vorhanden seien.
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Die Schwierigkeiten bei der Arbeit mit den Entwicklungsländern seien keineswegs auf die Länder der Dritten Welt beschränkt. Es wurde darauf hingewiesen, daß viele der diskutierten Probleme im Ansatz auch aus der sozialversicherungsrechtlichen Zusammenarbeit mit Süditalien bekannt seien. Italien sei sicherlich kein Entwicklungsland; der unterschiedliche Entwicklungsstand in Nord- und Süditalien werfe jedoch auch dort ähnlich schwerwiegende Entwicklungsprobleme auf. Bearbeiter: Igl / Simons
Teilnehmerverzeichnis Referenten Ministerialrat Dr. Rudolf Echterhölter, Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Im Ringelsacker 3,5300 Bonn-Lendsdorf Professor Dr. Kurt Jantz, Ministerialdirektor im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung a. D., ehern. Generalsekretär für die Sozialreform, Honorarprofessor an der Universität Köln, Garrestraße 29, 5300 Bonn-Venusberg . Professor Dr. Jef van Langendonck, Universität Leuven, Instituut Sociaal Zekerheidsrecht, Rechtsfaeulteit, Collegium Faleonis, Tiensestraat 41, 3000 Leuven/Belgien Professor Dr. Bernd von Maydell, Freie Universität Berlin, Lüekhoffstraße 23, 1000 Berlin 38 Professor Dr. Eugen Pusit, Universität Zagreb, Leiter des Lehrstuhls für Verwaltungswissenschaft an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät, Leiter der Abteilung für Verwaltungsforschung des Instituts für Sozialforschung, Pravni Faeultet u Zagrebu, Dubrovnik/Jugoslawien Professor Dr. Dr. h. e. J. J. M. van der Ven, Prof. ord. emer. für Arbeitsrecht, Rechtssoziologie und Rechtsphilosophie an der Universität Utrecht, Mitglied der Sachverständigenkommission für die Anwendung von Abkommen und Empfehlungen in der IAO, Wallenburg 3, Zeist/Niederlande Dr. Wilhelm Wanders, Direktor der Landesversicherungsanstalt Schwaben, An der Blauen Kappe 18, 8900 Augsburg Weitere externe Teilnehmer lie.oee. Walter Ackermann, Projektleiter, Institut für Versicherungswirtschaft a. d. Hochschule St. Gallen, Dufourstraße 48, CH-9000 St. Gallen Professor Dr. R. Birk, Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Erlangen-Nürnberg, Kochstraße 4, 8520 Erlangen Dr. Fritz Böhle, Institut für sozial wissenschaftliche Forschung e. V., JakobKlar-Straße 9, 8000 München 40 Dr. Pet er Hünerfeld, Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, Günterstalstraße 72, 7800 Freiburg i. Br. Dr. Eckart Klein, Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Berliner Straße 48, 6900 Heidelberg 16·
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TeiInehmerverzeichnis
Dr. Renate Langohr, Geschäftsführer des Deutschen Landesausschusses des International CounciI on Social Welfare, Am Stockborn 1 - 3, 6000 Frankfurt/Main 50 Dr. Ursula Mende, Vorsitzende des Vereins für den Internationalen Sozialdienst, Unertlstraße 16, 8000 München 40 Professor Dr. Dieter Schäfer, Universität Trier-Kaiserslautern in Trier, Postfach 3825, 5500 Trier Dr. Reinhard Wieczorek, Lindenstraße 28, 8000 München 90 Teilnehmer aus der Projektgruppe
Dr. Heinz Barta . Grita Buske . Michael Faude . Dr. Julianna Gönci . Dr. Gerhard Igl . Pet er Köhler . Felix Schmid • Dr. Bernd Schulte . Thomas Simons . Dr. Peter Trenk-Hinterberger . Professor Dr. Hans F. Zacher