Die Umgestaltung der Systeme sozialer Sicherheit in den Staaten Mittel- und Osteuropas. Fragen und Lösungsansätze: Colloquium des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Sozialrecht, München, in Tutzing vom 9. bis 12. Februar 1993 [1 ed.] 9783428478248, 9783428078240


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German Pages 499 Year 1993

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Die Umgestaltung der Systeme sozialer Sicherheit in den Staaten Mittel- und Osteuropas. Fragen und Lösungsansätze: Colloquium des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Sozialrecht, München, in Tutzing vom 9. bis 12. Februar 1993 [1 ed.]
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MAX-PLANCK-INSTITUT FÜR AUSLÄNDISCHES UND INTERNATIONALES SOZIALRECHT

Die Umgestaltung der Systeme sozialer Sicherheit in den Staaten Mittel- und Osteuropas

Schriftenreihe für Internationales und Vergleichendes Sozialrecht Herausgegeben von Berltd Baron v. Maydell, München

Band 13

Die Umgestaltung der Systeme sozialer Sicherheit in den Staaten Mittel- und Osteuropas Fragen und Lösungsansätze Colloquium des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Sozialrecht, München, in Tutzing vom 9. bis 12. Februar 1993

Herausgegeben von

Bernd Baron v. Maydell Eva-Maria Hohnerlein

DUßcker & Humblot . Berliß

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Die Umgestaltung der Systeme sozialer Sicherheit in den Staaten Mittel- und Osteuropas: Fragen und Lösungsansätze ; Colloquium des Max-Planck-Instituts für Ausländisches und Internationales Sozialrecht, München, in Tutzing vom 9. bis 12. Februar 1993/ hrsg. von Bernd Baron v. Maydell ; Eva-Maria Hohnerlein. - Berlin: Duncker und Humblot, 1993 (Schriftenreihe für Internationales und Vergleichendes Sozialrecht ; Bd. 13) ISBN 3-428-07824-1 NE: Maydell, Bernd Baron von [Hrsg.]; Max-Planck-Institut für Ausländisches und Internationales Sozialrecht (München); GT

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1993 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-6739 ISBN 3-428-07824-1

Vorwort Das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Sozialrecht veranstaltete vom 9. bis 12. Februar 1993 in Tutzing ein Colloquium über "Die Umgestaltung der Systeme sozialer Sicherheit in den Staaten Miuel- und Osteuropas" . Der vorliegende Band enthält die Referate, die für dieses Colloquium ausgearbeitet worden sind, sowie zusammenfassende Diskussionsberichte. Um genügend Diskussionszeit zu gewinnen, konnten die Referenten in Tutzing nur eine Kurzfassung ihres Beitrages vortragen. Das Colloquium führte Sozialrechtler und Sozialpolitiker aus West- und Osteuropa zur Diskussion zentraler Fragen der Ausgestaltung von Sozialsystemen zusammen. Ein solcher Dialog ist nach den Jahrzehnten der getrennten Rechtsentwicklung in Ost- und Westeuropa noch nicht selbstverständlich, er muß geübt werden. Die Diskussion über die sozialrechtlichen und sozialpolitischen Entwicklungen ist zur wissenschaftlichen Fundierung und Begleitung des Transformationsprozesses in Miuel- und Osteuropa notwendig, sie kann aber auch die Reformdebatte in den westeuropäischen Staaten auf die grundlegenden Fragestellungen zurückführen, die durch die Konzentration auf Detailentwicklungen bisweilen verschüttet erscheinen. Um eine Verengung auf den westlichen Blickwinkel zu vermeiden, wurden die meisten Themen von zwei Referenten behandelt, wobei einer speziell die osteuropäischen Aspekte einbringen sollte. Dieser Ergänzungsfunktion dienen auch einige erweiterte Diskussionsbeiträge, die in diesem Band im Rahmen des Diskussionberichts berücksichtigt worden sind. Referate und Diskussionsberichte vermiueln ein Raster von Fragen und Lösungsmöglichkeiten, die sich bei der Gestaltung von Sozialsystemen ergeben. Es ist zu hoffen, daß dieses Raster für den weiteren Transformationsprozeß in Mittel- und Osteuropa von Nutzen sein wird. Zum Erfolg des Colloquiums haben viele beigetragen, die Referenten, die Mitarbeiter des Instituts, die die Diskussionsberichte erstellt haben, ebenso wie alle Teilnehmer, die ihre vielfaltigen Erfahrungen in die Diskussion eingebracht haben. Besonderer Dank gilt aber auch dem Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung in Bonn, der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Max-Planck-Gesellschaft, die durch finanzielle Zuschüsse das Colloquium überhaupt erst ermöglicht haben. Schließlich ist Frau Esther Ihle für die Über-

6

VOIwort

setzung der englischen Referate, Frau Ingrid I. Wemer für das Layout und Frau Rechtsreferendarin Beate Träg für die Korrekturen zu danken. München, im Mai 1993

Bemd von Maydell Eva-Maria Hohnerlein

Inhaltsverzeichnis

B,mlli VOll Maydell 11

Einfühnmg •.

ErsterTeü

Allgemeine Grundlagen und Rahmenbedingungen Peter A. Köhler Historischer Kontext und Entwicklungsgeschichte von Systemen 21

sorialer Sichemeit

Ludwik Florek Entwicklungsgeschichte sozialer Sichemeit aus östlicher Sicht das Beispiel Polen . • • . . • . . • • • • • . • • • •

39

53

Diskussionsbericht (Kruse)

Friedrich Haffner Ökonomische Rahmenbedingungen der Systeme sozialer Sichemeit

57

in Ostmittel- und Osteuropa

Maciej Zukowski Ökonomische Rahmenbedingungen von Systemen sozialer Sicherheit in den Staaten Mittel- und Osteuropas

73

Diskussionsbericht (Kruse) • • • • • •

85 Zweiter Teil

Grundfragen sozialer Sicherheit in vergleichender Sicht Gerhardlgl Der sachliche Anwendungsbereich von Systemen sozialer Sichemeit

89

OttoCzUcz Soziale Folgen der raschen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwandlung und Methoden zur FlÜherkennung sozialer Spannungen - das Beispiel Ungarn • •

119

8

Inhaltsverzeichnis

Peter Trenk-Hinterberger Der personelle Anwendungsbereich von Systemen sozialer Sicherheit

129

Jürgen Pawelzig Einige Überlegungen zur Veränderung des personellen Anwendungsbereichs von Systemen sozialer Sicherheit in den marktwirtschaftlichen Transfonnationsprozessen

157 Diskussionsbericht (Kaufmann)

Bertram Schulin Techniken und Instrumente sozialer Sicherheit

167

173

ltinMatldk Regelungsinstrumente der sozialen Sicherung in der Slowakei Diskussionsbericht (Reinhard)

221

229

Bund Schulte Leistungsarten und Leistungsfonnen

233

Roger A. Beat/ie Leistungsarten und Leistungsfonnen: Wahlmöglichkeiten für die ehemaligen sozialistischen Staaten • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • Diskussionsbericht (Kötter)

283 311

Rainer Pitschas Institutionell-organisatorische Grundfragen der Transfonnation sozialer Sicherungs systeme in Mittel- und Osteuropa

315

AnjuJa Bubnoll-Skoberne Die Organisation der Systeme sozialer Sicherheit in Slowenien Diskussionsbericht (Kötter)

355 371

Winfried Schmähl Grundfragen der Gestaltung der Finanzierung sozialer Sicherung im Transfonnationsprozeß ehemals sozialistischer Volkswirtschaften

375

Alexander V. Telyukoll Die institutionelle Grundlage für die Finanzierungsrefonn des sozialen Sicherungssystems in Rußland Diskussionsbericht (Kruse ) • • • • • • •

427 449

Inhaltsverzeichnis

9

Dritter Teil Die Rolle des Rechts und der Rechtsvergleichung bei der Umgestaltung der Systeme sozialer Sicherheit

Ulrich LohmaM Der deutsche Einigungsprozeß - Sozialrechtsvergleichende Folgerungen

453

Ion lonezyk Sozialrechtsvergleichung und Umgestaltung der Systeme sozialer Sicherheit in Mittelund Osteuropa • . • • . • . . • • . • . • • • . • • . • . . • . • • •

467

Bernd von Maydell Perspektiven für den weiteren Transformationsprozeß

485

Diskussionsbericht (Hohnerlein)

491

Teilnehmerverzeichnis • • • •

495

Einführung von Bernd von Maydell

I. Zum Anlaß des CoUoquiums Die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen in Mittel- und Osteuropa haben zu einem beträchtlichen Beratungsbedarf in diesen Refonnstaaten geführt. Gefragt wird nach den Möglichkeiten für eine Ausgestaltung einer demokratischen Ordnung, die der sozialen Marktwirtschaft verpflichtet sein soll. Zu einer solchen Ordnung gehören auch Sozialpolitik und Sozialrecht. Demgemäß hat sich eine Diskussion darüber entzündet, welcher Refonnbedarf in den ehemals sozialistischen Staaten auf diesem Sektor besteht. An dieser Diskussion hat sich bislang die Rechtswissenschaft kaum beteiligt. Aktiv geworden sind vielmehr die Staaten und die Sozialleistungsträger, die internationalen Organisationen, wie die Internationale Arbeitsorganisation (IAO), der Europarat, die Europäische Gemeinschaft (EG), die Weltbank etc., aber auch private Beratungsinstitutionen. Diese Stellen entfalten eine rege Beratungstätigkeit, die allerdings kaum - was Zielrichtung und inhaltliche Ausgestaltung anbelangen - koordiniert ist. Staaten und nationale Institutionen werden im allgemeinen von der eigenen Wirtschafts- und Sozialordnung ausgehen und sie als Modell empfehlen. Internationale Institutionen ihrerseits dürften regelmäßig die von ihnen entwickelten internationalen Nonnen zum Ausgangspunkt nehmen. Dabei handelt es sich aber, wie z.B. bei den IAO-Konventionen oder den entsprechenden Instrumenten des Europarates, um Mindestnonnen, die - weil sie universell akzeptiert werden sollen - keine Aussage über die instrumentelle Umsetzung enthalten. Fragt man, inwieweit eine wissenschaftliche Fundierung und Begleitung des Transfonnationsprozesses vorhanden ist, so bestehen vor allem im rechtlichen Bereich DefIzite. Ein etwas anderes Bild bieten andere Disziplinen, wie die Soziologie, die Politologie und die Ökonomie, die sich mit den Bedingungen für eine Transfonnation bereits intensiver beschäftigt haben. Will man die wissenschaftliche Diskussion auch in der Rechtswissenschaft, die in Gestalt der Rechtsvergleichung das theoretische Instrumentarium dafür zur Verfügung stellt, intensivieren, so bedarf es dazu vor allem zweierlei. Es müssen zum einen die Fragestellungen entwickelt werden, die - losgelöst von den konkreten

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nationalen Lösungen - den Regelungsbedarf und die Regelungsmöglichkeiten aufzuzeigen geeignet sind. Zum anderen ist die Diskussionsbasis personell zu erweitern. Es genügt nicht ein bilateraler Dialog. In die Diskussion sind vielmehr die Sozialrechtler aus West- und Osteuropa unter Beteiligung der Internationalen Organisationen einzubeziehen. Bei der immer noch starken nationalen Ausprägung der Sozialrechtswissenschaft und der Verkümmerung des Dialogs zwischen den Wissenschaftlern aus Ost- und Westeuropa bedarf es dazu besonderer Anstrengungen. Das Colloquium soll dafür eine Basis schaffen. Es kann sich dabei nur um einen Schritt in einem zu intensivierenden Prozeß handeln. Dementsprechend hat bereits zuvor - im September 1992 - ein vorbereitendes Seminar des Europäischen Instituts für Soziale Sicherheit in York/Großbritannien stattgefunden. Auch ist eine Weiterführung des in Tutzing zu erprobenden Ansatzes im Rahmen eines größeren Kongresses im September 1993 in Dresden vorgesehen. Diesem Anliegen des Colloquiums entsprechend ist der Kreis der Referenten und der anderen Teilnehmer zusammengesetzt Sie kommen aus verschiedenen Staaten Ost- und Westeuropas; gleichzeitig sind eine Reihe internationaler Organisationen vertreten. Damit wird gewährleistet, daß die Diskussion sich nicht auf einen bilateralen Dialog beschränkt, sondern - jedenfalls in der Tendenz ohne nationale Verengung der Frage nachgehen kann, welche Lösungswege für die Beantwortung sozialer Fragen zur Verfügung stehen, und unter welchen Voraussetzungen Grundstrukturen, die in anderen Staaten erprobt sind, als Modell für die Reformstaaten dienen können. 11. Zur Thematik 1. Der Transronnationsprozeß

a) Unterschiede zwischen den einzelnen Reformstaaten Wenn in der Diskussion allgemein vom Transformationsprozeß in den Staaten Mittel- und Osteuropas gesprochen wird, so könnte dies den Eindruck erwecken, als handle es sich um einen einheitlichen Vorgang in allen Staaten, die zu dieser Region gezählt werden. Tatsächlich bestehen jedoch zwischen diesen Staaten tiefgreifende Unterschiede, die sich auch im Transformationsprozeß auswirken. Diese Unterschiede sind teilweise historisch bedingt, sie betreffen ferner die wirtschaftlichen, rechtlichen und sozialen Gegebenheiten in den Reformstaaten. Wenn vom Transformationsprozeß generell gesprochen wird, so wird damit ein Entwicklungsprozeß gemeint, der für all diese Staaten relevant ist und der von einer Zentralverwaltungswirtschaft unterschiedlicher Ausprägung hin zu einer mehr marktwirtschaftlich geprägten Ordnung verläuft. Insoweit kann man von einer gemeinsamen Entwicklungsrichtung sprechen,

Einfühnmg

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auch wenn die Ausgangsgegebenheiten, die Rahmenbedingungen und das angestrebte Ziel in den einzelnen Staaten Unterschiede aufweisen. Daß diese Unterschiede für den Reformprozeß von Bedeutung sein können, bedarf keiner besonderen Betonung. b) Transformation im politischen und wirtschaftlichen Bereich Der Wandel in den mittel- und osteuropäischen Staaten hat im politischen Bereich begonnen. Die bisher erfolgten Reformen sind in Umfang und Wirkung sehr unterschiedlich, mit ihnen ist jedoch in all diesen Staaten bereits seit einiger Zeit angefangen worden. Das gilt auch für den wirtschaftlichen Sektor, auch wenn hier die Schwierigkeiten und Widerstände noch größer sind. Das wird besonders deutlich an den Privatisierungsbemühungen, die auf erhebliche Schwierigkeiten stoßen. Auch die Umstrukturierung im intermediären Bereich geht nur langsam voran, wie die Entwicklung bei der Herausbildung selbständiger Gewerkschaften und von Arbeitgeberverbänden zeigt. Auch hier gibt es naturgemäß Unterschiede, wie insbesondere die Gewerkschaftsentwicklung in Polen belegt. Polen kann an seiner besonderen Erfahrung mit der Gründung einer vom Staat unabhängigen Gewerkschaft, der Solidarität, anknüpfen. Die Schwierigkeiten bei der Neustrukturierung der Arbeitsbeziehungen sind nicht allein für das Arbeitsrecht bedeutsam, sondern auch für den Sozialbereich, weil eine auf dem Prinzip der sozialen Selbstverwaltung aufbauende Sozialversicherung auf eine funktionierende Organisation der Sozialpartner angewiesen ist c) Umstrukturierung des sozialen Bereichs Ob und in welchem Umfang der soziale Sektor einer grundlegenden Reform bedarf, ob man also insoweit von einem Transformationsprozeß sprechen kann, ist nicht unbestritten. Für eine Beibehaltung und allenfalls vorsichtige Weiterentwicklung des bestehenden Systems sozialer Sicherheit könnte sprechen, daß soziale Institutionen ganz allgemein ein erhebliches Beharrungsvermögen aufweisen. Trotz zahlreicher Änderungen im Detail ist erstaunlich, in wie starkem Maße vorhandene Grundstrukturen des jeweiligen Systems auch in den westeuropäischen Staaten erhalten geblieben sind. Einer von mehreren Gründen dafür mag sein, daß die Institutionen sozialer Sicherheit auf die Akzeptanz der Bevölkerung angewiesen sind, die durch häufige Änderungen dieser Institutionen abnehmen würde. Ein weiterer Aspekt, der gegen sozialpolitische Reformen in den ehemals sozialistischen Staaten Mittel- und Osteuropas sprechen könnte, ist die Forderung nach Konzentration auf die wirtschaftliche Umwandlung und Konsolidierung, die durch finanzielle und personelle Investitionen im Sozialbereich geschwächt werden könnte. Dabei wird allerdings nicht genügend berücksichtigt, daß soziale Sicherheit nicht allein als Kostenfaktor

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Bemd von Maydell

bewertet werden kann, sondern ein notwendiger Stabilisierungsfaktor in jedem modemen Staatswesen ist Den Vorbehalten gegen eine Umstrukturierung im sozialen Bereich stehen eine Reihe von Aspekten gegenüber, die die Notwendigkeit solcher Reformen belegen. Dabei mag die Frage dahingestellt bleiben, ob nicht einer Marktwirtschaft eine bestimmte Sozialordnung entspricht, so daß sich bereits durch die Entscheidung für die Marktwirtschaft die Notwendigkeit der Ablösung des in der Zentralverwaltungswirtschaft entwickelten Systems sozialer Sicherheit ergibt. Eine solche Notwendigkeit zeigt sich jedoch in der konkreten Entwicklung. Die Umstrukturierung im politischen und wirtschaftlichen Bereich schafft unmittelbare und mittelbare Zwänge für eine ModifJkation des Systems sozialer Sicherheit. Eine unmittelbare Beziehung besteht dort, wo die Umgestaltung den Bedarf für die Schaffung neuer sozialer Institutionen begründet. Das wichtigste Beispiel insoweit ist die Arbeitslosenversicherung, die zwingend notwendig wird, wenn mit der Aufgabe der Zentralverwaltungswirtschaft das Recht auf Arbeit und damit eine Vollbeschäftigung nicht mehr garantiert und realisiert werden kann. So sind in den Reformstaaten durchgehend neue Arbeitslosenversicherungssysteme geschaffen oder vorhandene Sicherungsansätze ausgebaut und vervollständigt worden. Eine ähnliche Notwendigkeit mag sich dort ergeben, wo der Wohnungssektor liberalisiert wird und dadurch die Wohnungsmieten erheblich steigen werden. Die Entwicklung müßte sozial aufgefangen werden, etwa durch ein Wohngeld, wie es in Deutschland seit der Entlassung der Wohnungswirtschaft aus der Zwangsbewirtschaftung existiert. Neben diesen durch wirtschaftspolitische Maßnahmen unmittelbar bewirkten Handlungsdruck auf die Sozialpolitik gibt es auch einen mehr mittelbaren Einfluß, der sich aus der wirtschaftlichen Umstrukturierung ergibt Ein Beispiel dafür ist die offene Inflation, die in allen Reformstaaten zumindest zeitweise unvermeidlich erscheint und eine Überprüfung des bisherigen Anpassungsmechanismus bei Geldleistungen langfristiger und mittelfristiger Art notwendig macht. Die bisherige Anpassungspraxis von Fall zu Fall in längeren zeitlichen Abständen muß durch einen Anpassungsmechanismus abgelöst werden, der regelmäßige Anpassung erlaubt. Ein weiteres Beispiel für die aus der neuen Entwicklung folgende Notwendigkeit einer Änderung im Sozialbereich ergibt sich aus dem Wandel in der Gewerkschaftsszene. An die Stelle der in den Staatsaufbau integrierten Einheitsgewerkschaft tritt Schritt für Schritt ein Gewerkschaftspluralismus. Damit wird eine Reform der bisherigen Organisation der Sozialversicherung notwendig, die bisher dieser Einheitsgewerkschaft alten Stils anvertraut war. Bei verschiedenen konkurrierenden Gewerkschaften ist dieses Modell für die Verwaltung der Sozialversicherung nicht mehr praktikabel.

Einfühnmg

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Diese wenigen Beispiele zeigen, daß aus rein praktischen Gründen eine Politik, die die Notwendigkeit von Strukturänderungen im sozialen Bereich leugnet, nicht durchgehalten werden kann. Auch im sozialen Bereich kann daher von einem Transformationsprozeß gesprochen werden. Damit stellt sich die Frage nach der Zielrichtung und der inhaltlichen Ausgestaltung dieses Prozes-

ses.

2.Verscbledene Ansätze für den sozlalrecbtUcben Umgestaitungsprozeß

Die Rechtswissenschaft, speziell die Rechtsvergleichung, wird durch den Transformationsprozeß zu einer Aussage darüber genötigt, inwieweit rechtsvergleichende Analysen bei der sozialen Umwandlung hilfreich sein können. Dabei sind drei unterschiedliche Positionen denkbar, die mit Modifikationen auch vertreten werden, soweit sich ausdrückliche Stellungnahmen in der bisherigen Diskussion überhaupt finden. a) Die verschiedenen Ansätze (1) Man könnte der Auffassung sein, daß die Ausgestaltung des Sozialsystems eine ureigene Aufgabe jedes Staates ist, der andere Staaten und ihre Staatsangehörigen, vor allem auch Wissenschaftler aus anderen Staaten, nichts anginge. Man könnte insoweit von einem national abwehrenden Ansatz sprechen, der wohl kaum jemals so scharf formuliert wird, der aber dennoch in vielen Äußerungen - zumindest unterschwellig - zum Ausdruck kommt. Sicherlich ließe sich dazu eine Grundsatzdiskussion führen; hier sollen nur zwei Aspekte genannt werden, die diesen national/restriktiven Ansatz meines Erachtens obsolet machen. Zunächst ein praktisch-politischer Aspekt: Es liegen vielflUtige Anfragen aus den Reformstaaten vor, die auf eine Hilfestellung bei der Umgestaltung der sozialen Systeme gerichtet sind. Soweit diesen Anfragen entsprochen wird, geht es also nicht um eine Einmischung. Es kommt ein zweiter, mehr grundsätzlicher Aspekt hinzu: Die Entwicklung der Sozialsysterne der Welt wird von der Staatengemeinschaft, beginnend seit dem 1. Weltkrieg und verstärkt nach dem 2. Weltkrieg, nicht mehr als national begrenzte Frage verstanden. Ein Beleg dafür ist die Präambel der Verfassung der IAO vom 9. Oktober 1946, in der die Notwendigkeit dieser Organisation damit begründet wird, daß

"ein allgemeiner und dauernder Friede nur auf der Grundlage der sozialen Gerechtigkeit aufgebaut werden kann," "ferner Arbeitsbedingungen bestehen, die für eine große Zahl von Menschen mit so vielen Ungerechtigkeiten, Elend und Entbehrungen verbunden sind, daß

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eine den Weltfrieden und die Welteintracht gefithrdende Unzufriedenheit entsteht. ... ". Dem ist - bezogen auf die aktuelle Weltsituation, aber auch die spezielle Lage in Europa - nichts hinzuzufügen. (2) Bejaht man die Notwendigkeit einer Umwandlung, so könnte man versuchen, sich bei der Reform sozialer Institutionen mehr oder weniger eng an einem anderen ausländischen Sozialsystem zu orientieren. Diese Orientierung könnte - um die Extreme zu kennzeichnen - in einer Übernahme oder in der bloßen Anregung bezüglich einzelner Elemente des ausländischen Systems für den sozialpolitischen Gesetzgeber bestehen. Man könnte insoweit von einem monistisch vergleichenden Ansatz sprechen. Ein Extrembeispiel ist der deutsch-deutsche Vereinigungsprozeß. (3) Man könnte schließlich fragen, welche Antworten verschiedene Sozialsysteme zu verschiedenen Zeiten auf die Grundfragen sozialer Sicherheit gegeben haben und daraus Folgerungen für eine zu lösende konkrete Reformaufgabe zu ziehen versuchen. Man könnte insoweit von einem global-vergleichenden Ansatz sprechen. b) Speziell zum global-vergleichenden Ansatz Dieser Ansatz, wie er in diesem Colloquium gewählt worden ist. ist einerseits sehr interessant, gleichzeitig aber auch anspruchsvoll und wagemutig. Reizvoll und interessant ist dieser Weg, um nur einige Punkte zu nennen, weil - ein weites Spektrum von Möglichkeiten berücksichtigt werden kann, - von den nationalen historischen Besonderheiten am ehesten abstrahiert werden und die funktionale Komponente der jeweiligen Institution am besten herausgearbeitet werden kann, - dieser Ansatz nicht nur für den Transformationsprozeß herangezogen, sondern auch in anderen Zusammenhängen nutzbar gemacht werden kann, etwa im sozialen Konvergenzprozeß in der EG oder bei innerstaatlichen Reformaufgaben, - dieses Herangehen die notwendige Offenheit gewährleistet. die für eine Diskussion über die besten sozialpolitischen Lösungen auf internationaler Ebene notwendig ist Diese Notwendigkeit zeigt sich dort besonders dringlich, wo dieser Diskussionsprozeß noch am Anfang steht, so wie dies im Verhältnis von West- zu Osteuropa der Fall ist

Einfühnmg

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Anspruchsvoll und der Gefahr des Scheiterns ausgesetzt ist andererseits dieser globale Ansatz, weil - die möglichen Lösungswege für eine konkrete soziale Frage der Zahl nach kaum begrenzbar erscheinen, - eine vollständige Erfassung und Analyse der Faktoren, die für das Funktionieren notwendig sind und die zum Erfolg oder Mißerfolg einer bestimmten Lösung geführt haben, kaum möglich ist; es ist daher eine Auswahl notwendig, die immer einen gewissen Wertungsspielraum eröffnet. Schließlich muß man sich darüber im Klaren sein, daß Antworten, die man nach dieser komplexen Analyse gewinnen kann, regelmäßig verschiedene Optionen umfassen werden. Diese Optionen werden einen hohen Abstraktionsgrad aufweisen und können daher nicht unmittelbar Handlungsanleitung sein. Vielmehr ist es notwendig, diese Optionen vor ihrer Realisierung im konkreten Fall daraufhin zu überprüfen, ob die spezifischen Vorbedingungen für ein Funktionieren gegeben sind oder nicht, bzw. ob Zwischenlösungen erforderlich erscheinen. Der hohe Abstraktionsgrad der Option muß also anband der konkreten Umstände, d.h. der historischen Gegebenheiten, der ökonomischen Bedingungen und der gesellschaftlichen Vorstellungen, wie sie in dem jeweiligen Reform staat bestehen, aufgelöst und auf detaillierte fallbezogene Lösungen konkretisiert werden. Dieser globale Ansatz ist bislang noch nicht ernsthaft erprobt worden, vor allem in dieser Weite, wie er in dem Programm für unser Colloquium zugrundeliegt, in dem versucht wird, alle zentralen Fragen eines Systems sozialer Sicherheit in das Blickfeld zu bekommen. Es wird abzuwarten sein, inwieweit sich dieser Ansatz als fruchtbar erweist und dann weiter verfolgt werden kann. Dabei sollte das Spektrum der Fragen und der verschiedenen Antworten mit ihren Voraussetzungen und Modalitäten nicht vorzeitig verengt werden. Erst in einer weiteren Phase könnte man versuchen, die Diskussionsergebnisse in einem für die Beratungspraxis geeigneten Glossar zusammenzufassen, indem die wichtigsten Antworten mit den zentralen Voraussetzungen für ihr Funktionieren auf die Kernfragen eines sozialen Schutzsystemes enthalten sein sollten.

BI. Zur Struktur des Colloquiums Theoretisch könnte man sich die Situation vorstellen, daß ein Staat ein völlig neues System sozialer Sicherheit schaffen will, das zu der gleichzeitig eingeführten marktwirtschaftlichen Ordnung passen sollte. Diese Ausgangssituation ist eine theoretische, weil kein Staat beim Punkt Null anfängt. Er knüpft stets

2 von Maydell/Hohnerlein

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Bemd von Maydell

an vorhandene Strukturen in mehr oder weniger großem Umfange an. Stellt man dennoch die Frage, so wäre es naheliegend, daß dieser Staat, sofern er sich der Rechtsvergleichung bedienen will, nach einem in der Praxis realisierten sozialrechtlichen Modell sucht, das seinen Vorstellungen möglichst nahekommt. Dabei würde sich ergeben, daß es solche umfassenden sozialen Systeme, die konsequent auf einer Idee aufgebaut sind (Sozialversicherungsmodell, Staatsbürgerversorgungsmodell) in der Realität nicht gibt. Die real existierenden Systeme sind vielmehr das Produkt eines historischen Prozesses, in dem sich ganz unterschiedliche Strukturelemente vermischt haben. Dies bedeutet, daß man einen Überblick über mögliche Antworten auf sozialpolitische Fragen nicht durch eine Darstellung von tatsächlich existierenden sozialrechtlichen Gesamtsysternen gewinnen kann. Man muß vielmehr den globalen Ansatz insoweit modifizieren, als man die Lösungsmöglichkeiten für die einzelnen sozialpolitischen Fragen getrennt untersucht, wobei allerdings eine gewisse Bündelung der Fragen notwendig ist. Ausgangspunkt für diese Bündelung sind der persönliche und sachliche Anwendungsbereich, die Techniken und Instrumente sozialer Sicherheit, Leistungsarten und Leistungsformen, Organisation und Finanzierung. Um die denkbaren Lösungen möglichst weitgehend einbeziehen zu können, sind für jeden Themenbereich zwei Referenten eingeplant, die von unterschiedlichen Rechtssystemen ausgehen. Außerdem können alle Teilnehmer des Colloquiums ihre Erfahrungen und die unterschiedlichen Regelungen in ihren Ländern in die Diskussion einbringen. Die Aufspaltung der Thematik bringt allerdings verschiedene Gefahren mit sich. Die einzelnen Teilthemen stehen in einem engen Zusammenhang. Dies bedeutet, daß mögliche Antworten auf Teilfragen einander bedingen, so daß die Entscheidung einer Frage gleichzeitig auch die Antwort auf eine andere Frage präjudiziert. Durch eine Aufspaltung der Themen könnte dieser Zusammenhang verschwimmen. Auch besteht die Gefahr, daß der Überblick über das Gesamtsystem, das Antworten auf die zahlreichen Einzelfragen voraussetzt, erschwert wird. Dennoch erscheint aus den genannten Gründen ein anderes, gleichsam ganzheitliches Vorgehen, nicht möglich. Im übrigen wird den Gefahren, die durch die Aufspaltung in gebündelte Einzelfragen entstehen, dadurch entgegegengewirkt, daß die Erörterung der Teilaspekte eingebettet wird in das Gesamtprogramm des Colloquiums. Der einführende Teil, in dem der historische und ökonomische Rahmen für Systeme sozialer Sicherheit behandelt wird, und der Schlußteil, in dem es um den Beitrag der Rechtsvergleichung geht, bilden den Rahmen, durch den der Blick auf die die Einzelfragen verbindenden Elemente gelenkt wird. Allerdings beschränkt sich die Funktion dieser Teile keineswegs darauf, eine Gesamtschau zu ermöglichen. Historische und ökonomische Aspekte sind unentbehrlich für das Verstehen und das Funktionieren von Sozialsystemen. Durch die Frage

Einführung

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nach der Rolle des Rechts und der Rechtsvergleichung soll schließlich ein Beitrag zur Klärung geleistet werden, welche Funktion der Sozialrechtsvergleichung im Transformationsprozeß zukommen kann.

Erster Teil

Allgemeine Grundlagen und Rahmenbedingungen

Historischer Kontext und Entwicklungsgeschichte von Systemen sozialer Sicherheit von Peter A. Köhler Ein merkwürdiges Phänomen im Kontext des Systemwandels in Osteuropa ist die Schnelligkeit, mit der dieser historische Prozeß Teil unserer Alltagsnormalität geworden ist Man staunt nicht mehr darüber, wie sehr eine erst vor wenigen Jahren einsetzende politische Entwicklung an Tempo gewonnen und in wie atemberaubend kurzer Zeit sie eine ganze Weltregion umgestaltet haL "Umbruch", "Transformation" oder "Reformationsprozeß" sind derart zu Standardworten in allen Medien geworden, daß beinahe schon als Normalfall gilt, was in Wirklichkeit ohne historisches Beispiel ist. Dabei sind wir die Zeitgenossen eines tiefgreifenden Wandels, dessen Folgen heute noch nicht absehbar sind. Nur eines scheint inzwischen klar: Die Veränderung der politischen Machtverhältnisse und die bloße Beseitigung der damit verbundenen Institutionen reichen allein nicht aus, damit als dann quasi "von selbst" Neues entstehL Auch für den gesellschaftspolitischen Teilbereich sozialer Sicherheit gilt, daß ein Neubau nur entstehen kann, wenn zuvor Klarheit besteht über das Fundament, die technischen Möglichkeiten und das angestrebte Ergebnis. I. Die Ausgangslage Die von Gorbatschow eingeleiteten internen Reformen in der Sowjetunion führten in frappierendem Tempo zur Auflösung eines zentral seine Satelliten regierenden Weltreichs in eine Vielzahl von Einzelstaaten. Die militärische Hegemonie der Sowjetunion ist inzwischen beseitigt, die Auswirkungen der

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Peter A. Köhler

ideologischen Gleichschaltung dieser Länder durch Variationen des Staatssozialismus sowjetischer Prägung dagegen offenbar noch lange nicht. 1 Man weiß heute, daß die ökonomischen Folgen der staatssozialistischen Ordnung in Osteuropa, die nur im Kontext des kalten Krieges als Aufzwingen der Stalin'schen Interpretation des Marxismus gemäß der sowjetischen Praxis zu verstehen sind, nicht in ein paar Jahren zu beseitigen sind. 2 Die Systeme sozialer Sicherheit unterliegen als Ergebnisse des politisch-wertenden Selbstverständnisses einer Gesellschaft ganz besonders ideologischen Vorgaben. Für Innovationen in diesem Bereich scheint deshalb wenigstens ebenso viel Geduld und Ausdauer vonnöten, wie hinsichtlich der Verbesserung der ökonomischen Rahmenbedingungen, in denen sie funktionieren sollen. Die "Umgestaltung der Systeme der sozialen Sicherheit" ist also nicht separat vorstellbar, sondern nur als Teil einer Umgestaltung der gesamten staatlichen und ökonomischen Strukturen. Dies scheint für alle Staaten Osteuropas zu gelten, denn neben den vielen, seit der Auflösung des Warschauer Pakts heute wieder mehr und mehr erkennbaren nationalen Unterschieden, wurde deren Geschichte während 40 Jahren Sowjethegemonie durch einen höchst wirksamen Faktor geprägt. "Marxismus Leninismus", "Stalinismus" oder "zentrale Planwirtschaft" sind nur Schlagworte für Facetten dieses komplexen Faktors und beschreiben dessen Wirkmächtigkeit nur in Details. Womöglich handelt es sich dabei um eine hundertjährige Fernwirkung der russischen Interpretation der Theorien von Marx. Für große Teile der revolutionären Intelligenz des zaristischen Rußlands war eine geistige Haltung bestimmend, der die Relativierung einmal konzipierter Theorien fremd war, wofür es im Russischen den Begriff "prinzipialnost" (Prinzipienhaftigkeit) gibt. 3 Lenin's Theorie der historisch-politischen Notwendigkeit einer avantgardistischen Partei des Proletariats war ebenso ein Ergebnis dieses prinzipienhaften Denkens wie das Prinzip des "demokratischen Zentralismus", das er 1905 in die Organisationspraxis der Partei einführte. Im Stalinismus totalitär durchgesetzt, war über Jahrzehnte die "führende Kraft der Partei" das die gesamte Sowjetunion und schließlich eine Weltregion prägende 1 S. dazu mit umfanglichen literaturltinweisen Helmut L. Müller, Die unvollendete Revolution in Osteuropa: Charakter und Ziele des politischen Umbruchs von 1989, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B lOJJ3, S. 14 ff. und auch Adam Michni1c, Der lange Abschied vom Kommunismus, Reinbek 1992; Theodor Schweisfurth, Vom Einheitsstaat (UdSSR) zum Staatenbund (GUS). Juristische Stationen eines Staatszerfalls und einer Staatenbundentstehung, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, 1992, S. 541 ff. 2 Ein Überblick über die Probleme fmdet sich bei CharIes Wolf jr. (Hg.), Promoting Dernocracy and Free Markets in Eastern Europe, The RAND Publication Series, prepared for the Agency for International Development, Santa Monica 1991, darin insbes. Nicholaus Eberstadl, Aid for Eastern Europe: A Sceptic View, S. 33 ff.; noch pessimistischer ist wzl6 Csaba, Triebkräfte und Hindernisse des Systemwandels in Osteuropa, SondervelÖffentlichung des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Köln 1991. 3 Die Fernwirkung von "prinzipialnost" stellt ausführlich dar Hans-Joachim Lieber, Zur Theorie totalitärer Hemchaft, in: Lieber (Hg.), Politische Theorien von der Antike bis zur Gegenwart, München 1991, S. 881 ff., hier: S. 913-916.

Entwicklungsgeschichte von Systemen sozialer Sicherheit

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Prinzip. Konzentriert man sich auf das Wesentliche des von der Sowjetunion nach 1945 "exportierten" Modells des Staatssozialismus, so beruhte es auf der Erwartung stetigen ökonomischen Wachstums für und durch den von seinen gesellschaftlichen und individuellen Dysfunktionen befreiten "neuen Menschen". Es kam ein Gesellschaftsvertrag zustande, der die Sicherheit jedes einzelnen Arbeitsplatzes bei relativ stabilen, zentral fixierten Preisen garantierte. Nicht unmittelbar ökonomische Probleme wie z.B. Umweltschutz oder die Notwendigkeit von Investitionen in neue Technologien hatten in diesem Modell keinen vergleichbaren Stellenwert; individuelle Initiativen, Veränderungen, Neues an sich wurden als Irritation des Systems empfunden und politisch zentral bekämpft. Zugleich hatte die Grundutopie die Konsequenz, daß Institutionen zum sozialen Schutz derer, die aus dem Produktionsprozeß herausfielen, nur spät und rudimentär entstanden. Diese Art sozialistischer Sozialpolitik bevorzugte unmittelbare Sach- und Dienstleistungen, gestaltende Einflußnahme auf die sozialen Beziehungen wurde höher bewertet, als monetäre Leistungen. 4 Weil aber in keinem der sozialistischen Länder zentral geplant "ständiges Wachstum" erreicht werden konnte, konnte auch das Versprechen der "restlosen Befriedigung" der sozialen Bedürfnisse der Menschen nicht annähernd gehalten werden. Die Aufnahme sozialer Grundrechte in die einzelstaatlichen Verfassungen und das engagierte Eintreten für diese Grundrechte auf internationaler Ebene führte wegen der lähmenden Auswirkung der Fonnel von der "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" ebenso wenig zu direkten Verbesserungen der Lebensbedingungen der Menschen wie z.B. die in allen staatssozialistischen Ländern faktisch universal geltenden Rentensysteme. Wie hätten individuelle Renten auch in zureichender Höhe finanziert werden sollen, wenn die Industrie nicht profitabel arbeitete und keine der Verteilung zugänglichen Ressourcen erwirtschaftete? Wenn das in der Produktion stehende Individuum umfassend umsorgtes Objekt des fürsorgenden Staates ist, wenn seine Ansprüche auf Sozialleistungen vielfach Ansprüche gegen den Betrieb sind, dann kann als Nettolohn nicht das ausbezahlt werden, was Marx einst zu den Reproduktionskosten der Arbeit zählte, sondern die Löhne müssen entsprechend niedrig festgesetzt werden. Weil die Renten aber dem Lohn proportional waren, bedeutete niedriger Lohn immer auch niedrige Rente. Latente Inflation sowie die in den letzten Jahren überall immer spürbarer werdende Mangelwirtschaft führten zusammen mit den niedrigen Rentenaltersgrenzen dazu, daß eine zunehmend größere Zahl von Menschen ein Leben am Rande des Existenzminimums führen mußte. Die zentral geplante und mehr schlecht als recht verwaltete Mangelwirtschaft entzog auf diese Weise der gesamten Sozialversicherung die ökonomische Basis, obwohl soziale Sicherheit und Geborgenheit aller Bürger zu 4 Eine ausführliche Darstellung der Sozialpolitik in der DDR findet sich bei lOMMes Frerich Wld Martin Frey, Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik, Bd. 2, München 1993.

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den Zielen des Ausbaus des Sozialismus zählten und so zu einer Komponente der Staatsdefinition wurden. Wegen der Spezifika der deutschen Teilung den anderen Ländern des früheren Ostblocks nicht durchweg vergleichbar, scheint doch allgemein zu gelten, was für die DDR konstatiert wurde: Nicht ein Umbau des sozialistischen Staatsapparates scheint geboten zu sein, sondern ein echter Neubau. Mit guten Gründen wurde ein Aliud-Verhältnis zwischen rechtsstaatlichem öffentlichen Dienst und sozialistischer Kaderverwaltung gesehen, die ja überall aus Staatsfunktionären bestand, deren wichtigste Eignungsvoraussetzung die Treue zur Partei war. 5 Die Art und Weise der Umgestaltung des Systems der sozialen Sicherheit der DDR im Zuge des Beitritts zur BRD verdeutlicht. wie die Gegebenheiten beschaffen sind, die umgestaltet werden sollen und welche immensen Schwierigkeiten dabei zu überwinden sind. 6 Mit Befehl Nr. 28 der sowjetischen Militärverwaltung vom 28.1.1947 wurde in der damaligen sowjetischen Besatzungszone die Sozialpflichtversicherung als "einheitliches demokratisches System d~r Sozialversicherung für Arbeiter, Angestellte und kleine Unternehmer" errichtet 7 Die für die klassischen Zweige der Sozialversicherung einschließlich der Arbeitslosenversicherung errichteten fünf Sozialversicherungsanstalten wurden von der DDR im Jahr 1951 zu einer einheitlichen, zentral gelenkten Sozialversicherung vereinigt, die alsbald in die Verantwortung des FDGB gestellt wurde. Hinsichtlich der Finanzierung wurde die Sozialversicherung zwar einerseits in den Staatshaushalt integriert, bis zuletzt wurde jedoch aber an Beiträgen auch der Werktätigen festgehalten. Insgesamt war die soziaie Sicherung einschließlich des Gesundheitswesens Bestandteil des Fünfjahresplanes sowie der Volkswirtschafts-Jahrespläne und voll in das System des "demokratischen Zentralismus" integriert Der Leistungsausbau entwickelte sich angesichts ständiger wirtschaftlicher Schwierigkeiten nur zögernd, insbesondere die Invaliden- und Altersrentner hatten lange Zeit keinen Anteil an dem nur langsam wachsenden Wohlstand. 8 Unter der planwirtschaftlichen Vorgabe stabiler Preise für Waren und Dienstleistungen wurde die 1951 eingeführte Beitragsbemessungsgrenze von 600 DM für die Pflichtversicherung niemals angehoben. Die darauf beruhenden Rentenleistungen genügten bald , S. Csaba, (Fn. 2), s. 30 und Ulrich Baltis, Aufbau des öffentlichen Dienstes in den neuen Bundesländern - Recht und Realität, in: Josef Isensee (Hg.), Vergangenheitsbewältigung durch Recht. Drei Abhandlungen zu einem deutschen Problem, Berlin 1992, S. 65 ff. 6 S. dazu die Beiträge in: Ludwig-Emard-Stiftung (Hg.), Vom Zentralplan zur sozialen Marlctwirtschaft. Erfahrungen der Deutschen beim System wechsel, Stuttgart u.a. 1992. 7 S. dazu bereits Fn. 4. 8 Zur Rentenversicherung in der DDR s. Ulrich Lohmann, Landesbericht DDR, in: Hans F. Zacher (Hg.), Alterssicherung im Rechtsvergleich, Baden-Baden 1991, S. 193 ff. und Peter A. Köhler, Entwicklungslinien der hundertjährigen Geschichte der Gesetzlichen Rentenversicherung: Die Zeit von 1891 bis 1957, in: Handbuch der Gesetzlichen Rentenversicherung, S. 51 ff., Neuwied und Frankfurt/M., 1990.

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nicht mehr einer angemessenen Altersversorgung. Um dem abzuhelfen, wurde eine freiwillige Zusatzrente für alle Erwerbstätigen eingerichtet sowie eine große Anzahl von berufsständisch gegliederten Zusatz- und Sonderversorgungssystemen, die neben anderen Gruppen der "technischen Intelligenz" und Personen, die in einem besonderen "Dienst- und Treueverhältnis" zum Staate standen, eine über dem bescheidenen Durchschnitt liegende Alterssicherung verschaffte. Als man mit dem Staatsvertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom 18.5.19909 und mit dem "Einigungsvertrag" vom 31.8.1990 10 daran ging, gleiche wirtschaftliche und soziale Verhältnisse für das vereinte Deutschland herzustellen, geschah dies hinsichtlich der sozialen Sicherheit im Grunde dadurch, daß man das System der alten BRD nun auch im Beitrittsgebiet einführte. Dieser völkervertragsrechtlich beispiellose Vorgang war keine "Umgestaltung", sondern im Grunde die Abschaffung eines Systems, war keine "Veränderung" vorhandener Strukturen, nicht deren Ersetzung durch neue, sondern die durch komplizierte Übergangsregelungen gemilderte geographische und personelle Ausweitung des Funktionsbereichs des in der BRD eingerichteten Systems der sozialen Sicherheit. Dies scheint nicht allein eine in der Natur der Sache liegende Konsequenz dessen zu sein, daß eben ein Staat durch Beitritt zu einem anderen seine Souveränität aufgegeben hat, sondern in der Natur der aufeinander treffenden Systeme. In einem marktwirtschaftlichen System kann soziale Sicherung nicht in Form starrer Institutionen funktionieren. In allen westlichen Demokratien besteht ein Spezifikum des Sozialrechts darin, daß kaum ein anderes Rechtsgebiet den Gesetzgeber derart oft damit beschäftigt, seinen Regelungsgegenstand den sich stets ändernden demographischen, wirtschaftlichen, politischen etc. Verhältnissen anzupassen und damit seine Funktionsfähigkeit zu erhalten. Demgegenüber verstand man die Institutionen in den staatssozialistischen Ländern als grundsätzlich perfekt. Unter der Vorgabe einer nach den Methoden des demokratischen Zentralismus geplanten Volkswirtschaft hielt man Änderungen der einmal etablierten Systeme z.B. der sozialen Sicherheit nicht für nötig. Das Festhalten an theoretischen Konzepten, die einer kritischen Überprüfung über Jahrzehnte entzogen wurden, führte zu der am Beispiel der DDR skizzierten Starrheit und Unflexibilität der Institutionen, die dann, als das Umfeld Reaktionen erzwang, deshalb wohl unvermeidlich versagen mußten. Wenn freilich daraus geschlossen wird, daß im Bereich der Daseinsvorsorge, z.B. Betriebskindergärten oder Polikliniken keine den Aufgaben der öfBGB!. II, 1990, S. 577 ff. I.e. Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands - Einigungsvertrag, BGB!. Teil II, 1990, Nr. 35, S. 885 ff. 9 10

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fentlichen Verwaltung in einer sozialen Marktwirtschaft entsprechende Funktion gesehen werden kann, weil "nicht nur ein gradueller, sondern ein prinzipieller (Unterschied)" besteht,11 so gerät dieses Denken selbst in die Nähe des oben genannten "prinzipialnost". Richtiger erscheint demgegenüber, das Beispiel der DDR insoweit als signifIkant für die aktuellen Probleme der Staaten Mittel- und Osteuropas gelten zu lassen, als man aus einem Institutionensystem, das nach den Vorgaben einer prinzipiell endgültig gedachten Theorie errichtet ist, nicht einen Teilbereich herauslösen kann, der dann in einem anderen Umfeld funktionsfähig wäre. Für die Fragestellung der "Umgestaltung" der Systeme sozialer Sicherheit in den Staaten Mittel- und Osteuropas bedeutet dies, daß ein in welchen Details auch immer reformiertes Weiterarbeiten der alten Institutionen der sozialen Sicherheit wohl nicht den erhofften und angesichts der wirtschaftlichen Lage dieser Staaten dringend erforderlichen Erfo~g haben kann. Tiefgreifende Veränderungen scheinen unvermeidlich. Weil ein bloßes Auswechseln der Systeme wie im Falle der DDR keineswegs reibungslos vonstatten geht und für andere Länder schon gar keine Lösung sein kann, stellt sich die Frage, ob ein Blick auf die Entstehung und Entwicklung von Systemen sozialer Sicherheit im internationalen Raum sozialpolitisch verwertbare Beispiele oder wenigstens Denkanstöße zu geben vermag. 11. Historischer Kontext und Entwicklungsgeschichte von Systemen sozialer Sicherheit Es sollen hier nicht noch einmal die verschiedenen, im Lauf der Zeit international entstandenen Systeme sozialer Sicherheit klassifIziert oder bestimmten Modellen zugeordnet werden.I2 Es gibt zahlreiche theoretische Versuche, die variationsreiche Erscheinungsform dessen zu kategorisieren, was mit Wohlfahrts- oder Sozialstaat nie ganz hinreichend benannt ist Begriffe wie "Bismarck"- oder "Beveridge"-Modell, "skandinavische Wohlfahrtsstaaten", aber auch Kategorienbildungen des welfare state als residual oder institutionell, Differenzierungen nach der Art der staatlichen Intervention im Sozialbereich (etwa Sozialversicherung versus social welfare) beschreiben nur mehr oder weniger analytisch genau die Situation in bestimmten Ländern, ohne sie im einzelnen zu erklären. Sie helfen wenig, wenn Argumente für eine sozialpolitische Entscheidung in einem anderen Kontext gesucht werden. Für diese Frage scheint es eher nützlich zu sein, bekannte Systeme darauf zu überprüfen, So aber Baltis, (Fn. 5), S. 65. Einen aktuellen, international ausgreifenden Überblick über die Vielfalt dazu diskutierter Theorien gibt Diane Sainsbwry, Analysing Welfare State Variations: The Merits and Limitations of Models Based on the Residual-Institutional Distinction, in: Scandinavian Politica1 Studies, Vol. 14, Nr. I, 1991, S. 1 ff. II

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ob sie in einem vergleichbaren Kontext entstanden sind oder sich darin im Verlauf ihrer Entwicklungsgeschichte bewährt haben. Natürlich kann es sich schon deshalb niemals um einen gleichen Kontext handeln, weil Geschichte sich nicht wiederholt Ein weiterer Grund zur Zurückhaltung besteht darin, daß Systeme sozialer Sicherheit stets unter den jeweils nationalen rechtlichen Rahmenbedingungen funktionieren: Bei der Interpretation (inter-)nationaler Beispiele von Entwicklungsverläufen sozialer Sicherungssysteme sollte deshalb nie vergessen werden, daß diese Systeme nicht außerhalb der jeweiligen nationalen (Rechts-)Kultur stehen und immer Ergebnis eines jeweils besonderen nationalen Geschichtsverlaufs sind. 1. Der historische Kontext bei der Entstehung von Systemen sozialer Sicherheit

Da es um Entscheidungshilfen für Probleme der Gegenwart geht, ist schon fraglich, inwieweit die historischen Verläufe der Entstehung von Systemen sozialer Sicherheit erhellend sein können. "Historia magistra vitae" ist nicht mehr als ein Ausdruck der Hoffnung und nur aus der Vereinfachung multikausaler Prozesse können vielleicht einige bis heute relevante Erkenntnisse gewonnen werden. Vieles, was einst Pioniertat war, erscheint nach über hundert Jahren Entwicklungsgeschichte selbstverständlich, freilich nur auf den ersten Blick: So war einer der politischen Hauptstreitpunkte bei der Ersterrichtung sozialer Sicherung die Frage, inwieweit dies Sache des Staates sein dürfe. Bismarck's Randbemerkung zum Gedanken, für die Sozialversicherung doch die Privatversicherung in irgendeiner Form zuzulassen: "Nur keine private (Anstalt) mit Dividende und Konkurs", bringt ein Problem auf den Punkt, das damals nicht nur in Deutschland diskutiert wurde und das unter den Schlagworten "Aufblähung des öffentlichen Sektors", "Privatisierung" oder "neue Subsidiarität" auch aktuelle Bedeutung hat. Georg Zacher verdanken wir die Momentaufnahme des internationalen Zustands der Sozialversicherung um die Jahrhundertwende. Der Regierungsrat am Reichsversicherungsamt hat dem VIII. Internationalen Arbeiterversicherungskongreß in Rom (1908) eine Darstellung der Sozialversicherung von 18 Ländern Europas in einem fünfbändigen Sammelwerk vorgelegt 13 Aufgrund dieser tiefgreifenden Untersuchung gelangt er zu dem Ergebnis, daß "Arbeiterversicherung" in allen Kulturstaaten durch gleichartige Ursache erforderlich wird und das gleiche Ziel verfolgt, nämlich Leben und Gesundheit der Arbeiter schon im Interesse der nationalen Wohlfahrt zu schützen. Bei der Analyse der dafür wirkungsvollsten Methoden 13 S. Georg Zacher, Die Arbeiterversicherung im Ausland, Berlin 1898 - 1908; einen Überblick über dieses Werk geben Pe/er A. KöhJu und Hans F. Zacher, Die Sozialversicherung im Europa der Iahrhundertwende, in: Die Sozial gerichtsbarkeit, 28. Ig., Heft 10/11, 1981, S. 420 ff.

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sind rechtliche, wirtschaftliche, soziale und politische Gesichtspunkte in Betracht zu ziehen~ Georg Zacher macht für seine Zeit zwei konkurrierende Systeme aus, die beide auf dem Grundgedanken beruhen, die sozialen Probleme der Industriestaaten durch Versicherung zu lösen, nämlich die staatliche Kontrolle und Unterstützung freiwilliger Versicherung einerseits und die staatliche Zwangsversicherung andererseits. Schon für die lahrhundertwende zeigt er jedoch auf, daß eine rechtliche Beschränkung des Staates auf die Regelung der diversen Formen persönlicher Selbsthilfe oder freier Genossenschaftshilfe den Anforderungen der sozialen Problemstellung nicht mehr entspricht. Er weist nach, daß wegen der wirtschaftlichen Größenordnung die sozialen Risiken vom Arbeiterstand durch freiwillige Versicherung allein nicht mehr zu tragen sind Zudem hatte eine obligatorische Arbeiterversicherung dort, wo sie eingeführt war, bereits damals eine volkswirtschaftliche und sozialpolitische Bedeutung erreicht, die den ursprünglichen Leistungsauftrag, einzelne Risiken abzudecken, längst weit hinter sich gelassen hatte. Schon um die lahrhundertwende waren die Träger der Sozialversicherung aufgrund des bei ihnen akkumulierten Beitragsvermögens finanziell in der Lage, neue Heilverfahren zur Rehabilitation zu entwickeln, die Lungentuberkulose zu bekämpfen, ja sogar den Bau von Arbeiterwohnungen, Krankenhäusern und Volksbädern zu finanzieren. In diesen sozialen Aktivitäten der Sozialversicherung sah G. Zacher das Hauptargument und den entscheidenden Vorteil staatlichen Engagements im sozialen Bereich gegenüber einer nur individualistische Vorsorge unterstützenden Gesetzgebung. Er berührt damit den Kern der zeitgenössischen Diskussion, denn in allen Ländern war unstreitig, daß es sozialpolitischen Handlungsbedarf gibt, die Diskussion ging überall nur mehr um das Wie. Freilich führte das Warten auf öffentlichrechtliche Regelungen gesellschaftlicher Probleme mancherorts auch dazu, daß Problemlösungen aufgeschoben wurden. Als Beispiel mag Rußland genannt werden, für das zur lahrhundertwende konstatiert wird, daß es dort noch keine "staatliche Versicherung der Arbeiter wider die Folgen von Unfall, Krankheit und Alter" gibl Erst 1903 findet ein Gesetz über die Haftpflicht der Betriebsunternehmer die allerhöchste Bestätigung, es gilt freilich nur für Industriebetriebe. Aufgrund des Kaiserlichen Erlasses vom 12. Dezember 1904 arbeitete ein Ministerkomitee zwar den Entwurf eines Reichsarbeiterversicherungsgesetzes aus, das die Einführung von Unfallversicherung, Krankenversicherung und Alters- und Invalidenversicherung vorsah, die Ausführung des Gesetzes kam aber nicht recht voran und 1905 wird die Situation dieses Landes dahin beschrieben, daß es sich in Rußland zunächst einmal darum handele, "die erste Eisdecke zu durchbrechen, die anderen Vervollständigungen werden dann mit der Zeit, wie wir hoffen, ganz von selbst hinzukommen .... 4 Wir wissen heute, daß dies eben nicht "von selbst" hinzukam und daß die Geschichte einen anderen Verlauf nahm. 14

S. Köhler/Zacher, ebda., S. 427-428.

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Im Kontext mit solchen evolutionären Vorstellungen wird Sozialversicherung oft als Versuch der jungen Industriestaaten interpretiert. den politischen Herausforderungen der Arbeiterfrage zu begegnen. Sozialversicherung wird damit ebenso in historische Konnotation mit der industriellen Revolution gebracht wie die Arbeiterbewegung. 15 Darin liegt wohl nur eine Teilwahrheit Ohne Zweifel ist Sozialversicherung als gesetzestechnisch neuartiges Instrument, Probleme anzugehen, die auch in dem Sinne soziale sind, als sie als Staatsaufgabe erkannt waren, ein Teil der mit der industriellen Produktionsweise verbundenen Modernisierung. Eine direkt ursächliche Wechselbeziehung zwischen Industrie und Sozialversicherung greift aber wohl schon deshalb zu kurz, weil die ersten Gesetze eben nicht in England, dem Vorreiter der Industrialisierung, entstanden sind und weil durchaus auch Länder zu den Staaten gehören, die sehr früh mit Sozialgesetzgebung begannen, in denen noch die Agrarwirtschaft überwog. 16 Zu nennen wären z.B. Österreich, aber auch die skandinavischen Länder Dänemark, Norwegen und Schweden. Mit dem steuerfinanzierten universalistischen Pensionsgesetz von 1891 tritt Dänemark 17 an die Spitze der Länder, die nicht den Weg der Sozialversicherung gegangen sind. Der politische Hintergrund dieser Entscheidung für ein System der sozialen Sicherheit für alle Einwohner stall einer Versicherung der Industriearbeiter war ein Arrangement zwischen Sozialisten, Liberalen und konservativer Partei. Dabei war den Sozialisten klar, daß die Industriearbeiterschaft im agrarischen Dänemark rein zahlenmäßig nicht die politische Kraft hatte, eine dezidierte Arbeiterversicherung durchzusetzen; im übrigen hielt man die Industrielöhne für zu gering, um sie mit Sozialversicherungsbeiträgen belasten zu können. Die konservative Partei der Bauernschaft war schon deshalb für eine Steuerfinanzierung, weil ihre Klientel steuerlich an sich wenig belastet war und weil man sich von einem universalistischen System erhoffte, daß es der verbreiteten ländlichen Armut ohne Ansparphase sofort abhelfen könne. Die Liberalen als Partei der städtischen Bourgeoisie verstanden sich gerne auf eine Finanzierung durch indirekte (Verbrauchs-)Steuern, weil dies die Unternehmer weniger belastet als etwa Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung. Die sich auf nationale Solidarität berufende dänische Sozialpolitik kann daher als Ergebnis einer "Kollusion der Eliten" zur Überwindung des Antagonismus zwischen Stadt und Land gewertet werden. 18 15 S. die diversen Beiträge, insbesonders den von Jens Alber, Die Entwicklung sozialer Sicherungssysteme im Lichte empirischer Analysen, in: Hans F. Zacher (Hg.), Bedingungen für die Entstehung und Entwicklung von Solialversicherung, Berlin 1979. 16 S. ebda. (Fn. 15) und speziell für Deutschland und Österreich Heinz Barta, Kausalität im Sozia1recht, Berlin 1983, darin insbes. Erster Teil, Historische Perspektiven, S. 47-183. 17 Zur Geschichte der Alterssicherung in Dänemark s. Peter BaIdwin, Tbe Politics of Social Solidarityand the Class Basis of the European Welfare State, 1875 - 1975, Cambridge 1990 und Peter A. Köhler, Alterssicherung in Dänemark, in: Die Angestelltenversicherung, 9/1990, S. 359 Cf. 18 S. Baldwin, ebda., S. 533.

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Ein weiteres Beispiel dafür, daß der skandinavische Sonderweg, der heute vielen als Modell beispielhafter nationaler Solidarität gilt, auf der Basis von vor ca. 70 Jahren durchgesetzter Gruppeninteressen beruht, ist Schweden. 19 Vor dem ersten Weltkrieg wollte vor allem die schwedische Sozialdemokratie mit Blick auf Deutschland das Sozialversicherungsmodell Bismarcks einführen und zwar aus naheliegenden Gründen: Sozialversicherung für die Industriearbeiterschaft entsprach mit dem Ausschluß der Selbständigen, der Landwirtschaft und mit dem erheblichen Staatszuschuß nämlich genau den Interessen der Wählerschaft der Sozialdemokratie. Anders als in Deutschland, wo sich die SPD erst sehr spät für die Sozialversicherung engagierte, sah man in Schweden darin den sozialpolitischen Fortschritt, war aber nicht stark genug, sich durchzusetzen. Die Einführung der Sozialversicherung scheiterte am Widerstand der organisierten Bauernschaft, die dieses System aus durchaus gruppenegoistischen Gründen verhindert hat Die Bauernpartei war für Steuerfinanzierung, weil, wie in Dänemark auch, die schwedische Landwirtschaft schon damals relativ weniger Steuern zu zahlen hatte. Man rechnete sich einen Vorteil dadurch aus, daß ein Großteil der Reichssteuern, aus denen das Kernstück der sozialen Sicherheit, nämlich die Volksrente für alle fmanziert wurde, von der städtischen Elite, Unternehmerschaft und Kapital getragen wurde. Bei der Diskussion universalistischer Sicherungsmodelle sollte also nicht aus dem Blick geraten, wie die historische Realität beschaffen war, die zur Entstehung dieser vermeintlich sozialistischen Modelle geführt hat Die skandinavischen Länder können damit als Beispiel dafür gelten, daß soziale Sicherheit auch dann sozialpolitischen Sinn macht, wenn sie nicht Ergebnis einer indirekt gegen die organisierte Arbeiterschaft oder direkt für deren Interessen eintretende Sozialpolitik ist. 2. Soziale Sicherheit In ökonomischen KrIsensituationen

Die heiden Weltkriege und die internationalen politisch-ökonomischen Krisen der Zwischenkriegszeit wirkten sich weltweit höchst unterschiedlich aus und damit unterschiedlich auch für die diversen Systeme sozialer Sicherheit in den einzelnen Ländern. So zeigt insbesondere die Entwicklung der Sozialversicherung in Deutschland das erstaunliche Beharrungsvermögen einmal errichteter Institutionen. 20 Die Zweige der deutschen Sozialversicherung überstanden das fmanzielle Aus19 S. Bernd HeMmgsen, Der Wohlfahrtsstaat Schweden, Baden-Baden 1986 und Baldwin (Fn. 17), S. 147 Cf. 20 S. Peter A. Köhler, (pn. 8), s.a. Göran Therboru IDld Joop Roebroek, The Irreversible Welfare State: Its Recent Maturation, its Encounter with the Economic Crisis, and its Future Prospects, in: International Journal of Health Services, vol. 16, N 3,1986, S. 319 Cf.

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bluten während des ersten Weltkriegs und durch die galoppierende Inflation der zwanziger Jahre organisatorisch unbeschädigt. Trotz massiver Leistungseinschränkungen in der Weltwirtschaftskrise und trotz der politischen Instabilität der Weimarer Republik hatte die grundsätzliche Entscheidung für ein gegliedertes Sozialversicherungssystem Bestand. Die Kehrseite einer Verwaltungsorganisation, die soweit perfektioniert ist, daß sie selbst durch nationale Katastrophen nicht zu erschüttern ist, wird allerdings während des Nationalsozialismus und im zweiten Weltkrieg sichtbar: Die Nationalsozialisten nahmen zwar schnell davon Abstand, grundlegende Veränderung des Systems zu verfolgen, statt dessen wurde es "gleichgeschaltet".21 Unter bald auch politisch und rassistisch veränderten Zielvorgaben funktionierte die Sozialversicherung bis zum bitteren Ende, nach dem erstaunten Bericht der britischen Militärregierung vom Mai 1945 arbeitete die deutsche Sozialversicherung "continuing alm ost normally". 22 Im international weithin isolierten jungen Sowjetrußland wurde die nach der rigiden Zwangswirtschaft der Kriegszeit eingeführte, noch gewisse unternehmerische Freiheiten erlaubende "Neue Wirtschaftspolitik" Lenins ab 1925 bald in eine zentral geplante Wirtschaftspolitik umgeändert. 23 Ziel war die Transformation der UdSSR zu einem modemen Industriestaat, der sowohl landwirtschaftlich wie auch von der industriellen Produktion her autark sein sollte. Es war Stalin, der diesen Übergang mit Gewalt vollzog. Im Vergleich zur zaristischen Zeit und vor dem Hintergrund des Elends des ersten Weltkriegs kam es in den 30er Jahren dennoch zu Verbesserungen des Lebensstandards der Arbeiter und der Bauern. Mitte der 30er Jahre gab es in der UdSSR weiter entwickelte Sozialleistungen als in manch anderen wohlhabenderen Staaten. Besucher aus dem Ausland, z.B. die Webbs aus England, veröffentlichten bewundernde Berichte über die sozialen Fortschritte in der Sowjetunion. Hervorgehoben wurde die Emanzipation der Frauen, deren Gleichstellung in Erziehung, Ausbildung und Beschäftigung, Mutterschaftsgeld und Mutterschutz etc. Medizinische und hygienische Vorsorge für Mutter und Kind fanden weltweit Beachtung. Dies war nicht nur ideologisches Wunschdenken, sondern es gab in der Sowjetunion tatsächlich sozialen Fortschritt, nicht zuletzt z.B. den Sieg über den Analphabetismus. So besuchten 1914 nur 7 Mio. Russen eine Schule, 1929 waren dies 14,3 Mio. und 1933 bereits 26,4 Mio.! Die Sozialversicherung unter der Verwaltung der Gewerkschaften leistete Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Invalditäts- und Alterssicherung, aber keine Arbeitslosenversiche21 S. Peter A. Köhler, Die Rolle der Solialversicherungsträger bei der Durchsetzung politischer Ziele des nationalsolialistischen Führerstaates, in: Sonderheft 2 der Mitteilungen des Sonderforschungsbereichs 33 der Ludwig-Maximilians-Universität Miinchen, 1992. 2l S. mit Nachw. Hocurts, Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland - Alliierte und deutsche Sozialversicherungspolitik 1945 - 1957, Stuttgan 1980, S. 151. 23 Zur den gesellschaftlichen und idcengeschichtlichen Voraussetzungen des Leninismus s. Lieber, (Fn. 3).

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rung; an deren Stelle gab es obligatorische berufliche Weiterbildung und die oftmals erzwungene Mobilität von Arbeitslosen zu den neuen Industrierevieren. 24 In einer sich ausweitenden Planwirtschaft unter einem autoritären Regime war Arbeitslosigkeit nicht erlaubt Ein anderes Beispiel von Planwirtschaft in Krisenzeiten liefert das faschistische Italien Mussolinis. 25 Schon seit 1922 wendete man in Italien erhebliche Mittel zum Straßen- und Eisenbahnbau auf, um der Wirtschaftskrise zu begegnen. Anfang der 30er Jahre lag die Arbeitslosenziffer in Italien spürbar unter der vergleichbarer Volkswirtschaften - freilich weniger ein Ergebnis erfolgreicher Wirtschaftsplanung, als das massiver Rüstungsausgaben! Für die Zeitgenossen mußte es sich jedoch so darstellen, daß streng zentral geplante autoritäre Staaten eher in der Lage waren, die sozialen Einbrüche einer als äußere Bedrohung empfundenen Weltwirtschaftskrise zu steuern. Wie schwierig es ist, in der jeweiligen Gegenwart das Richtige zu erkennen, und wie leicht, im nachhinein klüger zu sein, zeigt die intensive Aufmerksamkeit und die internationale Zustimmung, die insbesondere die Maßnahmen gegen Arbeitslosigkeit der Sowjetunion und Italiens während der 30er Jahre bei der IL()26 gefunden haben. Mit am härtesten waren die Vereinigten Staaten von der Weltwirtschaftskrise betroffen. Als 1932 die Wirtschaft trotz erheblicher Finanzhilfen der Regierung immer noch darniederlag, kam Franklin D. Roosevelt mit seinem Versprechen eines "New Deal" zur Präsidentschaft.27 Diese Politik sah vor, mittels der Vergabe öffentlicher Arbeiten und einer unter Einführung einer Arbeitslosen- und Altersversicherung bei gleichzeitigen Einsparungen im öffentlichen Haushalt sowohl die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, wie auch die Wirtschaft anzukurbeln. Während der ganzen 30er Jahre versuchte die amerikanische Bundesregierung diese schwierige Kombination von Politiken beizubehalten, einerseits die Nachfrage anzukurbeln und andererseits Marktfreiheit und ausgeglichenes Budget zu erhalten. Es gab Finanzhilfen für Banken, die Zinsen und die Währung wurde beeinflußt, um Investitionen und Exporte zu fördern. Obwohl der "New Deal" vor allem auf die Erholung der Volkswirtschaft zielte, blieb die Arbeitslosigkeit hoch und mußte die Politik weiter beschäftigen. 1935 gab die Regierung 400 Mio. $ aus, um durch öffentliche Arbeitsaufträge Arbeitslosigkeit zu beseitigen, doch die Depression hielt an. Um die Unterstützung der Gewerkschaften zu erhalten, legalisierte Roosevelt kollektive Lohn2A S. z.B. Pat Thal'le, The Foundations of the Welfare State, London & New YOrK 1985, S.270ff. 25 S. Thal'le, ebda. 26 S. dazu ausführlich Peter A. Köhler, Sozialpolitische und sozialrechtliche Aktivitäten in den Vereinten Nationen, Baden-Baden 1987, S. 286 ff. 'EI S. KeMeth S. Davis, FDR. The New Deal Years, 1933 - 37. A History, New YOrK 1986.

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verhandlungen und führte die 40-Stunden-Woche sowie einen Minimumlohn in bestimmten Industriezweigen ein. Das Ergebnis weiterer sozialpolitischer Diskussionen war der Social Security Act von 1935, mit dem eine Arbeitslosenversicherung, Alterssicherung, Blindenhilfe und Leistungen für Kinder, Mutterschaft und Jugendwohlfahrt eingeführt wurden. Wenngleich oftmals sogar der Begriff "welfare state" mit Roosevelts New Deal und dem Social Security Act verbunden wird,28 kann doch nicht übersehen werden, daß die Arbeitslosigkeit in den Vereinigten Staaten tatsächlich erst durch den Produktionsanstieg beseitigt wurde, der mit dem Ausbruch des zweiten Weltkriegs einherging. 3. Der sozialpolitische Impetus der 30er Jahre und die Nachkriegsordnung nach 1945

Die Erfahrung anhaltender Massenarbeitslosigkeit aufgrund weltweiter wirtschaftlicher Depression, die nicht zuletzt dadurch ermöglichte Machtergreifung Hitlers und die sozialpolitische Faszination, die von den tatsächlichen oder vermeintlichen Erfolgen der Sowjetunion im sozialen Bereich ausging, löste in den 30er Jahren international intensive sozialpolitische Anstrengungen aus, wofür Roosevelts New Deal nur ein Beispiel ist. In der gleichen Zeitspanne entwickelte Keynes seine ökonomischen Theorien, durch eine staatliche Wirtschaftspolitik des "deficit spending" die Arbeitslosigkeit zu überwinden, die z.B. in Norwegen noch während der deutschen Besetzung nicht ohne Erfolg realisiert wurden. 29 In Schweden führte die Politik der Sozialdemokraten, ein "folkhem" zu bauen, nicht nur zu reger, staatlich massiv geförderter Bautätigkeit zur Beseitigung der Wohnungsnot der Arbeiterschaft; da man nach den neuen Ideen funktionalistischer Architektur baute, erreichte man damit auch sozial hygienische Fortschritte. 30 In Frankreich wurde die gegenüber der Depression erfolglose Regierung 1936 durch eine linke Volksfront abgelöst. Deren schnell eingeleiteten Maßnahmen öffentlicher Arbeitsbeschaffung und erheblich erweiterte Mutterschafts- und Familienleistungen zur Steigerung der niedrigen französischen

28 S. ebda. und Eberhard Eichenhofer, 50 Jahre Social Security Act, in: Sozialgesetzbuch. 31/1984, S. 563 ff. 29 S. Vilhelm Aubert, Continuity and Development in Law and Society, Os10 1989; AfIM-Lise Seip, The Binh of the Social Welfare State: Norwegian Social Policy 1740 - 1920; den Einfluß faschistischer Ideen auf die norwegische Sozialpolitik während der deutschen Besetzung zeigt auf Öystin S"rensen, Solkors og solidaritet. H0yre autoritener samfunnstenkning i Norge ca. 1930 1945,Osl0 1991. 30 S. Peter A. Köhler, Det Svenska Folkhem - vom "Volksheim" zum Wohlfahrtsstaat Schweden, in: Zeitschrift für ausländisches und intemationales Arbeits- IDld Sozialrecht, 1. Jg., Heft 2, 1987, S. 203 ff. 3 von Maydell/Hohnerlein

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Geburtenrate konnten wegen des zweiten Weltkriegs nicht zur vollen Wirksamkeit kommen. 31 Dieser sozialpolitische Impetus - für den hier nur Beispiele genannt wurden - verstärkte sich noch während des zweiten Weltkriegs. Man hatte erkannt, daß die schon nach dem ersten Weltkrieg in die Präambel der Satzung der 11..0 geschriebene Erkenntnis: "Peace can be established only if it is based on social justice" mehr Berechtigung hatte denn jemals zuvor. Aus diesem Grunde nahm man mit der Forderung nach "freedom from want" eine der berühmten vier Freiheiten Roosevelts in die Atlantik-Charta und damit in den Katalog der Kriegsziele der Allüerten auf. Kriegsgegner war nicht mehr nur HitlerDeutschland oder die japanische Expansion, sondern auch die sozialen Ursachen, die zum Krieg geführt hatten. Ein Ergebnis dieser internationalen Sozialpolitik war die Gründung der Organisation der Vereinten Nationen. Erstmals wurde eine universal konzipierte internallonale Organisation mit wirtschaftlichsozialer Kompetenz ausgestattet und mit einer Reihe funktionaler Sonderorganisationen für diverse Sektoren der Sozialpolitik ausgestattet. Man hatte aus den Erfahrungen des ersten Weltkriegs gelernt, daß Stabilität in der Nachkriegszeit nur durch Zusammenarbeit der Nationen auf internationaler Ebene erreicht werden kann. 32 Dieser Aspekt der UNO-Gründung reflektiert auf international-rechtlicher Ebene, was der Beveridge-Report33 schon im November 1942 in seinem letzten Kapitel "Planning for Peace in War" vorwegnahm: die Beseitigung von Not wird als wichtigstes Nachkriegsziel und internationale Stabilität als wichtige Voraussetzung dafür genannt. Deshalb müsse die Welt nach dem Krieg so gestaltet werden, daß die Nationen in friedlicher Produktion kooperieren könnten. Für fast alle der vom Krieg betroffenen Staaten läßt sich nachweisen, daß man schon früh und mit großem Engagement mit Planungen begann, die in der Nachkriegszeit zu erwartenden sozialen Probleme in den Griff zu bekommen. Freilich ging dieser sozialpolitische Impetus durch den bald nach Kriegsende einsetzenden Kalten Krieg sehr schnell verloren oder wurde zumindest in seiner Richtung verändert. Dennoch sollte sich die Zeitspanne um 1945 für die Gegenwart heutiger sozialer Sicherungssysteme als bestimmend erweisen. In dieser Zeit wurden grundlegende Entscheidungen und Differenzierungen getroffen, die sich bis heute auswirken. Rückblickend kann man drei Hauptströmungen erkennen: - Restauration der tradierten Systeme mit eher marginalen Veränderungen (z.B. Frankreich, Italien, die Bundesrepublik Deutschland);

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S. Pal Thane, (pn. 24).

32 S. Köhler, (Fn. 26).

33 I.e. Social Insurance and Allied Services, Report by Sir William Beveridge, presented to Parliament by command of His Majesty, November 1942 (reprinted 1984), Part VI, Planning for Peace in War, S. 170 ff.

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- gesetzgeberische Realisierung der während des Krieges aufgrund der Erkennblisse der 30er Jahre getroffenen Planungsvorgaben und Modernisierung vorhandener Strukturen (z.B. Großbritannien, Norwegen, z.T. Frankreich) - die mehr oder weniger modellgetreue Etablierung des in der Sowjetunion entwickelten Systems sozialer Sicherheit in den Ländern des Sowjetimperiums. Eine alle Systemunterschiede der sozialen Sicherheit zumindest in den marktwirtschaftlich verfaßten Ländern überbrückende Gemeinsamkeit während der anhaltenden wirtschaftlichen Aufschwungsphase nach dem zweiten Weltkrieg bestand in einem weiten Leistungsausbau der sozialen Sicherheit. Dies begann mit einer spürbaren Verbesserung der monetären Sozialleistungen, die auf verschiedene Weise mit dem wachsenden Lebensstandard der arbeitenden Bevölkerung verknüpft wurden - als Stichwort mögen die Rentenreform 1957 in der Bundesrepublik Deutschland oder die Einführung der die Volksrenten ergänzenden Zusatzrentensysteme in den skandinavischen Ländern genügen. Mitte der 60er Jahre wurde das Leistungsangebot weit über die "klassischen" Risiken Krankheit, Arbeitsunfall, Invalidität und Alter hinaus ausgedehnt. Für alle diese insoweit vergleichbaren Länder gilt gegenwärtig wiederum unabhängig davon, ob es sich jeweils um ein steuerfmanziertes oder ein auf Beiträgen beruhendes Versicherungssystem der sozialen Sicherheit handelt, daß sie an die Grenzen der Finanzierbarlceit dieser Systeme angelangt sind. Das international am meisten Aufsehen erregende Beispiel für dieses Phänomen ist sicher Schweden mit seinen beiden "Krisenpaketen", mit denen auf der Basis eines breiten parlamentarischen Konsenses zwischen Regierung und Opposition ganz erhebliche Leistungskürzungen durchgeführt wurden oder die Notwendigkeit zweier Gesundheitsreformen kurz hintereinander in der Bundesrepublik Deutschland. Iß. Historischer Kontext der System entwicklung und Gestaltungsprobleme der gegenwärtigen Situation Es stellt sich die Frage, was für die aktuellen Probleme der Um- oder Neugestaltung sozialer Sicherungssysteme aus deren Entwicklungsgeschichte andernorts gewonnen werden kann. Eine Antwort erfordert aus zwei Gründen den Mut zur Abstraktion: Erstens ist noch einmal vor der irreführenden Konkretisierung zu warnen, die in der Bezeichnung "Staaten Mittel- und Osteuropas" liegt und die ihre Rechtfertigung nur aus der Vereinfachung des sprachlichen Bezugs gewinnt Denn aus Respekt vor den nationalen Eigenheiten wäre ehrlicherweise ja von Estland, Lettland und Litauen, von Polen und Rußland oder von Ungarn etc. zu sprechen, alles Länder, die sich nicht nur geographisch oder sprachlich erheb-

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lieh unterscheiden. Hier gibt es einen großen Nachholbedarf an Forschung. Ganz offensichtlich kann nur von Kennern des nationalen Rechts und in Einzelfallstudien aufgeklärt werden, inwieweit ein Rückbezug auf vor 1945 liegende nationale Rechtstraditionen für den Neubau oder Ausbau der sozialen Sicherheit möglich und empfehlenswert ist. Nur aus umfassender Kenntnis der nationalen Situation kann auch beurteilt werden, inwieweit die Erfahrung aus Entwicklungsverläufen in anderen Ländern nutzbar gemacht werden können. Zweitens bestätigen die erheblichen Reibungsverluste,34 die beim Einbezug des Systems der DDR in das der BRD bis heute zu beobachten sind, daß die Adaption eines andernorts entwickelten Systems keine optimale Lösung sein kann. Wenn dies schon für zwei Länder gilt, bei denen die gemeinsam verlaufene Geschichte ihrer Systeme sozialer Sicherheit viel länger war, als die Zeit der Teilung, so ist dies wohl noch mehr für Länder zu vermuten, die eine derartige Tradition nicht haben. Historische Erfahrungen, die Reaktion sozialer Sicherungssysteme in unterschiedlichen politischen oder ökonomischen Kontexten oder die aktuelle Analyse von Funktionsweisen solcher Systeme in der Gegenwart können also nur insoweit hilfreich sein, als dadurch einige wenige prinzipielle Wirkungsweisen ausgemacht werden können, die hinreichend abstrakt sind, um womöglich auch für die außerordentliche Situation der genannten "neuen" Staaten relevant werden zu können. So scheint weltweit Konsens darüber zu bestehen, daß die Garantie eines Minimums von "sozialer Sicherheit" heute zu den prominentesten Staatsaufgaben zu zählen ist. Solange modeme Gesellschaften auf Erwerbsarbeit des Individuums beruhen, können soziale Risiken nur bestehen, wenn durch Sozialrecht so viel Sicherheit im übrigen gewährleistet ist, daß individuelle Vorsorge sinnvoll wird. Die Erfüllung dieser Aufgabe ist zusammen mit dem demokratischen Prinzip heute wohl die wichtigste Quelle der Legitimität von Herrschaft. Vor dieser objektiven Gegebenheit kann der Streit darüber, ob soziale Sicherheit ein sozialpolitischer Sieg der gesellschaftlich benachteiligten Gruppen ist, oder ob es sich dabei nur um (bonpartistische) Konzessionen der bevorzugten Eliten handelt, die ein wenig Umverteilung zulassen, um ihre eigentlichen Privilegien zu bewahren, offen bleiben: Tatsächlich kommt kein Staat mehr ohne ein wie immer konstruiertes System sozialer Sicherheit aus. Seit vorstellbar geworden ist, daß Wohlfahrt machbar ist, sind die modemen Staaten dem Wohlbefinden ihrer Gesellschaften verpflichtet und in diesem Sinne sind sie alle Wohlfahrtsstaaten. 304 S. dazu mit einer Darstellung der kontroversen Rechtsprechung Pe/er A. Köhler, Völker-, verfassungs- und solialrechtliche Probleme bei der Überführung von DDR-Zusatz- und Sonderversorgungssystemen in die Gesetzliche Rentenversicherung, in: Neue Justiz, 1/1993, S. 4 ff.

Entwicklungsgeschichte von Systemen sozialer Sicherheit

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Soziale Sicherheit kann als Reflex der Jahrhundertidee interpretiert werden, die in der Entdeckung liegt, daß gesellschaftliche Prozesse steuerbar sind 35 "Steuerung" ist Ausdruck des "L'Etat providence" ,36 einer Regierungsform, die auf Macht und Wissen beruht, in der die Machtausübung Ergebnis technischer Rationalität ist. In diesem Sinne ist "Steuerung" daher ein ambivalenter Begriff: Er meint nicht nur eine Struktur aus Regeln, Normen und Verfahrensweisen, sondern das soziale Phänomen, daß das Setzen von Regeln sinnvoll nur bei konsequenter Normbefolgung ist; mit anderen Worten also Menschen voraussetzt, deren Verhalten dieser Art der Steuerung zugänglich ist Man hat den Beginn dieser Rationalisierung menschlichen Verhaltens in der medizinischen Entdeckung des Zusammenhangs zwischen Gesundheit und Hygiene gesehen, was zuerst zur Übernahme öffentlich-rechtlicher, also staatlicher Verantwortung im Sozialbereich durch die Setzung hygienischer Vorschriften führte ("kurieren und Staat machen").37 Diese Rationalisierung läßt sich weiterverfolgen z.B. über das Einsetzen moderner Stadtplanung und der Entwicklung einer Architektur, die soziale und hygienische Aspekte mitumfaßt bis hin zu den ökonomischen Theorien von Keynes, die der Steuerung ganzer Volkswirtschaften gelten. Der "technische", "funktionale" Zugriff auf Probleme, die sich gesellschaftlich stellen und nur von der Gesellschaft gelöst werden können, erfaßte von Anfang an auch den sozialen Bereich. Das Wissen um die Möglichkeit der Steuerung sozialen Verhaltens ist Grundlage sowohl der erfolgreichen Durchsetzung von Sozialversicherung, wie auch von sozialer Sicherheit allgemein. Dabei versteckt sich der keineswegs allgemein positiv besetzte Begriff "Steuerung" oft hinter anderen Namen, z.B. Planung, Mitbestimmung, Zentralisierung, Dezentralisierung, oder, ganz unverfänglich, Kommunikation der beteiligten Interessen.

Für die Umgestaltung der Systeme sozialer Sicherheit in Osteuropa beinhaltet die Annahme der grundsätzlichen Steuerungsfähigkeit von Gesellschaften freilich die Hoffnung, daß Probleme lösbar sind, wenn sie nur rational an35 Dies wird vor allem im skandinavischen Raum diskutiert; s. aktuell Sven E. Olsson und Göran Therborn, Vision möter verklighet. Om social styming och faktisk samhällstutvecking, Stockholm 1991 und Göran Therborn, Revolution and Reform: Reflexions on their Linkages through the Great French Revolution, in: Acta Sociologica, Vol. 30 (1987); international immer noch von Bedeutung ist M. Crozier u.a., The Crisis of Democracy. Report on the Governability of Democracies to the Trilateral Commission, New York 1975 und Jürgen Habermas (Hg.), Stichworte zur "geistigen Situation der Zeit", FrankfunJM. 1982; darin Claus Offe, Unregierbarkeit: Zur Renaissance konservativer Krisentheorien. 36 Franlioise Ewald, L'Etat providence, Paris 1986 und Ulrich Beck, Risikogesellschaft, FrankfurtIM. 1986. 37 S. G. Göckenjan, Kurieren und Staat machen. Gesundheit und Medizin in der bürgerlichen Welt, FrankfurtlM. 1985 oder A. Wohl, Endangered. Public Health in Victorian Britain, London 1983; vgl. auch Michel FOllCault, The Politics of Health in the 18th Century, in: Foucault, PowerKnowledge, New York 1980.

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gegangen werden. Aus der Einlösung dieser Hoffnung kann auch für die Krisensituation dieser Region eine Funktion aller Wohlfahrtsstaaten nutzbar gemacht werden, nämlich die der Stabilisierung der sozialen und ökonomischen Verhältnisse und somit der Stabilisierung des Staatswesens insgesamt.

Entwicklungsgeschichte sozialer Sicherheit aus östlicher Sicht - das Beispiel Polen von Ludwik Florek I. Einführung

1. Die soziale Sicherheit um faßt in Polen die Sozialversicherung, die Sozialversorgung und die soziale Hilfe. Unter diesen drei Teilen spielt die wichtigste Rolle die Sozialversicherung. Sie blickt auch auf die längste und meistausgebaute Geschichte zurück. Die beitragslose Sozialversorgung spielt nämlich eine ergänzende Rolle, und die soziale Hilfe nimmt erst in der letzten Zeit an Bedeutung zu. In der Praxis betreffen also die Überlegungen über den historischen Kontext und die Entwicklungsgeschichte der sozialen Sicherheit in Polen vor allem die Sozialversicherung. 2. Die polnische Sozialversicherung gestaltete sich unter dem Einfluß verschiedener historischer Faktoren. Ihre Entwicklungsgeschichte läßt sich in drei Abschnitte einteilen: (1) die Zwischenkriegszeit, (2) die Jahre 1945-1989 und (3) die gegenwärtige Zeit nach der Wiederherstellung der demokratischen Regierungsform. Keiner dieser Zeitabschnitte ist einheitlich, in jedem treten unterschiedliche Entwicklungstendenzen auf. Keiner dieser Zeitabschnitte läßt sich auch auf eindeutige Weise positiv oder negativ einschätzen. 3. Obwohl die weiteren Überlegungen vor allem die Entwicklungsgeschichte von sozialer Sicherheit in Polen betreffen, beziehen sie sich auch auf die Situation der anderen mittel- und osteuropäischen Länder aus mindestens zwei Gründen. Erstens hatte vor dem Jahre 1918 ein Teil dieser Länder ein gemeinsames (österreichisches) System der Sozialversicherung. Zweitens wurde nach 1945 die soziale Sicherung der mittel- und osteuropäischen Länder in großem Ausmaß nach sowjetischem Vorbild gestaltet. 1

1 Vgl. HF. ZacMr, Sozialrecht in sozialistischen Ländern Osteuropas, "Jahmuch für Ostrecht", NT. XXXIIIJ1982, S. 333. Das Heft enthält auch Aufsätze, die das Sozialversicherungs- und Versorgungsrecht in der DDR, Sowjetunion, Tschechoslowakei, Bulgarien, Rumänien und Ungarn darstellen.

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D. Zwiscbenkriegszeit

1. Im Jahre 1918, im Augenblick der Wiedererlangung der Unabhängigkeit, übernahm Polen das Versicherungssystem, das in dem deutschen und im österreichischen Teilungsgebiet bestand (im russischen Teilungsgebiet gab es keine Sozialversicherung, und die Werktätigen erhielten lediglich im Falle der Krankheit gewisse Leistungen von den Arbeitgebern). Diese Versicherung stützte sich auf deutsche und österreichische Vorschriften und umfaßte die Krankenversicherung, die Unfallversicherung und die Rentenversicherung mit der Einschränkung, daß im österreichischen Teilungsgebiet die Rentenversicherung nur die Arbeiter umfaßte. Daher war auch eines der Grundziele der Sozialversicherung im größten Teil der Zwischenkriegszeit die Abschaffung der Unterschiede nach der Teilungszeit und die Einführung einer einheitlichen Versicherung für das ganze Gebiet Polens. Daneben war man bemüht, trotz der wirtschaftlichen Schwierigkeiten ein für jene Zeiten entwickeltes System der Sozialversicherungen einzuführen. 2 Die wichtigsten Etappen dieses Prozesses sind: a) die Krankenversicherung in Anlehnung an das System der Krankenkassen (1919 und 1920), b) Ruhegeldversorgung der Staatsfunktionäre und Berufssoldaten (1923), c) Arbeitslosenversicherung der Arbeiter (1924) und der Angestellten (1925), d) Versicherung der Angestellten, die Krankheit, Arbeitslosigkeit, Arbeitsunfähigkeit, Alter und Tod umfaßt (1927). 2. Das wichtigste Ereignis in der historischen Entwicklung des polnischen Sozialversicherungssystems der Zwischenkriegszeit war jedoch die Einführung eines einheitlichen Systems der Sozialversicherungen, das Krankheit, Mutterschaft, Arbeitsunfähigkeit, Berufskrankheiten, Alter und Tod um faßte. Dies erfolgte kraft der Vorschriften des Sozialversicherungsgesetzes vom 28.3.1933 3• Das Gesetz läßt sich nicht auf eindeutige Weise einschätzen. 4 Zu seinen positiven Seiten gehört die Einführung einheitlicher Versicherungsinstitutionen für das gesamte Staatsgebiet. Es führte auch die Emeritalversorgung der Arbeiter ein, die es bisher nur in dem Territorium des ehemaligen deutschen Teilungs2 Die vollständigste Charakteristik der poInischen Sozialversichenmg der Zwischenkriegszeit vollzogen M. Swieciclci, Instytucje polskiego prawa pracy w latach 1918-1939 (Institutionen des polnischen Arbeitsrechtes in den Jahren 1918-1939), Warschau 1960, S. 52 Cf., 107 Cf. sowie Zl5 Cf.; W. Szwbert, Ubezpieczenie spolecme. Zarys systemu (Sozialversicherung. Abriß des Systems), Warschau 1987, S. 24 ff. 3 Gesetzblatt Nr. 51, Pos. 396. " W. Szubert, op. eit., S. 28 Cf.

Entwicklungsgeschicllle sozialer Sicherheit in Polen

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gebietes gab. Einerseits konnte man mit Hinsicht auf den hohen Beitragssatz und die bescheidenen Leistungen diese Versicherung auf Oberschlesien ausdehnen, wo kraft der Genfer Konvention von 1922 die günstigeren deutschen Versicherungen galten. Die Emeritalversorgung der Arbeiter stützte sich (ähnlich wie die frühere Versicherung der Angestellten) auf die Kapitalisierung der Beiträge, so daß die ersten Renten für die Arbeiter erst im Jahre 1938 ausgezahlt wurden. Das Gesetz von 1933 führte auch eine einheitliche Unfallversicherung ein, die auch Berufskrankheiten umfaßte. Andererseits verschlechterte es die früher bestehende Krankenversicherung: Die Beiträge für diese Versicherung wurden herabgesetzt (um die Belastungen auszugleichen, die durch die Einführung der Beiträge für die Emeritalversorgung verursacht wurden), die Krankengelder und der Umfang der ärztlichen Leistungen eingeschränkt. Annulliert wurden auch nicht die Vorschriften von 1927 über die Angestelltenversicherung. Im Endergebnis gab es in Polen nach 1933 vier Teile der Sozialversicherung: die Kranken- und Unfallversicherung - geregelt einheitlich für alle Arbeitnehmer - sowie die Emeritalversorgung und die Arbeitslosenversicherung - getrennt geregelt für Arbeiter und Angestellte. 3. Was die Organisation der Sozialversicherung anbetrifft, so gab es nach 1933 eine übergeordnete zentrale Institution - die Sozialversicherungsanstalt und deren regionale Zweigstellen: 61 Sozialversicherungsämter (früher die Krankenkassen). Die Versicherungsämter verwalteten die Versicherung im Falle der Krankheit, realisierten den Einzug von Beiträgen für die verschiedenen Versicherungszweige, befaßten sich mit der Evidenz und Dokumentation der Versicherten. Die Sozial versicherungsanstalt entschied über die Renten, führte deren Auszahlung durch und verwaltete das Vennögen der Emerital- und Unfallversicherung. Was die Arbeitslosenversicherung anbetrifft, so wurde sie von der Arbeitsverwaltung überwacht Zu erwähnen ist auch, daß in der Zwischenkriegszeit auch die Selbstverwaltung der Versicherungen Wandlungen unterlag. Während sie in den zwanziger Jahren viel größer war, wurde sie in den dreißiger Jahren allmählich eingeschränkt. 5

HI. Die Jahre 1945 - 1989

1. Das sozialistische System übernahm die Sozialversicherung, verlieh ihr aber einen ganz anderen Charakter als in der Marktwirtschaft. Insbesondere wurde die Sozialversicherung zu einem Teil der zentralisierten Plan- und Direktivwirtschaft. Das fand seinen Ausdruck darin, daß einerseits die staatlichen Betriebe Beiträge an den Fiskus leisteten, die im Grunde genommen den Charakter von Steuern hatten, andererseits wurden die Sozialversicherungen aus S

M. Swiecicki, op. cit., (Fn. 2) S. 283 ff.

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dem Staatshaushalt finanziert. was insbesondere die Sozialversorgung anbetrifft Eine andere charakteristische Eigenschaft des damaligen Systems war die ziemlich eigenwillige Entscheidung durch die Staatsbehörden über Art und Höhe der Leistungen und die Quellen ihrer Finanzierung. So kam es einerseits zur Einführung neuer Leistungen, deren Auszahlung der Versicherungsanstalt oblag (z.B. die Unterhaltsbeiträge für alleinstehende Mütter), andererseits wurde die Pflicht zur Finanzierung bestimmter Leistungen, darunter besonders der Krankengelder, auf die staatlichen Betriebe übertragen. Dies bewirkte eine Verwischung der Grenzen der Sozialversicherung, da es in dem damaligen System in hohem Grade gleichgültig war, ob die gegebene Leistung einen öffentlichen, versicherungsbezogenen, versorgungsbezogenen oder betriebsbezogenen Charakter hatte. Abzugehen begann man davon erst, als man im Jahre 1968 einen besonderen Emeritalfonds, und dann - ab 1986 - einen Fonds für Sozialversicherungen schuf. 6 In der ganzen Nachkriegszeit wurde jedoch ein einheitlicher Versicherungsbeitrag für rute Arten der Versicherung bezahlt, was die Durchführung einer Rechnung der Einkommen und Ausgaben, und damit deren rationale Bewirtschaftung unmöglich macht 2. Die zweite deutliche Entwicklungstendenz der sozialistischen Sozialversicherung war die Erweiterung der Reichweite der Leistungen und die Erweiterung des Kreises der Personen, die durch die Versicherung erfaßt waren. Es war die Folge nicht nur bestimmter ideologischer Voraussetzungen 7 und der gesellschaftlichen Praxis der kommunistischen Staaten, sondern auch die unumgängliche Konsequenz der Tatsache, daß breiten Schichten der Bevölkerung die Möglichkeit entzogen wurde, im Falle des Verlustes der Arbeitseinkommen andere Versicherungsquellen in Anspruch zu nehmen (wie insbesondere die eigenen Spargelder). Objektiv ist jedoch festzustellen, daß dieser Prozeß auch in Einklang stand mit der Entwicklungslinie der Sozialversicherung in den Staaten Westeuropas.s Seine wichtigsten Etappen umfaßten: a) die Einführung von Familienzulagen für alle Berufstätigen (1947), b) eine einheitliche Regelung der Emeritalversicherung (1954,1968 und 1982), c) die Verbindung der Versicherungsleistungen hinsichtlich der Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten mit Entschädigungsleistungen, die von den Betrieben ausgezahlt wurden (1968 und 1975), 6 Gesetz vom 25. November 1986 über die Organisation und Finanzierung der Sozialversicherung (Einheitlicher Text Gesetzblatt von 1989, Nr. 25, Pos. 137). 7 In der polnischen Fachliteratur berief man sich insbesondere auf die Thesen der sozialen Sicherheit, die Lenin im Jahre 1912 auf der Paneikonferenz in Prag formuliene; sie sahen u.a. die Erfassung aller Werktätigen durch die Versicherung in allen Fällen der Arbeitsunfähigkeit vor, überdies die ausschließliche Belastung der Arbeitgeber und des Staates mit den diesbezüglichen Ausgaben, vgl. Z. Salwa, Prawo pracy PRL w zarysie (Arbeitsrecht der Volksrepublik Polen im Abriß), Warschau 1977, S. 330. 8 Vgl. T. Zieli1fski, Ubezpieczenie spoleczne pracownik6w i ich rodzin (Sozialversicherung der Werktätigen und ihrer Familien), Krakau 1987, S. 16.

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d) einheitliche Regelung der Kranken- und Mutterschaftsversicherung (1968 und 1975), e) Anhebung der Reichweite und der Höhe der Leistungen hinsichtlich der Mutterschaft und zum Schutz der Familie in den siebziger Jahren. 9 3. Was die Personen anbetrifft, die durch die Sozialversicherung erfaßt waren, so stieg deren Zahl in der Nachkriegszeit auch systematisch an. In den Jahren 1946-1953 wurden die Landarbeiter, die vor dem Krieg nur partieH dem Versicherungsschutz oblagen durch eine VoHversicherung erfaßt. Der größte Anstieg der Versichertenzahl erfolgte in den sechziger und siebziger Jahren, als durch die Sozialversicherung erfaßt wurden: a) die Mitglieder der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (1962), b) Handwerker (1965), c) Freischaffende und Künstler (1973), d) Personen, die aufgrund eines Auftrags- oder Agenturvertrags angesteHt sind (1975), e) selbständige Landwirte (1977, und deren Recht auf kostenlose ärztliche Betreuung seit 1972). Diese Personen erhielten besondere Versicherungssysteme, die jedoch an die Arbeitnehmerversicherungen erinnern. IO Lediglich der Versicherungsbeitrag wird ganz oder zum Teil von den Interessierten selbst bezahlt Früher dagegen wurden von der erwerbsarbeitsbezogenen Sozialversicherung die Heimarbeiter, die Mitglieder von Arbeitsgenossenschaften und Rechtsanwälte erfaßt, die in RechtsanwaltskoUektiven tätig waren. 4. Neben der Tendenz zur Erweiterung des Subjektbereichs der Sozialversicherung bestand eine zweite Tendenz, die sehr früh auftrat, in der Erfassung aller Berufstätigen durch ein einheitliches Versicherungssystem. Noch vor Kriegsende wurden im Jahre 1944 Berufstätige mit höheren Gehältern in das Versicherungssystem einbezogen. In den Jahren 1950-1954 wurden die AngesteHten der staatlichen Verwaltung durch das einheitliche Versicherungssystem erfaßt, wie auch die Beamten verschiedener staatlicher Unternehmen und Banken, für die vorher besondere Emeritalsysteme galten. Traditionell außerhalb des Versicherungssystems blieben dagegen Berufssoldaten, die Volksmiliz und die Haftanstaltbediensteten, die, ohne Beiträge zu zahlen, Leistungen von den sie anstellenden staatlichen Institutionen erhielten.

9 Vgl. z.B. M. PiaJlwwslci. Ewolucja systemu ubezpieczen spolecznych w Polsce Ludowej (Evolution des Systems der Sozialvenicherung in Volkspoien), in: Problemy rozwoju ubezpieczen spolecznych w Polsce (EntwickllUlgsprobleme der Sozialvenicherung in Polen), "Folia lurica", L6di 1982, S. 39. 10 Näheres siehe: L. Florek, Die polnische Sozialvenicherung, "Jahrbuch für Ostrecht" , Nr. XX/1979, S. 159 ff.

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Daher wird auch in der polnischen Theorie der Sozialversicherung angenommen, daß wir es in diesem Fall mit einer sozialen Versorgung zu tun haben. 5. Die Ausdehnung des personellen und sachlichen Anwendungsbereichs der Sozialversicherung korrelierte mit deren schwachen finanziellen Verfassung. Die insuffiziente Plan- und Direktivwirtschaft finanzierte mit immer größerer Mühe den zunehmenden Bereich der Leistungen. Dies verursachte die Festlegung mancher Leistungen auf einem niedrigen Niveau. Mit Hinsicht wiederum darauf, daß sie im Verhältnis zu den Löhnen standen, die ihrerseits sehr niedrig waren, konnten auch die Versicherungsleistungen nicht hoch sein. Zweitens war die polnische Wirtschaft in den letzten Jahrzehnten hohe Inflation gekennzeichnet. Infolgedessen büßten einige Leistungen, wie z.B. die Familienzulagen oder die einmaligen Entschädigungen im Falle von Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten, die in ihrer Höhe festgelegt waren, für viele Jahre ihre reale Bedeutung ein, solange sie nicht angeh/)ben wurden. Auf besondere Weise betraf das die Renten, die einige Jahre nach ihrer Zuerkennung einen beachtlichen Teil ihres Wertes verloren (es entstanden die sog. alten Portefeuilles). Denn erst seit 1986 wurde ein Mechanismus zu ihrer Aufwertung eingeführt ll (ähnlich wie auch der Leistungen der Unfallversicherung). Er schützte jedoch die Renten nicht in ausreichendem Maße vor dem Rückgang ihres reeUen Wertes, was im Jahre 1990 zu seiner Veränderung führte.l 2 6. Die Ausdehnung der Reichweite der Leistungen und die Liberalisierung der Bedingungen ihrer Erwerbung, verbunden mit ihrer niedrigen Höhe führte zu vielen Mißständen und Verzerrungen im Bereich der Sozialversicherung. Erstens wurde das Recht auf Krankengeld in hohem Maße mißbraucht Zweitens wurden die Grundlagen der Rentenberechnung künstlich angehoben. Noch bis 1992 wurde nämlich die Rente nach dem letzten Jahr der Berufstätigkeit berechnet Infolgedessen bemühten sich alle Berufstätigen, die derartige Möglichkeiten hatten, in dieser Zeit auf verschiedene Art und Weise das höchste Niveau der Löhne zu erreichen. Die Bauern wiederum, bei denen man die Höhe der Rentenleistung nach dem Wert der verkauften landwirtschaftlichen Produkte berechnete, hoben diese Größe künstlich an. Als eine andere Art Entstellung kann man dagegen die Einführung von Sonderrenten ansehen, die vom Premierminister zuerkannt wurden, unabhängig von den rechtlichen Bedingungen ihrer Erwerbung und in beliebiger Höhe. Ein Nebenergebnis des niedrigen Niveaus der Leistungen, ihrer Inflation und der Mißbräuche im Bereich des Strebens nach ihrer Anhebung war der Zu11 Siehe Einfühnmg zum Gesetz über die Rentenversorgung der Arbeitnehmer und ihrer Familien vom 30. Januar 1982, "Jahrbuch für Ostrecht", Nr. XXVIIJI986, S. 408. 12 Vgl. zu diesem Thema breiter H. Szurgacz, Die neueren Entwicklungen auf dem Gebiet des Sozialrechts in Polen, Zeitschrift für ausländisches und internationales Arbeits- und Sozialrecht 1991, S. 286.

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sammenbruch des Prinzips der Solidarität. Daher gewinnt auch seit vielen Jahren die unzutreffende Idee der individuellen Versicherungskonten, auf denen die Versicherungsbeiträge der einzelnen Werktätigen angesammelt würden, große Popularität. 7. Aus der Sozialversicherung wurde die äntliche Betreuung ausgeschlossen. Im Laufe einiger Jahre nach dem Krieg wurde nämlich ein staatlicher Gesundheitsdienst eingeführt, der unmittelbar aus dem Staatshaushalt fmanziert wurde,13 Allmählich wurde auch die Gruppe der zur kostenlosen äntlichen Hilfe Berechtigten ausgebaut, erfaßt wurde dadurch praktisch fast die ganze Bevölkerung. Das Fehlen entsprechender Mittel zur Finanzierung des Gesundheitsdienstes führte jedoch zur ständigen Verschlechterung der äntIichen Leistungen. 8. Was die Organisation der polnischen Sozialversicherung anbetrifft, so wurden in den vierziger und fünfziger Jahren einige Änderungen durchgeführt, die auch die nach dem sowjetischen Modell zusammengestellte Verknüpfung eines Teiles der Versicherungsinstitutionen mit den Gewerkschaften umfaßten. Im Jahre 1960 kehrte man jedoch zum Vorkriegsmodell zurück, indem die für das ganze Land und für alle Arten der Versicherung einheitliche Sozialversicherungsanstalt reaktiviert wurde. Sie besitzt in den einzelnen Wojewodschaften regionale Abteilungen, die für die Festlegung und partielle Auszahlung der Leistungen verantwortlich sind. In der Zeit der häufigen Änderungen der Emeritalvorschriften, die in den achtziger Jahren stattfanden, ertrug diese Struktur mit der größten Mühe die Last der Bedienung der Versicherten. 9. Eine weitere Entwicklungstendenz der polnischen Sozialversicherung der Nachkriegszeit war die Übertragung eines Teiles der diesbezüglichen Pflichten auf die Arbeitgeber. Dies äußert sich in mehreren Punkten. Erstens erfolgte gleich nach dem Krieg die ausschließliche Belastung der Arbeitgeber mit der Pflicht, die Versicherungsbeiträge zu bezahlen. Zweitens wurden die Arbeitgeber (die Betriebe) verpflichtet, die kurzfristigen Leistungen (Zuschüsse) zu berechnen und auszuzahlen, was offIZiell mit der "Annäherung der Versicherung an die Versicherten" begründet wurde. 14 Ziel dieser Lösung war eine Verringerung der Kosten der Versicherungsverwaltung, obwohl heute behauptet wird, daß die Kostenrechnung falsch war, weil eine Schonung der staatlichen Versicherungsverwaltung berücksichtigt wurde, nicht aber der Kosten der Ar13 Die Evolution in diesem Bereich schildert M. Ülgrosi1c, Organizacja opieki zdrowOInej (Organisation der gesundheitlichen Betreuung), in: Opieka zdrowolna (Gesundheitliche Betreuung), hrsg. vonJ. Jonczyk, Wroclaw 1989, S. 137 Cf. 14 W. Szubert, op.cit, (Fn. 2) S. 41.

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beitgeber. Drittens zahlen die staatlichen Betriebe seit 1976 die Krankengelder aus eigenen Fonds. Das sollte sie dazu verleiten, die unbegründete Inanspruchnahme der Krankenscheine durch die Werktätigen einzuschränken. Dieses Ziel wurde jedoch nie erreicht 10. Wenn vom historischen Kontext der Sozialversicherung in Polen die Rede ist, kann man auch den Einfluß der Übereinkommen und Empfehlungen der Internationalen Arbeitsorganisation auf die polnische Gesetzgebung nicht außer acht lassen. Polen ratifizierte die meisten Übereinkommen zur sozialen Sicherheit aus der Zwischenkriegszeit 15 Es war aber nicht mehr imstande, die Nachkriegskonventionen zu ratifizieren - mit Hinsicht darauf, daß die polnische Sozialversicherung den internationalen Normen nicht in vollem Ausmaße entsprach, was sich sowohl auf die ILO-Konvention Nr. 102 bezieht, als auch auf die Konventionen Nr. 121, 128 und 130, obwohl in dem Bereich, in dem das möglich war, die polnische VersicherunLsgesetzgebung die Bestimmungen dieser Konventionen berücksichtigt hatte. 16 IV. Die Periode des demokratischen Staates • Das schwierige Erbe des sozialistischen Systems

1. Im Augenblick der Wiederherstellung der demokratischen Gesellschaftsordnung in Polen und der Aufnahme der Wirtschaftsreformen stellte die Nachkriegsentwicklung die Sozialversicherungen - in Verbindung mit der tiefen Wirtschaftskrise - vor beachtliche Schwierigkeiten. Dazu führte eine Reihe von Faktoren. Erstens die beachtliche Zahl der Versicherten, die im Jahre 1989 zusammen mit ihren Familien etwa 99 % der Bevölkerung ausmachte, während es gegen Ende der Zwischenkriegszeit nur etwa 25 % der Bevölkerung waren. Dabei ist fast die ganze Bevölkerung berechtigt, die kostenlose medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Etwa 6 Millionen haben Anspruch auf Renten, was etwa 30 % der versicherten Berufstätigen ausmacht (von deren Beiträgen die Versicherung finanziert wird).17 Die Zahl der Rentner stieg übrigens nach 1989 beachtlich an, infolge der Restrukturierung der Industrie, des Übergangs in den Ruhestand der Personen, die mit der alten politischen Ordnung verbunden waren, des raschen Anstiegs der Arbeitslosigkeit, wie auch infolge der be-

15 L. Flore/clM. Seweryns/ci, Miedzynarodowe prawo pracy (Inlernationales Arbeitsrecht), Warschau 1988, S. 257 ff. 16 Vgl. K. Kolasu{s/ci, Kierunki ewolucji ube:zpieczen spolecmych w Polsce a konwencje Miedzynarodowej Organizacji Pracy (Richtungen der Evolution der Sozialversicherung in Polen und die Konventionen der Inlernationalen Arbeitsorganisation), in: Studia z prawa pracy. Fest· schrift für Waclaw S:rubert, Warschau-L6diI988, S. 149 ff. 17 Und ein viel höherer Prozentsatz, wenn man berücksichtigt, daß die Beiträge der Bauern nur in einem geringen Grad die Aufwendungen für deren Renle decken.

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achtlichen Verringerung der abgesicherten Beschäftigung vieler Personen, die noch imstande wären, die Beschäftigung fortzusetzen. 2. Die zweite Ursache der schwierigen Situation der Sozialversicherung ist deren fmanzielle Schwäche. Die alten Bestände verloren an Bedeutung infolge der hohen Inflation (im Jahre 1990 über 600 %). Gegenwärtig stößt das Sammeln von Fonds, die aus Beiträgen stammen, auf beachtliche Schwierigkeiten. Der staatliche Sektor, der in der vergangenen Zeit die Sozialversicherung finanzierte, wird immer schwächer. Da er immer weniger Personen einstellt, die in der Regel schlecht bezahlt werden, zahlt er immer weniger in den Fonds der Sozialversicherung ein. Überdies stehen viele Betriebe, darunter auch große, vor dem Bankrott und sind mit der Bezahlung der Beiträge im Rückstand. Der sich entwickelnde private Sektor, der bereits etwa 40 % der Werktätigen beschäftigt, gleicht den Rückgang der Beiträge aus dem staatlichen Sektor nicht aus. Allgemein herrscht nämlich in den privaten Betrieben die Tendenz, die Tatsache der Einstellung von Arbeitnehmern zu verbergen oder die Höhe der Entlohnung herabzusetzen, aus der der Beitragssatz berechnet wird. Dieser Satz ist übrigens nicht gering, da er gegenwärtig 45 % des Lohnes ausmacht. Hinzu kommen 2 % des Lohnes für den Arbeitsfonds, aus dem die Arbeitslosenunterstützungen gezahlt werden. 18 Der Staatshaushaltsplan, der sich auf die Einzahlungen der staatlichen und der privaten Unternehmen stützt, befmdet sich aus den gleichen Gründen wie der Fonds der Sozialversicherung in einer schwierigen Situation. Die Dotationen für die Sozialversicherungen sind ständig rückläufig. Im Jahre 1992 betrugen die Ausgaben des Staatshaushaltsplans mehr als 388 Billionen Zloty, und die Ausgaben für die Sozialversicherung über 76 Billionen, für die soziale Hilfe über 26 Billionen Zloty. 19 3. Ein weiterer Faktor, der die Sozialversicherung und die soziale Hilfe belastet, ist die Arbeitslosigkeit Seit dem Jahr 1990, als die Reform der Wirtschaft aufgenommen wurde, wächst sie ständig und betrifft gegenwärtig etwa 2,5 Millionen Personen, was über 12 % aller Berufstätigen ausmacht (die Landwirtschaft mit einbezogen). Die gegen Ende 1989 eingeführten Arbeitslosenunterstützungen20 werden aus einem besonderen - durch die Arbeitsämter verwalteten - Arbeitsfonds ausgezahlt, dessen Einnahmen jedoch nicht ausreichen, um die Ausgaben zu decken. Überdies wurde in der Anfangsphase der Einfüh-

18 Dazu kommt auch die Einkommensteuer in der Höhe von 20 %, eingeführt Anfang 1992 durch die Anhebung der Löhne um diese Swnme, so daß die sozialen Belastungen der Arbeitgeber praktisch 80 % erreichen. 19 Gesetz vom 6. November 1992 über die Änderung des Haushaltsgesetzes für das Jahr 1992 (Gesetzblatt Nr. 88, Pos. 443). 20 Gesetz vom 29. Dezember 1989 über die Beschäftigung (Gesetzblatt Nr. 75, Pos. 446).

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rung der Arbeitslosenunterstützungen der Fehler begangen, daß die Unterstützung allen Arbeitslosen für die ganze Dauer der Arbeitslosigkeit zuerlcannt wurde, was in kurzer Zeit dazu führte, daß auf gesellschaftlich unbegründete Weise beachtliche Summen verausgabt wurden (darunter auch Unterstützungen für Personen, die früher keine Arbeit aufnehmen wollten). Im Endergebnis mußte das Recht auf Unterstützung für alle Arbeitslosen drastisch eingeschränkt werden, gegenwärtig steht es nur denjenigen zu, die zumindest ein halbes Jahr Berufstätigkeit vorweisen können und dann auch nur für die Dauer von einem Jahr. 21 Das verursacht einen raschen Anstieg der Ausgaben der sozialen Hilfe. Was noch schlimmer ist, die hohen sozialen Ausgaben des Staatshaushaltsplans verursachen einen totalen Mangel an Mitteln für eine aktive Beschäftigungspolitik, darunter insbesondere für die Stimulierung zur Schaffung neuer Arbeitsplätze sowie die Unterstützung der Arbeitslosen bei der Erzielung neuer, auf dem Arbeitsmarkt brauchbarer Qualifikationen. 4. Eine neue Entwicklungstendenz der letzten Jahre ist die zunehmende Bedeutung der Sozialhilfe. In der kommunistischen Zeit spielte sie eine geringe Rolle, weil die meisten Gruppen der Bevölkerung entweder Entlohnung oder Sozialleistungen bekamen. Vor kurzem sind jedoch zwei neue Faktoren in dieser Hinsicht aufgetreten. Erstens wird das Arbeitslosengeld höchstens ein Jahr lang ausgezahlt, danach hat man Anspruch auf eine finanzielle Unterstützung aus der Sozialhilfe. Zweitens bewirkt die Steigerung der Lebenshaltungskosten in den letzten Jahren, daß immer breitere Schichten der Bevölkerung nicht in der Lage sind, ihre Bedürfnisse durch ihre eigene Arbeit zu decken, vor allem was Wohnungsmieten anbelangt. Deswegen sind sie auch auf die zusätzliche Sozialhilfe angewiesen. Aus diesen Gründen wurde im Jahre 1990 ein neues Gesetz über Sozialhilfe verabschiedet und seit dieser Zeit einige Male geändert. 22 Ein weiteres Problem ist - als Erbe der sozialistischen Sozialversicherung - das Problem der gesundheitlichen Betreuung. Aus den oben dargestellten Gründen ist der Fiskus nicht imstande, den staatlichen Gesundheitsdienst auf einem entsprechenden Niveau zu finanzieren, das den Anforderungen der heutigen Medizin, den finanziellen Erwartungen des medizinischen Personals und den gesundheitlichen Bedürfnissen der Patienten entsprechen würde. Das führt in der Praxis zu einer spontanen Privatisierung des Gesundheitsdienstes. Sie beruht darauf, daß in den Krankenhäusem Gebühren von den Patienten verlangt werden, die formal gesehen weiterhin Recht auf eine kostenlose Behandlung haben. Andererseits entsteht ein privater Markt medizinischer Dienstleistungen, organisiert von Ärzten, die die Hungerlöhne im staatlichen Gesundheitsdienst satt haben. Die hohen Kosten der privaten Kur, die von der Sozialversicherung nicht refinanziert werden, schließen breite Gruppen der Bevölkerung von dieser 21 Vgl. das Gesetz vom 16. Oktober 1991 über die BeschäftiglD1g und die Arbeitslosigkeit (Gesetzblatt Nr. 106. Pos. 457 mit ÄnderlDlgen). 22 Einheitlicher Text: Gesetz von 1993, Nr. 13, Pos. 60.

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Fonn der Hilfeleistung aus. Das steht auch in Verbindung mit dem in der letzten Zeit zunehmenden Problem der Bezahlbarkeit der Medikamente. Verschiedenartige Entwürfe zur Refonn des Gesundheitsdienstes streben eine erneute Einbeziehung der ärztlichen Betreuung in den Bereich der Sozialversicherung an. Ihre Schwäche ist jedoch das Fehlen entsprechender Quellen zur Finanzierung. Eine Anhebung der Versicherungsbeiträge ist angesichts der beachtlichen Schwierigkeiten ihrer Einziehung im privaten Sektor äußerst riskant. 5. Ein schwer zu lösendes Problem ist auch die Rolle der Betriebe in der Sozialversicherung. Nicht aufrechtzuerhalten ist wohl ihre bisherige ausschließliche Belastung mit dem Versicherungsbeitrag. Bislang fällt es jedoch schwer, davon abzugehen, mit Hinsicht auf das niedrige Niveau der Löhne und das Geheimhalten ihrer Höhe für Versicherungsbedürfnisse. Die Belastung des Arbeitnehmers mit dem Beitrag würde nämlich dazu führen, daß auch er an der Geheimhaltung oder Verringerung des Lohnes interessiert wäre, der an die Versicherungsinstitution gemeldet wird. Eine andere, damit verbundene Sache ist die organisatorische Belastung der Arbeitgeber mit Fragen der Führung der Versicherungsangelegenheiten. Gegenwärtig wehren sich viele, besonders die kleinen Betriebe, vor der Notwendigkeit der Erledigung dieser Fragen. Da diese Pflicht gegenwärtig sowohl die privaten als auch die staatlichen Arbeitgeber umfaßt, die mehr als 20 Arbeitnehmer beschäftigen, sind Fälle der Verringerung dieser Zahl bekannt, damit Fragen der Sozialversicherung nicht übernommen werden müssen. Es ist auch nicht möglich, die staatlichen Betriebe mit den Kosten der Krankengelder zu belasten. Zu den Bedingungen eines nonnalen Arbeitsmarktes besteht übrigens keine Notwendigkeit, auf diesem Wege auf die Verringerung der Fehlzeiten einzuwirlcen. Bei einer weiteren Aufrechterhaltung der finanziellen Belastungen der Betriebe würden hingegen adverse Folgen in diesem Bereich drohen, nämlich die Erzwingung einer für die Arbeitnehmer ungünstigen Krankengeldunterstützung. Es steht allerdings nichts im Wege, daß die Arbeitgeber zusätzliche Pflichten im Bereich der Sozialversicherung aufgrund von Kollektivverträgen übernehmen. 23 6. Die oben dargestellten Schwierigkeiten des polnischen Systems der Sozialversicherung sind Ursache dafür, daß es keine klaren Konzeptionen für ihre Umgestaltung in der Zukunft gibt. Es herrscht auch die Meinung, daß in der Praxis die gesellschaftliche Politik, der letzten drei ·Jahre, durch kurzfristige Aktivitäten dominiert wurde, die eine Reaktion auf die tiefe wirtschaftliche Rezession und die sie begleitende Krise der staatlichen Finanzen waren, realisiert unter der Losung des Ersetzens der bisherigen übennäßigen Betreuung seitens des Staates durch Schutzmaßnahmen, die vor allem die schwächsten Gruppen

23 Vgl. J. Jonczyk., Nowy lad socjaIny (Die neue soziale Ordnung), in: 0 nowy model poI.ityki spolecznej w Polsce (Um ein neues Modell der Sozialpolitik in Polen), Warschau 1993, S. 40. 4 von Maydell/Hohnerlein

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Ludwik florek

der Bevölkerung betrafen. 24 Andererseits kann man von einem Rückzugsprozeß des Staates aus den der vorigen Gesellschaftsordnung entnommenen sozialen Verpflichtungen sprechen, was sich besonders auf die Emeritalversorgung bezieht25, und in der Praxis auch auf die medizinischen Hilfeleistungen. Dies läßt sich auch dadurch erklären, daß die demokratische Regierung viele soziale Verpflichtungen und sehr beschränkte Möglichkeiten ihrer Erfüllung aus dem vorigen System übernommen hat. 7. Es taucht dagegen die Frage auf, inwiefern die bisherige Entwicklung der Sozialversicherung in Polen deren künftige Gestaltung determinieren wird. Allgemein wird festgestellt, daß darin, trotz der unterschiedlichen Wandlungen der polnischen Sozialversicherung, erzwungen durch die wechselvolle Geschichte Polens, deutlich Elemente der Kontinuität bemerkbar sind. 26 Es scheint, daß auch in der Zukunft ein beachtlicher Teil der bisher gestalteten Institutionen der Sozialversicherung beibehalten wird. Das betrifft vor allem die Versicherungsrisiken (mit Ausnahme vielleicht der III. Gruppe der Erwerbsunfaltigen, die seit eh und je als allzu leichte Grundlage zum Erwerb eines Anspruchs auf Invalidenrente kritisiert wird, obwohl auch das kontrovers ist). Im weiteren muß, wie es scheint, der Katalog der Versicherungsleistungen in seinem grundlegenden Teil beibehalten werden, zumal sich noch viele Jahre lang angesichts der niedrigen Einkommen der Bevölkerung - die Bedürfnisse ähnlich gestalten werden, für die Versicherungsschutz gewährleistet werden muß. Das schließt natürlich die Notwendigkeit einer rationelleren Gestaltung fast aller Leistungen nicht aus, darunter besonders der Familienzulagen und der Mutterschaftsgelder. Unverändert bleibt dagegen der nach dem Krieg gestaltete Kreis der durch die Sozialversicherung erfaßten Personen, da man sich schwer vorstellen kann, daß irgendeine Berufsgruppe des Versicherungsschutzes beraubt wird. Dies schließt dagegen eine etwas andere Relation zwischen dem Beitrag und den Leistungen in den einzelnen Gruppen nicht aus, was sich insbesondere auf die selbständigen Landwirte bezieht Einer Veränderung unterliegen müssen dagegen vor allem die Prinzipien der Finanzierung der Sozialversicherung, die in ihrer bisherigen Form eher der sozialistischen als der Marktwirtschaft entsprechen. Viele Hoffnungen - mitunter übertriebene - wer24 M. Ksiefopolski, Perspektywy rozwoju polityki spolecmej w Polsce w okresie transfonnacji ustrojowej (Entwicklungs- perspektiven der Sozialpolitik in Polen in der Zeit der Urnfonnung der Gesellschaftsordnung), in: 0 nowy model polityki spolecmej w Polsce (Um ein neues Modell der Sozialpolitik in Polen), Warschau 1993, S. 22. 25 Die Vorschriften des Gesetzes vom 17. Oktober 1991 über die Valorisation der Renten und Pensionen, über die Prinzipien der Festlegung der Renten und Pensionen sowie über die Änderung einiger Gesetze (Gesetzblatt Nr. 104, Pos. 450) setzten sogar einen Teil der höheren Renten herab, was übrigens durch das Verfassungsgericht beanstandet wurde. 26 Vgl. W. Szubert, Refleksje nad drogami rozwojowymi ubelpieczenia spolecmego (Überlegungen über die Entwicklungswege der Sozialversicherung), "Praca i Zabezpieczenie SpoIecme", Nr. 7-9/1990, S. 3.

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den auch mit der Einführung ergänzender Rentensysteme verbunden. Unentbehrlich wird es wohl auch sein, die Organisation der Versicherung zu ändern, da sie in ihrer bisherigen Form ziemlich unzulänglich und für die Arbeitgeber umständlich ist. Ein offizieller Entwurf des Arbeitsministeriums sieht sogar die Trennung der Kmnkenversicherung, der Unfall- und der Rentenversicherung sowie die Leistung besonderer Beiträge für jede dieser Versicherungsformen vor.z:7 Andererseits ist man in der Fachliteratur der Meinung, daß die Verleihung einer einheitlichen organisatorischen Form der Sozialversicherung eine originelle polnische Errungenschaft ist, die deutlich mit dem deutschen System kontrastiert. 28

'EI Ubezpieczeniowa przyszlosc (Die Zukunft der Versicherung), "Rzeczpospolita" vom 2. Dezember 1992. 28 W. Szwben, Refleksje nad drogami, (Fn. 26) S. 5.

Diskussionsbericht In der ersten Diskussion, die sich mit dem historischen Kontext und der Entwicklungsgeschichte von Systemen sozialer Sicherheit beschäftigte, wurde ein besonderer Schwerpunkt auf den Themenkomplex Finanzierung und Finanzierbarkeit von Systemen sozialer Sicherheit gelegt.

Berghman, der die Moderation dieser Diskussionsrunde übernommen hatte, wies gleich zu Beginn darauf hin, daß die Behandlung des Themas "Änderungen bei der sozialen Sicherheit in Mittel- und Osteuropa" bedeutet, über Basisprobleme und -funktionen sozialer Sicherungen zu sprechen. Dies wiederum setzt voraus, daß genaue Kenntnisse über das jeweilige Land und sein Sicherungssystem bestehen. Gerade hieran fehle es jedoch sehr häufig - in der Diskussion wurde das Beispiel von Empfehlungen der Weltbank genannt - , so daß die beiden Referate eine besondere Bedeutung durch ihre Funktion erhielten, zur Beseitigung von Unkenntnis der Wurzeln sozialer Entwicklungen in einem Land oder einer Region beizutragen. Aber nicht nur politische Lösungsvorschläge, sondern auch der wissenschaftliche Systemvergleich seien aufgefordert, unterschiedliche Erfahrungen und kulturelle Kontexte hinreichend zu berücksichtigen. Was die Veränderungsmöglichkeiten in den betroffenen Ländern und insbesondere die Akzeptanz bei den Menschen angeht, herrschte während der Diskussion weitgehend Einigkeit darüber, daß eine äußerst skeptische Beurteilung angezeigt sei. Denn in schwierigen Situationen, wie sie derzeit in den Reform ländern Mittel- und Osteuropas bestehen, neigten die Menschen vor allem aus Angst vor weiterer Verschlechterung ihrer Situation zu einer Änderungen gegenüber eher ablehnenden Haltung. Auch bezüglich der Veränderungsprozesse selber erbrachte die Diskussion weitgehende Übereinstimmungen in der Beurteilung. Was den deutsch-deutschen Transformationsprozeß angeht, wurde - eher am Rande - der Eindruck geäußert, daß die Übertragung des westdeutschen Systems zwar juristisch gelungen, damit aber noch nicht die Frage beantwortet sei, wie dies in fmanzielVökonomischer Hinsicht vor dem Hintergrund einer umfassenden Kreditfinanzierung zu beurteilen sei. Die deutschen Erfahrungen mit den Veränderungen in den neuen Bundesländern wurden von mehreren Diskussionsteilnehmern als nicht auf die mittel- und osteuropäischen Staaten übertragbar angesehen. Allerdings müßten auch diese Staaten zu einer Vereinheitlichung des jeweils

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Diskussionsbericht

neuen Systems gelangen. Denn der derzeit häufig praktizierte "Systemmix" berge die große Gefahr in sich, daß eine stimmige Gesamtlösung für das System der sozialen Sicherheit nicht erzielt werden könne. Jedes Land müsse sich zunächst einmal für ein bestimmtes SteuerungsmodeU entscheiden und mit dessen Hilfe dann ein in sich geschlossenes System der sozialen Sicherheit entwickeln. In diesem Zusammenhang ist der Hinweis aus der Diskussion hervorzuheben, daß für den Rechtsvergleicher auch das Steuerungsmodell selbst und seine Auswahl zum tertium comparationis werden könne (Pitschas). Obwohl als Thema eigener Art durchaus erkannt, wurde die Finanzierbarkeit von Systemen sozialer Sicherheit zu einem der Schwerpunkte der Diskussion. Ursachen für die Schwierigkeiten bei der Finanzierbarkeit von sozialen Leistungen wurden zunächst in dem Zuschnitt eines jeden Systems erkannt; sie hätten in entwickelten Staaten aber auch damit zu tun, daß der Sozialversicherung häufig versicherungs fremde Leistungen aufgebürdet würden, weil für sie die Staatsfinanzen nicht ausreichten. Dieser Analyse wurde andererseits jedoch entgegengehalten, daß in den Reformländern Mittel- und Osteuropas die Beseitigung solcher sogenannter versicherungsfremder Leistungen praktisch sehr schwierig sei, da für sie momentan entsprechende Bedarfe vorhanden seien, die auf andere Weise nicht gedeckt werden könnten. Außerdem seien zusätzliche Belastungen für die Arbeitnehmer in Gestalt von Versicherungsbeiträgen derzeit nicht tragbar, so daß sich auch hieraus Grenzen für eine "systemgerechte" Lösung ergäben. Beispielsweise sei ein so "unsinniges" (Florek) System wie das polnische Kindergeldsystem kaum zu reformieren. Schließlich würden auch eine Reihe von sozialen Sicherungssystemen spät auf tiefgreifende und langfristige Wandlungen wie z. B. die demographische Entwicklung reagieren. Zur Steuerfmanzierung von Systemen sozialer Sicherheit speziell in Mitgliedsländern der EG wurde darauf hingewiesen, daß sich wegen des Bestehens unterschiedlicher Steuersysteme und sätze die Gefahr von Restriktionen ergeben könnte. Einen dritten Schwerpunkt der Diskussion bildete der historische Kontext, in dem Systeme sozialer Sicherheit entstehen. Dabei wurde zunächst in Frage gestellt, ob sich die Systeme des ehemaligen Ostblocks und die westlichen Systeme sozialer Sicherungen wirklich klar abgrenzen lassen. Es wurde darauf hingewiesen, daß etwa das Alterssicherungssystem in den USA zur Zeit von Präsident Roosevelt und das damalige russische System eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten aufwiesen. Ähnliches könne auch für den betrieblich ausgerichteten Krankenversicherungsschutz in den USA gesagt werden. Den wahren Unterschied zwischen den westlichen und den östlichen Systemen würde lediglich deren unterschiedliche Produktivität ausmachen, dies allerdings aus Gründen, die mit der jeweils vorherrschenden Ideologie eng zusammenhingen. Im historischen Kontext wurde weiterhin insbesondere die Frage des Zusammenhangs zwischen der Industrialisierung und der Entwicklung von Systemen

Diskussionsbericht

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sozialer Sicherheit kontrovers diskutiert. Der Verweis auf die Beispiele Österreichs und der skandinavischen Länder im Referat von Köhler stelle keinen Beleg dafür dar, daß ein solcher unmittelbarer Zusammenhang nicht bestehe. Denn gerade in diesen Ländern habe der Kontrast zwischen der kleinen Gruppe der Beschäftigten in der Industrie und der großen Gruppe der Beschäftigten in der Landwirtschaft die Notwendigkeit sozialer Sicherheit aufgezeigt. Der so angesprochene Referent betonte, es sei ihm darum gegangen darzulegen, daß für die Entstehung eines sozialen Sicherungssystems stets ein sozialpolitischer Anstoß notwendig sei, der aber wiederum das Vorhandensein von Manchestertum wie zur Zeit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert nicht notwendigerweise voraussetze. In der Diskussionsrunde wurde die These vertreten, daß sozialpolitische Anstöße im eigentlichen Sinne allerdings in den skandinavischen Ländern möglicherweise mehr als anderswo gegeben worden seien. Diese häUen sich - vielleicht aus Gründen, die mit dem Calvinismus zu tun häUen - deutlich stärker an den sozial Schwächeren orientiert. und nicht wie etwa zur Zeit Bismarcks in Deutschland, an der politisch jeweils "gefährlichsten" Gruppe. In diesem Zusammenhang wurde allerdings die Rolle der schwedischen Sozialdemokratie gegenüber weitverbreiteten Vorstellungen stark relativiert. Denn diese hätte sich anfangs lange gegen das - universalistische - Grundsicherungsmodell gewehrt. Dessen Einführung sei in Wahrheit ein Sieg der Bauern und der Liberalen in Schweden gewesen.

Jürgen Kruse

Ökonomische Rahmenbedingungen der Systeme sozialer Sicherheit in Ostmittel- und Osteuropa von Friedrich Haffner Ehe die ökonomischen Rahmenbedingungen in den ostmittel- und osteuropäischen Ländern im Hinblick auf die Transformation der sozialen Sicherheitssysteme und der Sozialpolitik untersucht werden, scheint ein kurzer Überblick über die Lage der Sozialpolitik und der sozialen Sicherheitsysteme in westlichen Ländern notwendig, um die andersartigen Voraussetzungen und Bedingungen in Osteuropa für eine modeme Sozialpolitik und damit auch die Möglichkeit für eine Transformation des Staates als Träger der Sozialpolitik in einen modemen marktwirtschaftlich orientierten Sozialstaat zu erkennen. Die Entwicklung der sozialen Systeme in den sozialistischen Planwirtschaften hat demgegenüber ihre eigenen Traditionen und ihre eigenen Begründungen.

I. Marktwirtscbaftlicbe und planwirtscbaftlicbe Sozialpolitik Die sozialen Sicherungsysteme und die Sozialpolitik im allgemeinen haben sich in westlichen, marktorientierten Wirtschaftssystemen bekanntlich unterschiedlich entwickelt. Es gibt einerseits Länder, die auf dem Hintergrund der sozialen Frage des neunzehnten Jahrhunderts relativ frühzeitig sozialpolitische Aktivitäten hervorgebracht haben. Die Anstöße karnen dazu mit unterschiedlicher Gewichtung von einem sozial verpflichteten Staat, durch das Treiben der Gewerkschaften und durch einzelne Persönlichkeiten und Gruppierungen, die von christlicher Verantwortung getragen waren. Oft haben sich auch patriarchalische Sozialsysteme, wie nicht nur in Japan, unter modemen Bedingungen erhalten und an modeme industrielle Verhältnisse angepaßt. Andererseits gibt es Länder, in denen die Sozialpolitik relativ spät - oft mit Elementen der Nachahmung anderer Länder - durch die Bildung von Institutionen und entsprechenden Umverteilungsmechanismen Eingang gefunden hat. Im Ergebnis sind die sozialen Sicherungssysteme und die konkrete Ausgestaltung der Sozialpolitik auch in westlichen Ländern institutionell unterschiedlich ausformuliert, auch Niveau und Richtung der sozialen Leistungen haben eine unterschiedliche Entwicklung genommen. In gewissem Umfang kann man infolge der sozialen Orientierung der modemen Marktwirtschaft eine Lösung der alten sozialen Frage, wenn auch nicht

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Friedrich Haffner

in allen Bereichen, so z.B. nicht im Bezug auf Arbeitslosigkeit, Mitbestimmung und Vermögensverteilung, wenn dies denn soziale gravamina moderner Gesellschaften sind, feststellen. Aber es bestehen sicher soziale Probleme nicht nur im Arbeitnehmer-Unternehmer-Verhältnis, sondern es entstanden, wie die Diskussionen der sogenannten neuen sozialen Frage andeuten, gleichzeitig mit dem partiellen Verschwinden von einzelnen sozialen Problemen des alten Typs neue Probleme infolge der industriellen Entwicklung und der sich an sie anpassenden Gesellschaften, die nicht mehr nur Arbeitnehmer betreffen. So sind durch Auflösungserscheinungen in den Familien die Probleme der Senioren und der Jugendlichen und die Frauenfrage ins Bewußtsein der Öffentlichkeit gedrungen, auch die Behinderten, die Ausländer und andere Gruppenprobleme sind in die Sozialpolitik einbezogen worden. Aufgrund der unterschiedlichen sozialen Problematiken haben sich im Westen verschiedene Sozialsysteme herausgebildet, die insgesamt zu einem Korrektiv einer reinen Marktwirtschaft geworden sind. Theoretisch gesehen, wird man das Verhältnis von Marktwirtschaft und Sozialpolitik - übrigens auch andere Bereiche der Politik - aus dem sogenannten Versagen einer reinen Marktwirtschaft erklären können. Einige Probleme sind freilich auch einer ungünstigen Struktur des Arbeitsmarktes (Angebotsdruck am Arbeitsmarkt, monopolistische Formen auf Seiten der Nachfrage) zuzuschreiben gewesen, die durch Veränderung der Marktstrukturen bewältigt wurden. Die Unzulänglichkeiten einer reinen marktmäßigen Koordination auf dem Arbeitsmarkt sind Ursache für die staatliche Sozialpolitik im allgemeinen gewesen. Es darf jedoch nicht aus der Sicht verloren werden, daß die soziale Verpflichtung des Staates zur Sozialpolitik in einer Demokratie von Interessenauseinandersetzungen geprägt ist und daß die Gefahr einer Überforderung des Sozialstaates nicht als widerlegt gelten kann. Im Gegenteil, die modeme ökonomische Politik macht deutlich, daß Demokratien eine gewisse Anfälligkeit für Anpassungsverhalten der Politiker, und daß der Staat immanente LeistungsschWächen besitzt. 1 Mit der positiven Bewertung des Staates als Träger der Sozialpolitik ist noch nicht ausgeschlossen, daß die sozialpolitischen Leistungen des Staates einen ökonomisch optimalen Pfad verfehlen werden. Die Sozialpolitik in Osteuropa hat unter dem Sozialismus eine andere Entwicklung genommen. Die marxistisch-leninistische Lehre hat Sozialpolitik zunächst als eine Korrektur der kapitalistischen Marktwirtschaft verstanden, für die es in einem sozialistischen Land keine Begründung gibt, da der Klassenkampf aufgehoben und deshalb die Politik auf die Wohlfahrt des Gesamtvolkes, das fast ausschließlich als Arbeitnehmer besteht, gerichtet sei. Insofern entspricht der ideologischen Logik eine bis in die siebziger Jahre vertretene Negation der Sozialpolitik im Sozialismus. Es verwundert nicht, daß im Hin-

1

Vgl. K. GretschmlJnn, Sleuerungsprobleme derStaatswirtschaft, Berlin 1981, S. 138 ff.

Ökonomische Rahmenbedingungen

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blick auf die sozialen Leistungen westlicher Marktwirtschaften, die das Lebensniveau der Arbeitnehmer und die soziale Ausgestaltung der Arbeitsverhältnisse verbessert haben, auch die sowjetische und andere östliche Volkswirtschaften in Zugzwang im Hinblick auf den Nachweis der sozialen Leistungen in ihren Ländern gekommen sind, die im Rahmen der Planwirtschaften bestanden. Insbesondere setzte in der DDR, wo die sozialpolitischen Traditionen bewußt waren, der Vergleich zur Bundesrepublik die Führung unter Erfolgszwang. In den siebziger Jahren war die theoretische Ausarbeitung der Sozialpolitik ein zentrales Thema, das vorwiegend herrschaftslegitimierende Absichten verfolgte, aber auch sozialpolitische Begründungszusammenhänge formulierte. Sozialpolitik im Sozialismus konnte oberflächlich durchaus als die Summe aller sozialen Leistungen für die Bevölkerung defmiert werden. Es versteht sich auch, daß soziale und sozialpolitische Entwicklungen, in anderer Form, auf anderem Niveau und in anderer institutioneller Verfestigung auch in den sozialistischen Gesellschaften stattgefunden haben. So waren Altersrenten-, Krankensicherung, arbeitsrechtliche Regelungen, Gesundheits- und Bildungspolitik und nicht zuletzt Familienpolitik in sozialistischen Gesellschaften vorhanden. Aber diese Sozialpolitik wird nicht auf DefIZite der Planwirtschaft zurückgeführt. Im Vordergrund standen die Ziele der ökonomischen Leistungsfähigkeit, aber in gewissem Umfang reagierte die Sozialpolitik auch auf Schwächen des Wirtschafts- und Sozialsystems, so wenn bevölkerungspolitisch förderliche Leistungen gewährt wurden. 2 Der in der DDR vielverwendete Ausdruck der "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik", der als oberstes Motto für die Leistungen auch im Bereich der Sozialpolitik gelten konnte, 3 hatte verschiedene Implikationen: Erstens, daß sozialpolitische Leistungen von der Höhe der wirtschaftlichen Produktivität abhingen, daß also vom Staat nicht mehr gefordert werden könne, als durch Leistungen seiner Bürger erbracht worden ist Das Motto hatte zweitens auch die Funktion deutlich zu machen, daß Sozialpolitik die Leistungsfiihigkeit der Arbeitnehmer stärken und damit eine Bedingung für eine wachsende Wirtschaft der sozialistischen Länder sein soll. Der eigentliche sozialpolitische Aspekt für die Unterstützung sozial schwacher und unterprivilegierter Gruppen spielen dabei eine geringe, wenn nicht überhaupt keine Rolle, im Gegenteil wurde eine leistungsbezogene, der sozialen Differenzierung entsprechende Verteilung gefordert. 4 Mit der Transformation der Planwirtschaften in Ostmittel- und Osteuropa zur Marktwirtschaft erhält die Sozialpolitik eine neue Funktion. Sie läßt sich auf theoretischem Niveau auf mindestens drei Aspekte zurückführen:

2 Vgl. H. Lampert, Theorie und Praxis der So:lialpolitik in der DDR, Arbeitsberichte mm Systemvergleich. Nr. 13, Marburg, 1989, S. 6 ff. 3 G. Manl/G. Winkler (Hg.), So:lialpolitik, 2. erw. Auflage, Berlin 1988, S. 11 ff. 4 H. Lampert, ebenda, S. 14 f.

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1. Mit dem Übergang zur Marktwirtschaft muß die Sozialpolitik aus der Marktwirtschaft begründet werden, nämlich aus den sozialen DefIziten einer reinen Marktwirtschaft. Die Realisierung der sozialen Korrekturen ist für ehemals sozialistische Länder nicht wie im Westen ein historischer Prozeß, sondern muß bei der Transformation in die Marktwirtschaft politisch bewußt verwirklicht werden. Sozialpolitik alten Musters ist auf eine Sozialpolitik neuen Musters, die neue Anforderungen stellt. zu überführen. 2. Der Übergang zur Marktwirtschaft selbst ist. wie die Realität zeigt. mit zusätzlichen sozialen Problemen verknüpft. Die allgemeine wirtschaftliche Lage hat sich verschlechtert, besonders die von sozialen Problem gruppen. Außerdem verursachte die Transformation den Abstieg ehemals gutpositionierter Schichten, der Arbeiter, der Führungskader und der technischen Intelligenz, weil ihre Arbeit unter neuen Bedingungen nicht mehr erforderlich ist oder weil die alte Struktur der sozialistischen Produktion unter den neuen Bedingungen auch im Hinblick auf den Weltmarkt - überholt ist. Daraus ergeben sich Verarmungsprozesse in großem Umfang, denen eine Entstehung von engen neureichen Schichten gegenübersteht. Das soziale System muß diesen, zwar unter längerfristigen Perspektiven notwendigen und vorübergehenden, aber doch im Augenblick äußerst schwierigen Prozessen Rechnung tragen. 3. Kurz- und mittelfristig ist auch die Wirkung der weltweiten wirtschaftlichen Stagnation zu berücksichtigen, die Auswirkungen gerade auf die wirtschaftlichen Aktivitäten in den Transformationsländern hat. Dieser Aspekt hat zwar nicht das gleiche Gewicht wie die vorhergehenden, verstärkt aber die genannten Probleme. Die Anpassung der sozialen Sicherungssysteme und der Sozialpolitik im allgemeinen ist im Transformationsprozeß um so wichtiger, als die vielseitig geäußerte Hoffnung, daß allein schon der politische Wille und der erste Einstieg in die Marktwirtschaft die Wohlstandsergebnisse und Wachstumsdynamik alter Marktwirtschaften bringen würde, enttäuscht wurde. Im Gegenteil, in allen osteuropäischen Ländern sind erhebliche Produktionsrückgänge und Inflationsschübe entstanden, auf deren Hintergrund die sozialen Sicherungssysteme nun verändert werden müssen. Diese Hintergrundbedingungen des sozialpolitischen Transformationsprozesses sollen im folgenden analysiert und die Schwierigkeiten, die bei der Entstehung einer Marktwirtschaft auftreten, herausgearbeitet werden. Daraus läßt sich die gegenwärtige wirtschaftliche Lage beschreiben, die in allen sozialistischen Ländern, so unterschiedlich im einzelnen der Transformationsprozeß abläuft, allgemeine Züge trägt Schließlich sollen die wichtigsten Grundsätze bei der Umgestaltung des Sozialsystems dargestellt werden.

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11. Die Transformation - ein schwieriger ordnungspolitischer Prozeß Der Übergang zur Marktwirtschaft erfolgt in den verschiedenen sozialistischen Ländern von grundsätzlich gleichen Ausgangspositionen insoweit, als das marxistisch-leninistische Wirtschaftsmodell des Sozialismus in allen Ländern mit einigen Variationen realisiert war. s Die institutionelle Ausgestaltung der Planwirtschaft war in den einzelnen Ländern verschieden und wurde durch Reformen in gewissem Umfang weiter differenziert. Außerdem hat der unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklungsstand zu einer Differenzierung anderer Art geführt. Schließlich sind auch verschiedene geographische Bedingungen in der Größe, im Klima und in den vorhandenen Bodenschätzen u.a. für eine solche zunehmende Auseinanderentwicklung des gleichen Grundmodells in den einzelnen Ländern verantwortlich. Dieser Umstand hatte eine theoretische Konsequenz auch in der Diskussion um den "eigenen nationalen Weg zum Sozialismus" gefunden. Der Transformationsprozeß ist aber nicht nur von der Ausgangslage, sondern auch von dem Ziel her nicht einheitlich. Bei dem Übergang zur Marktwirtschaft handelt es sich nicht um eine Marktwirtschaft schlechthin, sondern wie die obengenannte Differenzierung westlicher Marktwirtschaft allein schon im Hinblick auf die Ausgestaltung des sozialen Systems gezeigt hat - um Marktwirtschaften im weiteren Sinn, die durch Wirtschaftspolitik, collective bargaining und andere Koordinationssysteme unterschiedlich ausgestaltet sind. Oftmals ist die künftige Konkretisierung des marktwirtschaftlichen Ziels in den osteuropäischen Ländern nicht deutlich ausformuliert, sondern bewußt oder unbewußt offen gehalten. Dies zeigt, daß bei der Umgestaltung zur Marktwirtschaft gerade im Hinblick auf die Rolle des Staates und seinen Einfluß auf die Wirtschaft, also auch im Hinblick auf die Ausgestaltung des sozialen Systems, Alternativen und Unterschiede möglich sind. Hier bestehen Freiheitsgrade für die ehemals sozialistischen Volkswirtschaften bei der Ausgestaltung moderner sozialer Systeme. Konkret können sie sich eher an englischen, amerikanischen, schwedischen, deutschen oder an anderen Vorbildern orientieren. Nicht ausgeschlossen ist, daß sie auch ein eigenes neues Modell entwickeln. Aber in jedem Fall muß Berücksichtigung fmden, daß ein solches Sozialsystem mit einer Marktwirtschaft, die ja angestrebt wird, kompatibel ist und daß inkonsistente Sozialstaatselemente nicht kombiniert werden. Die Entwicklung zu einer Marktwirtschaft ist weitaus schwieriger, als man sich das anfangs gedacht hatte. Die Analyse der Transformationsprozesse ist

S Nicht zu Unrecht wird es heute in allen ehemals sozialistischen Ländern mit dem eigentlich ordoliberalen Begriff der Kommando-Wirtschaft bezeichnet. der freilich unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten zu eng für die Komplexität der alten planwirtschaftlichen Systeme erscheinL

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zwar noch nicht zu einer anerkannten Transfonnationstheorie fortgeschritten, aber doch soweit vorangekommen, daß man die Entwicklungslinien zur Bildung einer Marktwirtschaft und die bei ihnen auftretenden Probleme und einige Lösungsmöglichkeiten erkennen kann. Grundsätzlich ist zu unterscheiden, daß Transfonnation zu einer Markwirtschaft in einem Einfließen der Marktwirtschaft von außen bestehen kann, wie es in der DDR durch die Übernahme des Rechts-, Währungs- und Sozialsystems der Bundesrepublik verwirklicht wurde oder dadurch, daß die Marktwirtschaft ohne wesentliche Hilfe von außen aus eigenen Kräften entwickelt werden muß. Dies ist die Situation, in der sich die meisten ehemals sozialistischen Länder befinden. Es müssen Märkte häufig nicht nur erst entwickelt werden, sondern es sind auch marktwirtschaftlich verträgliche Institutionen der Wirtschaftspolitik auf der Grundlage der herrschenden politischen Kräfte politisch zu beschließen und in die Praxis umzusetzen. Im folgenden geht es vor allem um den letztgenannten Fall. Dadurch wird die DDR zum Sonderfall, dessen Erfahrungen und Probleme nicht ohne weiteres auf die anderen Länder übertragen werden können. Zur Entwicklung einer Marktwirtschaft gehört vor allem die Kreierung selbständiger Wirtschaftssubjekte auf der Produzentenseite. Bisher waren die Betriebe in das planwirtschaftliche System eingebunden und erhielten ihre Impulse wesentlich vertikal von übergeordneten Behörden und nicht aufgrund von Marktsignalen auf Beschaffungs- und Absatzmärkten. Zur Entwicklung selbständiger Wirtschaftseinheiten gehört deshalb nicht nur die Beseitigung des zentralen Planungssystems, sondern vor allem auch die rechtliche Absicherung der eigenen Entscheidungsbefugnisse der Wirtschaftssubjekte, aufgrund derer sie mit eigenen Finanzmitteln Nachfrage entfalten und Produktions- und Angebotsentscheidungen treffen können. Mit diesem Erfordernis wird die Schaffung von Privateigentum zu einem Grundelement der Transfonnation, das nicht wie manchmal oberflächlich - einfach als das Gegenteil des sozialistischen staatlichen Eigentums verstanden werden darf, sondern als notwendige Bedingung für die Entstehung von Märkten und von selbständigen Wirtschaftseinheiten, die an den Märkten agieren. Die Eigentumsfrage ist deshalb so schwer zu lösen, weil gleichzeitig neben dem Hauptziel der Schaffung leistungsfähiger Wirtschaftseinheiten auch die Fragen der Verteilunggerechtigkeit, des Aufkommens von finanziellen Mitteln für Investitionen zur Erneuerung, der Stabilisierung und Sanierung der Betriebe, des Wettbewerbs und andere gelöst werden müssen. In den meisten Ländern steht ausländisches Kapital kaum zur Verfügung, so daß außer bei der Privatisierung von Kleinunternehmern erhebliche Schwierigkeiten bei der Privatisierung des Volksvennögens in der Großindustrie und Landwirtschaft auftreten. Mit der Ausgabe von Berechtigungsscheinen an die Bevölkerung zum Aktienerwerb, wie in der Tschechischen Republik, in Rußland und in Polen ist

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das Problem der Formierung einer effizienten marktorientierten Unternehmensleitung nicht schon gelöst. Von zentraler Bedeutung für eine funktionsfähige Marktwirtschaft sind spezielle Marktinstitutionen wie Börsen, Marktplätze und Marktinfonnationssysterne, durch die Markttransparenz geschaffen wird. Eines der größten Probleme bereitet die Schaffung und praktische Anwendung eines marktorientierten Rechts- und Steuersystems, welches die Voraussetzung für einen geregelten Angebot- und Nachfragemechanismus bildet In einigen Ländern sind die Traditionen für die Einhaltung von Rechtsnormen so schwach, daß die vielfach schon erlassenen neuen Gesetze kaum wirksam sind, weil die Wirtschaftssubjekte sich nicht daran halten. Selbst staatliche Institutionen versagen häufig bei der Rechtsanwendung nicht zuletzt deshalb, weil die institutionellen Voraussetzungen, Z.B. funktionsfähige Finanzämter, noch nicht geschaffen sind. Neben der institutionellen Seite werden vielfach auch marktaverse Verhaltensweisen bei breiten Schichten der Bevölkerung beklagt, die nicht zuletzt auf die marxistisch-leninistische Ausbildung zurückgehen, die den Markt als ein ungeeignetes und ungerechtes Koordinationssystem vennittelt hat 6 In der Realität haben einige Bevölkerungsschichten, vor allem die sogenannten Kommerzianten, die neuen Bedingungen im eigenen Interesse schnell gelernt. Aber die sich erst langsam entwickelnden Marktmechanismen werden von vielen nicht durchschaut In der Presse, sogar in der wissenschaftlichen Literatur werden jene Leute als Spekulanten beschimpft, obwohl sie eigentlich nur marktwirtschaftlich tätig sind. Extreme marktwirtschaftlich ungerechtfertigte Gewinne entstehen häufig deshalb, weil Märkte sich noch gar nicht entwickelt, Monopole sich stark erhalten und neu formiert, sowie marktfeindliche, auf Gewalt beruhende Institutionen wie die Mafia sich gebildet haben. So ist es nicht verwunderlich, daß die Anfangszustände einer Marktwirtschaft, von vielen Leuten nicht nur nicht verstanden, sondern wegen der ungünstigen Auswirkungen und anstößiger Verteilungsformen auch abgelehnt werden. Mit der embryonalen Entstehung der Marktwirtschaft ist wie angedeutet auch das Wettbewerbsproblem verknüpft. Die Planwirtschaft hat eine hochmonopolisierte Wirtschaft hinterlassen, die wenn die zentrale Planung aufgegeben wird, äußerst schlechte Voraussetzungen für eine wettbewerbliche Wirtschaft bietet, sogar Ursache für allgemeine Preissteigerung und eine schlechte Versorgung der Bevölkerung darstellt. 7

Vgl. z.B. Politiceskaja ekonomika (politische Ökonomie), Moskau 1968, S. 27-47. I. Starodubrovskaja, Ot monopoli1J1la k konkurencii (Vom Monopolismus zur Konkurrenz), Moskau 1990, S. 15 ff. 6

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In allen Planwirtschaften, aber zumal in der Sowjetunion, war die Wirtschaftsstruktur durch die Planwirtschaft stark deformiert worden, so daß die Versorgung in vielen Zweigen nach dem Wegfall der planmäßigen Versorgung und Beschaffung erheblich erschwert und besonders in ländlichen Gebieten und in Regionen, die abseits von den industriellen Zentren der Produktion von Konsumgütern liegen, fast zusammengebrochen ist. Der Aufbau eines marktwirtschaftlichen Versorgungssystems unter Wettbewerbsbedingungen wird erst allmählich gelingen können. Für das Funktionieren einer Marktwirtschaft ist ein stabiles Geldsystem eine wichtige Bedingung, denn ohne zuverlässige Recheneinheit sind keine wirtschaftlichen Kalkulationen, schon gar keine Investitionsrechnungen möglich. Die Ursachen und die Entwicklung der Inflation werden im folgenden Abschnitt behandelt. Hier geht es um die Schaffung eines modemen Bank- und Geldsystems, das nicht über planwirtschaftliche Mechanismen, sondern über den Geld- und Kapitalmarkt zur Steuerung einer Marktwirtschaft dient In den meisten Ländern sind inzwischen zweistufige Banksysteme durch Gesetz erlassen worden, aber ihre Funktionsfähigkeit ist noch nicht hergestellt Funktionsfähige Geld- und Kapitalmärkte existieren noch nicht hinreichend, die monetären Verflechtungen sind noch nicht verbreitet, und die Inflation hemmt generell die monetäre Entwicklung. De facto ist das alte Geldsystem weitgehend erhalten geblieben. Zur Transformation gehört auch die Umstellung des Staates in fast allen Bereichen seiner Aktivitäten. In der Wirtschaft muß der Staat von einer die Interessen der Beteiligten vorwegnehmenden Direktsteuerung zu einer marktwirtschaftlich begründeten Wirtschaftspolitik, einer behutsamen Indirektsteuerung übergehen. Diese allgemeine Formulierung umfaßt nicht nur die oben erwähnten Finanz- und Geldsysteme, sondern auch die Wettbewerbspolitik, sozialpolitische Maßnahmen, die unten noch besonders behandelt werden, und eine marktwirtschaftlich begründete Struktur- und Industriepolitik. Bei dieser Umstellung des Staates tun sich alte Funktionäre besonders schwer, da sie an planbürokratische Instrumente gewöhnt sind und die Formen der Steuerung der Marktwirtschaft kaum beherrschen, ja noch auf alte Beziehungen und Personalketten zurückgreifen. Diese Schwierigkeiten reichen hin bis zur Obstruktion und Weigerung, den Staat neu zu begreifen und sich entsprechend anders zu verhalten, zumal da eigene Interessen tangiert werden. Faßt man die verschiedenen hier angedeuteten Voraussetzungen für einen Übergang zur Marktwirtschaft zusammen, so sieht man, daß in jeder dieser Entwicklungslinien fast unüberwindliche Schwierigkeiten auftreten. Die Realität zeigt auch, daß der Übergang zur Marktwirtschaft nur langsam vorankommt und daß er durch die unerfreulichen Kurzfrist-Ergebnisse ins Stocken zu geraten droht. Der gegenwärtige Zustand kann unter dem Gesichtspunkt der

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Entstehung von Märkten bestenfalls als eine Art von "Handelskapitalismus" verstanden werden - ein Begriff, der VOll W. Sombart für marktwirtschaftliche Entwicklungsstufen verwendet worden ist 8 Marktwirtschaft hat in den meisten osteuropäischen Ländern bisher nur die Verteilung bestimmter Konsumgüter, auch einiger Großhandelsprodukte und kleiner Teile des Kapitalmarktes ergriffen, ohne daß ein Markt-Preis-Mechanismus, der sich auf funktionierende Waren-, DienstIeistungs-, Faktor- und Finanzmärkte stützt, Signale für die Produktion, Verteilung und den Konsum wie in einer entwickelten Marlctwirtschaft geben und dadurch eine marktwirtschaftIiche Dynamik entfalten würde. In jenem Stadium der Marktentwicklung sind die positiven Ergebnisse eines abgerundeten Markt-Preis-Mechanismus noch nicht erkennbar, im Gegenteil, auf der Grundlage dauerhaft verfestigter Monopole, des Nachwirkens alter Planmechanismen und neuer, nicht marktwirtschaftlicher Beziehungsketten (Mafta) ist die Wirtschaftsordnung in einem Zustand, der keine Ordnung im theoretischen Sinn darstellt, sondern ein unausgewogenes Mischungsgefüge planwirtschaftIicher, marktwirtschaftIicher und quasi-feudaler Elemente darstellt.

In. Die wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen der Transformation im Anfangsstadium

Mit der Abschaffung der zentralen Planwirtschaft, eingeschlossen die sie ergänzenden anderen Koordinationsformen, und auf Grund des nicht zur Funktionsfähigkeit entwickelten Marktsystems ist eine Situation entstanden, die als koordinationsdefizitär und als ein ungeordnetes Nebeneinander von verschiedenen Ordnungssystemen verstanden werden kann. Diese Mischung von Ordnungsformen, die keine Ordnung ergibt, ist nicht geeignet, die Stabilität des Produktions- und Verteilungs systems sicherzustellen und kann deshalb auch nicht die Versorgung der Bevölkerung zu stabilen Preisen einigermaßen gewährleisten. Die Situation ist in den einzelnen Ländern verschieden. In Polen zeigen sich im Jahre 1992 Erholungserscheinungen, insbesondere im privaten Sektor. Besonders dramatisch ist jedoch die Lage in Rußland. Hier sind in den letzten Jahren 1991-1992 Produktionsrückgänge des Bruttoinlandsprodukts von 1,7 %, 3,7 % und 20 % eingetreten,9 so daß sich die allgemeine Lage, insbesondere der Lebensstandard der Bevölkerung, erheblich verschlechtert hat Die Ursachen liegen nicht allein darin, daß die Plandisziplin jetzt fehlt, sondern daß die Versorgung mit Rohstoffen und Halbfabrikaten sich verschlechtert hat und W. Sombarl, Der modeme Kapitalismus, Leipzig 1902. Rußlands Wirtschaft nach dem Zerfall der Sowjenmion in: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung - Wochenbericht, Nr. 28/29, 1992, S. 364. Social'no- ekonomiceskoe polozenie i razvitie ekonorniceskich reform v Russijskoj Federacii v 1992 godu (Die sozialökonomische Lage und Entwicklung der Wirtschaftsreformen in der Russischen Föderation im Jahr 1992), in: Ekonornika i zim', Nr. 4, 1993, S. 13. I

9

5 von Maydell/Hohnerlein

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daß der hohe Monopolisierungsgrad, verbunden mit steigender wirtschaftlicher und politischer Unsicherheit und Risikovermeidung restriktiv wirksam geworden ist Auch die traditionelle Schwäche des Verteilungssystem durch staatlichen und genossenschaftlichen Handel ist dafür verantwortlich, daß es kaum Konkurrenz gibt und die Unterversorgung im allgemeinen groß, in einzelnen Regionen unterschiedlich ist Der Produktionsruckgang ist von einer steigenden Inflationierung der gesamten Wirtschaft begleitet. Allein im Jahre 1992 sind die Preise in Rußland um das 26-fache gestiegen, was schon an eine galoppierende Inflation heranreicht. Dadurch sind die Rechengrundlagen und die Kreditbeziehungen weitgehend zerstört und die Sparguthaben entwertet worden. Die Löhne sind im gleichen Jahr nur um das 7,S-fache gestiegen,1O so daß insgesamt ein erheblicher Lebensstandardverlust eingetreten ist. Er bezieht sich vor allem auf RenUler, kinderreiche Familien und die unteren Schichten der Einkommensverdiener, die praktisch unter die soziale Armutsgrenze gesunken sind. Für November 1992 wird das notwendige Existenzminimum auf 3285 Rubel beziffert; 25 % der ArbeiUlehmer hatten jedoch ein Einkommen, das darunter lag. Die Gründe für die Inflation liegen vor allem in der allgemeinen Kreditausweitung des Bankensystems und bei den DefIziten des Staatshaushalts, die wegen der zahlreichen sozialen Verpflichtungen und der Finanzierung der Verlustbetriebe ständig zugenommen haben. Für die Inflation muß jedoch auch die Umwandlung der zurückgestauten in eine offene Inflation verantwortlich gemacht werden, derzufolge es heute bei horrend hohen Preisen möglich ist, fast alle Produkte auf den Märkten zu erstehen. Für die Masse der Bevölkerung jedoch sind diese Güter völlig außerhalb ihrer fInanziellen Möglichkeiten, so daß die Beseitigung der Mangelwirtschaft bei vielen Produkten für die Bevölkerung keine tatsächliche Verbesserung bedeutet ll Für viele Massenprodukte, die für die Aufrechterhaltung eines unteren Lebensstandards notwendig sind, bestehen außerdem noch immer Mangellagen. Es nimmt kein Wunder, daß in dieser Situation verbreitet eine Indexierung der Renten und Einkommen gefordert wird, wenn sie auch nichts zur Verminderung der Geldentwertung beiträgt, sie eher beschleunigt Die Verarmung durch Einkommensenkungen und Ersparnisentwertung erfaßt weite Kreise der Bevölkerung. Es bestehen jedoch auch Prozesse der Bereicherung, die, wie erwähnt, zur Entwicklung von Schichten von Neureichen führen. Sie bestehen vor allem aus den neuen HäDdlerschichten, die sich z.T. in Ebenda. S. 13. Dies gilt auch für Polen. wo es durCh die Refonnen von Balcerovicz gelungen war. die Inflationsrate von 740 % im Jahr 1989 auf unter 100 % mit sinkender Tendenz zu drücken. K. Kalic/ci. MOIIetary Policy in the Program of Economic Transfonnations. in: W. Fuhnnann/B. Pietrzak (Hg.). MOIIetary Refonns and Politics in Poland. Institut für Wirtschaftsstudien. Reihe Nr. S. 1992. 10

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S.93.

n.

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die alten sozialen Strukturen, vermittelt durch die Mafia, fortsetzen. Den Neureichen ist eine soziale Verpflichtung weitgehend fremd; durch Steuern und Abgaben ist ihnen nur in beschränktem Umfang beizukommen, da sie auch die Führer wirtschaftlicher Aktivitäten sind, die man nicht abwürgen sollte. Abgesehen von den politischen Wirren ist eine soziale Umschichtung im Gange, bei der alte Kader sich neu orientieren, im Großen und Ganzen einen Abstieg vollziehen, während oft jugendliche, kommerziell orientierte Händler nach Einkommen und in gesellschaftlicher Stellung einen gewissen Aufstieg erleben. Die sozialen Umgestaltungsprozesse sind noch längst nicht abgeschlossen, sie werden eine Reihe von Jahren andauern. Die Arbeitslosigkeit hat nach offiziellen Zahlen in Rußland mit knapp einer Million Arbeitslosen noch keinen besorgniserregenden Stand erreicht, obwohl die Zahl der versteckten und nicht registrierten Arbeitslosigkeit als zu niedrig eingeschätzt werden muß. Mit dem Vorankommen der Transformation zur Marktwirtschaft hin wird eine erhebliche Verschlechterung der Beschäftigungslage eintreten. Die allgemeine Krisensituation hat dazu gefuhrt, daß zu Beginn des Jahres 1993 durch neuerliche Preisftxierung Anzeichen für eine Rückwende zu stärkerem staatlichen Einfluß erkennbar sind und der Übergang zur Marktwirtschaft, wenn nicht gestoppt, so doch deutlich hinausgezögert wird. Ordnungspolitisch ist deshalb die Situation zu Anfang des Jahres 1993 ambivalent. Es besteht nicht die Alternative, daß in kurzer Frist eine funktionierende Marktwirtschaft erreicht werden könnte oder daß das alte planwirtschaftliehe System restauriert wird, aber politisch wie wirtschaftlich ist nicht klar, ob man mit verringerter Geschwindigkeit den Weg zur Marktwirtschaft weiter gehen oder wieder einen stärkeren staatlichen Einfluß durch ein Hineinregieren von politischen Instanzen und Gruppen in die Wirtschaft realisieren wird. Dabei ist nicht zu übersehen, daß die wirtschaftliche Misere durch politische Machtkämpfe überlagert wird, die abgehoben von der Bevölkerung weitgehend zwischen verschiedenen Gruppierungen in den postsowjetischen Eliten stattfIndet. Gegenüber diesen Machtkämpfen sind die Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Nationalitäten ein zusätzliches soziales Problem für weite Bevölkerungskreise der ehemaligen Sowjetunion, das von regelrechten Bürgerkriegen (vor allem Georgien, Aserbaidschan und Tadschikistan) bis hin zu zunehmenden sozialen Spannungen und Ängsten der Minderheitennati~nalitäten reicht. Wanderungsbewegungen sind schon im Gange und drohen zu eskalieren. Damit erlangen die durch Trnnsformation und allgemeinen wirtschaftlichen Rückgang erwachsenen sozialen Probleme - unterschiedlich in den einzelnen Landesteilen - eine nationale Komponente, die eine künftige Sozialpolitik berücksichtigen muß.

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IV. Die Umgestaltung des Sozialsystems Die Umgestaltung zu einem marktwirtschaftlichen System erfordert eine Anpassung der Sozialpolitik und der sozialen Sicherheitssysteme. Die Notwendigkeit dafür ergibt sich aus verschiedenen Gründen: Sozialpolitik muß in einer Marktwirtschaft anders begründet und ausgestaltet werden als in einer Planwirtschaft Eine Umgestaltung des Sozialsystems muß auch in einem eher kurzfristigen Zeithorizont, aber deshalb umso dringender, auf die oben geschilderte schwierige soziale Situation des Landes Rücksicht nehmen und sie in gewisser Weise zu mildem suchen. Man ist versucht, den letzteren kurzfristigen Aspekt in der gegenwärtigen Situation sogar für wichtiger zu halten als die langfristige ordnungspolitische Konzeption einer Sozialpolitik. Trotzdem sollen im folgenden zuerst die Hauptrichtungen der Umgestaltung des Sozialsystems aufgrund der Orientierung zur Marktwirtschaft behandelt und dann auf aktuelle Fragen Bezug genommen werden. 1. Wenn Marktwirtschaft das dominierende volkswirtschaftliche Koordinationssystem werden soll, ist es erforderlich, daß die sozialen Kosten soweit wie möglich auf die eigentlichen Träger der Kosten sozialer Leistungen zurückgeführt werden. Nicht nur das Kollektiv als Ganzes kann dann undifferenziert für alle sozialen Kosten durch Umverteilung aufkommen, sondern soweit wie möglich muß eine Zurechenbarkeit auf die Kostenträger und -arten stattfinden. In der Terminologie der Sozialpolitik muß das Äquivalenzprinzip, das sich konkret in der Versicherung sozialer Leistungen äußert, erst eingeführt oder doch erheblich ausgedehnt werden. Damit ist die sichtbare und nachweisliche Beteiligung der Arbeitnehmer an den sozialen Sicherungssystemen gemeint, die damit auch in die Kosten der Produkte eingehen und die Differenz zwischen Brutto- und Nettolöhnen erheblich vergrößern wird. Es muß nicht von vornherein eine bestimme Aufteilung der Prämien für Pflichtversicherungen festgelegt werden, aber prinzipiell muß die Entwicklung in Richtung auf eine stärkere Einhaltung des Äquivalenzprinzips und der Ausdehnung des Versicherungsprinzips gesehen werden. Da das Entlohnungssystem sozialistischer Länder eine stark egalitäre Komponente bei den Masseneinkommen verwirklicht hatte - ausgenommen davon waren Funktionärseinkommen und andere Spitzenverdiener -, wird eine stärkere Differenzierung der Einkommen auf der Grundlage des Leistungsprinzips auch die Beiträge zum sozialen Sicherungssystems entzerren und vor allem in der Rentenversicherung auch eine größere Differenzierung der Renten bewirken. Diese Prozesse der verstärkten Äquivalenz und Entegalisierung der Einkommen wird für die Masse der Bevölkerung als eine zusätzliche Belastung und relative Einkommensenkung empfunden werden, obwohl auch die sozialistische Absicherung durch den Staat, die vorwiegend auf Beiträgen der Be-

Ökonomische Rahmenbedingungen

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triebe beruhte, letztlich von den Arbeitnehmern getragen wurde. Gesarntwirtschaftlieh gesehen findet keine zusätzliche Belastung der Arbeitnehmer statt, sondern eine klarere Zurechnung von Beiträgen und Leistungen des Rentensystems. 2. Die Einführung des Subsidiaritätsprinzips ist eine Konsequenz der Zurückdrängung des Staates. Er wird aus einer dominanten Rolle bei der Ordnung aller Bereiche gesellschaftlichen Lebens zugunsten von Marktmechanismen und anderer Formen der gesellschaftlichen Koordination (z.B. collective. bargaining) zurückgedrängt. Damit wird der Grundsatz, der in westlichen Wirtschaften theoretisch kaum bestritten wird, aber durch unterschiedliche historische Entwicklungen in verschiedener Weise zur Geltung kommt, wirksam, daß der Staat nämlich nur dort eingreifen soll, wo eine Selbstregulierung über die Märkte oder über andere Mechanismen nicht möglich ist oder zu allgemein nicht akzeptierten gesellschaftlichen Ergebnissen führt. Der Gedanke, daß jeder in gewissem Umfang selbst für die Absicherung bestimmter Risiken zu sorgen hat - dazu vom Staat nach bestimmten Regeln gezwungen wird - ist eine wesentliche Neuerung gegenüber dem sozialistischen Sicherungssystem, das die soziale Absicherung als selbstverständliche Aufgabe des Staates defmiert hatte. Damit wird der Staat in vielen Bereichen auf Maßnahmen reduziert, die Hilfe zur Selbsthilfe sein sollen, die auch einen Zwang zu solcher Selbstvorsorge, z.B. in der gesetzlichen Renten-, Kranken-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung - künftig auch Pflegeversicherung - umfassen. Der Streit darüber, wie weit die Rolle des Staates gehen soll, durch eine allgemeine, staatliche Fürsorge mit geringem Eigenengagement oder durch allgemeine soziale Vorsorge bei Selbstbeteiligung und Selbstengagement in privaten Versicherungen, ist auch im Westen durchaus unterschiedlich geregelt und gibt für die Gestaltung sozialer Sicherheitssysteme den sozialpolitischen Gesetzgebern einen bestimmten Spielraum. 3. Mit dem Ausbau der Subsidiarität ist logisch aufs engste ein Abbau des

Kollektivprinzips verbunden. Staatliche Aktivitäten müssen im sozialen Bereich

auf die Fälle reduziert werden, in denen eine marktmäßige Versorgung nicht sichergestellt werden kann. Dies betrifft, wie angedeutet partiell auch die sozialen Sicherungssysteme, vor allem aber die Produktion öffentlicher Güter. In den alten sozialistischen Systemen war praktisch die gesamte Produktion zu einem öffentlichen Gut geworden, da der Staat durch Planung und Leitung die Produktion und Verteilung fast aller Bereiche steuerte. Dies war freilich abgeschwächt dadurch, daß er die Nachfrage sinnvoUerweise in die Planung miteinzubeziehen versuchte, wenn dies auch aus verschiedenen ideologischen und technischen Gründen unzureichend gelang.

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Im Bereich der eigentlichen öffentlichen Güter wird die Umwandlung zu einer Demokratie, zu einer föderalen Staatsverwaltung auf dem Hintergrund einer Marktwirtschaft dazu führen, daß viele der Güter, die bisher nur vom Staat angeboten wurden, in zunehmendem Maße privater Produktion und Verteilung anheim gegeben werden können. Dies gilt für weite Bereiche des kommunalen, des kulturellen, des Bildungs- und Gesundheitswesens. Auch hier entsteht über die Argumente der Meritorisierung ein Spielraum für demokratische Gesellschaften, welche Bereiche der staatlichen Entscheidung oder einer privaten Steuerung über Märkte überlassen werden sollen. Die Argumente für den Abbau staatlicher Leistungen sind unter ökonomischen Gesichtspunkten (höhere Effizienz des privaten Sektors) gravierend, trotzdem wird die starke staatliche Tradition der sozialistischen Länder dem Grenzen setzen. 4. Der Abbau des Kollektivprinzips bedeutet institutionell gesehen, daß die zentrale staatliche Verwaltung, die der Planwirtschaft zugrunde lag, ersetzt und ergänzt werden muß durch den Ausbau eines Selbstverwaltungssystems, soweit dies möglich ist Dies betrifft sowohl die kommunalen wie zwischeninstanzlichen Behörden, wird aber vor allem die sozialen Sicherheitssysteme verändern, deren staatliche Regulierung durch Gesetze und durch fmanzielle Zuwendungen im Westen ergänzt wird durch den Ausbau einer, wenn auch nicht sehr starken, so doch in das Bewußtsein der Öffentlichkeit getretenen Selbstverwaltung mit entsprechenden Entscheidungsorganen. Auch diese Tendenz wird sich nicht sofort, sondern erst mit einem entsprechenden Bewußtseinswandel und einer neuen sozialpolitischen Gesetzgebung durchsetzen lassen. 5. Alle modemen Industriestaaten können als Sozialstaaten insoweit verstanden werden, als der Staat für eine Umverteilung der Einkommen in verschiedener Richtung, zwischen sozialen Gruppen, zwischen den Generationen, zwischen Gesunden und Kranken, zwischen verschiedenen Einkommenschichten u.a. Sorge trägt Die dahinterstehende Vorstellung, daß Umverteilung einer höheren sozialen Gerechtigkeit diene, steht ein marlctwirtschaftliches Verteilungssystem gegenüber, das eine stärkere Leistungsgerechtigkeit zum Ziele hat und über Leistungsanreize eine Dynamik der volkswirtschaftlichen Produktions- und Einkommenssteigerung bewirkt. Die sich transfonnierenden sozialistischen Staaten werden sich dieser Kontroverse zwischen Leistungsund Umverteilungsgerechtigkeit stellen müssen und damit in eine Wertediskussion eintreten, die in westlichen Ländern seit langem geführt und immer wieder neu gestellt wird. Die Richtungen der Neuorientierung der Sozialpolitik würden, wollte man die theoretischen Erfordernisse in die Praxis umsetzen, eine totale Umgestaltung der sozialen Sicherungssysteme erfordern. Die oben behandelte wirtschaftliche und soziale Situation gibt jedoch keinen Raum für ein "Jahrhundertwerk" der Schaffung neuer sozialer Sicherungssysteme. Die bren-

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nenden Probleme der Sicherung der Grundbedarfe, der Folgen von Einkommensrückgängen und Arbeitslosigkeit sowie der sozialen Umpositionierungen geben dafür kaum einen Raum, von den hohen HaushaltsdefIziten ganz abgesehen. 12 Deshalb müssen die oben genannten Forderungen eher als langfristige, allmählich und evolutionär zu verwirklichende Grundsätze in die Sozialpolitik eingebracht werden. In der gegenwärtigen Situation muß konkrete Sozialpolitik auf die Sicherung der in Armut geratenen Schichten gerichtet sein, ein System der Sozialhilfe und der Arbeitslosenversicherung muß vorrangig entwickelt und ausgebaut werden, wofür es bereits Ansätze gibt Es müssen auch weitere Maßnahmen in Gang gesetzt werden, die den in unmittelbare Not Geratenen naturaliter helfen. Der Westen wäre schlecht beraten, würde er in der gegenwärtigen Situation mit theoretischen Anforderungen an eine Gesellschaft herantreten, die in weiten Teilen um ihre pure Existenz kämpfen muß. Diese zu bewältigen ist ein Problem der inneren Verteilung, aber auch der auswärtigen Hilfe.

12 N. Viktorov, Libera1izacija cen i social'naja zasciscennost' naselenija (preisliberalisienmg und soziale Absicheruog der Bevölkerung), in: Ekonomist, Nr. 3/1992, S. 21/2.

Ökonomische Rahmenbedingungen von Systemen sozialer Sicherheit in den Staaten Mittel- und Osteuropas von Maciej Zukowski

I. Einleitung Die Systeme der sozialen Sicherheit sind durch verschiedene Faktoren bedingt Es werden Gruppen von Einflußfaktoren genannt, wie: politische Faktoren, demographische Faktoren, ökonomische Faktoren, Rechtsprechung, individuelle Präferenzen und Verhaltensweisen und akzidentelle (exogene) Faktoren. 1 Auch die bisherigen Lösungen - der historische Kontext - sind für die Entwicklung der Systeme sozialer Sicherheit von besonderer Bedeutung. 2 Die genannten Faktoren wirken nicht separat und sind miteinander auf verschiedene Weise verflochten. So werden z.B. Entscheidungen über die Höhe der Rentenversicherungsbeiträge u.a. durch folgende Faktoren beeinflußt: historische (ihre bisherige Höhe), demographische (Lebensdauer und Altersstruktur der Bevölkerung), ökonomische (Beschäftigungsniveau, Haushaltslage), individuelle Verhaltensweisen (Inanspruchnahme der Möglichkeit eines früheren Ausscheidens aus dem Erwerbsleben) und politische Faktoren (Ziele der Politik der sozialen Sicherheit, Interessenvertretungen). 3 Im folgenden wird versucht, die ökonomischen Einflußfaktoren von den anderen zu separieren. Die Aufgabe bedarf aber auch einer weiteren Disaggregation der ökonomischen Faktoren.4 Analysiert werden vor allem Beschäftigungssituation, Einkommenssituation und Preisentwicklung. Zunächst sollen aber die grundlegenden Merkmale der Transformationsprozesse berücksichtigt werden. Innerhalb der genannten Faktorengruppen sollen sowohl das Niveau z.B. Zahl der Beschäftigten, Arbeitslosenquote - als auch die Struktur - z.B. Beschäftigungsstruktur nach dem Wirtschaftssektor - besprochen werden. Da1 Vgl. W. SchmiihJ, Sozialausgaben, in: Handwörtemuch der Wirtschaftswissenschaften, Bd. 6, Stuttgart 1981, S. 576-582. 2 Die Kontinuität ist besonders in der Entwicklung von Sozialversicherungssystemen deutlich. Vgl. PA. KöhlerlHF. lAcher, Sozialversicherung - Pfade der Entwicklung, in: P.A. Köhler/H.F. Zacher (Hg.), Ein Jahrhundert Sozialversicherung, Berlin 1981, S. 23 ff. 3 Es wurden nur Beispiele der Faktoren in einzelnen Faktorengruppen angebrachL 4 Vgl. W. SchmiihJ (Fn. 1), S. 580-581.

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bei geht es sowohl um strukturelle Faktoren, - denen mehr Aufmerksamkeit gewidmet wird, - als auch um konjunkturelle Faktoren. 5 Es wird hier von Systemen sozialer Sicherheit gesprochen. Es handelt sich dabei um die (in der Regel Geld-)Leistungen vor allem für Alte, Kranke, Erwerbsunfähige, Hinterbliebene, Arbeitslose, Mütter, Familien und Arme. Es werden somit Sozialversicherungs-, Versorgungs- und Sozialhilfeleistungen in die Analyse einbezogen. Dabei wird abgesehen von der konkreten Ausgestaltung der Systeme in einzelnen Ländern.6 Die eher bescheidene Aufgabe des Beitrages ist es, die ökonomischen Rahmenbedingungen der (oder anders ausgedrückt: die Einflußfaktoren auf die) Systeme sozialer Sicherheit in den Staaten Mittel- und Osteuropas aufzuzeigen. Die Ausführungen beziehen sich aber in erster Linie auf Polen, die Slowakische Republik, Ungarn und die Tschechische Republik - die Länder, in denen die Transformation am frühesten begonnen hat und am weitesten fortgeschritten ist Die Analyse umfaßt die Gruppe der ehemals sozialistischen Staaten, in denen zur Zeit tiefe Transformationsprozesse in Richtung Demokratie und Marktwirtschaft stattfinden. Es werden dabei eher die Ähnlichkeiten zwischen diesen Ländern hervorgehoben als die - bestehenden und zahlreichen - Unterschiede.7 11. Transformation des Wirtschaftssystems - Allgemeine Merkmales 1. Die Ausgangslage

Es sollen hiermit die wichtigsten Strukturmerkmale des kommunistischen Wirtschaftssystems sowie seine Systemschwächen skizziert werden. Einerseits ist die Kenntnis über die Ausgangslage notwendig, um die Transformationsrichtungen zu verstehen. Andererseits sind bisher manche von 5 Im Kontext sozialer Sichemeit im Alter - vgl. W. Schmähl. Soziale Sichemeit im Alter, in: Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaften, Bd. 6, Stuttgart 1981, S. 658-659. 6 Vgl. die Beiträge im 11. Teil des Colloquiums "Grundfragen sozialer Sichemeit in vergleichender Sicht". 7 Es wird somit wieder, wie bei der Ausgliederung der ökonomischen Faktoren, eine gewisse Idealisierung gemacht Im folgenden werden "Idealtypcm" analysien - vgl. M. Weber, Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erltenntnis, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1922. "Es geht dabei um 'stilisiene Fakten', die dem Verfasser als typisch erscheinen. Sie kommen in den meisten Fällen vor, nicht notwendigerweise aber in allen. Daher beziehen sie sich gewissermaßen auf alle Reformländer, während sie im Detail aber keinem einzigen Land genau entsprechen". K. Las/ci, Der aktuelle Stand der Diskussion über die Transformationsprobleme, in: Europäische Rundschau, 4/1992, S. 35. 8 Im weiteren wird fast ausschließlich literatur zilien, die dem Leser zugänglich sein kann. Verständlicherweise gibt es außerdem eine umfangreiche literatur zu den Transfonnationsprozessen in den betroffenen Ländern und ihren Sprachen.

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diesen Schwächen nicht überwunden worden. Es werden nur Stichworte genannt: 9 - SystemineffIZienz, die ihren Ausdruck in der Mangelwirtschaft fand, fehlende Anreiz- und Sanktionsmechanismen, massive Fehlallokationen, niedrige Faktorproduktivität; - überwiegend staatliche, oft defIZitäre Betriebe, unter "soft budget constraint", die durch erhebliche staatliche Subventionen unterstützt wurden; - relativ hoher Anteil der Industrie am Bruttoinlandsprodukt. mit dominierender Position der Schwerindustrie und hoher Energie- und Materialintensität; weiter hohe Anteile der Landwirtschaft (besonders an der Zahl der Erwerbstätigen), Unterentwicklung des Dienstleistungssektors; - fehlende bzw. unterentwicklte Infrastruktur einer Marktwirtschaft wie Banken, Kapitalmarkt, Verkehr; - Vollbeschäftigung; keine offene Arbeitslosigkeit, bei einer erheblichen "Arbeitslosigkeit am Arbeitsplatz" bzw. verdeckter Arbeitslosigkeit; - "falsche" Preise, verdeckte Inflation, Überbewertung der Binnenwährungen; in manchen Ländern trat in den letzten Jahren eine offene Inflation Qfyperinflation) ein; - Abkoppelung von der Weltwirtschaft. großer Anteil des Tauschhandels innerhalb des COMECON; - hohe Auslandsschulden. 2. Wichtigste Refonnbereiche

Die Transformationsrichtungen lassen sich in drei, sich überschneidende Reformbereiche untergliedern: Stabilisierung der Wirtschaft, Liberalisierung der Märkte und Strukturveränderungen (darunter Privatisierung). 10

9 Vgl. U. EggerlR. KappellA. Melzer, Osteuropa auf dem Weg zur Marktwirtschaft: Gedanken zur Unterstützung des Übergangs, in: Osteuropa-Wirtschaft 1/1992, S. 23-25 und AM. Vacic, Systemic Transfonnation in Central and Eastem Europe: General Frameworlc, Specific Features md Prospects, in: Osteuropa-Wirtschaft 1/1992, S. 9-11. Eine umfangreiche Analyse machte H. KorNJi: The Economics of Shortage, Arnsterdam/New York/Oxford 1980, polnische Ausgabe: Niedob6r w gospodarce, Warschau 1985. 10 Vgl. EggerlKappellMelzer (Fn. 7), S. 25 - 27. Vgl. K. LasIci (Fn. 8), S. 37-43 und UN, Economic Survey of Europe in 1990 - 1991, UN Economic Commission for Europe, New York 1991, S. 122 ff.

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- Die Stabilisierungspolitik verfolgt vor allem das Ziel der Inflationsbekämpfung, durch strenge Begrenzung der Geldmenge und der BudgetdeflZite. Wechselkurskorrektur, Außenhandels- und Binnenmarktliberalisierung dienen auch dem Abbau der Zahlungsbilanzkrisen. - Die Liberalisierung von Güter- und Faktormärkten erfolgt durch Liberalisierung der Preise, Abbau der Subventionen, Unterstützung für die Entwicklung des Kapital- und des Arbeitsmarktes. - Die Strukturveränderungen bedeuten die völlige Um- bzw. Neustrukturierung des Produktionsapparats, durch Privatisierung der Wirtschaft, Dezentralisierung der Entscheidungen und Wettbewerb auch im öffentlichen Sektor. 3. Ergebnisse und Probleme

Im folgenden sollen die wichtigsten Ergebnisse der bisherigen Reformen genannt werden. 11 Die Faktoren, die auf die soziale Sicherheit einen besonderen Einfluß ausüben, werden dann allgemein in Abschnitt III und weiteren Abschnitten analysiert. - Es ist, zumindest in den führenden Reformländern, gelungen, die Mangelwirtschaft zu überwinden (die Warteschlangen vor den Geschäften, die ein Zeichen der Mangelwirtschaft waren, sind verschwunden) und die Remonetarisierung der Wirtschaft voranzutreiben; die Dollarisierung der Wirtschaft (das Parallelwährungssystem) wurde zurückgedrängt. - In allen Ländern sind das Bruttoinlandsprodukt und noch stärker die Industrieproduktion und die Investitionen zurückgegangen: es herrscht eine tiefe Rezession. - In allen Ländern stieg schnell die Arbeitslosigkeit Da aber der Output stärker als die Beschäftigung zurückging, stieg auch die versteckte Arbeitslosigkeit und die Arbeitsproduktivität sank.

- Am Anfang führten Preisliberalisierung und Kürzung der Subventionen zu hoher Inflation, die sich dann zwar verlangsamte, aber weiterhin hoch bleibt, mit zweistelligen Wachstumsraten im Jahr. 11 Vgl. K. Las/ci (Fn.7), S. 35-37; UN (Fn. 10), S. 39 Cf.; K. Janacek (Hg.), Transformation of the Czechoslovak. Economy: Macroeconornic and Social Problems, in: Prague Econornic Papers 1/1992, S.29-53; K. Janacek (Hg.), Macroeconornic and Social Analysis: Spring 1992, in: Prague Econornic Papers 4/1992, S. 291-310; L. Csaba, Macroeconomic Policy in Hungary: Poetry versus Reality, in: Soviel Studies 6/1992, S. 947-964; E. CzarnylB. Czarny, Die Auswirlmngen des wirtschaftlichen Umbaus auf den Lebensstandard in Polen (1990-1991), in: Osteuropa-Wirtschaft 3/1992, S. 237-254.

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- Es lcam zu Strukturveränderungen in der Wirtschaft: Es stieg der Anteil des Handels, der Dienstleistungen und des privaten Sektors an der gesamten Wirtschaft - Die Reallöhne gingen zuerst stark zurück. In einigen Ländern stiegen sie dann an, blieben jedoch deutlich hinter dem Ausgangsniveau zurück. Der Konsum fiel deutlich, und die Einkommensunterschiede vergrößerten sich. - Die Budgetdefizite sanken zu Beginn der Stabilisierung, dann aber stiegen sie an, verursacht durch sinkende Wirtschaftsaktivität, fallende Rentabilität der Betriebe, SteuerbegÜßstigung der neuen Privatbetriebe, Steuerhinterziehungen in den Privatfmnen. - Die internationale Weubewerksfähigkeit der betroffenen Länder stieg nur vorübergehend, ähnlich wie der Exportüberschuß.

m. Transformation des Wirtschaftssystems und soziale Sicherheit - ihre Funktion, Einnahmen, Ausgaben -

Im folgenden sollen allgemeine Auswirkungen der oben skizzierten Transformation des Wirtschaftssystems auf die Systeme sozialer Sicherheit angedeutet werden. Einige Elemente werden in weiteren Abschnitten näher charakterisiert Mehrere Prozesse verursachen Veränderungen in der Funktion sozialer Sicherheit. Die garantierte Beschäftigung erfüllte im alten System eine soziale Funktion und ersetzte somit teilweise die soziale Sicherheit Zur Zeit, da die wirtschaftlichen Funktionen der Beschäftigung an Bedeutung deutlich gewinnen und es keinen garantierten Arbeitsplatz bis zum Ruhestand mehr gibt, wurde die Funktion der sozialen Sicherheit deutlicher. Ähnlich verändert sich die Funktion der Arbeitsverdienste. Im Sozialismus dienten sie eher redistributiven Zwecken und nicht der Allokation von Arbeit. Der Unterschied zwischen den Verdiensten und Sozialleistungen war nicht groß, sowohl im Prinzip als auch hinsichtlich ihrer Höhe. Die Transformationsprozesse machten die Trennung zwischen Löhnen und Sozialleistungen und ihren Funktionen deutlich. Auch die hohen staatlichen Subventionen von Gütern und Leistungen spielten eine wichtige soziale Funktion im alten System und ersetzten somit weise die soziale Sicherheit Die Kürzung von Subventionen zeigte die Bedeutung der sozialen Sicherheit.

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Zusammenfassend kann man feststellen, daß die Transfonnationsprozesse Bedingungen für die Unterscheidung und "Arbeitsteilung" zwischen Wirtschaft (Beschäftigung, Löhne, Preise) und sozialer Sicherheit schaffen. Der Prozeß hat jedoch erst angefangen und wird wahrscheinlich noch lange dauern. 12 Der Bedarf an Leistungen sozialer Sicherheit steigt vor allem aus folgenden Gründen: - steigende und andauernde Arbeitslosigkeit, - Veränderungen in der Beschäftigungsstruktur, - fallender Lebensstandard!Armut, - hohe Inflation, die den Realwert der Leistungen verringert Die Finanzierungsmäglichkeiten der Systeme sozialer Sicherheit wurden dagegen durch folgende Tendenzen begrenzt - Arbeitslosigkeit, die die Einnahmen aus Sozialversicherungsbeiträgen und Steuern begrenzt, - Budgetdefizite, die neben der Arbeitslosigkeit auch, wie oben erwähnt, auf zurückgehende Industrieproduktion, fallende Rentabilität der Betriebe, Steuerbegünstigung der neuen privaten Betriebe und Steuerhinterziehungen in Privatfrrmen zurückzuführen sind. Die Haushaltslage wird zusätzlich dadurch erschwert, daß in den betroffenen Ländern moderne Steuersysteme erst noch eingeführt werden. IV. Beschäftigungssituation und soziale Sicherheit 1. Arbeitslosigkeit

Die schnell wachsende Arbeitslosigkeit "belastet" finanziell die Systeme sozialer Sicherheit auf beiden Seiten: Sie bewirkt den Rückgang der Einnahmen und den Anstieg der Ausgaben. Der Rückgang der Einnahmen ist besonders in den Sozialversicherungssysternen deutlich. Die Zahl der Versicherten sinJct, und so sinken auch die Einnahmen aus den Sozialversicherungsbeiträgen, wobei es hier keine Rolle spielt, daß sie in den meisten Ländern ausschließlich durch die Betriebe (Arbeitgeber) gezahlt werden. Die Finanzierungsmöglichkeiten der steuerfmanzierten Bereiche sozialer Sicherheit werden durch die wachsende Arbeitslosigkeit auch be12 So wird z.B., wie oben erwähnt, die steigende Arbeitslosigkeit von der ZWlahme der verdeckten Arbeitslosigkeit begleitet, was die These über die wachsende wirtschaftliche FWlktion der Beschäftigung schwächt.

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grenzt. Dies geschieht allerdings indirekt: Zum einen führt die Arbeitslosigkeit zu EinkommensausßUlen und somit auch zum Rückgang der Einnahmen aus Einkommenssteuern, zum anderen ist die Arbeitslosigkeit mit dem Rückgang der Produktion verbunden, der auch im Ausfall von Einnahmen aus anderen Steuern seinen Ausdruck fmdet. Der Anstieg von Ausgaben aus den Systemen sozialer Sicherheit infolge von Arbeitslosigkeit betrifft erstens die Leistungen für Arbeitslose. Fast in allen Ländern Mittel- und Osteuropas wurden Systeme mit Leistungen für Arbeitslose neu geschaffen und ihr Anteil an den gesamten Sozialleistungen wuchs schnell - parallel zum schnellen Anstieg der Zahl von Arbeitslosen. Zweitens wurden die Arbeitslosen zu einer wichtigen Gruppe von Sozialhilfeempfängern. Drittens übt die Situation auf dem Arbeitsmarkt einen Druck auf den früheren Übergang in den Ruhestand aus. Die Inanspruchnahme der eingeführten bzw. erweiterten Möglichkeiten, früher in Rente zu gehen, führte zu einem überproportionalen Anstieg der Rentnerpopulation. Insgesamt verschlechterte die Arbeitslosigkeit somit wesentlich die Relation zwischen der Gruppe, die die Systeme sozialer Sicherheit (direkt und indirekt) finanziert und der Gruppe ihrer Leistungsempfänger. 2. Beschänlgungsstruktur

Die oben erwähnten Strukturveränderungen in der Wirtschaft zugunsten des Privatsektors spiegeln sich auch im Anstieg dieses Sektors an der Beschäftigung wider, allerdings in den einzelnen Ländern in unterschiedlichem Ausmaß. Es seien hier zwei Konsequenzen dieser Verschiebung für die Systeme sozialer Sicherheit in den betroffenen Ländern genannt. Erstens waren die früheren Systeme vor allem auf die Beschäftigten im staatlichen Sektor ausgerichtet. Die bestehenden Unterschiede zwischen dem staatlichen und dem privaten Sektor im Recht der sozialen Sicherheit sind nun auszugleichen. Zweitens kann es, auch wenn keine formelle Differenzierung mehr besteht, zu praktischen Unterschieden kommen, etwa in Form bewußter Herabsetzung der Beitragsbasis, um weniger zu zahlen. Das wiIkt sich auf die Versicherten negativ aus, deren Leistungen entsprechend niedriger sein können,13 und verschärft die Finanzprobleme der Sozialversicherung. Die Entwicklung des Privatsektors bedeutet auch einen zahlenämßigen Anstieg von Selbständigen (einen Rückgang der Arbeitnehmerquote), was eine Herausforderung zur Ausdehung der Sozialversicherung auf diese Gruppe nach sich zieht 13 Zwar ist die Relation zwischen Beitrags- und Leistungshöhe in den meisten Systemen eher begrenzt.

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Im Kontext der Beschäftigungsstrukturverschiebungen sei auf ein allgemeineres strukturelles Problem hingewiesen. Die bisherige An der Finanzierung von Systemen sozialer Sicherheit und die Höhe der Beiträge stößt auf den Widerstand der Arbeitgeber und kann als ein erhebliches Hindernis für die Entwicklung des Privatsektors angesehen werden. 14

V. Einkommenssituation und soziale Sicherheit 1. EInkommensniveau

Es sei zuerst in diesem Zusammenhang auf ein niedriges Niveau der Realeinkommen hingewiesen. Bei solcher Situation sind die Sozialleistungen, auch wenn sie im Vergleich zu Arbeitsverdiensten hoch sind, real niedrig. Viele Leistungen sozialer Sicherheit waren im Verhältnis zu Löhnen nach internationalen Maßstäben nicht selten hoch. 15 Einerseits sind diese relativ hohen Leistungen zZl nicht mehr finanzierbar, andererseits sind die Spielräume für Anpassungen der Höhe von Sozialleistungen an die begrenzten Finanzierungsmöglichkeiten auch nicht sehr groß. Die ökonomische Notwendigkeit, die großzügigen Leistungen zu kürzen, stößt auf eine politische Barriere. Der sozialen Sicherung wird die wichtige Rolle beigemessen, die sozialen Kosten der Transformation zu mildem und somit zur Akzeptanz der Reformprograrnme und zur politischen Stabilität beizutragen. 16 Der früher erwähnte Rückgang der Realeinkommen (sinkender Lebensstandard) vergrößert den Bedarf an sozialer Sicherheit. Die Arbeitseinkommen fallen dabei nicht selten stärker als die Sozialeinkommen, was im gewissen Ausmaß das Ergebnis des politischen Drucks auf soziale Milderung der Transformationsprozesse ist. Diese Tendenz wirkt einer Stärkung der Erwerbstätigkeit entgegen, vor allem, wenn man Erwerbseinkommen den Leistungen der sozialen Sicherheit gegenüberstellt. Die Verarmung der Bevölkerung führt auch zu einer gewissen Verlagerung der Ziele der Systeme sozialer Sicherheit, und zwar zur Verstärkung des Zieles minimaler Absicherung (Sozialhilfe, Mindestrenten usw.) und relativer Abschwächung des Zieles der Erhaltung relativer Einkommenspositionen. Dies hat wieder negative Konsequenzen für die Stärkung der Funktion der Arbeit. 14 Vgl. E. Ah""uJ.JJ.·L. Schneider, Alternative Social Security Systems in CIS Countries, in: Socia1 Security: 50 Years after Beveridge, An International Conference at the University of York, 27-30 September 1992, Vol. 2: Competing Models of Social Security: A Comparative Perspective,

S.92.

15 Vgl. M. Zukowslci, Por6wnanie pracowniczych system6w emerytalnych w Polsce, RFN i Wielkiej Brytanii (Vergleich der Altersrentensysteme für Arbeitnehmer in Polen, der Bundesrepublik Deutschland und Großbritannien, Poman 1993 (erscheint demnächst). 16 Vgl. EggerlKappellMelzer, (Fn. 9), S. 46.

Ökonomische RahmenbedinglDlgen sozialer Sicherheit

81

Auf der Finanzierungsseite dagegen bedeuten die sinkenden Realeinkommen eine stärkere Konsumeinschränkung privater Haushalte durch ihre Sozialabgaben. 2. EInkommensunterschIede

Die Einkommensunterschiede wachsen: Einerseits fällt der Lebensstandard der meisten, andererseits steigen die Einkommen von einigen wenigen Reichen. Diese Differenzierung stößt nicht selten auf den Widerstand der Bevölkerung mit ihren stark egalitären Vorstellungen, die auf eine Angleichung der Einkommenspositionen - auch durch soziale Sicherheit - drängt. 17 Zu den Gruppen, die von der Anpassung besonders stark betroffen sind, zählen neben Arbeitslosen kinderreiche Familien, Familien mit Alleinerziehenden, Rentner, Erwerbsunfähige. Das Hauptziel innerhalb der Systeme sozialer Sicherheit für die sozial schwachen Gruppen soll sein, eine Mindestabsicherung zu schaffen (s. oben). Die dafür erforderlichen Mittel können zum erheblichen Teil aus den Mitteln stammen, die durch den Subventionenabbau freigemacht werden (s. weiter unten). In bezug auf die einkommensstärksten Gruppen entsteht dagegen die Frage nach dem Umfang ihrer sozialen Sicherheit Fraglich ist erstens die Effizienz allgemeiner Leistungen, die alle Einkommensgruppen begünstigen, besonders der Preissubventionen, aber auch z.B. des Kindergeldes ohne Rücksichtnahme auf das Familieneinkommen. Zweitens stellt sich die Frage nach Versicherungspflicht- bzw. Beitragsbemessungsgrenzen in den Sozialversicherungssystemen. In beiden Fällen geht es dabei um einen gewissen "trade-off' zwischen den ökonomischen Argumenten (gegen ungezielte, "unnötige" Leistungen oder für eine Versicherungspflichtgrenze) und den politischen Argumenten sozialer Solidarität. VI. Inflation und soziale Sicherheit Die Preiserhöhungen beeinflußten die Systeme sozialer Sicherheit erstens über ihren Einfluß auf den Rückgang von Realeinkommen (s. oben). Die Kaufkraft der Sozialleistungen sowie anderer Einkommensarten sank. Die Preisliberalisierung wurde zweitens auch von der teilweisen Kompensation in Form besonderer Leistungen oder von Zulagen zu bestehenden Leistungen begleitet, und führte somit zu Erhöhungen von Sozialausgaben. 17 Vgl. v. Koroll/cin, Perestroika in der sowjetischen Wirtschaft: Bilanz einer widerspruchsvollen EntwickllDlg, in: Osteuropa-Wirtschaft 1/1992, S. 54 ff. 6 von Maydell/Hohnerlein

82

Maciej Zukowski

Drittens hatte die offene Inflation einen positiven Einfluß auf die Veränderung des Charakters sozialer Sicherheit, indem sie die früher statischen Systeme (mit Leistungen in Nominalwerten, oft viele Jahre lang nicht erhöht) zumindest teilweise zu einer "Dynamisierung" zwang. 18 Schließlich haben die Prei~liberalisierungen durch den Subventionenabbau das Staatsbudget entlastet und Mittel für andere Zwecke, auch im Bereich sozialer Sicherheit, freigemacht. So entstanden Möglichkeiten, das Geld für gezielte Transferzahlungen an die Haushalte zu verwenden, die von den Transformationsprozessen besonders stark betroffen wurden. 19 Diese Entlastungen des Staatsbudgets wurden allerdings durch andere Prozesse meistens mehr als kompensiert. Für die Zukunft schaffen sie jedoch bessere Bedingungen für eine effiziente Gestaltung sozialer Sicherheit

VII. Schlußfolgerungen Die ökonomischen Rahmenbedingungen für die Umgestaltung der Systeme sozialer Sicherheit in den Staaten Mittel- und Osteuropas sind sehr ungünstig. Zum einen sind die Ressourcen, die der sozialen Sicherheit zur Verfügung stehen, sehr knapp. Das resultiert aus sinkender wirtschaftlicher Aktivität, die insbesondere in der Arbeitslosigkeit zum Ausdruck kommt Man hätte Schwierigkeiten gehabt, selbst den aus dem alten System stammenden, relativ großzügigen Verpflichtungen nachzukommen. Der Bedarf an Leistungen sozialer Sicherheit steigt aber noch, weil der durchschnittliche Lebensstandard sinkt und gewisse Gruppen in eine besonders schwierige Lage geraten. Angemessene soziale Sicherheit wird zudem als eine politische Bedingung angesehen, um für die Reformen die nötige Unterstützung durch die Gesellschaften der betroffenen Länder zu erhalten. Die Transformationsprozesse haben aber gleichzeitig begonnen, günstige Bedingungen für die Unterscheidung zwischen den Funktionen der Wirtschaft und der sozialen Sicherheit zu schaffen. Beschäftigung, Löhne und Preise übergeben allmählich die früher ausgeübten sozialen Funktionen an die Systeme sozialer Sicherheit.

11 So hai z.B. in Polen die Hyperinflation im Jahre 1989 die Schwächen der Renieobernessung auf der Basis von den (letzieo) Nominalverdienslen besonders deutlich gezeigt und hat somit einen Anlaß zur Refonn im Jahre 1990 gegeben, die die Höhe der Renie von der Relation der früheren persönlichen Einkommen zu Durchschnittseinkommen abhängig gemacht haL 19 Vgl. EggerlKappellMelzer, (Fn. 9), S. 37.

83

Ökonomische RahmenbedinglDlgen sozialer Sicherheit

Anhang Einige Wirtschaftsindikatoren für Polen, Tschechoslowakei und Ungarn 1990-1992 Indikator

Tschechoslowakei

Polen

Ungarn

1990

1991

19920 )

1990

1991

19920 )

1990

1991

19920 )

-11,6

-7,6

1,0

-{),4

-15,9

-8,5

-3,3

-10,8

-5,0

-24,2

-11,9

4,2

-3,7

-24,7

-14,0

-9,2

-21,5

-12,7

6,1

11,8

13,6

1,0

6,6

5,0

1,7

8,3

12,0

585,8

70,3

43,0

10,0

57,9

12,0

28,9

35,0

23,0

BIP-Wachstwn (%)

Industrieproduktionswachstum (%) Arbeitslosenquote (%) b) Inflationsrate (%)

0)

Schätzungen

b)

zum Jahresende

Quelle: Changes in the Economy. A Comparative Analysis: Czechoslovakia, HlDIgary, Poland, Nr. 6, Warschau 1992; Rzec2pOspolita 1992, verschiedene Nwnrnern.

Diskussionsbericht Auch die zweite Diskussionsrunde stand unter der Leitung von Berghman, der zu Beginn den deutlichen Zusammenhang zwischen diesem nun zu behandelnden Themenkreis und den Themen der ersten Diskussionsrunde hervorhob. Die Akzente, die in dieser Diskussionsrunde gesetzt wurden, unterschieden sich danach, ob man das Schwergewicht eher auf die kurzfristig heranzuziehenden Maßnahmen oder eher auf mittel- und langfristige Perspektiven setzen wollte. Zunächst wurde zum Referat von Haffner angemerkt, daß es zwar zutreffe, daß es in der ehemaligen Sowjetunion eine besondere Schwierigkeit gebe, von innen heraus ein marktwirtschaftliches System schaffen zu müssen. Man müsse aber gleichwohl beachten, daß es etwa in Deutschland auch eine Reihe von sozialen und staatlichen Komponenten neben der rein marktwirtschaftlichen Seite des Wirtschaftssystems gebe, so wie es eben umgekehrt auch in den ehemals sozialistischen Systemen schon immer eine Reihe von privatwirtschaftlichen Elementen gegeben habe. Zu denken sei besonders an die DDR und Polen, dies gelte aber auch für die ehemalige UdSSR. Dort sei jedenfalls schon seit langer Zeit eine Art inoffizieller Tauschwirtschaft praktiziert worden, aus der in der Umbruchphase eine neue Schicht von Händlern hervorgegangen sei. Zu fragen sei, ob dies zugleich die Gruppen seien, auf die man sich in Rußland, aber auch andernorts. zum Auf- bzw. Ausbau eines marktwirtschaftlichen Systems stützen könne. Zu dieser Frage wurde einerseits angemerkt, sie könne nicht einheitlich für alle Länder beantwortet werden, sei so wohl überhaupt nicht zu beantworten. Ergänzend wurde insoweit hinzugefügt, daß es durchaus auch Länder gegeben habe, die über einen offiziellen privaten Sektor wie - z.B. Teile der Landwirtschaft in Polen - verfügt hätten. Andererseits wurde sehr dezidiert verneint, daß die Schwarzhändler des alten Systems als Basis für den Ausbau des neuen marktwirtschaftlichen Systems in Betracht kämen. Denn es handele sich bei ihnen um Akteure der Schattenwirtschaft, deren Qualifikation in erster Linie in einem Unterlaufen des offiziellen Syste1DS bestanden hätte, was jedoch keine marktwirtschaftliche Qualifikation darstelle. Zur Illustration müsse man insoweit auf die Situation in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg verweisen. Auch die Kolchosbauern in der ehemaligen Sowjetunion kämen als "Basisgruppe" nicht in Betracht, da sie keine Bauern in unserem Verständnis mehr gewesen seien, weil die ihnen eingeräumte unternehmerische Freiheit schlichtweg zu gering gewesen sei. In den Zusammenhang der personellen Basis für einen Neubeginn in den Ländern Mittel- und Osteuropas gehörte auch

86

Diskussionsbericht

die Feststellung, daß Umschulungsmaßnahmen für Manager, wie sie bislang in westlichen Ländern praktiziert würden, ohne jede Wirkung bleiben müßten, schon weil sie sehr weit von der Realität in den Herkunftsländern der Fortzubildenden entfernt seien. Notwendig sei die Ausbildung von Studenten und zwar für mehr als nur ein einzelnes Semester sowie die Ausbildung von Praktikern in der Praxis für einen nennenswerten Zeitraum. Für Hilfe in diesem Bereich wie auch in anderen Bereichen müsse gelten, daß man nur in konkrete Projekte und nicht in unsichere Regime investieren sollte. Was Hilfsmaßnahmen insgesamt angeht. so wurde immer wieder auf die äußerst differenzierte Entwicklung in einzelnen Ländern hingewiesen. So könne man nicht einmal mehr von der ehemaligen Sowjetunion sprechen, sondern müsse zwischen zum Beispiel Rußland einerseits und der Ukraine oder Weißrußland, aber auch dem Baltikum andererseits unterscheiden. Die bestehenden Unterschiede hätten ihre Ursache nicht selten im psychologischen Bereich und wirkten sich dort schon bei der Art und Weise der Problemverarbeitung aus. So könne man z. B. deutliche Unterschiede etwa in der Haltung zum Privateigentum - genannt wurden als Gegensatzpaar Bulgarien und Rußland feststellen. Aber selbst in einem einzelnen Land wie Rußland gebe es wegen seiner Größe deutliche regionale Unterschiede. So hätten die Menschen in der russischen Provinz in sehr viel stärkerem Maße als dies bislang wahrgenommen worden sei, schon jetzt Regeln der Marktwirtschaft verinnerlicht und wendeten diese an. Dem Referat von Haffner wurde verschiedentlich kritisch entgegengehalten, daß es sich mit dem Problem der notwendigen gegenwärtigen und kurzfristigen Hilfe für die Länder in Mittel- und Osteuropa entweder gar nicht auseinandergesetzt oder aber die vorgeschlagenen Wege sämtlich verworfen habe. Mit einer eher mittelfristigen Perspektive wurde die Frage aufgeworfen, welche Unterstützungsmöglichkeiten vor allem für die Länder der EG bestünden, um die Konsequenzen der Arbeitslosigkeit. welche notwendigerweise bei einer erfolgreichen Beschreitung eines Weges zur Marktwirtschaft auftreten müsse, zu mildem. Konkret wurde angesprochen, ob es nicht auch ein Interesse der reichen westlichen Länder gebe, während des Gesundungsprozesses zum Beispiel Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen von außen durch finanzielle Unterstützung zu ermöglichen, und so etwa das Zuwanderungs- oder Asylproblem in den westlichen Ländern abzumildern. Hierzu wurde in der Diskussion zunächst betont, daß diese Frage letztlich nicht von den Reformländern, sondern nur von den westeuropäischen Ländern beantwortet werden könne. Es spreche allerdings vieles dafür, daß zum einen solche Unterstützung realisiert werde, daß sie aber zum anderen auch im Interesse westlicher Länder liegen könnte. Gerade was den Nutzen für den Westen angehe, hätten die deutsch-deutschen Erfah-

Diskussionsbericht

87

rungen durchaus Beispielcharakter und könnten insgesamt als ennutigend angesehen werden. Als Beispiel für einen nutzbringenden Einsatz des Instruments der Arbeitsbeschaffungsmaßnahme wurde die Rekultivierung in den Braunkohlegebieten der ehemaligen DDR erwähnt. Es gab insoweit in der Diskussion allerdings auch kritische Stimmen, die darauf verwiesen, daß solche Programme zunächst einmal zu einer Stärkung des alten Systems beitrügen. Schließlich wurde in der Diskussion betont, daß sowohl für die ökonomische als auch für die sozialpolitische Refonn die Schaffung angemessener institutioneller Strukturen vorrangig sei. Dies gelte nicht nur für Rußland, sondern auch für die anderen Staaten in Mittel- und Osteuropa. Insbesondere die Wirtschaft werde dort nach wie vor bürokmtisch dominiert. Es klaffe eine große Lücke zwischen den offiziell erklärten Refonnzielen und den von einzelnen am "Refonnprozeß" Beteiligten tatsächlich verfolgten Zielen. Für die sozialpolitische Refonn müsse man sich im Westen immer wieder vor Augen halten, daß ein vorrangiger Bedarf an Basissicherung in den Reformländern, aber auch z. B. von Institutionen wie der Weltbank gesehen werde. Es könne also nicht darum gehen, lediglich eines der komplexen westlichen Systeme in die östlichen Länder zu transferieren. In diesem Zusammenhang wurde die Konzeptlosigkeit im internationalen Bereich kritisiert, was die möglichen Hilfeleistungen für die Länder Mittel- und Osteuropas angeht. Die während der Diskussion immer wieder aufgeworfene Frage, ob die Gruppen, auf die man nach westlicher Einschätzung bauen würde, und die Vorgehensweisen, die man gleichzeitig im Westen als praktikabel empfehlen würde, überhaupt zusammenpassen, blieb unbeantwortet. Eher versteckt, aber dennoch nicht zu überhören, war der am Ende der Diskussion geäußerte Vorwurf, daß z. B. die veraltete polnische Landwirtschaft durchaus schon heute eine Chance auf dem Weltmarkt hätte, wenn dort Weltmarktregeln und Weltmarktpreise gelten würden; man könnte auch fonnulieren, wenn man wenigstens auf dem Weltmarkt die Bedingungen vorfinden würde, deren Schaffung allenthalben von den Reformländern Mittel- und Osteuropas erwartet wird. ]ürgen Kruse

Zweiter Teil

Grundfragen sozialer Sicherheit in vergleichender Sicht

Der sachliche Anwendungsbereich von Systemen sozialer Sicherheit von Gerhard Igl

I.

11.

Allgemeines - Vorfragen 1. Verständigung über Begriffe 2. Umfeld der sachlichen Gegenstandsbereiche - Zusammenhang mit dem Leistungsrecht 3. Veränderung sozialer Lagen 4. Externalisierende und internalisierende Vorkehrungen Sachlicher Anwendungsbereich sozialer Sicherungssysteme 1. Vorsorgesysteme: Die klassischen sozialen Risiken a) Krankheit aa) Behandlung bei Krankheit - bb) Prävention - ce) Medizinische Rehabilitation - dd) Einkommensersatz bei Krankheit - ee) Schutz der Familienmitglieder b) Mutterschaft und Leistungen im Zusammenhang der Schwangerschaft c) Ein neues soziales Risiko: Pflegebedürftigkeit d) Arbeitsunfall und Berufskrankheiten e) Alter f) Tod/sonstiger Unterhaltsausfall g) Invalidität h) Arbeitslosigkeit i) Andere AIbeitsplatzrisiken: Konkurs des AIbeitgebers j) "Sekundäres" soziales Risiko 2. Andere Systeme als Vorsorgesysteme

90

In.

GemaroI~

a) Familien- und Kinderlastenausgleich b) Rehabilitation aa) Arten der Rehabilitation - bb) EinkommensersatzlUnterhaltssicherung c) Ausbildung d) Qualifizierung der Arbeitskraft e)Wohnen f) Kinder- und Jugendhilfe g) Altenhilfe und besondere Leistungen für alte Menschen: Seniorenförderung 3. Basissicherungssysteme 4. Soziale Entschädigung Ziele zur Gestaltung des sachlichen Anwendungsbereichs

I. Allgemeines. Vorfragen 1. Verständigung über Begriffe

Begriffliche Klärungen dienen dazu, sprachliche und inhaltliche Konventionen über bestimmte Gegenstände zu produzieren. Wenn über "soziale Sicherheit" gesprochen wird, sind - so meint man - solche Konventionen schnell herzustellen: In der internationalen Diskussion wird man sich auf den vorn Übereinkommen 102 der Internationalen Arbeitsorganisation über die Mindestnormen der sozialen Sicherheit erfaBten Gegenstandsbereich beziehen können. l Schwieriger wird es schon bei bilateralen Diskussionen: So versteht man in Frankreich unter sozialer Sicherheit etwas anderes als in der Bundesrepublik Deutschland, wo dieser Begriff übrigens - soweit ersichtlich - nur an einer Stelle, nämlich in § 1 Sozialgesetzbuch (SGB) I Erwähnung findet 2 Nimmt man die Ebene des europäischen Binnenmarktes hinzu, so muß man erkennen, daß in der EG immer mehr von "Sozialschutzsystemen" gesprochen wird. 3Der herkömmliche Begriff der sozialen Sicherheit - noch in Art 4 der Verordnung (EWG) Nr. 140Snl verwendet -, scheint wohl nicht mehr das abzudecken, was bislang als gemeinsames Verständnis von sozialer Sicherheit gegolten hat: 4 Die 1 Erfaßt sind hier: Ämliche BetreulDlg; Krankengeld; Leiswngen bei Arbeitslosigkeit; leistungen bei Alter, Leiswngen bei ArbeitslDlfällen und Berufskrankheiten; FamilienleistlDlgen; leistungen bei Mutterschaft; Leistungen bei Invalidität; LeistlDlgen an Hinterbliebene. 2 Fe/ix Schmid, Sozialrecht und Recht der sozialen Sicherneil Die BegriffsbildlDlg in Deutschland, Frankreich IDId der Schweiz, 1981, S. S2 ff., S6 ff. 3 Bernd Schulte, Sozia1recht, in: Carl OUo Lenz, (Hg.), EG·Handbuch Recht im Binnenmarkt, 1991, S. 333. 4 In Art 4 der VO (EWG) Nr. 1408{71 sind aufgeführt: LeistlDlgen bei Krankheit und Mutterschaft; Leistungen bei Invalidität einschließlich der Leistungen, die rur Emaltung oder Besserung der Erwerbsfähigkeit bestimmt sind; Leistungen bei Alter, Leistungen an Hinterbliebene; Leiswn-

Sachlicher Anwendungsbereich

91

Gemeinschaftscharta der Sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer und das Aktionsprogramm sprechen von "sozialem Schutz", daneben aber auch von "sozialer Sicherheit". Die Europäische Sozialcharta des Europarates trennt noch säuberlich zwischen sozialer Sicherheit (Art. 12) und Fürsorge (Art. 13). Beim Begriff der sozialen Sicherheit lehnt sich die Europäische Sozialcharta an den im Übereinkommen 102 der IAO verwendeten Begriff an. Bei der Durchsicht der weiteren Artikel der Europäischen Sozialcharta wird deutlich, daß die dortigen Nennungen weiterer Schutzbereiche (z.B. in Art. 15 die Rechte der Behinderten auf Eingliederung oder in Art. 16 das Recht der Familie auf sozialen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Schutz) in vielen europäischen Ländern zum sachlichen Gegenstandsbereich der Systeme sozialer Sicherheit gehören. An dieser Stelle soll und kann den neueren begrifflichen Entwicklungen nicht nachgegangen werden. Für den nachfolgenden Beitrag soll ein verhältnismäßig weiter Begriff der sozialen Sicherheit zugrunde gelegt werden, damit nicht schon von vornherein wichtige Gegenstandsbereiche ausgeschlossen sind.

So sollen auf der Ebene der Vorsorgesysteme die Sozialversicherungen inklusive der dienstrechtlichen Vorkehrungen, also das, was funktional bei öffentlich Bediensteten dem Schutz aus den Sozialversicherungen entspricht, einbezogen sein. Weiter sollen einbezogen sein die bedarfsorientierten Basissicherungssysteme, insbesondere also die Sozialhilfe, die Wohn- und die Ausbildungsförderung. Der Blick sollte auch offengehalten werden für das, was zum Familienlastenausgleich und zur Familienförderung gehört. Mit den sozialen Entschädigungssystemen ist es hingegen nicht so einfach: Nach einem sehr breiten internationalen Verständnis rechnet etwa die Kriegsopferversorgung nicht zur sozialen SicherheitS Gleiches gilt für andere Systeme, die staatliche Verantwortlichkeit zur Geltung bringen: so die Entschädigung von Verbrechensopfern, die eher spärlich vorzufinden ist, oder die Entschädigung bei bestimmten Gesundheitsschädigungen, etwa wie in der Bundesrepublik Deutschland bei Zwangsimpfungen. Die aktuellen politischen Fakten im geographischen Raum gerade der Regionen, über deren soziale Sicherheit in diesem Kolloquium gesprochen wird, lassen den Betrachter sehr schnell die Überzeugung gewinnen, daß ein Ausschluß der Kriegsopferversorgung aus der Erörterung des Gegenstandsbereiches der sozialen Sicherheit nicht tunlieh sein kann.

gen bei Arbeitsunfillen und Berufskrankheiten; Sterbegeld; Leistungen bei Arbeitslosigkeit; Familienleistungen. S Dazu unten IT. 4.

92

Gerbard 191

Für das weitere Vorgehen soU deshalb ein offener und weiter Begriff der sozialen Sicherheit zugrunde gelegt werden. Die Sozialrechtsvergleichung hat in mittlerweile zahlreichen Einzeluntersuchungen gezeigt, daß trotz eines weitgehend konformen internationalen, zumindest aber regionalen Verständnisses über die Gegenstände sozialer Sicherung auf der Ebene der einzelstaatlichen Sicherungssysteme ganz erhebliche Unterschiede über Ausgestaltung und Schutzumfang existieren können. 2. Umfeld der sachUchen GegenstandsbereIche Zusammenhang mit dem Lewtungsrecht

Bei der Beschreibung des sachlichen Anwendungsbereiches sozialer Sicherheit ist darauf zu achten, daß die Benennung der verschiedenen Felder des sachlichen Anwendungsbereiches (z.B. Schutz bei Krankheit, Schutz bei Invalidität) zunächst nur den Rahmen absteckt. Innerhalb dieses Rahmens ergeben sich jedoch Fragen nach der Konkretisierung: Bei Krankheit erhebt sich etwa die Frage, ob nur ärztliche Behandlung bei eingetretener Krankheit oder auch Vorsorgeleistungen zur Vermeidung von Krankheit geleistet werden; bei Invalidität muß gefragt werden, ob auch Rehabilitation zur Vermeidung von Invalidität geleistet wird. Es sind also nicht die Benennungen der sachlichen Gegenstandsbereiche, die im Vordergrund der Betrachtungen stehen, sondern die jeweiligen Konkretisierungen, also der konkrete, durch bestimmte Sozialleistungen umgesetzte Risikoschutz. Gerade bei Risiken im Zusammenhang der Gesundheit bestimmen letztlich die Leistungen den sachlichen Gegenstandsbereich des Sicherungssystems,6 3. Veränderung sozialer Lagen

Soziale Bedarfslagen verändern sich, gestalten sich um, treten als neue hinzu. Die Systeme sozialer Sicherheit nehmen solche veränderten - umgestalteten - neuen Bedarfslagen ganz unterschiedlich auf. Jüngere Beispiele sind aus dem Bereich der Sicherung bei Pflegebedürftigkeit, beim Risiko Alter und aus dem Komplex Invalidität/Alter/Arbeitslosigkeit, bekannt. Die sozialen Sicherungssysteme der verschiedenen Länder .reagieren sehr unterschiedlich auf solche Veränderungen, die mit dem sachlichen Gegenstandsbereich zu tun haben. Eine wichtige Frage bei der Umgestaltung der Systeme sozialer Sicherheit in den Staaten Mittel- und Osteuropas ist deshalb, wie soziale Sicherungs6 Dies wird immer wieder deutlich, wenn die Leistungen der Krankenversicherung aus Kostengründen reduziert werden; zur Situation in Frankreich: Francis Kessler, Krankenversicherung in Frankreich - Neue Entwickbmgen in den 80er Jahren, in: Zeitschrift für ausländisches und internationales Arbeits- und Sozialrecht 1989, S. 47 ff., 57 ff.

Sachlicher Anwendungsbereich

93

systeme, die sich neu orientieren müssen, gleichzeitig solche Veränderungen bewältigen können. 4. ExternaUslerende und InternaUslerende Vorkehrungen

Fast schon zu den sozialrechtlichen Binsenweisheiten zählt die Erkenntnis, daß sozialer Schutz nicht nur im System der sozialen Sicherheit stattfmdet, also dort, wo besondere Sicherungsinstitutionen mit besonderen Techniken und Instrumenten - wie Zacher7 es nennt: externalisierend - diesen Schutz bewirken, sondern auch an vielen anderen Orten, so im Zusammenhang des Arbeitsverhältnisses, etwa bei einer das Krankengeld ersetzenden Lohnfortzahlung, oder im Zusammenhang des Steuerrechts, wo in der Bundesrepublik Deutschland der Familienlastenausgleich im Rahmen eines sog. dualen Systems neben den Sozialleistungen des Kinder- und Erziehungsgeldes bewirkt wird. Der Schutz und die Förderung behinderter Arbeitnehmer ist ein Beispiel für ein geradezu multifaktorielles Zusammenwirken verschiedener Instrumente und Techniken. Das internationale Recht, insbesondere das EG-Recht, hat mit solchen - wiederum nach ZacherS - internalisierenden Schutzweisen zum Teil ganz erhebliche Probleme. So ist die für die monetäre Alterssicherung in manchen Ländern, so etwa Frankreich, sehr bedeutsame betriebliche Altersversorgung in der EG noch nicht "wanderungsfähig" gemacht worden. Auch in diesem Zusammenhang erhebt sich die Frage nach dem Gegenstandsbereich sozialer Sicherheit Wahrscheinlich ist die Frage nach dem Zusammenspiel externalisierender und internalisierender Schutzweisen sogar die Frage, die bei der Umgestaltung sozialer Sicherungssysteme mit die größten Schwierigkeiten aufwerfen wird. Es verbergen sich hinter dieser Frage nicht nur Probleme der effIZienteren Zuordnung von Sicherungsweisen. Vielmehr ist die Zuordnung von Sicherungen je auf internalisierende oder externalisierende Weise von den Wirtschaftsordnungen dominiert. So ist die Rolle betrieblicher Sozialpolitik in marktwirtschaftlichen Ordnungen anders zu definieren als unter sozialistischen Vorstellungen. In marktwirtschafüichen Ordnungen kommt der betrieblichen Sozialpolitik generell ein geringerer Stellenwert zu als in sozialistischen Gesellschaftssystemen.9

Hans F. Zacher, Zur Anatomie des Sozialrechts, in: Sozialgesetzbuch 1982, S. 329 ff., 330 f. Zacher (Pn. 7), S. 331 f. 9 Für die ehemalige DDR Ulrich Lohmann, Das Arbeitsrecht der DDR, 19!r1, S. 72 ff.

7 8

94

Gemard Igl

11. Sachlicher Anwendungsbereich sozialer Sicherungssysteme I. Vorsorgesysteme: Die klassischen sozialen Risiken

Unter Vorsorgesystemen 10 sollen hier alle Systeme verstanden werden, die den Schutz für insbesondere die klassischen sozialen Risiken besorgen. Man nennt diese Risiken auch "primäre" soziale Risiken in Unterscheidung zum "sekundären" sozialen Risiko. 11 Im folgenden sollen stets zunächst der sachliche Umfang des Risikos und dann die durch dieses Risiko ausgelösten Bedarfe erörtert werden. In Sozialversicherungssystemen wird der Schutz bei Eintritt dieser Risiken in den Versicherungszweigen gewährt. Funktional entsprechend können jedoch auch andere Systeme als Versicherungssysteme diesen Schutz bieten. So können bei öffentlich Bediensteten (insbesondere bei Beamten, Richtern, Militärpersonen) und bei besonderen Gruppen, etwa bei Abgeordneten von Parlamenten, andere Systeme, die bei den genannten Gruppen steuerfmanziert sind, diesen Schutz besorgen. a) Krankheit aa) Behandlung bei Krankheit Der Kern des Risikos Krankheit ist der von der Norm abweichende Körperoder Geisteszustand. Die direkt entsprechende Bedarfslage ist die Behandlung dieses normwidrigen Zustandes mit dem Ziel der Herstellung des normgerechten Zustandes. 12 Aber nicht alles, was Behandlung ist und nicht alles, was Herstellung des normgerechten Zustandes ist, wird diesem Risiko zugeordnet. So wird anhand des von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) entwickelten dreigeteilten Behinderungsbegriffes 13 deutlich, wo das Risiko Krankheit in den Komplex des Gesundheitsschadens einzuordnen ist In der Dreiteilung Schaden 10 Zu dieser Unterscheidung Hans F. Zacher, Einführung in das Sozialrecht der Bundesrcpublik Deutschland, 3. Aufl., 1985, S. 17 ff. Diese Unterscheidung hat sich mittlerweile eingebürgert, Bertram Scludin, Sozialrecht, 4. Aufl., 1991, S. 15 ff. 11 Dazu unten l.j). 12 In den Regelungen zur Krankenversicherung wird das Risiko der Krankheit nicht immer defmiert, sondern als gegeben vorausgesetzt. So enthält das deutsche Krankenversicherungsrecht keine gesetzliche Deftnition hierfür, sondern greift auf eine von der Rechtsprechung geprägte Formel zurück: Krankheit ist demnach ein regelwidriger körperlicher oder geistiger Zustand, dessen Eintrin Behandlungsbedürftigkeit und/oder Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat. S. SchuJin (Fn. 10), S. 96. Auch im französischen Code de la securite sociale ist Krankheit nicht gesetzlich defmiert. 13 World Health Organization, International Classiftcation cf Impairments, Disabilities and Handicaps, Geneva 1980, S. 11 ff.

Sachlicher Anwendungsbereich

95

(impainnent) - Funktionsminderung oder -verlust (disability) - soziale Benachteiligung (handicap) findet das Risiko Krankheit seinen Platz an der Stelle des Schadens. Die mehr oder weniger dauerhafte Schädigung, die einer Behebung nicht mehr zugänglich ist, wird nicht (mehr) als Krankheit verstanden. 14 Funktionsverluste oder -minderungen sind nicht Krankheit. Personen, die die Funktionen der Selbstbetreuung nicht mehr wahrnehmen können, sind nicht mehr krank, sondern "hilfeabhängig" , oder in der rechtlichen Terminologie: pflegebedürftig. 15 Benötigen Personen, die bestimmte Funktionen nicht mehr wahrnehmen können, Hilfsmittel, so erhalten sie diese nicht, weil sie krank sind, sondern weil sie behindert sind. Das deutsche Recht exemplifiziert dieses sehr schön an der Hilfsmittelvorschrift, in der die Hilfsmittelgewährung unter Überschreitung des Krankheitsbegriffes auch für behinderte Personen stattfmdet. 16 In der Gleichsetzung von Krankheit mit Schaden noch nicht impliziert ist die Frage, wer den Schaden zu beheben hat. In wohl allen modernen sozialen Sicherungssystemen kommt diese Funktion dem ärztlichen und dem paramedizinischen Personal zu. Dies bedeutet dann in Verfolgung des sachlichen Anwendungsbereiches, daß Krankheit derjenige normabweichende Zustand ist, der gerade einer Behandlung durch dieses medizinische und paramedizinische Personal zugänglich ist. Naturgemäß treten bei einer solchen Betrachtungsweise Probleme hinsichtlich der Bestimmung des Personals auf: SoUen auch nichtärztIiche Heilberufe einbezogen werden, sollen sog. Außenseiter und deren Methoden einbezogen werden?17 Einen besonderen Hinweis verdient im Zusammenhang des Schutzes des Risikos Krankheit die Geriatrie, also derjenige Zweig der Medizin, der sich mit den Krankheiten alter Menschen befaßt. 18 Die besonderen Krankheitsbilder des älteren Menschen und die Phänomene der Multimorbidität werden zwar theo14 Eine Ausnahme macht hier das niederländische Krankenversicherungsrecht. Dort wird in einern Gesetz über besondere medizinische Kosten nicht begrifflich zwischen Krankheit und Pflegebedürftigkeit unterschieden, sondern es wird eine Zeitgrenze der Dauer der Behandlungsbedürftigkeit angebracht. S. die Beschreibung bei Monika GabanyilS/e[an MaylMarlals SchMider, Absicherung des Pflegerisikos am Beispiel ausgewählter europäischer Länder, 1992, Forschungsbericht 218, hrsg. vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, S. 101 Cf. IS In englischer Terminologie: in need o[ care; in französischer Terminologie: persofl1leS dipendan/es, oder: personnes ayant perdu lew autonomie. S. zur Pflegebedürftigkeit unten c). 16 § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V. 17 S. Bertram Schulin, Die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen bei der Anwendung von Außenseitermethoden nach dem SGB 5, in: Zeitschrift für Sozialreform 1990, S. 502 Cf.; Helmut Markgraf, alternative Heilrnethoden unter der Geltung des SGB V im Lichte der neueren (Bundessozialgerichts-)Rechtsprechung, in: Die Ortskrankenkasse 1990, S. 667 Cf. 18 Hierzu etwa Elisabeth S/einhagen-ThiessenlWolfgang GeroklMarlalS Borchel/. Innere Medizin und Geriatrie, in: Paul B. Bal/eslJÜTgen Millels/rap, Zukunft des Altems und gesellschaftliche Entwicklung, 1992, S. 124 ff.

96

Gerhard 191

retisch unter den Krankheitsbegriff gefaßt, werden jedoch oft praktisch - aus vielen, hier nicht darstellbaren Gründen 19 - nicht entsprechend behandelt. bb)Prävention Definiert man das Risiko der Krankheit im Kern von der eingetretenen Normwidrigkeit her, so ist es selbstverständlich, daß auch die Verhinderung des Eintritts dieser Normwidrigkeit als sicherungswürdig erachtet wird. 20 Schwierig ist nur, wie man die verschiedenen Bereiche, die man heute mit dem Terminus der Prävention versieht - also schon die Herstellung einer gesundheitsfreundlichen Umwelt, das gesundheitsfreundliche Individualverhalten bis hin zur Früherkennung bereits eingetretener Krankheiten -, den sozialen Sicherungssysternen zuordnen kann. Die Leistungskataloge der Krankenversicherung sind meist als individualrechtliche Anspruchsberechtigungen ausgestattet. nicht als objektivrechtliche Ermächtigungen der Krankenversicherungsträger. Trotzdem nimmt moderner Krankenversicherungsschutz die Vorsorgeanliegen heute stärker auf als es der Individualrechtsansatz vermuten ließe. Allerdings muß immer dann, wenn der Schutz für den Risikofall Krankheit nicht über ein öffentliches Gesundheitssystem, sondern über Sozialversicherungen bewerkstelligt wird, ein gewisses hurden sharing zwischen dem allgemeinen Gesundheitswesen und den Krankenversicherungsträgern bei den Präventionsaufgaben vorgenommen werden. Auch die Betriebe sind in diese Aufgabe einzubeziehen. cc) Medizinische Rehabilitation Schwierigkeiten der sachlichen Zuordnung zum Risiko der Krankheit kann man bei der medizinischen Rehabilitation haben. Rehabilitation kann präventiv, zur Vermeidung von Krankheit, zur Vermeidung einer Verschlimmerung von Krankheiten eingesetzt werden, auch zur Vermeidung von Funktionsverlusten, wie etwa bei der mit dem Gesundheits-Reformgesetz eingeführten Rehabilitation zur Vermeidung von Pflegebedürftigkeit. 21 Rehabilitation kann auch zur Vermeidung von Invalidität dienen, also letztlich der Erhaltung der Arbeitskraft zugute kommen. Bei der Umgestaltung von sozialen Sicherungssystemen wird man sich der Frage stellen müssen, ob - ganz allgemein auf Rehabilitation bezogen, nicht nur auf die medizinische Rehabilitation - Rehabilitation aus den verschiedenen risikospezifischen Sozialleistungsbereichen herausgenommen und einer besonderen Trägerschaft zugeführt wird, oder ob Rehabilitation wei19 In der Bundesrepublik ist die Geriatrie schon innerhalb der Medizin ein vernachlässigter Zweig. Sachverständigenral für die Konzenierte Alction im Gesundheitswesen, Jahresgutachten 1990, Herausforderungen und Perspektiven der Gesundheitsversorgung, S. 72 ff. 20 Bertram Schulin, So7ialrecht, 4. Aufl., 1991, S. 95. 21 § 23 Abs. 1 Nr.3 SGB V.

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testgehend und dann jeweils risikonah bei den verschiedenen LeistWlgsträgern bleibt. Die Erfahrung zeigt immerhin, daß auch die Länder, die die Rehabilitation ausgegliedert und in besonderer Trägerschaft haben, so etwa Belgien,22 immer wieder auf die einzelnen SozialleistWlgsträger auch bei der Rehabilitation zurückgreifen. 23 dd) Einkommensersatz bei Krankheit Das Risiko Krankheit kann neben dem Behandlungsbedarf auch noch andere soziale Bedarfslagen erzeugen. Beim Erwerbstätigen ist dies der durch eine mögliche Arbeitsunfähigkeit entstehende Bedarf an Einkommensersatz. Der Träger des Risikos Krankheit übernimmt in der Regel auch diesen Einkommensbedarf. In vielen Ländern greifen hier, zumindest für eine bestimmte Dauer, auch RisikodeckWlgen seitens des Betriebes oder über Tarifverträge. 24 Der Einkommensersatz bei Krankheit ist typischerweise zeitlich zu begrenzen. Krankengeld soll keine Rentenleistung werden. Jedoch soll das Krankengeld den Versicherten in die Lage setzen, in seiner bisherigen Tätigkeit zu verbleiben. Deshalb kann beim Krankengeld - anders als etwa beim langfristigen Einkommensersatz aufgrund von Invalidität - grWldsätzlich nicht erwartet werden, daß der Versicherte sich auf eine anderweitige Erwerbstätigkeit verweisen läßt 25 ee) Schutz der Familienmitglieder Das Risiko, auch für seine unterhaltsberechtigten Angehörigen, insbesondere für die Familienmitglieder, Kosten für die KrankenbehandlWlg übernehmen zu müssen, ist für den Unterhaltsverpflichteten kein Krankheitsrisiko, sondern ein Unterhaltsrisiko, das systematisch dem Familienlastenausgleich zuzuordnen ist Dieses Risiko wird jedoch gemeinhin in den sozialen SicheTWlgssystemen von dem Träger des Krankheitsrisikos übernommen. Zum Familienlastenausgleich gehören auch die häufig dem Träger des Krankheitsrisikos zugeordneten Leistungen bei krankheitsbedingtem Ausfall der häuslichen 22 Gerhard [gi, Das Sozialrecht der Behinderten in Westeuropa: die Konzeption in Belgien, Frankreich, England und in der Bundesrepublik Deutschland, in: Zeitschrift für Sozialhilfe 1981, S.161 ff. 23 Dies gilt auch für Frankreich: Gerhard [gi, Pflegebedürftigkeit und Behinderung im Recht der sozialen SicherheiL Eine rechtsvergleichende Untersuchung für die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich, 1987, S. 314 CC. :IA Rolf BirklRoland AbelelCorinne Kasel-SeibertlHelnuU Maurer, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall - vergleichender Überblick über das Recht der EG-Staaten, Österreichs und der Schweiz, in: Zeitschrift für ausländisches und internationales Arbeits- und Sozialrecht 1987, S. 45 ff., S. 159 ff. 2S SchuJin (Fn. 20), S. 102 Cf. 7 von Maydell/Hohnerlein

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Betreuungsperson (mit der Leistung der Haushaltshilfe, oder, wenn der Erwerbstätige zuhause betreuen muß, mit der Leistung von Einkommensersatz). 26 b) Mutterschaft und Leistungen im Zusammenhang der Schwangerschaft Mutterschaft ist nicht mit Krankheit gleichzusetzen. Wegen der medizinischen und paramedizinischen Leistungen, die bei Mutterschaft einschlägig sind, bietet es sich jedoch an, diesen Versicherungsfall bei der Krankenversicherung anzusiedeln. 27 Gleiches gilt für einen möglichen Einkommensersatz während der Mutterschaft. Hier können aber auch wieder die Betriebe herangezogen werden. Zu den Leistungen im Zusammenhang einer Schwangerschaft können Leistungen der Schwangerschaftsunterbrechung zählen. 28 c) Ein neues soziales Risiko: Pflegebedürftigkeit Pflegebedürftigkeit ist genau genommen kein neues soziales Risiko. Pflegebedürftigkeit wird auch in vielen Ländern bereits sozialrechtlich erfaßt 29 Die demographischen Veränderungen im Bevölkerungsaufbau, die zu einem größeren Anteil an Hochbetagten und damit an pflegebedürftigen Menschen führen, machen jedoch eine umfassende Sicherung dieses Risikos erforderlich. In vielen Ländern - in der Bundesrepublik Deutschland seit nun zwanzig Jahren 30 - wird die Verbesserung des sozialen Schutzes bei Pflegebedürftigkeit diskutiert. Im Grunde geht es darum, für das Risiko der Pflegebedürftigkeit einen den anderen sozialen Risikosicherungen vergleichbaren Schutz zu schaffen. Soweit ersichtlich, existiert in keinem europäischen Land, auch nicht mit der österreichischen Neuregelung,31 ein Teilsystem sozialer Sicherheit, das sich, wie etwa die Krankenversicherung oder die Unfallversicherung, ausschließlich diesem Risiko widmet. In der Regel erhalten pflegebedürftige Personen Leistungen aus verschiedenen Sicherungssystemen, wobei oft noch die Sozialhilfe der zentrale Leistungsträger ist In einigen Ländern sieht das Krankenversicherungsrecht Pflegeleistungen vor. 32 26 §45 SGB V. 'EI Dies ist sogar in den meisten sonalen Sichenmgssystemen der Regelfall.

28 S. die zwar nicht in die KodifIzierung des SGB V aufgenommenen Lcisnmgen bei Schwangerschaftsabbruch, die jedoch von den Krankenkassen gewährt werden, §§ 200 f, 200 g Reichsversicherungsordnung (RVO). 29 Für Europa die Übersicht bei GabanyüMaylSchneiihr, oben Fn. 14. 30 Zusammenfassung der Diskussion bei Gerhard [gi, Leistungen bei Pflegebedürftigkeit, 1992, S. 1 ff. 31 Bundespflegegesetz - BPGG (Bundesgesetzblau für die Republik Österreich 1993, S. 1221). 32 GabanyüMaylSchneiihr, oben Fn. 14.

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Trotz der immer noch mangelhaften Erfassung dieses Risikos sollte bei der Umgestaltung der sozialen Sicherungssysteme in den mittel- und osteuropäischen Ländern dieses Risiko nicht vernachlässigt werden. Vielmehr empfiehlt es sich gerade hier, die Chance der Umgestaltung zu nutzen und eine entsprechende Sicherung vorzusehen. Von der Sache her stellt sich Pflegebedürftigkeit zunächst als sehr einfach strukturiertes Risiko dar: 33 wenn eine Person nicht mehr in der Lage ist, die Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens (z.B. in den Bereichen Hygiene, Bewegung, Nahrungsaufnahme etc.) zu vollführen, sie also fremder Hilfe bedarf, so ist sie - je nach Terminologie - hilflos, abhängig, pflegebedürftig. Pflegebedürftige Personen werden in der Regel zuhause oder aber in Einrichtungen versorgt Personen, die die Pflege verrichten, können Laien sein, also etwa Familienangehörige, oder es kann sich um semi- oder vollprofessionelles Personal handeln. Eine soziale Sicherung bei Pflegebedürftigkeit muß die verschiedenen Orte der Pflege und das unterschiedliche Personal in Betracht ziehen. Häusliche Pflege muß die sogenannte Grundpflege - also die Hilfe bei den Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens -, aber auch die hauswirtschaftliche Versorgung umfassen. Bei der pflegerischen und sonstigen Versorgung in einer Einrichtung können die sog. Hotelleistungen wie Unterkunft und Essen ausgeschlossen sein. 34 d) Arbeitsunfall und Berufskrankheiten Die Versicherung bei Arbeitsunfällen und bei Berufskrankheiten ist derjenige Versicherungszweig in der sozialen Sicherheit, der wohl die geringsten Probleme im Zusammenhang der Umgestaltung von sozialen Sicherungssystemen aufwirft Der Kern des Schutzes besteht gegenüber dem Arbeitsunfall im "engeren Sinn", also dem Unfall, den der Arbeitnehmer bei einer versicherten Tätigkeit erleidet. Was "versicherte Tätigkeit" darstellt, sollte dabei nach materialen, nicht nach formalen Kriterien entschieden werden. Die Betriebsnützigkeit einer Tätigkeit ist deshalb das entscheidende Zuordnungselement, nicht etwa die Tatsache, daß sich der Unfall während der Arbeitszeit oder auf dem Werksgelände ereignet hat Der sachliche Schutzbereich der Arbeitsunfallversicherung ist in der Regel ausgedehnt worden auf den Wegeunfall und auf die Berufskrankheiten sowie (Fn. 30), S. 9 ff. Dies wird für die geplante Pflegeversicherung in der Bundesrepublik Deutschland vorgesehen, so nach den Hinweisen in: Sozialpolitische Infonnationen vorn 14. Juli 1992, Nr. 11, hrsg. vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung. 33 [gi

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auf bestimmte andere, im Zusammenhang der versicherten Tätigkeit stehende Verrichtungen. Beim Wegeunfall ergibt sich stets das Problem der zeitlichen und räumlichen Begrenzung des Schutzes. Eindeutige - formale - gesetzliche Vorgaben können dieses Problem nur vordergründig lösen. 35 Bei den Berufskrankheiten hat sich das System der sog. Listenkrankheit bewährt, wobei die Möglichkeit, von diesem starren System abzuweichen, offengehalten werden muß.36 Die Ausdehnung des sachlichen Schutzbereichs der Unfallversicherung hat in vielen Ländern dazu geführt, daß zahlreiche Verrichtungen, die noch in einem gewissen Zusammenhang mit einer versicherten Tätigkeit stehen, also etwa der Gang zum Arbeitsamt, die Durchführung einer beruflichen Rehabilitationsmaßnahme etc. in den Kreis der geschützten Verrichtungen aufgenommen worden sind. Bei allen diesen Erweiterungen ist zu berücksichtigen, daß ein Arbeitsverhältnis Grundlage und Ausgangspunkt des Schutzes ist. Die Unfallversicherung ist jedoch in ihrem sachlichen Gegeostandsbereich weit über den eigentlichen Arbeitsunfall hinaus erweitert worden. Noch in einem gewissen Zusammenhang mit der Vorstellung des Arbeitnehmerschutzes stehen Erweiterungen des Versicherungsschutzes, bei denen ein Arbeitsverhältnis nicht gegeben ist, jedoch gearbeitet wird. Zahlreiche Verrichtungen, die als gesellschaftlich wertvoll anerkannt werden, die aber nicht in einem Arbeitsverhältnis stattfinden und für die auch kein Entgelt gezahlt wird, genießen Unfallversicherungsschutz. 37 Demgegenüber fallen aus der Systematik des Arbeitsunfallversicherungsschutzes die Sicherungen für Personen, die als Lebensretter oder als Verfolger von Verbrechern tätig werden. Ratio der Schutzgewährung ist hier die Verpflichtung des Staates, von ihm verantwortete (Gesundheits-)Schäden zu ersetzen. Ob solcher auf dem Gedanken der sozialen Entschädigung beruhende Schutz in einem Gesetz gerade über die Arbeitsunfallversicherung oder systematisch nicht doch besser in einem Gesetz über soziale Entschädigungsmaßnahmen seinen Ort fmden soll, ist eine eher zweitrangige Frage.

35 So hat die deutsche Rechtsprechung versucht, eine zeitliche Begrenzung mit der 2-StundenKlausel anzubringen. Diese Klausel hilft aber schon nicht mehr bei längeren Heimreisen voo ausländischen A!beitnehmem; Sclwlin (Fn. 20), S. 152 ff. 36 § 551 Abs. 2 RVO. 31 Etwa ehrenamtlich Tätige (§ 539 Abs. 1 Nr. 13 RVO) oder Blut- und Organspender (§ 539 Abs. 1 Nr. 10 RVO). Hiemer gehört auch die Frage, ob Personen, die einen Angehörigen pflegen und voo diesem Geldleistungen emalten, in einem Beschäftigungsverhältnis stehen; kritisch hierzu Georg Ti/lmann, Versicherten- und Unternehmereigenschaft von Pflegern und Pflegebedürftigen in der gesetzlichen Unfallversicherung bei häuslicher Pflege, in: Die Berufsgenossenschaft 1993, S. 108 ff.

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e) Alter In der Regel greifen die sozialen Sicherungssysteme aus den mit dem Alter verbundenen Bedarfslagen nur den Einkommenssicherungsbedarf heraus. Andere Bedarfslagen, wie die altersspeziftsche gesundheitliche und pflegerische Betreuung, insbesondere auch eine Heimunterbringung, werden in der Regel nicht dem Sicherungszweig zugeordnet, der die monetäre Alterssicherung besorgt. Ausnahmsweise kann dieser Sicherungszweig auch andere Leistungen geben: Aus Frankreich ist beispielsweise bekannt, daß dort über einen der Altersversicherungskasse zugeordneten Sozial fonds Leistungen einer Haushaltshilfe für alte Menschen finanziert werden. 38 Eine der zentralen Grundentscheidungen in Hinblick auf die Einrichtung einer Alterssicherung im Rahmen der sozialen Sicherungssysteme betrifft ihren systematischen Ort im Rahmen des Komplexes der monetären Fazilitäten im Alter überhaupt Monetäre Alterssicherung - und nur von dieser soll im folgenden zunächst die Rede sein - ist praktisch in jedem Land ein compositurn mixturn aus öffentlichen und privaten Sicherungsformen. 39 Häufig setzt sich dieses compositum mixtum - zumindest theoretisch - aus drei Schichten zusammen: einer Schicht der öffentlichen und steuerfinanzierten Grundsicherung, einer Schicht der öffentlichen und beitragsfmanzierten Haupt- oder Regelsicherung, und einer Schicht der betrieblichen Aufbausicherung. Dazu mögen dann noch private, zum Teil öffentlich, d.h. steuerlich, initiierte Sicherungen treten. Der sachliche Gegenstandsbereich einer öffentlichen Alterssicherung kann sich bei solchen Schichtenmodellen immer nur in Abhängigkeit zur bezweckten Gesamtsicherung und in Abhängigkeit zu den einzelnen Teilen dieser Gesamtsicherung defmieren. So müssen z.B. in einem Alterssicherungssystem, dessen Hauptsicherung stark an der Höhe der während der Erwerbstätigkeit gezahlten Beiträge orientiert ist, entweder in dieser Hauptsicherung selbst oder aber in einem daruntergelagerten Grundsicherungssystem Vorkehrungen zur Sicherung eines Altersexistenzminimums getroffen werden. Sind die Leistungen eines Hauptsicherungssystems weit von dem zuletzt in der Erwerbsbiographie erzielten Erwerbseinkommen entfernt, so müssen durch darübergelagerte Systeme entsprechende Sicherungen geschaffen werden. Auf diesem Hintergrund erklärt sich die für manche zunächst schwer verständliche Tatsache, daß in Frankreich seit 1972 die betriebliche Altersversorgung für die Sozialversicherten obligatorisch geworden ist Das französische Hauptsicherungssystem der Altersversicherung leistet maximal 50% des zuletzt erzielten Einkommens in-

Igl (Fn. 23), S. 506 ff. Dazu insgesamt Hans F. Zac~r, Ziele der Alterssichenmg und Formen ihrer Verwirklichung, in: Zacher, Hans F. (Hg.), Alterssichenmg im Rechtsvergleich, 1991, S. 25 ff., 31 Cf. 38

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nerhalb der Bemessungsgrenze als Altersrente. 4O Die Notwendigkeit der Abstimmung der verschiedenen Sicherungsschichten untereinander und aufeinander sollte nicht unterschätzt werden. In der Bundesrepublik ist die betriebliche Altersversorgung - auf dem Hintergrund ihrer Entstehungsbedingungen erklärbar - in dieser Hinsicht ziemlich problematisch. 41 Sehr allgemein gesagt dient sie vor allem der verbesserten Alterseinkommenssicherung für diejenigen Erwerbstätigen, die bereits während des Erwerbslebens gute Einkommenschancen hatten.42 Die Hauptfunktion der monetären Alterssicherung liegt in der Leistung eines Ersatzeinkommens ab einem Alter, in dem typischerweise, nicht aber unbedingt. Erwerbstätigkeit aufgegeben wird. Alterssicherung reagiert damit zum einen auf individuelle biographische Belange, zum anderen aber auch auf Belange des Arbeitsmarktes. Belange des Arbeitsmarktes sind es auch, die dazu geführt haben, die Alterssicherung als zusätzliches arbeitsmarktpolitisches Sicherungsinstrument einzusetzen. Die Diskussion und die Regelungen zum Vorruhestand sind Ausdruck dieser Problematik. Die Herabsetzung von Regelaltersgrenzen für den Rentenbezug, kombiniert mit zusätzlichen Voraussetzungen wie Invalidität oder Arbeitslosigkeit. ist in vielen Ländern gebräuchlich geworden. Auch die manchmal günstigeren Altersgrenzen für Frauen stehen in einem Bezug zur Arbeitsmarktpolitik: Sie sollen Frauen für schlechtere Erwerbschancen am Arbeitsmarkt entschädigen. 43 Zum sachlichen Gegenstandsbereich der Alterssicherung gehört auch die Frage, ob und inwieweit die Alterssicherung Funktionen des Familien- und insbesondere des Kinderlastenausgleichs übernehmen soll. Dieser Frage haben sich alle Alterssicherungssysteme zu stellen, die in der Ausgestaltung ihrer Sicherung stark an der Erwerbsbiographie orientiert sind. In solchen Systemen ist es erforderlich, Ausgleichsmechanismen in der Alterssicherung für sog. gesellschaftlich wertvolle, aber nicht entgoltene Tätigkeit zu fmden. Die Anerkennung von Kindererziehungszeiten in der Alterssicherung,44 auch die Aner-

40 Gerhard IgllOlto KaufmiJnn, Landesbericht Frankreich, in: Zacher (Fn. 39), S. 225 ff., 249; Olto KaufmiJMlFrancis Kessler, Frankreich. Schutz gegen soziale Risiken in Frankreich, in: Das Recht der Arbeit 1989, S. 233 ff., 239. 41 Insgesamt zur betrieblichen Altersversorgung in de~ Bundesrepublik Bertram Schulin, Betriebliche Altersversorgung - Funktionen und Regelungsprobleme. Landesbericht Bundesrepublik Deutschland, in: Zeitschrift für ausländisches und internationales Arbeits- und Sozialrecht 1988,

S.lOff. 42 Aufschlußreich ist hier die Berichterstattung der Bundesregierung (Deutscher Bundestag, Drucksache 10/2681), die leider nicht mehr weitergeführt worden iSL 43 Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bd. 74,163,178. 44 Zur Situation in der EG HelmuJ CreUlz, Die Auswirkungen von Zeiten der Kindererziehung auf die Alters- und Hinterbliebenenversicherung in den Mitgliedstaaten der EG, in: Deutsche Rentenversicherung 1992, S. 611 ff.

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kennung von Zeiten der pflegerischen Versorgung Angehöriger zählt hierher. 45 Die Frage, ob in einer beitragsftnanzierten sozialen Altersversicherung die Finanzierung der Anerkennung solcher Zeiten zu Lasten der Allgemeinheit gehen soll, also über Steuern zu ftnanzieren ist, oder ob es auch ein Element des sozialen Ausgleichs in einer Sozialversicherung darstellt, den Familien- und Kinderlastenausgleich zumindest mitzutragen, wie das Bundesverfassungsgericht für die Bundesrepublik jüngst festgestellt hat,46 ist dabei in Hinblick auf die Sicherungsfunktion - nicht jedoch unter VerantwortIichkeits- und Finanzierungsaspekten - nachrangig. 47 Wegen der Bedeutung der Alterssicherung für den Einkommensersatz im Alter wird auch immer wieder gefordert. Personen, die unentgeltlich gesellschaftlich nützliche Tätigkeiten außerhalb eines Arbeitsverhältnisses leisten, einzubeziehen. Dies gilt insbesondere für ehrenamtliche Tätigkeiten im sozialen Bereich. 48 Im Zusammenhang des sachlichen Gegenstandsbereichs einer monetären Alterssicherung ist auch darauf hinzuweisen, daß manche alterstypische Sonderbedarfe, so insbesondere der Pflege- und Betreuungsbedarf in einer Einrichtung, nicht aus einem normalen Altersersatzeinkommen ftnanzierbar sind. Zur Deckung solcher Sonderbedarfe könnten zwar (Geld-)Leistungen - etwa Pflegegelder - aus der Altersversicherung gewährt werden. 49 Es erscheint jedoch sinnvoller, die Sicherung bei Pflegebedürftigkeit insgesamt einem gesonderten Sicherungszweig zuzuordnen. Dann wird auch der Tatsache Rechnung getragen, daß Pflegebedürftigkeit nicht ausschließlich altersspeziftsch auftritt. f) Tod/sonstiger Unterhaltsausfall

Für Personen, deren Unterhalt über dritte, in der Regel dazu gesetzlich verpflichtete Personen, gesichert ist, stellt der Wegfall, aber auch der Entzug oder das Vorenthalten von Unterhalt ein speziftsches monetäres Risiko dar. Die wichtigsten Situationen dieses Risikos sind: 50 45 Zu den Regelungen in der Rentenversicherung /gl (Fn. 30), S. 99 ff. 46 Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 7. Juli 1992, Neue Juristische Wochenschrift 1992,

S.2213.

47 Zu den Auswirkungen für die Rentenversicherung Fraflz Rwland, Das BlUldesverfassungsgericht IUld der Kinderlastenausgleich • Zur Entscheidung des Ersten Senats vorn 7. Juli 1992 -, in: Neue Zeitschrift für Sozialrecht 1993, S. 1 ff., 4 ff. 48 Die Debatte um die Honorierung und soziale Absicherung des Ehrenamtes wird seit einiger Zeit geführt, s. die Hinweise bei Ulrich BeNkle, Soziale Hilfen zu Discountpreisen. Unbezahlte Ehren-Arbeit in der Grauzone des Arbeitsmarktes, in: Siegfried Müller(lbornas Rauschenbach (Hg.), Das soziale Ehrenamt. Nützliche Arbeit zum Nulltarif, 2. Aufl. 1992, S. 71 ff., 78 f. 49 So wurde in der ehemaligen DDR Pflegege1d aus der Renten- IUld aus der Unfallversicherung gewährt; dazu / gl (Fn. 30), S. 182 ff. SO Nach wie vor grundlegend für diese Thematik Franz Rrdand, Familiärer Unterhalt IUld Leistungen der sozialen Sicherheit, 1973.

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- Der Verdiener eines Unterhaltsverbandes verstirbt. Hier greift der soziale Schutz mit der Gewährung von Hinterbliebenenrenten ein, die in der Regel an den Ehepartner und an die Kinder gezahlt werden. Für Aszendenten existieren Hinterbliebenenrenten z.B. im deutschen Unfallversicherungsrecht. Da die Sozialleistung letztlich Unterhaltsersatzfunktion hat, wird manchmal als Leistungsvoraussetzung gefordert, daß die hinterbliebene Person auch tatsächlich in ihrem Auskommen von der bisherigen Unterhaltsleistung abhängig war. Diese Leistungsvoraussetzung wurde im deutschen Recht gegenüber dem hinterbliebenen Ehemann einer versicherten Frau erhoben und wegen ihrer Verfassungswidrigkeit aufgegeben. 51 Dafür findet jetzt im deutschen Recht auf der Leistungsseite eine Anrechnung von bestimmten Einkünften statt. 52 - Der Verdiener eines Unterhaltsverbandes trennt sich von diesem Verband (Getrenntleben; Scheidung). Hier soll das Sozialrecht nur in bestimmten Situationen eingreifen, in denen typischerweise eine Möglichkeit zur Selbstbeschaffung des Unterhalts nicht gegeben ist, also etwa bei Kindererziehung nach Versterben des Verdieners. 53 Ansonsten bleiben die Mitglieder des Unterhaltsverbandes auf die zivilrechtlichen Möglichkeiten verwiesen. Allerdings kann man sich fragen, ob es nicht sinnvoll ist, die Last der tatsächlichen Durchsetzung von Unterhaltsansprüchen und die zumindest vorläufige Zahlung von Unterhaltsersatz in bestimmten Situationen auf einen Sozialleistungsträger zu verlagern. Solches geschieht in der Bundesrepublik in der folgenden Situation: -Die unterhaltsverpflichtete Person entzieht sich der gesetzlichen Verpflichtung zur Unterhaltsleistung gegenüber ihrem Kind, das nicht bei ihr wohnt. Hier gibt es nach dem Unterhaltsvorschußgesetz für einen gewissen Zeitraum vorläufige Unterhaltsleistungen. 54 - Bei der Trennung vom Unterhaltsverband ist weiter zu berücksichtigen, daß der UnterhaitsbeschafferNerdiener durch auf sein Arbeitseinkommen erhobene Beiträge zur Altersversicherung auch Ansprüche auf eine Altersversorgung erwirbt. Dieses "künftige Einkommen" im Alter muß auch in Hinblick auf die Person berücksichtigt werden, die wegen der Verteilung der familiären Tätigkeiten kein oder kein gleichwertiges Einkommen mit Ansprüchen auf Altersleistungen beziehen konnte. Hier soll ein Ausgleich (in deutscher Terminologie: Versorgungsausgleich) der Anwartschaften stattfinden.

S1 So die ursprüngliche Regelung im deutschen Rentenversichenmgsrecht; dazu Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bd. 39, S. 169. S2 SchuJin (Fn. 20), S. 238 f. S3 Erziehungsrente nach § 47 SGB VI. 54 Gesetz zur Sicherung des Unterhalts von Kindern alleinstehender Mütter und Väter durch Unterhaltsvorschüsse oder -ausfalleistungen (Unterhaltsvorschußgesetz).

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Es soll hier nur noch als Merkpunkt darauf hingewiesen werden, daß das Thema der Hinterbliebenenrenten, soweit es Ehegauen betrifft, immer wieder im Zusammenhang der Einführung einer eigenständigen sozialen Sicherung für Frauen diskutiert wird. In der Bundesrepublik ist mit dem Versorgungsausgleich zumindest für die Altersersatzeinkommen ein Stück eigenständiger sozialer Sicherung für die Frau realisiert worden. 55 g) Invalidität Invalidität als relativ verfestigter gesundheitlicher Beeinträchtigungszustand mit Auswirkungen auf die Möglichkeiten, im herkömmlichen Beruf Einkommen zu erzielen (berufliche Invalidität) oder überhaupt noch in einer Erwerbstätigkeit Einkommen zu erwirtschaften (erwerbsbezogene Invalidität) ist ein komplexes und wohl das komplizierteste soziale Risiko. 56 Hier mischen sich Elemente der gesundheitlichen Beeinträchtigung, der Erhaltung des beruflichen Status, der Arbeitsmarktsituation und, zumindest in faktischer Typik, auch Elemente der Problematik im Überschneidungsverhältnis Alter und Arbeitslosigkeit. Belastet wird dieses Risiko auch noch mit Phänomenen des frühzeitigen Eintritts in den Ruhestand, wenn solche Möglichkeiten nicht anderweitig "legal" existieren. 57 Eng zusammengehörig mit dem Risiko Invalidität sind die präventiven Aktionen, also die - vorrangig anzulegende - Rehabilitation zur Vermeidung von Invalidität. 58

55 Franz Ru/anti, Reform der sozialen Sicherung der Frau. Analyse des Ist-Zustandes und Bericht über die noch in der Diskussion befmdlichen Lösungsvorschläge, in: Deutsche Rentenversicherung 1992, S. 68 ff.; Eva-Maria Hohnerlein, Die Stellung der Frau in den Alterssichenmgssysternen des Auslands Kompensatorische Regelungen der gesetzlichen Alterssicherungssysteme bei durchbrochenen Erwerbsbiographien - Ansätze zur AneIkennung unbezahlter Familienarbeit in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft, in: Zeitschrift für Sozialreform 1992, S. 589 ff.; HansJoachim Reinhard, Die Stellung der Frau in den Alterssichenmgssystemen des Auslandes, in: Die Sozialversicherung 1992, S. 294 ff. 56 Eine gute Übersicht über die verschiedenen Regelungen in den Ländern der EG bieten Otto Kall/mannlPeter A. Köhler, Invaliditätssicherung in den Ländern der EG, in: Die Angestellten-Versicherung 1993, S. 105 ff. S. auch Angelika Pflüger-Demann, Soziale Sicherung bei Invalidität in rcchtsvergleichender und europarechtlicher SichL Eine auf die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich bezogene Darstellung, 1991. 57 Dies hat in der Bundesrepublik dazu geführt, daß die Versichenmgsvoraussetzungen für die Erwerbs- IDld Berufsunfähigkeitsrenten verschärft worden sind (Haushaltsbegleitgesetz 1983 vom 22. Dezember 1983); zu den hierdurch bedingten Veränderungen im Rentenzugang Marten Kerwat, Der Rentenzugang der BlDldesversichenmgsanstalt für Angestellte (BfA) 1984 - Der Einfluß des Haushaltsbegleitgesetzes 1984, in: Deutsche Angestelltenversichenmg 1985, S. 233 ff.; Kerwat, Ein Rentenzugang voller Überraschungen - Der Rentenzugang der BfA 1985, in: Die Angestellten-Versicherung 1986, S. 101 ff. 58 § 7 Gesetz über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation (RehaAngIG).

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h) Arbeitslosigkeit In modernen Systemen sozialer Sicherheit ist anerkannt, daß dem Problem der Arbeitslosigkeit nicht nur reaktiv, also durch eine monetäre Sicherung des arbeitslosen Arbeitnehmers begegnet werden kann, sondern daß vorrangig und zentral die - im Bereich der Arbeitslosenversicherung allerdings so nicht genannten - präventiven Maßnahmen stehen müssen. Das deutsche Arbeitsförderungsgesetz steht für ein solches modernes, auf präventive Maßnahmen abstellendes Gesetz. Auf die Probleme einer über soziale Förderungsmaßnahmen gesteuerten Arbeitsmarktpolitik kann hier nicht eingegangen werden. Wichtig ist jedoch die Erkenntnis, daß solche aktiven Fördermaßnahmen nicht nur begleitend zu einer Arbeitslosenversicherung stehen sollen, sondern daß sie zentraler Bestandteil im Komplex Sicherung bei Arbeitslosigkeit sein müssen. Wichtig ist auch die Erkenntnis, daß die Aufgabe der Arbeitsförderung und die Aufgabe der Gewährung von Einkommensersatzleistungen in einer Hand liegen müssen. Nur so ist insbesondere gesichert, daß Personen, deren zukünftige Beschäftigung auf Grund von Qualifikationsproblemen gefährdet ist, auch die entsprechenden Fördermaßnahmen erhalten. Das Risiko der Arbeitslosigkeit besteht darin, vorhandene und einsetzbare Arbeitskraft nicht verwerten zu können. Die Schwierigkeit, das Risiko der Arbeitslosigkeit sachlich angemessen zu erfassen, besteht vor allem darin, wieweit man einem arbeitslosen Arbeitnehmer, der ja qua dejinitione über einsetzbare Arbeitskraft verfügt, zumutet, diese Arbeitskraft zur Erzielung eigenen Einkommens einzusetzen. Hinter dieser vordergründig simplen Frage verbergen sich jedoch komplexe Probleme, so etwa die Frage, ob und inwieweit ein Arbeitsloser Berufsschutz genießen soll, ob ihm eine erhebliche Veränderung seiner Lebensumstände (und der seiner Familie) durch Aufnahme einer Tätigkeit an einem anderen Ort zugemutet werden soll, welche Einkommenseinbußen er hinnehmen muß, ob er sich Umschulungsmaßnahmen unterziehen lassen muß. Die rechtlichen Regelungen hierzu sind - man betrachte nur die Zumutbarkeitsanordnung in der Bundesrepublik DeutschiandS9 - ebenso differenziert und komplex. Am Rande sei noch erwähnt, daß das Instrumentarium der Arbeitsförderung sich sachlich auch auf strukturelle Maßnahmen, bezieht: dazu gehören Leistungen bei Kurzarbeit und die Hilfen für die Bauwirtschaft Welche sozialpolitisch befriedende Bedeutung das Kurzarbeitergeid im Zusammenhang des Wiedervereinigungsprozesses erlangt hat, ist noch jetzt gut erkennbar.

59 Anordnung des Verwaltungsrates der Bundesanstalt für A!beit über die Beuneilung der Zumutbarlteit einer Beschäftigung (Amtliche Nachrichten der Bundesanstalt für A!beit 1982, S. S23 ff.).

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Das arbeitsmarktpolitische Instrumentariwn muß flexibel auf die Veränderungen des Arbeitsmarktes reagieren können. Allerdings ist zu sehen, daß dieses Instrumentarium manchmal gerade dann aus Finanzierungsgründen reduziert wird, wenn sein Einsatz als besonders geboten erscheint i) Andere Arbeitsplatzrisiken: Konkurs des Arbeitgebers Der Konkurs des Arbeitgebers kann beim Arbeitnehmer zum faktischen Verlust seiner Ansprüche auf Zahlung noch ausstehenden Arbeitsentgeltes führen. Dieses Risiko wird in der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen des Arbeitsförderungsgesetzes60 gesichert Der Anspruch geht auf die Zahlung des Nettoarbeitsentgeltes für diejenigen Arbeitsentgeltansprüche, die in den letzten der Eröffnung des Konkursverfahrens vorausgehenden drei Monate entstanden sind. j) "Sekundäres" soziales Risiko Unter dem sekundären sozialen Risiko versteht man das Risiko, keinen Zugang zur sozialen Sicherung zu erhalten. Dieses Risiko stellt sich immer dann ein, wenn der Zugang zur sozialen Sicherung über ein Arbeitsverhältnis oder allgemein über Erwerbstätigkeit gegeben ist, so wie es bei den Sozialversicherungen häufig der Fall ist. Behinderte Personen, die nicht in der Lage sind, eine Beschäftigung am Arbeitsmarkt auszuüben, aber auch Personen, die nicht erwerbstätig sind und noch nie Schutz in einem Versicherungssystem gefunden haben, so vor allem jugendliche Arbeits- und Erwerbslose, sind von diesem Risiko betroffen. Die Techniken, Schutz für solche Personen zu erzielen, können darin bestehen, die Versicherungssysteme zu öffnen,· etwa über Möglichkeiten des freiwilligen Beitritts. Dabei bleibt allerdings das Problem der Finanzierung dieses Schutzes offen, da der betroffene Personenkreis in der Regel nicht in der Lage ist, die Beiträge für eine freiwillige Versicherung zu bezahlen. Abhilfe kann darin bestehen, ein Basissicherungssystem, in der Regel die Sozialhilfe, zur Übernahme der Beiträge zu verpflichten. Auch kann die Sozialhilfe selbst den Schutz direkt bewirken. 61 In der Bundesrepublik Deutschland ist für behinderte Personen, die noch über ein gewisses Quantum an Arbeitsfähigkeit verfügen, in Hinblick auf den Schutz in der Kranken- und Rentenversicherung ein besonderes System zu Absicherung des sekundären sozialen Risikos eingerichtet worden. 62 Bei sozialen Sicherungszweigen, in denen sich er Aufbau der Sicherung über längere Zeitperioden hin erstreckt, so etwa in der Alterssicherung, tritt das 60 §§ 141a ff. A!beitsförderungsgesetz (AFG). 61 § 37 Bundessozialhilfegesetz. 62 Gesetz über die Sozialversicherung Behinderter vom 7. Mai 1975.

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Problem des sekundären sozialen Risikos besonders zutage. Gleiches gilt für Sicherungszweige, bei denen der Schutz erst nach Ableistung von Anwartsschaftszeiten eintritt, so z.B. bei der Arbeitslosenversicherung. Jede Zeitperiode der Nichterwerbstätigkeit, die bewirkt ist sei es durch Krankheit, durch Arbeitslosigkeit, durch Ausbildungsmaßnahmen, durch Wehrdienst, oder durch Zeiten der Kindererziehung und der Betreuung pflegebedürftiger Angehöriger, führt zu DefIZiten im Sicherungsaufbau und damit zu Einschränkungen auf der Leistungsseite oder auch zum vollständigen Verlust des Schutzes. Das sekundäre soziale Risiko kann entweder dadurch bewältigt werden, daß die betroffenen Zweige - intern, d.h. durch interne fmanzielle Umverteilung - solche Zeitperioden ebenso positiv berücksichtigen wie Zeiten der Erwerbstätigkeit; gleicherweise ist es möglich, das Schutzsystem zur Finanzierung der Beiträge heranzuziehen, bei dem die Person für die Zeit ihrer Nichterwerbstätigkeit auch Einkommensersatz bezieht Das bedeutet, daß beim Bezug von Krankengeld, Arbeitslosengeld oder der verschiedenen Renten der zuständige Leistungsträger die Beiträge für die anderen Sicherungszweige entrichtet 63 Tritt kein spezielles Sicherungssystem für den Einkommensersatz ein, sind andere Instrumente zur Finanzierung heranzuziehen. In der Regel tritt dann eine öffentliche Finanzierung aus den verschiedenen staatlichen Budgets ein, so bei der Anerkennung von Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung, wo zwar gesetzlich ein Bezug hierauf nicht erkennbar ist, jedoch für die Bemessung der Höhe des Bundeszuschusses ausschlaggebend war. 64 2. Andere Systeme als Vorsorgesysteme

Außerhalb der Vorsorgesysteme werden üblicherweise noch die sozialen Entschädigungssysteme65 und die allgemeinen und besonderen Hilfs- und Fördersysteme unterschieden. 66 a) Familien- und Kinderlastenausgleich Der kindesbedingte Aufwand wird in modernen sozialen Sicherungssystemen in der Regel durch Familienleistungen und - auf der Seite des Steuerrechts - durch steuerliche Verschonungen - gemindert. 67 Damit wird der Tatsache

§ 170 Abs. I SGB VI. § 213 SGB VI. Zur DarstellWlg der Funktiooen des Bundeszuschusses Gutachten der Kommission des Verbandes Deutscher Rentcnversicherwtgsträger, Zur langfristigen Finanzierwtg der gesetzlichen Rentenversicherung, Juni 1987, S. 119 ff. 6.5 S. Wlten 4. 66 So bei Zacher, EinfühfWlg (pn. 10), S. 20 ff., und bei SchwJin, Lehrbuch (Fn. 10), S. 15 ff. fj1 Übersicht über die verschiedenen Instnunente bei G~rhard IgI, Familienlastenausgleichsrecht, in: Bemd von MaydellJFranz Ruland (Hg.), Sozia1rechtshandbuch, 1988, S. 1120 ff. 63

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Rechnung getragen, daß die Unternehmen keinen familiengerechten, sondern einen leistungsorientierten Arbeitslohn zahlen. Die wichtigste und üblichste Fonn, unter der Familienleistungen gewährt werden, ist das Kindergeld Kindergeld wird von dem ersten oder von einem späteren Kind an, teilweise in Ansehung der Einkommenssituation, gewährt. In vielen Ländern werden mit der Familienleistungsgewährung noch andere Ziele als die der reinen Minderung des allgemeinen kindesbedingten Aufwandes verfolgt So werden bestimmte soziale Situationen, z.B. Behinderung oder Arbeitslosigkeit des Kindes, oder auch prekäre wirtschaftliche Situationen von kinderreichen Familien oder von alleinerziehenden Personen, im Rahmen der Familienleistungen mit erfaßt 68 Dies geschieht insbesondere dann, wenn andere Leistungssysteme, z.B. ein allgemeines Schutzsystem für behinderte Personen oder ein ausgebautes Basissicherungssystem, nicht bereit stehen. In der Regel wird bei der Kindergeldgewährung nicht damuf abgestellt, ob es sich um leibliche Kinder handelt, sondern damuf, ob eine Person für ein Kind tatsächlich Unterhaltsleistungen erbringt Die Beträge des Kindergeldes kompensieren in der Regel - auch zusammen mit den steuerlichen Vergünstigungen - nicht den gesamten kindesbedingten Aufwand. Mit in die Betrachtungen über die Ausgestaltung eines angemessenen Kinderlastenausgleichs einzubeziehen sind neben den sozialleistungs- und steuerrechtlichen Transfers auch die infrastrukturellen Vorkehrungen, also Kinderkrippen, TagesstäUen etc. Oft tragen diese Vorkehrungen mehr zur Erleichterung kindesbedingter Lasten bei als geldliche Transfers. Aus einigen ehemals sozialistischen Ländern ist bekannt, daß wegen der sozialen Inpflichtnahrne der Betriebe dort die entsprechenden Dienste seitens der Betriebe geschaffen worden sind. Familien-/Kinderlastenausgleich wird aber nicht nur durch explizite Sozialleistungen, sondern auch integriert in den Sicherungssystemen wahrgenommen. 69 Die Anerkennung von Kindererziehungszeiten bei der Alterssicherung ist z.B. eine der wichtigsten Gestaltungsweisen des Familienlaslenausgleichs. Hierher gehört auch die beitragsneutrale Mitversicherung von Kindern in der Krankenversicherung. 70 Familienlastenausgleich 68 Dies ist gerade in Frankreich der Fall, s. hieT7ll Francis K~ssl~r, Die Familienleistungen im Gefüge der sozialen SichemeiL Beispiel Frankreich, in: Familie und Recht 1991, S. 88 ff. Kessler, S. 92, stellt zurecht fest, daß die französischen Familienleistungen immer mehr Funktionen des unzureichenden Sozialhilfesystems üremommen haben. 69 UrsWa Rust, Familienlastenausgleich in der gesetzlichen Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung, 1990.

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Gerhard 191

kann aber auch noch bei der Berechnung von Einkommensersatzleistungen stattfinden, wenn dort unterschiedliche Beträge für Leistungsbezieher mit und ohne Familie angesetzt werden. b) Rehabilitation aa) Arten der Rehabilitation Leistungen zur Rehabilitation sind heute integraler Bestandteil jedes modernen Systems sozialer Sicherheit 71 Die verschiedenen Maßnahmen der Rehabilitation72 beziehen sich dabei auf sehr unterschiedliche soziale Situationen und können unterschiedliche Ziele haben. Rehabilitation ist eine Querschnittaufgabe prinzipiell aller Sozialleistungsträger. Es spricht viel dafür, diese Aufgabe jeweils den verschiedenen Sozialleistungsträgern sachlich zuzuordnen, wobei die Kriterien für diese sachliche Zuordnung keineswegs so klar sind, wie man es nach erstem Anschein annehmen könnte. So wird medizinische Rehabilitation in der Bundesrepublik Deutschland nicht nur seitens der Krankenkassen durchgeführt, sondern vor allem - mit dem Ziel der Vermeidung von Invalidität - seitens der Träger der Invalidenrenten, hierzulande also der Rentenversicherung. Berufliche Rehabilitation wird hingegen weitgehend von der Bundesanstalt für Arbeit durchgeführt. Außerhalb des Sozialleistungsrechts ist insbesondere das Arbeitsrecht berufen, Vorkehrungen für die Rehabilitation und die Integration Behinderter am Arbeitsplatz zu schaffen. Gerade bei der Rehabilitation zeigt sich, daß erst ein Ensemble von Leistungen und Vorkehrungen zur Eingliederung behinderter Menschen beitragen kann.7 3 Rehabilitation hat sich auf alle Altersgruppen der Bevölkerung zu erstrecken. In der Regel sind Leistungen der Rehabilitation nicht explizit auf be70 § 10 SGB V. Neuerdings wird dies wieder in Frage gestellt, so Bertram SchuJin, Gutachten E zum 59. Deutschen Juristentag, Hannover 1992, Empfiehlt es sich, die Zuweisung von Risiken und Lasten im Sozialrecht neu m ordnen?, S. E 118 f., der hier bei Belassung des Schutzes in der Krankenversicherung eine Steuerfroanzierung befürwortet 71 Eine gute Bestandsaufnahme frodet sich bei Wiltraud ThustlPeter Trenlc-Hinterberger, Recht der Behinderten, 2. Aufl., 1989; s. auch den Überl>lick über das Rehabilitationsrecht bei Gerhard IgI, Das Sozialrecht der behinderten Personen, in: Heinz Bach u.a. (Hg.), Handbuch der Sonderpädagogik Bd. 10. 0110 SpeckiKlaus-Rainer Martin, Sonderpädagogik und Sozialarbeit, 1990,

S.209ff.

72 Gemeinhin unterscheidet man die medizinische, die berufliche, die schulische und die soziale Rehabilitation. 73 Zum Zusammenspiel der verschiedenen Instrumente Gerhard Igl, Arbeitsrechtlicher Schutz und sozialrechtliche Förderung Behinderter im Berufsleben in der Bundsrepublik Deutschland Grundstrukturen und Instrumente, in: Ingwer Ebsen, (Hg.), Invalidität und Arbeitsmarkt. Die Kompensation teilweiser Leistungsminderung als Problem im sozialrechtlichen Schadensausgleich, 1992, S. 227 ff.

Sachlicher Anwendungsbereich

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stimmte Altersgruppen beschränkt De faclo sind jedoch oft ältere Menschen von Rehabilitationsmaßnahmen ausgeschlossen. Erst in jüngerer Zeit ist dieser Rehabilitationsbereich Gegenstand des sozialpolitischen Interesses. 74 Erst seit kurzem hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, daß Rehabilitation auch zur Vermeidung von Pflegebedürftigkeit eingesetzt werden kann. 75 Rehabilitation hat sich in vielen Systemen sozialer Sicherheit fast naturwüchsig entwickelt. Erst in den siebziger Jahren, also noch vor der Dekade der Rehabilitation, d.h. den achtziger Jahren, ist man zu einer gewissen Ordnung des Rehabilitationswesens gelangt. 76 Trotz dieser Ordnungsbemühungen ist es auch heute noch schwer, einen systematischen Aufbau des Rehabilitationswesens zu erkennen. Immerhin gab es Anstrengungen, die Probleme des Rehabilitationswesens sozusagen auf einer Meta-Ebene, d.h. insbesondere auf der Ebene der Koordinierung des Rehabilitationsgeschehens zwischen den verschiedenen Trägem und der Respektierung allgemeiner Grundsätze, zu regulieren. TI Die Arbeiten am SGB IX (Eingliederung Behinderter) zeigen, wie schwierig es ist, eine einigermaßen brauchbare und auch umsetzungsfähige Kodifikation des Rehabilitationsrechts herzustellen. 78 Angesichts der Zersplitterung des Rehabilitationswesens erlangt die Beratung und Orientierung von Behinderten eine besondere Bedeutung. bb) Einkommensersatz/Unterhaltssicherung Zum Gegenstandsbereich der Rehabilitationsleistungen gehört auch die Zahlung von Einkommens- oder Unterhaltsersatzleistungen, da der Rehabilitand während der Rehabilitation nicht in der Lage ist, Einkommen aus Erwerbstätigkeit zu erzielen. c) Ausbildung In Ländern, in denen die Inanspruchnahme des Ausbildungssystems, so wie in der Bundesrepublik Deutschland, grundsätzlich ohne Gebühren für die Be-

74 Vg1. hierzu das Positionspapier des Deutschen Vereins für öffentliche IUld private Fürsorge: Rehabilitation älterer Menschen - eine gemeinsame Aufgabe des Gesundheits- und Sozialwesens, in: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins 1993, S. 1 ff. 75 Jetzt in § 23 Abs. 1 Nr. 3 SGB V. 76 In Frankreich und in der Bundesrepublik; hierzu [gi (Fn. 23), S. 274 ff. 77 Gesetz zur Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation vom 7. August 1974. 78 Hierzu die Beiträge von Vo/leer NeumannlBertram ScludinlKlaus LachwitzlPeter TrenkHinterberger, Reform des Rehabilitationsrechts (Sozialgesetzbuch Band IX). Anfordertmgen aus der Sicht geistig behinderter Menschen, 1992; Franz Ruland, Überlegungen zur Einordnung des Rehabilitationsrechts in das Sozialgesetzbuch (SGB), in: Die Rentenversichertmg 1992, S. 689 ff.

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Gemard Ig1

nutzer möglich ist. entsteht doch das Problem der Unterhaltssicherung. Personen, die sich in Ausbildung befinden und in dieser Ausbildung kein Entgelt beziehen, können ihre wirtschaftliche Subsistenz entweder von Seiten ihrer Unterhaltsverpflichteten erhalten oder sie sind auf eigene Erwerbstätigkeit neben der Ausbildung verwiesen. Beides kann problematisch werden: Eltern sollen nach der Kindererziehung nicht mehr für eine längere Phase der Ausbildung die Unterhaltsbelastung tragen; Schüler und Studierende können nicht wegen der ansonsten stattfindenden Beeinträchtigung der Ausbildung auf eigene Erwerbstätigkeit verwiesen werden, sofern überhaupt der Arbeitsmarkt entsprechende Tätigkeiten nachfragt. In entwickelten Systemen der sozialen Sicherheit werden deshalb öffentliche finanzielle Hilfen für Personen in Ausbildung vorgesehen, bei denen zum Teil auch die Unterhaltsmöglichkeiten von Unterhaltsverpflichteten in Betracht gezogen werden. Die Ausgestaltungsmöglichkeiten reichen hier von der Einrichtung eines besonderen Fördersystems wie in der Bundesrepublik Deutschland79 bis hin zur Vergabe von Stipendien. Werden Kinder in Ausbildung noch von Unterhaltsverpflichteten unterhalten, können auch Berücksichtigungen in den Systemen stattfinden, die zur Minderung der Unterhaltspflicht beitragen sollen, so in den Familienleistungssystemen. 80 d) Qualifizierung der Arbeitskraft Die Qualifizierung der Arbeitskraft ist in modemen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften wesentlich für die Sicherung der Volkswirtschaft In den modemen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften gilt das "Einmal gelernt - für immer gelernt" nicht mehr. Die Anforderungen an die Qualifikation der Arbeitskraft steigen. Ebenso wird durch die Veränderung und Umstellung von Produktionsweisen ein Bedarf an Neuqualifizierung hervorgerufen. Die sozialen Sicherungssysteme können diese Aufgabe nur zu einem Teil bewirken. Vielfach sind es die Unternehmen selbst, die ihr Personal entsprechend den neuen Anforderungen weiterbilden. Personen, die nicht im Arbeitsmarkt stehen oder deren Arbeitsplatz durch neue qualitative Anforderungen gefährdet ist, benötigen drittseitige öffentliche Hilfe bei der QualifIkation. Häufig wird deshalb ein Zusammenhang zwischen dem System der Ar-

79 Bundesausbildungsförderungsgesetz; Kommentierung bei Ulrich Ramsalll!rlMicluJ~1 Stalibaum, Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG), 3. Aufl., 1991, sowie den Beitrag von lngo Richter, Ausbildungsförderung, in: Bemd von Maydell/Franz Ruland (Hg.), Sozialrechtshandbuch,

1988, S. 1148 ff. 80 § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BKGG.

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beitslosenversicherung und dem Qualifdcationssystem hergestellt 81 Zunehmend wird jedoch diskutiert, ob diese Systeme nicht zu trennen sind. Zu den Leistungen des Qualifdcationssystems gehören neben den eigentlichen Qualifdcationsmaßnahmen auch Leistungen zur wirtschaftlichen Subsistenz. 82

Am Rande ist zu erwähnen, daß der Arbeitgeber seinen Beschäftigten zur Qualifikation auch Freistellung gewähren kann. Eine öffentliche FreisteIlungsmaßnahme stellt die - in der Bundesrepublik Deutschland zum Teil auf Länderebene bestehende - Verpflichtung dar, den Beschäftigten Bildungsurlaub zu gewähren. e) Wohnen Die Sicherung einer angemessenen Unterkunft stellt eines der Grundbedürfnisse menschlicher Existenz dar. In marktwirtschaftlichen Systemen wird Wohnraum grundsätzlich auf einem freien Markt geschaffen. Aufgrund der Besonderheiten des Wohnraummarktes vor allem in Ballungsräumen entspricht das Angebot an Wohnraum quantitativ und/oder qualitativ häufig nicht den Bedürfnissen. Ebenso können die Preise für Wohnraum die fmanziellen Möglichkeiten der Bürger übersteigen, was gerade dann der Fall ist, wenn das Arbeitseinkommen - wie in der Regel in marktwirtschaftlichen Systemen - leistungsund nicht familiengrößenorientiert ist. Grundsätzlich stehen zwei Instrumente für die Sicherung von Wohnraum zur Verfügung: Von staatlicher Seite wird eine eigene Wohnraumpolitik betrieben, etwa zur Bereitstellung von kostengünstigen Wohnungen für besondere Zielgruppen (z.B. einkommensschwache Gruppen, kinderreiche Familien, alte und behinderte Personen, Ausländer) - Stichwort: sozialer Wohnungsbau. Damit kombiniert oder auch davon isoliert kann eine individuelle Förderungspolitik dazu verhelfen, besonderen Gruppen Wohnraum zu beschaffen oder zu erhalten. In der Regel geschieht dies durch geldliche Leistungen wie Wohn- oder Mietheihilfen. 83 Zum Instrumentarium der Wohnraumpolitik gehören auch steuerliche Förderungen des Eigenheimbaus und insgesamt der Wohneigentumsförderung. Diese Instrumente können bedarfsorientiert wie allgemein eingesetzt werden. 84 81 In der Bundesrepublik Deutschland mit dem Arbeitsförderungsgesetz (AFG). Hierzu Klaus Peter Wagner, Arbeitslosenversicherung/ArbeilSförderung, in: Bemd von MaydelllFranz Ruland (Hg.), Sozialrechtshandbuch, 1988, S. 887 ff. 82 Untemaltsgeld nach § 44 AFG. 83 Wohngeldgesetz (WoGG). Hierzu insgesamt MaximiJian Fuchs, Wohngeldrechl, in: Bemd von MaydelllFranz Ruland (Hg.), Sozialrechtshandbuch, 1988, S. 1112 Cf. 84 In der Bundesrepublik Deutschland existien ein breitgefächenes und komplexes System steuerlicher Anreize zur Wohneigentmnsbildung, so etwa die SteuerbegÜllstigung der zu eigenen 8 von Maydell/Hohnerlein

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f) Kinder- und Jugendhilfe

Der Schutz und die Förderung von Kindern und Jugendlichen ist vielen Sozialrechtsordnungen ein besonderes Anliegen. Dabei geht es nicht darum, die elterliche Erziehungsaufgabe abzulösen, sondern ergänzend und unterstützend zur Förderung der Entwicklung und Erziehung beizutragen. In der Bundesrepublik ist für die Kinder- und Jugendhilfe ein besonderes System entwickelt WOl'den,85 das eine Palette verschiedenster Leistungen bereithält, die von der Jugendarbeit über Erziehungshilfen zur Beratung reichen. 86 g) Altenhilfe und besondere Leistungen für alte Menschen: Seniorenförderung Anders als bei Kindern und Jugendlichen wird ein besonderer Sicherungsbedarf für die alten Menschen außerhalb der Altersversicherung erst ansatzweise gesehen und diskutiert. In der Bundesrepublik ist die einzige einschlägige Leistungsnorm im Sozialhilferecht enthalten. 87 Die dort aufgeführten Leistungen, wobei es sich insbesondere um Beratungshilfen handelt, werden ohne die üblichen Sozialhilfekriterien des Einsatzes von Einkommen und Vermögen gewährt. In anderen Ländern existieren etwa Leistungen zur Haushaltshilfe speziell für ältere Menschen, die wie in Frankreich von den Altersversicherungskassen finanziert werden. 88 Gemeinhin werden Sozialleistungen - außer den monetären Einkommensersatzleistungen der Altersversicherung - nicht speziell für alte Menschen eingerichtet. Jedoch können bestimmte Sozialleistungen faktisch gerade die alten Menschen betreffen, auch wenn sie ohne Altersbezug gewährt werden. Dies ist der Fall bei Pflegeleistungen. Ebenso rechnet hierzu die geriatrische Rehabilitation,89 Darüber hinaus wäre jedoch zu bedenken, ob nicht bestimmte altersspezifische Situationen auch mit speziellen Sozialleistungen oder Anpassungen von Sozialleistungen bedacht werden sollten. Dies könnte etwa im Bereich der Wohnungspolitik für alte Menschen und im Bereich der sozialen Betreuung in

Wohnzwecken genutzten Wohnung im eigenen Haus nach § lOe Einkommensteuergesetz (EStG), oder das sog. Baukindergeld nach § 34f EStG. 85 Kinder- und Jugendhilferecht, jetzt SGB vm. S. die Kommentierung bei Waller SchellhornlManfred Wienand, Kinder- und Jugendhilfegesetz, 1991. Insgesamt zum Jugendrecht die grundlegende Darstellung von ThiJo Ramm, Jugendrecht, 1990. 86 Vgl. den Leistungskatalog in § 2 SGB vm. 87 §75BSHG. 88 [gi (Fn. 23), S. 506 ff. 89 Positionspapier des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, Rehabilitation älterer Menschen - eine gemeinsame Aufgabe des Gesundheits- und Sozialwesens, in: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins 1993, S. ! ff.

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Einrichtungen der Fall sein. Insgesamt ist dieser Bereich wissenschaftlich noch wenig durchdrungen90 und bedarf noch der grundsätzlichen Diskussion. 91 3. Baslsslcherunggysteme

Die sozialen Sicherungssysteme schneiden dort, wo in ihnen die sog. klassisehen sozialen Risiken gesichert sind, Segmente bestimmter sozialer Situationen und Bedarfslagen heraus und führen sie einer Sicherung zu. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, daß die "gehobenen" Sicherungen aus manchen Gründen92 nicht jede Person, die sicherungsbedürftig ist, auch erreichen. Zur Lösung dieser Probleme bieten sich grundsätzlich zwei Wege an: Es werden in die "gehobenen" Sicherungssysteme Mechanismen eingebaut, damit das Sicherungsziel für alle und auf angemessene Weise erreicht wird, und/oder es werden Vorkehrungen zur subsidiären Sicherung getroffen. Letztere Möglichkeit würde bedeuten, daß die Basissicherungssysteme für die wichtigsten sozialen Lagen sozusagen spiegelbildlich noch einmal die Schutzvorkehrungen treffen, die in den "gehobenen" Systemen gegeben sind. Das heißt zum Beispiel: Wer krank ist, aber nicht in einer sozialen Krankenversicherung geschützt ist, muß die Möglichkeit haben, entsprechende Leistungen aus einem Basissicherungssystem zu erhalten. 93 Wer geburtsbehindert ist, und von Anfang an nicht die Chance hatte, sich sozialen Schutz zu verschaffen, muß solchen Schutz ohne Vorleistungen erlangen können. Verschiedene Sozialhilfesysteme nehmen deshalb - oft in abgewandelter Form - die sachlichen 90 Übersicht bei Gerhard [gi, Das "Recht der älteren Menschen" - Ist es wünschenswert, für die älteren Menschen besondere rechtliche Vorkehrungen zu treffen?, in: Zeitschrift für Gerontologie 23(1990)2, S. 62 ff.; demnächst [gi in der Festschrift für Werner Thieme, Recht und Alter - ein diffuses Verhältnis, - Fragen - Befunde - Thesen -. 9i Hans F. Zacher, Solialrecht, in: Paul B. Baltes/Jürgen Mittelstraß (Hg.), Zukunft des Alterns und gesellschaftliche Entwicklung, 1992. S. 305 ff., 326. Soweit ersichtlich, fmdet eine solche grundsätzliche Debatte besonders auf dem Hintergrund der Thematik "Recht und Alter" vor allem in den USA staU; Marlin Lyon Levine, The Role of the Law, in: John M. Eekelaar/David Pearl (Hg.), An Aging World. Dilemmas and Challenges for Law and Social Poliey, Oxford 1989, S. 321. Selbst jüngere Publikationen zur Altersproblematik enthalten keine Beiträge zu den solialrechtlicben Grundfragen; vgl. den Reader Hans-Ulrich Klose (Hg.), Altem der Gesellschaft. Antworten auf den demographischen Wandel, 1993. Im Rahmen einer Expertengruppe des zuständigen Bundesministeriums für Familie und Senioren wird jedoch seit kurzem das Vorhaben eines "Seniorenförderungsgesetzes" erörtert; s. in diesem Zusammenhang die Beiträge von Hannu ZUler, Altenhilfe als System, in: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins 1991, S. 160 ff.; Hannes ZUler, Zur Weiterentwicklung des Rechts der Altenhilfe - Überlegungen und Thesen zu einem Altenhilfegesetz, in: Recht der so7ia1en Dienste und Einrichtungen, Heft 18, 1992, S. 33 ff. 92 Etwa bei fehlenden Versicherungsvoraussetzungen in Versicherungssystemen oder bei niedrigen Leistungen bei langfristigen Einkomrnensersatzleistungen. 93 § 37 BSHG.

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Gegenstandsfelder in ihren Schutzbereich auf, die auch schon in den "gehobenen" Sicherungssystemen gegeben sind. 94 Der erstgenannte Weg führt dahin, in die "gehobenen" Systeme den Basisschutz zu integrieren.95 Dies kann insbesondere durch Aufnahme von Mindestsicherungsinstrumenten in diejenigen Sicherungszweige geschehen, in denen Einkommens- oder Unterhaltsersatzleistungen gezahlt werden. Eine zentrale Aufgabe eines Basissicherungssystems ist stets die Gewährleistung des sozio-ökonomischen Existenzminimums. Neuere Bestrebungen gehen dahin, Personen, die sich dieses Existenzminimum nicht selbst beschaffen können, in soziale Eingliederungsprogramme einzubinden. 96 Allerdings ist zu bekennen, daß nicht alle bedürftigen Personen für solche Programme zugänglich sind. Die Debatte über die Schutzgewährungen aus einem Basissicherungssystem wird mittlerweile auch auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaften geführt. 97 4. Soziale Entschädigung

Soziale Entschädigung insbesondere für Gesundheitsschäden und deren Auswirkungen wird ganz unterschiedlich zur sozialen Sicherung gerechnet. 98 Kriegerische Ereignisse haben es praktisch in allen betroffenen Ländern erforderlich gemacht, für die Kriegsopfer zu sorgen. Im Kern der Leistungen für Kriegsopfer stehen dabei der Schutz bei Krankheit und Invalidität. Rehabilitation ist ebenso ein wichtiges Anliegen der Kriegsopferversorgung. In vielen Staaten ist ein hochdifferenziertes System der Kriegsopferversorgung entwickelt worden, das an Komplexität den Versicherungssystemen nicht nachsteht 99

94 Etwa Teile des LeislImgskataloges der Hilfe in besonderen Lebenslagen nach dem BSHG, oder in Frankreich verschiedene Leistungen des Code de la familie et de l'aide socUJIe. " Bernd Scludte, Annutsgrenze steigt, in: selbsthilfe 5/6 1992, S. 42 ff., 45. 96 So Frankreich mit dem Mindesteinkommen zur Eingliederung; Otto KaufmaNl, Revenu minimum d'insertion in Frankreich. Wegweiser für neue Fonnen der sozialen Sicherheit? in: Zeitschrift für Sozialhilfe und Sozialgesetzbuch 1990, S. 394 ff. 97 Bernd Scludte, Grundsicherung - Sozialhilfe, in: Europäisches Sozialrecht, Schriftenreihe des Deutschen Sozialrechtsverbandes, Band 36, S. 199 ff. 98 S. zur französischen Situation, wo die Kriegsopferversorgung nicht zum Begriff der sozialen Sicherneit gerechnet wird, Schmid (oben Fn. 2), S. 302. 99 S. nur das deutsche Kriegsopferversorgungsrecht, jetzt im Bundesversorgungsgesetz (BVG) geregelt, dessen Leistungskatalog teilsweise umfassender ist als der der Sozialversicherungen. So werden im BVG zum Beispiel auch die verschiedenen Situationen bei Pflegebedürftigkeit erfaßt, was gegenwärtig im Sozialversicherungsrecht noch nicht der Fall ist.

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Der Gedanke der sozialen Entschädigung - Ausgleich von Schäden, für die das Gemeinwesen eine besondere Verantwortung trägt lOO - ist in Deutschland übertragen worden auf Situationen, die sich nicht auf Kriegsereignisse beziehen.t Ol So wird gesehen, daß dort, wo der Staat Maßnahmen anordnet, die zu gesundheitlichen Schädigungen führen können, insbesondere bei Zwangsimpfungen, auch eine Verantwortlichkeit für diese Schäden gegeben ist 102 Eine neuere Form der sozialen Entschädigung ist gegeben bei den Opfern von Gewaltverbrechen.1 03 In der Bundesrepublik Deutschland sind somit die Tatbestände, die eine Entschädigung auslösen, erheblich erweitert worden. Für die Leistungen bildet dabei die Kriegsopferversorgung jeweils das Referenzsystem. BI. Ziele zur Gestaltung des sachlichen Anwendungsbereichs Modeme soziale Sicherungssysteme beschränken sich nicht mehr auf den Schutz beim eingetretenen Risiko. Sie bemühen sich vielmehr, den Eintritt von Risiken zu verhindern und präventiv zu agieren. Ausbildungs- und Arbeitsmarktpolitik ist z.B. wichtiger und verhindert auf die Dauer langfristige Probleme als die Gewährung von Einkommensersatzleistungen bei Arbeitslosigkeit Und wenn schon der Risikoeintritt nicht zu verhindern ist, soll die Leistung auch dazu dienen, möglichst schnell den Risikobereich wieder zu verlassen. In dieser Hinsicht hat modeme soziale Sicherheit eine ganz erhebliche Erweiterung des sachlichen Anwendungsbereichs im Verhältnis zur Sicherung der klassischen sozialen Risiken erfahren. Diese Erfahrung gilt es weiterzugeben an die Länder, die vor einer immensen Umgestaltungsaufgabe stehen: Soziale Sicherheit soll nicht nur auf das eingetretene Risiko reagieren; sie hat und das nicht als Neben-, sondern zunehmend als Hauptaufgabe - dazu beizutragen, das Risiko zu verhindern. Damit gewinnt die Politik der sozialen Sicherheit ein aktives Gestaltungsmoment

Einführung (oben Fn. 10), S. 21. HierllI gnmdlegend Bertram SchuJin, Soziale Entschädigung als Teilsystem kollektiven Schadensausgleichs, 1981; SchuJin, Soziales Entschädigungsrecht, in: Bemd von MaydelllFranz Ruland (Hg.), Sozialrechtshandbuch, 1988, S. 1041 ff.; SchuJin, Soziale Entschädigung, in: Narbert AchterbergIGünther Püttner (Hg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Band 2,1991, Kapitel 8. 102 § 51 Bundesseuchengesetz. 103 Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG). 100 Zacher, 101

Soziale Folgen der raschen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwandlung und Methoden zur Früherkennung sozialer Spannungen - das Beispiel Ungarn von Ott6 Czucz

I. Einführung In den mittel- und osteuropäischen Ländern finden derzeit dramatische wirtschaftliche und gesellschaftliche Umwandlungen statt. Sie rufen zahlreiche, noch nie gesehene soziale Spannungen hervor. Der Erfolg der Umwandlung hängt in erheblichem Maße davon ab, ob die erwähnten Länder imstande sind, diejenigen Lösungen zu fmden, die die erhöhten Soziallasten, gekoppelt mit den Umwandlungsprozessen, verträglich machen. Der folgende Beitrag behandelt zwei Fragen: - Welche Bereiche werden nach den bisherigen Erfahrungen des Strukturwandels durch soziale Spannungen besonders bedroht? - Welche Methoden erlauben eine frühzeitige Erkennung dieser Spannungen? Der Beitrag befaßt sich in erster Linie mit der Situation in Ungarn. Natürlich gibt es eine gewisse Ähnlichkeit in der Lage der Länder in diesem Raum. Ähnlich ist die Natur der geerbten Schwierigkeiten, und die zu lösenden Aufgaben sind auch verwandt: Steigerung der Wirtschaftseffektivität, Umstrukturierung des Eigentumssystems, Bestimmung der neuen wirtschaftlichen und politischen Richtung, usw. Trotzdem sind auch wesentliche Unterschiede im Tempo der Umwandlung zu erkennen, und die einzelnen Länder erarbeiteten offensichtlich abweichende Strategien zur Bewältigung der sozialen Konflikte. Die Situation in Ungarn repräsentiert also nicht das Ganze dieses Raumes. Unsere Untersuchungsmethode unterscheidet sich wesentlich von der im Hauptreferat aus westlicher Sicht. Bei einem institutionellen Sicherungssystem, das auf einer soliden Wirtschaft basiert und stabil funktioniert, ist es offensichtlich zweckmäßig, vom funktionierenden System auszugehen. Dabei ist zu prüfen, welche geringeren Korrekturen durch gesellschaftliche Änderungen in der Struktur notwendig werden. In Ländern mit radikalen Änderungen im

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Bereich der ökonomischen und der politischen Struktur gibt es andere Schwerpunkte. In diesen Ländern müßte die Analyse zweckmäßigerweise bei den Änderungen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Hintergrundes ansetzen, und zuerst wäre festzustellen, welche neuen Anforderungen an das sozialpolitische Institutionensystem gestellt werden. Drei Gruppen von Variahlen sind zu unterscheiden. Zunächst werden diejenigen sozialen Spannungen untersucht, die infolge der Umwandlung der Wirtschaftsstruktur zustande kommen. Doch auch die erzwungene Modernisierung eines sozialen Sicherungssystems kann neuartige soziale Spannungen in gewissen Gesellschaftsgruppierungen hervorrufen. Schließlich sollen einige weitere Faktoren benannt werden, die das institutionelle Sicherungssystem unter Druck setzen. 11. Soziale Folgen der Wirtschartsumwandlung

1. Die erste und sehr charakteristische Folge der wirtschaftlichen Strukturänderung war der außerordentlich dynamische Anstieg der Arbeitslosigkeit. Bis zum Ende der 80er Jahre galt die Politik der Vollbeschäftigung in Ungarn. 1 Heute liegt der Anteil der registrierten Arbeitslosen im aktiven Lebensalter bei 13 - 14 % der Bevölkerung. Laut bestimmter Vorhersagen könnte der Anteil bis zum Jahresende 1993 auf 20 % steigen. Zum Schutz gegen die Arbeitslosigkeit entstand schon am Anfang der 90er Jahre ein recht komplexes Institutionensystem. Seine Hauptelemente sind: Arbeitslosengeld, vorzeitige Pensionierung, Arbeitslosenhilfe für Berufsanfänger, kommunale Arbeit, Unterstützung arbeitsstellenschaffender Investititionen, usw. In letzter Zeit kommt es immer öfter vor, daß die Leistungsdauer des Arbeitslosengeldes erschöpft wird. (Nach der ursprünglichen Regelung kann diese Leistung höchstens zwei Jahre lang, ab 1992 jedoch nur noch ein Jahr lang gewährt werden). Das neue Sozialgesetz ennöglicht zwar, daß Arbeitslosen ohne anderweitige Versorgung nach Maßgabe einer Bedürftigkeitsprüfung eine soziale Sonderhilfe gewährt wird. Diese Summe ist aber so gering (80 % des jeweiligen Rentenminimums darf nicht überstiegen werden), daß sie zum Lebensunterhalt nicht genügt. Sollte es zu einer andauernden Massenarbeitslosigkeit kommen, und die gesetzlich festgelegte Höchstdauer der Arbeitslosenrente von vielen Menschen ausgeschöpft werden, so wäre zur Behandlung der verschärften sozialen Behandlungen irgendeine neue Lösung notwendig. 2. In der Wirtschaftsstruktur vollzieht sich eine außerordentlich dynamische Umwandlung. Früher wurde der überwiegende Teil der Produktion von staatlichen Unternehmen (Genossenschaften) geliefert Heute geschieht dies immer 1 Vgl. Olt6 CZUcz, Arbeitslosigkeit in Ungarn - Ursachen sowie Maßnahmen und Strategien zu ihrer Behandlung, in: Zeitschrift für ausländisches und internationales Arbeits- und Sozialrecht 1990/3, S. 275 ff.

Soziale Folgen gesellschaftlicher Umwandhmg

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mehr durch privatisierte Unternehmen, durch Privateigentümer. (Laut Vorhersagen werden diese Betriebe 1994 mehr als die Hälfte des Bruuoinlandsprodukts produzieren.) Dieser Prozeß ist z.T. eine Folge der Privatisierung. Ein zweiter, ebenfalls wichtiger Faktor ist die massenhafte Gründung kleiner Privatunternehmen. Diese Umwandlung kann außerordentlich unterschiedliche soziale Folgen haben. (Es ist keine Erscheinung innerhalb des Sozialrechts, deswegen sei hier nur erwähnt, daß solche Umwandlungen oft zu einer Schwächung arbeitsrechtlicher Positionen der Mitarbeiter in Privatunternehmen führen. Nach dem neuen Arbeitsgesetzbuch wird z.B. die Abfmdung nur denjenigen Werktätigen gezahlt, die vor der Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses mindestens drei Jahre lang bei dem gleichen Arbeitgeber beschäftigt waren. Die neuen Unternehmer schließen oft mit den übernommenen Personen neue Arbeitsverträge. Wenn die Werktätigen dabei nicht ausbedingen, daß ihre frühere Arbeitszeit mitberücksichtigt wird, können sie ihr Recht auf Abfindung verlieren.) Die neuen Unternehmen erweisen sich jedoch nicht immer als existenzfähig. Der Arbeitslohn der Beschäftigten kann gefahrdet sein. Die Löhne müssen zwar unmittelbar nach Begleichung der Schulden gegenüber dem Staat ausgezahlt werden (d.h. vor den Kreditgebern), doch könnte es vorkommen, daß ein Unternehmen derart gegenüber Staat, Steuerbehörden und Sozialversicherung verschuldet ist, daß nach Begleichung dieser Forderungen keine Deckung für Forderungen der Mitarbeiter übriggeblieben ist. Eine Aufgabe in der nahen Zukunft wird daher sein, für den Konkursfall fmanzielle Fonds zur Absicherung des Insolvenzrisikos zu bilden, und zwar durch obligatorische Lohnversicherung oder durch Teilnahme an einem Fonds zur gegenseitigen Hilfeleistung. 3. Die massenhafte Gründung von Privatunternehmen verursacht auch anderweitige Sorgen. Viele der neuen Unternehmer begannen ihre Tätigkeit nur, um der Arbeitslosigkeit zu entfliehen. Tatsache ist, daß ein erheblicher Teil der ungarischen Bevölkerung Erfahrungen mit Tätigkeiten außerhalb ihrer HauptansteIlung gewann. Es heißt, daß in den 80er Jahren ca. 70 % der Bevölkerung im aktiven Lebensalter einer Erwerbstätigkeit außerhalb der jeweiligen Hauptbeschäftigung nachging, und ca. 1/3 des Nationaleinkommens in diesem Sektor erwirtschaftet wurde. 2 Trotzdem sind die neugegründeten Unternehmen sehr großen Gefahren ausgesetzt. Die Marktmöglichkeiten werden nicht immer richtig eingeschätzt, oft fehlen unentbehrliche Vorkenntnisse und Fähigkeiten zur erfolgreichen Führung der Kleinunternehmen. Es gibt Hinweise darauf, daß 50 - 60 % der neugegründeten Kleinunternehmen innerhalb von 5 Jahren Konkurs anmelden. Eine Ausnahme bilden dabei sog. franchise-artige Privatfrrmen. 2 Vgl. Rudolf Andor/ca. A masodik gazdasag szerepe ~s tarsadahni hatasa, Aula Tarsadalom ~s Gazadasag, Budapest 1990.

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Hier beträgt die Ausfallrate ca. 5 %. Für die Kleinunternehmer gibt es keinerlei Schutz im Konkursfall. Sie können in besonders schwere Existenznot geraten. Sie sind nicht zu Arbeitslosenleistungen berechtigt und können auch das eigene Vennögen oftmals nicht in Anspruch nehmen, denn das wurde bei Beginn der Tätigkeit durch eine Hypothek belastet. In der Landwirtschaft ist die Situation ähnlich. Etwa 10 % der früheren LPG-Mitglieder verließ die Genossenschaften mit dem Ziel, kleine selbständige Farmwirtschaften zu gründen. Auch diese Leute bleiben in einem eventuellen Konkursfall ohne sozialen Schutz. Sie zu schützen heißt daher eine dringende Aufgabe der nächsten Zeit 4. Im Zusammenhang mit der Umwandlung der Wirtschaftsstruktur stiegen die Unterhaltskosten in letzter Zeit rasch an. Infolge der seit Jahren bestehenden Rezession sanken die Reallöhne ständig. Die Lebensbedingungen breiter sozialer Schichten wurden schlechter. Die Einkommensunterschiede vertiefen sich immer mehr. Soziologische Untersuchungen weisen nach, daß die Mitglieder der untersten Einkommensschichten ihre Positionen am Realeinkommen trotzdem bewahren können. (Zu diesem Kreis gehören in erster Linie die älteren Rentner und die ungebildeten Schichten.) Das ist dem Faktum zuzuschreiben, daß früher die kleinen Renten in größerem Maße, aber auch die Kindergeldleistungen mehrmals gesteigert wurden. In den Einkommensstatistiken ist gleichzeitig registriert, daß die Einnahmen der höchsten Einkommensschichten wesentlich gestiegen sind. Diese beiden Tendenzen sind nur dann möglich, wenn die Einkommenspositionen der mittleren Schichten sich zunehmend verschlechterten. Hinter dem statistischen Mittelwert verbirgt sich jedoch die wachsende Anzahl derer, die mit schweren Problemen der Sicherung des Lebensunterhalts zu kämpfen haben. Diese Tendenz ist ganz offensichtlich aus dem dramatischen Anstieg der unbezahlten Wohnungsmieten abzulesen. Nach Angaben der kommunalen Betriebe zur Daseinsvorsorge erreicht die Anzahl derjenigen, die die verbrauchte Energie zu bezahlen nicht mehr imstande sind, ein unwahrscheinliches Ausmaß. Es wird nun zur üblichen Problemlösung, Strom und Gas bei manchen Verbrauchern einfach abzuschalten. In den letzten Jahren stieg die Anzahl der Obdachlosen ebenfalls drastisch. Obwohl in dieser Zeit landesweit mehrere Übergangsheime eröffnet wurden, erweist sich ihre Kapazität - besonders in den Wintennonaten - als ungenügend. Die Anzahl der Obdachlosen in Budapest wird auf zwischen 5000 bis 50 000 geschätzt Viele dieser Menschen fmden Unterschlupf in Bahnhöfen und in auch nachts geöffneten öffentlichen Institutionen. 5. In solch verschärften Situationen werden die Menschen besonders verletzlich, wenn zusätzlich die bestehenden Familienbeziehungen zugrundegehen oder aufgelöst werden. In mehreren Städten des Landes sind schon sog. Fami-

Soziale Folgen gesellschaftlicher Urnwandhmg

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lienhilfedienste organisiert worden. Sie können aber ohne den notwendigen Institutionenhintergrund (z.B. Übergangsheime) und mangels materieller Ausstatblng ihre Aufgaben nicht hinreichend erfüllen. 6. Früher war es üblich, daß besonders Betriebe mit hohem Frauenanteil selbst Kinderkrippen und Kindergärten für die bei ihnen beschäftigten Frauen unterhielten. Mit fortschreitender Privatisierung und Verschärfung des Wettbewerbes können und wollen die Betriebe diese Kosten nicht mehr tragen. Deshalb können viele Mütter mit kleinen Kindern - auch wenn sie eine passende Stelle fänden - keine Arbeit aufnehmen. Ähnlich ist die Situation, wenn innerhalb der Familie jemand auf Dauer krank ist und der Pflege bedarf. Wir müssen bald eine Lösung auch für diese Sorgen finden.

m. Neue soziale Spannungen infolge der Modernisierung und Umformung des sozialen Institutionensystems

1. 1990 entschied das ungarische Parlament, daß die Gesundheitsleistungen, die bisher kostenlos waren und jedem Staatsbürger gewährt wurden, in Zukunft auf Versicherungsbasis erfolgen. 3 Das grundlegende Ziel dabei war, die Kostenexplosion im Gesundheitswesen zu bremsen, die finanziellen Mittel zielgerichtet und effektiver zu nutzen, sowie die Struktur des Gesundheitssystems schrittweise zu modernisieren. Dieser Umbau zog jedoch schwerwiegende, unerwünschte Folgen nach sich. Es wurde klar, daß ein nicht zu vernachlässigender Teil der Gesellschaft weder durch eigenes Recht, noch durch ein abgeleitetes Recht über eine Versicherung verfügen würde. Wenn man Gesundheitsleistungen benötigt und deren Preis voll bezahlen muß, kann man bald in die Situation geraten, daß die vorhandenen Mittel zum Selbstunterhalt nicht mehr genügen. Man benötigt eine soziale Hilfe. Die fmanziellen Möglichkeiten der örtlichen Selbstverwaltungen lassen oft nicht zu, daß sie neben ihren anderweitigen Aufgaben Mittel für die Gesundheitsleisblngen solcher Personen aufwenden. Eine ähnliche Situation ergibt sich nach dem Auslaufen der - früher erheblichen - Subventionen für medizinische Produkte. Die Lage der Diabetiker und der Verbraucher teurer Medikamente wurde kritisch. Ihr Einkommen genügte oft nicht zur Bezahlung der verteuerten Medikamente. Die örtlichen Selbstverwaltungen durften die Kostenunterschiede auf sich nehmen. In einzelnen Regionen jedoch, wo wegen der Arbeitslosigkeit oder anderer Sozialproblerne

3 Vgl. dazu "Programm der nationalen Erneuerung" des Sozialministeriurns von 1990, in: Internationale Revue für Soziale Sicherheit 4/1991, S. 23 ff.

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die zu mobilisierenden Finanzmittel erschöpft waren, wurde der Preisanstieg der Medikamente zur Quelle riesiger Probleme und sozialer Konflikte. 2. Die Finanzierung der Gesundheitsleistungen auf Versicherungsbasis hatte weitere Folgen. Früher resultierte ein erheblicher Teil der Kosten der Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen daraus, daß die unheilbaren (alten, pflegebedürftigen) Kranken weiter im Krankenhaus verblieben. Nach Entlassung war die weitere Pflege und Versorgung dieser Menschen nicht mehr garantiert. (Sie hatten Z.B. keine Familie oder keine fmanziellen Mittel, die ihnen den weiteren Lebensunterhalt bzw. die Pflege gesichert hätten.) Nach Schätzungen nahmen früher solche Kranken ca. 10 - 30 % aller Krankenhausbetten in Anspruch. Wenn aber die Krankenhäuser diese Funktion nicht mehr erfüllen können, so müssen wir für die Errichtung eines Institutionennetzes sorgen, das die alten, kranken und hilflosen Menschen versorgt.

3. Anderweitige Sorgen entstanden z.B. bei der Umgestaltung des Kindergeldsystems. Dies war früher ein Element der Versicherungsstruktur. Zu dieser Leistung waren nur diejenigen Eltern berechtigt, die mit eigener Arbeit den Versichertenstatus erworben hatten. 1990 wurde diese Leistung zu einem Staatsbürgerrecht erklärt. Diese Maßnahme verursacht in gewissen Gesellschaftsschichten Motivationsprobleme. Besonders in Zigeunerfamilien wird angestrebt, möglichst viele Kinder zur Welt zu bringen. Die Summe des Kindergeldes beträgt in der Folge oft einen Wert, der - zwar auf bescheidenem Niveau - den Unterhalt für die ganze Familie sichert. Die Eltern sind insofern nicht mehr motiviert, mit anderen Methoden - d.h. Arbeit - Einkommen zu erzielen. Das Auftreten solcher Lebensauffassungen und Familienmodelle löste starken Protest insbesondere in Regionen aus, wo weder die kommunale Selbstverwaltung noch sonstige Institutionen anderen Familien mit schweren Sozialproblernen genügend Hilfe leisten konnten. Ein weiteres Gegenargument ist, daß Ungarn sich nach Meinung von Experten der Weltbank den Luxus nicht erlauben kann, ein so kostspieliges und kaum zielgerichtetes soziales Institutionensystem aufrechtzuerhalten. 4 IV. Sonstige Faktoren Außer den erwähnten raschen wirtschaftlichen und institutionellen Änderungen gehen auch andere - vielleicht nicht so auffällige, aber nicht weniger wichtige - gesellschaftliche Umstrukturierungen in diesen Tagen vonstatten. 4 Vgl. Ch. KessideslK. DaveylJ. MickJewrighllA. SmiJhlC. Hinayon, Szoci~politika es az elosztasi rendszer, A Vil8gbank-misszi6 emIekeztetöjenek kisse röyiditett nyersforditäsa, in: Esely 1991/2, S. 47-60.

Soziale Folgen gesellschaftlicher Umwandhmg

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Ihre sozialen Folgen können erheblich sein. Wir wollen hier nur einige hervorheben.

1. Seit Jahren verschlechtern sich in Ungarn - besonders unter Männern - die Mortalitätsraten eindeutig. Seit einigen Jahren verringert sich die durchschnittliche Lebenserwartung. All das weist darauf hin, daß in Zukunft die Effektivität des Gesundheitssystems verbessert werden sollte, und daß die Staatsbürger dazu bewegt werden sollten, eine gesündere Lebensweise zu führen. 2. Es vollzieht sich spürbarer demographischer Wandel in unserem Lande. Infolge des seit Jahren anhaltenden Rückgangs der Geburtenrate steigt der Anteil der alten Menschen in der Bevölkerung. Mit der Verbreitung des "Modells der Kemfamilie" leben immer mehr alte Leute allein, die mit keiner Hilfe rechnen können, wenn sie länger pflegebedürftig werden. In den nächsten Jahren können schwere Probleme daraus auch in Ungarn entstehen. Für ihre Versorgung muß ein besonderes Sicherungssystem geschaffen werden. 3. Die Frage der Flüchtlinge kann ebenfalls zu schweren Konflikten führen. Ungarn wird zwar oft nur als Transitland angesehen, doch wurde unser Land eine Zielstation für viele Flüchtlinge aus den Ländern des nahen und femen Ostens. Es ist damit zu rechnen, daß dies auch bei uns zahlreiche soziale Konflikte verursachen kann. 4. Zu vermuten steht, daß eine Teilnahme Ungarns am europäischen Integrationsprozeß ebenfalls sozialpolitische Folgewirkungen nach sich ziehen wird. 5. Unmittelbar kaum meßbar, aber doch spürbar fmdet heute in Ungarn ein dynamischer Wertewandel statt: Als Gegenwirkung zur früheren auferzwungenen Kollektivitätsauffassung ist die Verdrängung des Solidaritätsprinzips unter den Menschen zu erkennen. All diese Faktoren könnten wesentliche Veränderungen in der Sozialpraxis zur Folge haben.

V. Methoden zur Früherkennung sozialer Spannungen In Ländern mit ausgeglichener und konsolidierter Entwicklung können die Experten sich auf die sog. passiven Methoden der Erschließung sozialer Spannungen verlassen. Durch statistische Analysen und andere Registrationsmethoden "ex post" werden neu entstehende Probleme aufgedeckt. In einer Epoche rascher Veränderungen steigt jedoch der Bedarf an sog. aktiven vorausschauenden Methoden. Die Politiker erwarten von den Experten der Sozialpolitik, daß sie vor einer weitreichenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Maßnahme die sozialen Konsequenzen der getroffenen Entschei-

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dungen evaluieren, um abzuschätzen, ob sie den Betroffenen noch zugemutet werden können oder nicht. Hierfür bieten sich die folgenden Methoden an:

1. Besonders vor Maßnahmen, die ihre Wirkungen über einen längeren Zeitraum entfalten, kann die Durchführung gewisser ModeUanalysen nützlich sein. In Ungarn hat man zu den verschiedenen Entwürfen zur Rentenrefonn ModeUrechnungen durchgeführt, die - oft durch Anwendung mehrerer Variahlen - die zu erwartenden Auswirkungen der geplanten Maßnahme auf einige Jahre, oder gar auf ein Jahrzehnt im voraus projiziert haben. Diese Berechnungen können bei der Wahl unter verschiedenen Alternativen helfen. 2. Bei kurzfristigen Leistungen (Krankheit, Mutterschaft) kann die sog. "Kosten-Nutzen-Kalkulation" zu einem guten Ergebnis führen. 3. Zur Prüfung der Veränderung in den Lebenshaltungskosten und zum Kennenlernen der Verhältnisse in den einzelnen Regionen kann ein sog. "Monitoring-Netz" organisiert werden. Dies könnte prinzipiell - bei Anwendung entsprechender soziologischer Methoden - zur Beobachtung der Veränderungen der gesellschaftlichen Werteordnung dienen. 4. Hinsichtlich der Frühererkennung von Sozialproblemen kann die Analyse der Existenzprobleme jener Menschen besonders erfolgreich sein, die in sog. "offenen Systemen" Fürsorgeleistungen beantragen. Als "offen" werden diejenigen Sicherungssysteme bezeichnet, die im voraus nicht Leistungen zur Abwehr bestimmter Schwierigkeiten festlegen. Solche sind u.a. die klassischen Institutionen der Sozialhilfe. Die ausführliche Analyse der Gründe derjenigen Personen, die Leistungen beantragen, könnte die Aufmerksamkeit relativ frühzeitig auf die dysfunktionalen Wirkungen des sozialen Institutionensystems richten oder auf dessen Unzulänglichkeiten hinweisen.

S. Die sog. "Public-choice"-Analysen könnten bei der Beurteilung einzelner sozialpolitischer Entwicklungsalternativen nützlich sein.

VI. Epilog Es scheint, daß unter den Parteien, die 1990 ins Parlament gelangten, Einverständnis darüber herrscht, daß in der nächsten Zeit alle Kräfte zur Steigerung der Wirtschaftsleistung konzentriert werden müssen. Deswegen können wir für sozialpolitische Zwecke nur die allernotwendigsten Finanzmittel binden. Das alles wirkt sich auf die Erforschung neuer sozialer Spannungen aus. Im Kreise der Experten werden im wesentlichen zwei Strategien diskutiert. Die eine beabsichtigt, nur diejenigen sozialen Schritte zu tun, die zum wirt-

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Soziale Folgen gesellschaftlicher Umwandhmg

schaftlichen Strukturwechsel unentbehrlich sind. 5 Die Vertreter des zweiten Standpunktes halten es auch für wichtig, daß die sozialpolitischen Institutionen die Grundlagen und Voraussetzungen für eine unabhängige staatsbürgerliche Existenz schaffen. 6 Während die erste Strategie in erster Linie auf eine Verstärkung der fürsorgeartigen Institutionen abzielt, möchte die zweite die existenznotwendigen Leistungen (abhängig vom Einkommensniveau der Betroffenen) als ein staatsbürgerliches Recht garantieren. Die neuesten Gesetzesvorschläge und andere Maßnahmen der ungarischen Regierung weisen darauf hin, daß sie im Grundsatz die erste Strategie vorzieht. Jeder wünscht, daß diese Maßnahmen zur Aufrechterhaltung des sozialen Friedens genügen mögen. Es bleibt abzuwarten, inwiefern diese Hoffnungen sich erfüllen werden. Literatur Andorka, Rudolf: A masodik gazdasag szerepe es tarsadalmi hatlisa, Aula Tarsadalom es Gazdasag, Budapest 1990

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Kessides, Ch./Davey, K./Micklewright, J./Smith, A./Hinayon, C.: SzociAlpolitika es az elosztasi rendszer. A Vilagbank-misszi6 emlekeztetöjenek kisse röyiditett nyersforditasa, in: Esely 199112, S. 47-60 Kolosi. Tamas-R6bert Peter: A rendszervaItas tarsadalmi hatisai. in: Val6sag 199212, S. 1-15

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atmenet, in: Közgazdasagi Szemle, XXXIX. Jahrgang, 1992, Nr. 5, S. 425447

The World Bank: Hungary - Reform of Social Poliey and Expenditures, Report N°. 9349. - Hu. 1991

Der personelle Anwendungsbereich von Systemen sozialer Sicherheit von Peter Trenk-Hinterberger Vorbemerkung 1. Der personelle Anwendungsbereich als Ordnungselement von Systemen sozialer Sicherheit 2. Bestimmungsgründe des personellen Anwendungsbereichs 11. "Grundsteine" des personellen Anwendungsbereichs Ill. Universaler Ansatz 1. Generelle Einbezugsmerkmale, Problemlagen- und Berechtigungsmerkmale a) Generelle Einbezugsmerkmale b) Problemlagen- und Berechtigungsmerkmale 2. Gestaltungsmöglichkeiten der generellen Einbezugsmerkmale a) Gestaltungsmöglichkeiten im allgemeinen b) Gestaltungsmöglichkeiten im einzelnen aa) Staatsangehörigkeit mit Inlandsaufenthalt - bb) Staatsangehörigkeit ohne Inlandsaufenthalt - ce) Volkszugehörigkeit - dd) Wohnsitz oder gewöhnlicher Aufenthalt im Inland - ee) Tatsächlicher Aufenthalt im Inland 3. Universaler Ansatz und Problemlagen- bzw. Berechtigungsmerkmale a) Soziale Problemlagen aa) Defizite bei der Sicherung des konventionellen Existenzminimums - bb) Defizite bei der Bewältigung besonderer sozialer Problemlagen wie Krankheit und Behinderung - ce) DefIZite bei der Realisierung eines angemessenen Lebensstandards wegen wirtschaftlicher Belastungen, die durch Unterhaltsleistungen an Kinder oder durch unzumutbar teuren Wohnraum bedingt sind - dd) Defizite bei Entfaltungsmöglichkeiten, wenn diese Mög-lichkeiten eine (angemessene) Ausbildung voraussetzen - ee) Defizite bei der Entwicklung junger Menschen und bei der Erziehung in der Familie b) Problemlagen- oder Berechtigungsmerkmale aa) Einfach strukturierte und komplexe Merkmale - bb) Speziell: Universaler Ansatz und Bedürftigkeitsorientierung - cc) Speziell: "Vorgeschichte" als Berechtigungsmerkmal I.

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Peter Trenk-Hinterberger

4. Leitideen des universalen Ansatzes 5. Typische Ausprägungen des universalen Ansatzes IV. Kategorialer Ansatz 1. Generelle Einbezugsmerkmale, Problemlagen- und Berechtigungsmerkmale 2. Gestaltungsmöglichkeiten der generellen Einbezugsmerkmale a) Gestaltungsmöglichkeiten im allgemeinen aa) Kernbereich der geschützten Personen und seine Ausweitung bb) Ausgrenzungsprobleme b) Gestaltungsmöglichkeiten im einzelnen aa) Einbezug der abhängig Beschäftigten (Arbeitnehmer) generell bzw. der in bestimmten Branchen abhängig Beschäftigten - bb) Einbezug von Arbeitnehmern nur bis zu einer bestimmten Entgelthöhe - cc) Einbezug von Arbeitnehmern mit "Mini-Jobs" - dd) Einbezug von arbeitnehmerähnlichen Beschäftigungen bzw. von angestrebten oder zurückliegenden Beziehungen zur abhängigen Beschäftigung ee) Einbezug von Selbständigen oder Angehörigen einer bestimmten Selbständigengruppe - ff) Einbezug von Personen aufgrund deren eigener Entscheidung (freiwilliger Beitritt) - gg) Einbezug von Familienangehörigen der gesicherten Arbeitnehmer bzw. (bestimmter) Selbständiger mit Unterhaltspflicht gegenüber diesen Angehörigen - hh) Einbezug anderer Personen 3. Kategorialer Ansatz und Problemlagen- bzw. Berechtigungsmerkmale a) Soziale Problemlagen b) Problemlagen- und Berechtigungsmerkmale 4. Leitideen des kategorialen Ansatzes 5. Typische Ausprägungen des kategorialen Ansatzes V. Konvergenz von universalem und kategorialem Ansatz VI. Schlußbemerkung I. Vorbemerkung 1. Der personelle Anwendungsbereich als Ordnungselement von Systemen sozialer Sicherheit

Der personelle Anwendungsbereich von Systemen der sozialen Sicherheit l bezeichnet den Kreis derjenigen Personen, die in den Schutzbereich solcher Systeme einbezogen sind. Der personelle Anwendungsbereich gehört zu den zentralen Ordnungselementen der Systeme sozialer Sicherheit Mit Hilfe dieses

1 Im folgenden wird unter "sozialer Sichemeit" der Bereich der öffentlichen SozialleistlDlgen verstanden.

Personeller AnwendWlgsbereich

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Ordnungselements können - im Verbund mit anderen Ordnungselementen (wie z.B. dem sachlichen Anwendungsbereich, der Organisation, der Finanzierung, den Leistungsarten) insbesondere - die historische Entwicklung von Systemen der sozialen Sicherheit in einzelnen Ländern charakterisiert werden, - sozialpolitische Präferenzen in bestehenden Systemen der sozialen Sicherung unterschieden werden, - in der Weltlandschaft der Systeme sozialer Sicherheit einzelne Rechtskreise (Rechtsfamilien) gegeneinander abgegrenzt werden und - sozialpolitische Optionen bei der Reform oder bei der Einführung von Systemen der sozialen Sicherheit unterschieden werden. 2 2. Bestlmmungsgründe des personellen Anwendungsbereicbs

Die Gesichtspunkte, nach denen Personen in den Schutzbereich eines Systems der sozialen Sicherheit einbezogen sind, hängen von grundlegenden Bestimmungsgründen ab, insbesondere von - Maximen der staatlichen Sozialpolitik. Dazu gehören z.B.: zentrale sozialethische Grundüberlegungen der Gesellschaft (z.B. im Hinblick auf materielle Freiheit, Gleichheit im Sinne von sozialer Gerechtigkeit), Funktion der Sozialpolitik im Kontext eines bestimmten Wirtschaftssystems (marktwirtschaftliches bzw. staatswirtschaftliches System), Vorstellungen über das Maß der Beteiligung des Staates an der sozialen Sicherung sowie Vorstellungen über die Rolle und Zumutbarkeit individueller/familiärer Sicherung bzw. Eigenvorsorge (Abgrenzung von Individual- und Kollektivverantwortung, Solidarität und Subsidiarität), Anerkennung von Sicherungsbedürfnissen; - den besonderen Bedarfssituationen für soziale Sicherheit (soziale Problemlagen), den Zielen und Zwecken der Systeme sozialer Sicherheit (z.B. Systeme der Existenzsicherung, Systeme der Lebensstandardsicherung), der Organisation bzw. den Methoden der Systeme sozialer Sicherheit (z.B. Techniken bzw. Organisation der Sozialversicherung), der Finanzierung von Systemen der sozialen Sicherheit und dem Charakter der unterschiedlichen Sozialleistungen (z.B. Präventions- oder Kompensationsleistungen). Alle diese Bestimmungsgründe für den Einbezug (oder den Ausschluß) von Personen in Systeme der sozialen Sicherheit sind eng miteinander verbunden. 2 So z.B. E. Eichenhofer, Systeme der sozialen Sicherheit im internationalen Vergleich, in: B. von Maydelll W. KannengieBer (Hg.), Handbuch Sozialpolitik, 1988, S. 388 ff.

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Peter Trenk-Hintemerger

Sie bilden ein so hochkomplexes Bündel von Einbezugs- oder Ausschlußgründen, daß eine isolierte Analyse des personellen Anwendungsbereichs im wesentlichen gleichsam nur "Grundsteine" des Gesamtgebäudes der sozialen Sicherheit herausarbeiten kann, während die Analyse einer Fülle weiterer "Bausteine" (d.h. weiterer Gründe und Bedingungen für den Einbezug oder den Ausschluß bestimmter Personen) sinnvoll nur unter Rückgriff auf die oben skizzierten Gesichtspunkte erfolgen kann. ß. "Grundsteine" des personellen Anwendllngsbereichs

Bei der Gestaltung des personalen Anwendungsbereichs werden herkömmlich zwei "Grundsteine" unterschieden, nämlich zum einen der universale Grundstein und zum anderen der kategoriale Grundstein: 3 - Systeme der sozialen Sicherheit, die auf einem universalen Grundstein aufbauen, bestimmen den geschützten Personenkreis primär unter Rückgriff auf die Mitgliedschaft in der Gesamtgesellschaft; sie unterstellen die Schutzbedürftigkeit aller Personen und fragen nach den sozialen Problemlagen, in denen eine Sicherung erfolgen soll (universaler Ansatz; vgl. unten III.). - Systeme der sozialen Sicherheit, die auf einem kategorialen Grundstein aufbauen, nehmen bestimmte soziale Problemlagen als gegeben an und fragen nach dem Sicherungsbedürfnis von bestimmten Personengruppen, wobei sie den geschützten Personenkreis primär unter Rückgriff auf den Status in der Erwerbsgesellschaft bestimmen (kategorialer Ansatz; vgl. unten IV.). Die Unterschiede zwischen den beiden Ansätzen des personellen Anwendungsbereichs - universaler und kategorialer Ansatz - haben sich im Zeitablauf freilich verringert: Beide Ansätze haben eine unterschiedliche Expansion und eine gegenseitige Ergänzung erfahren (Konvergenz der Ansätze; vgl. unten V.).

3 Vgl. nur G. Weißer, Soziale Sicherheit, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 9, 1956, S. 396 ff. (402 ff. ).; B. Schulte, Reformen der sozialen Sicherheit in Westeuropa 1965-1980, Vierteljahresschrift für Sozialrecht 1980,324 ff. (327 ff.); A. BosserllHJ. Merle, Die Systeme sozialer Sicherung in den OECD-Ländern - ein Vergleich ihrer Gestaltungsprinzipien, Vierteljahresschrift für Sozialrecht 1981, 149 ff. (l56 f.); Verband deutscher Rentenversicherungsträger (Hg.), Rentenversicherung im internationalen Vergleich, 1989, S. 22 f.; C. Mager, Grundrnuster und Grundelemente der Alterssicherung im internationalen Vergleich, in: H.F. Zacher (Hg.), Alterssicherung im Rechtsvergleich, 1991, S. 550 ff. (556 ff.). Die Terminologie ist freilich nicht einheitlich; zum Teil wird - ohne Unterschied in der Sache - auch vom "universalistischen" bzw. vom ''kategoriellen'' oder "selektionistischen" Ansatz gesprochen (so z.B. Schulte und Mager).

Personeller AnwendWlgsbereich

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111. Universaler Ansatz 1. Generelle Elnbezugsmerkmale, Problemlagen- und Berechtlgungsmerkmale

a) Generelle Einbezugsmerlanale Beim universalen Ansatz ist Zielpopulation für die soziale Sicherheit primär die gesamte inländische Bevölkerung; es wird also auf die Zugehörigkeit zur inländischen Gesamtgesellschaft abgestellt Diese Zugehörigkeit kann an generellen Einbezugsmerkmalen festgemacht werden, nämlich an - der Staatsangehörigkeit (Nationalitätsprinzip), - der räumlichen Bindung zum Inland (Territorialitätsprinzip) oder - an Variationen bzw. Kombinationen der beiden genannten Merkmale. 4 b) Problemlagen- und Berechtigungsmerkmale Die genannten generellen Einbezugsmerlanale sind allerdings durchweg nicht die einzigen Merkmale für den Einbezug in universal ansetzende Systeme der sozialen Sicherheit Maßgeblich für den Einbezug sind darüber hinaus weitere Merkmale, nämlich Problemlagenmerkmale, also Merlanale, die bestimmte soziale Problemlagen umschreiben, in denen die Zielpopulation geschützt werden soll (z.B. Alter, Armut, Krankheit, Behinderung, Invalidität) sowie Berechtigungsmerkmale, also Merkmale, die - über die Problemlagenmerkmale hinaus - zusätzliche Bedingungen für den Einbezug umschreiben (z.B. Erreichen bestimmter Altersgrenzen oder Vorliegen von Erwerbsunfähigkeit).5 2. GestaltungsmögUchkelten der generellen EInbezugsmerkmale

a) Gestaltungsmöglichkeiten im allgemeinen Die generellen Einbezugsmerkmale können unterschiedlich ausgestaltet sein. So kann z.B. abgestellt werden 4 Zu einer Anwendung dieser Prinzipien im Bereich der Mindestsicherwtg vgl. R. Hauser, Mindestsicherwtg im Alter - ausgewählte ökonomische Aspekte unter BerücksichtigWlg von Wanderwtgen, in: W. Schmähl (Hg.), Mindestsicherung im Alter, 1993, S. 75 ff. S Eine ähnliche Unterscheidung fmdet sich bei J. Schell, European Socia! Security Systems, in: Socia! Security in Europe - Miscellanea of the Erasmus-programme Socia! Security in the E.C., 1991, S. 97 ff. (101 f.).

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- allein auf die Staatsangehörigkeit (zR: "Alle Deutschen im In- und Ausland") oder - auf alle Staatsangehörigen, die im Inland leben (z.B.: "Alle Deutschen, die in der Bundesrepublik Deutschland wohnen") oder - auf alle Personen, die sich im Inland tatsächlich aufhalten. Diese unterschiedlichen Ausgestaltungen können zusätzlich dadurch variiert werden, daß eine bestimmte Dauer des Vorliegens eines der genannten Merkmale erforderlich ist, z.B. eine bestimmte Mindestdauer der Staatsangehörigkeit oder des Wohnsitzes im Inland (lebenslaufbezogenes Nationalitätsbzw. Territorialitätsprinzip). In diesem Bereich kann z.B. die Dauer des inländischen Wohnsitzes nicht nur für den Einbezug in das Sicherungssystem entscheidend sein, sondern auch für die Höhe der Leistung.6 Die Gestaltung der generellen Einbezugsmerkmale (reines Nationalitätsprinzip, reines Territorialitätsprinzip, Variationen und Kombinationen dieser Prinzipien) hängt im wesentlichen von den politischen (insbesondere sozialpolitischen) Zielen ab, die mit dem Schutz von Personen in bestimmten sozialen Problemlagen bezweckt wird; diese (sozial-)politischen Ziele können ihren Ausdruck auch in (verfassungs-)rechtlichen Regelungen finden. Soll beispielsweise die unerwünschte Zuwanderung von Ausländern gesteuert werden, kann deren "Quereinstieg" in den Schutz eines universal ansetzenden Systems der sozialen Sicherung durch eine Mindestdauer des Aufenthalts im Inland oder durch eine Mindestdauer der Staatsangehörigkeit erschwert werden. Wird eine offene Wirtschaft mit Wanderungen über die Grenzen favorisiert, kann die Staatsangehörigkeit eines bestimmten anderen Staates als ausreichendes generelles Einbezugsmerkmal anerkannt sein. Geht es z.B. um die Sicherung von Menschen vor elementarer Not (Hunger, akute Krankheit), wird es in der Regel geboten sein, um des Schutzes der Menschenwürde willen keine hohen Anforderungen an den Bezug zur inländischen Gesellschaft zu stellen und den tatsächlichen Aufenthalt im Inland ausreichen zu lassen. Ein Blick in die Geschichte universaler Sicherungssysteme zeigt schließlich, daß auch andere (nicht minder politisch motivierte) Merkmale als Begrenzungselemente der Leistungsberechtigung verwendet wurden, z.B. der "gute Leumund" oder die (europäische) Abstammung. 7

6 So z.B. in Dänemark für die Höhe der staatlichen Rente; vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften/MISSOC, Soziale Sicherheit in den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft, Stand: 1.7.1990,1991, S. 112. 7 Vgl. Internationales Arbeitsamt, Die beitragsfreie Staatsbürgerversorgung, 1933, S.O f.

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b) Gestaltungsmöglichkeiten im einzelnen aa) Staatsangehörigkeit mit Inlandsaufenthalt: Die Staatsangehörigkeit (als rechtlich stark formalisiertes Band der Solidarität zwischen den Bürgern eines Staates) mit Inlandsaufenthalt (als territorialer Bindung) ist aus der Sicht des universalen Ansatzes die intensivste Bindung an die InlandsgesellschafL Bei Vorliegen dieser Kombination erfolgt in den universal ansetzenden Systemen der sozialen Sicherheit durchweg ein Einbezug in den gesicherten Personenkreis, sofern die weiteren Problemlagen- und Berechtigungsmerkmale erfüllt sind. bb) Staatsangehörigkeit ohne Inlandsaufenthalt Staatsangehörigkeit ohne Inlandsaufenthalt ist aus der Sicht des universalen Ansatzes für den Einbezug in den gesicherten Personenkreis dort typisch, wo - existenzsichernde Aspekte der sozialen Sicherheit im Vordergrund stehen und - die inländische Gesellschaft die Verantwortung für die existenzsichernde soziale Sicherheit des Staatsangehörigen nicht ablegen kann, weil eine der inländischen Sicherung entsprechende Sicherung im (ausländischen) Aufenthaltsstaat nicht besteht (bzw. der Aufenthaltsstaat die Leistungsverantwortung nicht übernimmt). Geht es allerdings "nur" um existenzsichernde Hilfe, die eine Sicherung des relativen (d.h. auf die Verhältnisse des Aufenthaltsstaats bezogenen) Existenzminimums gewährleisten soll, ist das Maß der Hilfe typischerweise an die Verhältnisse des Aufenthaltsstaats angepaßt. So werden z.B. nach dem skizzierten Muster deutsche Staatsangehörige mit gewöhnlichem Aufenthalt im Ausland vor allem bei elementarer materieller Not, bei Krankheit sowie bei Schwangerschaft und Mutterschaft durch Leistungen der deutschen Sozialhilfeträger nach § 119 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) oder als Kinder und Jugendliche aus zerbrochenen Familien bei Erziehungsproblemen durch Leistungen der deutschen Jugendhilfeträger auf der Grundlage des § 6 Abs. 3 Sozialgesetzbuch (SGB) VIll unterstützt. Teilweise genügt die Staatsangehörigkeit ohne Inlandsaufenthalt aber auch dann, wenn der Staat ein gesteigertes Interesse am Auslandsaufenthalt seiner Staatsbürger hat und diesen Aufenthalt deshalb fördert (so z.B. § 6 Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) für die Förderung deutscher Studierender mit ständigem Wohnsitz im Ausland). ce) Volkszugehörigkeit In bestimmten Bereichen der sozialen Sicherheit kann neben der Staatsangehörigkeit auch die Volkszugehörigkeit als generelles Einbezugsmerkmal in Betracht kommen: Die rechtlich stark formalisierte

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Staatsangehörigkeit kann durch eine rechtlich weniger fonnalisierte Bindung, nämlich die Volkszugehörigkeit ersetzt sein, die in einem besonderen Bekenntnis zum inländischen Volkstum (bestätigt durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur) zum Ausdruck kommt. Typisch ist die Volkszugehörigkeit etwa im deutschen System der sozialen Sicherheit für die Kriegsopferversorgung, also für einen Bereich, in dem es um die Schädigung der Gesundheit geht, für die eine besondere Verantwortung der inländischen Gesamtgesellschaft auch für Personen mit dem oben skizzierten Bekenntnis besteht (vgl. z.B. für das deutsche soziale Entschädigungsrecht § 7 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG». dd) Wohnsitz oder gewöhnlicher Aufenthalt im Inland: Wohnsitz und gewöhnlicher Aufenthalt im Inland, die bestimmte rechtliche Anforderungen erfüllen müssen, dokumentieren verfestigte territoriale Bindungen zum Inland. Aus der Sicht des universalen Ansatzes kann aber je nach sozialer Problemlage und je nach dem Zweck der entsprechenden Sozialleistung erforderlich sein, daß Wohnsitz oder gewöhnlicher Aufenthalt bestimmte zusätzliche Merkmale erfüllen, um von der inländischen Rechtsordnung als generelles Einbezugsmerkmal anerkannt zu werden (vor allem Mindestdauer des Wohnsitzes/des gewöhnlichen Aufenthalts im Inland, Aufenthaltsgenehmigung oder Duldung des Aufenthalts). So wird im deutschen Recht für den Einbezug in den Schutzbereich des Ausbildungsförderungs-, des Kindergeld-, und des Jugendhilferechts eine bestimmte rechtliche Qualität des Aufenthalts im Inland vorausgesetzt (nämlich ein "berechtigter" Aufenthalt, vgl. §§ 8 Abs. 1 Nr. 3 BAföG, 1 Abs. 3 Bundeskindergeldgesetz - BKGG, 6 Abs. 2 SGB VIII). ee) Tatsächlicher Aufenthalt im Inland: Der tatsächliche Aufenthalt im Inland, der an keine rechtlichen Vorbedingungen geknüpft ist, reicht aus der Sicht des universalen Ansatzes als generelles Einbezugsmerkmal typischerweise für zwei Bereiche aus, die man dem Bereich der Sicherung des Existenzminimums zurechnen kann: Der tatsächliche Aufenthalt genügt zum einen, wenn sich eine Person in einer existenzgefährdenden Lage der Mittellosigkeit befmdet, deshalb ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten kann und/oder keine Mittel für die Behandlung einer akuten Krankheit besitzt, und aus diesem Grunde einer entsprechenden sofortigen Hilfe in dieser Notlage bedarf, soll sie nicht an ihrer Menschenwürde Schaden nehmen. Beispiel für das Ausreichen einer so flüchtigen Bindung an die inländische Gesellschaft als generelles Einbezugsmerlcrnal ist der Einbezug von Ausländern mit tatsächlichem Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland in die existenzsichernden Bereiche des Sozialhilferechts (vgl. § 120 BSHG).

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Der tatsächliche Aufenthalt genügt zum anderen, wenn eine Person bei einem tatsächlichen Aufenthalt im Inland einen Gesundheitsschaden erlitten hat, für den die inländische Gesellschaft eine besondere Verantwortung trägt. Beispiele sind im deutschen Recht der Einbezug von Personen, die bei einem Aufenthalt in der Bundesrepublik (unter bestimmten Umständen) Opfer einer Straftat wurden oder einen Impfschaden erlitten haben (vg. §§ 1 Opferentschädigungsgesetz (OEG), 51 Bundesseuchengesetz (BSeuchG). Allerdings besteht beim tatsächlichen Aufenthalt, der ein leicht herzustellendes generelles Einbezugsmerkmal ist, in der Regel Bedarf nach Ausgrenzung bestimmter Personen, weil diese einen Einbezug in das System der sozialen Sicherheit nicht "verdienen". Dies kann der Fall sein, wenn - das generelle Einbezugsmerkmal mißbräuchlich hergestellt wird (z.B. Einreise allein in der Absicht, eine Existenzsicherung bzw. eine Krankenbehandlung zu erlangen), - andere Staaten den Einbezug in den gesicherten Personenkreis trotz schwacher Bindung an das Inland (wie dies beim tatsächlichen Aufenthalt der Fall ist) nicht in gleicher Weise honorieren (insbesondere durch Anerkennung der Gegenseitigkeit, also durch eine Sicherstellung des gleichen schützenden Einbezugs in der gleichen Situation). Ein solcher Einbezug von Personen in das Sicherungssystem muß dann - da er unerwünscht ist - durch entsprechende Abwehrvorschriften erschwert bzw. ausgeschlossen werden (vgl. z.B. für das deutsche Basissicherungssystem der Sozialhilfe § 120 Abs. 1 S. 1 BSHG, wonach derjenige keinen Anspruch hat, der "sich in den Geltungsbereich dieses Gesetzes begeben hat, um Sozialhilfe zu erlangen"). 3. Universaler Ansatz und Problem lagen- bzw. Berechtigungsmerkmale

a) Soziale Problemlagen Der universale Ansatz zielt typischerweise auf den Schutz der in die inländische Gesamtgesellschaft einbezogenen Personen bei Vorliegen bestimmter sozialer Problemlagen. Die ursprünglich dominierenden leistungsauslösenden sozialen Problemlagen des universalen Ansatzes waren das Alter (insbesondere die Altersarmut), die Invalidität und daneben die "allgemeine" (aItersunabhängige) Armut. 8 Die Vermeidung von Armut ist auch heute noch das kenn8 Vgl. auch D. Zöll1ll!r, Vergleich von Sozialversicherungssystemen verschiedener Länder in ihrer geschichtlichen Entwicklung, Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft 1980, 215 ff. (221).

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zeichnende Merkmal des universalen Ansatzes. Allerdings läßt sich mittlerweile in zahlreichen Staaten eine Ausweitung der leistungsauslösenden sozialen Problemlagen beobachten. Insgesamt lassen sich vor allem folgende soziale Problemlagen des universalen Ansatzes unterscheiden: aa) Defizite bei der Sicherung des konventionellen Existenzminimums: Beispiele sind die Sicherung - bei Mittellosigkeit ("Armut") im allgemeinen (so z.B. das deutsche Sozialhilferecht mit dem Bereich der "Hilfe zum Lebensunterhalt" nach §§ 11 ff. BSHG), - bei Erreichen einer bestimmten Altersgrenze (so das schwedische, dänische und niederländische Altersruhegeld) oder bei Eintritt von Invalidität (so die dänische und niederländische Invalidenrente).9 bb) Defizite bei der Bewältigung besonderer sozialer Problemlagen wie Krankheit und Behinderung: Beispiele sind etwa die Sicherung bei Krankheit und Behinderung durch - Sach- und Geldleistungen (so z.B. im deutschen Sozialhilferecht durch entsprechende Leistungen der "Krankenhilfe" und der "Eingliederungshilfe für Behinderte" als Arten der Hilfe in besonderen Lebenslagen; vgl. §§ 37, 39 ff. BSHG), - Sachleistungen in Dänemark, Italien und Großbritannien (insbesondere im Rahmen eines nationalen Gesundheitsdienstes). 10 cc) Defizite bei der Realisierung eines angemessenen Lebensstandards wegen wirtschaftlicher Belastungen, die durch Unterhaltsleistungen an Kinder oder durch unzumutbar teuren Wohnraum bedingt sind: Beispiel sind im deutschen Recht der sozialen Sicherheit die sozialen Problemlagen des Kindergeld-, Erziehungsgeld- und Wohngeldrechts. Kennzeichnend ist hier das Bestreben des Staates, den Aufwand für den Unterhalt von Kindern oder für den Aufwand für eine angemessene Wohnung durch Geldleistungen zu mindern (nicht in vollem Umfang auszugleichen). dd) Defizite bei Entfaltungsmöglichkeiten, wenn diese Möglichkeiten eine (angemessene) Ausbildung voraussetzen: Beispiel ist im deutschen Recht der 9 Vgl. Kommission (oben Fn. 6), S. 110 (Dänemark) und S. 111 (Niederlande) für das Altersruhegeld, S. 93 (Niederlande) für die Invalidität; zu Schweden vgl. PA Köhler, Schweden, in: H.F. Zacher (oben Fn. 3), S. 375 ff. (381). 10 Vgl. Kommission (oben Fn. 6), S. 56 (Dänemark) sowie zum nationalen Gesundheitsdienst S. 57 (Italien und Großbritannien). Eingehend zum National Health Service im Vergleich zur deutschen gesetzlichen Krankenversicherung eh. KorbanJra, Staatsbürgerversorgung und Sozialversicherung, 1991.

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sozialen Sicherheit die soziale Problemlage der Ausbildungsförderung (vor allem nach dem BAföG). Auch hier geht es im wesentlichen darum, daß der Staat dem einzelnen Auszubildenden die für den Lebensunterhalt und für die Ausbildung benötigten Mittel zur Verfügung stellt. ee) DefIZite bei der Entwicklung junger Menschen und bei der Erziehung in der Familie: Beispiele sind im deutschen Recht der sozialen Sicherung die sozialen Problemlagen des Jugendhilferechts (nach dem SGB VIII). Die Maßnahmen der Jugendhilfe greifen besonders dann ein, wenn die Entwicklumg von Kindern und Jugendlichen zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit gefährdet ist oder Schwierigkeiten in der Person des Kindes bzw. des Jugendlichen, in seiner Familie oder in seinem weiteren gesellschaftlichen Umfeld (z.B. in der Schule) aufgetreten sind. b) Problemlagen- oder Berechtigungsmerkmale aa) Einfach strukturierte und komplexe Merkmale: Die Umschreibung der sozialen Problemlagen, gegen die von einem universalen Ansatz aus geschützt werden soll (also z.B. Armut, Alter, Krankheit, Invalidität, ErziehungsdefIZit), impliziert zwangsläufig eine Umschreibung des zu schützenden Personenkreises (z.B. mit Hilfe einer Defmition desjenigen, der arm, alt, krank, invalide bzw. von einem Erziehungsdefizit betroffen ist). Die Umschreibung des geschützten Personenkreises kann dabei auf wenige, einfach strukturierte Berechtigungsmerkmale begrenzt sein (Beispiel: Erreichen eines bestimmten Alters als Voraussetzung eines Altersruhegeldes). Solche wenigen, einfach strukturierten Problemlagen- oder Berechtigungsmerkmale sind allerdings eher selten und für diejenigen universal ansetzenden Systeme der sozialen Sicherheit typisch, die ein einfach konstruiertes, originäres (bedürftigkeitsunabhängiges) System der Mindestsicherung favorisieren. Je weiter ein universal ansetzendes System der sozialen Sicherheit im Hinblick auf die sozialen Problemlagen aber reicht, also z.B. auch soziale Problemlagen der oben unter a) ce) bis ee) genannten Art umfaßt bzw. eine Bedürftigkeitsprüfung vorsieht, desto komplexer werden auch die speziellen Berechtigungsmerkmale. Charakteristisch für den universalen Ansatz im deutschen System der sozialen Sicherheit ist die Eingrenzung des geschützten Personenkreises durch ein komplexes Bündel von Berechtigungsmerkmalen (vgl. etwa beim Erziehungsgeld: Zusammenleben mit einem Kind in einem Haushalt, Betreuung und Erziehung dieses Kindes durch den Personensorgeberechtigten selbst, keine oder keine volle Ausübung der Erwerbstätigkeit durch den Personensorgeberechtigten; s. § 1 Abs. 1 Bundeserziehungsgeldgesetz - BErzGG). bb) Speziell: Universaler Ansatz und Bedürftigkeitsorientierung: Soweit universal ansetzende Systeme der sozialen Sicherheit Personen nur dann schüt-

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zen, wenn diese bedürftig sind (also typischerweise nicht oder nicht ausreichend in der Lage sind, sich selbst durch eigene Kräfte und Mittel zu helfen), bedingt eine Bedürftigkeitsprüfung in der Regel eine doppelte konkret-individuelle Betrachtung bei der Festlegung des Kreises der geschützten Personen_ Die zur Bewältigung der sozialen Problemlage vorgesehene Hilfe kann dann von bestimmten Bedürftigkeitsmerkmalen abhängig sein, insbesondere von - nicht-wirtschaftlichen Merkmalen (z.B. der Bereitschaft, die Arbeitskraft zur Beschaffung des Lebensunterhalts einzusetzen; oder der Eignung und Neigung für eine Ausbildung); - wirtschaftlichen Merkmalen (Einkommens- und Vermögenslage). Diese Bedürftigkeitsmerkmale können bei den einzelnen sozialen Problemlagen unterschiedlich gestaltet sein und entsprechend zum Einbezug in den geschützten Personenkreis oder zum Ausschluß aus dem geschützten Personenkreis führen. Die differenzierte Umschreibung dieser Bedürftigkeitsmerkmale (und damit die Intensität der Bedürftigkeitsprüfung) hängt dabei insbesondere von den (sozial-)politischen Zielen ab, die mit dem Einbezug in einen bedürftigkeitsorientierten Teilbereich der sozialen Sicherheit verfolgt werden. So können Z.B. die Bedürftigkeitsgrenzen unterschiedlich hoch angesetzt sein, etwa wenn - es um die Sicherung des Existenzminimums oder die Sicherung für den Fall der Krankheit geht und zu entscheiden ist, welcher Einsatz der eigenen Mittel zur Bewältigung der sozialen Problemlage zugemutet werden soll (so etwa die unterschiedlichen Bedürftigkeitsgrenzen für die Hilfe zum Lebensunterhalt und für die Krankenhilfe im deutschen Sozialhilferecht, vgl. §§ 11, 28 BSHG), - bei allen Personen eine wirtschaftliche Belastung ausgeglichen werden soll, die durch Unterhaltsleistungen an Kinder bedingt ist (typisch: Kindergeld), wobei aber Personen mit Einkünften über einer bestimmten Grenze eine geringere Leistung (z.B. ein geminderter Betrag des Kindergeldes; so z.B. im deutschen Kindergeldrecht § 10 Abs. 2 BKGG) oder gar keine Leistung zukommen soll. ce) Speziell: "Vorgeschichte der Verantwortung" als Berechtigungsmerkmal: Spezielles Berechtigungsmerkmal innerhalb eines universalen Ansatzes kann auch eine "Vorgeschichte der Verantwortung" 11 insofern sein, als

11 Dazu vgl. H.F. Zacher, Ziele der Alterssicherung Wld Fonnen ihrer VerrechtlichWlg, in: H.F. Zacher (oben Fn. 3), S. 26 ff. (72).

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alle Personen (bei denen ein generelles Einbezugsmerkmal - z.B. Staatsangehörigkeit - und ein bestimmtes Problemlagenmerkmal - z.B. Invalidität -) einbezogen werden, sofern sich an ihnen eine bestimmte "Vorgeschichte" realisiert hat. Typisch für eine solche Vorgeschichte ist die gesundheitliche Schädigung infolge von Ursachen, für die das staatliche Gemeinwesen (aus Gründen der Solidarität mit den Geschädigten) die rechtliche Verantwortung übernimmt. Die Verknüpfung dieser Verantwortung mit dem eingetreteneri Schaden kann dabei durch eine Reihe weiterer Berechtigungsmerkmale erfolgen (in der Kriegsopferentschädigung des deutschen Systems der sozialen Sicherheit z.B. durch die Mitgliedschaft in einer bestimmten staatlichen - am Krieg mitbeteiligten - Organisation oder durch ein bestimmtes, mit dem Krieg im Zusammenhang stehendes Ereignis; vgl. z.B. §§ 2, 5 BVG). 4. Leitideen des universalen Ansatzes

Welche Leitideen die Systeme der sozialen Sicherheit beherrschen, die auf dem universalen Ansatz aufbauen, läßt sich nicht einheitlich beantworten. Historisch betrachtet liegt dem universalen Ansatz im wesentlichen ein Perspektivwechsel zugrunde: Nicht (mehr) die gesellschaftliche Stellung im Produktionsprozeß steckt den Personenkreis ab, der sozial gesichert werden soll, sondern die Zugehörigkeit zur Gesamtgesellschaft: Damit entfällt die bis dahin verbreitete Begründung der Sozialpolitik, daß nämlich soziale Sicherheit die Klassenlage (namentlich) der Industriearbeiterschaft ausgleichen oder verändern soll. Die aktuellen Leitideen des universalen Ansatzes hängen wesentlich von Gesellschaftsbildern und von ordnungspolitischen Vorstellungen sowie den darin wirkenden Gerechtigkeits- und Gleichheitsidealen ab, die insbesondere in Verfassungen verrechtlicht sein können. Leitideen des universalen Ansatzes können insbesondere sein: (1) Vermeidung von Armut (Sicherung eines soziokulturellen Existenzminimums), allgemeine soziale Solidarität (gesteigerte Verantwortung der Allgemeinheit im Sinne von Kollektivverantwortung für bestimmte soziale Problemlagen: z.B. Sicherung des Überlebens der einzelnen und damit Sicherung des Überlebens der Gesellschaft), Förderung der Integration in die inländische Gesellschaft, relative soziale Homogenität für den sozialen Frieden, Sicherung eines menschenwürdigen Daseins, Chancengleichheit (z.B. im Hinblick auf Ausbildung), Förderung der Familie; (2) gesteigerte Verantwortung des Gemeinwesens für bestimmte Ereignisse der Vergangenheit;

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(3) Bedarfsgerechtigkeit und Subsidiarität (Nachrang gegenüber der Selbsthilfe durch eigene Kräfte und Mittel als Ausdruck eines selbstbestimmten Lebens; Nachrang gegenüber dem Einbezug in andere - kategorial ansetzende Teilbereiche der sozialen Sicherheit). Vereinfacht kann man auch sagen: Universal ansetzende Systeme der sozialen Sicherheit können die Ausgrenzung von Randgruppen der Gesellschaft vermeiden bzw. die Integration von Randgruppen fördern, insbesondere weil sich der Status des Nichtverdieners und Abweichungen von einer Standard-Erwerbsbiographie nicht apriori negativ auswirken. 12 5. Typische Ausprägungen des universalen Ansatzes

Typische Ausprägungen des universalen Ansatzes können z.B. sein: die Integration der entsprechenden Sozialleistungen in die (steuerfinanzierten) öffentlichen Haushalte (Beispiele: In der Bundesrepublik Deutschland die Integration der Sozialhilfe und Jugendhilfe im wesentlichen in die Haushalte der Kommunen und Länder; der Leistungen zur Ausbildungsförderung, des Erziehungsgelds, der Kriegsopferentschädigung, des Unterhaltsvorschusses und des Wohngelds im wesentlichen in die Haushalte des Bundes und der Länder; des Kindergelds in den Haushalt des Bundes); in Dänemark die Integration der Sicherung im Falle von Krankheit, Mutterschaft, Invalidität und Alter in die öffentlichen Haushalte); 13 - eine bestimmte Ausgestaltung der Leistungen: Im Rahmen des universalen Ansatzes können Geldleistungen individualisiert (d.h. am konkret-individuellen Bedarf orientiert), standardisiert und pauschaliert (d.h. in abstrakt-generellen Beträgen) oder teils individualisiert bzw. teils standardisiert/pauschaliert sein. In der Regel sind die Leistungen standardisiert und pauschaliert (d.h. an typischen Bedarfen orientiert) und zudem überwiegend auf das (unterschiedlich festgesetzte) "Notwendige" beschränkt. Die Festlegung der Höhe und das Verfahren der Festlegung dieser standardisierten und pauschalierten Leistungen gehören zu den schwierigsten Problemen der universal ansetzenden Systeme der sozialen Sicherheit. 14

12 So zu Recht E.-M. Hohnerlein, Kompensatorische Regelungen der gesetzlichen Alterssichenmgssysteme bei durchbrochenen Erwerbsbiographien - Ansätze zur Anedtennung unbezahlter Familienarbeit in Europa, Zeitschrift für Sozialrefonn 1991, 589 ff. (589). Dazu auch im einzelnen z.B. die eingehende Untersuchung von R. Wede/cind, Geistig behinderte Menschen und ihre Familien in Dänemark und der Bundesrepublik Deutschland, 1985, S. 111 ff., 151 ff. 13 VgJ. Kommission (oben Fn. 6), S. 36, 38. 14 Zu diesen Problemen z.B. im deutschen SoziaJhilferecht vgJ. W. Schellhorn, Einführung ei-

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Sach- und Dienstleistungen (z.B. medizinische Hilfen bei Krankheit, Hilfen für die Erziehung) beinhalten hingegen in der Regel die für den konkret-individuellen (tatsächlichen) Bedarf ausreichenden, zweckmäßigen und wirtschaftlich vertretbaren Hilfen (zumeist ohne Begrenzung auf einen Durchschnitt oder ein Minimum). IV. Kategorialer Ansatz 1. GenereUe Einbezugsmerkmale, Problemlagen- und Berechtigungsmerkmale

Der kategoriale Ansatz für den Einbezug in das System der sozialen Sicherheit stellt primär auf die Zugehörigkeit zu bestimmten Kategorien der inländischen Erwerbsgesellschaft ab: Einbezogen wird die Kategorie der Erwerbstätigen (abhängig Beschäftigten bzw. Selbständigen). Daneben kommt der Einbezug einer Fülle von Personenkategorien in Betracht, die aus unterschiedlichen sozialpolitischen Erwägungen den Sicherungssystemen für Erwerbstätige zugeordnet werden (generelle Einbezugsmerkmale). Die generellen Einbezugsmerkmale sind allerdings nicht das einzige Kriterium für den Einbezug in die kategorialen Systeme der sozialen Sicherheit. Maßgeblich für den Einbezug sind darüber hinaus weitere Merkmale, die insbesondere von der zu sichernden sozialen Problemlage und von der Methode der sozialen Sicherung abhängen. 2. GestaitungsmägUchkelten der generellen Einbezugsmerkmale

a) Gestaltungsmöglichkeiten im allgemeinen

aal Kernbereich der geschützten Personen und seine Ausweitung: Beim kategorialen Ansatz ist Zielpopulation für die soziale Sicherheit im wesentlichen die Kategorie der Erwerbstätigen: Entscheidend für den Einbezug in die soziale Sicherheit ist der Status in der Erwerbsgesellschaft (z.B. als Arbeimehmer oder Selbständiger). Den Kernbereich der kategorial ansetzenden Systeme der sozialen Sicherheit bilden traditionell die abhängig Beschäftigten (Arbeimehmer); die klassische Sicherungstechnik dieses Ansatzes ist die Sozialversicherung (tlBismarck-Modell tl ). Typisch ist jedoch Gedenfalls für die meisten westlichen Industriestaaten) eine in der Regel sukzessive, in engem Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Entwicklung stehende Ausweitung der arbeitnehmerzentrierten Sicherungssysteme. Eine solche Ausweitung hängt freilich entscheidend von ökonomischen und administrativen, aber auch von kulturellen und sozialen Bedingungen des jeweiligen Staates ab: nes neuen Bedarfsbemessungssystems für die Regelsätze in der Sozialhilfe, Nachrichtendienst des Deutschen Vereins 1990, 14 ff.

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So ist Z.B. in Staaten, in denen infolge der wirtschaftlichen Situation die Schattenwirtschaft blüht bzw. ein großer Teil der Erwerbstätigen aus "kleinen" Selbständigen, landwirtschaftlichen Arbeitnehmern und ohne Bezahlung tätigen Familienangehörigen besteht, eine Ausweitung des arbeitnehmerzentrierten, auf der Technik der Sozialversicherung gründenden kategorialen Sicherungssystems aus unterschiedlichen Gründen äußerst schwierig (z.B. weil die Selbständigen wegen ihrer geringen Einkünfte oder die ohne Bezahlung tätigen Familienangehörigen nicht in der Lage sind, Beiträge zur Sozialversicherung zu zahlen oder weil landwirtschaftliche Arbeitnehmer als Wanderarbeiter oft den Arbeitgeber wechseln). 15 Eine solche Ausweitung weist zumeist verschiedene Dimensionen auf. 16 Sie kann bestehen in (1) der sukzessiven Ausdehnung der bestehenden Systeme der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer auf andere Personenkategorien, etwa

- auf andere Mitglieder der Erwerbsgesellschaft (z.B. bestimmte Selbständige, insbesondere landwirtschaftliche Unternehmer), - auf Angehörige der bereits gesicherten Mitglieder der Erwerbsgesellschaft (z.B. auf Ehegatten und Kinder, aber auch auf Partner eheähnlicher Lebensgemeinschaften), - auf Personen, die am Rande der Erwerbsgesellschaft angesiedelt sind (z.B. auf Behinderte in geschützten Einrichtungen des Sonderarbeitsmarktes), (2) der sukzessiven Einführung neuer, eigenständiger kategorialer Systeme der sozialen Sicherheit (z.B. berufsständische Systeme für Ärzte), (3) der Öffnung der bestehenden erwerbszentrierten Systeme der sozialen Sicherheit für Personen, die nicht der Erwerbsgesellschaft angehören, und zwar durch die Möglichkeit des freiwilligen Beitritts zu diesen Systemen. Mit der Ausweitung der gesicherten Personenkreise verflüchtigt sich dann aber der traditionelle Bezug der Sozialpolitik zur "Klassenpolitik" und zum ursprünglichen Ziel der Sozialversicherung, die fortgesetzte Verwertung der (noch) vorhandenen Arbeitskraft zu fördern. Die Ausweitung kann sogar so weit getrieben werden, daß praktisch die gesamte erwerbsfähige Bevölkerung in das kategoriale System integriert ist, insbesondere dann, wenn das Sicherungssystem - wie in den ehemals sozialistischen Ländern - auf alle 1S Vgl. dazu z.B. für Lateinamerika: C. Meso-Logo, Vergleichende Studie über die Entwicklung der Sozialen Sicherheit in Lateinamerika, Internationale Revue für Soziale Sicherheit 1986, 139 ff. (151 ff.); für Afrika: J.-V. Grual, Social Security Schernes in Africa, International Labour Review 1990, 405 Cf. 16 Vgl. B. Scludte (oben Fn. 3), 329.

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"Werktätigen" erstreckt wird und der Staat für jeden Bürger im erwerbsfähigen Alter einen Arbeitsplatz zur Verfügung stellt. 17 Im Verlauf des Transformationsprozesses 18 in den ehemals sozialistischen Ländern dürfte gerade die Reduktion dieser extrem weit getriebenen Ausweitung auf bestimmte Personenkreise besondere Probleme (auch der Akzeptanz in der Bevölkerung) mit sich bringen. Wird das kategoriale System schrittweise (wie es jedenfalls in den meisten westlichen Industriestaaten Tradition ist) erweitert. so können mit jeder Erweiterung freilich Differenzierungs- und Ausschlußregeln einhergehen, die bestimmte Gruppen privilegieren und andere auf Abstand halten. Auf diese Weise können soziale "Sicherheitsklassen" geschaffen werden; und mit jeder Erweiterung innerhalb der sozialen "Sicherheitsklassen" können komplexe Interessenlagen entstehen. Zugleich kann die Ausweitung (als Ergebnis einer selektiven Sozialpolitik) auch zu Wildwuchs führen (z.B. zu Überschneidungen beim Schutz der einbezogenen Personen und zu Koordinierungsdefiziten). bb) Ausgrenzungsprobleme: Der kategoriale Ansatz von Systemen der sozialen Sicherheit kann dazu führen, daß gerade die am stärksten benachteiligten bzw. bedürftigsten Gruppen der Gesellschaft ausgegrenzt werden, etwa dadurch, daß (1) im Sinne einer rigorosen Lösung nur diejenigen Personen (Arbeitnehmer) einbezogen werden, die keinen Zugang zum privaten (Ver)Sicherungsmarkt haben (z.B. weil sie chronisch krank sind und deshalb keine Privatversicherung ihren Schutz übernehmen will);

(2) Personen den Status der gesicherten Kategorie verlieren (z.B. vom Arbeitnehmer zum Arbeitslosen werden) und das kategoriale System ein System ohne "Boden" ist, also - entweder keine Vorkehrungen dafür trifft, auch diejenigen in dem kategorialen System (weiter) zu sichern, die den Status der gesicherten Kategorie nicht mehr haben (also z.B. Arbeitslose für den Fall der Krankheit ebenso zu sichern wie "aktive" Arbeitnehmer),19

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heit

Vgl. V. George, Soziale Sicherheit in der UdSSR, Internationale Revue für Soziale Sicher-

1991,49 ff.

18 Zu diesem Prozeß im Bereich der Krankenversicherung vgl. z.B. B. Schirmer, Reorganisation of the health care systems of Eastem Europe, International Journal of Risk & Safety in Medicine 1993,79 ff. 19 Von solchen Ausgrenzungen Arbeitsloser aus der gesetzlichen Krankenversicherung berichtet z.B. E. Orosz, Behindert von alten und neuen Fallen: Die ungarische Gesundheitsreform, Internationale Revue für Soziale Sicherheit 1991, 19 ff. (26). 10 von Maydell/Hohnerlein

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- oder kein subsidiäres, universal ansetzendes (Mindest-)Sicherungssystem vorhanden ist, an das diejenigen verwiesen werden können, die den Status der gesicherten Kategorie verloren haben. Eine Ausgrenzung kann ferner dadurch erfolgen, daß Erwerbspersonen bestimmte Grundannahmen des kategorialen Systems nicht erfüllen können: Geht das kategoriale System der sozialen Sicherheit z.B. vom normativen Typus des "Normalverhältnisses" im Sinne einer stabilen, kontinuierlichen, abhängigen Vollzeitbeschäftigung ("Arbeitnehmerbeamte") aus, so können alle diejenigen ausgegrenzt sein, deren (z.B. nur auf eine bestimmte Dauer oder nur auf eine geringe Arbeitszeit gerichteten) Arbeitsverhältnisse diesem Typus nicht entsprechen. Die Ausgrenzung solcher "irregulärer" Arbeitnehmer kann dann dazu führen, daß diese Arbeitnehmer entweder ungesichert bleiben oder auf subsidiäre (Mindest-)Sicherungssysteme verwiesen werden, die diskriminierende Wirkung haben können. Die Konfliktlinie verläuft dann zwischen "regulären" und "irregulären" Erwerbspersonen (wobei zu den letzteren typischerweise Frauen gehören).20 b) Gestaltungsmöglichkeiten im einzelnen Aus der Sicht eines kategorialen Ansatzes kommen für den Einbezug in den Schutz der sozialen Sicherung (in der Regel: der Sozialversicherung; vgl. unten 2. b) insbesondere folgende Möglichkeiten in Betracht aa) Einbezug der abhängig Beschäftigten (Arbeitnehmer) generell bzw. der in bestimmten Branchen abhängig Beschäftigten: Bei den Arbeitnehmern kann im historischen Ablauf, aber zum Teil auch noch in der Gegenwart die typisierende Unterscheidung in zwei Kategorien von Arbeitnehmern, nämlich in die Kategorie der "Arbeiter" und die Kategorie der "Angestellten" konstatiert werden. Im Hinblick auf die soziale Sicherung ist diese Unterscheidung freilich zunehmend fraglich geworden, weil es in der Regel an einem sachlichen Grund für diese Differenzierung fehlt. So ist im Recht der sozialen Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland von dieser (ursprünglich bedeutsamen) Unterscheidung nicht mehr viel übriggeblieben (es bleibt z.B. die Unterscheidung von Trägem der gesetzlichen Rentenversicherung für Arbeiter und Angestellte).21

20 Vg1. dazu B. Hansen. Die Entwicklung des dänischen Soziaistaaats aus der Sicht der Frauen, Das Argument 1990,693 ff. (693) mit der (zutreffenden) These, daß die Einführung eines universellen Systems sozialer Sicherung im Vergleich zu einem berufsgruppenbezogenen System für die Frauen erhebliche Verbesserungen ihrer materiellen und sozialen Lage bedeuten kann. Dazu ferner auch M. Langen/I. OSlner, Geschlechterpolitik im Wohlfahrtsstaat: Aspekte im internationalen Vergleich, Kritische Justiz 1991, 302ff; H.-J. Reinhard, Die Stellung der Frau in den Alterssicherungssystemen des Auslandes, Die Sozialversicherung 1992, 294 ff.

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Typisch ist zudem die Unterscheidung von Arbeitnehmern des staatlichen Sektors und des Sektors der Privatwirtschaft, wobei in diesen beiden Sektoren auch Sub-Sektoren unterschieden werden können, etwa - der Sub-Sektor "Militär" (vor allem Einbezug von Berufssoldaten), der Sub-Sektor "Bildung" (z.B. Einbezug von Lehrern) oder der Sub-Sektor "politische Eliten" (z.B. Einbezug bestimmter politischer Führungseliten oder verdienter Persönlichkeiten), - der Sub-Sektor "Industrie" (z.B. Einbezug nur von Industriearbeitern). Ein solcher Einbezug von bestimmten Beschäftigtenkategorien in ein System der sozialen Sicherheit (in der Regel mit speziellen Teil-Sicherheitssysternen) hängt im Hinblick auf die zeitliche Abfolge und die Qualität des Einbezugs entscheidend vom wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interesse an bestimmten Tätigkeiten und (der damit eng zusammenhängenden) Machtposition der jeweiligen Gruppe ab. Kennzeichnend ist z.B. der Einbezug von Militärpersonen, Beamten, Industriearbeitern oder landwirtschaftlichen Arbeitern in kategoriale Sicherungssysteme. 22 bb) Einbezug von Arbeitnehmern nur bis zu einer bestimmten Entgelthöhe: Der Einbezug in ein kategoriales Sicherungssystem kann davon abhängig gemacht werden, daß eine bestimmte Entgelthöhe nicht überschritten wird Bei dieser Gestaltungsmöglichkeit geht es im wesentlichen um eine Eingrenzung der Personenkreise, bei denen die Fähigkeit zur individuellen und eigenverantwortlichen Absicherung in soziale Problemlagen entweder bejaht oder verneint wird (selbst- oder fremdbestimmte "Problemlagen-Politik"). Möglich ist z.B., daß (I) bis zu einer bestimmten Entgelthöhe ein zwangsweiser Einbezug in das Sicherungssystem erfolgt bzw. bei Überschreiten dieser Entgelthöhe ein Ausschluß aus dem Sicherungssystem stattfmdet (typisch dafür ist die Versicherungspflichtgrenze). Hintergrund dieser Gestaltung ist im wesentlichen die Überlegung, daß es ab einer bestimmten Entgelthöhe gerechtfertigt erscheint, für soziale Problemlagen in vollem Umfang "privat" und über die Mechanismen des privaten Marktes (also z.B. über Privatversicherungen) vorzusorgen; (2) ein zwangsweiser Vorsorgebeitrag nur bis zu einer bestimmten Höhe des Entgelts erhoben und damit nur ein begrenztes Sicherungsniveau angestrebt wird (typisch dafür ist die Beitragsbemessungsgrenze). Hintergrund dieser Ge21 Vgl. nur W. Hromadka, Arbeiter und Angestellte im Arbeits- Wld Sozialversicherungsrecht, Neue Zeitschrift für Sozialrecht 1992, 7 ff. 22 Vgl. etwa c. M~sa·Lago (oben Fn. 15), 146 ff.

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staltung ist im wesentlichen die Überlegung, daß zwar alle Mitglieder der Kategorie in das Sicherungssystem (zwangsweise) einzubeziehen sind, ihre Einstandspflicht für die Gemeinschaft der Gesicherten aber auf einen bestimmten Betrag begrenzt und ihnen zugleich die Möglichkeit verbleiben muß, für soziale Problemlagen in bestimmtem Umfang zusätzlich "privat" und über die Mechanismen des privaten Marktes vorzusorgen. Typisch für eine solche Gestaltung sind in der Bundesrepublik z.B. die Versicherungspflichtgrenze in der gesetzlichen Krankenversicherung (§ 6 Abs. 1 Nr.l SGB V) bzw. die Beitragsbemessungsgrenzen in der gesetzlichen Rentenversicherung (§§ 157 ff. SGB VI) und in der Arbeitslosenversicherung (§ 175 Abs. 1 Nr. 1 Arbeitsförderungsgesetz - AFG); in Frankreich und Spanien die Beitragsbemessungsgrenzen in der Alters- und Arbeitslosensicherung. 23 Beim Transformationsprozeß in den ehemals sozialistischen Ländern dürfte sich in diesem Zusammenhang auch das Problem stellen, ob Versicherungspflicht- und Beitragsbemessungsgrenzen wegen der zumeist (noch) geringen Einkommenshöhen oder wegen des Fehlens privater Sicherungsmöglichkeiten (vorerst) überhaupt sinnvoll sind. Allerdings wird bei diesen Gestaltungsmöglichkeiten in der Regel vorausgesetzt, daß private Vorsorge (für vorsorgefähige soziale Problemlagen) tatsächlich realisiert werden kann, also z.B. - auf dem Markt private Versicherungen angeboten werden und - diese Versicherungen denjenigen tatsächlich offenstehen, die wegen des Überschreitens bestimmter Entgeltgrenzen entweder aus dem sozialen Sicherungssystem ausgeschlossen oder durch das soziale Sicherungssystem nur in begrenztem Umfang gesichert werden. cc) Einbezug von Arbeitnehmern mit "Mini-Jobs": Der Einbezug von abhängig Beschäftigten mit "Mini-Jobs", also mit Beschäftigungsverhältnissen, die z.B. eine bestimmte Entgeltgrenze und/oder eine bestimmte Beschäftigungsdauer unterschreiten, ist bislang eher untypisch. 24 Zur Begründung wird meist darauf verwiesen, daß - diese Beschäftigten in der Regel anderweitig gesichert sind (z.B. über ihre Familienangehörigen), - ihrem Ausschluß die legitime sozialpolitische Wertung zugrunde liegt, daß sich auf der Basis solch geringer Einkünfte der Aufbau eigenständiger sozialer Vgl. Kommission (oben Fn. 6), S. 39,40. Dazu und zu den verschiedenen Gestaltungsforrnen bei geringfügiger BeschäftiglDlg vgl. E. Eichenhofer u.a., Ausnahmen von der Versicherungspflicht im internationalen Bereich, Die Angestellten-Versicherung 1988, 298 ff. 23

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Ansprüche "nicht lohnt" (weder aus der Sicht des Arbeitnehmers noch aus der Sicht des Sicherungssystems), - der Einbezug den Solidaritätsgedanken überstrapaziert. 25 Der Einbezug von Arbeitnehmern mit "Mini-Jobs" wird freilich zunehmend vor allem unter dem Gesichtspunkt der Diskriminierung und der Altersarmut von Frauen diskutiert, weil der Frauenanteil an solchen "Mini-Jobs" deutlich überwiegt 26 Im Verlauf des Transformationsprozesses in den ehemals sozialistischen Ländern wird man sorgfältig abwägen müssen, ob ein Ausschluß von Arbeitnehmern mit "Mini-Jobs" aus den kategorialen Systemen der sozialen Sicherung (Sozialversicherung) sozialpolitisch zu verantworten ist, zumal dann, wenn für solche "Mini-Jobs" die angeführten Erwägungen nicht zutreffen (insbesondere weil diese Erwerbsform einer Vielzahl von Menschen mangels einer Alternative - zum Bestreiten des Lebensunterhalts dient). dd) Einbezug von arbeitnehmerähnlichen Beschäftigungen bzw. von angestrebten oder zurückliegenden Beziehungen zur abhängigen Beschäftigung: Typisch für die Ausweitung arbeitnehmerzentrierter Systeme der sozialen Sicherheit ist der Einbezug von Personen, die zum Randbereich der "Arbeitnehmer-Gesellschaft" gerechnet werden und denen der gleiche Schutzbedarf wie Arbeitnehmern zugestanden wird. In der Regel handelt es sich um den Einbezug z.B. von Auszubildenden, Studenten und Praktikanten, Heimarbeitern, Arbeitsuchenden, Empfängern von Entgeltersatzleistungen (z.B. von Entgeltersatzleistungen bei Arbeitslosigkeit), Rehabilitanden, Beschäftigten in Sonderarbeitsmärkten (Werkstätten für Behinderte) ohne Arbeitnehmerstatus oder Rentnern in den Schutzbereich der sozialen Sicherheit (zumeist in den Schutzbereich der einzelnen Zweige der Sozialversicherung, und zwar je nach Schutzzweck des Sozialversicherungszweigs). Gerade der Einbezug von Behinderten in kategoriale Systeme, die in der Logik des kategorialen Ansatzes die regulären, "normalen" Systeme sind, kann ein wichtiger Beitrag zur Normalisierung der Situation Behinderter sein (vgl. z.B. für das deutsche Recht §§ 5 Abs. 1 Nr.7 SGB V, 1 S. 1 Nr.2 Buchst. a) SGB VI: Einbezug von Behinderten, die in bestimmten Werkstätten für Behinderte tätig sind, in die "normale" gesetzliche Kranken- und Rentenversicherung als Versicherungspflichtige).

2S Zur geringfügigen Beschäftigung im deutschen Sozialversicherungsrecht vgl. z.B. H.-H. Sow/ca, Die geringfügige Beschäftigung - Forderung nach Abschaffung der Beitragsfreiheit, Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht 1993. 108 Cf. mit weiteren Nachweisen. 26 Vgl. daru S. Rosner, Nonnalitätsprofile sozia1staatlicher Inanspruchnahme: Sozialleistungsberug und gesellschaftliche Ausgrenzung, Soziale Well 1990, 299 Cf. (313 Cf.).

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ee) Einbezug von Selbständigen oder Angehörigen einer bestimmten Selbständigengruppe: Typisch für die Ausweitung arbeitnehmerzentrierter Systeme der sozialen Sicherheit ist auch der (zumindest teilweise) Einbezug von ("kleinen rr) Selbständigen mit einem als gering eingestuften Betriebsvermögen (vgl. z.B. für das deutsche Recht die Versicherungspflicht von selbständigen Handwerkern in der gesetzlichen Rentenversicherung nach § 2 Nr. 3 SGB VD. Die insofern als schutzbedürftig angesehenen Selbständigen werden dann in den Schutzbereich des kategorialen Systems der sozialen Sicherheit einbezogen (in der Regel in den Schutzbereich der einzelnen Zweige der Sozialversicherung, und zwar je nach Schutzzweck des Sozialversicherungszweigs). ff) Einbezug von Personen aufgrund deren eigener Entscheidung (freiwilliger Beitritt): Wird das kategoriale System der sozialen Sicherheit (wie zumeist) als Sozialversicherung gestaltet, so muß die Frage beantwortet werden, ob und unter welchen Voraussetzungen die Möglichkeit des freiwilligen Beitritts zur Sozialversicherung eingeräumt werden soll, und zwar (1) für Personen, deren (zwangsweiser) Einbezug in die Sozialversicherung überhaupt nicht vorgesehen ist, etwa weil sie - eine bestimmte Entgeltgrenze von vornherein überschreiten (vgl. oben bb) bzw. eine bestimmte Entgeltgrenze und/oder eine bestimmte Beschäftigungsdauer nicht überschreiten (vgl. oben dd), - keine Erwerbstätigkeit im Sinne der Sozialversicherung ausüben (z.B. Hausfrauen oder Personen, die Kinder erziehen oder Familienangehörige pflegen), (2) für Personen, die bislang zwangsversichert waren, aber aus der Sozialversicherung ausgeschlossen werden (weil sie z.B. eine bestimmte Entgeltgrenze überschritten haben; vgl. oben ce), wenn sie insbesondere wegen ihres Alters oder wegen bestimmter Risiken (z.B. chronischer Krankheit) große Schwierigkeiten hätten, Zugang zu einem privaten Sicherungssystem zu erhalten (vgl. z.B. für das deutsche Recht die Möglichkeit der freiwilligen Weiterversicherung nach § 9 Abs. 1 Nr.l SGB V in der gesetzlichen Krankenversicherung). gg) Einbezug von Familienangehörigen der gesicherten Arbeitnehmer bzw. (bestimmter) Selbständiger mit Unterhaltspflicht gegenüber diesen Angehörigen: Ein typisches Problem kategorial ansetzender Systeme der sozialen Sicherheit ist der Einbezug von Familienangehörigen des (gesicherten) Erwerbstätigen. Entscheidende Bedeutung hat hierbei die Bestimmung des Kreises der einzubeziehenden Angehörigen, die abhängig sein kann z.B. von ihrem Alter, von einer bereits bestehenden anderweitigen Sicherung, von der eigenen Erwerbstätigkeit der Familienangehörigen und von der Höhe des von

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ihnen durch Erwerbstätigkeit erzielten Einkommens (vgl. z.B. für das deutsche Recht der gesetzlichen Krankenversicherung die Regelung des § 10 SGB V). hh) Einbezug anderer Personen: Im übrigen gibt es eine Fülle weiterer Personenkategorien, die für einen Einbezug im Sinne eines kategorialen Ansatzes (jedenfalls im Hinblick auf bestimmte Anlässe und soziale Problemlagen) in Betracht kommen. Hingewiesen sei im folgenden exemplarisch auf zwei Personenkreise: (1) Zum einen ist zu denken an Personen mit Tätigkeiten, die im Interesse der Allgemeinheit (des Gemeinwohls) als wichtig bzw. nützlich angesehen werden (z.B. Einbezug von Personen, die Kinder erziehen oder Familienangehörige pflegen in die kategorialen Systeme der sozialen Sicherheit für den Fall der Krankheit oder des Alters; Einbezug von Lebensrettern, Blutspendern usw. in die kategorialen Systeme der sozialen Sicherheit für den Fall des Arbeitsunfalls und der Berufskrankheit; vgl. z.B. für das deutsche Recht der gesetzlichen Unfallversicherung § 539 Abs. 1 Nr.9 Buchst. a. und Nr. 10 Reichsversicherungsordnung - RVO).

(2) Zum anderen ist zu denken an Personen mit Tätigkeiten, die im Interesse eines Unternehmers ausgeführt werden (z.B. Einbezug derjenigen, die zum Nutzen eines Unternehmers wie ein Arbeitnehmer tätig werden, in die kategorialen Systeme der sozialen Sicherheit für den Fall des Arbeitsunfalls und der Berufskrankheit; vgl. z.B. für das deutsche Recht der gesetzlichen Unfallversicherung § 539 Abs. 2 RVO). 3. Kategorialer Ansatz und Problemlagen- bzw. BerechtIgungsmerkmale

a) Soziale Problemlagen Auch der kategoriale Ansatz zielt typischerweise nicht auf den Schutz der erfaßten Personenkategorien in jeglicher sozialer Problemlage, sondern nur in bestimmten sozialen Problemlagen, den sog. "klassischen sozialen Risiken" (z.B. Krankheit, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, Alter, Tod/sonstiger Unterhaltsausfall, Invalidität und Arbeitslosigkeit), zu denen aber auch weitere soziale Risiken hinzukommen können (z.B. das soziale Risiko der Pflegebedürftigkeit).27

7:1

Vgl. dazu im einzelnen den Beitrag von G. /gl in diesem Band.

152

Peter Trenk-Hinterberger

b) Problemlagen- und Berechtigungsmerkmale Die Umschreibung der soziale Problemlagen (Risiken), gegen die von einem kategorialen Ansatz aus geschützt werden soll, impliziert dabei zwangsläufig die Festlegung von Problemlagenmerkmalen (z.B. von Merkmalen der "Krankheit") und damit mittelbar auch die Umschreibung des geschützten Personenkreises (z.B. des "Kranken"). Darüberhinaus impliziert insbesondere die Sicherungstechnik, die dem kategorialen Ansatz typischerweise zugrundeliegt, also die Technik der Sozialversicherung, die Festlegung von bestimmten Berechtigungsmerkmalen, die für den Einbezug in den Kreis der versicherten (finanzierungspflichtigen) bzw. der (davon zum Teil zu unterscheidenden) leistungsberechtigten Personen von Bedeutung sind. 28 Hervorzuheben sind insbesondere - die Fähigkeit, Vorleistungen zu erbringen, insbesondere Beiträge (selbst oder durch einen Garanten) zu zahlen (Vorsorgefähigkeit); - die Dauer der Zugehörigkeit zur Sozialversicherung (z.B. Mindestdauer der Zugehörigkeit, verbunden mit Zeiten der Beitragszahlung oder mit gleichgestellten Zeiten). Wer diese Merkmale nicht erfüllt, kommt für den einbezogenen Personenkreis nicht in Betracht (typischerweise: Personen, die von Geburt an erwerbsunfähig sind). 4. Leitideen des kategorialen Ansatzes

Welche Leitideen die Systeme der sozialen Sicherheit prägen, die auf dem kategorialen Ansatz aufbauen, läßt sich nicht einheitlich beantworten. Diese Leitideen hängen wesentlich von Gesellschaftsbildern und von ordnungspolitischen Vorstellungen ab, insbesondere von den darin wirkenden Gerechtigkeitsidealen, die auch in Verfassungen verrechtlicht sein können. Die Leitideen des kategorialen Ansatzes lassen sich - bei gebotener Vorsicht gegenüber Vereinfachungen - wie folgt charakterisieren: - Begrenzung des Schutzes der sozialen Sicherheit auf bestimmte Kategorien (der Erwerbsgesellschaft, primär der abhängigen Beschäftigung) und auf bestimmte soziale Risiken (also nicht auf "allgemeine Hilfsbedürftigkeit") als produktionspolitische Notwendigkeit (Schutz des Produktivfaktors Arbeit, insbesondere der abhängigen Arbeit) und damit Ausrichtung der Schutzbedürftigkeit auf die Stellung in der Erwerbsgesellschaft, 28

Vgl. dazu schon oben Fn. 4.

Personeller Anwendungsbereich

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Vorrang der (erzwungenen oder freiwilligen) Selbstvorsorge (lndividualverantwortIichkeit) vor einer (umfassenden, vom Mar1cteinkommen gelösten) Umverteilung, - Leistungs- und Besitzstandsgerechtigkeit (insbesondere bei Geldleistungen: einkommensproportionale Sicherung), - Bedarfsgerechtigkeit bei Dienst- und Sachleistungen, - zunehmend: Ausdehnung des kategorialen Ansatzes durch den Einbezug weiterer Bevölkerungskreise (z.B. vom "Rande" der Erwerbsgesellschaft). S. Typische Ausprägungen des kategorialen Ansatzes

Typische Ausprägungen des kategorialen Ansatzes können sein: - zentral oder (in der Regel) dezentral organisierte und für bestimmte soziale Problemlagen (Risiken) oder Personenkategorien zuständige Träger (Versicherungszweige). Beispiele: in der Bundesrepublik Deutschland dezentral organisierte Träger der Krankenversicherung, berufsständische Träger der Kranken-, Renten und Unfallversicherung; in Belgien die unterschiedlichen Träger der Krankenversicherung; in Griechenland die (zentrale) Sozialversicherungsanstalt mit Zuständigkeit für alle Branchen, in Italien die Zentralanstalt für soziale Vorsorge (INPS) mit Zuständigkeit insbesondere für die Fälle der Invalidität und des Alters. 29 - eigene Haushalte der Träger und Finanzierung (in der Regel) durch Beiträge. V. Konvergenz von universalem und kategorialem Ansatz Unverkennbar ist, daß sich die Unterschiede zwischen den beiden Ansätzen des personellen Anwendungsbereichs - universaler Ansatz und kategorialer Ansatz - im Zeitablauf verringert haben. Beide Arten von Ansätzen haben in den einzelnen Ländern, die sie jeweils favorisieren, eine unterschiedliche Ausweitung sowie eine wechselseitige Ergänzung und Überschneidung erfahren: 30 - Sicherungssysteme mit kategorialem Ansatz erfassen ursprünglich nur einen geringen Teil der Bevölkerung, soweit dieser als sicherungsbedürftig an29

30

Vgl. Kommission (oben Fn. 6), S. 22 (Belgien), S. 25 (Griechenland), S. 29 (Italien). Dazu auch D. Zöllner (oben Fn. 8),220 f.

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Peter Trenk-Hinteroerger

gesehen wird. Zunehmend umfassen die kategorialen Systeme der sozialen Sicherheit in den Industrieländern (anders hingegen in den wenig industrialisierten Ländern) durch Erweiterung des kategorial geschützten Personenkreises einen großen Teil der Bevölkerung. Durch die Schaffung bzw. den Ausbau subsidiärer universaler Basissicherungssysteme für diejenigen, die nicht oder nicht mehr zum kategorial gesicherten Personenkreis gehören, wird im Laufe von Jahrzehnten ein Zustand erreicht, der praktisch zur Sicherung der gesamten Bevölkerung führt. - Sicherungssysteme mit universalem Ansatz expandieren demgegenüber vor allem in Bezug auf neue soziale Problemlagen: Die typischen leistungsauslösenden sozialen Problemlagen Annut und Alter werden sukzessive erweitert. Ferner werden die universalen Sicherungssysteme durch einzelne kategoriale Bereiche der sozialen Sicherheit (insbesondere für die soziale Problemlage "Alter") ergänzt und die einheitlichen Leistungen zur Existenzsicherung durch einkommensbezogene Zusatzleistungen erweitert. Die Konvergenz der beiden Ansätze des personellen Anwendungsbereichs vollzieht sich freilich methodisch nicht einheitlich: Die kategorial ansetzenden Systeme der sozialen Sicherheit nehmen bestimmte soziale Problemlagen als gegeben an und fragen nach dem Sicherungsbedürfnis von Personengruppen; ihre Expansion erfolgt in der Regel durch Erweiterung der einbezogenen Personen (seltener durch Einbezug neuer sozialer Problemlagen), ihre Absicherung "nach unten" durch die Schaffung subsidiärer Systeme der Basissicherung. Die universal ansetzenden Systeme der sozialen Sicherheit unterstellen die Sicherungsbedürftigkeit aller Personen und fragen nach den sozialen Problemlagen, in denen eine Sicherung erfolgen soll; die Expansion vollzieht sich durch Vennehrung der leistungsauslösenden sozialen Problemlagen und durch die Einführung kategorial ansetzender (Zusatz-)Systeme der sozialen Sicherheit. VI. Schlußbemerkung Welche Personengruppen in einem System sozialer Sicherheit geschützt werden (bzw. geschützt werden sollen), läßt sich - wie eingangs erwähnt - nur im Verbund mit einer Fülle von Bestimmungsgründen der sozialen Sicherheit, Z.B. den sozialen Problemlagen und bestimmten Sicherungstechniken sinnvoll entscheiden. Dies gilt auch für die prinzipielle Entscheidung zugunsten eines bestimmten Ansatzes des personellen Anwendungsbereichs als einem "Grundstein" des Systems sozialer Sicherung, eben zugunsten des universalen oder des kategorialen Ansatzes (sowie für die inzwischen erfolgte Verbindung und gegenseitige Ergänzung dieser beiden Ansätze).31 31 Wenig ergiebig ist deshalb der isolierte (und der Prägnanz entbehrende) Ansatz, ein "Sicherungsbedürfnis" von Personen zu bestimmen, wie dies mitunter in der sozialpolitischen lite-

Personeller AnwendlBlgshereich

155

Bei dieser Entscheidung können die entsprechenden Erfahrungen der westlichen Industrieländer im Hinblick auf den geschützten Personenkreis nur behutsam auf die ehemals sozialistischen Länder übertragen werden. Besonders zu beachten ist dabei, inwieweit an Ansätze der ehemals sozialistischen Länder angeknüpft werden kann, welche Gruppen vordringlich geschützt werden müssen (z.B. angesichts der rasch fortschreitenden Verarmung), welche Gruppen eher später zu berücksichtigen sind, und - nicht zuletzt - welche Veränderungen in welchen Zeiträumen man den Menschen in den ehemals sozialistischen Ländern auch bei der Umgestaltung der Systeme sozialer Sicherheit überhaupt zumuten kann.

ratur geschieht; vgl. z.B. L. Preller, Sozialpolitik - Theoretische Ortung, 1962, S. 'lS7 ff.; Preller, Praxis und Probleme der Sozialpolitik, Bd. 2, 1970, S. 327 ff.

Einige Überlegungen zur Veränderung des personellen Anwendungsbereichs von Systemen der sozialen Sicherheit in den marktwirtschaftlichen Transformationsprozessen von Jürgen Pawelzig Soll die Einführung der Marktwirtschaft nach dem gründlich fehlgeschlagenen sozialistischen Experiment nun zu dem erhofften selbstbestimmten Leben, frei von materiellen Nöten führen und soll der Systemwechsel von einem breiten gesellschaftlichen Engagement getragen sein, dann muß dieser Wandel zu marktwirtschaftlichen Strukturen auch den begleitenden Ausbau einer entsprechenden sozialen Komponente einschließen. Die bisherigen sozialen Sicherungssysteme mit ihrer Aufgabenverteilung zwischen Staat und Betrieb können diese neuen Aufgaben nicht erfüllen. Deshalb steht ein vielfältiger Umund Ausbau der sozialen Sicherungssysteme in den Reformstaaten auf der Tagesordnung. Vor allem geht es hierbei um sozial abfedernde Bewältigung von zwar nicht unerwarteten, aber nun in Ausmaß und Auswirkung nicht bekannten existentiell bedrohlichen sozialen Problemlagen wie insbesondere Massenarbeitslosigkeit, Armut und Wohnungsnot. Es stellt sich daher auch die Frage, ob diese Entwicklung zu einem marktwirtschaftlichen System eine Veränderung des personellen Anwendungsbereiches sozialer Sicherungssysteme zur Folge haben wird, ob also gegenüber den bisherigen Systemen in veränderter Weise Personen in den Schutz sozialer Sicherung einzubeziehen sein werden. Um auf diese Frage eine Antwort versuchen zu können, soll zunächst der bisherige personelle Anwendungsbereich skizziert werden. I. Personeller Anwendungsbereicb in den vormaligen soziaUstiscben Ländern 1. In der UdSSR

Die sozialen Sicherungssysteme in den ehemaligen sozialistischen Staaten waren sämtlich weitgehend nach Prinzipien eingerichtet, die als die Prinzipien des Lenin'schen Arbeiterversicherungsprogramms von 1912 in die Geschichte eingegangen sind. l Nach diesen Vorstellungen hatte eine staatliche Einheits-

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Jürgen Pawelzig

versicherung für alle Fälle des Verlusts der Arbeitsfähigkeit (durch Unfall, Krankheit, Alter, Invalidität, Schwangerschaft und Mutterschaft), für Witwen und Waisen sowie bei Ausfall des Arbeitsentgelts infolge Arbeitslosigkeit Sicherstellungen zu gewährleisten. Die LohnersatzIeistungen sollten in voller Höhe des ausgefallenen Lohnes erfolgen und die territorial gegliederten Organisationen der Einheitsversicherung in aussschließlicher Selbstverwaltung der Versicherten geleitet werden. Eine derartige "Versicherung", die allein aus dem Staatshaushalt und durch Beiträge der Unternehmer finanziert werden sollte, hatte diesem Programm entsprechend alle in Lohnarbeit stehenden Personen und deren Familien zu erfassen. Da die Sowjetgesel1schaft als Gesellschaft der Arbeit konzipiert war, galt im übrigen der Grundsatz "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen". 2 Nach diesen Modellvorstellungen wurden zunächst in Sowjetrußland, dann in der UdSSR und später, nach dem 2. Weltkrieg, auch in den übrigen Ländern, die sich zum sozialistischen Lager rechneten, weitgehend die sozialen Versicherungssysteme aufgebaut. Folgt man der von Trenk-Hinterberger vorgeschlagenen Typologie für den personellen Anwendungsbereich sozialer Sicherungssysteme3, so entstanden diese Systeme nach dem "kategorialen Ansatz": alle in Lohnarbeit stehenden Personen, - also die Werktätigen - und deren Familienangehörige wurden in die staatliche Einheitsversicherung einbezogen. In späteren Jahren erfolgte dann aber teilweise eine Einbeziehung nach dem Universalitätsprinzip. Als 1937 in der UdSSR der Staat vollständig die Finanzierung des Gesundheitswesen übernommen hatte, erhielten auch alle Bürger (nicht mehr nur die Arbeiter, Angestellten und andere Versichertengruppen und deren Familienmitglieder) ein Recht auf unentgeltliche ärztliche Versorgung und Heilbehandlung. 4 Auch die Verfassung der UdSSR von 1977 nahm eine Begrenzung des zu sichernden Personenkreises auf die Werktätigen auch für weitere Bereiche sozialer Absicherung nicht mehr vor. Mit Art. 43 dehnte sie, - dem Universalitätsprinzip folgend -, das Recht auf materielle Sicherung im Alter, im Krankheitsfalle sowie beim vollständigen oder teilweisen Verlust des Ernährers auf alle Bürger der UdSSR aus. Dieses Recht wurde als eines der allgemeinen Grundrechte aufgefaßt, das gern. Art. 34 Verf. der UdSSR unabhängig von der 1

2 3

VgJ. W J. J..e"in, Werke. Bd. 17. Berlin. S. 467 ff. Leni" (Fn. 1). Bd. 27. S. 385.

VgJ. den in diesem Band enthaltenen Beitrag von Peter Trellk·Hilllerberger, Der penonelle AnwcndlDlgsbereich von Systemen sozialer Sicherheit. 4 VgJ. V.s. Andreyev, Das Recht der sozialen SichentelllDlg in der UdSSR. Lehrbuch (russ. Pravo sozialnogo obespetschenya). Moskau 1980. S. 7.

Veränderung des personellen Anwendungsbereichs

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Herkunft. der sozialen Lage und Vennögenssituation, der Rasse, nationalen Zugehörigkeit, des Geschlechts, der Bildung, der Sprache und Religion sowie der Art der Arbeit und anderer Umstände erfolgen sollte. Diese verfassungsrechtliche Veränderung garantierte natürlich nicht. daß alle Bürger auch die entsprechenden Sozialleistungen erreichten, denn dafür mußten neben der bestehenden Staatsbürgerschaft in der Regel nach einfachgesetzlichen Vorschriften weitere Voraussetzungen erfüllt sein. So mußten Frauen grundsätzlich 20 Arbeitsjahre nachweisen können, um einen Anspruch auf Altersrente zu begründen; für Männer waren grundsätzlich 25 Arbeitsjahre gefordert. Der Erhalt unentgeltlicher ärztlicher Hilfe und Heilbehandlung war hingegen z.B. an keine weiteren Voraussetzungen gebunden. Ein der deutschen Sozialhilfe vergleichbares soziales Basissicherungssystem, mit dem gegenwärtige soziale Notlagen durch individuelle Leistungen abgewendet werden und das eine der "typischen Ausprägungen des universalen Ansatzes"s regelmäßig darstellt. bestand in der UdSSR nicht 6 2. In der DDR

Nach 1945 haben die damaligen Landes- und Provinzialverwaltungen für die Länder Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen auf der Grundlage von Befehlen der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) zunächst die verschiedenen Träger der Krankenversicherung zu einem einzigen Träger des jeweiligen Landes bis zum Ende des Jahres 1945 zusammengeschlossen. In einem zweiten Schritt wurden dann in diese Landesversicherungsanstalten (SVA) zu Beginn des Jahres 1946 auch die Träger der Renten- und Unfallversicherung einbezogen und damit aufgelöst 7 Nach der organisatorischen Neuregelung wurden dann in diesen Ländern ebenfalls die versicherungsrechdichen und leistungsrechtlichen Vorschriften neugefaßt. Sie enthielten in den fünf Ländern im wesentlichen den gleichen Regelungsgehalt. Dies ist darauf zurückzuführen, daß sich die neuen Regelungen an den Entwurf einer Sozialversicherungsverordnung anlehnten, der von der Deutschen Verwaltung für Arbeit und Sozialfürsorge8 vorgelegt worden war.

Peter Trenk·Hinlerberger, in diesem Band. Vgl. die Übersichten über die sozialen Sicherungs systeme in der UdSSR bei: AN. Egorov, Grundprinzipien des sowjetischen Rechts der sozialen Sicherstellung (ross. Omovnye prinzipy prava sozialnogo obespetschenya), Moskau 1984; M. SacharowlR. Ziwiljow. Sozialfürsorge in der UdSSR, Moskau 19n; v.s. Andreyev, op. CiL (Fn. 4). 7 FiscMr, Die Neuordnung der Sozialversicherung, in:"Arbeit und Sozialversicherung", 1946, S

6

S.232ff.

8 Ein der unmitelbaren Aufsicht der SMAD unterstelltes zentrales Verwaltungsorgan für das Gebiet der späteren DDR.

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Jürgen Pawelzig

Hinsichtlich des personellen Anwendungsbereiches waren, dem kategorialen Prinzip entsprechend, alle auf Grund eines Arbeits-, Dienst- oder Lehrverhältnisses Beschäftigten, alle unständig und im Wandergewerbe Beschäftigten, die Hausgewerbetreibenden, Gewerbetreibende und andere Betriebsunternehmer, selbständige Lehrer, Erzieher, Musiker, selbständig tätige Personen in der Kranken-, Wochen-, Säuglings- und Kinderpflege, soweit sie sämtlich in ihrem Betrieb keinen oder höchstens fünf Versicherungspflichtige beschäftigten, außerdem Land- und Forstwirte mit einer Wirtschaft bis zu 80 ()()() RM Einheitswert erfaßt 9 Abweichend von den anderen Ländern, in denen eine Beitragsbemessungsgrenze von 600 RM festgelegt war, bestimmten die Regelungen der Provinz Sachsen ( ab Juli 1947 Land Sachsen-Anhalt) eine Beitragsbemessungsgrenze von 900 RM.I0 Im Vergleich zu den ersten sowjetrussischen Vorschriften, nach denen lediglich die in Lohnarbeit stehenden Personen erfaßt wurden, ist die Vielzahl der nach 1945 in die Sozialversicherung einbezogenen Personengruppen hervorhebenswert. Zum 1. Februar 1947 wurden mit dem Befehl Nr. 28 der SMAD drei für die SBZ einheitlich geltende und die vorherigen Regelungen ersetzende Verordnungen in Kraft gesetzt Es waren dies die Verordnungen über die Sozialpflichtversicherung (SVO), die Verordnungen über die freiwillige und einheitliche Versicherung und die Verordnungen über die Versicherung bei Arbeitslosigkeit. 11 Die §§ 3 bis 5 der SVO bestimmten den versicherten Personenkreis. Danach waren sämtliche abhängig Beschäftigten (ständig, unständig) auch in der Landund Forstwirtschaft, alle selbständig Erwerbstätigen und alle Unternehmer, die bis zu fünf Personen beschäftigten, in die Pflichtversicherung einbezogen. Die SVO schloß geringfügig Beschäftigte, diejenigen, deren Arbeitseinkommen unter 75 RM monatlich lag, aus der Pflichtversicherung aus. Die Beitragsbemessungsgrenze wurde auf 600 Reichsmark (RM) festgelegt. Dies waren Werte, die dann während des ganzen Bestehens der DDR nicht mehr verändert wurden. 9 Diese Personengruppen sind beispielhaft für die 5 Länder der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) nach Art. 1 Abs. 1 der VO der Provinz Marle Brandenburg vom 22.9.1945 über die vorläufige Ordnung des Krankenversicherungsrechts (VOBl. der Provinzialverwaltung Marle Brandenburg 1946, S. 41). 10 § 4 der 1. Durchführungsbestimmung zur VO über die Solialversicherung in der Provinz Sachsen (VOBI. für die Provinz Sachsen, 1946, S. 34). 11 Abgedruckt in: Versicherungs- und Beitragsrecht der Solialversicherung der DDR, zusammengestellt im Auftrag der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) von Horst Weser, Berlin 1979, S. 303 ff.

Veränderung des personellen Anwendungsbereichs

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Ab MiUe der 50er Jahre wurden bestimmte Versichertengruppen aus Gründen einer abgetrennten Finanzierung bei einem eigenständigen Versicherungsträger, der Sozialversicherung bei der Staatlichen Versicherung der DDR erfaßt. Es handelte sich um Bauern, Handwerker, selbständig Erwerbstätige und Unternehmer und freiberuflich Tätige. Später wurde bei diesem Versicherungsträger die große Gruppe der Genossenschaftsmitglieder erfaßt Die Arbeiter und Angestellten waren bei der Sozialversicherung der Arbeiter und Angestellten versichert, einem Träger, der vom Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FOGB), der Einheitsgewerkschaft der DDR verwaltet wurde. Die Übertragung einer solchen staatlichen Aufgabe an die Gewerkschaften wurde als ein erster Schriu der Vergesellschaftung staatlicher Funktionen aufgefaßt Die Einbeziehung von Personen in den Schutz der Sozialversicherung erfolgte in der DDR ausschließlich nach dem kategorialen Ansatz. In die Pflichtversicherung der Arbeiter und Angestellten wurden nach § 2 SVO 12 die "Werktätigen während der Dauer eines Arbeitsrechtsverhältnisses" sowie nach § 3 SVO die Empfänger einer Rente der Sozialversicherung oder eines Zusatzversorgungssystems einbezogen. Andere Personengruppen waren bei der Sozialversicherung bei der staatlichen Versicherung erfaßt. Leistungsrechtlich gab es zwischen diesen beiden Trägem keine Unterschiede. Vergleicht man den vom kategorialen Ansatz her in die Sozialversicherung einbezogenen Personenkreis zwischen der BRD und der DDR, so zeigen sich z.T. nur äußerst geringfügige Unterschiede. In der gesetzlichen Unfallversicherung war der Kreis der versicherten Personen nahezu identisch. Sie bezog in ihren Schutz hauptsächlich Arbeitnehmer, Kinder, Schüler, Studenten in den entsprechenden Einrichtungen und Personengruppen ein, die im Allgemeininteresse tätig wurden. Der Umstand, daß im Gegensatz zur Bundesrepublik in der DDR fast die gesamte Bevölkerung von den Sozialversicherungssystemen erfaßt war, erklärt sich vor allem aus der sozialen Schichtung dieser Bevölkerung. Die übergroße Mehrheit der Bevölkerung hatte den Status eines Arbeiters, Angestellten oder Genossenschaftsmitglieds. Das sozialistische Prinzip der staatlichen Einheitsversicherung wurde nicht nur in der DDR dadurch vielfach verletzt, daß neben der Sozialpflichtversicherung für privilegierte Personengruppen (Sicherheitsdienst, Armee, Polizei, Zoll, Staatsapparat, Teile der Intelligenz, Wirtschaftsleiter u.a.) besserstellende Sonder- und Zusatzversorgungssysteme für die Altersversorgung eingerichtet 12 VO rur Sozialpflichtversicherung der Arbeiter und Angestellten vom 17.11.1977, GBl. DDR I, Nr. 35, S. 373.

I t von Maydell/Hohnerlein

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Jürgen Pawelzig

worden waren. Eine derartige stalinistische Prägung von GeseUschaftsstrukturen zeigte sich insbesondere auch in der Versorgung durch das staatliche Gesundheitswesen. Einem privilegierten Personenkreis standen Gesundheitseinrichtungen höherer Qualität zur Verfügung. Ein universal ansetzendes soziales Sicherungssystem war in der DDR das System der Sozialfürsorge. Als letztes soziales Auffangnetz sollte es wirtschaftlich oder gesundheitlich in Not befmdlichen oder anderweitig gefährdeten oder hilfebedürftigen Personen staatliche Unterstützung, Hilfe, Betreuung und Pflege gewähren. Die Leistungen sollten die Personen erhalten, die den notwendigen Lebensunterhalt für sich und ihre hilfebedürftigen unterhaltsberechtigten Angehörigen nicht verdienen konnten, über kein verwertbares Vermögen oder Einkommen verfügten und keine ausreichenden Mittel von anderer Seite erhielten oder erhalten konnten. 13 Auf diese Leistungen, die die Hilfebedürftigen außerhalb und innerhalb von Heimen erhalten haben, bestand kein Rechtsanspruch. Sie waren grundsätzlich auch nicht zurückzuerstatten. Praktisch war dieses Sicherungssystem in der DDR kaum bedeutsam, denn es erfaßte eine nur relativ geringe Anzahl von Bürgern. Die Statistik weist aus, daß 1980 z.B 17172 Personen laufende monatliche Unterstützungen und 110670 einmalige Beihilfen erhalten haben. 1988 belief sich die Zahl der eine laufende Unterstützung erhaltenden Personen auf 5485 und die für die einmaligen Beihilfen auf 75 292. 14 Die Gründe für diese geringe Anzahl von Hilfeempfängern lagen einerseits darin, daß ein Mindestlohn und eine Mindestrente gewährleistet wurden. Die Preise für den täglichen Grundbedarf und die Wohnungsmieten waren auf Grund staatlicher Subventionen sehr niedrig. Außerdem erhielten bestimmte Personengruppen im arbeitsfähigen Alter auch deshalb nicht diese staatlichen Unterstützungsleistungen, weil seit Mitte der 80er Jahre Betriebe beauftragt waren, bestimmte Hilfen in "besonderen Brigaden" zu leisten. Über diese besonderen Brigaden ist wenig in der Öffentlichkeit bekannt geworden, denn über soziale Problemgruppen, die nicht in das Bild der sozialistischen Gesellschaft paßten, das die Partei- und Staatsführung gern zeichnete, erfolgten kaum Publikationen. Derartige Brigaden konnten auf der Grundlage von zwei nichtveröffentlichten Ministerratsbeschlüssen 15 aus den Jahren 1985 und 1986 auf Weisung der örtlichen Räte in ausgewählten Betrieben gebildet werden. In sie sollten § 1 VO über die Sozialfürsorge vom 23.11.1979, GBI. DDR I, Nr. 43, S. 422 ff. Angaben des Statistischen Jahrbuchs der DDR 1990, Berlin 1990, S. 383. Der erste Beschluß des Ministerrats der DDR vom 9.1.1985 (162/5/85) trägt die Bezeichnung: "Aufgaben zur Einflußnahme und Kontrolle gegenüber psychisch auffälligen Bürgern, die sich asozial verbalten und kriminell gefährdet sind". 13 14 15

Veränderung des personellen AnwendWlgsbereichs

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nach dem Freiwilligkeitsprinzip Alkoholiker, Haftentlassene, kriminell Gefährdete und andere Personengruppen aufgenommen werden, die in der Regel allein lebten und keiner geregelten Arbeit nachgingen. In den besonderen Brigaden sollten sie allmählich wieder an regelmäßige Arbeit gewöhnt werden. Bereits ihre Anwesenheit und nur geringste Arbeitsleistungen wurden mit der Zahlung eines AIbeitsentgelts honoriert, das die Existenzgrundlage darstellte. Teilweise wohnten die Brigademitglieder in Betriebswohnheimen. Über die besonderen Brigaden wurden keine statistischen Angaben veröffentlicht. Offensichtlich wurden durch sie aber doch größere Personengruppen erfaßt, denn in Großbetrieben wurden in den Personalabteilungen für die Betreuung dieser Brigaden eigens Unterabteilungen eingerichtet. Auch bei den Abteilungen für Inneres von Stadt- und Kreisverwaltungen wurden Referate für die Betreuung der Brigaden gebildet 16 Die Regelungen über die universelle oder kategoriale Einbeziehung von Personen in die sozialen Sicherheitssysteme hatten ihre Grundlage in der sozialistischen Verteilungstheorie. Diese Theorie kannte zwei Hauptverteilungsformen: Erstens die Verteilung nach der Arbeitsleistung und zweitens die Verteilung über den gesellschaftlichen Konsumtionsfonds. Die Verteilung nach der Arbeitsleistung, also die Festsetzung des Arbeitsentgelts nach der Quantität und Qualität der geleisteten Arbeit sollte die Werktätigen an guten Arbeitsergebnissen materiell interessieren. Diese Verteilungsform bot aber nicht die Möglichkeit, die Bedürfnisse der arbeitsunfähigen Personen und die kollektiven Bedürfnisse zu befriedigen. Deshalb erfolgte neben der Verteilung nach dem Leistungsprinzip eine Verteilung aus einem gesellschaftlichen Konsumtionsfonds, für den ein Teil des Nationaleinkommens verwendet wurde. Nach den gesellschaftstheoretischen Vorgaben sollte die Verteilung über den gesellschaftlichen Konsumtionsfonds nach und nach die Verteilung nach der Arbeitsleistung zurückdrängen bis diese eines Tages bedeutungslos werden würde)1 Auch über eine fortschreitende Nivellierung der Einkommen sollte die soziale Homogenität der Gesellschaftsmitglieder (- erklärtes Ziel der sozialistischen Entwicklung-) erreicht werden. Hieraus erklärt sich die Tendenz zur universellen Einbeziehung der Gesellschaftsmitglieder in die sozialen Sicherungssysteme. Da die Finanzierung von sozialen Sicherungssystemen z.T. ausschließlich oder doch ganz wesentlich, - so auch in der Sozialversicherung -, aus dem Staatshaushalt erfolgte, war die staatliche Sozialversicherung deshalb im ei16 Dies weisen zwei Diplomarbeiten aus, die unter Anleitung des Ven. 1988 angefertigt worden sind. 17 Vgl. Lehrbuch Grundlagen des Marxismus-Leninismus, Berlin 1960, S. 775.

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gentlichen Sinne keine nach Versicherungsprinzipien aufgebaute und arbeitende Einrichtung, sondern trug eher die Züge einer Staatsbürgerversorgung.

11. Personeller Anwendungsbereich im Transformationsprozeß Der Übergang zu marktwirtschaftlichen Strukturen führt notwendig auch zu einer veränderten Arbeits- und Sozialverfassung. Nach allen Erfahrungen entspricht ein gegliedertes System der Sozialversicherung auf jeweils eigensUlndiger finanzieller Grundlage recht gut den Bedingungen freier Marktwirtschaft Dies ließe erwarten, daß im Hinblick auf den einzubeziehenden Personenkreis eine Verstärkung des kategorialen Ansatzes zu erwarten sein wird. Die bisherigen Entwicklungen bestätigen dies nicht Der Um- und Ausbau der Sozialsysteme wird wohl auch nicht an der Einschätzung vorbeigehen können, daß die in den sozialistischen Staaten eingerichteten Sozialsysteme auch ein Ausdruck der umfassenden Bevormundung der in diesen Ländern lebenden Menschen waren. Die Leistungen erfolgten in aller Regel "automatisch", ohne daß die Empfänger größere Aktivitäten entwickeln mußten. Das Bewußtsein darüber, daß Sozialleistungen erhebliche Kosten verursachen, wofür in der Gesellschaft die finanziellen Mitel bereitgestellt werden müssen, ging weitgehend verloren. Gemessen an der Wirtschaftskraft der Länder, waren Sozialleistungssysteme wohl auch vielfach überdimensioniert angelegt, so daß biuer notwendige Investitionen im Produktionsbereich nicht erfolgt sind. Mit Recht darf daher angenommen werden, daß auch die Sozialsysteme eine Einbuße an sozialer Aktivität zu verantworten haben, eine der Ursachen für wirtschaftliche Stagnation und schließlichen Zusammenbruch des Gesellschaftssystems waren. Die bisherigen Entwicklungen zeigen, daß offensichtlich wenig Neigung besteht, entsprechende Konsequenzen für die Veränderung der Sozialsysteme zu ziehen. 18 Das neue russische Gesetz über die Gesundheitsversicherung ist so konzipiert, daß es Bewahrenswertes aus dem bisherigen Gesundheitswesen erhalten will. Dies betrifft die Unentgeltlichkeit ärztlicher Behandlung im Rahmen der Pflichtversicherung, die Einbeziehung aller Personen und die Zugänglichkeit der Gesundheitsversicherung für alle. 18 Vgl. C~zary Wlodarczy/cJPiotr M~rz~wslci, Von Worten zu Taten: Refonn des Gesundheitsdienstes in Polen, in: Internationale Revue für Soziale Sicherheit. 4/1991, S. 5 Cf.; Eva Orasz, Behindert von alten und neuen Fallen, in: Internationale Revue für Soziale Sicherheit, 4/1991, S. 19 Cf.

Veränderung des personellen Anwendungsbereichs

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Hier hat der russische Gesetzgeber anerkannt, daß bei allen Gesellschaftsmitgliedern ein Sicherungsbedürfnis gegenüber dem Risiko Krankheit besteht. Wenn allerdings kein derartiges universelles Sicherungsbedürfnis vorliegt, sind gegenüber früheren kategorialen Einbeziehungen künftig tiefergehende Differenzierungen zwischen einzelnen Gruppen von Erwerbstätigen zu erwarten: Weit entwickelte Marktwirtschaften kennen eine starlc ausgeprägte Differenzierung der Erwerbstätigen, die auf unterschiedliche Ursachen zurückzuführen ist Der hohe Grad der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, die unterschiedlichen Arbeitsaufgaben im Wirtschaftsprozeß haben wesentliche Differenzierungen in den Arbeits- und Lebensbedingungen zur Folge. In den Betrieben nimmt so z.B. das Führungspersonal gegenüber Arbeitnehmergruppen in untergeordneten Bereichen hinsichtlich der zu übernehmenden Verantwortung, eigenverantwortlicher Arbeitsgestaltung eine besondere Stellung ein, die sich auch in einem wesentlich höheren Arbeitseinkommen widerspiegelt Erhebliche Differenzierungen zwischen Erwerbstätigengruppen können auch eine Folge branchentypischer Arbeitsbedingungen sein. Traditionell nimmt hier z.B. der Bergbau eine herausragende Stellung ein. Gegenüber den Arbeitnehmergruppen werden in den Ländern Mittel- und Osteuropas künftig wohl die verschiedenen Selbständigengruppen eine beachtlichere Position einnehmen. Diese Differenzierungsprozesse insbesondere im Hinblick auf das Einkommen erfordern für jedes System sozialer Sicherheit neue Entscheidungen darüber, welche - Personengruppen obligatorisch in das jeweilige System einbezogen werden müssen, - welchen Personengruppen der Zugang verwehrt werden soll und - für welche Gruppen ein freiwilliger Zutritt möglich sein soll. Die Entscheidung muß danach getroffen werden, ob der Schutz durch das Sicherungssystem notwendig, oder ob er entbehrlich ist. Er wird immer dann notwendig sein, wenn eine Person von einem Risiko derartig bedroht ist, daß existentielle Gefahrdungen nicht auszuschließen sind. Ist hingegen ein besonderes Schutzbedürfnis nicht nachweisbar, wäre die obligatorische Einbeziehung in ein soziales Sicherheitssystem ungerechtfertigt. Hier muß dann der Verantwortung zur individuellen Eigenvorsorge entsprochen werden. Sofern allerdings keine ungerechtfertigten Nachteile insbesondere für eine Versichertengemeinschaft entstehen, könnte die Möglichkeit eines freiwilligen Zutritts eingeräumt werden.

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Die Entscheidung, welche Personengruppe in das jeweilige System einzubeziehen ist, muß natürlich auch im Hinblick auf das abzusichernde Risiko getroffen werden. Eine Absicherung gegen das Risiko Verlust des Arbeitseinkommens wegen Arbeitslosigkeit dürfte nur für die Gruppe der Arbeitnehmer erforderlich sein. Eine Alterssicherung oder Sicherung gegen Invalidität und Krankheit ist dagegen für größere Personengruppen erforderlich.

Diskussionbericht Die Referate über den sachlichen Anwendungsbereich (Igl und Czucz) und den personellen Anwendungsbereich (Trenk-Hinterberger und Pawelzig) wurden gemeinsam diskutiert Dadurch konnte auch dem thematischen Zusammenhang der Referate Rechnung getragen und die enge Bindung zwischen dem sachlichen und dem personellen Anwendungsbereich der sozialen Sicherheit hervorgehoben werden. Im ganzen war die Diskussion von einer solchen Vielfalt an Ideen, Vorschlägen, Hinweisen und Darstellungen bestimmter Sicherungszweige geprägt, daß nahezu alle denkbaren theoretischen, praktischen und historischen Aspekte des Wirkungsbereichs der sozialen Sicherheit aufgegriffen wurden. Die Diskussionsthemen betrafen zum einen den persönlichen und den sachlichen Anwendungsbereich der sozialen Sicherheit, zum anderen den Themenkomplex "Voraussetzungen, Grundentscheidungen und Ziele der s0zialen Sicherheit". Darüber hinaus wurden Möglichkeiten bestimmter Maßnahmen des sozialen Schutzes aufgezeigt, aber auch Begriffsbestimmungen in der sozialen Sicherheit abgehandelt. Zu Beginn stand ein ausführliches Statement grundsätzlicher und praxisrelevanter Art zu bestimmten Problembereichen der sozialen Sicherheit von Ruland, das über die Referatsthemen hinausging und auf das im weiteren Verlauf der Diskussion teilweise ebenfalls Bezug genommen wurde. Insbesondere wies er auf die sozialrechtlichen Auswirkungen der Vereinigung Deutschlands hin; die spezifische Ausgestaltung der sozialen Sicherheit in der DDR war ebenso Gegenstand der Ausführungen.

I. Konkret zum Sozialrecht im Zuge der Vereinigung Deutschlands und im Rahmen des Themenschwerpunkts "persönlicher Anwendungsbereich " wurde hervorgehoben, daß die Vielzahl der Sondersysteme der DDR für den westdeutschen Betrachter ein erstaunliches Phänomen darstelle, dessen Ausmaß man sich erst nach der Vereinigung gewahr geworden sei. Ein soziales Schutzsystem wie das der DDR, das so viele Sondersysteme beinhaltet, sei ein Beispiel für die Schaffung von Privilegien, die wiederum Ungleichheiten institutioneller wie leistungsspezifischer Art zur Folge hätten. Allerdings sei zu berücksichtigen, daß in der DDR neben den Privilegien schaffenden Sondersystemen doch auch eine betriebliche sowie eine berufsständische Alterssiche-

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Diskussionsbericht

rung bestanden habe. Pawelzig wies auf die wichtige Funktion der zusätzlichen Sicherungssysteme in der DDR hin und betonte ihre unabdingbare Rolle im Gefüge des sozialen Schutzsystems der DDR. Vom konkreten historischen Ansatz losgelöst, wurde auch der Umfang des persönlichen Anwendungsbereichs sozialer Schutzsysteme diskutierL Dabei sei, so Schmähl, eine Hauptfrage, ob alle Personen eines Staates einheitlich und ohne besondere Voraussetzungen zu erfüllen, vom Schutzsystem erfaßt würden, oder ob der Sozialschutz z.B. tätigkeits- bzw. branchenspezifIsch oder z.B. nach personenspezifIschen Merkmalen (Arbeiter/Angestellte) organisiert werde. Beattie wies in diesem Zusammenhang darauf hin, daß der kategoriale Ansatz des persönlichen Anwendungsbereichs, der z.B. auf alle Lohnabhängigen abstellt, negative Auswirkungen zeitigen könne, nämlich dann, wenn bestimmte Lohnabhängige nur darum aus dem Geltungsbereich des Schutzsystems herausfallen, weil das von ihnen bezogene Entgelt niedriger ist als eine eventuell bestehende Bemessungsgrenze, die eine Erhöhung erfahren hat.

D. Hinsichtlich des sachlichen Anwendungsbereichs wurde der Einstieg in die Diskussion ebenfalls mit einem historischen Hinweis in bezug auf die DDR getätigt. Es wurde festgestellt, daß die verschiedenen sozialen Schutzsysteme der DDR Mischsysteme gewesen seien und auf Prinzipien sowohl der Versicherung, als auch der Fürsorge beruht hätten; eine Mindestsicherung sei dort aufgrund der Vielzahl der Schutzsysteme bereits nach kurzer Versicherungszeit erreichbar gewesen, und die Sozialhilfe habe dort zwangsläufIg eine ganz geringe Rolle gespielt. Ruland wies auf eine notwendige klare Abgrenzung der Kompetenzzuständigkeit verschiedener Akteure und Institutionen hin und betonte so die spezifische Aufgabe der Sozialschutzsysteme im Vergleich zu anderen, insbesondere wirtschaftlichen Einrichtungen. Eine Fehlentwicklung aus sozialpolitischer Sicht sei die den Betrieben der DDR übertragene Verantwortung im Bereich sozialer Einrichtungen gewesen. Aufgabe der Betriebe sei die Erwirtschaftung; soziale Leistungen wie Kindergärten sollten dagegen vom Staat getragen werden und nicht, wie in der DDR, von den Betrieben. Das Thema des sachlichen Anwendungsbereichs regte zu verschiedenen allgemeinen Fragen an, insbesondere wurde auch das Äquivalenzprinzip in der sozialen Sicherheit angesprochen. Festgestellt wurde dabei, daß der soziale Schutz für die einzelnen Risiken verschieden ausgestaltet werden müsse. Konkret betrachtet bedeute dies insbesondere, daß das Äquivalenzprinzip dem Wesen mancher sozialer Risiken entspreche und konsequenterweise auch Anwendung fInden solle, mit dem anderer Sicherungszweige dagegen inkompatibel sei. So könnten z.B. für den Zweig Alter die Leistungen direkt in bezug auf die

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vorher geleisteten Beiträge erbracht werden, was für das Risiko Krankheit, abgesehen von Lohnersatzleistungen, nicht möglich sei. Im übrigen sei mit der Übertragung der Lohnfortzahlungspflicht auf den Arbeitgeber das Äquivalenzprinzip in der deutschen Krankenversicherung abgeschafft worden. Da, wo das Äquivalenzprinzip trotz Kompatibilität mit dem Sicherungszweig Unzulänglichkeiten aufweisen kann, wie das z.B. beim Versicherungszweig Alter bei unzureichender Leistungshöhe denkbar sei, könne immer noch auf subsidiäre Nothilfe zurückgegriffen werden.

111. Diskussionsbeiträge, die den Themenbereich "Voraussetzungen, Grundentscheidungen und Ziele der sozialen Sicherheit" zum Gegenstand hatten, nahmen teilweise auch auf die beiden Themen "personeller und sachlicher Anwendungsbereich" Bezug. Die hauptsächliche Weichenstellung für ein Sozialschutzsystem müsse dergestalt erfolgen, daß der Staat die Verantwortung zu tragen habe und den Schutz für die Bürger organisieren müsse; dabei spiele die Verfassung eine herausragende Rolle. Die einmal für die Ausgestaltung des Schutzes gegen ein bestimmtes soziales Risiko gefällte Grundentscheidung - sei es hinsichtlich des persönlichen oder des materiellen Geltungsbereichs - habe zwangsläufig Konsequenzen für alle anderen Teilbereiche des sozialen Schutzsystems zur Folge und könne demnach nicht beliebig gefallt werden, sondern nur in Anbetracht der Zielvorstellung für das globale Schutzsystem der sozialen Sicherheit, das seine weitere Ausgestaltung als Konsequenz der ersten Maßnahmen erfahre. Dazu wurde allerdings der Einwand vorgebracht, die historische Entwicklung vieler Sicherungszweige zeige, daß Entscheidungen über das soziale Schutzsystem oft zufällig getroffen worden seien, und daß bestimmte Entwicklungen zum Teil auch ungewollt bzw. ungesteuert verlaufen seien. Van Langendonck wies in diesem Zusammenhang auch auf die extreme Schwierigkeit hin, eine einmal getroffene Entscheidung nach ihrer Umsetzung wieder rückgängig zu machen oder zu ändern. Es sei neben der Wahl der Form des Sozialschutzes wichtig, die zwei Hauptfunktionen der sozialen Sicherheit vor Augen zu haben, nämlich die Mindestsicherungsfunktion und die Einkommenssicherungsfunktion. Für erstere müsse der Staat Zuständigkeit erhalten, letztere falle jedoch nicht in seinen Aufgabenbereich, sondern müsse Sache der Betroffenen sein. Die Grundentscheidung, die es zu treffen gelte, sei eine der wichtigsten Verpflichtungen des Staates und von weitreichender Bedeutung, weil sie nicht nur zugunsten der Leistungsbezieher, sondern zugleich auch auf Kosten der Steueroder Beitragszahler gefällt werde. Bedeutsam sei daher, ob das Schutzsystem die Sozialleistung subsidiär erbringt oder nicht. Falls nicht die Subsidiarität

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bzw. das Prinzip der Nothilfe Priorität erhalte, sei eine besondere RechtfertigWlg der gewählten Lösung notwendig. Neben vielfältigen Aspekten, die es nach einer einmal getroffenen Entscheidung zu beachten gelte, sei insbesondere das Prinzip der Gleichbehandlung hervorzuheben, für dessen EinhaltWlg eine Verfassungsgerichtbarkeit wesentlich sei. Bei der Entscheidung über die Ausgestaltung des Sozial schutzes müsse auch der Inhalt eines jeden Sicherungszweiges in Betracht gezogen und die jeweils typischen und atypischen Risiken erkannt werden; dies führe dann auch dazu, daß einerseits der Bedarf für ein Risiko festgestellt werden, andererseits aber auch in jedem Fall effektiv abgesichert werden müsse. Diese Einschätzung fand Zustimmung und wurde insbesondere von von Maydell vertieft durch den Hinweis auf das Nebeneinander und das Ineinandergreifen der Systeme, die verschiedene Arten von Risiken abdecken: einerseits die klassischen Risiken, andererseits Risiken anderer Art, insbesondere solcher, die durch den Betrieb abgedeckt würden. Das gesamte soziale Schutzssystem eines Staates beinhalte alle Varianten. Ein universalistisches System biete sich für eine Grundsicherung an, während ein kategoriales System für eine gehobenere, weitergehende Sicherung geeigneter sei. Eines der großen zu lösenden Probleme sei es, die richtige, effiziente Lösung in den Staaten Mittel- und Osteuropas zu treffen. Von anderer Seite wurde auf die Nützlichkeit der Unterscheidung zwischen universalistischer und kategorialer Sicherung für die wissenschaftlich-theoretische Analyse hingewiesen, aber ihre Bedeutung für die neuen östlichen Staaten in Frage gestellt

IV. Allgemein wurde die Vielfalt der Möglichkeiten des Sozialschutzes festgestellt, aber nochmals auf die Unabdingbarkeit hingewiesen, jedes soziale Schutzsystem als Ganzes zu betrachten und nicht einzelne Aspekte davon isoliert zu analysieren. Nicht nur die eigentliche Versicherungsleistung, die nach Eintritt des Risikos gewährt wird, sei in Betracht zu ziehen, sondern auch ergänzende Leistungen, insbesondere vorbeugende Maßnahmen, die, wie die Versicherungsleistung selbst, vom zuständigen Versicherungsträger zu finanzieren seien. Am Beispiel der Arbeitslosigkeit wurde auf das Zusammenspiel und das Ineinandergreifen aller Situationen und Teilbereiche des sozialen Schutzssystems und des Lebensumfelds abgestellt. Das Risiko bei Arbeitslosigkeit realisiere sich in Form des Einkommensverlusts, der eine direkte Folge des Verlusts des Arbeitsplatzes sei. Da aber als das eigentliche Problem die fehlenden Arbeitsmöglichkeiten erkannt seien, seien flankierende Maßnahmen wie Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen bei Arbeitslosigkeit hilfreich und sinnvoll. Prinzipiell hätten diese Möglichkeiten der flankierenden und vorbeugenden Maßnahmen für alle Sicherungszweige Geltung.

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V. Ein letzter Diskussionsschwerpunkt hatte Begriffsbestimmungen zum Thema Dabei wurde auf die Wichtigkeit des sozialrechtlichen Begriffs "Risiko" hingewiesen, der insbesondere auch gegengenüber dem privatversicherungsrechtIichen Begriff des Risikos abzugrenzen sei. Eine Schwierigkeit ergebe sich für die Bestimmung von Risiken, die sich von anderen ableiten, bzw. als eine mögliche Konsequenz eines bestimmten Risikos bei Verschlimmerung oder Unmöglichkeit einer Besserung des Zustandes darstellen ließen. So könne z.B. sowohl Invalidität als auch das Risiko Pflegebedürftigkeit das Ergebnis einer Krankheit sein. Der Inhalt des Begriffs "Risiko" hänge zudem wesentlich von politischen Gegebenheiten ab, jedoch sei insbesondere aufgrund eines fortlaufenden Wandels kaum denkbar, daß der Gesetzgeber die verschiedenen sozialen Risiken abschließend defmieren könne. Otto Kaufmann

Techniken und Instrumente sozialer Sicherheit von Bertram Schulin I. 11.

Einführung Gliederung der sozialen Sicherung 1. Allgemeines 2. Versicherung (Vorsorge) 3. Soziale Versorgung 4. Soziale Entschädigung 5. Soziale Förderung 6. Familienlastenausgleich 7. Sozialhilfe 8. Institutionelle Förderung 9. Außersozialrechtliche Systeme des Privatrechts III. Folgeprobleme der Gliederung sozialer Sicherung 1. Sozialversicherung a) Rangverhältnis b) Nahtlosigkeit, Lücken, Kumulation c) Primäre und sekundäre Risiken 2. Sozialrecht als Ganzes a) Rangverhältnis b) Vermeidung von Lücken durch vorläufige Leistungen 3. Sozialrecht und außersozialrechtliche Gebiete 4. Information und Beratung 5. Einheitlichkeit der Risikozuordnung und Strukturverantwortung IV. Sicherungsniveau 1. Mindestsicherung 2. Lebensstandard- und Zusatzsicherung 3. Wahlmöglichkeiten 4. Beitrags- und zeitbezogene sowie bedarfsabhängige Leisrungen 5. Berücksichtigung individueller Bedürftigkeit V. Ausgestalrungen von Leistungsansprüchen 1. Anspruchsbegrenzungen 2. Leistungs- und Beitragsdynamisierungen 3. Originäre und abgeleitete Leisrungsansprüche VI. Ausblick

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Bertram Schulin

I. Einfübrung Die nachfolgende Skizzierung von Techniken und Instrumenten sozialer Sicherheit spiegelt das Ergebnis einer mehr als hundertjährigen Rechtsentwicklung von ersten Anfängen moderner Sozialgesetzgebung bis zum heutigen Stand in Westeuropa. Eine Umgestaltung der Systeme in Mittel- und Osteuropa kann sich naturgemäß nur in Stufen einem vergleichbar komplexen System nähern, wie es etwa in Deutschland verwirklicht worden ist. Dabei muß zugleich vor dem Irrtum gewarnt werden, bei diesem handele es sich um ein nicht mehr verbesserungsfähiges "Idealmodell". Vielmehr weist es zahlreiche Mängel auf, die, ebenso wie die sich ständig ändernden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, immer wieder Korrekturen erfordern. Die Notwendigkeit, neue Sicherungssysteme in Mittel- und Osteuropa schrittweise aufzubauen, macht ein zweispuriges Verfahren erforderlich. Zum einen geht es darum, die Weichen für langfristig angestrebte Ziele zu stellen. Zum anderen sind kurzfristige Maßnahmen erforderlich, um bereits heute soziale Sicherungen zu ermöglichen. Beide Wege sollten soweit wie möglich koordiniert werden, d.h. die aktuellen Maßnahmen sollten ihrer prinzipiellen Natur nach bereits weitgehend mit den langfristig angestrebten übereinstimmen. Hier bietet den mittel- und osteuropäischen Staaten die Anschauung der ausgebauten Sicherungssysteme der westeuropäischen Länder eine Chance, die diese mangels vorhandener ausgebauter Systeme seinerzeit nicht hatten. Erforderlich wäre freilich noch eine Darstellung der Instrumente und Techniken in ihren wesentlichen Entwicklungsstufen. Doch würde dies den hier gegebenen Rahmen bei weitem sprengen. Umso wichtiger ist daher die Einsicht, daß es sich bei den nachfolgend skizzierten Techniken und Instrumenten in ihrer Gesamtheit nicht um ein System handelt, das kurzfristig aufgebaut werden könnte. Techniken und Instrumente können, in welchen Lebens- und Rechtsbereichen auch immer, stets nur verstanden und beurteilt werden im Hinblick auf die mit ihnen verfolgten Ziele sowie die Bedingungen ihrer Anwendung. Unterschiedliche Ziele erfordern oft oder meist unterschiedliche Techniken und Instrumente zu ihrer Realisierung. Und diese wiederum sind in ihrem Einsatz von unterschiedlichen Bedingungen abhängig. Wo zwei oder mehrere Techniken geeignet sind, eine und dieselbe Zielsetzung zu ermöglichen, ist folglich die Entscheidung für die eine oder andere Technik in aller Regel nicht beliebig. Außer unterschiedlichen Bedingungen müssen darüber hinaus zumeist von den primären Zielsetzungen nicht unmittelbar erfaßte Folgen mitberücksichtigt werden. So ist es für einen Kranken nur vordergründig einerlei, ob er die benötigte ärztliche Behandlung erhält, indem er einen Arzt aufsucht, mit ihm einen privatrechtlichen Behandlungsvertrag abschließt und für die entstandenen Kosten Erstattung von einer Krankenkasse erhält; oder ob die Krankenkasse die Kosten unmittelbar trägt; oder ob die Kosten von einer Berufsgenossenschaft

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fmanziert werden; oder vom Staat; oder vom unterhaltspflichtigen Ehegatten; oder ob der Kranke unmittelbar ärztliche Behandlung in einer öffentlichen Einrichtung in Anspruch nehmen kann, ohne daß es überhaupt eines privatrechtlichen Vertrags bedarf; U.s. w. Die skizzierten Varianten der unterschiedlichen Techniken bzw. Instrumente machen freilich sofort deutlich, daß es nicht ausreicht, die soziale Sicherung bei Krankheit nur unter dem isolierten Aspekt der medizinischen Leistungen als solchen zu sehen, etwa der ärztlichen Behandlung. Vielmehr ist es für den Bürger weiter wichtig, ob er für die erforderlichen Maßnahmen eine Gegenleistung in Form von Versicherungsbeiträgen zu erbringen hat und in welcher Höhe; ob er Kosten vorstrecken muß oder die Leistungen unmittelbar und "als solche" erhält; ob er unter mehreren und unter wie vielen Ärzten, Krankenhäusern, Apothekern u.s.w. auswählen darf; ob er Einfluß auf die Organisation des Leistungsträgers nehmen kann (z.B. durch Teilnahme an Selbstverwaltungswahlen); u.S.W. Zahlreiche weitere Fragen stellen sich für Kommunen, Bundesländer und Bundesstaat, ferner für Unterhaltsverpflichtete und Arbeitgeber, ohne daß hierauf an dieser Stelle weiter eingegangen werden soll und kann. Die meisten Fragen und Probleme ergänzen einander ebenso wie sie sich zum Teil bedingen. Wenn im folgenden über Techniken und Instrumente sozialer Sicherung (oder: sozialer Sicherheit) gesprochen wird, so muß die Komplexität des Umfeldes, in welchem sie stehen, gesehen werden. Dabei sind beide Begriffe in einem "untechnischen" Sinn zu verstehen. Dies ist schon deshalb unumgänglich, weil andernfalls eine rechtsvergleichende Diskussion nicht bzw. nur unter der kaum erfüllbaren - Voraussetzung möglich wäre, daß zuvor in einem schwerfälligen Prozeß versucht würde, für den Kreis der einzubeziehenden Sozialrechtsordnungen zu abgeschlossenen Begriffsdefinitionen zu kommen. Techniken und Instrumente sind daher letztlich alle Möglichkeiten, Zielsetzungen und seien sie noch so begrenzter Art - der sozialen Sicherheit zu verfolgen. Im Sinne der vorstehenden Begriffsdefinition sind in der Sache auch alle übrigen Themenkreise der "Grundfragen" (2. Abschnitt des Kolloquiums) solche von Techniken und Instrumenten. Das gilt bereits für die Bestimmung der sachlichen Anwendungsbereiche der verschiedenen Sicherungssysteme bzw. Teilsysteme und insbesondere die vorrangige Entscheidung über die Alternative einer Einheitssicherung oder eines gegliederten Systems. Am wenigsten läßt sich noch bei der Abgrenzung der personellen Anwendungsbereiche unmittelbar von Techniken und Instrumenten sprechen. Doch ist auch dies durchaus nicht ausgeschlossen, wenn nämlich ein spezifischer funktionaler Zusammenhang zwischen personellem Anwendungsbereich und der Entscheidung für eine bestimmte Sicherungsform besteht So ist etwa dafür, ob und inwieweit Behinderte sozialversichert werden sollen, der Umstand von Bedeutung, daß

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Bertram Schu1in

dort, wo Sozialversicherung die allgemeine, "normale" Form der Sicherung hinsichtlich der von ihr erfaßten Risiken darstellt, die Einbeziehung von Behinderten eine wichtige rehabilitative Funktion erfüllt Denn sozialversichert zu sein, bedeutet dann für die betreffenden Behinderten vor allem auch die Teilhabe an einem Stück "Normalität" der Nichtbehinderten, also Integration in die Gesellschaft und damit insoweit soziale Rehabilitation. Aufgaben der sozialen Sicherung werden hier nicht nur durch die Leistungen der Sozialversicherung als solche erfüllt - also etwa durch die Gewährung ärztlicher Behandlung oder durch die Zahlung von Renten -, sondern darüber hinaus und vor allem dadurch, daß die Leistungen gerade durch die Sozialversicherung gewährt werden und nicht z.B. durch die Sozialhilfe, auch wenn diese Leistungen zur Verfügung stellen würde, die äußerlich mit denjenigen der Sozialversicherung identisch wären. Von daher läßt sich durchaus die These vertreten, daß auch die Einbeziehung oder Nichteinbeziehung von Personen bzw. Personengruppen in bestimmte Sicherungssysteme eine "Technik" oder ein "Instrument" der sozialen Sicherung, genauer: zur Realisierung gewisser Sicherungsfunktionen darstellen. Unproblematisch ist, daß mit der Organisation, der Finanzierung und den Leistungsarten Techniken bzw. Instrumente sozialer Sicherung verbunden sind. Wenn diesen Themenkreisen wegen ihres besonderen Gewichts im folgenden jeweils eigenständige Referate gewidmet sind, so ist dies ohne Zweifel sachgerecht. Erforderlich ist nur, dabei nicht den Blick dafür zu verlieren, daß viele Einzeltechniken bzw. Einzelinstrumente sich ergänzen und im Gesamtzusammenhang zu sehen sind. So läßt sich die Sicherungstechnik der (Sozial)Versicherung schon begrifflich bzw. Institutionen nicht vom Finanzierungsinstrument der Versicherungsbeiträge (Finanzierung) trennen. Oder: Die Wahl eines rein staatlichen Verwaltungsträgers für eine bestimmte Sicherungsfunktion - z.B. für die schulische Ausbildungsförderung - schließt in organisatorischer Hinsicht ein echtes Selbstverwaltungsmodell auf Körperschaftsbasis aus. Damit sind die wesentlichen Leitlinien für die folgenden Überlegungen vorgegeben. Sie werden sich auf solche Techniken und Instrumente konzentrieren, die nicht Gegenstand der anderen Referate sind, wobei jedoch selbst insoweit auch nicht ansatzweise Vollständigkeit erreichbar, freilich auch durchaus nicht notwendig ist. Vielmehr kommt es für die weitere Diskussion im Zusammenhang mit der Umgestaltung der mittel- und osteuropäischen sozialen Sicherungssysteme darauf an, einige besonders wichtige Fragenkreise auszuwählen, ihre Bedeutung zu skizzieren und ihre Verflochtenheit mit anderen Aspekten zu verdeutlichen. Größte Schwierigkeiten bereitet eine gewisse systematische Ordnung des Stoffes. Um den Rahmen einer einführenden Problemskizze nicht zu sprengen

Techniken und Instrumente

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und die Diskussion im Hinblick auf die Vielfalt der Techniken und Instrumente der zahlreichen nationalen Rechte möglichst offen zu halten, wird ein eher pragmatischer Ansatz gewählt, indem sowohl eine Reihe grundsätzlicher als auch einige mehr speziellere Themenkreise angesprochen werden. Auf diese Weise soll dem Umstand Rechnung getragen werden, daß einerseits Lösungen von praktischen Einzelfragen nicht ohne Berücksichtigung der übergreifenden Systemzusammenhänge diskutiert werden, daß aber andererseits die Ausformung und Interpretation der Systemgrundsätze nur jeweils mit Blick auf die zu regelnden Lebenssachverhalte und den sich ständig verändernden gesellschaftlichen Überzeugungen und Anforderungen erfolgen können. Es ist von vornherein ausgeschlossen, bei den anzusprechenden Fragen jeweils flächendeckend oder auch nur in einer gewissen repräsentativen Auswahl die verschiedenen westeuropäischen Rechtsordnungen zu berücksichtigen. Dies ist aber auch nicht notwendig, da sehr viele, wenn nicht sogar die meisten Techniken und Instrumente in den einzelnen nationalen Rechtsordnungen anzutreffen sind, mag dies auch mit zum Teil sehr unterschiedlichem Gewicht und in sehr unterschiedlicher Ausformung im einzelnen der Fall sein. Für den Zweck der vorgesehenen Tagung kommt es jedoch in erster Linie auf die exemplarische Verdeutlichung der verschiedenen Techniken und Instrumente an, so daß die erwähnte Beschränkung hinnehmbar ist. Bei den nachfolgenden Ausführungen liegt daher ein besonderes Schwergewicht auf dem deutschen Recht, ohne daß dabei jedoch die übrigen westeuropäischen Systeme der sozialen Sicherung ausgespart blieben.

ß. Gliederung der sozialen Sicherung 1. Allgemeines

Kennzeichnend für alle entwickelten Systeme der sozialen Sicherung Westeuropas ist die Gliederung in mehrere sozialrechtliche sowie nichtsozialrechtliche Teilsysteme, die ihrerseits wiederum in weitere Subsysteme untergliedert sein können. Derartige Gliederungen stellen bereits als solche eine zentrale Technik der sozialen Sicherung dar, auf deren Funktion hier nicht näher eingegangen werden kann. Einer der wesentlichsten Nachteile besteht darin, daß sie nicht selten, wie etwa in Deutschland, zu einer großen Unübersichtlichkeit der Gesamtheit aller Teilsysteme der sozialen Sicherung führen. Die Unterscheidung zwischen den Sicherungszweigen des Sozialrechtsi erfolgt in erster Linie auf Grund der für sie typischen Techniken und Instrumente, 1 Im Sinne des RechlS öffentlichrechtlich organisietter Sozialleistungen (im Gegensatz 11l aussenozialrechtlichen Sicherungsformen, z.B. des ArbeilSrechlS). Der Begriff des SozialrechlS wird in den einzelnen nationalen Rechten sowie im europäischen und im internationalen Recht untenchiedlich verwendet. Dazu F ela Schmid, Sozialrecht und Recht der sozialen Sicherheit, 1981, S. 52 ff.

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mit denen sie die einzelnen Ziele der sozialen Sicherung verfolgen. Sechs Grundtypen lassen sich unterscheiden: Versicherung (Vorsorge), Versorgung, Entschädigung, soziale Förderung, Familienlastenausgleich und Sozialhilfe. Hinzu kommt als Besonderheit noch die sog. institutionelle Förderung. Für die nichtsozialrechtlichen Bereiche, die sozialrechtliche Sicherungsfunktionen erfüllen, fehlt es demgegenüber an einheitlichen Kriterien der Systemeinteilung. Hier stellt man meist auf das jeweilige Teilrechtsgebiet ab (Arbeitsrecht, zivilrechtliches Unterhaltsrecht, Steuerrecht usw.). Insbesondere zwischen Sozialund Arbeitsrecht, aber auch zwischen Sozial- und Unterhaltsrecht bestehen enge Verzahnungen. 2. Versicherung (Vorsorge)

a) Lange Zeit stand das Sozialversicherungsrecht mit seinen klassischen, auf die Bismarcksche Gesetzgebung zurückgehenden Zweigen der Kranken-, Unfall- und Renten-, später auch der Arbeitslosenversicherung, ganz im Vordergrund des "sozialen Rechts". Erst um die Mitte dieses Jahrhunderts kam es dann zu der Bildung eines Oberbegriffs des Sozialrechts, der neben der Sozialversicherung weitere Zweige der sozialen Sicherung aufnahm. Danach ist Sozialversicherung nur ein, wenn auch ein besonders wichtiger, Zweig unter mehreren. In Deutschland wird anstelle des Begriffs der Sozialversicherung zunehmend auch der der sozialen Vorsorge gebraucht. 2 Wie im Begriff zutreffend zum Ausdruck kommt, sind für die Sozialversicherung zwei Elemente wesentlich: zum einen der versicherungsmäßige Risikoausgleich und zum anderen eine spezifisch soziale Komponente dieses Ausgleichs. Durch das zweite Element unterscheidet sich Sozial- von Privatversicherung. 3 Sozialversicherung ist dadurch gekennzeichnet, daß bei ihr zwischen den (meist zwangsweise) Versicherten aus dem Beitragsaufkommen und vielfach - jedoch durchaus nicht immer - ergänzenden Staatszuschüssen ein von individueller Bedürftigkeit unabhängiger Risiko- und Sozialausgleich herbeigeführt wird, der gegen einschneidende und versicherungsmäßig kalkulierbare Wechselfälle des Lebens wie Krankheit, Arbeitsunfall, Arbeitslosigkeit und Alter sichert. Weil Versicherung immer eine Art Vorsorge darstellt, hat der Begriff der sozialen Vorsorge viel für sich. Versicherung ist durch ein Gegenseitigkeitsverhältnis zwischen Versicherer und Versicherungsnehmer charakterisiert: Dieser zahlt ein Entgelt, dem als Gegenleistung die Übernahme 2 Vgl. dazu Bertram Scludin, Sozialrecht, 4. Aufl., 1991, Rdnr. 34 ff.; Wolfgong Rüffler, Einführung in das Sozialrecht, 2. Aufl., 1991, S. 16 ff. l Zur UnterscheidlDlg von PrivatversicherlDlg IDld Sozialversicherung vgl. den gleichnamigen Beitrag von Maximilian Fwehs, PrivatversicherlDlg IDld SolialversicherlDlg, Vierteljahresschrift für Solialrecht 1991, S. 281 ff.

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des Risikos gegenübersteht mit der Folge, daß im Falle einer Risikoverwirklichung die vorgesehenen Versicherungsleistungen gewährt werden. 4 Im Unterschied zur Privatversicherung wird die Höhe des Entgelts in der Sozialversicherung (also des Beitrags) nicht, jedenfalls nicht vorrangig, am typisierten (durchschnittlichen) Risiko des einzelnen Versicherten ausgerichtet (Individualäquivalenz). Vielmehr - und dies macht eben das "Soziale" der Sozialversicherung aus - werden über einen Umverteilungsmechanismus die Beiträge nach sozialen Gesichtspunkten berechnet, indem sie sich am Einkommen der Versicherten orientieren; dabei wird freilich vielfach nur das Erwerbseinkommen berücksichtigt, was den sozialen Ausgleich stark relativieren kann. 5 Zu erheblichen ModifIkationen gegenüber der Privatversicherung kommt es vor allem in der Rentenversicherung dort, wo - wie dies meist, z.B. in Deutschland und Frankreich, der Fall ist - die Finanzierung im Wege des Umlageverfahrens geschieht Von der vorstehend skizzierten Funktion der Sozialversicherung eines Vorsorgesystems der Versicherten sind die anderen Funktionen zu unterscheiden, bei denen es darum geht, daß die Sozialversicherung einerseits lediglich als Instrument im Dienste einer anderen sozialen Aufgabe nutzbar gemacht wird, insbesondere zur sozialen Eingliederung von Behinderten (dazu unten 11 2 e) sowie zur Erfüllung von Aufgaben des Familienlastenausgleichs (dazu unten 11 2 0. b) Eine wichtige rechtliche Konsequenz aus einer (sozial)versicherungsmäßig organisierten Risikovorsorge wird in Deutschland dahingehend gezogen, daß die Versicherungsanwartschaften unter den verfassungsrechtlichen Eigentumsschutz des Art. 14 Abs. 1 GG fallen. Denn der Risikoschutz ist aus privaten Beitragsmitteln fmanziert ("erkauft"), so daß in die entsprechenden Anwartschaftsrechte nicht oder nur in engen Grenzen - insbesondere durch Gesetze, die die Kosten der Sozialversicherung "dämpfen" sollen - eingegriffen werden darf. Diese Beschränkungen bestehen in den übrigen Zweigen des Sozialrechts, deren Leistungen aus allgemeinen Steuermitteln fInanziert werden, nicht. 6 4 Zmn Versicherungsgedanken Winfried SchmähJ, Versicherungsgedanke und Sozialversicherung - Konzept Wld politische BedeutWlg, in: Winfried SchmähI (Hg.), Versichenmgsprinzip Wld soziale Sicherung, 1985, S. 1 Cf. S Vgl. Bertram SchuJin, Empfiehlt es sich, die ZuWeiSWlg voo Risiken und Lasten im Sozialrecht neu zu ordnen?, Gutachten E zum 59. Deutschen Iuristentag Hannover 1992, Verhandlungen für den 59. Deutschen Iuristentag Bd. I, 1992, S. E 59 ff. 6 Näher zum Eigentumsschutz soziaIversichenmgsrechtlicher Anrechte FriJz OsstmbühJ, Der Eigentmnsschutz sozialrechtlicher Positionen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - eine Zwischenbilanz, in: Festschrift für Wolfgang Zeidler, Bd. I, 1987, S. 625 ff., Alfred Söllner, Zum Eigentmnsschutz sozialrechtlicher Positiooen, in: Festschrift für Willi Geiger, 1989, S. 262 ff., Eberhard Eichenhofer, Der verfassWlgsrechtliche Schutz von sozialversicherungsrechtli-

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c) Die Entscheidung, ob ein Risiko in die Sozialversicherung oder in einen anderen Zweig des Sozialrechts einbezogen werden soll, kann nur sachgerecht getroffen werden, wenn über die Funktionen von Sozialversicherung Klarheit besteht. Sie hängen vor allem von den Sicherungszielen der übrigen sozialen Leistungsbereiche ab, was am Beispiel des deutschen Sozialrechts verdeutlicht werden soll. Dort hat man die Aufgabe der Sozialversicherung lange Zeit darin gesehen - und tut dies überwiegend auch heute noch -, die Versicherten vor individueller Not, z.B. wegen der Folgen von Krankheit oder Invalidität, zu schützen.7 Zweifellos war dies der ursprüngliche Ausgangspunkt der Bismarckschen Sozialgesetzgebung. 8 Heute hat sich jedoch die Funktion grundlegend gewandelt. Denn unter der Geltung des Grundgesetzes hat sich die Ansicht durchgesetzt, der Staat sei schon von Verfassungs wegen verpflichtet, den Bürger im Notfall zu versorgen und zwar durchaus auf einem nicht zu geringen Niveau, welches entsprechend der allgemeinen Leistungsfahigkeit der Gesellschaft deutlich über dem bloßen Existenzminimum liegt. Konsequent räumt daher das Sozialhilferecht im Bundessozialhilfegesetz (BSHG) derartige, gerichtlich durchsetzbare Leistungsansprüche ein. 9 Das bedeutet die Aufgabe, den einzelnen vor Not zu schützen, ist von der Sozialversicherung auf die Sozialhilfe übergegangen. Die Funktion der Sozialversicherung hat sich demgegenüber maßgeblich verlagert: Zum einen hat sie die Aufgabe, hinsichtlich der allgemeinen Lebensrisiken ein Sicherungsniveau oberhalb desjenigen der Sozialhilfe zu gewährleisten, wobei im Regelfall Ziel die Aufrechterhaltung des vor Eintritt des Sicherungsfalles erreichten Lebensstandards ist (Lebensstandardsicherung).l0 Zum anderen und vor allem aber geht es darum, Staat (Bund und Länder) sowie Gemeinden davor zu schützen, daß sie auf Sozialhilfeleistungen in Anspruch ge-

cben Anrechten in der Bundesrepublik Deutschland, Italien und den USA, Zeitschrift für internationales und ausländisches Arbeits- und Sozialrecht 1988, S. 239 ff., sowie D~trich Katzenstein, Aspekte einer zukünftigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Eigentumsschutz sozialrechtlicher Positionen, in: Festschrift für Wolfgang Zeidler, Bd. I, 1987, S. 645 ff. Zum Eigentumsschutz des Anspruches auf Erstattung von Rentenvenicherungsbeiträgen s. Klaus S~velcing, Die Erstattung von Rentenversicherungsbeiträgen an Ausländer, 1988, S. 66 ff. 7 Vgl. etwa Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) Bd. 18, 257 (270), ferner erst jüngst Gesellschaft für Venicherungswissenschaft und -gestaltung e.V. (Hg.), Elemente eines Systems der Sozialen Sicherung unter den Bedingungen einer Sozialen Marlc.twirtschaft - Das Beispiel der Bundesrepublik Deutschland, 1992, S. 15 f. 8 Näher zur Bismarckschen Sozialgesetzgebung F/orian Tennstedl, Vorgeschichte und Entstehung der Kaiserlichen Botschaft vom 17. November 1881, Zeitschrift für Sozialreform 1981, S.663ff. 9 Vorbereitet wurde diese Gesetzgebung durch das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 24. Juni 1954, Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwGE) Bd. I, S. 159 (161 f.), heute § 4 BSHG. 10 Vgl. Wolfgang Gitter, Sozialrecht, 3. Aufl., 1992, S. 54 f.

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nommen werden, weil es der einzelne an einer entsprechenden Risikovorsorge, obwohl sie möglich gewesen wäre, hat fehlen lassen. Insoweit geht es also um den Schutz der Allgemeinheit vor mangelnder Individualvorsorge des einzelnen. 11 Diese Schutzfunktion hängt zentral mit dem Gleichheitsgrundsatz zusammen, denn diejenigen Bürger, die Vorsorge betreiben, werden gegenüber den anderen dadurch doppelt belastet, daß sie sowohl Versicherungsbeiträge als auch Steuern zur Finanzierung der Sozialhilfe zahlen. Versicherung ist also nicht nur eine von mehreren Techniken der sozialen Sicherheit, die beliebig austauschbar wären. Vielmehr ist sie überall dort geboten, wo versicherungsmäßige Risikovorsorge zum Schutz der Allgemeinheit vor vermeidbarer Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen möglich ist In Deutschland ist unter diesem Aspekt auch der Streit um die Einführung einer Pflegesicherung zu sehen. Gegenwärtig leistet die Sozialhilfe mehr als 10 Mrd. DM bei Pflegebedürftigkeit,12 weil es an entsprechenden Leistungsansprüchen in der Sozialversicherung fehlt 13 d) Sozialversicherung zeichnet sich nicht zuletzt dadurch aus, daß sie jedenfalls vorrangig - eine Pflichtversicherung ist. 14 Auf Versicherungszwang kann aus zwei Gründen nicht verzichtet werden. Der eine Grund besteht in der zuvor dargestellten Funktion des Schutzes der Allgemeinheit. Der andere beruht auf der Funktion des sozialen Ausgleichs. Wenn die Sozialversicherungsbeiträge in der Weise sozial ausgestaltet sind, daß sie sich an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Versicherten - gemessen vor allem an deren Erwerbseinkommen - orientieren, hat dies zur Konsequenz, daß die höher verdienenden Versicherten Beiträge zu zahlen haben, denen - im Vergleich zur Situation in der Privatversicherung und dem dort geltenden Grundsatz der Individualäquivalenz - ein nur verminderter marktmäßiger Gegenwert in Gestalt der Versicherungsleistungen gegenübersteht. 15 Dies ist im allgemeinen nur S. Schu/in (Fn. 5), S. E 44. Quelle: Statistisches Jahrbuch 1992 für die BWldesrepublik Deutschland, S. 505. 13 Zu den LeistWlgen der Sozialversichenmgszweige be· Pflegebedürl'tigkeit s. Gerhard 19l, Leistungen bei Pflegebedürl'tigkeit, 1992, S. 33 f., 89 f., 99. 14 Zu den Ausnahmen von der SozialversicherWJgspflicht in ausgewählten Staaten Europas sowie den USA und Kanada vgl. AIbeitsgruppe des Max-Planck-Instituts für ausländisches W1d internationales Sozial recht, Ausnahmen von der Sozialversichenmgspflicht im internationalen Vergleich, Die Angestelltenversicherung 1988, S. 498 ff. IS Zur sozialen UmverteilWlg Görg HaverlroJe, VerfassWlgslehre - Verfassung als GegenseitigkeitsordnWlg, 1992, S.258 ff.; lose! lseflSee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, 1973, S.17 ff.; vgl. ferner Bertram Schulin, Solidarität und Subsidiarität, in: Bemd von Maydell/Walter Kannengießer (Hg.), Handbuch Sozialpolitik, 1988, S. 89 f., sowie Ferdinlmd Kirchhof, Das Solidarprinzip im Sozialversichenmgsbeitrag, Schriftenreihe des Deutschen Sozialrechtsverbandes, Bd. 35 (1992), S. 65 (75 ff.). Vgl. zum Solidarausgleich auch Bundessozialgericht Sozialrecht-Entscheidungssamrnlung (SozR) 2200 § 385 Nr. 6, insb. S.21 f., sowie Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 79, S. 223 (236 f.). 11

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durch Zwang erreichbar, der im übrigen verfassungsrechtlich durch entsprechende Gemeinwohlbelange gerechtfertigt wird. Zu erwähnen ist, daß Versicherungszwang kein Spezifikum der Sozialversicherung darstellt. Vielmehr gibt es gerade auch in Deutschland zahlreiche Fälle, in denen die Erfüllung zivilrechtlicher Haftpflichten durch entsprechende gesetzliche Zwänge zum Abschluß von (privaten) Haftpflichtversicherungen gesichert wird. Das Hauptbeispiel ist die obligatorische Haftpflichtversicherung für Halter von Kraftfahrzeugen. e) Sozialversicherung als Instrument der Vorsorge gegen Folgen von allgemeinen Lebensrisiken ist in den meisten westeuropäischen Ländern seit längerem zu einem Tatbestand der gesellschaftlichen Normalität geworden. Er hat nichts mehr mit ihrem historischen Ursprung einer Sicherung speziell für sozial benachteiligte Schichten zu tun. Daraus folgt ihre bereits erwähnte Eignung als Medium sozialer Rehabilitation}6 Indem das Gesetz Geburts- und Frühbehinderte, gerade auch wenn sie zur Beitragsfmanzierung aus eigenem Erwerbseinkommen nie in der Lage waren und es auch nicht sein werden, in die Sozialversicherung einbezieht, werden sie damit in bezug auf einen wichtigen Aspekt in die Gesellschaft integriert. Allerdings muß in derartigen Fällen der Nutzbarmachung von Sozialversicherung für unmittelbar versicherungsfremde Zwecke (die Behinderten sind gerade nicht in der Lage, aus eigenen Kräften Vorsorge zu betreiben) zur Vermeidung von Systemverwerfungen gewährleistet sein, daß die Finanzierung von denjenigen Institutionen getragen wird, die für die soziale Sicherung der betreffenden Personen primär zuständig sind, was auf die Sozialhilfe zutreffen kann, ebenso aber - wenn es etwa in der Sache um eine Aufgabe des Familienlastenausgleichs (insbesondere bei behinderten Kindern) geht - der Staat. f) Dies leitet über zu einem letzten Punkt: dem allgemeinen Problem des Verhältnisses von Sozialversicherung und Familienlastenausgleich. Während es lange Zeit als selbstverständlich und geradezu als eine zentrale soziale Aufgabe der Sozialversicherung angesehen wurde, daß sie auf kindbedingte Lasten Rücksicht nimmt - z.B. unterhaltsberechtigte Kinder in der Krankenversicherung beitragsfrei mitversichert oder zu Renten Kinderzuschläge gewährt -, wird vor allem in Deutschland eine genuine Zuständigkeit der Sozialversicherung für familienbezogene Aufwendungen zunehmend in Frage gestellt. So setzt sich hier mehr und mehr die Überzeugung durch, daß der sog. Familienlastenausgleich eine Aufgabe der Gesamtgesellschaft sei. 17 Folglich beteiligt sich der Bund z.B. an der Finanzierung der Aufwendungen, die für die Rentenversicherungsträger aus der Anrechnung von Kindererziehungszeiten

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S. oben I 2. Vgl. Schulin (Fn. 5), S. E 117 ff. mit weiteren Nachweisen.

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entstehen. 18 Auch in bezug auf diese sozialpolitische Aufgabe wird also die Sozialversicherung letztlich lediglich als Instrwnent im Dienste eines Sicherungsziels genutzt, das nicht zu ihren genuinen Aufgaben zählt In steuerfinanzierten Grundsicherungssystemen tritt dieses Problem nicht auf, auch dann nicht, wenn die Leistungen über der Grenze der ohnehin aus öffentlichen Mitteln zu garantierenden Armutssicherung liegen. 19 Zu e) und f): Soweit Sozialversicherung lediglich als steuerfmanziertes Instrument zur Erfüllung von Aufgaben nicht sozialversicherungsrechtlicher Natur genutzt wird, ist der verfassungsrechtliche Eigentumsschutz der Anwartschaften (s.u. 11 2 b) problematisch, worauf jedoch hier nicht eingegangen werden kann. 3. Soziale Versorgung

Während der Begriff der Sozialversicherung verhältnismäßig klare Konturen aufweist, ist dies bei dem der sozialen Versorgung nicht der Fall. In den 50er und 60er Jahren hatte in Deutschland als Systemeinteilung des Sozialrechts zunächst die Trias Sozialversicherung, Sozialversorgung und soziale Fürsorge allgemeine Anerkennung gefunden. 20 Dabei erfüllte der Begriff der Sozialversorgung vor allem auch eine Art Auffangfunktion für diejenigen Leistungsbereiche, die nicht zu den Zweigen der Sozialversicherung einerseits und der Sozialhilfe andererseits gehören. 21 Als Anlässe für - aus Steuermitteln fmanzierte - i.d.R. von individueller Bedürftigkeit unabhängige Versorgungsleistungen wurden ein "vorausgegangenes Opfer" (insbesondere im Zusammenhang mit Kriegsereignissen) oder eine "sonstige Benachteiligung" genannt 22 Auf den speziellen Bereich der Beamtenversorgung kann in diesem Rahmen nicht näher eingegangen werden. 23

18 Während anfangs die Aufwendungen den Rentenversicherungsträgem durch den Bund erstattet wurden - Art. 2 § 66 Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz (ArVNG), Art. 2 § 67 Angestelltenrentenversicherung-Neuregelungsgesetz (AnVNG), Art. 2 § 40 Knappschaftsversicherung-Neuregelungsgesetz (KnVNG) -, ist seit Inkrafttreten des SGB VI lediglich eine Berücksichtigung bei der Bemessung des Bundesruschusses vorgesehen, § 287 Abs. 4 SGB VI. 19 Zur Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten in Staaten mit Grundsicherungssystemen vgl. näher Helmul Crewz, Die Auswirkungen VOll Zeiten der KindererziehlDlg auf die Alters- IDId Hinterbliebenensicherung in den Mitgliedstaaten der EG, Deutsche RentenversicherlD\g 1992, S. 611 (611 f., 617). 20 Vgl. etwa Georg Wallnagal, Lehrbuch des Sozialversicherungsrcchts, I. Bd., 1965, § 4 (S. 31 ff.); rur historischen Entwicklung der Binnensystematik des Sozialrechts vgl. Schmid (Fn. 1), S. 175 ff. 21 Kritisch rum VersorglDlgsbegriff Riifner (Fn.2), S. 17. Zu den Schwierigkeiten, neue Sozialleistungen in das "klassische" Sozialrechtssystem einruordnen, vgl. Gitter (Fn. 10), S. 5 f.

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Eine seit den 70er Jahren im Vordringen begriffene neue Systemeinteilung des deutschen Sozialrechts verzichtet dagegen auf den Begriff der Versorgung. Sie unterscheidet nunmehr zwischen Sozialversicherung, sozialer Entschädigung, sozialer Förderung und Sozialhilfe.24 Auch im folgenden werden diese Begriffe gebraucht, da sie gegenüber denjenigen der Versicherung, Versorgung, Fürsorge bzw. - in heutiger Terminologie - Sozialhilfe wesentliche Vorzüge aufweisen.25 Dennoch ist der Begriff der Versorgung 26 vor allem im Hinblick auf die Sozialrechtssysteme außerhalb Deutschlands unverzichtbar. Unter ihm sind Sicherungsformen zusammenzufassen, deren Techniken bzw. Instrumentarien sich in entscheidenden Punkten nicht nur von der Sozialversicherung und der Sozialhilfe, sondern auch von der sozialen Förderung (im Sinne des deutschen Sozialrechts) unterscheiden. Kennzeichnend sind vor allem drei Merkmale: Es geht um die Sicherung gegen allgemeine Lebensrisiken wie Krankheit und Alter. Die Leistungen werden unabhängig von individueller Bedürftigkeit gewährt. Und ihre Finanzierung erfolgt aus allgemeinen Steuermitteln. Meist handelt es sich um Teilsysteme, die jeweils alle Bürger des betreffenden Landes erfassen (man spricht dann häufig von einer sog. allgemeinen Staatsbürgerversorgung27). Es dürfte jedoch auch ausreichen, daß nur bestimmte Personengruppen einbezogen werden. Insofern handelt es sich z.B. bei den in Deutschland anzutreffenden Landesgesetzen, die für Blinde ein einkommensunabhängiges Blindengeld vorsehen,28 um solche, die versorgungs22 Walter Bogs, in: Walter Bogs u.a., Soziale Sichenmg in der Bundesrepublik Deutschland, Bericht der Sozialenquete-Kornmision, oJ. (1966), S. 61. 23 Vgl. zur Beamtenversorgung insb. Franz Ruland, Möglichkeiten und Grenzen einer Annäherung der Beamtenversorgung an die gesetzliche Rentenversicherung, Anlageband B zum Gutachten der Sachverständigenkornmission Alterssicherungssysteme, veröffentlicht durch die Bundesregierung und den Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, 1983, sowie etwa Ulrich Battis, Die Neuregelung der Beamtenversorgung, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 1990, S. 933 ff. 24 S. Hans F. Zacher, Einführung in das Sozialrecht der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl., 1985, S. 20 ff., sowie SchuJiII (Fn.2), Rdnr.36. Zur Einteilung des Sozialrechts vgl. weiter Franz Ruland, Sozialrecht, in: Ingo von MünchJEberhard Schmidt-Assmann (Hg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 9. Aufl., 1992, S. 618 ff., und Helmar Bley, Sozialrecht, 6. Aufl., 1988, S. 7 ff. lS Vgl. zu den Vorzügen der modemen Systemeinteilung Bertram SchuJinlRaimund Kegel, Systeme und Zahlen sozialer Sicherung, 1990, S. 14. 26 Zum Begriff der sozialen Versorgung grundlegend Walter Bogs, Gnmdfragen des Rechts der sozialen Sicherheit und seiner Reform, 1955, S. 19 ff. 'E1 S. Bernd Schulte, Die Folgen der EG-Integration für die wohlfahrts staatlichen Regimes, Zentralblatt für Sozialversichenmg, Sozialhilfe und Versorgung 1991, S. 548 (550). Bei den Alterssicherungssystemen wird der Begriff der "Volksrentensysteme" verwandt, vgI. Franz Ruland, Der Europäische Binnenmarlct und die sozialen Alterssicherungssysteme, Deutsche Rentenversichenmg 1989, S.605 (608), und Franz Ruland, Der Europäische Binnenmarlct und die sozialen Alterssicherungssysteme, Europarecht 1989, S. 303 (307 f.). 28 S. etwa das Gesetz über die Landesblindenhilfe des Landes Baden-Würnernberg vom 8.2.1972 (GBI. S. 56), zuletzt geändert durch das Änderungsgesetz vorn 1.4.1985 (GBI. S. 49).

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rechtlichen Charakter haben. Entsprechendes würde für ein sog. Leistungsgesetz für Pflegebedürftige gelten. Ein typisches, die vorgenannten Kriterien der sozialen Versorgung erfüllendes System des Gesundheitswesens ist das dänische, das in der heutigen Form 1973 geschaffen wurde. 29 Nach Abschaffung der früheren Krankenkassen wurde das Gesundheitswesen rein staatlich organisiert, wobei jedermann mit Wohnsitz in Dänemark Anspruch auf kostenfreie Gesundheitsversorgung hat Diese ist so umfassend, daß nur etwa 20 % der Dänen eine private Zusatzversicherung besitzen, die insbesondere Zusatzkosten in Privatkrankenhäusern und Kosten für Zahnersatz übernehmen. 30 Schon kurz nach dem 2. Weltkrieg wurde der Nationale Gesundheitsdienst in Großbritannien geschaffen, der ebenfalls einkommensunabhängig allen Einwohnern kostenlos medizinische Leistungen gewährt. Allerdings werden die Aufwendungen zu einem gewissen Teil (ca. 12 %) nicht aus Steuermitteln, sondern aus Beiträgen fmanziert. 31 Auch wird in den letzten Jahren vermehrt Kritik an der Qualität der englischen Gesundheitsversorgung geübt Die Alterssicherung in Dänemark weist ebenfalls typische Elemente der Versorgung auf, wobei hier die Anfänge bis in das letzte Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts zuriickreichen.32 Versorgungscharakter hat die allgemeine, ausschließlich aus Steuern finanzierte Voiksrente, während die obligatorische sog. Arbeitsmarkt-Zusatzrente für Arbeitnehmer versicherungsmäßig organisiert und beitragsfmanziert ist. Die Volksrente stellt eine Grundsicherung dar und beträgt gegenwärtig für einen Alleinstehenden nach 40 Wohnjahren ca. 1 000 DM monatlich, womit sie - wenn auch wohl nur geringfügig - bereits über der Armutsgrenze liegt. Zur versorgungsmäßigen Grund- und versicherungsmäßigen Zusatzrente des staatlichen Systems kommt eine große Zahl weiterer Zusatzsicherungen. 33 4. Soziale Entschädigung

Wie bereits erwähnt, wurde früher in Deutschland unter Versorgung in erster Linie die Kriegsopferversorgung verstanden. 34 Für diesen und weitere Bereiche 29 Vgl. zur sozialen Sicherung in Dänemarlt Aul W~b~r/Vollcer LeienbachlAfIM Dohl~, Soziale Sicherung in Europa - Die Solialversicherung in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft, hg. von der Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestalt\Dlg e. V. (GVG), 2. Aufl., 1991, S. 44 ff. 30 Marlcus Schneider. Die KrankenversicherWlg im europäischen Vergleich, Die Betriebskrankenkasse 1992. S. 326 (333). 3t Vgl. hierzu W~b~rILeie"bachlDohJ~ (Fn. 29), S. 81. 32 P~t~r A. Köhl~r, Alterssicherung in Dänemarlt - Volksrente - Zusatzrente - Betriebliche Altersversorgung, Die Angestelltenversicherung 1990, S. 359. 33 Vgl. Köhl~r (Fn. 32). S. 362f. 34 Siehe oben n 3.

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hat dann später jedoch das Sozialgesetzbuch (SGB) einen neuen Begriff eingeführt, nämlich den der sozialen Entschädigung, vgl. § 5 SGB 1. 35 Diese Regelung erfaßt alle Leistungen, die Personen gewährt werden, welche einen Gesundheitsschaden erlitten haben, "für dessen Folgen die staatliche Gemeinschaft in Abgeltung eines besonderen Opfers oder aus anderen Gründen nach versorgungsrechtlichen Grundsätzen einsteht". Hierher zählen insbesondere die Kriegs- und Soldatenopferentschädigung,36 die Entschädigung bei öffentlich empfohlenen, aber mit Komplikationen verlaufenen Impfungen 37 sowie die von Kriminalopfern. 38 Da es sich in den genannten Fällen gerade nicht um Realisierungen von allgemeinen Lebensrisiken handelt, ist es gerechtfertigt, diesen Bereich systematisch von der sozialen Versorgung zu trennen. Wenn sich auch der Begriff der sozialen Entschädigung noch keineswegs vollständig durchgesetzt hat, so steht dies doch in Deutschland allein schon im Hinblick auf die Regelung des § 5 SGB I zu erwarten. Auch in anderen westeuropäischen Ländern finden sich Entschädigungsregelungen für Kriegs- und Militäropfer,39 wobei sie jedoch rechtsdogmatisch vielfach nicht zum Sozialrecht gerechnet werden. 4O Im übrigen ist darauf hinzuweisen, daß auch das deutsche Sozialrecht von einem geschlossenen, systematisch durchgeformten System der sozialen Entschädigung noch weit entfernt ist

Die soziale Entschädigung umfaßt vor allem medizinische Leistungen (§§ 10, 11 BVG), Leistungen zur beruflichen (§ 26 BVG) und sozialen Rehabilitation (§ 35 BVG) sowie Einkommensersatzleistungen in Form von Renten (§§ 30, 31, 38 ff. BVG). Der entscheidende Unterschied zur Sozialversicherung und zur sozialen Versorgung - und übrigens auch zur sozialen Hilfe - ist, daß sich der Leistungsumfang unmittelbar nicht am Maßstab einer auf den einzel35 Zur Interpretation des § 5 SGB I s. B~rtrQl1l Scludi,.. Soziale Entschädigung als Tei1system kollektiven Schadensausgleichs. 1981, S. 118 ff. 36 S. Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges (Bundesversorgungsgesetz - BVG) vom 20.12.1950 (BGBl. I, S. 791) in der Fassung der Bekanntmachung vom 22.1.1982 (BGBl. I, S. 21), zuletzt geändert durch Gesetz vom 21.12.1992 (BGBl. I, S. 2094), und Gesetz über die Versorgung für die ehemaligen Soldaten der Bundeswehr und ihn: Hinterbliebenen (Soldatenversorgungsgesetz - SVG) vom 26.7.1957 (BGBl. I, S. 785) in der Fassung der Bekanntmachung vom 5.3.1987 (BGBl. I, S. 842), zuletzt geändert durch das Gesetz zur Änderung des Beamtenversorgungsgesetzes vom 21.12.1992 (BGBl. I, S. 2088). 37 S. §§ 51 ff. des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten beim Menschen (Bundes-Seuchengesetz - BSeuchG) vom 18.7.1961 OJGBl. I, S.1012, berichtigt S. 1300) in der Fassung der Bekanntmachung vom 18.121979 (BGBl. I, S. 2262, berichtigt 1980 BGBl. I, S. 151), zuletzt geändert durch Gesetz vom 21.12.1992 (BGBl. I, S. 2094). 38 S. Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz OEG) vom 11.5.1976 (BGBl. I, S. 1181) in der Fassung der Bekanntmachung vom 7.1.1985 (BGBl. I, S. 1), zuletzt geändert durch Gesetz vom 21.6.1991 (BGBl. I, S. 1310). 39 Etwa in Frankreich, vgl. G~rhard Igl, Pflegebedürftigkeit und Behinderung im Recht der sozialen Sicherheit, 1987, S. 208 ff. 40 Z.B. in Belgien, s. Da,.,.y P~ters, in: Hans F. Zacher (Hg.), Alterssicherung im Rechtsvergleich, 1991, S. 124.

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nen bezogenen Lebensstandardsicherung orientiert, sondern am durch das von der Allgemeinheit zu verantwortenden Schadensereignis. Es sollen nur die Nachteile ausgeglichen werden, die durch das Schadensereignis (den Krieg, den militärischen Friedensdienst, die Impfung, das Verbrechen) verursacht worden sind. Im Gegensatz zu den zivilrechtlichen und sonstigen öffentlichrechtlichen Schadensausgleichssystemen wird die Schadens- und damit auch die Leistungsbemessung beim Einkommensausfall in wesentlicher Hinsicht nicht konkret-individuell vorgenommen, sondern nach abstrakt-typisierenden Grundsätzen. In bezug auf die Finanzierung folgt aus der Verantwortlichkeit der Allgemeinheit für die auszugleichenden Schäden, daß sie aus allgemeinen Steuermitteln erfolgt 41 Ähnliches wie im schon erwähnten Fall der Nutzbarmachung von Sozialversicherung im Dienste der sozialen Rehabilitation42 ist auch im Hinblick auf die soziale Entschädigung zu beobachten. Und zwar hat der deutsche Gesetzgeber im Laufe einer langen Zeit den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung auch auf Unfälle von Personen erstreckt, die nicht im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses, sondern im Interesse des Gemeinwohls, etwa bei Rettungsrnaßnahmen (§ 539 Abs. 1 Nr. 9 a RVO), tätig werden. In derselben Weise sind weiter Blut- und Organspender "versichert", wenn sie im Zusammenhang mit diesen Vorgängen einen Gesundheitsschaden erleiden, § 539 Abs.l Nr.l0 RVO. Man spricht hier von der sog. unechten Unfallversicherung. 43 In der Sache handelt es sich um soziale Entschädigung im Gewande der gesetzlichen Unfallversicherung. 44 Konsequenterweise werden die Aufwendungen für diesen Bereich unmittelbar aus Steuermitteln finanziert. Das Leistungsinstrumentarium deckt sich weitgehend mit dem der "echten" sozialen Entschädigung. Noch auf einen weiteren Umstand ist hinzuweisen. Im Recht der Kriegsopferfürsorge (§§ 25 ff. BVG) - die entgegen der Bezeichnung nicht etwa nur Ansprüche für Kriegsopfer vorsieht, sondern auch für alle anderen Personen, denen dem Grunde nach Leistungen der sozialen Entschädigung zustehen - findet sich als Teil des sozialen Entschädigungsrechts ein Bereich, der in der Sache Sozialhilfe darstellt. Dies betrifft zum einen die Subsidiarität der Ansprüche gegenüber anderweitigen, nicht sozialrechtlichen Ansprüchen (§§ 25a Abs. 1,25 d BVG), zum anderen aber auch in großem Umfang die Leistungen (§§ 25 b, 26 ff. BVG). Soweit jedoch auch bei ihnen der Hilfebedarf auf einer entschädigungsrechtlich relevanten Ursache beruht, haben sie in der Tat ent41 Vgl. Bertram SchulÜl, Soliales Entschädigungsrecht, in: Norbert AchterberglGiinter Püttner (Hg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Bd. II, 1992, 8n. Rdnr. 182, sowie Ble] (Fn. 24), S. 326. 42 Siehe oben II 2. 43 S. SchulÜl (Fn. 2), Rdnr. 'rT9. 44 Vgl. SchulÜl (Fn. 35), S. P;] ff., sowie Bley (Fn. 24), S. 143.

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schädigungs- und nicht sozialhilferechtlichen Charakter. Daher ist es kaum systemkonfonn, wenn sich das soziale Entschädigungsrecht insoweit des sozialhilferechtlichen Leistungsinstrumentariums bedienL 5. Soziale Förderung

Dieser Begriff ist von allen hier zu behandelnden der am wenigsten klar ausgeprägte. Gemeint sind Leistungen in Fonn von Entfaltungshilfen, die gewährt werden, um die soziale Chancengleichheit der Leistungsberechtigten zu verbessern, ohne daß entsprechende Vorsorge - insbesondere durch Sozialversicherung - möglich oder zumutbar isL 45 Hierher zählen vor allem die Ausbildungs46 - und Berufsförderung,47 zum Teil - soweit nicht von der Sozialversicherung erfaßt - die Behindertenhilfe und in gewissem Sinn auch das Wohngeld,48 das freilich andererseits eine große Nähe zur Sozialhilfe aufweist. Aus dem Ziel der Gewährleistung von Chancengleichheit - besonders, aber keineswegs nur von jüngeren Menschen - folgt zugleich die Begrenzung der Leistungen. Soweit die erforderlichen wirtschaftlichen Mittel (z.B. für eine Hochschulausbildung) tatsächlich verfügbar sind, ist die Chancengleichheit nicht oder nur entsprechend wenig beeinträchtigt, so daß dementsprechend auch keine Leistungen gewährt werden müssen. Dies erklärt, warum Anspruche auf Leistungen der sozialen Förderung von der Einkommenssituation der Leistungsberechtigten abhängen (vgl. etwa § 11 Abs. 2 BAföG), sie also bedürftigkeitsabhängig sind, wenn auch nicht in gleicher Weise wie Sozialhilfeanspruche. Und wegen der gesamtgesellschaftlichen, aus dem Sozialstaatsgedanken begründeten Verantwortung für die Gewährleistung von Chancengleichheit folgt für die Finanzierung der Leistungen, daß diese aus Steuennitteln vorzunehmen iSL 49 Wie schon für die Sozialversicherung und die soziale Entschädigung festgestellt,50 kann es auch im Bereich der sozialen Förderung zu Systemvennischungen kommen. Das gilt insbesondere für die berufliche Ausbildungsförderung nach dem AFG. Denn soweit hier z.B. Leistungen zur Förderung der beVgl. SchuJin (Fn. 2), Rdnr. 51. S. Gesetz über die individuelle Förderung der Ausbildung (Bundesausbildungsförderungsgesetz - BAföG) vom 26.8.1971 (BGBl. I, S.1409) in der Fassung der Bekanntmachung vom 6.6.1983 (BGBl. I, S.645, berichtigt S. 1680), zuletzt geändert durch Gesetz vom 21.12.1992 (BGBl.I, S. 1062). 47 S. §§ 33 ff. Arbeitsförderungsgesetz (AFG) vom 25.6.1969 (BGBL. I, S. 582), zuletzt geändert durch Gesetz vom 21.12.1992 (BGBl. I, S. 2266). 4& S. Wohngeldgesetz (WoGG) vom 14.12.1970 (BGBI. I, S. 1637) in der Fassung der Bekanntmachung vom 4.7.1991 (BGBl. I, S. 1433), zuletzt geändert durch Gesetz vom 21.12.1992 (BGBL I, S. 2094). 49 Schuli" (Fn. 2), Rdnr. 52. 50 Siehe oben 11 2 und 11 4. 45

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ruflichen Fortbildung oder Umschulung von arbeitslosen Personen in Anspruch genommen werden, die zuvor Beiträge an die Bundesanstalt für Arbeit geleistet haben, lassen sich die ausbildungsfördernden Leistungen durchaus als solche versicherungsrechtlicher Natur verstehen, so daß sie unabhängig von individueller Bedürftigkeit zu gewähren sind, vgl. § 40 a Abs.l S. 1 AFG. Die entsprechend unterschiedliche Ausgestaltung des Sicherungsinstrumentariums ist daher in diesem Fall durchaus systemgerechl 6. Famllienlastenausglekh

Die systemgerechte Zuordnung von Leistungen des Familienlastenausgleichs, also des Ausgleichs kindbedingter Lasten, bereitet große Schwierigkeiten.51 Bisher wurden bzw. werden sie in Deutschland üblicherweise der sozialen Versorgung52 (im Sinne der erwähnten Trias Sozialversicherung, Sozialversorgung und Sozialhilfe) oder der sozialen Förderung S3 zugeordnet. Versteht man soziale Versorgung, wie hier, als steuerfinanzierte Leistungen bei Realisierung allgemeiner Lebensrisiken, so schließt dies eine Zuordnung z.B. des Kindergeldes zu dieser Kategorie zwar nicht grundsätzlich aus. Sehr überzeugend wäre sie jedoch nicht Der Begriff des Risikos (worunter man die Möglichkeit versteht, "daß ein unerwünschtes Ereignis eintritt"54), paßt hier denkbar schlecht Demgegenüber ist das Begriffselement der "Last" (nämlich der Unterhalts- und sonstigen wirtschaftlichen Lasten, die mit dem Aufziehen von Kindern verbunden sind), wie er im Begriff des Familienlastenausgleichs enthalten ist, durchaus treffend. 55 Kein anderer Bereich der sozialen Sicherung weist eine so heterogene Menge von Instrumentarien auf, wie der hier in Rede stehende, bei dem es um den Ausgleich zwischen Personen geht, die Kinder aufziehen, und solchen, die dies nicht tun. Dies gilt nicht nur für das deutsche Recht, sondern auch für die Rechtssysteme der anderen westeuropäischen Länder. Abgesehen davon, daß der Familienlastenausgleich in nicht unerheblichem Umfang auch über steuerrechtliche Regelungen realisiert wird ,56 kennen sämtliche sozialrechtlichen Teilsysteme familienbezogene Leistungen bzw. Leistungselemente, wenn auch in sehr unterschiedlicher Ausprägung. Eine große Rolle spielen sie 51 Näher zum Familienlastenausgleich SchlllÜl (Fn.5), S. E 117 ff., sowie Maz WÜlgell, Verteilungspolitische Aspekte eines wirklichen Familienlasleßausgleichs, in: Albert VOll Mutius (Hg.), Ausbildungsfördenmg und Familienlasleßausgleich, 1989, S. 47 ff. 52 Zu den Schwierigkeiten der Einordnung des Kindergeldrechis in das "klassische" Sozialrechissystem s. Gitter (Fn. 10), S. 5 f. 53 Vgl. etwa Schlllill (Fn. 2), Rdnr. 51. 54 HallS-uo We)'ers, Versicherungsvertragsrecht, 1986, S. 23 (Rdnr. 21). 55 Vgl. zum Begriff der "Last" näher SchlllÜl (Fn. 5), S. E 26. 56 Etwa über Kinderfreibeträge nach § 32 Einkonunenssteuergesetz (EStG).

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nach wie vor in der Sozialversicherung, wo sie lange Zeit geradezu als ein Kern der sozialen Ausgleichsfunktion dieses Sicherungstypus angesehen wurdenS7 und zum Teil nach wie vor angesehen werden, etwa in Form beitragsfreier Leistungen für Familienmitglieder in der gesetzlichen Krankenversicherung (§ 10 SGB V) oder familienbezogener Zuschläge zu Renten. Aber auch in den Sicherungssystemen der sozialen Vorsorge, der sozialen Entschädigung sowie der sozialen Förderung finden bei der Bemessung von vielen Leistungen Unterhaltspflichten gegenüber Kindern und kindererziehenden Ehegatten Berücksichtigung. Schließlich werden in Gestalt insbesondere des Kindergeldes - aber auch etwa des Erziehungsgeldes - Leistungen gewährt, die unmittelbar und ausschließlich die Funktion des Familienlastenausgleichs verfolgen. Zu den Techniken und Instrumenten ist zu sagen, daß sie im Bereich der Sozialversicherung in leistungsmäßiger Hinsicht teils den jeweiligen Formen der einzelnen Versicherungszweige entsprechen, teils aber auch nicht So werden etwa bei Geldleistungen entsprechende Zuschläge bzw. Zulagen gewährt, Z.B. zur unfallversicherungsrechtlichen Verletztenrente (§ 583 Reichsversicherungsordnung - RVO), zum Arbeitslosengeld oder - vor allem in Rechtssystemen außerhalb Deutschlandss8 - zu Altersrenten. Auf Leistungen der Krankenbehandlung gewährt das deutsche Krankenversicherungsrecht seit wenigen Jahren den mitversicherten Familienangehörigen eigene Leistungsansprüche, wie sie früher in der Person des Stammversicherten entstanden (vgl. dazu auch unten).S9 Neue Wege ist das deutsche Rentenversicherungsrecht bei der Anrechnung von Kindererziehungszeiten gegangen. Danach ist eine Person, die Kinder erzieht, derzeit für 3 Jahre je Kind in der gesetzlichen Rentenversicherung beitragsfrei pflichtversichert. Dabei wird für die Bemessungsgrundlage von 3/4 des Durchschnittsentgelts aller Versicherten ausgegangen, wenn nicht der oder die Erziehende wegen Erwerbstätigkeit - neben der Kindererziehung - mit dem Erwerbseinkommen ohnehin schon über diesem Wert liegt Die Versicherungspflicht wird auch für den Fall konsequent durchgeführt, daß in der Zeit vor der Kindererziehung noch kein Versicherungsverhältnis bestand. Dann wird aufgrund der Erziehungstätigkeit ein solches neu begründet. 60

S7 Vgl. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 17, S. 1 (9).

S8 SO wird in Frankreich bei mehr als drei minderjährigen Kindern ein 10%iger Rentenzuschlag gewährt, vgl. Weberlu~nbachlDohJt (Fn. 29), S. 67. S9 S. V3. 60 Hierzu näher Wolfgang Schmidt, in: Franz Ruland (Hg.), Handbuch der gesetzlichen Rentenversicherung (HDR), 1990,30 (S. 907 ff.).

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Von entscheidender Bedeutung für den Familienlastenausgleich sind die Finanzierungsfonn und in diesem Zusammenhang die Frage nach der Finanzierungsverantwortung. Hier vollzieht sich seit Jahrzehnten, wie schon erwähnt, in Deutschland und in anderen Ländern Europas der Prozeß eines tiefgreifenden Wandels,61 der von einer ursprünglich als ganz selbstverständlich angenommenen, zumindest überwiegenden Allgemeinverantwortlichkeit der Familie für die mit dem Aufziehen von Kindern verbundenen wirtschaftlichen Lasten ausging und bis heute zu einer bereits sehr stark ausgeprägten Verantwortung der Gesamtgesellschaft geführt hat. Infolgedessen wird die Finanzierung von Leistungen des Familienlastenausgleichs zunehmend auf den Steuerzahler verlagert.62 Keine Schwierigkeiten bereiten insofern die Sicherungssysteme der sozialen Versorgung, der sozialen Entschädigung, der sozialen Förderung und der Sozialhilfe. Deren Leistungen werden sämtlich und ausschließlich aus Steuennitteln fmanziert Probleme treten dagegen bei den Sozialversicherungszweigen auf, deren Leistungen zum Teil ausschließlich - wie z.B. diejenigen der deutschen Krankenversicherung -, zum Teil jedenfalls überwiegend aus Beiträgen der Versicherten fmanziert werden. Soweit familienbezogene Leistungen jedoch von der Verantwortung der Allgemeinheit erfaßt werden, handelt es sich bei ihnen um Fremdlasten der Sozialversicherung, deren Finanzierung aus Steuennitteln zu erfolgen hat. 63 Insoweit wird auch hier wieder die Sozialversicherung vom Gesetzgeber lediglich als Instrument im Dienste des Familienlastenausgleichs in Anspruch genommen. 7. Sozialhilfe

Verhältnismäßig klare Merkmale weist der deutsche Begriff der Sozialhilfe auf. Es handelt sich um ein steuerfinanziertes System der sozialen Mindestsicherung, das Leistungen einerseits unabhängig von der Ursache der individuellen Bedürftigkeit, andererseits subsidiär gegenüber sonstigen Hilfen gewährt. Im wesentlichen sind unmittelbare Geld- (§ 22 Bundessozialhilfegesetz = BSHG), in Grenzen auch Naturalleistungen vorgesehen (z.B. §§ 36 f. BSHG). Im Hinblick auf krankheitsbedingten Hilfebedarf ist - als mittelbare Hilfe - aber auch die Übernahme von Krankenversicherungsbeiträgen möglich, § 13 BSHG). Auf die meisten Leistungen der Sozialhilfe besteht ein gerichtlich durchsetzbarer Anspruch. Soweit ein Hilfebedarf ausschließlich auf übennäßi61 Dazu Helmlll Kaupper, Familienleistungen, in: Bemd SchultetHans F. Zacher (Hg.), WechselwirlcWlgen zwischen dem Europäischen Sozialrecht und dem Sozialrecht der Bundesrepublik DeulSchland, 1991, S. 135 ff. 62 Vgl. das Urteil des BWldesverfassWlgsgerichtes vom 7. Juli 1992, Neue Zeitschrift für Sozialrecht (NZS) 1992, S. 25 ff; dazu Franz RuJand, Das BWldesverfassWlgsgericht und der Kinderlastenausgleich - Zur EntscheidWlg des Ersten Senats vom 7. Juli 1992 -, NZS 1993, S. 1 ff. 63 SchuJin (Fn. 5), S. E 83, E 117 ff.

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ger Belastung für die Beschaffung angemessenen Wohnraums beruht, wird in Deutschland Hilfe nach einem Spezialgesetz - dem Wohngeldgesetz (WoGG)gewährt. In der Sache ist es eine Art besonderer Sozialhilfe. In den übrigen westeuropäischen Ländern finden sich sehr unterschiedliche Regelungssysteme zur Mindestsicherung. In einigen Ländern wird sie partiell bereits durch Formen der sozialen Versorgung (oben 11 3) gewährleistet, ergänzt durch zum Teil sehr differenzierte weitere Sondersysteme (wie z.B. in Frankreich64). Ein dem deutschen Recht vergleichbares System besteht in den Niederlanden.65 Schließlich gibt es Länder, in denen die Mindestsicherung immer noch sehr lückenhaft ausgestaltet ist, wie etwa in Portugal. 66 8. InstltutioneUe Förderung

Soziale Sicherung geschieht zwar - vor allem auch in Deutschland - vorrangig, aber keineswegs ausschließlich durch Gewährung von individuellen Leistungen und Hilfen (nach deutscher Terminologie: dweh Sozialleistungen 6'1). Hinzu kommen öffentliche Förderungsleistungen für Träger von Einrichtungen sozialer Dienste aller Art (Krankenhäuser, Sozialstationen, Pflegeheime usw.). Man kann hier von institutioneller Förderung (i.w.S.) sprechen. 68 Und soweit sie Einrichtungen gewährt wird, können diese entsprechend günstigere "Preise", insbesondere in Form von Pflegesätzen, für ihre sozialen Dienstleistungen kalkulieren, was vor allem auch Sozialleistungsträgern zugute kommt, sofern diese nicht selbst die Förderung gewähren. Im übrigen kann auf den Bereich der institutionellen Förderung hier nur hingewiesen werden. Rechtsdogmatisch ist er bisher noch in keiner Weise hinreichend aufgearbeitet Ihm kommt jedoch im Gesamtkonzept der Techniken und Instrumente sozialer Sicherung eine große Bedeutung zu, jedenfalls in Deutschland.(f)

64 Näher hierzu Bemd ScluJre, Das Recht auf Mindesteinkommen in der Europäischen Gemeinschaft - Nationaler Status Quo IDld supranationale Initiativen, Sozialer Fortschritt 1991, S. 7 (15 f.), Bernd Schulte (Fn. 27), S. 555 ff., sowie WeberluienbachlDohle (Fn. 29), S. 69 f. 65 Vgl. zur Rechtslage in den Niederlanden ScluJte (Fn.64), S. 16 f., sowie We~rluiellbachlDohle (Fn. 29), S. 136. 66 Zur portugiesischen sozialen Mindestsicherung vgl. Schulte (Fn.64), S. 19, sowie We~rluiellbachlDohle (Fn. 29), S. 145. (i1

68

S. § 11 SGB I. ScluJill (Fn. 5), S. E 136. Die Terminologie ist sehr unklar. Vgl. dazu Volur NeWI'/IJ1I1I,

Freiheitsgefährdungen im kooperativen Sozialstaat - Rechtsgrundlagen und Rechtsformen der FinanzierlDlg der freien Wohlfahrtspflege, 1992, S. 350 ff. 69 Näher zur institutionellen Förderung Schulin (Fn. 5), S. E 136 ff.

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9. Außersozialrecbtlicbe Systeme des Prlvatrecbts

Soziale Sicherung ist keineswegs nur eine Aufgabe des Sozialrechts i.S. des Sozialleistungsrechts, also des Rechts der öffentlichrechtlichen Sozialleistungsträger. Vielmehr wird in erheblichem Umfang soziale Sicherung auch und gerade außerhalb des Sozialrechts realisiert Mit Recht hat man darauf hingewiesen, daß Sozialrechtsvergleichung ohne Einbeziehung dieser außersozialrechtlichen Bereiche unvollständig wäre. 70 Das gilt auch und gerade in bezug auf die Techniken und Instrumente sozialer Sicherheit Von Bedeutung sind sowohl öffentlich- als auch privatrechtliehe Bereiche. So gibt es z.B. zahlreiche Regelungen, die soziale Vergünstigungen etwa für kinderreiche Familien sowie für behinderte Menschen bei der Inanspruchnahme von öffentlichen Einrichtungen (Schwimmbäder, Theater etc.) vorsehen. Andere Bestimmungen schreiben behindertengerechte Wege in öffentlichen Gebäuden vor. Groß ist weiter das Angebot von Beratungseinrichtungen für die unterschiedlichsten Lebensbereiche und Personengruppen. 71 Auf alle diese Hilfen im öffentlichen Bereich soll im folgenden nicht weiter eingegangen werden, weil sich hier kaum spezifIsche Regelungsfragen in bezug auf das Verhältnis zum Sozialleistungsrecht ergeben. Um so mehr ist dies in bezug auf die privatrechtlichen Teilsysteme der Fall, wobei allerdings auch insoweit hier nur wenige Hinweise möglich sind. Einen ersten großen Regelungskomplex stellt das zivilrechtliche Unterhaltsrecht dar. Soweit Personen zivilrechtliche Unterhaltsansprüche zustehen (und diese auch erfüllt werden), bedürfen sie keiner Sozialleistungen. Und in großem Umfang sind es nach wie vor derartige Unterhaltsansprüche und -leistungen, die den Bedarf der Unterhaltsberechtigten - insbesondere der Kinder oder nichterwerbstätigen Ehegatten -, zumindest zum Teil, abdecken. Insoweit haben sie auch rechtlich Vorrang vor Sozialleistungen, vor allem vor Sozialhilfeleistungen, § 2 BSHG. Mit fortschreitendem Ausbau des Familienlastenausgleichs wird dieses Verhältnis jedoch entsprechend zurückgedrängt Und in besonderen Fällen, wenn nämlich der Unterhaltsbedarf aufgrund außergewöhnlicher Umstände besonders groß ist, kennt das deutsche Recht Fälle, in denen sogar sozialhilferechtliche Leistungen Vorrang vor zivilrechtlichen Unterhaltsansprüchen haben. Dies trifft auf Sozialhilfeleistungen für schwer- und schwerstbehinderte Menschen zu, bei denen auf einen Regreß gegenüber Unterhaltsverpflichteten zum großen Teil verzichtet wird, vgl. § 91 Abs. 3 BSHG.72 70 Bernd von Maydl!ll, Die internationale Dimension des Sozialrechts, Zeitschrift für ausländisches und internationales Arbeits- und Sozialrecht 1987, S. 6 (17). 71 Näher zum Beratungswesen Bertram SchuJinlO/af Gebier, Rechtliche Grundlagen und Probleme des Beratungswesens, Vierteljahresschrift für Sozialrecht 1992, S. 33 ff. n Näher zur Härtefallregelung des § 91 Abs.3 BSHG Manfred Wienand, in: Anton KnopplOtto Fichtner (Hg.), Bundessozialhilfegesetz, Kommentar, 7. Aufl, 1992, § 91 Rdnr. 21 ff. 13 von Maydell/Hohnerlein

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Bertram SchuIin

Ein gewichtiges zivilrechtliches Instrument, das in besonderer Weise (auch) mit dem Sozialrecht verknüpft ist, stellt der Versorgungsausgleich (§§ 1587 ff. BGB) dar, der Ehegatten - insbesondere Ehefrauen - nach Auflösung der Ehe zur Begründung oder zumindest zur Aufstockung von Anwartschaftsrechten im Rahmen einer eigenständigen Altersversorgung verhilft In erheblichem Umfang tragen zur sozialen Sicherung privatrechtliche Hafbmgs- und insbesondere sie ergänzende Pflichtversicherungsregelungen bei. Das wichtigste Beispiel ist die zivilrechtliche Gefährdungshaftung für Kraftfahrzeuge und die obligatorische Haftpflichtversicherung.13 Im Verhältnis zu diesen Instituten sind die sozialrechtlichen Systeme nachrangig mit der Folge, daß Sozialleistungsträger, die Leistungen gewährt haben, bei den zivilrechtlich Haftpflichtigen Regreß nehmen können, § 116 SGB X. Aber auch der entgegengesetzte Weg ist anzutreffen: eine Ablösung der an sich gegebenen zivilrechtlichen Haftpflicht durch ein Sozialleistungssystem. Dies ist im Bereich der Arbeitsunfälle vorgesehen (§§ 636 f. RVO). Die meisten Risiken (mit Ausnahme der Arbeitslosigkeit), die von der Sozialversicherung erfaßt werden, können auch Gegenstand von Privatversicherungsschutz sein. Deshalb sieht das Sozialversicherungsrecht für bestimmte Personengruppen teils von vornherein Versicherungsfreiheit, teils die Möglichkeit der Befreiung von der Versicherungspflicht vor. 74 Einen der wichtigsten privatrechtlichen Bereiche, der zur sozialen Sicherung beiträgt, stellt bekanntlich das Arbeitsrecht dar, das deshalb gelegentlich - etwa in Frankreich - zusammen mit dem Recht der sozialen Sicherheit i.e.S. unter dem Begriff des Sozialrechts (droit social) zusammengefaßt wird. 75 Entsprechend der typischen Regelungssituation im Arbeitsrecht sind viele einschlägige Bestimmungen zwingender Natur, also vertraglich nicht abdingbar. Das trifft z.B. auf die Pflicht zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall zu (§ 9 Lohnfortzahlungsgesetz). Auch hier sorgen entsprechende Regelungen dafür, daß, sofern wegen Säumnis des Arbeitgebers ein Sozialleistungsträger vorgeleistet hat, dieser bei jenem Regreß nehmen kann (§ 115 SGB X). In großem Umfang werden im Rahmen von Arbeitsverhältnissen der sozialen Sicherheit dienende Leistungen aber auch auf freiwilliger Basis und ohne gesetzlichen Zwang gewährt. Dies trifft in Deutschland etwa auf einen so wichtigen Bereich wie den der betrieblichen Altersversorgung zu, während z.B. in der Schweiz die Unternehmen zur Gewährung von Betriebsrenten verpflichtet sind. 76 Es versteht

73 Hierzu näher Schulin (Fn. 35), S. 17 ff., Schulin (Fn. 5), S. E 21 f., sowie Ma.x;imi1ian Fuchs, Zivilrecht und Sozialrecht, Recht und Dogmatik materieller Existenzsicherung in der modemen Gesellschaft, 1992, S. 106 ff. 74 S. etwa für die geset7liche Krankenversicherung die §§ 6, 8 SGß V. 75 Schmid (Fn. 1), S. 57.

Techniken und Instrumente

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sich, daß beide Regelungsalternativen wesentlichen Einfluß auf die Ausgestaltung der öffentlichen Alterssicherungssysteme haben, dies jedoch in ganz unterschiedlicher Weise.

Irr. Folgeprobleme der Gliederung sozialer Sicherheit 1. Sozialversicherung

Die Gliederung der sozialen Sicherung in verschiedene Zweige, die ihrerseits unterschiedliche Risiken abdecken, muß notwendigerweise zu einer Reihe von Problemen führen, weil die Lebenssachverhalte häufig durch ein Zusammentreffen und Ineinandergreifen von mehreren, aber unterschiedlichen Sicherungszweigen zugeordneten Risiken gekennzeichnet sind. Hier hat das Sozialversicherungsrecht eine Reihe von Techniken und Instrumenten entwickelt, die im folgenden zu skizzieren sind. a) Rangverhältnis (1) Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung sichern gegen allgemeine Lebensrisiken, ohne daß es im Regelfall auf deren Ursache ankommt. Eine Ausnahme stellt jedoch die gesetzliche Unfallversicherung dar, welche speziell für die Bereiche der Arbeitsunfalle und der Berufskrankheiten zuständig ist, §§ 548, 551 RVO. Freilich gibt es insoweit noch eine Ausnahme von der Ausnahme: Denn seit langem sind die Unfallversicherungsträger auch für die sog. Wegeunfälle zuständig, also für Unfälle auf dem Weg zu oder von der Arbeitsstätte, § 550 RVO. Bei diesen aber handelt es sich in der Sache letztlich um Realisierungen eines allgemeinen Lebensrisikos, da die Unfallursachen in aller Regel keinen Bezug zur Arbeitstätigkeit als solcher haben. Weiter wurde bereits darauf hingewiesen, daß die Unfallversicherung zu einem nicht unbeträchtlichen Teil auch als Instrument zur Gewährleistung von sozialer Entschädigung genutzt wird. 77 Aus dem Umstand, daß die Unfallversicherung nachteilige Folgen ganz bestimmter Risiken ausgleichen soll, folgt zwangsläufig, daß sie gegenüber den übrigen Sozialversicherungszweigen vorrangig zuständig ist. Wird ein Arbeitnehmer - der, wie meist, sowohl in der Unfall- als auch in der Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung versichert ist - bei einem Arbeitsunfall verletzt, ist er zugleich krank im Sinne der Krankenversicherung, ferner kann eine Erwerbsminderung i.S. der Rentenversicherung sowie eine berufliche Rehabilitationsbedürftigkeit i.S. des Arbeitsförderungsrechts gegeben sein. 76 Bertram Schulill, Betriebliche Altersversorgung· Funktionen und Regelungsprobleme, Zeitschrift für internationales und ausländisches Arbeits- und Sozia1recht 1988, S. 10 (12). 77 S. oben n 4.

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Bertram SchuIin

Durch entsprechende Bestimmungen ist gewährleistet, daß in einem solchen Fall die Leistungen der Unfallversicherung denjenigen der übrigen Sozialversicherungsträger vorgehen, §§ 11 Abs.4 SGB V, 12 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI, 57 AFG.

Zwingend ist eine solche Regelung nicht In Deutschland (genauer: in der früheren alten Bundesrepublik) erfüllten die Krankenkassen vor allem aus verwaltungsökonomischen Gründen lange Zeit wesentliche Aufgaben für die Unfallversicherungsträger , wobei die Aufwendungen in gewissem - keineswegs in vollem - Umfang erstattet wurden.18 Vor allem waren die Krankenkassen für die gesamte ambulante und stationäre Heilbehandlung zuständig, soweit diese nicht von einem Unfallversicherungsträger übernommen wurde. Dies ersparte den Unfallversicherungsträgern in großem Umfang die vertragliche Organisation der entsprechenden medizinischen Leistungen. Um die Kosten in der Krankenversicherung zu senken, hat dann das SGB V - nach einer gewissen Übergangszeit79 - für Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten eine ausschließliche Zuständigkeit der Unfallversicherung vorgesehen. Daß dies insgesamt zu höheren Verwaltungskosten führen mußte, war vorauszusehen, wurde jedoch im Interesse der Krankenversicherung in Kauf genommen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Kosten der Unfallversicherung ausschließlich von den Unternehmern (Arbeitgebern) getragen werden, § 723 Abs. 1 RVO. (2) Probleme des Rangverhältnisses können sich aber auch im Zusammenhang mit der Realisierung von allgemeinen Lebensrisiken, also im Verhältnis zwischen Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung einschließlich der Arbeitsförderung, ergeben. Dies betrifft etwa Fälle der Rehabilitationsbedürftigkeit Hier kommt es zu Problemen der Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Kranken- und Rentenversicherung (soweit es um medizinische Rehabilitation geht) sowie zwischen Renten- und Arbeitslosenversicherung (soweit es um berufliche Rehabilitation geht). In bezug auf die medizinische Rehabilitation hat sich eine gewisse Arbeitsteilung zwischen der Kranken- und Rentenversicherung insofern herausgebildet, als jene vorrangig für die Behandlung von Akutkrankheiten, diese demgegenüber verstärkt für mittel- und langfristige, insbesondere chronische Erkrankungen zuständig ist, § 13 Abs.2 Nr. 1 SGB VI. Diese Aufgabenteilung wird jedoch von einem weiteren Grundsatz überlagert, der problematische Folgewirkungen hat. Die Rentenversicherung ist nämlich nach geltendem Recht in Deutschland für medizinische Rehabilitationsleistungen nur so lange zuständig, wie die Erwerbsfähigkeit erhalten oder wiederhergestellt (und damit die Zahlung von Renten vermieden) 78 Vgl. zur früheren Rechtslage Joc~n PlagemaMlHermann Plagemann, Gesetzliche Unfallversicherung, 1981, Rdnr. 185 ff. 79 S. zum Übergangsrecht Friedrich Watermann, in: Herbert Lawerbach, Unfallversicherung, 3. Aufl., Loseblattwerlc, Bd. 2, Vorbem. § 565 RVO.

Techniken und Instrumente

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werden kann. 80 Da aber die Leisrungen zur medizinischen Rehabilitation der Rentenversicherung - jedenfalls nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - deutlich über jene der Krankenversicherung hinausgehen,81 kann es zu ungleichen Leiswngsansprüchen kommen, die sachlich nicht gerechtfertigt sind und durch eine entsprechende Korrektur der Zuständigkeitsverteilung vennieden werden sollten. Schwierige Probleme ergeben sich auch in Fällen des Zusammentreffens von gesundheitlichen Beeinträchtigungen einerseits und dadurch bedingten mangelnden Erwerbsmöglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt andererseits mit der Folge von Arbeitslosigkeit wegen venninderter Erwerbsfähigkeit. Da in Deutschland die Gesetzeslage unklar ist, bedurfte es erst einer entsprechenden Rechtsfortbildung durch die Sozialgerichte, insbesondere durch das Bundessozialgericht, um zu einer zumindest praktikablen Zuständigkeitsabgrenzung zu kommen. 82 Danach muß in den meisten Fällen die Rentenversicherung leisten, während die Arbeitslosenversicherung weitgehend entlastet ist. Dies dürfte keine sehr sachgerechte Lösung sein, da sie für die Arbeitslosenversicherung wenig Anreize bietet, gesundheitlich beeinträchtigte Versicherte auf dem Arbeitsmarkt zu vennitteln. b) Nahtlosigkeit, Lücken, Kumulation Ein gegliedertes System der Sozialversicherung - wie auch des Sozialrechts insgesamt - muß durch entsprechende Techniken und Instrumente Sorge dafür tragen, daß bei einheitlichen Lebenssachverhalten Leistungen mehrerer zuständiger Sozialversicherungsträger nahtlos anschließen, damit einerseits Sicherungslücken, andererseits aber auch mehrfache Leistungen vennieden werden.8 3 Das bundesdeutsche Sozialversicherungsrecht hat erst nach einem jahrzehntelangen, mühsamen Prozeß erreicht, daß dieses Ziel zumindest im 80 Dazu etwa Eberhard Schaub, in: Handbuch der gesetzlichen Rentenversicherung (HDR) (Fn. 60), 22/93 (S. 622). 81 So werden nach der Rechtsprechung des BSG auch nichtärztliche Behandlungen Alkoholabhängiger unter den Begriff der medizinischen Hei1behandlung i.S. der §§ 1237 RVO a.F., 15 SGB VI subsumiert. Siehe hierm Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSGE) Bd. 66, 84 = So:lR 2200 § 1237 Nr.22; BSGE 66, 87 So7R 2200 § 1237 Nr.23; BSGE 67, 100 = SozR 3-7610 § 683 Nr. 1; BSGE 68,167 = SozR 3-2200 § 1237 Nr. 1; BSG SozR 3-2200 § 1237 Nr. 2; BSG 32200 § 1236 Nr. 2; BSG vom 23.4.1992, - 13 RJ 27/91 und 13/5 RJ 20/90. 81 Vgl. BSGE 43,75; vgl. hierzu UrsuJa Köbl, Übergreifende soziale Risiken - übergreifender sozialer Schutz - erläutert am Beispiel der Arbeitslosigkeit, Schriftenreihe des Deutschen Sozialrechtsverbandes, Bd. 33 (1990), S. 57 ff. 13 Vgl. hierzu näher Wolfgang Gitter, Zweckwidrige Vielfalt und Widersprüche im Recht der Sozialversicherung, Schriftenreihe des Deutschen Sozialgerichtsverbandes, Bd. 6 (1969), S. 69 ff., sowie Helmar Bley, Empfiehlt es sich, die Voraussetzungen für Sozialleistungen an leistungsgeminderte Personen zur Herstellung der Nahtlosigkeit gesetzlich neu zu regeln. Schriftenreihe des Deutschen Sozialgerichtsverbandes, Bd. 19 (1979), S. 22 ff.

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großen und ganzen realisiert werden konnte. Die Gefahr von Lücken wegen fehlender Nahtlosigkeit besteht vor allem in Fällen, wo sich in zeitlicher Hinsicht an Leistungen des einen Versicherungsträgers solche eines anderen anschließen (sollten), z.B. beim Übergang vom Kranken- oder Arbeitslosengeld zur Rente der Rentenversicherung. Hier kommt es sehr auf die Details an, so daß es im folgenden genügen muß, exemplarisch einen Sachverhalt herauszugreifen, um seine Behandlung im deutschen Recht zu skizzieren. Erkrankt ein Versicherter und stellt sich nach einiger Zeit heraus, daß er auf Dauer erwerbsunfähig bleiben wird, bedarf es zum einen einer Regelung über den Beginn des materiellrechtIichen Anspruchs auf Erwerbsunfähigkeitsrente sowie zum anderen über das Ende des materiellrechtlichen Anspruchs auf Krankengeld. Möglich wäre z.B., daß der Anspruch auf Erwerbsunfähigkeitsrente beginnt, wenn der Krankengeldanspruch - soweit für ihn eine Höchstdauer gilt - erschöpft ist. Das deutsche Recht hat einen anderen Weg gewählt und sieht ein Erlöschen des Krankengeldanspruchs vor, sobald ein Anspruch auf Erwerbsunfähigkeitsrente gegeben ist, § 50 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V. Entscheidend ist dabei die unanfechtbare Feststellung des Rentenanspruchs. 84 Die Nahtlosigkeit wird also dadurch herbeigeführt, daß der Krankengeldanspruch gegenüber dem Rentenanspruch zurücktritt Allerdings kann es bis zur tatsächlichen Auszahlung der Rente immer noch eine gewisse Zeit dauern, während welcher der Versicherte auf das Geld angewiesen ist Um eine solche Zahlungslücke zu vermeiden, besteht auf Antrag ein Anspruch auf Gewährung eines Vorschusses, der spätestens nach Ablauf eines Kalendermonats nach Eingang des Antrags beginnt, § 42 Abs. 1 SGB 1. 85 Da Renten nur auf Antrag gewährt werden, könnte der Versicherte versuchen, die Feststellung des Anspruchs auf Rente hinauszuschieben, um möglichst lange das höhere Krankengeld zu erhalten. Auch für diesen Fall hat der Gesetzgeber vorgesorgt So ist in § 51 Abs. 1 SGB V der Krankenkasse des Versicherten die Befugnis eingeräumt, diesem eine Frist von 10 Wochen zu setzen, damit er bei dem für ihn zuständigen Rentenversicherungsträger einen Antrag auf Rehabilitation stellt, der - wenn Rehabilitationsmaßnahmen aussichtslos sind - zugleich als Antrag auf Rente gilt, § 116 Abs. 2 SGB VI. Stellt dann der Versicherte keinen Antrag, entfallt der Anspruch auf Krankengeld mit Ablauf der Frist kraft Gesetzes, § 51 Abs.2 Satz 1 SGB V. Über deraqige, häufig notwendigerweise sehr komplizierte Regelungen kann echte Nahtlosigkeit bei Vermeidung von Lücken gewährleistet werden.

84 Die/er Krauskopf, SODale Krankenversicherung - SGB V und Nebengesetze, Kommentar, 3. Aufl., Loseblattwerk, § 50 Rdnr. 5. 15 Krankengeld kann für diese Übergangszeit nicht beansprucht werden, s. KorbillÜm Höjler, in: Kasseler Kommentar SoDalversicherungsrecht, Gesamtredaktion Klaus Niesel, Bd. I, Loseblattwerk, § 50 SGB V, Rdnr. 7.

Techniken und Instrumente

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In diesem Zusammenhang ist weiter auf die wichtige allgemeine Vorschrift des § 43 SGB I zur Gewährung vorläufiger Leistungen hinzuweisen, die ebenfalls der Vermeidung von Sicherungslücken dient, nämlich für den Fall unklarer Zuständigkeit (dazu noch unten III 2 b). Das Problem von Mehrfachleistungen (Kumulationen) kann theoretisch zwar auch bei einigen Gesundheitsleistungen auftreten, spielt dort aber in der Praxis keine Rolle. Um so wichtiger ist es dagegen bei Einkommens- und Unterhaltsersatzleistungen. Hier tritt es in den verschiedensten Formen auf, von denen wiederum nur wenige exemplarisch genannt werden können. Kurzzeitig kann es sein, daß im eben genannten Fall eines erwerbsunfähigen Versicherten dieser Krankengeld über den Zeitpunkt des Beginns des Rentenanspruchs hinaus erhält. Zahlt die Rentenversicherung dann nach und fordert die Krankenkasse das zu lange gewährte Krankengeld zurück, kann, wenn dieses die Rente überstieg, der überschießende Betrag vom Versicherten nicht zurückgefordert werden, so daß er insoweit Vertrauensschutz genießt. Von solchen, hinsichtlich der finanziellen AuswiIkungen für die Leistungsträger eher marginalen Fällen abgesehen, muß der Gesetzgeber versuchen, Leistungskumulationen soweit wie möglich zu vermeiden. So sieht etwa das deutsche Recht für den Fall des Zusammentreffens einer Rente aus der Rentenversicherung mit einer Verletztenrente aus der Unfallversicherung eine Höchstbegrenzung vor. Danach kann der Versicherte Rentenleistungen aus beiden Versicherungszweigen insgesamt nur bis zum Grenzbetrag von 70 % seines Jahresarbeitsverdienstes erhalten. Soweit dieser Grenzbetrag überschritten wird, ruht die Rente aus der Rentenversicherung (nicht etwa die aus der Unfallversicherung, da diese vor jener, wie bereits dargelegt,86 Vorrang hat), § 93 SGB VI. Wegen ihrer Unterhaltsersatzfunktion hat der deutsche Gesetzgeber vor wenigen Jahren auch eine - bisher allerdings sehr bescheidene - Anrechnung von eigenem Einkommen des Hinterbliebenen auf die Hinterbliebenenrente vorgesehen. So muß sich also z.B. eine Witwe nach dem Tod ihres versicherten Mannes in gewissem Umfang Erwerbseinkommen oder eine eigene Rente anrechnen lassen, § 97 SGB VI. c) Primäre und sekundäre Risiken Eine spezielle Technik der sozialen Sicherung verbirgt sich hinter der begrifflichen Unterscheidung zwischen primären und sekundären Risiken. 87 Bei den primären Risiken handelt es sich um diejenigen, die den ursprünglichen 16

S. oben m 1 a.

Dazu Hans F. Zacher, Vonragen zu den Methoden der Rechtsvergleichung, in: Hans F. Zacher (Hg.), Methodische Probleme des Sozialrechtsvergleiches, 1977, S. 21 (46 f.), sowie Hans F. Zacher, Sozia1recht, in: RudolfWeber-Fas (Hg.), Jurisprudenz, 1978, S. 412. 17

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Bertram Schu1in

und eigentlichen Anlaß zur Schaffung der Sozialversicherungszweige gegeben haben, also Krankheit, Arbeitsunfall, Invalidität, Alter und Arbeitslosigkeit. Häufig ist mit der Realisierung eines dieser Risiken jedoch nicht nur die Fähigkeit beeinträchtigt oder aufgehoben, durch Erwerbstätigkeit den erforderlichen laufenden Lebensunterhalt zu erwirtschaften. Vielmehr ist der Versicherte bei Arbeits- bzw. Erwerbsunfähigkeit sowie bei Arbeitslosigkeit zugleich außerstande, durch Beitragszahlungen Vorsorge in bezug auf später eintretende soziale Risiken zu betreiben. Dieses Risiko der Vorsorgeunfähigkeit ist das sog. sekundäre Vorsorgerisiko. 88 Hier kommen vor allem zwei unterschiedliche Sicherungstechniken in Betracht, die am Beispiel der Arbeitsunfähigkeit wegen Krankheit dargestellt werden sollen. Nach Beendigung der meist gegebenen Entgeltfortzahlung durch den Arbeitgeber bedarf der Versicherte zunächst eines Entgeltersatzes zur Bestreitung der laufenden Lebensunterhaltskosten. Dem kann durch ein Krankengeld Rechnung getragen werden, das in etwa die Höhe des im Falle der Arbeitsleistung erzielten Nettoarbeitsentgelts erreicht. Da der ArbeiUlehmer kein Arbeitsentgelt (mehr) erhält, führt der Arbeitgeber für ihn auch keine Beiträge (mehr) zur Arbeitslosen- und Rentenversicherung ab. Dies wirkt sich in beiden Versicherungszweigen negativ auf die Entwicklung der Anwartschaftsrechte (auf Arbeitslosengeld und auf Rente) aus. Dies zu vermeiden, kommen, wie bereits erwähnt, zwei Wege in Betracht Entweder berücksichtigen die Arbeitslosen- und die Rentenversicherung derartige Zeiten krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit auch ohne Beitragszahlungen wie Beitragszeiten (z.B. als sog. Ausfallzeiten). Dann tragen das sekundäre Risiko die Arbeitslosen- und Rentenversicherung. Oder aber die Krankenversicherung übernimmt neben der Zahlung des Krankengeldes in Höhe des ausgefallenen Nettoarbeitsentgelts zusätzlich noch die Beitragszahlungen für die beiden genannten Versicherungszweige. Dann trägt sie zugleich auch das sekundäre Risiko. Das deutsche Sozialrecht weist eine Entwicklung von der ersten zur zweiten Lösungsalternative auf,89 die heute weitestgehend realisiert ist und aus systematischer Sicht die besseren Gründe für sich hat 90 Innerhalb reiner Versorgungssysteme spielt das sekundäre Risiko keine Rolle. Denn Versorgung bedeutet gerade keine Vorsorge, sondern jeweils aktuelle Bedarfsdeckung aus Steuermitteln.

88 Vgl. Bley (Fn.24), S. 168, sowie Franz Ruland, Die Sicherung des Arbeitslosen gegen sekundäre Risiken, Zeitschrift für Sozialreform 1980, S. 463. 89 Vgl. zur Entwickbmg seit 1957 Peter Krause, Beitragszeiten für Ausfallzeiten - Ausfallzeiten kraft Beitragszahlung, Deutsche Rentenversicherung 1984, S. 520 ff. 90 Ebenso Köbl (Fn. 82), S. 64.

Techniken und Instrumente

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2. Sozialrecht als Ganzes

a) Rangverhältnis Nicht nur innerhalb der Zweige der Sozialversicherung besteht das Problem des Rangverhältnisses, sondern letztlich auch im Hinblick auf die übrigen sozialrechtlichen Teilsysteme. Ähnlich wie zuvor für die Sozialversicherung festgestellt, haben auch im Gesamtsystern des Sozialrechts diejenigen Teilsysteme, deren Leistungspflicht an bestimmte Bedarfsursachen anknüpfen (kausal orientierte Systeme) Vorrang vor den übrigen. Das bedeutet, daß die sozialen Entschädigungssysteme und die gesetzliche Unfallversicherung Vorrang etwa vor der Kranken- (§ 11 Abs. 4 SGB V) und Rentenversicherung (§ 12 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI), aber auch vor den Teilsystemen der sozialen Förderung (z.B. § 8 Abs. 1 Bundeskindergeldgesetz - BKGG) und natürlich vor der Sozialhilfe (§ 2 Abs. 1 BSHG) haben. Für den Familienlastenausgleich ist zu beachten, daß, soweit die Leistungen - wie das Kinder- und Erziehungsgeld - auf eine Verantwortlichkeit der Gesamtgesellschaft gestützt werden, diese außer Konkurrenz mit anderen Sozialleistungen - von wenigen Ausnahmen, insbesondere der Sozialhilfe,91 abgesehen - gewährt werden. Damit ergibt sich folgende Rangstufung: Vorrang vor allen anderen Teilsysternen haben die sozialen Entschädigungssysteme (Entschädigung der Kriegsund Soldatenopfer, der Kriminalopfer usw.). Es folgt das kausal orientierte Versicherungssystem der Unfallversicherung. Weiter folgen die fmalen Versicherungssysteme der Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung, und noch vor der Sozialhilfe rangieren die Förderungssysteme wie Ausbildungsoder Berufsförderung. b) Vermeidung von Lücken durch vorläufige Leistungen Zuständigkeitsstreitigkeiten können, was nicht betont zu werden braucht, nicht nur innerhalb der Sozialversicherung, sondern auch zwischen einem Sozialversicherungs- und einem sonstigen Sozialleistungsträger auftreten. Derartige Auseinandersetzungen sind eine unvermeidbare Konsequenz eines jeden gegliederten Systems der sozialen Sicherung. Erforderlich sind geeignete Regelungen zur Vermeidung von unerwünschten Folgen für die Versicherten. In diesem Zusammenhang spielt eine wichtige Rolle § 43 SGB I. Man denke etwa 91 Vgl. rur Anrechnung des Kindergeldes als Einkommen auf die Sozialhilfe Wienand, in: KnopplFichtnu (pn.72), § TI ROOr. 5, sowie Bundesverwaltungsgericht in: Fürsorgerechtliche Entscheidungen der Verwaltungs- und Sozialgerichte, Bd. 35, S. 1. Anderer Ansicht Dietrich Schoch, Kindergeld und Wohngeld - Einkommen, Bedarfsdeckungsvermutung oder sozialrechtlich nicht ru berücksichtigen?, Zeitschrift für Sozialhilfe und Sozialgesetzbuch 1986, S. 103 ff.

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an den Fall, daß ein behinderter Versicherter bei seiner Krankenkasse ein Hilfsmittel, z.B. ein bestimmtes Lesehilfegerät, beantragt, dessen Leistung diese jedoch mit der Begründung ablehnt, es handele sich nicht um ein Hilfsmittel medizinischer Art i.S. von § 33 Abs. 1 SGB V. Aber auch der Sozialhilfeträger, an den sich der Versicherte nun wendet, verneint eine Leistungspflicht, weil er im Gegensatz zur Krankenkasse meint, diese sei sehr wohl zuständig. Vorausgesetzt, es steht fest, daß jedenfalls einer von beiden Leistungsträgern leistungspflichtig ist, gibt dem Versicherten die genannte Regelung des § 43 Abs. 1 SGB I, damit der Streit über die Zuständigkeit nicht auf seinem Rücken ausgetragen wird, ein Recht, nach freier Wahl von einem der beiden Leistungsträger eine vorläufige Gewährung des Hilfsmittels zu verlangen. Dann mögen sich die beiden Leistungsträger untereinander darüber weiterstreiten, wer endgültig leistungspflichtig ist. Hatte der unzuständige geleistet, gewährt ihm § 102 Abs. 1 SGB X gegenüber dem anderen einen Erstattungsanspruch. 3. Sozialrecht und außersozlalrecbtUche Gebiete

a) Zahlreiche Fragen sind auch im Verhältnis zwischen sozialrechtlichen und außersozialrechtlichen Systemen zu regeln. In Deutschland (nach dem Lohnfortzahlungsgesetz und § 616 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch, § 63 Handelsgesetzbuch, § 133c Gewerbeordnung) und einigen anderen westeuropäischen Ländern (z.B. Dänemark und Italien)92 haben z.B. alle Arbeitnehmer oder Gruppen von ihnen im Falle krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit, von einigen Ausnahmen abgesehen, für gewisse Zeit einen arbeitsrechtlichen Anspruch auf Fortzahlung des Arbeitsentgelts gegenüber dem Arbeitgeber, um die gesetzliche Krankenversicherung oder das staatliche Gesundheitswesen von den entsprechenden Kosten zu entlasten. Das deutsche Recht sorgt durch eine einfache Regelung dafür, daß der erkrankte Arbeitnehmer in jedem Fall- auch bei berechtigter oder unberechtigter Zahlungsverweigerung des Arbeitgebers schnell die ihm zustehenden Geldbeträge erhält. Und zwar ist vorgesehen, daß, auch wenn ein arbeitsrechtlicher Entgeltfortzahlungsanspruch gegeben ist, daneben noch ein Krankengeldanspruch besteht, wobei dieser jedoch ruht, soweit und solange der Arbeitgeber tatsächlich das Arbeitsentgelt fortzahlt, § 49 Abs. 1 Nr. 1 SGB V. Soweit und solange er dies nicht tut, leistet also die Krankenkasse. Und soweit und solange der Arbeitgeber die Zahlung des Arbeitsentgelts unrechtmäßig verweigert und statt seiner die Krankenkasse geleistet hat, kommt es zu einem gesetzlichen Übergang der Arbeitsentgeltansprüche des versicherten Arbeitnehmers gegenüber seinem Arbeitgeber auf die Krankenkasse, § 115 Abs. 1 SGB X.

92

Vgl. WeberlLeienbach/Dohle (Fn.

29), S. 47 f., 107.

Techniken IDld Instrumente

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Auch für viele andere Fälle hat der Gesetzgeber einen Vorrang privatrechtlicher Leistungsansprüche vor solchen sozialrechtlicher Natur vorgesehen. Dies gilt etwa für den großen Bereich der zivilrechtlichen Schadensersatzansprüche einschließlich der Leistungen der Haftpflichtversicherer. Wird etwa ein Sozialversicherter bei einem Verkehrsunfall verletzt und bestehen zivilrechtliche Schadensersatzanspriiche (aus Verschuldens- und/oder Gefährdungshaftung), so sollen durch Leistungen der Sozialversicherung die privatrechtlichen Verantwortlichkeiten nicht verdrängt werden. Folglich sieht das Gesetz auch hier für den Fall, daß z.B. eine Krankenkasse Leistungen erbringt, einen entsprechenden Übergang der Schadensersatzforderung des Versicherten gegenüber dem Schädiger vor, § 116 SGB X. b) Querbeziehungen zwischen Sozial- und Privatrecht sind weiter dort gegeben, wo die obligatorische Sicherung im sozia1rechtlichen System durch privatrechtliche Sicherungsformen ersetzbar ist So besteht etwa in Großbritannien die Möglichkeit, die obligatorische Zusatzversorgung der Arbeitnehmer durch eine private Betriebsrentenversicherung zu substituieren, sofern diese bestimmten Anforderungen entspricht 93 Und in Deutschland (alte Bundesländer) war früher für bestimmte Personen (z.B. Studenten) die Möglichkeit vorgesehen, sich von der gesetzlichen Krankenversicherungspflicht befreien zu lassen, wenn sie einen adäquaten privaten Krankenversicherungsschutz nachweisen konnten, § 173 d Reichsversicherungsordnung (RVO); heute wird dagegen auf einen solchen Nachweis verzichtet, § 5 Abs. 7 SGB V. 4. Information und Beratung

Je differenzierter die Gliederung des Gesamtsystems der sozialen Sicherung

und je stärker dieses verrechtlicht ist, desto unübersichtlicher ist es meist und

desto größere Schwierigkeiten haben die Bürger, sich innerhalb des Sozialrechts zu orientieren. In der Unübersichtlichkeit des Sozialrechts hat man nicht zu Unrecht - sogar bereits ein eigenes soziales Risiko gesehen. 94 Deshalb gehört es zu den wichtigsten Aufgaben von Gesetzgebung und Verwaltung im Sozialrecht, durch ein gut ausgebautes Informations- und Beratungswesen den Sozialleistungsberechtigten den Weg zu den ihnen zustehenden Rechten zu weisen. Das deutsche Sozia1recht hat in Buch I des SGB einige Regelungen getroffen, die gezielt dieser Aufgabe dienen, §§ 13 ff. SGB I. Zunächst obliegt 93 Vgl. näher zur Betriebsrentenversicherung in Großbritamrien Bernd Schulte. Alterssicher\Dlg in Großbritamrien. Zeitschrift für ausländisches IDld internationales Arbeits- IDld Sozialrecht 1987. S.93 (116 C., 120 Cf.). WeberlLeienbachlDohJe (Fn. 29), S.9O C., und Schulte, in: Zacher (pn. 40),

S. 4!J7 (518 CC.). 94 Otto Ernst Krasney, Richtige Zuordnung der Risiken IDld Überwindung von Si-

cherungsdefiziten durch die RechtsordnlDlg, Schriftenreihe des Deutschen Sozialrechtsverbandes, Bd. 33 (1990), S. 73 (91).

204

Teclmiken W1d Instrumente

es den Sozialleistungsträgem, die Bevölkerung ganz allgemein über die Rechte und Pflichten des Sozialgesetzbuchs zu informieren, etwa durch Merkblätter, Broschüren oder Informationsveranstaltungen, § 13 SGB I. Weiter und vor allem werden dem einzelnen Bürger subjektive Rechte auf Auskunft und Beratung eingeräumt. Da nicht selten aber bereits Unklarheiten darüber bestehen, welcher Sozialleistungsträger in einem konkreten Fall für Leistungen zuständig ist, hat der deutsche Gesetzgeber eine besonders bürgernahe Institution, nämlich die Krankenversicherung mit ihren sehr zahlreichen Krankenkassen, generell zur "Benennung der für die Sozialleistungen zuständigen Leistungsträger" verpflichtet, § 15 SGB I. Hat der einzelne daraufhin den Weg zu dem für sein Anliegen zuständigen Leistungsträger gefunden, ist dieser zu umfassender Beratung verpflichtet, § 14 SGB I. Dieses Informations- und Beratungsinstrumentarium kann nur dann volle Wirkung entfalten, wenn bei unrichtigen Auskünften auch eine entsprechende Haftung der Sozialleistungsträger gegeben ist. Da die allgemeinen öffentlichrechtlichen Ausgleichsinstitute wie Amtshaftungs- und Folgenbeseitigungsanspruch einen betroffenen Bürger nicht in allen Fällen schadlos stellen können, ist durch die sozialgerichtliche Rechtsprechung speziell für den Bereich des Sozialrechts ein eigenständiger Ersatzanspruch entwickelt worden, der sog. sozialrechtliche Herstellungsanspruch. 95 Hat eine Sozialleistungsbehörde, etwa ein Sozialversicherungsträger, "durch fehlerhaftes Verwaltungshandeln nachteilige Folgen für die Rechtsstellung des Versicherten herbeigeführt und können diese durch rechtmäßiges Verwaltungshandeln wieder beseitigt werden, so hat die Behörde dem Versicherten die Rechtsposition einzuräumen, die er gehabt hätte, wenn von Anfang an ordnungsgemäß verfahren worden wäre" (Bundessozialgericht).96 Hat Z.B. ein Leistungsberechtigter wegen unzureichender Beratung eine Antragsfrist versäumt, muß der Leistungsträger den Berechtigten so behandeln, als sei der Antrag rechtzeitig gestellt worden. Die rechtsdogmatische Grundlage für den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch ist bis heute nicht geklärt, so daß dieses richterrechtliche Ausgleichsinstitut auch entsprechend umstritten ist. Die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung lehnt es sogar weitgehend ab, etwa für den Bereich der Sozialhilfe. 97

95 Näher zum sozialrechtlichen Herstellungsanspruch etwa Olto Ernst Kras1ll!Y, Zum sozial· rechtlichen HerstellWigsanspruch in der RechtsprechWig des BWidessozialgerichts, in: Festschrift Walter Schwarz, 1991, S.383 ff., Karl.JÜTgen BiebacA:, Grundlagen und Schranken des sozial· rechtlichen Herstellungsanspruches, Die Sozialgerichtsbarkeit 1990, S. 517 ff., Eclchard Kreßel, Öf· fentliches Haftungsrecht und sozialrechtlicher Herstellungsanspruch, 1990, Hans P. Adolf, Der so· zialrechtliche Herstellungsanspruch, 1990, sowie Reinuuad Schmidl-De Caillwe, Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch, 1992. 96 BWidessozialgericht, in: Sozialrecht-EntscheidWigssammlWlg 1200 § 14 Nr. 28, S.78; EntscheidWigen des BWidessozialgerichts, Bd. 32, S. 60. 97 Vgl. etwa OberverwaltWigsgericht Koblenz, Neue Zeitschrift für VerwaltWigsrecht 1985,

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S. Einheitlichkeit der RIsIkozuordnung und Strukturverantwortung

Im Zusammenhang mit Überlegungen über eine Weiterentwicklung der medizinischen Rehabilitation in der gesetzlichen Rentenversicherung werden in Deutschland derzeit die Aspekte einer Einheitlichkeit der Risikozuordnung sowie einer sog. Strukturverantwortung diskutiert. Hierbei handelt es sich um sehr grundsätzliche Gesichtspunkte, die unmittelbar die Problematik geeigneter Techniken zur Bewältigung der Gliederung sozialer Sicherung berühren. Nach dem Prinzip der einheitlichen Risikozuordnung soll die Rehabilitation von dem Sozialleistungsträger durchgeführt werden, der auch das finanzielle Risiko ihres Scheiterns trägt. 98 Dabei soll der zweigspezifische soziale Sicherungsauftrag auch den Auftrag zur Schadensverhinderung (Prävention) und zur Schadensminderung (Rehabilitation im engeren Sinn) umfassen. Unter der sog. Strukturverantwortung versteht man die Verantwortlichkeit dafür, daß die erforderlichen Rehabilitationseinrichtungen zur Verfügung stehen. Um eine effektive Kapazitätssteuerung und Qualitätskontrolle zu gewährleisten, wird vorgeschlagen, die Strukturverantwortung für gleichartige Rehabilitationsleistungen (z.B. für stationäre Leistungen zur medizinischen Rehabilitation) bei nur einem Trägerbereich zusammenzufassen, z.B. bei der gesetzlichen Rentenversicherung. 99 Beide genannten Aspekte berühren Grundfragen der gegliederten sozialen Sicherung, die am Beispiel der Rehabilitation besonders deutlich werden. Dabei ist in diesem Zusammenhang auf einen weiteren Gesichtspunkt hinzuweisen, der zwar keineswegs ausschließlich, aber auch ein Problem der Gliederung darstellt: auf das Verhältnis zwischen Prävention, Rehabilitation, Pflege und Rente. Im deutschen Sozialrecht hat man schon vor längerer Zeit den Grundsatz "Rehabilitation vor Rente" fonnuliert, 100 weil es nicht nur ökonomischer ist, Versicherte in das Erwerbsleben einzugliedern, als ihnen vorzeitig Renten zu zahlen, sondern vor allem auch humaner. Das deutsche Krankenversicherungsrecht hat weiter vor kurzem den Grundsatz eingeführt, daß Rehabilitation vor Pflege gehen soll (§ 11 Abs. 2 SGB V) - ebenfalls ein unmittelbar einleuchtendes Prinzip. Schließlich läßt sich der im Unfallversicherungsrecht (§ 546 RVO) ausdrücklich geregelte Grundsatz verallgemeinern, daß Vorrang vor allen anderen Zielen die Prävention hat. So ergibt sich: Zunächst müssen alle Möglichkeiten der Prävention ausgeschöpft werden. Tritt dennoch ein GeS. 509; anderer Ansicht Andreas Möhle, Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch und Sozialhilfe, Zeitschrift für Sozialhilfe und Sozialgesetzbuch 1990, S. 522 ff. 98 Verband Deutscher Rentenversicherungsträger - VOR (Hg.), Empfehlungen zur Weiterentwicklung der medizinischen Rehabilitation in der gesetzlichen Rentenversicherung, 1992, S. 12 f. 99 VOR (pn. 98), S. 14. 100 S. hierzu Dieter Schewe, Rente vor Reha? - Reha vor Rente? - Der Zugang zur Rehabilitation in der Rentenversicherung, Sozialer Fortschritt 1991, S. 239 ff.

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sundheitsschaden ein, sind alle Möglichkeiten der Rehabilitation zu versuchen. Erst zuletzt sind Pflege- und Rentenleistungen zu gewähren. 101 In einem gegliederten System ist es schwierig, die Grundsätze der einheitlichen Risikozuordnung und der Strukturverantwortung zu realisieren. Denn Gliederung im herkömmlichen Sinn bedeutet z.B., daß die Krankenversicherung zwar - wenn nicht allein, so doch auch - für medizinische Rehabilitation zuständig ist, nicht jedoch für Renten-, möglicherweise aber für Pflegeleistungen,l02 während umgekehrt die Rentenversicherung zwar - ebenfalls nicht ausschließlich, aber auch - für medizinische Rehabilitation, nicht aber für Pflegeleistungen verantwortlich ist. Ohne Kompromisse wird daher bei einem gegliederten System kaum auszukommen sein. IV. Sicherungsniveau Soziale Sicherung kann auf sehr unterschiedlichem Sicherungsniveau realisiert werden. Die westeuropäischen Systeme weisen hier nicht nur in ihren Gesamt-, sondern auch in den jeweiligen Teilsystemen große Unterschiede auf. Sie sind zugleich durch sehr verschiedene Techniken und Instrumentarien gekennzeichnet. 1. Mindestsicherung

In allen Ländern sind Formen der Mindestsicherung vorgesehen, allerdings auch insoweit noch in sehr unterschiedlicher Weise und Höhe. Zunächst kommt in Betracht, daß dort. wo Sozialversicherungen bestehen, diese zugleich im Hinblick auf die von ihnen abgedeckten Risiken die Funktion der Mindestsicherung erfüllen. Dieses Modell liegt etwa dem erst seit 1991 geltenden Recht der Alters- und Invalidenrenten sowie der Leistungen für unterhaltsabhängige Kinder in Spanien zugrunde. Die Mindestsicherung wird für diese Leistungsbereiche in wesentlichem Umfang nicht von einem eigenständigen Teilsystem (etwa der Sozialhilfe) gewährleistet, sondern von der Sozialversicherung selber. 103 In sehr begrenzter Form kennt auch das deutsche Rentenversicherungsrecht etwas Ähnliches in Gestalt der Rente nach Mindesteinkommen, § 262 101 Ebenso Franz RuJand, Anfordenmgen an ein Buch "Rehabilitationsrecht" aus der Sicht der medizinischen und beruflichen Rehabilitation. Schriftenreihe des Deutschen Sozialrechtsvemandes, Bd. 37 (1993), unter m (im Druck). 102 Der Beschluß der Regienmgskoalition vom 30.6.1992 sieht eine gesetzliche Pflegeversichenmg unter dem Dach der gesetzlichen Krankenversichenmg vor, s. Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (Hg.), Pflegeversichenmg - Durchbruch mm Solidar-Modell, Sozialpolitische Informationen Nr. 11/1992, S. 1 ff. 103 Vgl. hierzu näher FUkI Ferreras AloflSo, Soziale Mindestsichenmg in Spanien, Die Angestelltenversichenmg 1992, S. 406 ff.; ferner Schulte (pn. 64), S. 19.

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SGB VI. Weiter gewährleistet bei Erwerbsunfahigkeit die Anrechenbarkeit der sog. Zurechnungszeit das Niveau einer Mindestsicherung, § 59 SGB VI. Schließlich sieht das deutsche Rentenversicherungsrecht für die Gruppe der Handwerker eine spezielle Art der Grund- oder Mindestsicherung vor, indem diese nur für 18 Jahre pflichtversichert sind und es danach in deren Belieben steht, ob und wie sie weitere Vorsorge betreiben wollen, § 6 Abs. 1 Ziff. 4 SGB VI.I04 Auch die deutsche Krankenversicherung erreicht bei der Versorgung mit Gesundheitsleistungen de facto das Ziel einer Mindestsicherung, das jedoch zugleich aufgrund des entsprechenden Sicherungsniveaus nahe an eine Höchstsicherung grenzt 105 Denn sie gewährt im wesentlichen alle Leistungen, die medizinisch notwendig sind und sieht nur in begrenztem Umfang Selbstbeteiligungen vor. Die Einbeziehung einer Mindestsicherung in den Auftrag der Sozialversicherung hat den nicht unerheblichen Zusatzeffekt, daß auf die entsprechenden Leistungen gerichtlich durchsetzbare Ansprüche bestehen, was bei anderen Leistungswegen nicht ohne weiteres der Fall ist Soweit bestimmte Risiken nicht durch Sozialversicherungs-, sondern soziale Versorgungssysteme abgedeckt werden, handelt es sich bei diesen regelmäßig um Mindestsicherungssysteme. Allerdings wird sogar dieses Ziel teilweise etwa in Großbritannien 106 - nicht erreicht, so daß noch ergänzende Leistungen erforderlich sind. Im Unterschied zu Sozialversicherungen erfassen Versorgungssysterne i.d.R. die gesamte Bevölkerung des betreffenden Landes. Sehen Versicherungssysteme keine Mindestsicherung vor - wie dies in Deutschland vor allem im Bereich der Alterssicherung der Fall ist -, bedarf es insoweit eines allgemeinen Hilfssystems (Sozialhilfe). Dieses ist vor allem auch für die Personen erforderlich, die zwar sozial versichert sind, jedoch für die betreffenden Leistungen die Anspruchsvoraussetzungen dem Grunde nach nicht erfüllen, z.B. nicht die erforderliche Wartezeit zurückgelegt haben. Die Berücksichtigung von Mindestsicherungsfunktionen innerhalb von Sozialversicherungssystemen kann auch in einem solchen Rahmen noch durchaus unterschiedlich ausgestaltet sein. Insbesondere ist es möglich, daß sie nicht, wie die "normalen" Leistungen, unabhängig von individueller Bedürftigkeit vorgesehen sind. So gewährt z.B. die deutsche Arbeitslosenversicherung nach Erschöpfen des Arbeitslosengeldes, das die "eigentliche" Versicherungsleistung bei Arbeitslosigkeit darstellt, sog. Arbeitslosenhilfe, jedoch nur bei Be104 Der Mindestsicherung dient weiter der Sozialzuschlag nach An. 38 des Gesetzes rur Herstellung der Rechtseinheit in der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung (Renten-Überleitungsgesetz· RÜG) vom 25. Juli 1991 (BGBI. I, S. 1606, 1707), ruletzt geänden durch Gesetz vom 18.12.1991 (BGBI. I, S. 2207). 105 S. Enquete-Kommission "Strukturrefonn der gesetzlichen Krankenversicherung", Zwischenbericht, Drucksache des Deutschen BWldestages l1ß267, S. 171 f. 106 Schulte (Fn.93), S. 156. Nach WeberlLeienbachlDohle (Fn.29), S. 89 beträgt die Gnmdrente in Großbritannien lß des Durchschnittslohnes eines mämlichen Industrieatbeiten.

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dürftigkeit des Arbeitslosen, §§ 134 Abs. 1 Nr.3, 137 f. AFG.I07 In der Sache handelt es sich also um Sozialhilfe, die von der Arbeitslosenversicherung ausgezahlt wird. Konsequent werden die Aufwendungen für diese Leistungen auch aus Steuennitteln fmanziert, § 188 AFG. 2. Lebensstandard- und Zusatzsicherung

Sozialversicherungssysteme können nahe an Lebensstandardsicherung heranreichen. So ist es z.B. seit Mitte der 50er Jahre das Ziel der (west)deutschen Rentenversicherung, dem Rentner nach einem vollen Berufsleben und nach dauernder Zugehörigkeit zur Rentenversicherung eine Rente zu gewähren, die es ihm ennöglicht, seinen während des Erwerbslebens erreichten Lebenstandard auch im Alter aufrechtzuerhalten. lOS Ausgenommen davon sind Höherverdienende (nämlich solche, deren Erwerbseinkommen das Doppelte des Durchschnittsentgelts aller Versicherten überschreitet). Denn sie zahlen nur bis zu einer bestimmten Bemessungsgrenze Beiträge,l09 so daß auch die spätere Rentenbemessung an dieser Grenze endet, § 63 Abs. 1 SGB VI. Für sie hat die gesetzliche Rente dann die Funktion einer relativen - nämlich bezogen auf ihre persönliche Einkommenssituation - "Mindest-Sicherung", die aus der Sicht der Versicherten mit mittlerem und darunterliegendem Erwerbseinkommen freilich immer noch sehr "gehoben" wirkt. Eine - auch nur freiwillige - Zusatzversicherung kennt das deutsche Rentenversicherungsrecht heute nicht mehr. liD Als Aufstockung der Renten, die das Ziel der Lebensstandardsicherung auch bei Durchschnittsverdienern aus verschiedensten Gründen häufig nicht erreichen, kommen daher nur die betriebliche Altersversorgung sowie Fonnen der privaten Eigenvorsorge (z.B. Lebensversicherung) in Betracht. 111

107 Zu Einzelheiten der Einkommensanrechnung und der Vermögensberücksichtigung bei der Arbeitslosenhilfe vgl. die Arbeitslosenhilfe-Verordnung vom 7.8.1974 (BGBl. I, S. 1929), zuletzt geändert durch das Gesetz vom 18.12.1992 (BGBl. I, S. 2044). 1011 Vgl. Franz RuJand, Rentenversicherung, in: Bernd von Maydell/Franz Ruland (Hg.), Sozialrechtshandbuch (SRH), 1988, 16/16 (S. 741), sowie Bernd von Mayckll, in: HDR (Fn.6O), 15/15 (S. 415 f.). 109 S. § 159 SGB VI. In den alten Bundesländern beträgt die Beitragsbemessungsgrenze für 199386 400 DM. 110 Bis zum Inkrafttreten des Rentenreformgesetz 1992 bestand die Möglichkeit der freiwilligen Höherversicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung. Zur Übergangsregelung s. § 234 SGB VI. III Zur "Drei-Säulen-Theorie" etwa HelmuJ Kaltenbach, in: HDR (Fn.6O), 17 (S. 425 ff.), sowie Peter-Nilcolaus Blumrath, Die Entwicklungsmöglichkeiten des Drei-Säulen-Konzeptes der Alterssicherung, 1987.

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Die Altersicherungssysteme der anderen westeuropäischen Länder sind so vielgestaltig, daß deren Varianten hier auch nicht ansatzweise skizziert werden kÖllnen. 112 Sehr verbreitet sind Formen der Kombination von Mindest- und Zusatzsicherungen, auch derart, daß die Grund- oder Mindestsicherung als soziale Versorgung und die Zusatzsicherung als soziale Versicherung organisiert ist (z.B. in Dänemark 113). Vor allem gibt es auch Modelle, in denen - neben der öffentlichrechtlichen Grundversicherung - die Zusatzsicherung als private betriebliche Altersversorgung, diese dann jedoch in obligatorischer Weise, vorgesehen ist (Schweiz I14). Auch an dieser Stelle ist noch einmal auf die, im Bereich der sozialen Sicherung i.e.S. eher selten realisierte, Möglichkeit einer Kombination von einerseits zwar obligatorischer, andererseits jedoch privatrechtlieh organisierter Sicherung hinzuweisen, wie es etwa dem Modell der deutschen Kraftfahrzeughaftung und -haftpflichtversicherung entspricht. Theoretisch ist dieser Weg auch für eine Grundsicherung denkbar. 115 Faktisch scheidet sie freilich u.a. wegen der sozial unzuträglichen Risiken der Geldwertentwicklung weitgehend aus. Große Probleme sind mit einer Aufteilung der Sozialleistungen aus Anlaß von Krankheit in Grund- und Zusatzsicherung verbunden. Das nach dem jeweiligen Stand der medizinischen Wissenschaft Erforderliche an Gesundheitsrnaßnahmen kann - von wenigen Ausnahmen abgesehen - im Prinzip letztlich von keinem sozialen Sicherungssystem als "Mindest" -Sicherung, etwa durch entsprechende Leistungsausschlüsse, in Frage gestellt werden, womit jedoch, wie bereits erwähnt, im Grunde zugleich das Leistungsmaximum erfaßt ist. Möglich sind allerdings Modalitäten im Hinblick auf sog. Selbstbeteiligungen der Versicherten bzw. Leistungsempfänger (an den Kosten bestimmter Gesundheitsleistungen). Darüber hinaus gibt es traditionell einige wenige Bereiche, in denen Leistungsausschlüsse bzw. -beschränkungen als sozialverträglich angesehen werden, insbesondere bei der Versorgung mit Zahnersatz.

112 Zu den Altersversorgungssystemen in ausgewählten westeuropäischen Staaten sowie in Kanada und den USA vgl. die Landesbeiträge in: Zacher (Fn. 40); s. ferner die Darstellungen zu den Alterssicherungssystemen der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft bei WeberlLeienbachlDohle (Fn. 29). 113 Vgl. WeberlLeienbachlDohle (Fn. 29), S. 53 f. 114 Zur Alterssicherung in der Schweil näher Hans Naef, in: Zacher (Fn. 40), S. 4(J1 ff. 11~ Das baden-württembergische Modell zur Absicherung des Pflegerisikos sieht eine private Absicherung des Pflegerisikos verbunden mit der Verpflichtung zum Abschluß einer solchen Versicherung vor, vgl. Ministerium für Arbeit, Gesundheit, Familie und Sozialordnung Baden-Württemberg (Hg.), Pflegevorsorgegesetz - Erläuterungen zu einer Initiative Baden-Württembergs, 1990. Aus Gründen des Schutzes der Allgemeinheit bedarf es im Falle privater Absicherung allerdings einer "gesteigerten öffentlichen Aufsicht", vgl. SchuJin (Fn. 5), S. E 46 f. 14 von Maydell/Hohnerlein

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3. WahlmögUchkelten

Innerhalb von Sozialversicherungssystemen kommt als geeignete Regelungstechnik - vor allem in bezug auf Zusatzsicherungen - die Einräumung von Wahlmöglichkeiten in Betracht, sei es in der Weise, daß in öffentlichrechtlichen Systemen neben einer Grund- auch eine wahlweise Zusatzsicherung vorgesehen wird, sei es, daß privater Versicherungsschutz zur Wahl steht 116 Im Prinzip ist es auch im Rahmen der Grundsicherung denkbar, den Versicherten die Wahl zwischen einem öffentlichrechtlichen und einem privatrechtlichen Versicherungsschutz zu erlauben. Dies erfordert dann eine nähere Prüfung der Qualität privatrechtlicher Sicherungsformen im Sinne einer Art "Zulassung". In der Praxis spielt diese Möglichkeit allerdings kaum eine Rolle. Für die Krankenversicherung kann auf öffentlichrechtliche Versicherungen im allgemeinen schon deshalb nicht verzichtet werden, weil nur sie einen sozialen Ausgleich im Rahmen der Finanzierung erlauben, der der Privatversicherung fremd ist Im wesentlichen dasselbe dürfte für den Bereich der Pflegesicherung gelten. Und auch für die Altersversorgung stellt das Finanzierungsproblem das Haupthindemis für eine Substitution öffentlicher durch private Sicherungsformen dar, da, wie schon erwähnt, das Umlageverfahren für letztere nur in begrenztem Umfang möglich ist. Allerdings sind Wahlmöglichkeiten auch im Bereich von Zusatzsicherungen nicht völlig problemlos. Sie kommen in der Krankenversicherung vor allem insoweit in Betracht, wie die Zulässigkeit von Selbstbeteiligungen reicht In diesem Rahmen kann den Versicherten eingeräumt werden, zwischen Versicherungsschutz mit und ohne Selbstbeteiligung zu wählen, selbstverständlich bei entsprechend differenzierten Beiträgen. Möglicherweise ist auf diese Art auch ein Kostendämpfungseffekt erreichbar, indem Versicherte, die sich für einen beitragsmäßig günstigeren Wahltarif mit Selbstbeteiligung entscheiden, entsprechend stärker darauf bedacht sind, von der Inanspruchnahme überflüssiger Gesundheitsleistungen abzusehen. Eine große praktische Rolle spielen Zusatzsicherungen im Bereich der Alterssicherung. Das hängt schon damit zusammen, daß hier die Grenze zwischen Mindest- und Zusatzsicherung wesentlich deutlicher verläuft als in der Krankenversicherung, so daß auch die sozialpolitischen Gestaltungsmöglichkeiten entsprechend größer sind. Wie schon erwähnt, kommt der Sicherungsfonn der belrleblichen Altersversorgung besondere Bedeutung zu. 117

116 Eine ZweiteillDlg in (obligatorische) Grund- und (freiwillige) Zusatzsicherung kommt etwa beim Krankengeld und bei der Armeimittelvenorgung in Betracht, vgl. hierzu Schulin (Fn. 5), S. E 6S Zum dualen Venicherungssystem s. Enquete-Kommission (Fn. 105), S. 158 C. 117 Zur betrieblichen AltenvenorglDlg einführend Bertram Schulin, Betriebliche Altenvenorgung, in: Rolf Birk (Hg.), Lexikon des Rechts Gruppe 12, Loseblauwerk, Stand 1993 (im Druck).

c.

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Auf ein grundsätzliches Problem kann im übrigen hier nur hingewiesen werden: inwieweit nämlich der Staat befugt ist. Zusatzsicherungen zu Lasten von Privatversicherungsunternehmen selbst zu organisieren und anzubieten. 118 4. Beltrags- und zeltbezogene sowie bedarfsabhängige Leistungen

In den Versicherungssystemen der Altersvorsorge werden die Leistungen wenn auch im einzelnen unterschiedlich - beitragsbezogen bemessen. Je mehr und je höhere Beiträge ein Versicherter im Laufe der Zeit entrichtet hat. desto höher fällt die Rente aus. Zwischen den individuellen BeitJägen und Leistungen besteht insoweit ein deutlich stärker ausgeprägtes Äquivalenzverhältnis als in der Krankenversicherung, wo die Gesundheitsleistungen (anders als die Einkommensersatzleistungen), jedenfalls überwiegend, unabhängig von Höhe und Dauer der Beiträge gewährt werden und sich nur am konkreten Leistungsbedarf orientieren. Sozialer Ausgleich wird bei beitragsbezogener Leistungsbemessung folglich nur in entsprechend geringerem Umfang realisiert. Besonderheiten gelten meist für die soziale Sicherung bei Arbeitsunfällen. Wegen der Entschädigungsfunktion dieses Sicherungszweiges werden die Leistungen i.d.R. weder beitrags- noch zeit-, sondern ausschließlich bedarfsbezogen bemessen. Für die Gesundheitsleistungen gilt insoweit dasselbe wie in der gesetzlichen Krankenversicherung. Aber auch und vor allem dauernde Geldleistungen als Einkommensersatz orientieren sich ihrer Höhe nach am unfallbedingten Verdienstausfall. Im Rahmen von Versorgungssystemen, die der Alterssicherung dienen, ist eine Beitragsbezogenheit der Leistungen zwar naturgemäß ausgeschlossen, weil es - anders als bei Versicherungssystemen - an Beiträgen gerade fehlt. Doch wird auch hier meist eine individualbezogene Komponente berücksichtigt. nämlich die Dauer der Wohnzeiten im betreffenden Land. So wird z.B. in Dänemark die volle Grundrente erst gezahlt, wenn der Betreffende mindestens 40 Jahre zwischen seinem 15. und 67. Lebensjahr in diesem Land ansässig war. Bei einer kürzeren Wohnzeit mindert sich die Rente entsprechend und zwar pro Jahr um 1/40. 119 Auch Arbeitslosenversicherungen bemessen die Leistungen i.d.R. an der Dauer und Höhe der Beiträge (s. § 106 AFG).

118 Hierzu näher etwa HQ/IS·Jürge1l Papier, Sozialversicherung und Privatversicherung verfassungsrechtliche Vorgaben, Zeitschrift für Sozialreform 1990, S. 344 ff, sowie Papier, Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen der Privaten Krankenversicherung, 1992. 119 Vgl. WeberlLeienbachJDohle (Fn. 29), S. 53.

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Geldleistungen wegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit sind, wie in der Unfallversicherung, ihrer Höhe nach von der Dauer der Beitragszahlungen unabhängig. Dafür werden sie nur für einen begrenzten Zeitraum gewährt, § 48 SGBV. 5. Berücksichtigung Individueller Bedürftigkeit

Die Frage nach der rechtlichen Bedeutung individueller Bedürftigkeit von Empfängern sozialer Leistungen ist für die einzelnen Sicherungssysteme unterschiedlich zu beantworten. Dabei ist - wie überall im Sozialrecht - zwischen dem, was rechtssystematisch gefordert, und dem, was in der Praxis realisiert wird bzw. realisierbar ist, zu unterscheiden. Grundsätzlich kommen zwei Techniken in Betracht, um die individuelle soziale Lage zu berücksichtigen. In Systemen der Sozialversicherung ist es möglich und die Regel, die Beiträge ihrer Höhe nach am Einkommen des einzelnen Versicherten zu bemessen, nämlich als Prozentsatz der näher bestimmten Bemessungsgrundlage. Möglich ist es aber auch, den Leistungsumfang unter Berücksichtigung der individuellen Vermögens- und Einkommenslage der Leistungsempfänger zu bestimmen. Für nichtbeitragsfmanzierte Systeme ist dieser Weg sogar der einzige, der in Betracht kommt Im folgenden werden einige grundsätzliche Fragen in bezug auf die verschiedenen Typen von Sicherungssystemen angesprochen. Bei Sozialversicherungen ist problematisch, ob und inwieweit es zulässig ist, daß sie nicht nur für die Beitragsbemessung, sondern daneben auch auf der Leistungsseite an die soziale Lage der Versicherten anknüpfen dürfen. So sind z.B. in der deutschen Krankenversicherung für einige Leistungen sog. Selbstbeteiligungen vorgesehen,120 z.B. bei Arzneimitteln (§ 31 Abs. 3 SGB V), Zahnersatz (§ 30 SGB V) und Fahrtkosten (§ 60 SGB V). Auf sie wird jedoch bei Versicherten, die bestimmte Einkommensgrenzen nicht überschreiten, aufgrund von entsprechenden Härteregelungen ganz oder teilweise verzichtet (§§ 61 f. SGB V). Derartige Selbstbeteiligungs- und Härteregelungen können zwar als spezifische Ausprägungen des sozialen Ausgleichs angesehen werden. Jedoch ist zu berücksichtigen, daß der soziale Ausgleich hier nur sehr partiell realisiert wird, nämlich im Verhältnis lediglich zwischen denjenigen Versicherten, die krank werden. Höherverdienende erhalten im Krankheitsfall im Ergebnis weniger Leistungen als Niedrigerverdienende. Gesunde Versicherte, die keine Leistungen in Anspruch zu nehmen brauchen, werden in diese Form des sozialen Ausgleichs dagegen nicht einbezogen. Das ist mit dem Gleichheitsgrundsatz 120 Zur SelbstbeteiliglDlg im GeslDldheitswesCIl etwa Enquete-Kommission (Fn.

168 ff.

105), S. 144 ff.,

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schwerlich vereinbar, zumal die Krankenversicherung, sieht man einmal von präventiven Leistungen ab, gerade die ausschließliche Aufgabe hat, in Krankheitsfällen Leistungen zu gewähren. Auch der Gesichtspunkt, daß mit Selbstbeteiligungen sozialpolitisch eine Steuerung des Inanspruchnahmeverhaltens der Versicherten bezweckt wird, kann die Bedenken nur insoweit ausräumen, als auf diese Weise auch tatsächlich eine deutliche Verhaltenssteuerung bewirkt wird. Fehlt es daran, läßt sich die Ungleichbehandlung auch unter diesem Aspekt nicht rechtfertigen. In bezug auf das deutsche Rentenversicherungsrecht ist die Systemverträglichkeit der Anrechnung eigenen Einkommens der Bezieher von Hinterbliebenenrenten (Witwen- und Witwer- sowie Waisenrenten) umstritten. 121 Unproblematisch dürfte wegen ihres Unterhaltsersatzcharakters die Situation bei Waisenrenten sein. Hier ist eine Einkommensberücksichtigung deshalb systemgerecht, weil auch Unterhaltsansprüche grundsätzlich eine entsprechende individuelle Bedarfslage voraussetzen. Für die Witwen- bzw. Witwerrenten läßt sich die Problematik am Beispiel von kinderlosen, vermögensmäßig gleich situierten Ehegatten verdeutlichen, die während ihrer gesamten Ehe beide erwerbstätig waren und einen gleichhohen Arbeitsverdienst hatten. Lebten die Ehegatten zusammen, erfüllte jeder von ihnen mit seiner Erwerbstätigkeit und seinem - ebenfalls als gleich hoch unterstellten - Teil an der gemeinsamen Haushaltsführung die Verpflichtung, zum Familienunterhalt beizutragen, § 1360 BGB. Und lebten sie getrennt, hatte keiner gegenüber dem anderen Unterhaltsansprüche, § 1361 Abs. 1 BGB. Auch mit Beginn des Rentenbezugs durch die beiden Eheleute änderte sich hieran nichts. Mit dem Tod des einen Ehegatten fällt daher kein Einkommen, das durch eine Hinterbliebenenrente ersetzt werden könnte, fort Die Zahlung einer Witwen- oder Witwerrente kann daher in einem solchen Fall nur als Übersicherung angesehen werden. Zu Übersicherungen, wenn auch je nach den Umständen des Einzelfalles in geringerem Umfang, kann es ebenso bei ungleichen Erwerbstätigkeiten und Verdiensten kommen. Ein in bezug auf das Übersicherungsproblem sachgerechtes Ergebnis gewährleistet übrigens der Versorgungsausgleich in Fällen der Eheauflösung. Denn im Ausgangsbeispiel scheidet wegen gleich hoher Rentenanwartschaften ein Versorgungsausgleich aus, § 1587 b BGB. Auf weitere Einzelheiten, vor allem im bezug auf Familienkonstellationen mit Kindern, kann hier nicht eingegangen werden. l22 In Systemen der sozialen Entschädigung ist die Frage der Anrechnung eigenen Einkommens eine solche der Schadensbemessung. Einkommen aufgrund 121 Vgl. Franz Ruland, Sozialpolitische und verfassungsrechtliche Bedenken gegen das AnrechnlDlgsmodell, Neue Juristische Wochenschrift 1986, S. 20 (26 ff.). 122 Nähere Einzelheiten zum VersorglDlgsausgleich bei Ludwig Bergner, Der Versorgungsausgleich in der gesetzlichen Rentenversicherung, in: HDR (Fn. 60), 27 (S. 797 ff.).

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einer entsprechenden Resterwerbsfähigkeit läßt erkennen, daß es insoweit an einer Schädigungsfolge des Schadensereignisses - z.B. eines Wehrdienstunfalles - fehlt. Einkommen oder Vermögen, das nicht durch Arbeitsleisblng erworben wird - sondern z.B. aufgrund einer Erbschaft - muß unberücksichtigt bleiben, da es auch ohne den zu entschädigenden Unfall erworben worden wäre. Auf die Problematik der Regelungen zur sog. Kriegsopferfürsorge wurde bereits oben hingewiesen. 123 Da Leistungen der sozialen Förderung den Zweck haben, die Chancengleichheit der Berechtigten zu sichern,124 ist hier eine Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen, wie schon erwähnt, systemgerecht. Und erst recht ist eine solche Berücksichtigung in Systemen der Sozialhilfe systemgerecht, weil es hier ausschließlich um Leistungen bei individueller Bedürftigkeit geht. Schwierig ist die Situation beim Familienlastenausgleich in Form etwa des deutschen Kinder- und Erziehungsgeldes. 12S Soweit ein Ausgleich der kindbedingten Lasten als solcher bezweckt wird, ist eine Einkommens- und Vermögensberücksichtigung systemfremd. Die möglichen Techniken der Anrechnung von Einkommen und Vermögen im einzelnen sind sehr unterschiedlich und können hier nicht näher dargestellt werden. Aus Gründen der Verwaltungsökonomie kann - soweit gegeben - z.B. an Steuerveranlagungen angeknüpft werden, vgl. etwa § 11 BKGG. Erforderlich ist stets die Festlegung des berücksichtigungsfreien Einkommens und Vermögens. Dafür kommen je nach Leistungsart wiederum unterschiedliche Grössen in Betracht Auch die Einbeziehung der finanziellen Situation von Familienmitgliedern ist möglich oder - vor allem in der Sozialhilfe (§§ 11, 28 BSHG) - geboten. Dabei ist u.a. die schwierige Frage zu entscheiden, inwieweit auch Einkommen und Vermögen von Partnern in nichtehelichen Lebensgemeinschaften zu berücksichtigen sind, vgl. etwa § 122 BSHG.I26

123 124 125

S. oben n 4.

Vgl. SchuJÜI (pn. 2), Rdnr. SI.

Im deutschen Kindergeldrecht wirkt sich das Jahreseinkommen auf die Höhe des

Kindergeldanspruches für das zweite und jedes weitere Kind aus, vgl. §§ 10, 11 BKGG. Zur Anrechnung des Einkonunens beim Erziehungsgeld ab dem 7. Lebensmonat s. § S Bundeserziehungsgeldgesetz. 126 Zur Anrechnung von Einkommen des nichtehelichen Lebenspartners auf die Arbeitslosenhilfe vgl. Bundesverfassungsgericht, Neue Zeitschrift für Sozialrecht 1993, S. 72 (1S ff.).

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V. Ausgestaltungen von Leistungsansprüchen Die Funktionsfähigkeit eines Systems der sozialen Sicherung hängt nicht nur von Entscheidungen über Grundfragen ab, wie sie vorstehend angesprochen worden sind Vielmehr kommt es darüber hinaus auf eine sachgerechte Einzelausgestaltung insbesondere der Leistungsansprüche - aber keineswegs nur dieser - an. Daher sollen abschließend noch einige Aspekte zu dieser Thematik angesprochen werden, wobei ausschließlich das deutsche Sozialrecht berücksichtigt wird. I. Ansprucbsbegrenzungen

a) Sozialrecht soll "sozial" ausgestaltet sein, aber keine unnötigen und vor allem keine mißbräuchlichen Inanspruchnahmen ermöglichen. Um dem Rechnung zu tragen, stehen dem Sozialversicherungsrecht einige Techniken bzw. Instrumente zur Verfügung. Dazu zählen etwa Vorversicherungs- und Wartezeiten. Dabei ist grundsätzlich zwischen Pflicht- und freiwilliger Versicherung zu unterscheiden. Soweit das Gesetz Versicherungspflichten vorsieht, besteht wenig Gestaltungsspielraum. Insbesondere sind grundsätzlich keine Risikoausschlüsse - z.B. in der Krankenversicherung wegen Vorerkrankungen zulässig. Denn sonst würden die Betroffenen zur Vermeidung von Sicherungslücken gezwungen sein, neben der Sozialversicherung noch privaten Versicherungsschutz zu organisieren und zu finanzieren. Das schließt Ausnahmen für gewisse Sachverhaltskonstellationen nicht aus. So hat die Rechtsprechung seit langem die Begründung eines Versicherungsverhältnisses bei einem sog. miß.glückten Arbeitsversuch verneint, wenn nämlich der Betreffende bereits bei Beginn einer Beschäftigung - sei es auch unerkannt - arbeitsunfähig war (z.B. aufgrund einer offenen Lungentuberkulose) und die Tätigkeit noch vor Ablauf einer wirtschaftlich ins Gewicht fallenden Zeit beenden muß.1 27 Von dieser Rechtsprechung werden insbesondere auch Fälle eines mißbräuchlichen "Erschleichens" von Krankenversicherungsschutz erfaßt 128 Viele Fragen stellen sich bei der freiwilligen Versicherung. Sie spielt in der Krankenversicherung vor allem in Form der freiwilligen Weiterversicherung (§ 9 Abs.l Nr.l SGB V) eine Rolle, wenn die Voraussetzungen für eine Pflichtversicherung entfallen (z.B. wegen Beendigung der versiche177 Vgl. Bundessozialgericht, in: Sozialrecht-Entscheidungssammlung (SozR) 2200 § 165 Nr. 2 und 33; SozR § 306 Nr. 13 und 14. Näher 111m mißglückten Arbeitsversuch Georg Mengert, in: Horst PeterslGeorg Mengert, Handbuch der Krankenversicherwtg, Teil II - Sozialgesetmuch V, § 5, Rdnr. 107 ff., sowie SchuJin (Fn. 2), Rdnr. 91 ff. 128 Vgl. auch Gerhard DalichaulPeler Schiwy, Geset:diche Krankenversicherung Sozialgesetzbuch (SGB) Fünftes Buch (V), Loseblattwerlc, § 5 Anm. II 1.9 (S. 24 f.).

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rungspflichtigen Beschäftigung). Wen das Gesetz einmal in die Sozialversicherung gezwungen hat, den darf es später nicht auf privaten Versicherungsschutz verweisen, der in höherem Alter vielleicht gar nicht mehr, jedenfalls aber nur noch zu entsprechend hohen Entgelten zu haben ist. Allerdings sind hier gewisse Mißbrauchsmöglichkeiten gegeben. So kann ein Beschäftigungsverhältnis ausschließlich zu dem Zweck begonnen werden, um auf diese Weise versicherungspflichtig zu werden, das Beschäftigungsverhältnis anschließend baldmöglichst wieder zu beenden und die gesetzliche Krankenversicherung sodann freiwillig fortzusetzen. Dem läßt sich dadurch zulässigerweise vorbeugen, daß das Recht zur freiwilligen Weiterversicherung an gewisse Vorversicherungszeiten geknüpft wird (§ 9 Abs. 1 Nr. 1 SGB V). Üblich sind Wartezeiten in der Rentenversicherung, vgl. etwa § 35 Nr. 2 SGB V. Das Versicherungsprinzip, das auch und gerade für diesen Sozialversicherungszweig gilt, verlangt es, daß Ansprüche gegen einen Versicherungsträger erst entstehen, wenn der Versicherte eine Mindestversicherungszeit zurückgelegt hat, der Versichertengemeinschaft also eine Mindestzeit angehört und mit seinen Beiträgen zu deren Leistungsfähigkeit beigetragen hat. Teilweise sieht das Gesetz darüber hinaus vor, daß eine Pflichtversicherung für eine gewisse Mindestdauer in engem zeitlichen Zusammenhang vor Eintritt des Versicherungsfalles bestand, nämlich für Ansprüche auf Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrente. Danach genügt es nicht, daß z.B. ein 50jähriger Versicherter, der Erwerbsunfähigkeitsrente begehrt, bereits in jungen Jahren die allgemeine Wartezeit von fünf Versicherungsjahren erfüllt hat, wenn er nicht auch vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit der Versichertengemeinschaft angehörte, § 44 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI. Eine Besonderheit gilt weiter für den Fall der Pflichtversicherung auf Antrag für selbständig Erwerbstätige, bei der es sich um eine spezielle Form der freiwilligen Rentenversicherung handelt, die - dies ist das Entscheidende - leistungsrechtlich in jeder Hinsicht der "echten" Pflichtversicherung (von abhängig Beschäftigten) gleichgestellt ist Hier macht das Gesetz die Versicherungsberechtigung davon abhängig, daß sich der Betreffende nicht allzu spät für die Rentenversicherung entscheidet, indem von ihm eine AntragsteIlung innerhalb von fünf Jahren nach Aufnahme der selbständigen Tätigkeit verlangt wird, § 4 Abs. 2 SGB VI. b) Für das Sozialversicherungsrecht bestand von Anfang an die grundsätzliche Frage, ob und in welchem Umfang Leistungen gemindert oder sogar ganz ausgeschlossen werden sollen, wenn der Eintritt eines Versicherungsfalles auf persönlichem Fehlverhalten des Versicherten beruht Hier muß ein angemessener Ausgleich zwischen den Interessen des Versicherten und denen der Versichertengemeinschaft erreicht werden. Einen entsprechenden Grundsatz, wie er im Privatversicherungsrecht gilt und demzufolge der Versicherungsschutz ent-

Techniken ood Instrumente

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fällt, wenn der Versicherungsnehmer den Versicherungsfall vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt hat (§ 61 Versicherungsvertragsgesetz), kennt das Sozialversicherungsrecht nicht Der Schutz in bezug auf allgemeine Lebensrisiken wie Krankheit, Alter usw. soU hier aus sozialen Gründen weiterreichen und i.d.R. nicht an menschlichem Fehlverhalten scheitern. Der durch die Sozialversicherung angestrebte soziale Schutz wäre in wesentlicher Hinsicht verkürzt, wenn nicht auch bei Selbstverschulden der Versicherten Leistungsansprüche in Betracht kämen. Deshalb sind nur in Fällen schweren Verschuldens Leistungskürzungen oder -ausschlüsse vorgesehen, wobei sehr differenzierte Regelungen bestehen. Im Krankenversicherungsrecht etwa sind die Gesundheitsleistungen zunächst in jedem Fall zu gewähren. Die Krankenkasse kann jedoch Versicherte, die sich eine Krankheit vorsätzlich oder bei einer Kriminaltat zugezogen haben, an den Kosten der Leistungen in angemessener Höhe beteiligen, § 52 SGB V. Das Krankengeld darf sie in solchen Fällen darüber hinaus von vornherein ganz oder teilweise versagen, § 52 SG B V. Im Unfallversicherungsrecht ist eine noch enger gefaßte Regelung vorgesehen. Danach können Leistungen (aller Art) nur ganz oder teilweise versagt werden, wenn der Versicherte den Arbeitsunfall beim Begehen einer Handlung erlitten hat, die nach rechtskräftigem strafgerichtlichem Urteil ein Verbrechen oder vorsätzliches Vergehen darstellt, § 554 RVO. Auch das Rentenversicherungsrecht kennt schließlich einschlägige Ausschlußbestimmungen, §§ 103 ff. SGB VI. Große praktische Bedeutung kommt Leistungsbeschränkungen im Arbeitslosenversicherungsrecht zu, weil der Eintritt von Arbeitslosigkeit nicht selten durch den einzelnen Versicherten herbeigeführt bzw., obwohl möglich, nicht vermieden worden ist Für eine Reihe typischer Fälle sieht das Gesetz daher sog. Sperrzeiten vor, in denen kein Arbeitslosengeld gezahlt wird, z.B. dann, wenn der Arbeitslose das Beschäftigungsverhältnis aus freien Stücken gelöst oder wenn er durch ein arbeitsvertragswidriges Verhalten Anlaß zur Lösung des Beschäftigungsverhältnisses gegeben und dadurch vorsätzlich oder grob fahrlässig die Arbeitslosigkeit herbeigeführt hat, § 119 AFG.129 Den geringsten Spielraum für Leistungsbeschränkungen hat der Gesetzgeber im Sozialhilferecht, weil der Staat auch demjenigen, den an seiner Notlage schwerstes Eigenverschulden trifft, nicht das zum Leben unbedingt Notwendige vorenthalten darf, § 125 BSHG.

129 Daneben konunt der bei ooentschuldigtem Venäumen eines Meldetermins (§ 132 AFG) eintretenden Säumniszeit nach § 120 AFG Bedeutoog bei der "venicherungsrechtlichen" Bekämpfung des Leisttmgsmißbrauchs - z.B. durch Arbeitslosengeldempfänger, die infolge Auslandsaufenthaltes nicht verfügbar sind - Bedeuttmg zu. Im Gegensatz hierzu dient etwa § 231 Abs. 1 Nr. 4 AFG der strafrechtlichen (im weiteren Sinne) Verfolgung des Leistungsmißbrauchs.

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2. Lelstungs- und Beltragsdynamlsierungen

Steigerungen der wirtschaftlichen Leistungskraft einerseits und unaufhaltsamer Kaufkraftverlust des Geldes andererseits weisen alle Volkswirtschaften Westeuropas auf. Soll das Niveau der sozialen Sicherung in bezug auf die Geldleistungen der Entwicklung des allgemeinen Lebensstandards folgen, läßt sich dies prinzipiell auf zweierlei Weise erreichen. Entweder müssen die Leistungen in mehr oder weniger kurzen Abständen durch den Gesetzgeber an die wirtschaftliche Entwicklung angepaßt werden, oder die Sozialgesetze sehen bereits selber Anpassungen der Leistungen durch entsprechende Dynamisierungsklauseln vor, die nur noch von der Sozialverwaltung vollzogen zu werden brauchen. Während Sozialleistungssysteme in ihren Frühphasen i.d.R. den ersten Weg gehen, findet im Laufe der Zeit meist ein Übergang zur Alternative der automatischen Anpassung statt. Dasselbe gilt notwendigerweise für das Beitragsrecht. Besondere Bedeutung kommt diesem Problem naturgemäß für die langfristigen Geldleistungen, also für die Renten (§ 65 SBG VI), zu, weniger dagegen etwa für das Krankengeld; dennoch sieht das deutsche Recht auch für dieses eine Anpassung vor, § 47 Abs. 5 SGB V. 3. Originäre und abgeleitete Lelstungsansprucbe

Das gesetzliche Krankenversicherungsrecht unterscheidet heute zwischen beitragspflichtigen Stamm- und beitragsfreien Familienversicherten. Nimmt ein Arbeitnehmer eine abhängige Beschäftigung auf, kommt es aufgrund der Versicherungspflicht zur Begründung einer Mitgliedschaft in der für ihn zuständigen Krankenkasse. Diese Mitgliedschaft berechtigt den Versicherten zum einen zur Teilnahme an den Wahlen in der Selbstverwaltung und führt zum anderen zum Entstehen des Versicherungsverhältnisses, das seinerseits wiederum Beitragspflichten und Beitragsansprüche zur Folge hat 130 Leistungsansprüche können für den Versicherten jedoch nur entstehen, wenn sich in seiner Person ein Versicherungsfall realisiert. also er krank oder arbeitsunfähig wird, nicht dagegen, wenn dies auf seinen Ehegatten oder auf seine unterhaltsberechtigten Kinder zutrifft. Für diese werden, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind, eigenständige Versicherungsverhältnisse begründet, die sich rechtlich von dem Rechtsstatus des Stammversicherten unterscheiden. Zunächst werden die Familienversicherten nicht Mitglieder der Krankenkasse, so daß ihnen auch kein Wahlrecht in der Selbstverwaltung zusteht Weiter treffen sie keine Beitragspflichten. Wohl aber entstehen bei Eintritt eines Versicherungsfalles in ihrer Person die entsprechenden Leistungsansprüche. 131 Dies ist in Deutschland 130 S. 131

SchuJin (Fn. 2), Rdnr. 164. Karl Ptters, in: Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht (Fn. 85), § 10 Rdnr. 32.

Techniken Wld Instrumente

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erst seit wenigen Jahren in dieser Weise geregelt, während vorher Rechtsträger der Leistungsansprüche für Familienversicherte der Stammversicherte war, § 205 RVO a.F. In praktischer Hinsicht sind freilich keine wesentlichen unterschiedlichen Auswirkungen gegeben. Entscheidend ist jedoch der rechtliche Umstand, daß der Bestand von Familienversicherungsverhältnissen nach wie vor vom Bestand der Stammversicherungsverhältnisse abhängig, also von diesen abgeleitet ist Beendet ein versicherungspflichtiger Arbeitnehmer sein Beschäftigungsverhältnis und versichert er sich nicht freiwillig fort, erlischt sein Mitgliedschafts- und Versicherungsverhältnis mit der Folge, daß auch die Familienversicherungsverhältnisse seines Ehegatten und seiner Kinder beendet werden. Für diese Personen greift jedoch der bereits erwähnte Grundsatz ein, daß ehemals Versicherte regelmäßig das Recht zur freiwilligen Weiterversicherung haben, § 9 Abs. 1 Nr. 2 SGB V. Abgeleitete Versicherungsverhältnisse und Leistungsansprüche gibt es außer in der Unfallversicherung (§§ 589 ff. RVO) - auch im Rentenversicherungsrecht, nämlich für die Hinterbliebenen, §§ 46 ff. SGB VI. Eine Besonderheit stellt in diesem Zusammenhang der sog. Versorgungsausgleich dar. Insbesondere im Falle der Scheidung werden die von den Ehegatten bis zu diesem Zeitpunkt erworbenen Rentenanwartschaften in der Weise zwischen ihnen ausgeglichen, daß derjenige mit den höheren Anwartschaften solche im Umfang von 50 % der Differenz an den anderen abzugeben hat Diese werden dann entweder Anwartschaften aus einem bereits bestehenden eigenen Versicherungsverhältnis des Ausgleichsberechtigten zugeschlagen oder es wird für diesen sogar erstmalig ein neues Versicherungsverhältnis begründet, § 8 Abs.l Nr.2 SGB VI. In jedem Falle werden damit künftige (abgeleitete) Ansprüche auf Hinterbliebenenrenten beim Tod des früheren Ehegatten ausgeschlossen. VI. Ausblick

Wie bereits eingangs betont, konnte vorstehend nur eine Auswahl von Techniken und Instrumenten der sozialen Sicherungssysteme skizziert werden. Wesentlich ist, daß sie nie Selbstzweck sind, sondern stets bestimmten Funktionen dienen oder jedenfalls dienen sollen. Da diese Funktionen in vielfältiger Weise voneinander abhängen, gilt Entsprechendes notwendigerweise auch für die Techniken und Instrumente. Ihre Auswahl und Ausgestaltung ist daher nicht beliebig. Nicht selten bestehen Abhängigkeiten auch von außersozialrechüichen Bereichen, etwa des zivilen Haftungs- oder Unterhaltsrechts. Daher ist besoodere Vorsicht bei Kombinationen von einzelnen Techniken und Instrumenten aus verschiedenen Rechtsbereichen geboten.

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Bei Neu- oder Umgestaltungen von sozialen Sicherungssystemen müssen stets zunächst die materiellrechtIichen Ziele bestimmt werden, bevor die Entscheidung über die Techniken und Instrumente zu treffen ist Andererseits dürfen bei der Entscheidung über die materiellen Zielsetzungen im Hinblick auf deren Realisierbarlceit die zur Verfügung stehenden Techniken und Instrumente nicht außer Betracht bleiben. Die einzelnen Techniken und Instrumente als Teile des Gesamtsystems und dieses in seiner Abhängigkeit von jenen zu sehen, stellt, zumal bei stark ausdifferenzierten gesetzlichen Regelungen, eine schwierige Aufgabe dar, der jedoch nicht ausgewichen werden darf.

Regelungsinstrumente der sozialen Sicherung in der Slowakei von Jan MatWc Die in der Tschechoslowakei nach dem 17. November 1989 angefangenen Reformen bedeuten grundlegende Änderungen im politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bereich. Der Übergang von der Zentralplanwirtschaft zur Marktwirtschaft erfordert eine grundsätzliche Umgestaltung aller wirtschaftlichen und sozialen Einrichtungen. Einen Bestandteil dieser Änderungen in allen Sphären des wirtschaftlichen Lebens bilden die Verfahren, die aus dem neuen Denken hervorgehen. Ihre Aufgabe ist es, die gesellschaftlichen Systeme den neuen Bedürfnissen anzupassen. In den wirtschaftlichen Systemen verändern sich die Regeln zugunsten der Selbständigkeit, Selbstfinanzierung und Selbstverwaltung von wirtschaftlichen Organisationen - die Wirtschaftsreform wird verwirklicht. Die Wirtschaftspraxis jedoch bagatellisiert oft die Bedeutung der sozialen Aspekte der Wirtschaftsreform. Die ersten Reformschritte zeigen, daß die Verwirklichung der Reform ihre eigenen sozialen Voraussetzungen, Bedingungen, Begleiterscheinungen und Folgen hat, die zum Hindernis oder zu einem kritischen Punkt der gesellschaftlichen Akzeptanz der wirtschaftlichen Änderungen werden könnten. Eines der Begleitmerkmale der politisch-wirtschaftlichen Umgestaltung unserer Gesellschaft ist das ständige Steigen der Lebenshaltungskosten. Seine negativen Konsequenzen ergreifen unmittelbar die sozial schwächsten Gruppen der Bevölkerung, d.h. junge Familien, Familien mit Kleinkindern und Rentner. Aus diesem Grund wird der Bereich der sozialen Sicherung zur Zeit als einer der empfindlichsten Bereiche betrachtet. Er heeinflußt stark den Lebensstandard der genannten Bevölkerungsgruppen, denen Sozialleistungen im Rahmen der Kranken- oder Rentenversicherung gewährt werden. Der Übergang von der Zentralplanwirtschaft zu einer sozialen Marktwirtschaft verlangt selbstverständlich auch eine neue Auffassung der sozialen Sicherung. Die soziale Sicherung kann heutzutage als eine Gesamtbezeichnung für alle Sozialeinrichtungen betrachtet werden. Diese Institutionen gewähren den Bürgern Geld- oder Sachleistungen, Dienstleistungen, Vorbeugung, Gesundheitspflege in Anstalten oder auch Beratungsdienste. All dies dient zur Befriedigung ihrer sozialen, durch die Gesellschaft anerkannten Bedürfnisse.

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Früher wurde ununterbrochen die Bedeutung der tschecho-slowakischen sozialen Sicherung hervorgehoben; es wurden ihre Vorteile im Unterschied zu der sozialen Sicherung in anderen Ländern, vor allem in den Ländern mit einem kapitalistischen gesellschaftlich-wirtschaftlichen System, unterstrichen. Es wurde hauptsächlich ihre Offenheit für die gesamte Bevölkerung und die Einheitlichkeit ihrer Organisation hervorgehoben. Auch wurde betont, daß sie das Verdienstprinzip zur Geltung brachte. Dieses Prinzip wurde durch einen sozialen Aspekt der Bedürftigkeit modifiziert. In Wirklichkeit war es jedoch ein Zuteilungssystem mit absoluten Höchstund Mindestwerten, wobei die Entwicklung der sozialen Sicherung, hauptsächlich des Leistungssystems bzw. der Höhe der Leistungen, dem schnellen Wachstum der Preise und Löhne nicht mehr entsprach. Die langjährige Wirkung staatlicher Bevormundung führte zu einer sozialen Passivität, die die Erwartung der staatlichen Hilfe und Garantien bedeutete. Charakteristisch für das soziale Bewußtsein der Menschen waren Egalitarismus und Ablehnung sozialer Unterschiede. Die Sozialpolitik wirkte egalitär und deformierte die sozialen Verhältnisse. Deshalb war es notwendig, parallel zur Wirtschaftsreform auch den gesamten Bereich der Sozialpolitik grundlegend zu reformieren. Es muß erreicht werden, daß die Sozialpolitik ihren Einfluß dahingehend verändert, daß sie sowohl den Einzelnen als auch die sozialen Gruppen zur Aktivität, zur sozialen Unabhängigkeit und zur Verantwortung für ihre eigene soziale Lage führt. Gleichzeitig sollen die notwendigen sozialen Garantien und der Sozialschutz festgelegt werden, die künftig denjenigen gewährt werden sollen, die sie tatsächlich benötigen. Die sozialpolitische Reformaufgabe in der Slowakischen Republik ist der Übergang von der zentralen Direktivleitung zu einer demokratischen, dezentralisierten Verwaltung, der Übergang von der staatlichen Bevormundung zur Bürgerbeteiligung und der Übergang vom staatlichen Monopol zur Liberalisierung von sozialen Aktivitäten. Ob es gelingt, dieses Ziel zu erreichen, wird die (nahe) Zukunft zeigen. Das gegenwärtige System der sozialen Sicherung in der Slowakischen Republik schließt drei Hauptbereiche ein, wobei die Aufgabe des Staates in den einzelnen Bereichen grundsätzlich verändert wird. Zu diesen Bereichen gehören die soziale Versicherung, die staatliche soziale Versorgung und die soziale Fürsorge. Zusätzlich stellt sich als neues Problem die Sicherung gegen das Risiko der Arbeitslosigkeit dar. Hierauf werde ich am Ende gesondert eingehen.

Soziale Sicherung in der Slowakei

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1. Die soziale Versicherung Zu der Hauptänderung im Bereich der sozialen Sicherung kam es am

1. Januar 1993. An diesem Tage ist das Gesetz des nationalen Rates der

Slowakischen Republik über die Gründung der Nationalversicherungsanstalt und über die Finanzierung von Gesundheitspflege, Kranken- und Rentenversicherung in Kraft getreten. Die bisherige staatliche Gesundheitspflege und die staatliche Kranken- und Rentenversicherung sind durch ein System demokratisch verwalteter Fonds ersetzt worden. Diese Fonds sind vom Staatshaushalt getrennt Aufgrund dieses Gesetzes wurde die Nationalsversicherungsanstalt geschaffen, die Träger der Gesundheitspflege sowie der Kranken- und Rentenversicherung ist Sie errichtet hierfür den Fonds der Gesundheitsversicherung, den Fonds der Krankenversicherung und den Fonds der Rentenversicherung (vgl. Gesetz Nr. 7/1993). Aus dem Fonds der Gesundheitsversicherung fmanziert die Nationalversicherungsanstalt die nötige Gesundheitspflege, d.h. primäre, sekundäre und folgende Heil- und Vorbeugungspflege, Gesundheitspflege für Schwerbeschädigte, Schwerbehinderte und Unfruchtbare. Die Bedingungen und den Umfang der notwendigen Gesundheitspflege regelt die Heilordnung, über die zur Zeit immer noch bemten wird. Diese Heilordnung regelt auch die Bedingungen und den Umfang der fachärztlichen Behandlung einschließlich der Gewährung von Arzneimitteln, Sanitätshilfsmitteln und Sanitätsartikeln, sie regelt die Art, wie der Erkrankte krank geschrieben wird, die Beförderung der Kranken in die Heilanstalten und die Reisekostenvergütung der Versicherten. Die Heilordnung regelt auch die Höhe der Kosten für unvermeidliche und unverzügliche Gesundheitspflege, die außerhalb des Gebietes der Slowakei gewährt wird. Unter dem Begriff Gesundheitsversicherung wird eine Versicherung verstanden, aufgrund derer Gesundheitspflege sowohl bei der Krankheits- und Unfallvorbeugung als auch im Falle der Kmnkheit und des Unfalls gewährt wird. Aus dem Fonds der Krankenversicherung fmanziert die Nationalversicherungsanstalt die Krankenversicherungsrente, die eng mit der Gewährung von Arbeitslohn zusammenhängt bzw. als eine Leistung, die den Arbeitslohn ersetzt, verstanden wird. Es handelt sich um das Krankengeld, um die Beihilfe bei der Betreuung eines Familienangehörigen, um das Mutterschaftsgeld und um die staatlichen Ausgleichszuschüsse in der Schwangerschaft und Mutterschaft Das Krankengeld wird dem Versicherten als die obligatorische Leistung während seiner Arbeitsunfähigkeit wegen eines Unfalls oder einer Krankheit auf die Dauer von einem Jahr gewährt. Fakultativ kann das Krankengeld noch ein weiteres Jahr gewährt werden. Die Beihilfe bei der Betreuung eines Fami-

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lienangehörigen wird dem Versicherten bei der Erkrankung eines Angehörigen bzw. in den gesetzlich festgelegten Fällen auch bei der Fürsorge für ein gesundes Kind bis zum Alter von 10 Jahren gewährt Eine versicherte Mutter erhält während ihres Mutterschaftsurlaubs Mutterschaftsgeld, und zwar 90 % ihres Nettoarbeitsentgelts für die Dauer von 28 Wochen, alleinstehende Mütter für die Dauer von 37 Wochen. Die Versicherte, der wegen ihrer Schwangerschaft und Mutterschaft eine andere Arbeit zugeteilt worden ist, erhält einen Schwangerschafts- und Mutterschaftsausgleich. Die Nationalversicherungsanstalt finanziert aus dem Rentenversicherungsfonds Ruhegelder, Versorgungsrenten, Teilversorgungsrenten, Renten für besondere Berufsgruppen wie z.B. Piloten, Witwen- und Witwerrente sowie Waisengeld. Aus dem gleichen Fonds werden fmanziert: die automatische Rentenerhöhung bei Bezug von nur einer Rente, Valorisierung des Ruhegeldes, höhere Rente für Kriegs- und Widerstandsopfer, Rehabilitierte sowie körperlich und geistig Behinderte. Alle diese Fälle werden jedoch aus öffentlichen Mitteln fmanziert Zu den Einnahmen der neugegründeten Nationalversicherungsanstalt gehören vor allem Versicherungsbeitragszahlungen, staatliche Subventionen, eigene Quellen, die durch die Anlage der Mittel des Versicherungsanstaltsfonds entstanden sind, Versicherungszuschläge, Geldbußen und Geldstrafen. Zu den Ausgaben gehören natürlich Kostenersatz für notwendige Gesundheitspflege, Leistungen der Kranken- und Rentenversicherung, Kostenerstattung für Leistungen anderer Versicherungsanstalten und Kostenerstattung bei unvermeidlicher und unverzüglicher Heilbehandlung im Ausland. Versicherungspflichtig sind laut Gesetz über die Nationalversicherungsanstalt Arbeitnehmer, Arbeitgeber, Selbständige, mitarbeitende Familienangehörige und in bestimmten Fällen der Staat. Der Staat zahlt die Versicherungsbeiträge vor allem für die minderjährigen Kinder, für die Frauen während ihres Mutterschaftsurlaubs und zusätzlichen Urlaubs, für die Rentner aus der Rentenversicherung und für die Arbeitslosen, so lange sie als Arbeitssuchende bei einem Arbeitsamt registriert sind. Handelt es sich um die Leistungen für die Gesundheits-, Kranken- und Rentenversicherung, so zahlt der Arbeitnehmer 11 % der Bemessungsgrundlage, der Arbeitgeber 35 % der Lohnsumme. Die Selbständigen und die mitarbeitenden Familienangehörigen zahlen Versicherungsbeträge in Höhe von 46 % der Bemessungsgrundlage. Durch die Verabschiedung des Gesetzes über die Gründung der Nationalversicherungsanstalt wurde in der Slowakei die Zwangsversicherung eingeführt, d.h. die vom Staat vorgeschriebene Sicherung. Ich bin jedoch der Mei-

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nung, daß in nächster Zukunft Ergänzungsfonnen von Versicherung und Zusatzversicherung zu schaffen sind. Es ist auch über die Möglichkeit der Privatversicherung und der freien Wahl des Versicherungsträgers seitens des Versicherten nachzudenken. Die Möglichkeit der freien Wahl der Versicherungsanstalt würde einen erforderlichen Konkurrenzdruck ausüben, unter dem die Versicherungsanstalten mehr stimuliert würden und zu Gunsten der Versicherten arbeiteten. Wie ich schon erwähnt habe, waren früher die Gesundheitspflege, Krankenund Rentenversicherung Formen der staatlichen Sicherung, die direkt aus dem Staatshaushalt finanziert wurden. Diese Konzeption der staatlichen sozialen Sicherung, die in den 50er und auch in der ersten Hälfte der 60er Jahre in Übereinstimmung mit damals überwiegenden Vorstellungen über die Gesellschaftsordnung und über die Steuerung der wirtschaftlichen und sozialen Prozesse konzipiert wurde, entspricht nicht mehr den jetzigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Vorstellungen. Durch die gesetzlichen Regelungen wurden damals in den Sozialbereich die zum Sozialismus führenden Elemente eingeführt. Sie griffen sachwidrig in die eigentliche Substanz des Versicherungssystems ein. In den 50er und 60er Jahren wurden Maßnahmen getroffen, durch die das Sozialversicherungsschema zum Sozialsicherungsschema verändert wurde. Im Bereich der Krankenversicherung wurde das Gesetz über die Krankenversicherung der Angestellten verabschiedet, das mit einer Reihe von Änderungen seit dem Jahre 1956 bis heute gültig ist. Im Rahmen unserer Rechtsordnung gehört dieses Gesetz zu den am längsten geltenden Rechtsvorschriften. Dasselbe betrifft auch weitere rechtliche Regelungen im Bereich der sozialen Sicherung. Demzufolge wurden nur in zwei Bereichen der sozialen Sicherung Teilnovellen erlassen. Es kommt aber häufig vor, daß einzelne Vorschriften in der ganzen sozialen Sphäre vielfach novelliert werden, was natürlich zu einer Komplizierung von Rechtsvorschriften führt. Diese Situation verhindert die Grundorientierung im Bereich der sozialen Sicherung, hauptsächlich in der Krankenversicherung. Sie erschwert die Orientierung der Krankenversicherungsangestellten in den Betrieben und in den Institutionen der sozialen Sicherung. Auslegung und Vollzug der Vorschriften sind einem kleinen Kreis von Fachleuten vertraut. Die gegenwärtige Verfassung der sozialen Sicherung ist vom legislativen und legislativ-technischen Standpunkt aus betrachtet ziemlich kompliziert. Aus diesem Grunde muß zugleich mit der Änderung der Prinzipien der sozialen Sicherung auch die Refonn des Rechts der sozialen Sicherung verwirklicht werden. Die Flexibilität und die Notwendigkeit der Änderungen erfordern auch die Umwertung von existierenden Leistungen der sozialen Sicherung. 15 von Maydell/Hohnerlein

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Die Tendenzen im Bereich der sozialen Sicherung, zu denen es in der Vergangenheit kam, können nicht generell negativ beurteilt werden. Zu den positiven, wenn auch immer noch verbesserungswürdigen Tendenzen der vergangenen Zeitperiode gehören die Tendenzen zur "Gleichstellung" von Mann und Frau sowohl im Bereich der Rentenversicherung (Witwen- und Witwerrente wurden eingeführt), als auch im Bereich der Krankenversicherung (obligatorische Gewährung von Geldleistungen für männliche Versicherte, wobei diese Leistungen die gleichen sind wie die in der Mutterschaft). Zur vollständigen "Gleichstellung" kam es bei der Gewährung von Erziehungsgeld, das zwar keine Leistung der Krankenversicherung ist, aber mit der Krankenversicherung eng zusammenhängt. Durch die Annahme des Gesetzes über das elterliche Erziehungsgeld wurden Vater und Mutter zu gleichberechtigten Subjekten, was die Geltendmachung des Anspruchs auf das Erziehungsgeld angeht 2. Die staatliche soziale Versorgung Das oben genannte Erziehungsgeld gehört zusammen mit weiteren Leistungen (der staatliche Familienlastenausgleich, der Versorgungsbeitrag, die Soldatenversorgung für die Benutzung der Wohnung) zu dem Bereich der staatlichen sozialen Versorgung. Bei den nächsten Gesetzesänderungen werden in diesen Bereich auch solche Leistungen einbezogen werden, die zu der Kranken- oder Rentenversicherung gehören. Es handelt sich Z.B. um den Kindergeldzuschlag, um das Kindergeld, um die Unterstützung bei der Geburt des Kindes, um das Sterbegeld, um die Rente für die Ehefrau, die Erhöhung der Rente für Behinderte usw. Im Bereich der staatlichen sozialen Versorgung sind wesentliche Änderungen erforderlich. Es muß vor allem die pauschale, anonyme, nicht differenzierte und dadurch auch nicht wirtschaftliche Versorgung der Familien mit Kindern verändert werden. Sie muß vor allem den Familien mit niedrigem Einkommen zugute kommen. Die Leistungen für Familien, die nicht bedürftig sind, müssen auf ein Minimum beschränkt werden. Gerade aus diesen Gründen ist eine der aktuellsten Aufgaben im Bereich der Sozialpolitik der Gegenwart die Vorbereitung von Grundsätzen über die staatliche soziale Versorgung. Unter dem Aspekt der staatlichen Beteiligung handelt es sich hier um den bedeutendsten Bereich. Während im System der sozialen Versicherung, wie ich schon erwähnt habe, die Verantwortung für die eigene Versorgung auf die Bürger und Arbeitgeber übertragen wird und im System der sozialen Fürsorge (siehe unten) die Hilfe nur einem relativ engen Kreis von Bürgern mit einem Einkommen unter dem Existenzminimum geleistet wird,

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handelt es sich bei der staatlichen sozialen Versorgung um einen Bereich, in dem wichtige soziale Redistributionen realisiert werden. Die Frage der sozialen Redistributionen ist eine der bedeutendsten Differenzierungsfaktoren der Sozialpolitik. 3. Die soziale Fürsorge Im Rahmen der sozialen Sicherung wird in der Slowakei auch soziale Fürsorge gewährt Im Gegensatz zur Sozialversicherung und zur Versorgung sorgt hier der Staat für diejenigen Bürger, deren Lebensunterhalt aus der Arbeitstätigkeit, aus den Leistungen der Renten- oder Krankenversicherung bzw. aus anderen Einkommensquellen nicht ausreichend gesichert ist Der Staat leistet Hilfe auch den Bürgern, die angesichts ihres Gesundheitszustandes oder Alters in eine Notlage geraten sind. Dem Inhalt nach wird in die Sozialfürsorge vor allem die Fürsorge für Familien mit Kindern eingeschlossen, weiter für Schwerbehinderte und Schwerbeschädigte, für alte Mitbürger und für die gesellschaftlich anpassungsunfähigen Bürger. Im Rahmen der Sozialfürsorge handelt es sich dabei um Personen, die nicht anderen Leistungssystemen gegenüber anspruchsberechtigt sind. Die Sozialfürsorge kann in Form von Geldleistungen und Sachleistungen, Beratungs- und Betreuungsdiensten, Wiedereingliederung in das Arbeitsleben usw. erbracht werden. Statt des Begriffs Sozialfürsorge wird immer öfter der Begriff Sozialhilfe verwendet Diese Erscheinung deutet an, zu welchen Änderungen es auch in diesem Bereich kommt Unter diesem Aspekt sind zwei Rechtsnormen von großer Bedeutung, und zwar das Gesetz über die soziale Bedürftigkeit und das Gesetz über das Existenzminimum. Durch diese Gesetze werden die Adressaten von Sozialhilfe defmiert und die Normen für die Beurteilung der sozialen und materiellen Bedürftigkeit festgelegt Es handelt sich um die Hilfe für die Bürger, deren Einkommen unter dem Existenzminimum liegt, und die infolge von Alter, Krankheit oder aus anderen ernsten Gründen nicht in der Lage sind, ihr Einkommen zu erhöhen. Die Sozialhilfe muß so orientiert werden, daß sie zur Wiederherstellung der sozialen Souveränität des Bürgers und nicht zu Passivität und Parasitismus führt. Die Hilfeleistung obliegt den örtlichen Organen, Gemeinden und Städten. 4. Soziale Sicherung bei Arbeitslosigkeit Im Rahmen der sozialen Sicherung kommt es jetzt immer häufiger zu einer neuen Erscheinung: Arbeitslosigkeit Sie ist die Konsequenz der fort-

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schreitenden Umgestaltung unserer Wirtschaft, bei der der Rückgang der Beschäftigung schon spürbar wird Nach dem Jahre 1989 wurden in der tschechischen und slowakischen förderativen Republik die in- und ausländischen wirtschaftlichen Beziehungen von tschecho-slowakischen Unternehmen unterbrochen. Infolgedessen kam es zur Reduzierung von Arbeitsmöglichkeiten. Die Arbeitslosigkeit hat sich in den Jahren 1990 und 1991 erhöht und ist zu einer sozialen Geißel geworden. Am 1. Januar 1993 ist auch das Gesetz über den Beschäftigungsfonds der Slowakischen Republik in Kraft getreten, wodurch der Fonds für die Leistungen an Bewerber um eine Stelle gegründet wird. Er wird auch die Ausgaben für die aktive Beschäftigungspolitik finanzieren, wie z.B. Kostenerstattung für die Errichtung von wirtschaftlich nützlichen Arbeitsplätzen, Umschulung, Beschäftigung von Bewerbern, die in ihrem Arbeitsverhältnis einen besonderen Schutz brauchen usw. Die Mittel des Fonds werden durch Pflichtbeiträge von Arbeitgebern, Selbständigen, mitarbeitenden Familienangehörigen und Arbeitnehmern aufgebracht.

Schlußbetracbtung Damit zeigt sich, daß sich die Aufgabe des Staates im Rahmen der einzelnen Regelungsinstrumente der sozialen Sicherung grundsätzlich verändert. Die Veränderung liegt darin, daß die staatliche Intervention in das Leben des Bürgers und der Familie beschränkt wird, der Staat dem Bürger jedoch dort, wo dessen eigene Kräfte nicht ausreichen, hilft, seine Probleme zu bewältigen. Es handelt sich nicht bloß um eine Deklaration, sondern um eine wirkliche Anspruchsgewährung. Auch in der nächsten Zukunft ist es im Interesse des Staates, ein immer breiteres Spektrum der sozialen Probleme zu lösen. Die Abhängigkeit der Bürger von Sozialleistungen muß reduziert werden. Die entstandenen Schwierigkeiten sollen in der Familie, in den sozialen Gruppen, in den Gemeinden bewältigt werden. Der Staat wird seine Hilfe erst dann leisten können, wenn alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind.

Diskussionsbericht Der Vortrag Matl& regte zu zahlreichen Diskussionsbeiträgen an, die sich mit der Finanzierung sozialer Sicherheit in den Reformstaaten befaßten. Ein weiterer Schwerpunkt dieser Diskussionsrunde lag bei verschiedenen Einzelaspekten eines gegliederten Systems sozialer Sicherung. Zöllner erschien ein Gesamtbeitragssatz von 46 % im Vergleich zur Bundesrepublik Deutschland, wo die genannten Risiken mit nur etwa 30 % abgesichert werden, recht hoch. Ihn interessierte daher das Rentenniveau sowie das Problem, ob es in diesem System eine Kapitalansammlung gebe. Schmähl fügte hinzu, daß das Rentenniveau nur ein Faktor sei. Er könne sich vorstellen, daß der hohe Beitragssatz mit dem in den ehemaligen sozialistischen Ländern häufig anzutreffenden niedrigen Rentenalter zusammenhänge. Anknüpfend an seinen Vorredner wollte er wissen, ob es zur Finanzierung der sozialen Sicherheit bereits heute schon eine Vermögensansammlung gebe, oder ob eine solche erst für die Zukunft geplant sei.

In seiner Antwort erklärte Matlak, daß das Rentenniveau ca. 60 % des Lohnes betrage. Jackowiak ergänzte, daß in Polen die Beitragssätze ähnlich hoch seien. Medaiskis erläuterte, daß in Litauen die vormals ähnlich hohen Beiträge wie in der Slowakei auf 30 % gesenkt wurden, um die Unternehmen zu stärken. Dies führe aber zugegebenermaßen zu Opfern für die Rentner. Er wollte von Mat18k Information darüber, wie in der Slowakei die Auszahlung von staatlichen Leistungen organisiert sei, da dies in Litauen angesichts der unzureichenden Verwaltungsstruktur große Probleme aufwerfe. Zudem interessierte ihn, wie die Slowakei die Frage der Revaluierung von Renten löse.

Nach einer Vermutung von Beattie könnte der hohe Beitragssatz in der Slowakei damit zusammenhängen, daß ein neues System ein gewisses Startkapital und eine Risikoreserve brauche, bis es funktioniere. Zudem sei in der Slowakei die Arbeitslosenquote drastisch gestiegen, so daß diejenigen, die noch über einen Arbeitsplatz verfügten, umso höhere Beiträge entrichten müßten. Telyukov lenkte nochmals das Augenmerk auf die hohen Beitragssätze in der Slowakei. Nach seiner Auffassung seien diese keineswegs so verwerflich, sondern vielmehr im Rahmen der notwendigen Umstrukturierung der Wirtschaft ein geeignetes Mittel, ineffiziente Unternehmen, deren Zahl er für die GUS-Staaten auf mindestens ein Drittel schätze, auszumerzen. Es bestehe kein

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Diskussionsbericht

Anlaß, die Unternehmen zu schonen, da ansonsten der Staat unnötig Subventionen zahle. Hohe Beiträge erlaubten es ihm aber, einen Teil des sozialen Schutzes auf die Betriebe zu externalisieren und so den sozialen Schutz auszuweiten. Berghman stellte die Gegenfrage, wie man verhindern wolle, daß ein Schwarzarbeitsmarkt entsteht oder eine Abwanderung in nicht von der Sozialversicherung erfaßte Tätigkeiten erfolgt Telyukov bestätigte, daß es solche Tendenzen gerade in der ehemaligen Sowjetunion häufig gebe, doch dürfe man dort, wo das Finanzwesen erst im Aufbau sei, nicht die üblichen internationalen Maßstäbe anlegen. Er bekräftigte erneut seine Auffassung, daß der Staat seinen paternalistischen Weg der Verteilung sozialer Wohltaten aufgeben solle.

Jonezyk zählte sechs Gründe für die hohen Beitragssätze in Polen auf. Neben dem bereits angesprochenen niedrigen Rentenalter und der hohen Zahl von Invaliditätsrenten, mit denen seit Jahren, wenn nicht sogar seit Jahrzehnten das Problem der Arbeitslosigkeit gelöst wurde, seien das seiner Meinung nach angesichts der Wirtschaftskraft zu hohe Rentenniveau von 66 % des durchschnittlichen Erwerbseinkommens, der niedrige Beschäftigungsstand, die nicht versicherungsrechtlichen Aufgaben (z.B. Leistungen an Veteranen) und die Steuerlast zu nennen. Ferner gebe es eine beträchtliche Hinterziehung von Beiträgen sowohl im öffentlichen Bereich als auch im privaten Sektor. Der öffentliche Bereich könne oftmals nicht zahlen, weil er bankrott sei und der private Sektor weiche auf illegale Beschäftigungsverhältnisse aus. Skoberne stimmte dieser Einschätzung von Gründen zu und erwähnte für Slowenien außerdem noch die Indexierung der Renten am monatlichen Anstieg der Löhne, sowie das Verhältnis von einem Rentner zu 1,5 beschäftigten Personen. Eingehend auf Pitschas erklärte sie, daß das bislang großzügige Rentenniveau zu reduzieren sei, und daß als Konzeption vor allem Besserverdienende auf die Privatversicherung verwiesen werden sollten. Schließlich käme dies auch der Wirtschaft zugute, da somit über Investmentfonds Kapital für Investitionen gesammelt würde, das ansonsten nicht zur Verfügung stünde. Ein großes Problem für diesen privatversicherungsrechtlichen Ansatz sei aber die hohe Inflationsrate. Pitsehas wies darauf hin, daß sich in der Bundesrepublik Deutschland Privatversicherung und Sozialversicherung kooperativ ergänzten und stellte an Schulin die Frage, inwieweit dieses Gliederungssystem zur Grundlage einer Empfehlung für fortgeschrittenere Staaten des ehemaligen Ostblocks gemacht werden könne. Ausgelöst durch die Ausführungen von Matl3k zum Aufbau einer privaten Krankenversicherung in der Slowakei forschte er nach den tieferen Gründen für das Entstehen von Privatversicherungen. Halte man sie für leistungsfähiger oder mißtraue man einer Vermögensansammlung durch eine staatliche Sozialversicherung? Auch habe MatIak die Rolle des Staates als ambivalent dargestellt Einerseits solle sich der Staat, zumindest teilweise, zurück-

Diskussionsbericht

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ziehen, andererseits habe MatWc die Rolle der Kommunen hervorgehoben. Angesichts der in der Bundesrepublik Deutschland geführten Diskussion über die Finanzierung sozialer Sicherheit, die von der Grenze der Leistungsfähigkeit der Kommunen geprägt sei, stelle sich die Frage, ob nicht eine Verlagerung auf die Kommunen utopisch sei. Schließlich sprach er den derzeitigen administrativen Vollzug der sozialen Sicherheit in der Slowakei an, insbesondere die konkrete Erfüllung der gesetzlich eingeräumten Ansprüche.

Reinhard merkte zum Referat von Schulin zunächst an, daß die Diskussion zum Eigentumsschutz von Vorsorgeanwartschaften nur in Deutschland eine gewisse Rolle spiele und im Ausland eher auf Unverständnis stoße, zumal in einigen Verfassungen (z.B. in der kanadischen) nicht einmal ein allgemeiner Schutz des Eigentums bestehe, geschweige denn ein solcher von Vorsorgeanwartschaften. Dennoch sei selbstverständlich auch in diesen Ländern klar, daß, sofern man sich für ein Sozialversicherungssystem entscheide, mit Beiträgen erworbene Rentenanwartschaften nicht zu einer fmanziellen Manövriermasse der Parteien werden dürften und adäquate Leistungen erbracht werden müßten. Darüberhinaus halte man es für unabdingbar, daß der Wert der erworbenen Anwartschaften zu erhalten sei, insbesondere durch Kompensation des inflationsbedingten Wertverfalls. Außerdem widersprach Reinhard der Meinung, daß eine nach der Verfassung geforderte Grundsicherung nicht im Rahmen der Sozialversicherung erbracht werden könne. Das Beispiel Spaniens, wo man die einkommensabhängigen Grundrenten ganz bewußt an die Sozialversicherung angekoppelt habe, zeige, daß dies funktioniere. Wichtig sei es jedoch zu betonen, daß Grundsicherungen in jedem Fall nicht aus den Sozialversicherungsbeiträgen sondern, wie dies auch bei der deutschen Sozialhilfe geschieht, aus dem allgemeinen Steueraufkommen fmanziert werden müssen.

Ruland griff einen Gedanken von Schulin auf, wonach zunächst, wie in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Krieg bzw. bei der Übertragung des bundesdeutschen Rentenrechts in die neuen Bundesländer, auch in den Reformstaaten eine pauschalere Betrachtungs- und Berechnungsweise Platz greifen sollte. Ausdifferenzierungen seien erst in einem fortgeschritteneren Stadium machbar, denn sie erforderten ein hohes Maß an personeller und technischer Infrastruktur, vornehmlich im Bereich der elektronischen Datenverarbeitung. Zum Referat von Schulin wurde kritisch angemerkt, daß im internationalen Bereich die Terminologie von "Vorsorge", "Fürsorge" und "Versorgung" schon aus übersetzungstechnischen Gründen kaum verwendbar sei. Van Langendonck sprach sich daher dafür aus, die Begriffspaare beitragsbezogene/nicht beitragsbezogene Systeme und einkommensabhängige/nichteinkommensabhängige Systeme zu verwenden.

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Diskussionsbericht

Florek griff die Frage nach den möglichen Empfehlungen an die postkommunistischen Länder für die Entwicklungen in der Zukunft auf. Zunächst sei zu erörtern, wie das System der sozialen Sicherheit angesichts der beschränkten Finanzmittel umgestaltet werden kann und muß. Ferner ist zu überlegen, wie die gesellschaftliche Akzeptanz zu gewinnen ist und schließlich seien die besten organisatorischen und rechtlichen Formen zu finden. In seiner Replik ging Schulin zunächst auf den Beitrag von Pitschas ein. Privatversicherung könne wohl an die Stelle von Sozialversicherung treten. In Deutschland sei dies ja insbesondere bei der Pflegeversicherung diskutiert worden. Doch ergäben sich verfassungsrechtliche Bedenken, wenn bis hin zum Finanzierungsmodus alles gesetzlich vorgeschrieben werde. Diese rechtlichen Rahmenbedingungen seien es auch, die, eingehend auf die Anmerkungen von Reinhard, bei der Ausgestaltung von Leistungen zu beachten seien. So könne sich etwa bei der Ausgestaltung einer Grundsicherung im Rahmen einer Sozialversicherung die Frage der Exportpflichtigkeit von Leistungen nach supranationalem Recht wie dem EG-Recht stellen. Van Langendoncks Vorschlag, den Rückgriff der Sozialversicherung auf die Haftpflicht abzuschaffen, führe in der Konsequenz zu einer völligen Beseitigung des bisherigen zivilrechtlichen Haftungssystems mit der dahinterstehenden Haftpflichtversicherung. Er gestand zu, daß die in Deutschland verwendete Terminologie nur schwer übertragbar sei, doch werde die von Van Langendonck vorgeschlagene Vereinfachung nicht der Differenzierung gerecht, die sich im Laufe langer Jahre herausgebildet habe und die eben noch andere, teils sehr grundlegende Dinge zum Ausdruck bringe, etwa die Ursachenbezogenheit im Bereich der sozialen Entschädigung oder die Unterscheidung, ob der Familienlastenausgleich im Bereich der Sozialversicherung oder außerhalb dieser angesiedelt sei. Abschließend betonte er, anknüpfend an die Ausführungen von Ruland. daß es kein "Entweder-Oder" zwischen kurzfristigen Maßnahmen und langfristigen Strategien gebe, sondern daß kurzfristige Maßnahmen möglichst im Hinblick auf eine Systementscheidung in langfristiger Perspektive getroffen werden sollten. Dann könne eine gröbere Typisierung getroffen werden, die sich beispielsweise an den administrativen Gegebenheiten orientiert. So werde ein Maximum an Systemkonformität gewährleistet. Systembrüche seien, wie auch Beispiele aus Deutschland zeigten, nicht immer auszuschließen, doch sollten sie weitestgehend vermieden werden, da sie sich rächen und eine Reihe von Folgeproblemen nach sich ziehen.

Hans-Joachim Reinhard

Leistungsarten und Leistungsformen von Bernd Schulte Vorbemerkung: Definitorisches 1. Rechtlich 2. Ökonomisch!sozialpolitisch!sozial-administrativ 11. Leistungen als Instrumente sozialer Sicherung 1. Sozialpolitische Grundannahmen 2. Leistungen: Einteilung und Ausgestaltung durch Leistungsrecht und Leistungserbringungsrecht 3. "Einkommensstrategie" und "Dienstleistungsstrategie" a) Geldleistungen b) Sach- und Dienstleistungen (1) Erstattungsprinzip (2) Sachleistungsprinzip c) SpezifIka der "Dienstleistungsproduktion" d) Rechtliche Regelungsprobleme sozialer Dienstleistungen 4. "Zwischen Staat und Markt": Die Rolle ehrenamtlicher sozialer Dienstleistungen, der Selbsthilfe, freigemeinnütziger Vereinigungen u.a. III. Sozialleistungen: Verfahren, Mitwirkung und -bestimmung (Wahlrecht) des Leistungsnehmers/-berechtigten IV. Schlußbemerkung: kein "Königsweg" zur sozialen Sicherheit I.

I. Vorbemerkung: Definitorisches 1. Rechtlich

Versteht man unter "Verrechtlichung" nicht nur ein quantitatives Phänomen - "Normenflut"f'legal explosion" -, welches das zahlenmäßige Anwachsen des rechtlichen Normenbestandes bezeichnet. sondern faßt man darunter qualitative Veränderungen der Strukturen des Rechts, so ist die Verrechtlichung ein Charakteristikum des modernen Sozialstaates ("sozialen Interventionsstaates"), welches in der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich zu anderen entwickelten Wohlfahrtsstaaten eine besonders starke Ausprägung erfahren hat.} 1

Vgl. zu diesem Inhalt von Verrechtlichung Gunlher

T~ubner,

Verrechtlichung - Begriffe,

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Bemd Schulte

Dies gilt auch für das Sozialrecht als das - von Land zu Land in unterschiedlicher Weise - "von sozialpolitischen Zwecken geprägte Recht".2 Mit der Kodiflzierung des Sozialrechts im Sinne einer Zusammenfassung der verschiedenen Sozialleistungsgesetze in einem Sozialgesetzbuch ist man in der Bundesrepublik Deutschland "dem Drängen des entwickelten Sozialrechts einer entwickelten Gesellschaft nach gesetzgeberischer Zusammenfassung" früher als anderswo nachgekommen.3 Das Sozialgesetzbuch (SGB) hat das "bisher in zahlreichen Einzelgesetzen unübersichtlich geregelte Sozialrecht" 4 konsolidiert und dabei auch Arten und Formen der Sozialleistungen defmiert. Gemäß § 11 SGB I, "Leistungsarten" überschrieben, sind "Gegenstand der sozialen Rechte ... die in diesem Gesetzbuch vorgesehenen Dienst-, Sach- und Geldleistungen (Sozialleistungen). Die persönliche und erzieherische Hilfe gehört zu den Dienstleistungen." Damit gibt es im deutschen Sozialrecht eine einheitliche gesetzliche Begriffsbestimmung derjenigen Leistungen des Sozialleistungssystems, welche die in §§ 3-10 SGB I formulierten "sozialen Rechte" verwirklichen sollen: Bildungs- und Arbeitsförderung (§ 3); Sozialversicherung (§ 4); Soziale Entschädigung bei Gesundheitsschäden (§ 5); Minderung des Familienaufwands (§ 6); Zuschuß für eine angemessene Wohnung (§ 7); Kinder- und Jugendhilfe (§ 8); Sozialhilfe (§ 9); Eingliederung Behinderter (§ 10). Bis zum Inkrafttreten des Sozialgesetzbuchs hatte es demgegenüber keine einheitliche gesetzliche Begriffsbestimmung der Sozialleistungen und ihrer ArMerkmale, Grenzen, Auswege, in: Fricdrich Kübler (Hg.), Verrechtlichung von Wirtschaft, Arbeit und sozialer SolidaritäL Vergleichende Analysen, Baden-Baden 1984, S. 289 ff., insbes. S. 294 ff. (auch GIUtlMr Teubner, Juridification - Concepts, Aspects, Limits, Solutions, in: Gunther Teuooer (Hg.), Juridification of Social Spheres. A Comparative Analysis in the Areas of Labor, Corporate, Antitrust and Social Welfare Law, Berlin 1987, S. 3 ff.). Aus der umfangreichen Literatur zur Verrechtlichungs-Problematik sei noch herausgehoben Rüdiger Voigt (Hg.), Verrechtlichung. Analysen zu Funktion und Wirlmng von Parlamentarisierung, Bürokratisierung und Justizialisierung sozialer, politischer und ökonomischer Prozesse, Königstein!fs. 1980. 2 Vgl. dazu Hans ZacMr, Verrechtlichung im Bereich des Sozialrechts, in: Kübler (Hg.), Fn. I, S. 11 ff. (auch Hans ZacMr, Social Welfare, in: Gunther Teubner (Hg.), Fn. I, S. 373 ff.); instruktiv insbesondere auch Rainer Pitschas, Soziale Sicherung durch fortschreitende Verrechtlichung? - Staatliche Sozialpolitik im Dilemma von aktiver Sozialgestaltung und nonnativer Selbstbeschränkung, in: Voigt (Hg.), Verrechtlichung, (wie Fn. 1), S. 150-169; zu Nachweisen zum Ventändnis von "Sozialrecht" in ausländischen Staaten vgl. Zacher, ebda.; ferner Felix Schmid, 80zialrecht und Recht der sozialen Sicherheit. Die Begriffsbildung in Deutschland, Frankreich und der Schweiz, Berlin 1981 mit weiteren Nachweisen. 3 Vgl. Hans Zacher, Die Kodifikation des Sozialrechts im Ausland, in: Peter Lerche/Hans ZaeherIPeter Badura (Hg.), Festschrift für Theodor Maunz zum 80. Geburtstag, München 1981, S. 429 ff., 449 f. 4 Vgl. Entwurf eines Allgemeinen Teils des Sozialgesetzbuchs, in: Bundestags-Drucksache 7/868, S. 1; dazu ausführlich Hans ZacMr, Materialien zum Sozialgesetzbuch, Percha 1979, A S. 18 ff.

Leistungsarten und Leistungsfonnen

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ten gegeben. Lediglich das Bundessozialhilfegesetz hatte in § 8 BSHG "persönliche Hilfe, Geldleistung oder Sachleistung" als Fonnen der Sozialhilfe, das Bundesversorgungsgesetz in § 25 b BVG die "persönliche Hilfe, Sach- und Geldleistungen " als Leistungsarten der Kriegsopferfürsorge ausdrücklich benannt Ansonsten war die Bezeichnung der einzelnen Leistungsarten in der Vergangenheit in den verschiedenen Sozialleistungsbereichen recht unterschiedlich, wurden und werden beispielsweise in der Sozialversicherung Leistungen häufig auch dann als "Sachleistungen" bezeichnet, wenn dem Empfänger nicht Sachen, sondern Dienste geleistet wurden. "Sozialleistungen" i.S.d. § 11 SGB I sind nur solche Leistungen, die von Trägem öffentlicher Sozialleistungen nach den Vorschriften des Sozialgesetzbuchs zur Verwirklichung der vorstehend genannten sozialen Rechte deren Trägem (i.e. den Bürgern) gegenüber erbracht werden. Damit sind zugleich Leistungen, die zwischen verschiedenen Leistungsträgern oder aufgrund besonderer Rechtsverhältnisse erbracht werden, ausgeklammert Keine Sozialleistungen sind mithin Leistungen, die - nicht von Leistungsträgem, sondern von anderen Personen oder Institutionen erbracht werden (z.B. Beiträge des Arbeitgebers zur Sozialversicherung) oder nicht gesetzlich gebundene Leistungen freier Träger der Jugend- oder Sozialhilfe; - nicht dem einzelnen Bürger, sondern anderen Leistungsträgem oder Institutionen unmittelbar zugute kommen (z.B. Ausgleichsleistungen zwischen Leistungsträgern oder Zuschüsse und Darlehen an Träger beruflicher Bildungseinrichtungen oder an Einrichtungen zur Eingliederung Behinderter); - nicht zur Verwirklichung der sozialen Rechte in §§ 3 - 10 SGB I, sondern aufgrund besonderer Rechtsverhältnisse erbracht werden (z.B. die Gehälter der Bediensteten der Sozialversicherungsträger, Honorare an Kassenärzte, die Erstattung überzahlter Sozialversicherungsbeiträge). Für die Zuordnung einer Leistung als "Sozialleistung" ist es unerheblich, ob die Leistung durch den Leistungsträger selbst oder auf seine Kosten durch Dritte erbracht wird: Auch bei Auszahlung von Renten durch die Post, bei ärztlicher Behandlung durch einen Kassenarzt, bei einer Kur in einem Vertragskurheim eines Trägers der gesetzlichen Rentenversicherung oder bei Unterbringung eines Kindes durch das Jugendamt in einem Kinderheim als eines freien Trägers handelt es sich um öffentliche Sozialleistungen. S

S Vgl. zu dieser Regehmg des Sozialgesetzbuchs - Allgemeiner Teil Karl HauclcJHartmul Haines. Sozialgesetzbuch. Allgemeiner Teil. SGB I, Kommentar, Berlin, Stand: 1. Januar 1992, K§ 11 Rz3 - S.

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Steuerverschonungen und -ennäßigungen sowie Preissubventionen (für Sach- und Dienstleistungen sowie insbesondere Einrichtungen) werden sowohl von der Sozialleistungsdefmition des deutschen Sozialgesetzbuchs als auch von der hier anzustellenden Betrachtung grundsätzlich ausgeklammert als nicht zur "sozialen Sicherheit" i.e.S. gehörig, sind jedoch - die letztgenannten nicht zuletzt wegen ihrer großen Bedeutung im Rahmen sozialistischer Sozialpolitik (dazu unten 11. 1.) - stets "mitzudenken" (und ihre Berücksichtigung im Rahmen des die "soziale Sicherheit" übergreifenden "sozialen Schutzes" wird damit an dieser Stelle zugleich angemahnt). Als "Arten" von Sozialleistungen nennt § 11 SGB I "Dienst-, Sach- und Geldleistungen". Diese Leistungsarten, die auch als Mischformen auftreten können, werden gemeinhin wie folgt unterschieden: - "Geldleistungen" sind Sozialleistungen, die in der Zahlung eines Geldbetrages bestehen,6 beispielsweise Krankengeld, Arbeitslosengeld und Renten. Abgrenzungsschwierigkeiten bestehen lediglich dann, wenn anstelle einer im Gesetz vorgesehenen Dienst- oder Sachleistung ein Geldbetrag erbracht wird (z.B. bei einer Kostenerstattung für selbstbeschaffte Leistungen) oder wenn anstelle von Geldleistungen Sachleistungen erbracht werden, da dann im Einzelfall eine rechtliche Zuordnung erfolgen muß. - "Sachleistungen" sind Leistungen, durch die dem Empfänger Sachen zur Verfügung gestellt werden (von Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln bis zur Unterkunft und Verpflegung in einem Krankenhaus, einem Pflegeheim oder einer Obdachlosenunterkunft). Auch hier kann im Einzelfall problematisch sein, ob der Schwerpunkt einer Sozialleistung bei der Gewährung einer Sache oder eines Dienstes besteht Allerdings ist eine genaue Abgrenzung in der Regel nicht erforderlich, weil für Dienst- und Sachleistungen im Regelfall die gleichen Rechtsgrundsätze gelten. In Deutschland werden unter den Begriff der "Sachleistungen im weiteren Sinne" neben den eigentlichen Sachleistungen - z.B. Körperersatzstücke, Arzneimittel - auch Dienstleistungen - z.B. ärztliche Behandlungsmaßnahmen - gefaßt. - "Dienstleistungen" sind Leistungen, welche die Gewährung eines Dienstes zum Gegenstand haben, d.h. menschliche Handlungen, die an oder gegenüber dem Leistungsempfänger vorgenommen werden oder ihm unmittelbar zugute kommen.

6 Vg1. Begründung zu § 11 des Regierungsentwurfs des Sozialgesetzbuchs • Allgemeiner Teil (Bundestags-Drucksache 7/868).

Leistungsarten und Leistungsfonnen

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Soziale Dienstleistungen sind mithin alle Formen persönlicher Betreuung und Hilfe, von der Schuldnerberatung, Untersuchungen zur Früherkennung von Krankheiten, Haushaltshilfe bei Krankenhausaufenthalt und Pflege in einem Heim. Leistungen dieser Art sind auch in ausländischen Sozialleistungssystemen anzutreffen, ohne daß es allerdings in der Regel zu einer entsprechenden allgemeinen gesetzlichen Definition gekommen ist oder die Unterscheidung von Leistungsarten und ihre Abgrenzung juristisch reflektiert wird. Vielmehr werden die verschiedenen Leistungsarten gemeinhin lediglich unter ökonomischem, sozialpolitischem und sozialadministrativem Blickwinkel diskutiert. 2. Ökonomlscb/sozlalpolltlscb/sozlal-admlnlstrativ

In der deutschen Diskussion über die Erbringung von Sozialleistungen haben in der Vergangenheit insbesondere zwei Gesichtspunkte im Vordergrund gestanden: Zum einen der Umstand, daß das deutsche Sozialleistungssystem nicht zuletzt im Vergleich zu den entsprechenden Systemen anderer Länder eine "monetäre Schlagseite" aufweist,7 d.h. sehr (oder zu sehr) auf die Gewährung von Geldleistung hin orientiert ist, zum anderen, daß Sach- und Dienstleistungen im Gegensatz zu Geldleistungen insbesondere auch gesetzlich nicht hinreichend bestimmt und wohl auch bestimmbar seien. 8 Es stellt sich deshalb u.a. die Frage, ob diese - nicht nur in Deutschland anzutreffende - geringere Regelungsdichte, wie sie bei Sach- und Dienstleistungen im Vergleich zu Geldleistungen anzutreffen ist, einem minderen Regelungsbedarf entspricht, oder ob andere Gründe - Regelungsunmöglichkeit, Regelungswiderstände u.a. - für diese Regelungslücke verantwortlich sind. Unabhängig davon gilt die Feststellung, daß die Sach- und Dienstleistungen sozialpolitisch und sozialrechtlich (auch in der einschlägigen Forschung und auf wissenschaftlichen Tagungen) vernachlässigt werden, ganz allgemein. 9

Vg!. so vor allem Zacher, (Fn. 4), AIS. 28 ff., 52 ff. a Vg!. Peter Krawse, Rechtsprobleme einer Konkretisierung von Dienst- und Sachleistungen, in: W. GitterlW. ThiemeIH. Zacher (Hg.), Im Dienste des Sozialrechts, Festschrift für Georg Wannagat zum 65. Geburtstag, Köln u.a. 1981, S. 239 ff. 9 Vg!. so z.B. jüngst für das Vereinigte Königreich unter besonderem Hinweis auf die historische Auseinanderentwicklung von Geld- und Sachleistungen insbesondere auch im Hinblick auf die Trägerschaft - Zentralstaat einerseits, örtliche Gebietskörperschaften (loca1 authorities) andererseits - Sall] Baldwin, Cash and Care in the Provision oe Support for People with Long-Standing Care Needs, in: Social Security: 50 Years after Beveridge (Conference Papers, University oe YorkIEngland, 27 - 30 September, 1992), York 1992 (mit einem vergleichenden Ausblick). 7

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11. Leistungen als Instrumente sozialer Sicherung 1. Sozialpolitische Grundannahmen

Die unterschiedlichen "Strategien" des sozialen Schutzes bzw. der sozialen Sicherung - "Einkommensstrategie" , d.h. Einkommenssicherung durch sekundäre Umverteilung, und "Dienstleistungsstrategie", d.h. Bereitstellung sozialer Dienste lO - sind vor dem Hintergrund der "Grundannahme" bzw. "Grundregel" der sozialen Sicherung der westlichen Wohlfahrtsstaaten zu betrachten, "daß jeder Erwachsene die Möglichkeit hat und darauf verwiesen ist, den Lebensunterhalt für sich und seine (Klein)Familie (Ehegatte und Kinder) durch (abhängige oder selbständige) Arbeit zu verdienen".ll Fußend auf dieser Grundannahme definiert das Sozialleistungsrecht die sozial relevanten "Ausnahmen von der Regel" und trifft die erforderlichen Vorkehrungen in Gestalt von Geld-, Sach- und Dienstleistungen, auftretende Defizite auszugleichen. Diese Grundannahme erklärt sich aus spezifischen verfassungsrechtlichen, ökonomischen und politischen Grundentscheidungen, die in diesen Ländern getroffen worden sind und die dazu führen, daß sich ihre Systeme der sozialen Sicherung durch gewisse gemeinsame Elemente auszeichnen, die jeweils in unterschiedlichem "Mischungsverhältnis" zur spezifischen Wohlfahrtsstaatlichkeit beitragen. Zu diesen Elementen gehören etwa - ein staatliches System, das auf einer demokratischen Grundlage aufbaut; - ein Wirtschaftssystem, das überwiegend auf Privateigentum beruht und marktwirtschaftlich orientiert ist, wobei der Staat korrigierend eingreift; - Staatsziele, die auf die Wohlfahrt der Bürger gerichtet sind; - ein breites Feld gesellschaftspolitischer Aktivitäten, die den Abbau von Diskriminierungen und Chancenungleichheiten, die Schaffung von Entfaltungsmöglichkeiten und - allgemein - die Integration der Mitglieder der Gesellschaft in die Gesellschaft und in ihre einzelnen Funktionsbereiche ("Inklusion") anstreben; - ein ausgebautes System des sozialen Schutzes, welches darauf abzielt, das Auftreten sozialer Gefährdungen ("präventiv") zu verhüten und bei Realisierung dieser Gefährdungen kompensierend tätig zu werden, sowie

10 Vgl. zu dieser Gegenürentellung etwa Roland Eisen, "Soziale Dienste: Ein effektives Instrument der Sozialpolitik"]", in: Sozialer Fortschritt 1984, S. 187 ff. 11 Vgl. in diesem Sinne HQIIS ZacMr, Einfühnmg in das Sozialrecht der Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg 1983, S. 10; Eisen, (Fn. 10), S. 188.

Leisnmgsarten und Leisnmgsfonnen

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- ein Rechtssystem, das die Teilhabe der Bürger an den sozialen Maßnahmen und Leistungen auf der Grundlage des Rechts in Gestalt individueller Rechtsansprüche verbrieft. 12 Als "Sozialstaat" mag man einen derartigen "Wohlfahrtsstaat" dann bezeichnen, wenn die deskriptiven Elemente, welche die Wohlfahrtsstaatlichkeit im vorstehend beschriebenen Sinne ausmachen, dem Staat normativ, i.e. rechtlich verbindlich als Aufgabe durch das Recht - und insbesondere auch durch das Verfassungsrecht - vorgegeben sind, wie das in der Bundesrepublik Deutschland - etwa in scharfem Gegensatz zum Vereinigten Königreich 13 - der Fall isL14 Die Unterschiedlichkeit dieser Vorgaben für die soziale Sicherung und insbesondere auch für Leistungsarten, Leistungsformen und sonstige Modalitäten der Leistungserbringung im Vergleich zu denjenigen, die für die sozialistischen Länder Ostmittel-, Ost- und Südosteuropas bestanden, läßt sich exemplarisch anhand des sozialpolitischen Handlungsbedarfs illustrieren, der sich beim Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland ergeben haL Im Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom 18. Mai 199015 haben sich die beiden Vertragsparteien "zur freiheitlichen, föderativen, rechtsstaatlichen und sozialen Grundordnung" bekannt und in den Vorschriften über die Sozial union u.a. festgelegt, daß in der (seinerzeit noch bestehenden) DDR folgende Regelungen eingeführt werden sollten: - die Grundsätze der Arbeitsrechtsordnung der Bundesrepublik (Koalitionsfreiheit, Tarifautonomie, Arbeitskampfrecht, Betriebsverfassungsrecht, Unternehmensmitbestimmung und Kündigungsschutz); - die Grundsätze der Sozialversicherung (Selbstverwaltung, überwiegende Beitragsfinanzierung, Lohnbezogenheit der Leistungen);

12 Vgl. in diesem Sinne etwa Richard Hauser, Annut im WohHahrtsstaat • Empirischer Befund und Lösungsansätze, in: Heinz Lampert/Gerhard Kühlewind (Hg.), Das Sorialsystem der Bundesrepublik Deutschland, Nürnberg 1984, S. 214 ff. 13 Vgl. dazu Bernd Schulte, Der Bestandsschutz sozialer Rechtspositionen. Eine vergleichende Betrachtung, in: Zeitschrift für ausländisches und internationales Arbeits- und Sorialrecht 2 (1988), S. 131 ff.; Bernd Schulte, Vereinigtes Königreich, in: Hans Zacher (Hg.), Alterssicherung im Rechtsvergleich, Baden-Baden 1991, S.522 ff. Exemplarisch auch Zacher, Landesbericht Vereinigtes Königreich, in: Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Sorialrecht, Betreutes Wohnen (Gutachten), München 1992 (noch unveröff. Manuskript). 14 Vgl. Bernd Schulte, "Die Rolle der Fürsorge im System sozialer Sicherung" - Europäische Perspektiven -, in: Sozialpolitik und Wissenschaft. Positionen zu Theorie und Praxis der Sorialhilfe, Frankfurt/M. 1992, S. 302 ff., 305 f. 15 Bundesgesetzblatt (BGBI.) 1990,11, S. 577 ff.

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- die Regelungen des Arbeitsförderungsgesetzes; - ein Sozialhilfesystem. Zugleich wurden jene Regelungen der Arbeits- und Sozialordnung sowie des Sozialleistungssystems der DDR abgeschafft, die Ergebnis oder Begleiterscheinung charakteristischer Steuerelemente des Wirtschaftssystems waren, wie z.B. die Arbeitskräftelenkung, die staatliche Lohnfestsetzung, die hohe Subventionierung von Grundnahrungsmitteln, Verkehrs- und Energietarifen, Mieten u.a. 16 Auch das Sozialleistungssystem der DDR kannte Geld-, Sach- und Dienstleistungen. Dabei war der Anteil der Sach- und Dienstleistungen sehr viel höher als in der Bundesrepublik Deutschland: Das Budget der beiden Sozialversicherungen der DDR-Sozialversicherung der Arbeiter und Angestellten beim FDGB und Sozialversicherung bei der Staatlichen Versicherung - teilte sich zu 2(3 in Geldleistungen und zu 1/3 in Sach- und Dienstleistungen; 17 in der Bundesrepublik Deutschland wie in den westlichen Industriestaaten überhaupt (zu den EG-Staaten siehe Anlage 1) war und ist der Anteil der Geldleistungen hingegen deutlich höher. (In bezug auf die Gewichtigkeit der Geld- und Dienstleistungen bestehen auch zwischen den einzelnen westlichen Wohlfahrtsstaaten merkliche Unterschiede, die sich ihrerseits wiederum auf unterschiedliche Ausprägungen der Wohlfahrtsstaatlichkeit zurückführen lassen, bei denen entweder eine "Geldleistungsstrategie" oder eine "Sach- bzw. Dienstleistungsstrategie" (siehe dazu unten 11. 3.) in bezug auf einzelne Funktionsgruppen - Gesundheit, Alter, Hinterbliebene, FamilieIMutterschaft, Beschäftigung!Arbeitslosigkeit, Sonstige - dominiert. 18 Neben der umfassenden gestaltenden Einflußnahme auf die sozialen Beziehungen waren das Ausmaß der institutionellen Förderung (Objektförderung), die etwa bei der Inanspruchnahme institutioneller Leistungen (z.B. Heimpflege) zu entsprechend geringen von den Leistungsnehmem selbst oder aber für die Leistungsnehmer (Subjekte) zu entrichtenden Entgelten führte, sowie der hohe Stellenwert unmittelbarer Sach- und Dienstleistungen ein Charakteristikum sozialistischer Sozialpolitik. 19 Der sozialistischen Sozialpolitik Vgl. dam Heinz Lampert, Lehrbuch der SoziaIpolitik, 2. Aufl., Berlin 1991, S. 118 ff. So Heinz Vortmallll, Die soziale Sicherheit in der DDR, in: Wemer Weidenfeld/HaJ'lmut Zimmermann (Hg.), Deutschland-Handbuch. Eine doppelte Bilanz 1949 - 1989, München 1989, S. 326 ff., 331. 18 Vgl. dazu die EG-Statistiken in Anhang 1. Zu den einzelnen Otarakteristika von Wohlfahrtsstaatlichkeit vgl. Berlld Schulte, Die Folgen der EG-Integration für die wohlfahrts staatlichen Regimes, in: ZeiiSchrift für Sozialreform 1991, S. 589 ff.; zu "WohlfahrtsstaaiStypen" vgl. im übrigen Gosta Esping-ANhrsell, The Three Worlds of Welfare Capitalism, Cambridge 1990; auch Manfred SchmidJ, Sozialpolitik. Historische Entwicklung und internationaler Vergleich, Opladen 1988. 16 17

Leisnmgsarten und Leisnmgsfonnen

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mag man insofern die Grundannahme attestieren, daß die Sozialpolitik Teil ist einer umfassenden, die Befindlichkeit des einzelnen regelnden und der Eigeninitiative und Eigenvorsorge des einzelnen sowie freien gesellschaftlichen Kräften vergleichsweise wenig Raum gebenden Staats- und Gesellschaftspolitik gewesen ist. So spielt auch das in den westlichen Ländern die Systeme der Einkommenssicherung wesentlich prägende Äquivalenzprinzip, d.h. die Entsprechung von Leistung (Beitrag) und Gegenleistung (z.B. Krankengeld, Arbeitslosengeld, Rente) in den sozialistischen Ländern eine sehr viel geringere Rolle. In ihrer Darstellung der Sozialpolitik in der DDR im "Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland" weisen Frerich und Frey darauf hin, daß in der DDR-Literatur zwar stets eindeutig zwischen sozialistischer und kapitalistischer Sozialpolitik unterschieden worden ist, über das eigene Verständnis von Sozialpolitik jedoch lange Zeit Unklarheit herrschte und im Laufe der verschiedenen Entwicklungsphasen der DDR sehr unterschiedliche Auffassungen über Inhalt und Umfang von Sozialpolitik vertreten worden sind, ganz abgesehen davon, daß Sozialpolitik als besonderer Politikbereich lange Zeit gänzlich negiert worden ist; in der Praxis zielte die Sozialpolitik in der DDR darauf ab, eine - dem jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß angemessene - Grundversorgung aller Mitglieder der Gesellschaft zu gewährleisten, wobei diese Grundversorgung im Prinzip alle Lebensphasen um faßte. Mit den Prinzipien der DDR-Sozialpolitik nicht vereinbar war insbesondere auch ein pluralistisches System der Träger der Sozialpolitik; vielmehr wurde die Sozialpolitik neben dem Staat von den territorialen Staatsorganen, den Betrieben und den gesellschaftlichen Organisationen getragen, wobei die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Akteuren der Sozialpolitik gemäß den Prinzipien des demokratischen Zentralismus erfolgte und untergeordnete Träger letztlich nur in dem Maße Eigeninitiative entfalten konnten, wie diese den zentralen Vorgaben entsprach. 2O Dementsprechend war das Gesundheits- und Sozialwesen einschließlich der sozialen Sicherung Teil des Fünfjahrplanes und der Volkswirtschaftsjahrespläne und dergestalt voll eingebettet in das System des Demokratischen Zentralismus. Die sozialistische Sozialpolitik war U.a. gekennzeichnet durch den hohen Stellenwert unmittelbarer Sach- und Dienstleistungen sowie die umfassende Gestaltung der sozialen Beziehungen einschließlich der Befriedigung der grundlegenden menschlichen Bedürfnisse. 21 Dies 19 Vg!. dazu· exemplifiziert UD Beispiel der Alterssicherung • Ulrich Lohmann, Deutsche Demokratische Republik, in: Hans Zacher (Hg.), Alterssicherung im Rechtsvergleich, Baden-Baden 1991, S. 193 ff., 197. 20 Vgl. Johmanes FrerichJMartin Frey, Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland. Band 2: Sozialpolitik in der Deutschen Demokratischen Republik, München 1993, S. 79 ff., 87. 21 Vgl. dazu auch Ulrich LohmaM, Sozialrecht der DDR, in: Lexikon des Rechts (LDR), Bd. 16 von Maydell/Hohneriein

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entsprach der Besonderheit des Sozialsystems der DDR, daß sich der Lebensstandard und die soziale Lage weniger über das individuell verfügbare Einkommen und die individuelle Ausgestaltung der Lebensbedingungen vermittelten, sondern vielmehr über die gesellschaftlichen Fonds und die kollektive Einbindung in ein staatliches und von staats- und staatsparteinahen gesellschaftlichen Organisationen gebildetes Netz. (Dabei verstand man unter "Einkommen der Bevölkerung aus gesellschaftlichen Fonds" Leistungen des Staates, der Betriebe und gesellschaftlichen Organisationen, die nicht über Lohn- oder Gehaltserhöhungen unmittelbar in die Verfügungsgewalt der Bürger gelangten, sondern indirekt die Lebensbedingungen bestimmten; es handelte sich um Zuwendungen an die Bevölkerung, die im wesentlichen unabhängig von der Arbeitsleistung ein gewisses materielles und geistig-kulturelles Lebensniveau sichern sollten und deren Höhe und Entwicklung sich einerseits nach der Leistungskraft der Volkswirtschaft und andererseits nach den wirtschafts- und sozialpolitischen Zielvorstellungen bestimmten; 1989 stammten 22,8 % des Nettogeldeinkommens aus gesellschaftlichen Fonds und 72,2 % aus dem Nettoarbeitseinkommen.)22 Dementsprechend hatten Beschäftigungs-, Lohn- (Einkommens-) und Preispolitik nicht nur eine ökonomische, sondern vor allem auch eine soziale Funktion. Die Berücksichtigung der Speziflka sozialistischer Sozialpolitik ist deshalb notwendig, weil - so klingt es im Titel der Tagung ja auch an - kein völliger Neuaufbau von Systemen sozialer Sicherung in den Staaten Mittel- und Osteuropas ansteht, sondern alte Systeme und Rahmenbedingungen vorhanden sind, die beachtet werden müssen und auf die zum Teil im Rahmen des Umgestaltungsprozesses auch zurückgegriffen werden kann. Die für den westlichen Wohlfahrtsstaat kennzeichnende Grundannahme, daß in der Regel jedermann den Lebensunterhalt für sich und die Seinen verdient, zugleich jedoch für Ausnahmen sozialstaatliche Vorkehrungen bestehen, wirkt in den gesellschaftlichen Bereichen - 'Arbeit und Einkommen' (= gesellschaftliche Organisation von Arbeit und Einkommensverschaffung durch Arbeit), - 'Bedarfsdeckung' (= privatwirtschaftliche und administrative Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen zur Bedarfsdeckung), sowie 9: Sozialrecht (Hg.: Bemd von Maydel1), Nr.505, Neuwied 1990, S. I ff.; Lohmann, Deutsche Demokratische Republilc, in: Hans Zacher (Hg.), Altensicherung im Rechtsvergleich, Baden-Baden 1991, S. 193 ff.; für die minel- IDId osteuropäischen Zentralverwaltungswirtschaften überhaupt B~rnd von Maydell, Die politische Entwicklung in Minel- und Osteuropa - eine Herausforder\Dlg auch für die Sozialrechtsvergleichung, in: Leo Crijns (Hg.), Liber in memoriam Prof. Dr. G.MJ. Veldkamp, Tilburg 1992, S. 325 ff., 326 f. 22 Vgl. Fr~richlFr~y, (Fn. 20), S. 88.

Leistungsarten und Leistungsfonnen

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- 'Unterhaltsverband' (= Einkommensvennittlung an und Bedarfsbefriedigung durch Dritte). Insoweit, wie diese Bereiche rechtlich geordnet sind, entsprechen ihnen spezifISChe Rechtsbereiche, z.B. Arbeitsrecht, Wirtschaftsrecht, Familienrecht. Soziale Rechtsgestaltung kann sowohl innerhalb dieser vorfindlichen Rechtsbereiche, d.h. "internalisierend", als auch im Rahmen besonderer sozialer Leistungssysteme, d.h. "externalisierend" erfolgen. 23 Vor diesem Hintergrund ist ein Unterscheidungsmerkmal zwischen politisch-sozialen Systemen, die auf dem Gegensatz von Staat und Gesellschaft und auf der Autonomie gesellschaftlicher Einheiten und Prozesse aufbauen "marktwirtschaftlichen Systemen" -, und Systemen, die auf der Einheit von Staat und Gesellschaft und der umfassenden politischen Steuerung der wirtschaftlich-sozialen Einheiten und Prozesse beruhen - "staatswirtschaftlichen Systemen" -, der höhere bzw. geringere Anteil "internalistischer" bzw. "externalistischer" Lösungen, impliziert doch die Übernahme von 'Arbeit und Einkommen' sowie 'Bedarfsdeckung' "in staatliche Regie" eine gleichzeitige Übernahme sozialer Korrektur und Kompensation in das vorfindliche Recht, z.B. das Arbeitsrecht Die Externalisierung, die dann auch zu der Herausbildung eines eigenständigen Sozialrechts führt, entspricht hingegen insofern in besonderer Weise marktwirtschaftlichen Systemen, als die Kompensation sozialer Defizite über eigenständige Sozialleistungssysteme den "nonnalen" wirtschaftlichen Verteilungsprozeß nicht beeinträchtigt. Soweit hingegen ein System der Zentralverwaltungswirtschaft selbst die Befriedigung der notwendigen Lebensbedürfnisse der Bürger sicherstellt, sind in diesem Umfang keine besonderen Sozialleistungen und dementsprechend auch nicht die für deren Gewährung notwendigen institutionellen, organisatorischen und rechtlichen Voraussetzungen erforderlich. 2. Leistungen: Einteilung und Ausgestaltung durch Leistungsrecht und Leistungserbrlngungsrecht

Die zum Zwecke sozialer Kompensation errichteten Sozialleistungssysteme unterscheiden sich in vielfacher Hinsicht, u.a. nach Leistungsgrund, Rechtsgrundlage sowie Art und Fonn der Leistung. Die Einteilung der Leistungen nach dem Leistungsgrund bezieht sich auf den Tatbestand, der die Erbringung einer Leistung auslöst bzw. den Rechtsanspruch auf eine Leistung begründet. Die Unterschiedlichkeit des Leistungs23 Vgl. m dieser Unterscheidung Hans Zacher, Grundtypen des Sozialrechts, in: Walther FürstIRoman HeI7Dg/Dieter Umbach (Hg.), Festschrift für Wolfgang Zeidler, Berlin 1987, Bd. I, S. 571 ff., 576 f.

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grundes ist eines der Unterscheidungskriterien für einzelne Teilsysteme, deren Existenz für entwickelte Systeme der sozialen Sicherung ist und gehört deshalb letztlich zum Fragenkomplex "Techniken und Instrumente sozialer Sicherung".24 Die Zuerkennung eines Rechtsanspruchs auf Leiswngen gehört zu den wesentlichen Elementen des modernen Wohlfahrtsstaates (siehe oben 11. 1.). Eine derartige rechtlich abgesicherte Position des Leistungsempfängers ist in Abgrenzung zu der reinen Wohltätigkeit und der mit Willkür behafteten früheren Armenpflege (Poor Law) insofern von großer Bedeuwng, als der Leistungsberechtigte unabhängig von jeder moralischen, ethischen oder politischen Bewertung seiner individuellen Lage bei Vorliegen des Leistungsgrundes und eventueller sonstiger, im Vorhinein bestimmter und bekannter Voraussetzungen einen Rechtsanspruch auf die Gewährung der Leistung hat und sie auch gerichtlich durchsetzen kann. Allerdings kann die Rechtsstellung des Leistungsempfängers unterschiedlich "dicht" ausgestaltet sein. So kann der Rechtsanspruch auf eine Leistung lediglich das "Ob" der Leistung betreffen, während ihr "Wie", d.h. die Entscheidung über Art, Dauer, Umfang, Beginn und Durchführung der Leiswng im Ermessen des Trägers verbleibt. Eine derartige Einschränkung des Leiswngsanspruchs findet sich insbesondere dort. wo der Leiswngsinhalt eine Konkretisierung der Leistung im Vorhinein ausschließt, wie dies insbesondere bei Dienstleistungen im Gegensatz zu Geldleistungen weitgehend der Fall ist (s. dazu unten 11. 3. d); allerdings kann auch das "Ob" der Leistungen ins Ermessen des Leiswngsträgers gestellt sein ("KannLeistung") im Gegensatz zur "Muß-Leistung" oder auch der "Soll-Leiswng", die sich durch eine Einschränkung bzw. Bindung des Ermessens auszeichnet. Insbesondere auf Sach- und Dienstleistungen besteht häufig - im Gegensatz zu Geldleistungen - kein Rechtsanspruch. Dies bedeutet eine nicht unerhebliche Einschränkung der Rechtsstellung des Leistungsempfängers. Augenfällig wird dies in Fällen, in denen neben der Gewährung einer Geldleiswng - etwa in Gestalt einer Invaliditätsrente - auch eine Dienstleiswng - etwa in Gestalt einer Maßnahme der medizinischen, beruflichen oder sozialen Rehabilitation - in Betracht kommt. Es zeigt sich hier, daß jenseits des monetären Leistungsbereichs, der für die Bereitstellung der notwendigen Mittel zur Befriedigung des normalen Lebensunterhalts zuständig ist, Leistungsbereiche liegen, bei denen es um die Befriedigung von Bedarfen geht, die nur sehr begrenzt einer verobjektivierten Leistungsbeschreibung zugänglich sind. Der Grundsatz der Gleichrangigkeit von Rente und Rehabilitation - und erst recht der Grundsatz "Rehabilitation vor Rente", der beispielsweise dem deutschen Rehabilitationsrecht zugrundeliegt - verlangt jedoch, zumindest dem Grunde 2A

Vgl. dazu das Referat VOll B~rtram Scludill in diesem Band.

Leistungsanen und Leistungsfonnen

245

nach einen Anspruch auch auf Rehabilitationsleistungen einzuräumen, der sich dann jedenfalls auf das "Ob" richtet, während das "Wie", d.h. die Entscheidung über Art, Dauer, Umfang der Maßnahmen - im (möglicherweise gebundenen) Ermessen des Trägers verbleibt 25 Die Vorstellung von der Gleich- und erst recht von der Vorrangigkeit von Rehabilitationsleistungen (= Dienstleistung) und Rente (= Geldleistung) beruht auf der Gleichrangigkeit - bzw. Vorrangigkeit - der gewählten Zielvorgabe: Sieht man Rehabilitation und Rente als zwei zu Gebote stehende unterschiedliche Instrumente an, die ein und demselben "Wechselfall" des Lebens begegnen sollen, nämlich der zur Leistungseinschränkung führenden Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit, dann darf die Rente als lediglich fmanzielles Ausgleichsinstrument immer nur das letzte Mittel, d.h. die "ultima ratio" sein, weil durch die Rehabilitation nicht nur schutzwürdige Belange des einzelnen gewahrt werden, sondern zugleich dem Allgemeininteresse insofern gedient wird, als es einem erfolgreich rehabilitierten Arbeitnehmer wieder möglich ist, einen auch für die Allgemeinheit wichtigen Beitrag im Erwerbsleben zu leisten und zugleich die Gewährung einer DauerGeldleistung überflüssig wird. Die Einräumung eines Rechtsanspruchs auf Rehabilitationsleistungen ist geeignet, diesen sozialpolitisch erwünschten Effekt zu verstärken. 26 3. "EinkommensstrategIe" und "DienstleIstungsstrategIe"

Soziale Sicherungspolitik ist, wie auch aus dem vorstehend erwähnten Beispiel des Verhältnisses von Rente und Rehabilitation ersichtlich, zum einen Einkommenssicherung gegenüber den "klassischen" sozialen Risiken. Diese ihre Funktion ist in den vorangegangenen Referaten bereits hinreichend deutlich geworden und kann deshalb an dieser Stelle etwas zurücktreten zugunsten der zweiten Funktion sozialer Sicherungspolitik, "Leistungssicherung" im Sinne einer Verfügbarmachung sozialer Dienstleistungen zu sein. 27 Aus ökonomischer Sicht wird das gesamtgesellschaftliche, in Geld bewertete Produktionsergebnis auf die Verkäufer von Produktionsfaktoren aufgeteilt, 2S In Deutschland geben die Überlegungen zur Einordnung des Rehabilitationsrechts in das 50zialgesetzbuch neuerlich Anlaß, über diese Fragen nachzudenken. Vgl. z.B. Volur NeumlJllnlBerlram SchulÜl/Klaus lAchwilZ!Peler Tre1lk-HinJerberger. Refonn des Rehabilitationsrechts (Sozialgesetzbuch Bd. IX). Anforderungen aus der Sicht geistig behinderter Menschen, Freiburg i.Br. 1992; auch Franz RuJand. Überlegungen zur Einordnung des Rehabilitationsrechts in das 50zialgeset7huch (SGB), in: Deutsche Rentenversicherung 1992, S. 689 ff. 2.6 Vgl. in diesem Sinne bereits Monika Majerslci. Das Verhältnis VIII Rehabilitation und Rente im Leistungsbereich der gesetzlichen Rentenversicherung, Diss. jur., Berlin 1992. S. 21 ff. und 188 ff. Xl Vgl.:ru dieser Unterscheidung etwa Roland Eise1l. Alternative Sicherungsrnöglichkeiten bei Pflegebedürftigkeit, in: Sozialer Fortschriftt 41 (1992), S. 236 ff., 236.

246

Bemd Schulte

und diejenigen, die über keine oder keine ausreichende Menge von am Markt verwertbaren Produktionsfaktoren verfügen, bekommen von den Verdienern etwas "ab":28 Die Alimentation der Nichterwerbsfähigen erfolgt durch die am ökonomischen Leistungsprozeß Beteiligten in der Familie, in Selbsthilfeverbänden, über (auch Sozial-)Versicherungen, oder durch den Staat. 'Soziale Sicherung' ist insofern "diese Abzweigung aus dem Einkommensstrom und die Neuverteilung, die auch die Leistungsunfähigen am Gesamtertrag des ökonomischen Leistungsprozesses beteiligt". 29 a) Geldleistungen Geldleistungen dienen vornehmlich dazu, die normale, laufende Lebenshaltung für diejenigen zu sichern, die kein oder kein ausreichendes Einkommen als Entgelt für Arbeit oder sonstige produktive Leistungen zu erzielen vermögen; sie ersetzen mithin Leistungseinkommen und bringen den Inaktiven dadurch in die grundsätzlich gleiche Nachfrage-Position, die der aktiv am volkswirtschaftlichen Leistungsprozeß Beteiligte von vornherein einnimmt. Was den Umfang der Nachfrage angeht, so nimmt er gemeinhin mit sinkendem Preis zu und mit zunehmenden Preis ab, unabhängig davon, ob die Nachfrageposition auf Leistungseinkommen oder Ersatzeinkommen beruht. "Ein gewisses Interesse an der Selbstversorgung bei den Individuen, ein Markt als funktionstüchtiges Versorgungssystem, und das Geld als allgemein anerkanntes Kommunikationsmedium mit der Befähigung, das 'System der Bedürfnisse' in Balance zu halten, mag man als die 'drei Pfeiler einer marktförmigen Bedarfsdekkung' bezeichnen",3o Vor diesem Hintergrund haben Sozialpolitik und Sozialrecht auch die Aufgabe, Personen, die grundsätzlich in der Lage sind, ihre Bedürfnisse im Rahmen dieses Marktmodells zu befriedigen, dadurch "aktionsfähig" zu machen, daß Leistungen gewährt werden. Da Geld das gängigste Mittel ist, Marktfähigkeit herzustellen, erklärt sich aus der Dominanz des Marktprinzips in der sozialen Marktwirtschaft auch die "monetäre Schlagseite" des Sozialrechts. Geldleistungen verschaffen ihrem Empfänger die Möglichkeit, sich "auf dem Markt" die benötigten Leistungen zu verschaffen, ermögli28 Vgl. so Die/er Schäfer, Die sozialen Dienste im Rahmen einer Systematik der sozialen Hilfen, in: A. Blind/Ch. von Feroer/H.-J. Krupp (Hg.), Sozialpolitik und persönliche Existenz. Festgabe für Hans Achinger anläßlich seines 70. Geburtstages, Berlin 1969, S. 265 ff., 267. 29 So Schäfer, (Fn. 28), S. 268. 30 Vgl. so jüngst MIUimi/ian Fuchs, Zivilrecht und Sozia1recht. Recht und Dogmatik materieller Existenzsicherung in der modemen Gesellschaft, München 1992, S. 238 unter Berufung auf die "Sozialenquete" (Bogs/Achinger/MeinholdlNeundörjer/Schreiber, Sozialenquete und soziale Sicherung in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart U.a. oJ. (1966), S. 115 ff.); zum Zusammenhang zwischen Sozialrecht und sozialer Marktwirtschaft s. auch Hans Zacher, Sozialrecht und soziale Marktwirtschaft, in: Hans Zacher u.a. (Hg.), Im Dienst des Sozialrechts. Festschrift für Georg Wannagat, Köln U.a. 1981, S. 715ff.

Leistungsaneo und Leistungsfonnen

247

chen insofern Selbstbestimmung und Wahlfreiheit (einschließlich Vertragsfreiheit). Diese dem Sozialleistungsempfilnger eingeräumte Freiheit schließt allerdings zugleich die Möglichkeit ein, die Geldleistung zweckwidrig zu verwenden. Die Ersetzung von Geldleistungen durch Sachleistungen oder durch Geldleistungssurrogate (z.B. Gutscheine), um eine zweckwidrige Verwendung auszuschließen, beeinträchtigt zwn einen die der Geldleistung innewohnende Freiheit des Leistungsempfilngers, erhöht jedoch zum anderen die Wahrscheinlichkeit der Erreichung des sozialpolitisch erwünschten Zwecks (d.h. verbessert das "targeting" der Leistung). In ähnlicher Weise sind Geldleistungen, die jeweils für bestimmte Zeitabschnitte gewährt werden (Renten), eher geeignet, eine fortdauernde SichersteIlung des Leistungszwecks zu erreichen, als Kapitalabfindung. Daraus erldärt sich der (auch im privaten Haftungsrecht anzutreffende 31) Vorrang der Rentenleistung vor der einmaligen Zahlung. Wegen des höheren Ausmaßes unmittelbarer Bedarfsdeckung durch den Staat (siehe bereits oben 11.1.) war in den sozialistischen Ländern das Spektrum der Geldleistungen nach Art und Höhe sehr viel weniger stark ausdifferenziert als in den westlichen Ländern; der egalitäre Zug der Sozialpolitik führte in weitem Umfang zu der Gewährung einheitlicher Leistungen (wobei jedoch durchaus Differenzierungen und damit Durchbrechungen des egalitären Prinzips zugunsten einzelner Personengruppen insbesondere in den Bereichen Alterssicherung - über Zusatzsysteme - sowie im Gesundheitsbereich - durch die Bereitstellung besserer Gesundheitseinrichtungen - vorhanden waren). Auch die Anpassung der Leistungen an sich ändernde wirtschaftliche Gegebenheiten (Dynamisierung, Indexierung u.a.) vollzog sich parallel zur allgemein geringeren Dynamik der Sozialpolitik weniger planmäßig als in den westlichen Ländern. b) Sach- und Dienstleistungen Im "Ost-West-Vergleich" ist festzustellen, daß Sach- und Dienstleistungen in den sozialistischen Staaten eine sehr viel größere Rolle spielten als in den westlichen Ländern. Während z.B. in Polen im Jahre 1990 von dem Sozialleistungsaufwand - gemessen in Vomhundertsätzen des Bruttoinlandprodukts von 18,2 % rd. jeweils die Hälfte auf Barleistungen und Sachleistungen entfielen (10,5 % bzw. 10,9 %), mithin das Verhältnis von Geld- zu Sachleistungen

31

Vgl. Fuchs (Fn. 30), S. 241.

248

Bemd Schulte

rd 1 : 132 war, überwogen, z.B. in den zwölf EG-Staaten die Geldleistungen die Sachleistungen doch recht eindeutig in einem Verhältnis von mehr als 2 : 1 (70,1 % zu 29,9 % der Sozialschutzleistungen).33 (1) Erstattungsprinzip Auch auf die Befriedigung des Bedarfs beispielsweise an medizinischen und sozialen Dienstleistungen und Gütern läßt sich in weitem Umfang das marktwirtschaftliche Prinzip anwenden. Die private Krankenversicherung beispielsweise ist in der Regel entsprechend konstruiert: Der Versicherte "kauft" sich die benötigten medizinischen Leistungen auf dem "Gesundheitsmarkt" und erhält, falls er entsprechend versichert ist, von seinem Versicherer seine Aufwendungen - ganz oder teilweise - erstattet Nach dem Erstattungsprinzip übernimmt also der zuständige Leistungsträger die dem Versicherten infolge seiner Erkrankung entstehenden fmanziellen Aufwendungen in dem zuvor zwischen Versicherung und Versichertem vereinbarten - oder bei Sozialversicherungssystemen in dem gesetzlich festgelegten - Umfang.

(2) Sachleistungsprinzip Im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung - so in Deutschland und Österreich - gilt demgegenüber häufig das für Gesundheitsdienstsysteme typische sog. Sachleistungsprinzip: Der Gesicherte hat keinen Anspruch auf Erstattung seiner Aufwendungen in Geld, sondern unmittelbar auf die benötigten Sachleistungen. Dies dient zum einen dazu, die LeistungstTäger zu verpflichten, für die Durchführung der Behandlung Sorge zu tragen, zum anderen dazu, den Versicherten davor zu bewahren, im Krankheitsfall die Kosten der Behandlung vorstrecken zu müssen (wie dies beispielsweise in Frankreich der Fall ist). Darüber hinaus dient das Sachleistungsprinzip der Kostensteuerung, da die Krankenkassen mit den Leistungserbringem Verträge über die Leistungserbringung abzuschließen pflegen. Falls nämlich beispielsweise ein Versicherter gegen seine Krankenkasse im Krankheitsfall einen Anspruch auf ärztliche Behandlung hat, müssen die Träger der Krankenversicherung auf Ärzte zurückgreifen können, die den Anspruch der Versicherten gegen ihre Krankenkassen auf Krankenhilfe bei Eintritt des Krankheitsfalls erfüllen.

32 Vgl. c~zary WlodmczyklPiolr Mien~wslci, Von Worten m Taten: Refonn des Gesundheitsdienstes in Polen, in: Internationale Revue für Soziale Sicherheit 44 (1991), S. 5 Cf., 17. 33 Vgl. Kommission der EG, Bericht der Kommission an den RaL Minelfristige Projektionen der Sozialschutzausgaben IDld ihrer Finanzier\Dlg. Projektionen für 1990 - Zusammenfassender Bericht (KOM (88) 655), Brüssel 1988 (siehe dam AnJag~ 1). - Zum Vergleich mit den mittel- IDld osteuropäischen Refonnstaaten vgl. den Beitrag von Rog~r B~alti~ in diesem Band.

Leistungsaneo und Leisnmgsfonnen

249

Durch sog. Gesamtverträge, die zwischen den auf Landesebene gebildeten kassenärztlichen Vereinigungen, in denen die Kassenärzte zusammengeschlossen sind - und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung - einerseits und den Landesverbänden der Krankenkassen - bzw. auch deren Bundesverbände - andererseits abgeschlossen werden, wirken in Deutschland Ärzte und Krankenkassen bei der SichersteIlung der kassenärztlichen Versorgung der Versicherten zusammen. Inhalt der Gesamtverträge ist zum einen die Verpflichtung der Kassenärztlichen Vereinigungen, "eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten" zu gewährleisten (sog. SichersteIlungsauftrag), zum anderen die Verpflichtung der Krankenkassen gegenüber den kassenärztlichen Vereinigungen zur "angemessenen Vergütung" der ärztlichen Leistungen. Ähnliche Regelungen, die allerdings weit weniger "dicht" sind, bestehen zwischen den Verbänden der Krankenkassen und anderen Leistungserbringern bzw. ihren Verbänden: Krankenhäusern und vergleichbaren Einrichtungen (z.B. solche der Rehabilitation), pharmazeutischen Unternehmen, Apothekern, Herstellern von Heilmitteln, Hilfsmittellieferanten, sonstigen Leistungserbringern (z.B. Krankentransportunternehmen).34 Das Sachleistungsprinzip bedeutet mithin, daß der Sozialleistungsträger dem Berechtigten die Leistungen, die er beanspruchen kann, unmittelbar verschafft 35 Das Sachleistungsprinzip sagt nichts darüber aus, auf welchem Wege die Leistungsträger die Leistung beschaffen und dem Leistungsnehmer bzw. Leistungsberechtigten zur Verfügung stellen;36 vielmehr besagt es zunächst nur, daß jedenfalls der Versicherte selbst die Leistung nicht bezahlen muß. 34 V gl. zu einem knappen Überblick über das krankenversicherungs rechtliche LeistlDlgserbringungsrecht Bertram SchuJin, Sozialrecht, 4. Aufl., Düsseldorf 1991, Rz. 274 ff.; auch Meinhard Heinze, Die Vertrags strukturen des SGB V, in: Die Sozialgerichtsbarkeit 1990, S. 173 ff.; exemplarisch Bertram SchuJin, Vergünmgen für zahntechnische Leistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung, Köln 1992. 3S ZU dieser Problematik vgl. für die Bundesrepublik Deutschland grundlegend Jochem Schmitt, Leisnmgserbringung durch Dritte im Sozia1recht, Köln 1990; für Österreich Theodor Tomandl (Hg.), SachleistlDlgserbringlDlg durch Dritte in der Sozialvenicherung, Wien 1987; zur Dienstleisnmgs- und Sachmittelgewährung im Rahmen der Krankenbehandlung auch Wolfga"g Mazal, Krankheitsbegriff und Risikobegrenzung. Eine Untenucherung zum Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenvenicherung, Wien 1992, insbes. S. 231 ff. 36 Die in Deutschland im Zusammenhang mit optischen Eigenbetrieben der Krankenkassen IDId damit am Beispiel der Brillenvenorgung Anfang der 80er Jahre heiß diskutierte Frage, inwiefern aus dem Sachleisnmgsprinzip eine Befugnis der Krankenkassen folgt, diese Leisnmgen auch selbst in Natur zu erbringen, wird an dieser Stelle nicht erörtert; vgl. zu dieser rechtlichen Problematik Bernd von MaydelllRupert Scholz, Grenzen der Eigenwirtschaft gesetzlicher Krankenvenicherungsträger, Berlin 1980; Hans Zacher, Krankenkassen oder nationaler Gesundheitsdienst? Die Eigenbetriebe der Venicherungsträger und die gewerblichen und freien Berufe im GeslDldheitswesen der Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg 1980; zu dieser gesamten Auseinandenetzung auch Manfred U"ger, Sachleistungsprinzip und Kostenentatnmgsprinzip in der geset:dichen Krankenvenicherung, in: Die Sozialgerichtsbarkeit 30 (1983), S. 340 ff.

250

Bemd Schulte

Für die Leistungsverschaffung kommen theoretisch verschiedene Möglichkeiten in Betracht: - Der Leistungsträger kann die Leistung selbst herstellen und sie dem Berechtigten gewähren; - er kann sie erwerben und dann als eigene Leistung gleichfalls dem Berechtigten gewähren; - er kann durch Verträge mit privaten Anbietern von Gesundheitsleistungen (Leistungserbringer) gewährleisten, daß der Berechtigte die Leistung auf Kosten des Leistungsträgers bei diesen Anbietern beziehen kann;37 - schließlich besteht die Möglichkeit, daß nicht die eigentlichen Anbieter, sondern sonstige Dritte - z.B. Ärzte oder Krankenhäuser - von den Leistungsträgern mit der Lieferung von Gesundheitsleistungen beauftragt werden. 38 Diese Optionen können (und dies geschieht in der Praxis) für einzelne Leistungsarten zu einer unterschiedlichen Regelung der Leistungsgewährung führen. So mag in bezug auf bestimmte Leistungen die Eigenerbringung durch den Leistungsträger - oder möglicherweise schon die Möglichkeit der Eigenerbringung - sich kostensenkend auswirken und damit dem Grundsatz sparsamer und wirtschaftlicher Verwendung öffentlicher Mittel entsprechen. Auf der anderen Seite mag es gute Gründe dafür geben, kompetente Dritte als Leistungserbringer an der Konkretisierung der dem Leistungsberechtigten zustehenden Leistungen mitwirken zu lassen, um auf diese Weise Leistungsgewährung und Leistungserbringung in verschiedene Hände zu legen. Eine derartige "Gewaltenteilung", welche die Leistungserbringung Dritten überträgt, entspricht einer marktwirtschaftlichen Ordnung, welche den gewerblichen und freiberuflichen Bereich grundsätzlich privater Initiative überläßt und in der Regel nicht in den Bereich öffentlicher Verwaltung überführt. Soweit es Gruppen in der Bevölkerung gibt, die nicht dem gesetzlichen Gesundheitssicherungssystem angehören, sondern unmittelbar selbst Gesundheitsleistungen nachfragen, besteht auch auf Seiten der Bevölkerung ein Interesse daran, daß es eigenständige Anbieter von gesundheitsspezifischen Dienst- bzw. Sachleistungen gibt

37 So das oben dargestellte Modell der Kassenärztlichen VersorglDlg, bei dem die Ärzte als Anbieter von GeslDldheitsleiswngen zu einer öffentlich -rechtlichen Körperschaft in Gestalt der Kassenärztlichen Vereinigungen zusammengeschlossen sind. 38 Vgl. zu diesen Möglichkeiten Bernd VOll Maytkll. LeistlDlgsbeschaffung (insbesondere von Heil- und Hilfsmitteln) durch die gesetzlichen Krankenkassen zwischen öffentlichem und privatem Recht, in: Der Betrieb 38 (1985), S. 276 ff.

Leismngsarten und LeisbJngsfonnen

251

Auch bestehen naturgemäß (nicht zuletzt wirtschaftliche) Interessen der Angehörigen der Gesundheitsberufe daran, ihren Beruf privat ("frei") auszuüben. Während bei Geldleistungen die Leistungserbringung durch die Sozialleistungsträger selbst die Regel ist, gibt es in den westlichen Wohlfahrtsstaaten in erheblichem Umfang eine Funktionstrennung zwischen Leistungsgewährung und Leistungserbringung für Dienst- und Sachleistungen. Dabei kommen als dritte Leistungserbringer in Betracht - andere Träger öffentlicher Verwaltung (z.B. Leistungserbringung in staatlichen oder kommunalen Krankenhäusem und Heimen), - gewinnorientierte Private (selbständig tätige ("frei praktizierende") Ärzte, Psychologen, Physiotherapeuten und Angehörige anderer Heilberufe, Apotheker, Optiker u.a. sowie Wirtschaftsuntemehmen als Träger von Krankenhäusem, Heimen, Rehabilitationseinrichtungen u.a.), sowie - nicht-gewinnorientierte, gemeinnützige Träger. 39 Die vorstehend erwähnte Trennung von Leistungsgewährung und Leistungserbringung mit dem ihr immanenten Element der "Gewaltentrennung" nicht zuletzt auch im Interesse des Leistungsberechtigten ist von besonderer Bedeutung im Zusammenhang mit, der Leistungsvermittlung zwischen dem Leistungsberechtigten/Klienten, der

ausgaben Australien Österreich Belgien Kanada Dänemark

19~91

1991 1990

1,39 1,44 3,78

19 24 28

9,6 3,7 9,3

2,87

10,4 7,6

10,3

1991-91 1991

6,12

22 23

Firmland

1991

3,44

38

Frankreich

1990 1991

2,68

30

8,9

2,73

44

1991-92

1,91

29

4,3 9,8b)

1991 1991 1988

19~91

1,22 4,31 1,52 0,44 1,07 3,28 2,73

Norwegen

1991

2,26

33 30 45

Portugal

1991

0,80

63

4,1

Spanien Schweden

1991

3,53

22

16,3

1991-92

3,75

55

4,5

1991

0,61

39

1,3

1991-92

0,84

30

7,1

Deutschland Großbritannien Griechenland Irland Italien Japan Luxemburg Niederlande Neuseeland

Schweiz Vereinigte Staaten

19~91

1991 1990

40

8,2

34 53 30 27

15,8 10,6 2,1 1,4 6,4 10,3

5,s

.) Richtet sich nach dem Jahr der Ausgabenzahlen. In Fällen, wo das Haushaltsjahr mit dem Kalendeljahr nicht übereinstimmt, wird die in den letzteren der beiden Jahren vorlterrschende Arbeitsl0senquote herangezogen. Wen für das Vereinigte Königreich (d.h. einschließlich Nordirland)

b)

Quelle: OECD, Ernployment Outlook, Juli 1992, S. 92-103.

In Tabelle 5 werden einige annähernd vergleichbare Daten für Bulgarien, die Tschechoslowakei, Ungarn und Polen angeführt. Diese machen deutlich, daß der Anteil der für aktive Maßnahmen bestimmten Ausgaben in den ver-

Leistungsarten und Leistungsfonnen in Osteuropa

293

gangenen drei Jahren - bei steigender Arbeitslosigkeit - beträchtlich gefallen ist All diese Länder stehen unter dem erheblichen Druck, öffentliche Ausgaben im Zaume zu halten; gleichzeitig steigt die Arbeitslosigkeit - und damit die Zahl der Anspruchsberechtigten - explosionsartig an. So ist es für diese Länder schwierig, ihre Ausgaben für aktive Maßnahmen zu erhöhen oder auch nur konstant zu halten, zumal da die Einkommenssicherung für die Arbeitslosen meistens aus demselben Fonds stammt. In den vier genannten Ländern wird die Arbeitsmarktpolitik aus außeretatmäßigen Fonds finanziert, deren Einnahmen aus (lohnbezogenen) Sozialversicherungssteuern von Unternehmen gespeist werden. In Ungarn und der Tschechoslowakei müssen auch Arbeitnehmer Pflichtbeiträge in der Form eines festen Satzes (in der Regel 1 %) von ihrem Lohneinkommen entrichten. Die Einnahmen aus diesen Sozialversicherungssteuem sind aufgrund rückläufiger Beschäftigung und fallender Reallöhne drastisch gesunken. Verschärft wird dieser Zustand durch den Wechsel von der staatlichen Beschäftigung hin zum Sektor der privaten Kleinbetriebe, da hier verschiedene steuerliche Vergünstigungen eingeführt wurden und die Umgehung der Sozialversicherungsbeiträge und der Sozialversicherungssteuer weitverbreitet ist In Bulgarien, zum Beispiel, ist seit Beginn des Transformationsprozesses die Zahl der Arbeitnehmer, für die Arbeitslosenbeiträge bezahlt werden, von 4,1 auf 3,0 Millionen gesunken. 4

"

OECD, Employment Outlook 1992, Paris 1992. S. 260.

294

Roger A. Beattie

TabeUeS

Öffentliche Ausgaben für Arbeitsmarktprogramme In ausgewählten Ländern Mittel- und Oste uropas Land

Iahr

Gesamt-

Aktive

ausgaben

Maßnahmen

in % des BSP

in % der Gesamtausgaben

Bulgarien

Tschechoslowakei

1990

0,2

68,3

1991 (geschätzt)

0,8

33,9

1992 (Haushaltsvoranschlag)

0,9

16,8

1991 (geschätzt)

0,6

Ungarn

1990

0,6

1991 (geschätzt)

1,6

1992 (Haushaltsvoranschlag) Polen

23,4 30,0

1992 (Haushaltsvoranschlag)

65,6

29,S 24,0

1990

0,7

48,9

1991 (geschätzt)

1,4

17,9

1992 (Haushaltsvoranschlag)

17,5

Quelle: OECD, Ernployment Outlook, Iuli 1992, S. 261.

Zweifellos besteht eine Tendenz hin zu einer Verdrängung der aktiven Arbeitsmarktmaßnahmen zugunsten der Ausgaben für die Einkommenssicherung von Arbeitslosen. Dies geschieht trotz wiederholter Kürzungen hinsichtlich Dauer, Geltungsbereich und Höhe der Arbeitslosengelder. In der Tschechoslowakei wurde beispielsweise im Dezember 1991 per Verordnung die Dauer der Leistungen halbiert (von einem Jahr auf sechs Monate) und ihre Höhe gesenkt. In Ungarn wurde die maximale Leistungsdauer (für Arbeitnehmer mit dem längsten Beschäftigungsnachweis) von zwei Jahren auf 18 Monate gekürzt (Arbeitnehmer, die erst seit einem Jahr beschäftigt sind, haben lediglich einen 4,5monatigen Leistungsanspruch). Schließlich beschloß 1992 das Parlament in Polen, einkommensbezogene Leistungen auslaufen zu lassen (der Satz von 70 % des vorhergehenden Einkommens wird stufenweise auf 40 % gekürzt) und sie durch einen Einheitssatz zu ersetzen, der die Leistung auf 36 % der Durchschnittslöhne des letzten Quartals festsetztS Weitere Beschränkungen der

295

Leisrungsanen und Leisrungsfonnen in Osteuropa

Arbeitslosengelder werden wohl zu einer extremen Belastung für die Bevölkerung führen. Auf diese Weise werden gewiß keine Ressourcen für aktive Arbeitsrnaßnahmen frei. Bis 1992 ist in Bulgarien und Polen der Anteil der Ausgaben für aktive Maßnahmen sehr weit zurückgefallen; aoch in der Tschechoslowakei und in Ungarn zeigten sich vergleichbare Entwicklungstendenzen. Was bedeutet dies in der Praxis? Ein wichtiger Aspekt ist, daß die Arbeitsämter nach wie vor chronisch unterbesetzt sind und oft kaum zu mehr in der Lage sind, als die Leistungen auszuzahlen. Erwartungsgemäß ist die Lage in Bulgarien und Polen (siehe Tabelle 6) am schlimmsten. Nur in der Tschechoslowakei ist die Situation ungefähr vergleichbar mit der anderer OECD-Länder, aber die in Tabelle 6 genannte Einzelzahl verschleiert die Tatsache, daß die Zahl der Arbeitslosen pro Arbeitsamtmitarbeiter in der Slowakei bei 150 liegt, verglichen mit 57 in der Tschechischen Republik. Insgesamt ist die Lage sogar bedeutend prekärer, als es diese Zahlen andeuten, da die Stellenvermittlungsdienste erst kürzlich eingeführt wurden und es den Mitarbeitern an Erfahrung und häufig sogar an den Grundkenntnissen im Umgang mit Arbeitslosenproblemen fehlt Darüberhinaus sind sie gegenüber ihren Kollegen in den OECD-Ländern infolge fehlender computergestützter Register über freie Stellen und Arbeitssuchende arg benachteiligt. Tabelk6

Erwerbsbevölkerung und Arbeitslose pro Mitarbeiter In den Arbeltsvermlttlungsdlensten Erwems-

Arbeitslose

bevölkerung (Tausende) Bulgarien

Februar

1992

4,0

290

Tschechoslowakei

Dezember

1991

1,7

Ungarn

Januar

1992

2,2

90 160

Polen

Dezember

1991

3,2

320

Frankreich

1988

0,9

78

Schweden

1991

0,7

28

Quelle: OECD, Ernployment Outlook, Juli 1992, S. 262.

s

OECD, op. eiL, S. 261.

296

Roger A. Beauie

Die Schwächen im System der Stellenvennittlungsdienste bedeuten außerdem, daß sehr wenige Arbeitslose von Schulungs- und Umschulungsprogrammen profitieren. In den Jahren 1990 und 1991 nahmen in fast allen Staaten Mittel- und Osteuropas weniger als 1 % der insgesamt als arbeitslos gemeldeten Personen an Schulungen teil. Die einzige Ausnahme bildete Ungarn, aber auch dort war der Anteil der Arbeitslosen, der an Schulungen teilnahm, rückläufig (von 8,7 % im Dezember 1990 auf ca 6 % im Dezember 1991).6 Es ist auch zu bedenken, daß die Länder Mittel- und Osteuropas einer enormen Herausforderung gegenüberstehen in Anbetracht der Arbeitskräfteverschiebung von den alten zu den neuen Industriezweigen, von schrumpfenden zu expandierenden Aktivitäten und von notleidenden zu blühenden Regionen. All dies erfordert einen effIZient funktionierenden Arbeitsmarkt. Es wird jedoch die Meinung vertreten, daß Lohnangleichungen in der vorhersehbaren Zukunft kaum eine Rolle als marktbereinigendes Instrument mit Signalwirkung spielen werden, um Humankapital seinem größtmöglichen Nutzen zuzuführen. 7 Eine aktive Arbeitsmarktpolitik, wie z.B. die Durchführung erforderlicher Arbeitsmarktanpassungen und Hilfe bei der schnellstmöglichen Entwicklung neuer Fähigkeiten, ist daher zur Unterstützung des Strukturwandels wichtiger denn je. Diese Programme können jedoch nicht durchgeführt werden, wenn nicht mehr Mittel für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen zur Verfügung gestellt werden. Eine effizientere Erhebung der Sozialversicherungssteuer wäre eine solche Maßnahme, aber sie allein würde noch lange nicht ausreichen. Eine Erhöhung dieser Steuer wäre auch eine Option, aber eine sehr riskante, da sie Arbeitgeber oft von NeueinsteIlungen abhält und sie dazu verleitet, die Steuer zu hinterziehen. Eine andere Wahlmöglichkeit bestünde in der Erkenntnis, daß es in Zeiten außerordentlich hober Arbeitslosigkeit unrealistisch ist, von außeretatmäßigen Beschäftigungsfonds zu erwarten, die gesamte Last allein, ohne finanzielle Hilfe des Staates zu tragen. Da wären Subventionen sinnvoll, die solange gewährt werden könnten, wie der Stand der Arbeitslosigkeit eine gewisse Grenze überschreitet; als Alternative könnte der Staat aber auch eine getrennte Finanzierung von aktiven Arbeitsmarktmaßnahmen anbieten, um zu verhindern, daß diese von steigenden Geldleistungen verdrängt werden. 3. Menschen, die eine Unterstützung für Wohnkosten benötigen

Der Übergang zur Marktwirtschaft führt zu traumatischen Veränderungen in der Wohnungssituation vieler Menschen. Bis vor kurzem wurden die Mieten 6 7

OECD, op. eiL, S. 261.

Peter Schwa1lSe, Labour market polieies in Ihe CEECs: Whatlessons to be leamed from Ihe

OECD oountries? (Referat anläßlich der ILO.QECD-Konferc:nz "Labour Market and Social Policy Implications of Structural Change in Central and Eastern Europe", Paris, 11.-13. September 1991).

Leistungsarten und Leistungsfonnen in Osteuropa

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noch infolge beträchtlicher staatlicher Wohnsubventionen sehr niedrig gehalten. Das Auslaufen derartiger Subventionen bedeutet sehr kräftige Mietsteigerungen just zu einer Zeit, in der die meisten Haushalte bereits erhebliche Realeinkommens verluste erleiden. In anderen Ländern entstehen durch die Rückgabe von Wohneigentum an dessen frühere Eigentümer zusätzliche Probleme. Dies hat dazu geführt, daß derzeitige Mieter nicht nur mit Mieterhöhungen rechnen mußten, sondern in vielen Fällen gezwungen waren, das Eigentum zu räumen (oder selbst zu kaufen). Langfristig hofft man, daß die Schaffung eines freien Wohnungsmarktes die Verfügbarkeit und Qualität von Wohnungen verbessern werde. Dies wird insbesondere im Hinblick auf die Arbeitskräftemobilität als wichtig erachtet, die bisher durch die faktische Unmöglichkeit für viele Arbeitnehmer, einen Wohnwecbsel vorzunehmen, sehr eingeschränkt war. Ungeachtet der langfristigen Nutzen werden viele Menschen kurz- und mittelfristig wahrscheinlich große Not erleiden und sich in manchen Fällen obdachlos fmden. Selbstverständlich kann nicht die Rede davon sein, jeden zu entschädigen, der durch die jüngsten Veränderungen auf dem Wohnungsmarkt Nachteile erleidet, denn dies würde genausoviel Subventionierung wie vorher bedeuten, nur in anderer Form. Dennoch werden einige Haushalte besonderer Hilfe bedürfen. In bestimmten Fällen werden für diejenigen, die bereits obdachlos geworden sind, Notunterbringungen erforderlich. Die öffentlichen Stellen sollten eine gesetzliche Verantwortung dafür übernehmen, daß die notwendige Versorgung gewährt wird. Die Hauptschubkraft eines derartigen Programmes müßte aber darauf zielen, daß ein solches Stadium erst gar nicht erreicht wird: Das erfordert die fmanzielle Unterstützung derjenigen, die anderenfalls nicht in der Lage sind, ihre Wohnkosten zu bestreiten. In den westlichen Ländern werden Wohnbeihilfen in den häufigsten Fällen im Rahmen der Sozialhilfe gewährt, aber es gibt auch Beispiele, in denen sie von anderen Einrichtungen wie etwa Familienunterstützungsfonds, wenn auch nach vorheriger Bedürftigkeitsprüfung, bereitgestellt werden. Es ist äußerst wünschenswert, daß die Erbringung von Wohnbeihilfen nicht der alleinigen Initiative kommunaler Stellen überlassen wird, obwohl es freilich naheliegt, daß derartige Leistungen kommunal verwaltet werden. Das Ausmaß der Bedürftigkeit kann sich je nach Gebiet beträchtlich unterscheiden: Von Kommunalbehörden kann daher nicht verlangt werden, daß sie die gesamten Kosten für die Wohnungsbeihilfen tragen, da dies die Kommunalsteuern in strukturschwächeren Gebieten übermäßig in die Höhe treiben könnte. Irgendeine Form der staatlichen Finanzierung und Koordinierung wird daher in der Regel erforderlich sein.

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Bei der Entwicklung von Wohnungsbeihilfeprogrammen muß vor allem genügend Flexibilität gewährleistet sein, um individuelle Lebensumstände berücksichtigen zu können. Natürlich muß bei der Festsetzung der Leistung stets das Einkommen eines Haushalts sowie dessen Zusammensetzung berücksichtigt werden. Auch sollte die in den einzelnen Fällen tatsächlich bezahlte Miete in irgendeiner Form herangezogen werden. (Die Schwankungen bei den Wohnkosten stellen ja einen der Hauptgründe für spezifISChe Wohnbeihilfen dar; ansonsten könnte einfach ein entsprechender Standardbetrag in den Bargeldleistungen der Sozialhilfe enthalten sein.) Die Bedeutung dieses Gesichtspunktes wird umso größer sein, je mehr die Marktmechanismen Mieten hervorbringen, die immer stärker vom einheitlich niedrigen Niveau der Vergangenheit abweichen. Es werden außerdem Richtlinien erforderlich sein, um zu gewährleisten, daß die Leistungen nicht zur Finanzierung von Luxusunterkünften verwandt werden; allerdings wird man - bevor man mit dieser Begründung einen Leistungsantrag ablehnt - prüfen müssen, ob eine angemessene Alternative auch wirklich vorhanden ist. Mögen Wohnbeihilfen eine berechtigte Ausnahme bilden, so sollten jedoch

im allgemeinen die sonstigen Unterstützungen für Haushalte mit niedrigem

Einkommen in Form von frei verfügbaren Bargeldleistungen erbracht werden. Sachleistungen nehmen dem Leistungsempflinger die im Normalfall jedem Bürger zustehende Autonomie über die Verwendung seines Einkommens. Auch wenn Sachleistungen unter bestimmten Umständen möglicherweise berechtigt erscheinen, erfolgt ihre Verwendung oft auf Kosten der menschlichen Würde und läuft in jedem Fall dem eigentlichen Grundgedanken der Marktwirtschaft zuwider. 11. Die Erbringung sozialer Leistungen durch Träger aus dem örrentlichen, privaten und dem sog. dritten Sektor In Mittel- und Osteuropa ist in den vergangenen zwei bis drei Jahren viel über die Entwicklung privater Programme, insbesondere auf dem Gebiet der betrieblichen Altersversorgung und der Gesundheitsleistungen, diskutiert worden. Dies geschah freilich stets im Einklang mit der allgemeinen Tendenz hin zur Privatisierung einer breiten Palette von industriellen und kommerziellen Aktivitäten, die sich bisher in den Händen des Staates befanden. In beiden Bereichen weist die Diskussion bemerkenswerte Ähnlichkeiten auf: Beispielsweise ist sogar die Rede von der Notwendigkeit, MonopolsteIlungen bei der Erbringung von Sozialleistungen zu verhindern, so als wäre die soziale Sicherheit ein Wirtschaftszweig wie jeder andere. Es gab auch ein sehr großes Interesse an der Förderung freigemeinnütziger Organisationen, u.a auf dem Gebiet der sozialen Wohlfahrt. Zweifellos gäbe es viel Allgemeines über die angemessene Rolle des Staates zu sagen, aber das meiste ist bereits viele Male

LeisbJngsarten und LeisbJngsfonncn in Osteuropa

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ausgesprochen worden. Es ist daher möglicherweise von größerem Nutzen, jedes der drei oben genannten Themen, sprich: betriebliche Altersversorgung, private Krankenversicherung und die Entwicklung freigemeinnütziger Organisationen, etwas eingehender in Betracht zu ziehen und sich dabei auf jene Aspekte zu konzentrieren, die für die heutige Situation in den Ländern Mittelund Osteuropas von besonderer Bedeutung sind. 1. Betriebliche Altersversorgung

Die meisten Länder Mittel- und Osteuropas verfügen über keine gesetzlichen Regelungen hinsichtlich betrieblicher Renten und sehen sich daher auf ihrem Weg in die Marktwirtschaft mit der Aufgabe konfrontiert, einen rechtlichen Rahmen für die ordnungsgemäße Entwicklung betrieblicher Altersversorgungssysteme zu schaffen. Eine zweite und begrifflich getrennte Frage ist, wie groß kann oder sollte die Rolle betrieblicher Renten bei der sozialen Sicherung von Arbeitnehmern sein? Ob nun eine Regierung betriebliche Rentensysteme favorisiert oder nicht, tatsächlich ist es kaum zu vermeiden, daß diese auf die eine oder andere Weise - insbesondere von den in Mittel- und Osteuropa operierenden multinationalen Unternehmen und vornehmlich für die Spitzenverdiener unter den Arbeitnehmern - eingeführt werden. Die Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung der betrieblichen Altersversorgung wird von den westlichen Staaten weithin anerkannt. Aus sozialer Sicht liegt der Hauptgrund dafür in der Sicherung der Arbeitnehmeransprüche. Jede Gefährdung der finanziellen Stabilität eines Pensionsplans kann dazu führen, daß Arbeitnehmer die ihnen zugesicherten aufgeschobenen Einkünfte nicht erhalten, was bedeuten würde, daß sie nach ihrer Pensionierung mit einem vergleichsweise sehr niedrigen Einkommen auskommen müßten. In den westlichen Ländern gibt es eine Reihe verschiedener Varianten für die rechtliche Regelung dieses Sachverhalts. In den meisten Ländern ist es so, daß Beiträge in einen Fonds eingezahlt werden müssen. Bei diesem kann es sich entweder um die Einrichtung eines "Treuhandvermögens" (trust fund) nach dem Vorbild des Vereinigten Königreichs handeln, das vom Arbeitgeber gegründet wird und mit ihm in einer engen Verbindung steht. Oder es kann sich um ein autonomes Rechtssubjekt handeln, das eher einem gewöhnlichen Unternehmen gleicht und den Gegenstand von Vereinbarungen und vertraglichen Pflichten zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern bildet, wie dies z.B. in Spanien der Fall ist. Im ersteren Fall obliegt die Kontrolle vornehmlich dem Arbeitgeber, während im zweiten Beispiel die Arbeitnehmer von Rechts wegen an der Kontrolle und Verwaltung des Rentenfonds beteiligt sind. Der erste An-

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satz ist historisch gewachsen in einem Kontext, in dem Rentenleistungen auf patriarchalische Weise aus Initiative des Arbeitgebers erbracht wurden. Er wird heutzutage von Arbeitnehmern und ihren Vertretern im allgemeinen als unbefriedigend erachtet, da sie bei der Verwaltung "ihres Geldes" über eine gleichberechtigte Stimme verfügen möchten. Außerdem kann er skrupellosen Arbeitgebern die Handhabe verschaffen, Mittel zweckentfremdet zu verwenden.

In einigen europäischen Ländern existieren betriebliche Rentensysteme, bei denen die Beiträge nicht in einen Fonds eingezahlt werden. Ein Beispiel hierfür ist Frankreich, wo Gewerkschaften und Arbeitgeber ein nationales Netz komplementärer Rentenpläne auf der Grundlage von Kollektivvereinbarungen geschaffen haben, deren Bestimmungen schließlich durch eine Regierungsverordnung für alle Unternehmen der jeweiligen Wirtschaftszweige zwingend gemacht wurden. Die finanzielle Sicherheit basiert dabei nicht auf der Existenz eines Fonds, sondern auf der Tatsache, daß Arbeitgeber und Arbeitnehmer aus faktisch allen Wirtschaftszweigen verpflichtet sind, Beiträge einzuzahlen. Anstatt über den Aufbau eines umfangreichen Fonds werden bei diesem System die Renten aus den laufenden Beiträgen fmanziert, wobei nur eine kleine Sicherheitsrücklage gebildet wird. Ein weiteres Land mit einem nichtfondsgebundenen Rentenmodell ist die Bundesrepublik Deutschland. Hier werden die Rentenleistungen durch die Bildung "buchmäßiger Rückstellungen" erbracht, die in den eigenen Unternehmensbilanzen erfaßt werden. Dieses Modell, wie auch das des Treuhandvermögens, ist mit der paternalistischen Bereitstellung von Renten aus der Initiative des Arbeitgebers verbunden. Für den Fall, daß der Arbeitgeber zahlungsunfähig werden sollte, stehen derartige Rentensysteme heute unter einer gesetzlichen Verpflichtung zur Rückversicherung. Welches dieser Modelle käme - wenn überhaupt - am ehesten für Mittel- und Osteuropa in Betracht? Bisher sind vergleichsweise geringe Anzeichen dafür da, daß diese Länder das sehr originelle französische Modell übernehmen werden, obwohl angesichts der hohen Inflation und der schwach entwickelten Finanzmärkte viel dafür spräche. Es setzt jedoch ein hochentwickeltes System der Kollektivverhandlungen voraus, das in den meisten Fällen offenbar noch nicht existiert. Das deutsche Modell der "buchmäßigen Rückstellungen" ist am besten für mittlere oder große Unternehmen geeignet, die sehr finanzkräftig sind. Es kann wohl nicht als sehr vielversprechende Lösung in Ländern gelten, in denen die Unternehmen einer sehr ungewissen wirtschaftlichen Zukunft entgegensehen. Die Kosten für eine adäquate Rückversicherung wären - auch wenn es sie gäbe - astronomisch. Folglich ist es sehr wahrscheinlich, daß betriebliche Rentensysteme in Mittel- und Osteuropa aus zweckgebundenen Mitteln, sprich: Fonds, gespeist werden. Ob diese die Form eines mehr oder weniger straff vom Arbeitgeber geführten Treuhandvermögens erhalten oder die eines gemeinsam verwalteten

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Rentenfonds, wird sich noch zeigen. In der Tschechischen und der Slowakischen Republik zum Beispiel, wo Sozialpartnerschaft und sozialer Dialog seit jeher stark betont werden, bevorzugen die jeweiligen Regierungen den zweiten Ansatz. Viele andere Länder dieser Region, die in der Ausgestaltung ihrer diesbezüglichen Programme noch nicht so weit sind, müssen sich zu diesem Sachverhalt noch eine Meinung bilden. Eine ebenso wichtige Überlegung betrifft die Form betrieblicher Rentenansprüche. Die meisten herkömmlichen Modelle erbringen Rentenleistungen, die als bestimmter Anteil des Einkommens definiert sind: Diese werden unter dem Begriff System der festgelegten Leistungen zusammengefaßt. Neuerlich zeigen jedoch Arbeitgeber, vor allem in den Vereinigten Staaten, zunehmendes Interesse an einer Rentenversorgung, die nicht an das Einkommen, sondern an die zugunsten der Arbeitnehmer in den Fonds eingezahlten Beiträge gekoppelt ist. Bei diesem sog. System der festgelegten Beiträge werden die mit Inflation und niedrigen Kapitalerträgen verbundenen Risiken vom künftigen Rentenbezieher getragen, während beim erstgenannten System diese entweder zwischen Arbeitgeber und Arbeimehmer geteilt oder vom Arbeitgeber allein getragen werden. Die Attraktivität des beitragsbezogenen Modells für den Arbeitgeber liegt wohl auf der Hand. Aber auch für Arbeitnehmer bietet es gewisse Vorteile, vor allem wenn diese noch jung und sehr mobil sind: Jüngere Arbeitnehmer haben unter diesem System gegenüber älteren Arbeimehmern noch die weitaus größere Möglichkeit, substantielle Rentenansprüche aufzubauen, da ihre Beiträge über einen längeren Zeitraum investiert werden. Außerdem erleiden Arbeitnehmer, die vor ihrer Verrentung aus einem derartigen System aussteigen, nicht die hohen Verluste, von denen frühzeitige Aussteiger aus dem leistungsbezogenen System häufig betroffen sind. Per Saldo werden jedoch Arbeitnehmer, sofern sie hier ein Mitspracherecht besitzen, zweifellos die Sicherheit eines leistungsbezogenen Systems vorziehen - vor allem im Hinblick auf das unsichere ökonomische Umfeld Mittel- und Osteuropas. Möglicherweise werden von den Regierungen Gesetze verabschiedet, die beide Modelle zulassen; in diesem Falle müßten Regelungen getroffen werden, die Versicherungsunternehmen und andere Befürworter des beitragsbezogenen Modells dazu verpflichten, die für Rentenbezieher damit verbundenen Risiken offen darzulegen und irreführende Werbung für unrealistisch hohe langfristige Renditen gesetzlich zu verbieten. Welche Aufgaben kann erwartungsgemäß eine betriebliche Altersversorgung hinsichtlich der ökonomischen Absicherung von Arbeitnehmern und ihren Familien übernehmen? Ansichten hierüber sind sehr unterschiedlich. Manche Interpreten wurden - insbesondere in der Anfangsphase der Überlegungen zur Sozialversicherungsreform - von der Idee einer grundlegenden Pri-

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vatisierung des Systems - etwa nach dem chilenischen Beispiel - angezogen. Unabhängig davon, ob diese wünschenswert wäre oder nicht, ist sie wirtschaftlich wohl kaum durchführbar aus dem einfachen Grunde, daß die gegenwärtige Arbeitnehmergeneration nach dem bestehenden Umlageverfahren bereits für die heutigen Rentner aufkommen muß. Müßten diese Arbeitnehmer darüberhinaus ihre gesamte Rente oder einen Großteil davon durch ein neues privates System der Altersversorgung finanzieren, wäre für sie die fmanzielle Belastung unzumutbar. Angesichts der großen Anforderungen an die öffentliche Ausgabenpolitik und des Bestrebens, den fiskalpolitischen Druck abzubauen, anstatt ihn zu erhöhen, bestünde auch nicht die Möglichkeit eines Eingreifens seitens des Staates, wie dies in Chile der Fall war, um die bestehenden Verpflichtungen durch enorme Subventionen zu erfüllen. Aus ökonomischer Sicht erscheint es daher unvorstellbar, daß betriebliche Renten einen Ersatz für existierende Sozialversicherungssysteme bilden könnten. Vielmehr wird ihre Aufgabe darin bestehen, das bestehende System der Altersversorgung zu ergänzen, insbesondere im Falle höherverdienender Arbeitnehmer, denen das staatliche System nur eine niedrige Einkommensersatzquote zusichert. In diesem Zusammenhang sei angemerkt, daß es in einigen Staaten dieser Region, wie z.B. Rumänien, bisher keine amtlich festgesetzte Einkommensobergrenze für die Berechnung der Leistungen bzw. Beiträge gab. In Polen beispielsweise, wie auch in anderen Staaten, war dies wiederum bis vor kurzem der Fall, bis schließlich Ende 1991 die Reform eingeleitet wurde. Andererseits gab es in Rußland wie auch in anderen Republiken der ehemaligen Sowjetunion zwar eine Obergrenze; diese war jedoch nie sehr hoch angesetzt und ist nun infolge unzulänglicher Indexierung viel zu niedrig. Auch in der Tschechischen und der Slowakischen Republik sowie in Ungarn sind die Rentenleistungen durch eine Berechnungsmethode begrenzt, die auf höheren Einkommensbandbreiten eine niedrigere Einkommensersatzquote vorsieht (darüberhinaus gibt es in diesen Ländern zusätzlich eine allgemeine amtliche Höchstgrenze). Der Staat kann betriebliche Versorgungsmodelle fördern, indem er eine verhältnismäßig niedrige Einkommenshöchstgrenze für die Berechnung der staatlichen Renten festsetzt (dies würde zwar zu einer Begrenzung der Einkünfte führen, aber letztlich auch die Ausgaben senken) oder indem er die in ein betriebliches System eingezahlten Beiträge steuerlich begünstigt. Beide Verfahrensweisen sind mit Kosten verbunden, die Regierungen in einer Zeit erheblicher wirtschaftlicher Einschränkungen mit großer Vorsicht erwägen müssen. Es gibt auch eine Reihe weiterer ökonomischer Erwägungen, die sich auf die Politik der betrieblichen Altersversorgung auswirken können. Regierungen könnten derartige Modelle fördern in der Hoffnung, daß sie zusätzliche Mittel für Privatinvestitionen freisetzen (obwohl westliche Untersuchungen Zweifel

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aufkommen lassen, ob private Rentenpläne zu einer Nettozunahme der Ersparnisse führen). Der Staat könnte sie aber auch als Möglichkeit zur Aufbesserung der Altersversorgung von Arbeitnehmern in den erfolgreicheren Wirtschaftszweigen betrachten, ohne daß dabei zusätzliche Kosten für die anderen Sektoren entstehen. Andererseits würde vielleicht gerade diese Lösung als eine unerwünschte Unterwanderung des Solidaritätsprinzips erachtet, und es bestünde auch die berechtigte Sorge, daß Unternehmen mit einer MonopolsteIlung ihren Arbeitnehmern höhere Renten gewährten, die sie aus den an die Konsumenten weitergegebenen überhöhten Preisen finanzierten. Umsichtiges Vorgehen bei der Entwicklung von betrieblichen Rentenmodellen empfiehlt sich vor allem denjenigen Regierungen, die an der Förderung der Arbeitskräftemobilität interessiert sind, da diese Modelle in hohem Maße Arbeitnehmer begünstigen, die bis zu ihrer Verrentung bei einem Unternehmen bleiben. Letztlich wird die betriebliche Altersversorgung, solange die Inflation noch so hoch ist, stets als eine riskante Option gelten.

2. Private Versorgung Im Gesundheitswesen

Fast alle Staaten Mittel- und Oste uropas haben sich dazu verpflichtet, den bestehenden öffentlichen Gesundheitsdienst durch irgendeine Form der Krankenversicherung zu ersetzen. Zwar hat Ungarn bereits ein staatliches Krankenversicherungssystem eingeführt, aber alle Staatsbürger (wie auch Ausländer) werden zur Zeit noch nach dem alten System versorgt, da es noch keinen Mechanismus für die Überwachung des Versicherungsstatus der Patienten gibt. Dabei herrscht in Ungarn (und auch anderswo) die Sorge, daß durch die Einführung der Krankenversicherung manchen Menschen der Zugang zur medizinischen Versorgung vorenthalten sein wird. Dennoch besteht generell die Absicht, eine staatliche Krankenversicherung nach dem Vorbild der meisten Länder Weste uropas - und nicht ein freiwilliges System der privaten Versicherung wie beispielsweise in den Vereinigten Staaten - einzuführen. Aus diesem Grunde dürfte das Problem der Nichtdeckung kaum allzu große Ausmaße annehmen. Nichtsdestoweniger ist jede Lücke im Gesundheitswesen ernst zu nehmen, und man wird umfassende Vorkehrungen treffen müssen, um zu gewährleisten, daß für ungeschützte Personengruppen, wie z.B. Kinder und Jugendliche, Gelegenheitsarbeiter, Arbeitslose, Behinderte, die Romabevölkerung, Wanderarbeiter und Flüchtlinge, ein angemessener Versicherungsschutz gegeben ist Die Hauptmotivation für die Einführung eines Krankenversicherungssystems liegt in der DiversiflZierung der Gesundheitsleistungen, d.h., um Patienten selbst die Ärztewahl zu überlassen und auch um eine gewisse Wahlfreiheit bei der Entscheidung für ein Krankenhaus oder eine andere Gesund-

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hei~inrichtung zu ermöglichen. Es wird gehofft, daß durch ein System angemessener fmanzieller Anreize Leistungserbringer sich ermutigt sehen, ein höheres Versorgungsniveau zu schaffen, als dies unter dem bestehenden Gesundheitsdienst der Fall ist

Ein zweiter Grund für die Einführung einer Krankenversicherung liegt in der Möglichkeit, mehr Mittel für die Finanzierung der Gesundheitsleistungen aufzubringen, als dies im sehr eng gesteckten Rahmen des Staatsbudgets bisher möglich war. Dies ist verständlich aus der Sicht des im Gesundheitsdienst tätigen Personals, das meistens sehr schlecht bezahlt wurde, und auf jeden Fall aus der Sicht der Patienten, die bisher unter der mangelhaften Versorgung der unterfmanzierten Gesundhei~inrichtungen zu leiden hatten. Die meisten Regierungen wünschen sich jedoch die Gewißheit, daß erhöhte Ausgaben für das Gesundheitswesen tatsächlich auch zu einem verbesserten Versorgungsniveau führen werden. Westliche Erfahrungen haben gezeigt, daß dies keineswegs der Fall sein muß, wenn Zahlungsvorgänge und Leistungserbringer nicht sehr streng überwacht werden. Die Entwicklung eines geeigneten Systems stellt also einen langen, komplexen Prozeß dar. Derweil haben Regierungen erkannt, daß bestehende Gesundheitsdienste durch effizientere Budgetierung und Verwaltungsverfahren erheblich verbessert werden können. Angesichts der Notwendigkeit, die Funktionsfähigkeit des Systems aufrechtzuerhalten, wird der Übergang von einem öffentlichen Gesundheitsdienst zu einem staatlichen Krankenversicherungssystem stufenweise erfolgen müssen. Ein großer Vorteil im schrittweisen Übergang liegt darüberhinaus - wie es Michael Cichon 8 treffend formulierte - darin, "daß er unterbrochen werden kann, sollte der Transformationsprozeß eine Stufe erreichen, die - angesichts der im Laufe des Prozesses gewonnenen Erfahrungen - genauso vorteilhaft oder gar noch günstiger erscheint als die ursprüngliche Zielsetzung". Daß es künftig mehr Wahlfreiheit und Vielfalt im Gesundheitswesen Mittelund Osteuropas geben wird, erscheint gewiß. Private Einrichtungen - sowohl die gewinnorientierten wie auch die gemeinnützigen - werden wahrscheinlich entstehen; ob sie jedoch jemals eine dominierende Rolle im System spielen werden, bleibt dahingestellt. Öffentliche Einrichtungen, z.B. unter demokratischer, kommunaler Aufsicht, werden sicherlich weiterhin an den Gesundheitsleistungen erheblich beteiligt sein, genauso wie es in vielen westlichen Ländern auch der Fall ist.

8 Micluul Cichon. Health sector rcforms in Centralllld Eastem Europe: Paradigm reversed1. International LabourReview. Bd. 130. 1991. S. 311 ff.

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ill. Erbringung von Sozialleistungen durch freigemeinnützige Organisationen oder den sog. dritten Sektor

Die Lage in Mittel- und Osteuropa unterscheidet sich in bezug auf freigemeinnützige Organisationen grundlegend von den westlichen Ländern. Nach vielen Jahrzehnten, in denen solche Organisationen entweder mißbilligt wurden oder sogar verboten waren, muß es wohl zwangsläufig so sein, daß sich die Zahl derartiger Einrichtungen und das Ausmaß ihrer Aktivitäten verhältnismäßig bescheiden ausnehmen. Auch wenn sie mit der Zeit zweifellos entstehen werden - wie es viele bereits sind -, kann ihre Gründung nicht sozusagen über Nacht erzwungen werden, nur weil man dies nun möchte. Es kann auch gut sein, daß sich die Menschen weniger bereit zeigen als in besseren Zeiten, sich angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Lage an freiwilligen Organisationen zu beteiligen. In einigen westlichen Staaten spielen freigemeinnützige Organisationen eine wichtige Rolle bei der Erbringung von bestimmten Dienstleistungen im gesundheitlichen und sozialen Bereich. Nach den Ausführungen von Bernd Schulte gehört Deutschland zweifellos zu diesen Ländern. Offenbar ist dies auf eine lange Tradition zurückzuführen, wobei die Bereitschaft der öffentlichen Behörden, diese Organisationen mit erheblichen Mitteln zu unterstützen, vermutlich in der spezifischen Erfahrung und Sachkunde derartiger Einrichtungen liegt. Eine ähnliche Struktur in den Ländern Mittel- und Osteuropas fast aus dem Nichts zu schaffen, wäre wohl ein gewaltiges Unternehmen. Und auch wenn dies machbar wäre, müßte hintergefragt werden, ob es unbedingt wünschenswert wäre. In seinem Referat bezieht sich Schulte auf eine Reihe von Vorteilen in Verbindung mit freigemeinnützigen Organisationen: Verglichen mit einem gigantischen Apparat öffentlicher Versorgungsdienstleistungen, ermöglichen sie mehr Wahlfreiheit und Vielfalt, sie stehen miteinander im Wettbewerb (wenn auch nicht im üblichen kommerziellen Sinne), und sie ergreifen Initiativen bei der Entwicklung neuer Programme und Lösungsansätze zur Bewältigung sozialer Probleme. Aus der Sicht des Allgemeinwohls können freiwillige Organisationen jedoch auch Nachteile aufweisen: Möglicherweise gewährleisten sie nicht allen sozialen Gruppierungen den gleichen Zugang zu den von ihnen angebotenen Dienstleistungen, z.B. kann die Leistungsberechtigung aus prinzipiellen Gründen auf eine bestimmte Religionszugehörigkeit beschränkt sein oder darauf, daß die Leistungsempflinger in der Praxis eine spezifische (gebilligte) Lebensweise vorweisen können; oder aber es werden Benutzergebühren erhoben, die gerade diejenigen ausschließen, die sozialer Hilfeleistungen am meisten bedürfen. Daß es einer unabhängigen Organisation freisteht, ihre Aktivitäten auf diese Weise zu gestalten, mag an sich nicht falsch sein; derartige 20 von Maydell/Hohnerlein

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Praktiken werden jedoch sogleich fragwürdig, wenn sie mit öffentlichen Mittel subventioniert werden. Zweifellos üben aus diesen und aus ähnlichen Gründen öffentliche Stellen in der Regel einen zunehmenden Einfluß auf die von ihnen subventionierten Einrichrungen aus, und deswegen haben auch die Organisationen selbst viele Attribute staatIicher Dienstleistungen allmählich übernommen. Wäre dies nicht geschehen, so hätten stattdessen die öffentlichen Stellen mit großer Wahrscheinlichkeit ihre eigenen diesbezüglichen Dienstleisrungen entwickelt. Tatsächlich gibt es wohlbekannte Beispiele dafür, daß öffentliche Behörden Dienstleistungen der freiwilligen Organisationen übernahmen, um eine gerechtere Leistungsversorgung für alle Bürger zu gewährleisten. Dies war im Vereinigten Königreich der Fall, als der Staatliche Gesundheitsdienst (NHS) eingeführt wurde. Einer der gravierenden Mängel des vom NHS ersetzten Sektors lag darin, daß er gerade in den Gebieten, wo die Bedürfnisse am größten waren, das geringste Maß an Fürsorge bot: Hier spricht man vom sog. "Inverse Care Law" (Gesetz der umgekehrten Fürsorge).9 Interessanterweise wies der andere vom NHS ersetzte Sektor, nämlich der kommunale Bereich (Gemeindebehörden) in den Landbezirken, dieses Charakteristikum nicht auf, sondern stellte mehr Betten und Personal in den notleidenden Regionen zur Verfügung. 10

Am besten wäre es wohl, wenn die Behörden in Mittel- und Osteuropa die Entwicklung ihrer Beziehungen zu den freigemeinnützigen Organisationen auf eine pragmatische Grundlage stellten, indem sie deren Aktivitäten dort subventionieren, wo sie offenbar in angemessener Weise auf soziale Bedürfnisse eingehen, und finanzielle Unterstützung verweigern, wo gewisse Aspekte ihrer Tätigkeit den Zielsetzungen des Allgemeinwohls zuwiderlaufen. Möglicherweise erweisen sich Gemeinden als genauso (wenn nicht mehr) kompetent wie freiwillige Organisationen bei der Entwicklung der erforderlichen Dienstleistungen, der Ergreifung von Initiativen zur Erfüllung spezifischer Bedürfnisse und bei der Verbesserung der DienstieistungsqualitäL Die Essenz einer diesbezüglichen Reform sollte in der Schaffung eines pluralistischen und effIZienten Systems liegen, und nicht in der Ersetzung einer Ideologie durch eine andere. IV. Bedarfsabbängige Leistungen Dem Problem niedriger Einkommen oder Armut wird heute in den Ländern Mittel- und Osteuropas viel mehr Aufmerksamkeit zuteil als in den vergangenen Jahrzehnten. Dies weist nicht nur auf die Tatsache zunehmender Armut J.T. Hart, The inverse care Iaw, Lancet, S. 405-12,1971. Martin Powell, Hospital provision before the NHS: Territorial justice or invene care Iaw?, Journal of Social PoIicy, Bd. 21, Tei12, Apri11992. 9

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hin, sondern auch auf die viel größere Freiheit und Bereitwilligkeit, die mit dem Demokratisierungsprozeß einhergehenden sozialen Probleme zu erforschen. Das gesteigerte Bewußtsein für die Armut entsteht genau zu einer Zeit, in der die Regierungen unter erheblichem Druck stehen, öffentliche Ausgaben zu begrenzen, um wirtschaftliche Stabilität zu erreichen. Unter diesen Umständen empfehlen viele westliche Berater einen gezielteren Einsatz der Sozialleistungen und eine Verbesserung ihrer Effizienz bei der Armutsbekämpfung. Darunter wird sehr oft verstanden, daß Leistungen an eine Bedürftigkeitsprüfung gebunden werden sollten, d.h. daß sie nur für Antragsteller erbmcht werden, deren Einkommen unter einer gewissen Grenze liegt Westliche Erfahrungen deuten jedoch damuf hin, daß bedarfsabhängige Leistungen verschiedene Mängel aufweisen, und viele Sozialforscher, die sich besonders eingehend mit Armut beschäftigen, lehnen die Nutzung demrtiger Leistungen als Hauptinstrument der Armutsbekämpfung vehement ab. Welche Vor- und Nachteile weisen bedarfsabhängige Leistungen auf? Der wohl offensichtlichste und wichtigste Vorteil einer Bedürftigkeitsprüfung liegt darin, daß der Staat die Sozialleistungen auf die Empfänger niedriger Einkommen konzentrieren und somit mehr Annut mit einem bestimmten Aufwand lindern (oder umgekehrt, eine bestimmte Armutsreduzierung mit weniger Aufwand erreichen) kann. Die Nachteile bedarfsabhängiger Leistungen lassen sich weniger leicht zusammenfassen. Aus sozialer Sicht ist der wichtigste wohl der, daß die Bedürftigkeitsprüfung - wenn sie richtig eingesetzt wird - zwar die Nichtleistungsberechtigten von einer Unterstützung ausschließen kann, sie führt jedoch auch dazu, daß viele Bedürftige nicht die Leistungen erhalten, zu denen sie berechtigt wären. Dieses Problem wird als Nichtinanspruchnahme bezeichnet Vermutlich gibt es mehrere Gründe dafür: Oft zögern Menschen, um eine Hilfe anzusuchen, die sie als stigmatisierend empfinden; in anderen Fällen wissen sie gar nicht, daß ihnen Sozialhilfe zusteht; oder aber sie werden durch den Zeitaufwand und die Umstände einer AntragsteIlung entmutigt, insbesondere wenn sie im Umgang mit Behörden und Fonnularen befangen sind; schließlich sind viele nicht gewillt, sich bohrenden Fmgen über ihre persönlichen Lebensumstände zu stellen. In diesem Zusammenhang bietet das Vereinigte Königreich ein gutes Beispiel, da es von bedarfsabhängigen Leistungen einen viel größeren Gebmuch macht als jedes andere Land in Europa und zudem regelmäßige Schätzungen der Inanspruchsnahmequoten veröffentlicht Die neuesten verfügbaren Zahlen, die 1991 bekanntgegeben wurden, beziehen sich auf das Jahr 1987 und somit auf das System, wie es vor dessen Reform im Jahr 1988 funktionierte, als die

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Sozialhilfe (Supplementary Benefit, SB) durch die Einkommensunterstützung einerseits und die Familienbeihilfe (Family Income Supplement, FIS) durch den Familienkredit andererseits ersetzt wurden. 11 Im Falle der SB beanspruchten 1 060 ()()() Menschen, d.h. 19 % aller Leistungsberechtigten, nicht die ihnen zustehende Unterstützung. Diese Zahl umfaßt 90 ()()() Familien mit schätzungsweise 142 ()()() Kindern. Der durchschnittliche Betrag der nichtbeanspruchten SB betrug für diese Familien 25,40 pfund pro Woche (zu jener Zeit lag im Vereinigten Königreich der einheitliche Arbeitslosenhilfesatz etwas über 28 pfund pro Woche). Im Falle der FIS beanspruchten wiederum 180 ()()() Familien, d.h. 49 % der Leistungsberechtigten einschließlich ca. 294 400 Kinder, nicht die ihnen zustehende Unterstützung. Die durchschnittliche nichtbeanspruchte Summe betrug wöchentlich 9 Pfund pro Familie. Schließlich haben 1540 ()()() Haushalte die ihnen zustehende Wohnbeihilfe nicht in Anspruch genommen - das sind 18 % aller Leistungsberechtigten. Das Beispiel der FIS im Vereinigten Königreich ist von besonderer Relevanz für die Staaten Mittel- und Osteuropas, da einige von ihnen die Möglichkeit erwägen, die von ihnen geleisteten Familienunterstützungen in bedarfsabhängige Leistungen umzuwandeln. Es gibt zu bedenken, daß über einen längeren Zeitraum ungefähr einer von zwei Leistungsberechtigten die FIS nicht beantragte - trotz wiederholter Werbekampagnen seitens der für die Zuteilung verantwortlichen staatlichen Stellen. Während einige Wirtschaftsexperten bedarfsabhängige Leistungen als Mittel zur Beschränkung öffentlicher Ausgaben sehen, befassen sich andere mehr mit ihren Anreizeffekten. Im Falle einer sozialen Hilfeleistung, die beispielsweise das Einkommen eines Haushaltes bis an die Armutsgrenze erhöht, wird jede zusätzliche Einkommenssteigerung zu einer entsprechenden Reduzierung der Leistung führen. Dies entspräche einer l00%igen Besteuerung des zusätzlichen Einkommens, was zwangsläufig einen sehr einflußreichen arbeitshemmenden Faktor darstellt. Das Problem wird zwar etwas abgeschwächt dadurch, daß bisweilen bedarfsabhängige Leistungen in abgestuften Schritten gekürzt werden, wenn das zusätzliche Einkommen steigt, z.B mit einer Rate von 50 %. (Dies bedeutet, daß die Unterstützung entweder die Empfänger nicht bis an die Armutsgrenze heranbringt oder daß einige die Leistung auch dann erhalten, wenn ihr Einkommen die Armutsgrenze überschreitet) Aber auch ein impliziter Grenzsteuersatz von 50 % ist hoch, vor allem wenn noch die Gehaltsabzüge (Sozialversicherungsbeiträge, Einkommensteuer) berücksichtigt werden. Darüberhinaus verschärft sich das Problem, wenn mehr als eine bedarfsabhängige

11 Income related benefits. Estimates cX take-up 1987, Technical notes, Department of Social Security, Analytical Services Division, Iuly 1991, ziL in Poverty, Nr. 80, 1991.

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Leistung in Anspruch genommen wird; in solchen Fällen kann der implizite Grenzsteuersatz für gewisse Einkommensspannen bei über 100 % liegen. Die Bedürftigkeitsprüfung kann sich jedoch nicht nur auf den Arbeitsanreiz, sondern auch auf den Sparanreiz negativ auswirken, da generell der Besitz von Vermögen über eine gewisse (verhältnismäßig niedrige) Grenze hinaus eine Person von der Leistungsberechtigung ausschließt. Bei der Überlegung, ob gespart werden soll oder nicht, wissen jedoch die meisten Menschen noch nicht, ob sie in Zukunft möglicherweise um bedarfsabhängige Leistungen ansuchen werden. Demzufolge ist der sparhemmende Einfluß weitaus weniger ausgeprägt als der arbeitshemmende Faktor. Ein weiterer Nachteil der Bedürftigkeitsprüfung, der bereits oft von den Fürsprechern der Annen hervorgehoben wurde, ist der, daß bedarfsabhängige Leistungen eine geringe politische Unterstützung unter der Bevölkerung im allgemeinen fmden (und, wie bereits erwähnt, empfmden auch viele Bedürftige eine Abneigung gegen sie). In der Folge fällt es schwer, ausreichende Mittel für die Gewährung dieser Leistungen gegenüber der Konkurrenz anderer, populärerer öffentlicher Ausgabenformen sicherzustellen. So gesehen entwickeln sich Leistungen für die Bedürftigen - unabhängig von den ursprünglichen sozialpolitischen Absichten - zunehmend zu dürftigen Leistungen. In den meisten Ländern stellen soziale Sicherungssysteme generell eine sozial vereinende Kraft dar. Dies gilt insbesondere für die Sozialversicherung. Andererseits weisen solche Systeme, die wesentliche Elemente der Bedürftigkeitsprüfung in sich vereinen, dieses Charakteristikum bei weitem nicht in diesem Maße auf. In den Augen der Öffentlichkeit erscheinen bedarfsabhängige Leistungen nicht die gleiche Legitimation zu genießen wie beitragsabhängige Leistungen oder solche, die aufgrund der Staatsangehörigkeit gewährt werden. Auch dann, wenn der Anspruch auf bedarfsabhängige Leistungen ausführlich gesetzlich geregelt ist, herrscht dennoch der gängige Eindruck, daß es sich dabei um Almosen handele und daß diejenigen, die sie beantragen, gewissermaßen Versager und in vielen Fällen darauf aus seien, das System zu beschwindeln. Bedürftigkeitsprüfung kann daher ein Klima des Argwohns erzeugen, und darauf aufbauende Systeme der sozialen Sicherheit könnten sich eher als trennende denn als vereinende Kraft erweisen. Angesichts der vielen sozialen und wirtschaftlichen Spannungen, die derzeit bereits in mittel- und osteuropäischen Ländern herrschen, gilt es, nicht noch weitere zu schaffen. Eine letzte und etwas sachlichere Überlegung betrifft die Verwaltung der bedarfsabhängigen Systeme. Generell sind diese viel komplizierter in ihrer Verwaltungsstruktur als die nicht bedarfsabhängigen, weil detaillierte Informationen über die persönlichen Lebensumstände der Antragsteller gesammelt und überprüft werden müssen. Dieser Tatbestand spiegelt sich in den Verwal-

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tungskosten wider: Im Vereinigten Königreich betragen diese 15;2 % der Ausgaben für die Einkommensunterstützung (d.h. reguläre Sozialhilfezahlungen) und 47,1 % der Sozialfondsausgaben (einmalige bedarfsabhängige Zahlungen) verglichen mit nur 1,6 % der Ausgaben für die Altersrente. Darüberhinaus muß das Verwaltungspersonal, vor allem im Parteienverkehr, gut geschult sein, und da die Arbeit mit viel Streß verbunden ist, ist die Personalfluktuation in der Regel ziemlich hoch. Es erscheint unausweichlich, daß mit zunehmender Arbeitslosigkeit und Armut immer mehr Menschen um eine bedarfsabhängige Unterstützung ansuchen werden. Wenn darüberhinaus sozialpolitische Veränderungen zu noch mehr Überprüfung führen, werden erhebliche Belastungen für die Leistungsverwaltung entstehen. V. Zusammenfassung In der gegenwärtigen Zeit werden von Sozialpolitikern in Mittel- und Osteuropa viele Fragen hinsichtlich der Form künftiger Sozialleistungen aufgeworfen. Die im Westen gesammelten Erfahrungen mögen sich in mancher Hinsicht als nützlich erweisen, aber oft sind sie so vielfältig, daß in jedem Falle Vorsicht geboten erscheint Sie können keine einfachen Lösungen bieten, sondern enthalten reichlich Wamungen über die nachteiligen Ergebnisse, die scheinbar einfache Lösungen manchmal hervorbringen können. Soziale Sicherungssysteme und soziale Dienstleistungen in dieser Region weisen zweifellos noch viele Mängel auf, wobei die Bereitschaft, sie zu überprüfen und Verbesserungen herbeizuführen, an sich als äußerst positiv bewertet werden muß. Gleichzeitig muß erkannt werden, daß Menschen nur eine begrenzte Aufnahmeflihigkeit für Veränderungen besitzen. Ein gewisser Grad an Stabilität ist daher unerläßlich, wenn ihnen nicht jedes Gefühl der Sicherheit abhanden kommen sollte. Dies würde bedeuten, daß die für die Sozialpolitik Verantwortlichen sich auf Reformen konzentrieren, die als wesentlich erachtet werden, und der Versuchung widerstehen, zu viele Dinge zu schnell zu verändern. Wo immer sich die Möglichkeit ergibt, sollten vertraute und geschätzte Eigenschaften der bestehenden Systeme erhalten bleiben.

Diskussionsbericht Die Diskussion griff zunächst dogmatische Fragen des Sozialleistungsrechts auf. Am Beispiel der deutschen Rentenversicherung wurde dargelegt. daß eine Zurückdrängung des Äquivalenzgedankens zugunsten des sozialen Ausgleichs nicht wünschenswert sei. Die Rentenversicherung und die Sozialhilfe verfolgten unterschiedliche Zielsetzungen. Während es der ersteren um die Sicherung des Lebensstandards gehe, greife letztere erst ein, wenn eine ausreichende Sicherung des zum Leben Notwendigen nicht gewährleistet sei. Eine Trennung von Sozialhilfe und Rentenversicherung sei daher systemgerechL Die Unterscheidung von Sach- und Geldleistungen wurde ebenfalls thematisiert. So wies ein Diskussionsteilnehmer auf die Tendenz zur Aufweichung der Geldleistungen im deutschen Sozialhilferecht hin. Die neuesten Bestrebungen zu einer Reform des Bundessozialhilfegesetzes gingen dahin, bei den besonderen Bedarfen durch eine Beschränkung der Vertragsfreiheit der Beteiligten de facto zu Sachleistungen zu kommen. Für die Reformstaaten stellte sich mehr die Frage nach der Zurückdrängung der Sachleistungen durch die Geldleistungen. Die früher überwiegende Gewährung von Sachleistungen sei zwar ideologisch begründet gewesen. Sozialem Konsum sei der Vorrang vor privater Einkommenspolitik eingeräumt worden. Die Qualität der Sachleistungen sei gerade im Gesundheitswesen oft sehr gering gewesen. Die Leistungen seien jedoch grundsätzlich der gesamten Bevölkerung zugänglich gewesen. Bei einer Umstellung auf Geldleistungen bestünde die Gefahr eines starken Kostenanstiegs. Darüber hinaus sei bei der Leistungserbringung durch Private aber auch nicht sicher, ob der Zugang zu den erforderlichen Leistungen dann noch allgemein gewährleistet werden könne. So fänden sich heute z.B. in Polen trotz hoher Arbeitslosigkeit nicht genügend Pflegekräfte für behinderte Personen. Ein weiterer Schwerpunkt der Diskussion lag bei den Problemen der Reformstaaten im Umwandlungsprozeß. Aus Polen wurde berichtet, daß dort die Idee einer Zurückdrängung der gesetzlichen Rentenversicherung zugunsten privater Altersvorsorgesysteme sehr populär sei. Dafür fehle es aber zum einen an einem entsprechenden privaten Versicherungsmarkt. Der Konkurs eines großen Privatversicherungsunternehmens im letzten Monat habe auch die Gefahren einer solchen Sicherungsform aufgezeigL Zum anderen fehle es am Vorsorgewillen und bei den schwächeren Einkommensschichten auch an der Vorsorgefähigkeit der Bevölkerung. Raum für eine private Altersversicherung

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Diskussionsbericht

bleibe daher nur im Bereich oberhalb eines durch die obligatorische Rentenversicherung gewährleisteten Mindesteinkommens. Für Litauen wurde diese Darstellung dahingehend ergänzt, daß es nicht nur an geeigneten Versicherungsunternehmen fehle, sondern daß bei der derzeit extremen Inflation ein Aufbau von Versicherungsfonds auch nicht möglich sei. Der Aufbau privater Versicherungssysteme sei daher eine Frage der Zukunft. Aus Litauen wurde auch über Probleme im Bereich der Wohnbeihilfen berichtet Durch extreme Preissteigerungen bei Gas und Heizung hätten über 85 % der Bevölkerung Anspruch auf Wohnbeihilfen. Um den Verwaltungsaufwand, den insbesondere die Bedürftigkeitsprüfung bei den betroffenen Haushalten mit sich gebracht hätte, und damit auch die Kosten gering zu halten, habe man sich entschlossen, unterschiedliche Energietarife für private Haushalte und Unternehmen einzuführen. Durch diese Form eines "verdeckten" sozialen Schutzes würden zwar die Unternehmen belastet Für eine Übergangszeit seien solche negativen ökonomischen Auswirkungen der sozialen Sicherheit jedoch hinnehmbar. Am Ende der Diskussion wurde die Frage aufgeworfen, inwieweit die Erfahrungen aus dem Umwandlungsprozeß der ehemaligen DDR für die Beratung der Reformländer nutzbar gemacht werden könnten. Die Reformländer stellten keinen statischen Block mehr dar, sondern seien in einem Prozeß von ungeheurer Dynamik verwickelt Um Antworten auf das differenzierte Anforderungspotential zu fmden, sei es erforderlich, den Charakter dieses Prozesses besser zu verstehen. Ein Merkmal dieses Prozesses in der ehemaligen DDR sei die anfängliche Ablehnung und Beseitigung alles Bestehenden gewesen. An die Stelle der Einheitsversicherung sollte das gegliederte Sozialversicherungssystem treten, an die Stelle der Polikliniken ausschließlich niedergelassene Ärzte. Allerdings lasse sich heute ein gewisses Zurückschlagen des Pendels beobachten. Mit solchen Prozessen müsse man auch in den Reformstaaten Ostund Mitteleuropas rechnen. Ein weiteres Kennzeichen dieses Prozesses sei der enge Zusammenhang zwischen Nichtwissen und Abenteurertum. Die Frage, die sich daraus ergebe, sei, wie man helfen könne, das bestehende Informationsdefizit abzubauen und zu einer Verständigung mit den Betroffenen zu kommen. Dabei sei allerdings zu berücksichtigen, daß die Möglichkeit, Optionen der Umgestaltung der Systeme sozialer Sicherheit anzubieten, beschränkt werde durch die Fähigkeit, tatsächlich nur das eigene System beherrschen und vermitteln zu können. In seinem Schlußstatement stellte Schulte klar, daß er nicht für eine Einebnung von Rentenversicherung und Sozialhilfe habe eintreten wollen. Vielmehr sei es sein Anliegen, darauf hinzuweisen, daß Sozialhilfesysteme nicht so ausgestaltet werden dürften, daß sie stigmatisierend wirkten. Bei der Umwandlung

DiskussiOllsbericht

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der Systeme sozialer Sicherheit in den Reformstaaten sei zu beachten, daß die Implementation von Gesetzen ebenso wichtig sei wie ihre Schaffung. Rechtsetzung, Rechtsdurchsetzung und Rechtsvermittlung sollten jeweils den Platz bekommen, der ihnen gebühre.

Beallie stimmte den Ausführungen über die Risiken privater Alterssicherungssysteme zu. Er wies jedoch mit Blick auf das Argument der fehlenden Vorsorgebereitschaft darauf hin, daß die meisten privaten Alterssicherungssysteme in den westeuropäischen Ländern betriebliche Alterssicherungssysteme seien, so daß für den einzelnen keine Wahlmöglichkeit hinsichtlich des Anschlusses daran bestünde. Zur Frage der Ersetzung von Sachleiswngen durch Geldleiswngen meinte er, daß nach den von ihm vorgelegten Zahlen heute kein großer Unterschied in der Aufteilung zwischen Sach- und Geldleistungen zwischen den ost- und westeuropäischen Ländern mehr bestünde. Daher existiere auch kein großer Spielraum mehr für den Ersatz von Sachleistungen durch Geldleiswngen. Seiner Meinung nach stelle im übrigen das Colloquium eine der Möglichkeiten dar, die enge Verbindung zwischen Nichtwissen und Abenteurertum, die den Prozeß der Umwandlung der Systeme sozialer Sicherheit in Ost- und Miueleuropa kennzeichne, zu durchbrechen. Ute Kötter

Institutionell-organisatorische Grundfragen der Transformation sozialer Sicherungssysteme in Mittel- und Osteuropa von Rainer Pitschas Soziale Sicherung im Wandel der Zentralverwaltung zur dezentralen Marktwirtschaft 1. Grundlagen marktwirtschaftlicher Transformation 2. Reform des öffentlichen Sektors 3. Die soziale Dimension des Systemwandels 11. Ausgestaltung der sozialen Sicherungssysteme: Die organisatorischinstitutionelle Perspektive 1. Modellstrukturen 2. Institutionelle Einsichten a) Leistungsfähigkeit sozialpolitischer Institutionen b) Strukturelemente der institutionellen Perspektive c) Traditionsbezüge der sozialen Sicherung d) Reichweite institutionalisierter Sicherungsanstrengungen 3. Institutionell-organisatorische Grundstrukturen der deutschen sozialen Sicherung a) Gemischte Verfassung und kooperative Sozialverantwortung b) Dezentralisierung und Selbstverwaltung c) Regionalisierung der Sozialversicherung d) Leistungssysteme e) Soziale Sicherung zwischen Staat und Markt: Der "Dritte Sektor" f) Finanzierung 4. Maßstäbe der institutionell-organisatorisch "verdichteten" Sozialpolitik III. Problemlagen der institutionelln Entwicklung sozialer Sicherung 1. Das "Vier-Kreise-Konzept" 2. Länderbericht Polen a) Institutionenentwicklung als Verfassungsauftrag b) Organisation der Sozialversicherungsanstalt c) Organisation der Krankenversicherung d) Organisation der Armutsbekämpfung e) Soziale Förderung bei Arbeitslosigkeit f) Reformperspektiven I.

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3. Länderbericht Bulgarien a) Institutionenentwicldung als Verfassungsauftrag b) Reorganisation der Sozialversicherung c) Organisation der Annutsbekämpfung d) Soziale Förderung bei Arbeitslosigkeit e) Reformperspektiven 4. Länderbericht Serbien a) Institutionenentwicldung als Verfassungsauftrag b) Reorganisation der Sozialversicherung c) Wandel der Renten- und Krankenversicherung d) Organisation der Annutsbekämpfung e) Soziale Förderung bei Arbeitslosigkeit t) Refonnperspektiven 5. Länderbericht Russische Föderation a) Organisation der Krankenversicherung b) Soziale Förderung bei Arbeitslosigkeit c) Reformperspektiven

I. Soziale Sicherung im Wandel der Zentralverwaltungs- zur dezentralen Marktwirtschart 1. Grundlagen marktwlrtscbaftUcber Transformation

Der Weg zur Marktwirtschaft ist überall steinig. Dies gilt auch für die Staaten Mittel- und Osteuropas. Für sie ist der Übergang zu einem marktwirtschaftlichen System - der gemeinhin als "Transformation", nämlich als spezifIsch historischer Prozeß eines umfassenden Systemwandels mit dem Wechsel zu einem demokratischen Politikmodell und einem privatwirtschaftlichen Marktkonzept bezeichnet wird 1 - durch die Notwendigkeit radikaler Refonnen gekennzeichnet. Sie bestehen konkret darin, auf den Güter-, Arbeits- und Kapitalmärkten freien Wettbewerb zu ennöglichen, d. h. die überkommenen Staatsmonopoie aufzulösen, wirtschaftliche Macht zu kontrollieren und die nationalen Handelsbeziehungen außenwirtschaftlich zu öffnen. Zugleich hat sich der Staat zukünftig aus den Prozessen der Preisbildung auf den Güter- und Faktonnärkten herauszuhalten ("Entstaatlichung"). Wichtige makroökonomische Entscheidungen sollten weitgehend unabhängig von politisch-institutio1 Klaus König, The Transfonnation of a "Real-Socialist" Administrative System into a Conventional Western European System, in: International Review of Administrative Sciences 58 (1992), S. 147 ff.; Klaus König, Die Transfonnation der öffentlichen Verwaltung: Ein neues Kapitel der Verwaltungswissenschaft, in: Rainer Pitschas (Hg.), Verwaltungsintegration in den neuen Bundesländern, Berlin 1993.

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nellen Einflußnahmen bzw. von den hierarchischen Strukturen der Regierung gefällt werden. Dies betrifft sowohl die Geldpolitik in ihrer Verantwortung für die Preisniveaustabilität als auch die Löhne, den Wechselkurs im Hinblick auf das außenwirtschaftliche Gleichgewicht und die öffentlichen Güter in bezug auf das Wirtschaftswachstum. Für den dadurch skizzierten Systemwandel unverziehtbar sind erneuerte verfassungsrechtliche Grundlagen: Die Kontrolle des Mißbrauchs staatlicher Macht und die Garantie der privaten Vertragsfreiheit sowie freien Beschäftigung und der Koalitionsfreiheit bilden die Eckpfeiler des Überganges der mittel- und osteuropäischen Länder zu einem marktwirtschaftlichen System. Die bislang dem Prinzip des Staatseigentums unterworfenen mikro- und makropolitischen Wirtschaftsbeziehungen haben dem Handeln freier Bürger auf der Grundlage von Privateigentum an Immobilien und Produktionsmitteln Platz zu machen. 2 Blickt man vor dem Hintergrund dieser marktwirtschaftlichen Bedingungen auf die letzten beiden Jahre der Systemtransformation zurück, so zeigt sich, daß der entsprechende Reformprozeß in allen mittel- und osteuropäischen Ländern auf dem Weg ist. Er unterliegt allerdings einer "Strategie der kleinen Sprünge"3. Sie setzt in den einzelnen Staaten durchaus unterschiedlich an. Allerdings wird überall und noch viel zu oft versucht, den Übergang zu dem neuen System unter Zuhilfenahme der alten zentralverwaltungswirtschaftlichen Elemente zu steuern. Während z.B. in Polen und Ungarn die ministerielle Aufsicht über die Unternehmen bereits abgeschafft wurde, besteht sie in einigen anderen osteuropäischen Ländern fort. 4 In ihrer Betriebsführung unabhängige Unternehmen sind jedoch die Voraussetzung für die Einführung eines marktwirtschaftlichen Systems, wobei es nicht darauf ankommt, ob diese Unternehmen weiter in Staatsbesitz sind oder privatisiert wurden. Entscheidend ist ihre Autonomie im Hinblick auf das Treffen der einzelnen Unternehmensentscheidungen. Diesbezüglich erweist sich auch die Situation der osteuropäischen Unternehmen im Hinblick auf den Außenhandel als problematisch. Dieser wird etwa in den Nachfolgestaaten der früheren Sowjetunion nach wie vor durch staatliche Handelsmonopole für den Bereich der Energie und für einzelne Rohstoffe erschwert. Insgesamt gesehen ist es in Mittel- und Osteuropa vor allem Ungarn, das bei der makroökonomischen Rollenverteilung am OECD, Reforming the Economies ofCentral BIld Eastern Europe, Paris 1992. Vgl. die Beiträge in: lan Jeffries (Hg.), Industrial Reform in Socialist Economies: From Restructuring to Revolution, Aldershot 1992. " Siehe nur die Analysen von Jaq~s Nagels, La dialectique Etat/rnarche dans les pays d'Europe centrale et orientale en voie de transition systemique vers l'economie de marehe, in: Politique et Management Public, Heft 3/1990, S. I ff.; MarI;,. MYON, Economic Reform and Political Evolution in Eastern Europe, in: The Journal of Communist Studies 8 (1992), S. 107 ff. 2

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schnellsten vorangeschritten ist; dagegen haben sich Polen, die ehemalige Tschechoslowakei und Rumänien in jeweils unterschiedlichem Maß zurückgehalten. In wichtigen Fragen, vor allem im Bereich der Beschäftigungspolitik, stehen derzeit die zentralen Marktlösungen noch immer aus; Bulgarien und Rumänien, vor allem aber die Russische Föderation (Rußland) lassen in diesem Bereich marktwirtschaftliche Perspektiven nur höchst undeutlich erkennen. 5 Andererseits darf man nicht der Gefahr unterliegen, den Grad der Systemtransformation bezüglich ökonomischer Reformen seit 1989 zu unterschätzen. Außerdem ist es außergewöhnlich schwierig, sich über den genauen Stand des Reformprozesses hinreichend ein Bild zu machen. Hinzu tritt der weitverbreitete Irrtum, der "Markt" entstehe gleichsam von allein durch die Freigabe der Preise, den Wegfall von Produktionskontrollen und die Einführung von Privateigentum. Das Gegenteil ist richtig. Der "Markt" ist erst eine noch zu schaffende (soziale) Institution, die in Zusammenarbeit mit dem Staat gezielt entwickelt werden muß.6 2. Reform des öffentlichen Sektors

Mit dem Übergang zur Marktwirtschaft gehen denn auch in den mittel- und osteuropäischen Ländern eindrucksvolle Veränderungen im öffentlichen Sektor einher. Dazu zählen der prinzipielle Wandel der politisch-institutionellen Rahmenbedingungen ebenso wie die Veränderung der rechtlichen Grundlagen für das administrative, wirtschaftliche und soziale Handeln als auch der fundamentale Veränderungsprozeß in den Werten und Erwartungen innerhalb der Bevölkerung.7 Dem neuen (Verfassungs-)Recht kommt dabei eine hervorragende Bedeutung zu. Denn es bildet die Grundlage von Freiheit, Demokratie und wirtschaftlichem Wohlstand. Und nur dort, wo die Menschenrechte geachtet werden und wo eine lebendige Verfassung die staatliche Gewalt begrenzt und die Freiheit des politischen Entscheidungsprozesses garantiert, fmdet auch der einzelne genügend Raum, sich frei zu entfalten und zum Nutzen der gesamten Gesellschaft die erforderlichen Kräfte freizusetzen. Es ist der Aufbau des (sozialen) Rechtsstaates in den mittel- und osteuropäischen Ländern, der dann auch als Grundlage für die Errichtung einer der Marktwirtschaft

5 Hans H. Glis11lQll1l/Kiaus Schrader, Mit sechs Geboten in eine neue WeiL Die Refonnstaaten haben erst einen Teil des Weges zur Marlctwirtschaft zurückgelegt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 177 vom 1. August 1992, S. 11. 6 So der Tenor der Beiträge in: Egon MatmerIJan KregelJGemot Grabher (Hg.), Der MarktSchock. Eine Agenda für den wirtschaftlichen Wld gesellschaftlichen Wiederaufbau in Zentral- Wld Osteuropa, Berlin 1992. 7 Joachim Jens Hesse/Klaus H. Goelz, Public Sector Refonn in Central and Eastem Europe: The case of Poland, in: Staatswissenschaften Wld Staatspruis 3 (1992), S. 406 Cf., 407 Cf.

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organisch verbundenen Privatrechtsordnung dient. 8 Auch diese ist unverzichtbar. Der gesamte Wirtschaftsverkehr ist auf der Grundlage der Vertragsfreiheit und der Gleichrangigkeit der Beteiligten zu organisieren. Dies bedeutet. Regelungen über die Umwandlung der Staatsbetriebe zu schaffen, die bisher in sozialistischen Rechtsformen und als unselbständige Teile der Staatswirtschaft geführt wurden. Darüber hinaus sind die gesetzlichen Voraussetzungen herbeizuführen, damit Unternehmen von Privatpersonen gegründet, erworben, neu organisiert und eigenverantwortlich geführt werden können. In den einzelnen mittel- und osteuropäischen Staaten ist dieser anzustrebende ordnungspolitische Zustand inzwischen durchaus unterschiedlich ausgeprägt. In bezug auf die Kontrolle staatlicher Macht hat vor allem Ungarn erhebliche Schritte getan; sein Rechtssystem orientiert sich stark an westlichen Vorbildern. In Polen ist der institutionelle Suchprozeß noch nicht so weit gediehen; immerhin ist nunmehr das Gesetz über das gegenseitige Verhältnis zwischen der gesetzgebenden und der vollziehenden Gewalt und über die territoriale Selbstverwaltung ("Kleine Verfassung") verabschiedet. 9 Anders noch liegen die Dinge bei der früheren Tschechoslowakei, die mittlerweile sogar ihre staatliche Einheit aufgegeben hat. Wie die Rechtsordnung der entstandenen beiden neuen Staaten im hier diskutierten Sinne weiter ausgestaltet werden wird, bleibt abzuwarten. In den übrigen Staaten Mittel- und Osteuropas macht die Reform des öffentlichen Sektors vorerst nur kleine Schritte. Überall jedoch läßt sich derzeit von einer noch ziemlich instabilen rechtlichen Situation im Transformationsprozeß sprechen. Zwar scheinen weitgehend die Fundamente eines politisch-institutionellen Systemwechsels zu demokratischen und rechtsstaatlichen Regierungsformen gelegt, doch sind jedenfalls die internen Verwaltungsstrukturen und -prozesse noch kaum tiefgreifender Revision unterzogen worden. Institutionelle Innovationen in den letzten zwei oder drei Jahren sind im Gefüge der überkommenen Strukturen des öffentlichen Sektors durchweg Fremdkörper geblieben. Zu recht stellen deshalb Hesse/Götz in ihrer interessanten Arbeit über Reformen des öffentlichen Sektors in Mittel- und Osteuropa am Beispiel Polens fest, es fehle an einem "institutional focus which could effectively co-ordinate and stabilize the reform process. "10

a Kklw KÜlhl, Juristischer Know-how-transfer in die Staaten Mittel- und Osteuropas, in: Winschaft und Recht in Osteuropa 1 (1992), S. 2 Cf.; RaiMr Pilschos, Vom Wandel der VerwaltungszusamrnenaJbeit: Herausfordenmg an die vergleichende Verwaltungswissenschaft, in: Die Verwaltung 2S (1992), S. 4TI Cf., 484 Cf. , Dziennik Ustaw (poln. Gesetzblatt - abgeküm Dz. U.), Nr. 841992, Pos. 426. 10

Fn. 7, S. 447.

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Vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit dem Verwaltungs umbau in der ehemaligen DDR sollte indessen an der Notwendigkeit einer grundlegenden Reform des öffentlichen Sektors nicht gezweifelt werden. Es geht darum, den Auftrag der Verwaltung in der Demokratie sicherzustellen, bestehende Verwaltungen rechtsstaatlich umzuorientieren und bislang fehlende bzw. im Blick auf die marktwirtschafdichen Rahmenbedingungen dysfunktionale Verwaltungszweige aufzubauen und zu reformieren. Dies gilt auch und zumal für die Sozialverwaltung und Sozialversicherung. 11 3. Die soziale Dimension des Systemwandels

Gerade die Tätigkeit dieses Teils des öffentlichen Sektors ist von dem Wandel der Rolle des Staates und dem daraus erfließenden Zwang zum Umbau der sozialen Sicherung in Mittel- und Osteuropa besonders betroffen. Denn häufig genug wird übersehen, daß die Einführung der Marktwirtschaft für den einzelnen "maximale Chance bei maximalem Risiko und also auch potentiell maximaler Enttäuschung" bedeutet. 12 Deregulierung und Demonopolisierung verlangen nämlich auch, bestehende staatliche Preissetzungen für Grundnahrungsmittel, für Wohnungen oder auch Kindergärten aufzugeben und von einer durchgehenden Korrektur der Marktergebnisse abzusehen. In der Einführung der Marktwirtschaft erlebt "sozialistische" soziale Sicherung ihre Grenzen. 13 Allerdings ist nicht zu verkennen, daß sich auch Marktwirtschaft und soziale Sicherungspolitik (Sozialpolitik) zueinander komplementär verhalten. Indem die letztere Güter- und Dienstleistungen dort zur Verfügung stellt, wo sie sozial notwendig sind, aber nicht aus individueller Kraft beschafft werden können, sichert Sozialpolitik die Existenz des marktwirtschafdichen Modells. Sie integriert die Eigenart der liberalen Marktwirtschaft und überführt diese in eine soziale Dimension. 14 Eine besondere Bedeutung kommt dabei dem Arbeitsmarkt zu: Denn auf weiten Strecken muß soziale Sicherung an abhängigen Erwerbseinkommen und Surrogaten anknüpfen; die Erwerbschancen auf dem Arbeitsmarkt bestimmen daher weitestgehend den Erfolg oder die Insuffizienz von

11 Robert HoiZl/1Qll1l. Safety Nets in Transition Economies: Concepts, Recent Deve1opments, Recornmendations, in: Paul MarerlSalvatore Zecdtini (Hg.), The Transition to a Market Economy, Volume 2: Special Issues, Paris 1991, S. 155 ff. 12 HaftS F. Zacher, Soziale Sicherung in der sozialen Marktwirtschaft, in: Vierteljahresschrift für Sozialrecht Bd. I (1973), S. 97 Cf., 113. 13 VgI. auch Willi Albers, Grenzen des WohHahrtsstaates, in: Bemhard KülpIHeinz-Dieter Hau (Hg.), Soziale Probleme der modemen Industriegesellschaft, 2. Halbbd., Berlin 1977, S. 935 Cf., 958 Cf. 14 HaftS F. Zacher, Sozialrecht und soziale Marktwirtschaft, in: Wolfgang Gitter u.a. (Hg.), Festschrift für G. Wannagat, Köln u.a. 1981, S. 715 Cf., 751 ff.

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Marktwirtschaft und Sozialpolitik. Der Markt erweist sich letztlich als eine soziale Institution. Mit Blick hierauf fmdet die Systemtransformation unter extrem schwierigen sozialen Bedingungen statl Vor dem Hintergrund einer allgemeinen wirtschaftlichen Rezession in den mittel- und osteuropäischen Ländern kommt es zu einer rasch wachsenden Zahl von Arbeitslosen aufgrund des Abbaus der früher staatlicherseits verantworteten Überbeschäftigung, zu einer raschen Verarmung der Bevölkerung und einem tiefgreifenden Verfall der Lebensstandards. Zu gleicher Zeit geraten die sozialen Sicherungssysteme in Gefahr, ihre Aufgaben nur noch unzureichend erfüllen zu können. Die Sozialausgaben müssen zurückgeschnitten werden und viele von ihnen entfallen in dem Maße, in dem Staatsunternehmen in private Untemehmerschaft übergehen. Insgesamt ist die Gefahr groß, daß in allen mittel- und osteuropäischen Ländern das soziale Sicherheitsnetz gerade zu dem Zeitpunkt zu reißen droht, in dem es am meisten gebraucht würde. 15 Die "sozialen Folgekosten" des ökonomischen Systemwechsels reichen allerdings über die skizzierten wirtschaftlichen Entwicklungslinien hinaus. Sie erstrecken sich auch und gleichermaßen auf den Zerfall des sozialen Konsenses in der Bevölkerung. Immer schwieriger wird es für den einzelnen, gegenüber den sozialen Realitäten seinem zukünftigen Verhalten allgemein akzeptierte Grundüberzeugungen über das Ausmaß persönlicher Risikobereitschaft und sozialer Sicherung durch den Staat zugrundezulegen. Unter diesen Umständen begegnet der Versoch von I. Woycicka großem Verständnis, für Polen eine Garantie- und effektive Sicherungsfunktion als Leitbild der künftigen Sozialpolitik zu entwickeln und dieser die Aufgabe der Wertevermittlung in bezug auf die Grundlagen der sozialen Marktwirtschaft (Verantwortung, Selbständigkeit, Kreativität, Wahlfreiheit) zuzuweisen.1 6 In der Tat gibt es derzeit in Mittel- und Osteuropa nur wenig Vorgaben für die Verhaltensweisen und politischen Entscheidungen einer sozialen Marktwirtschafl 17 Die Gefahr ist groß, daß die allgemeine Wirtschaftskrise, die von einer sich zuspitzenden Krise der öffentlichen Haushalte begleitet wird, zu Einsparungen der Staatsausgaben im Bereich der Sozialpolitik und des Gesundheitswesens führen wird. Bereits jetzt ist der Prozeß der Deregulierung der So-

l'

Rohert HolzmaM (Fn. 11), S. 155 ff. [reM Woycicka, Die Transfonnation der Sozialpolitik: Strategie und Barrieren, IDlveröff. Manuskript (Vortrag auf dem Europa-Kolloquium der Universität Regensburg vom 16. - 18. September 1992). 17 Dazu die Feststellungen in Jan Adam (Hg.), Economic Reforms and Welfare Systems in the USSR, Poland and Hungary: Social Contract in Transfonnation, BasingstokelLondon 1991. 16

21 von Maydell/Hohneriein

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zialgesetzgebung weit vorangeschritten. Soziale Komponenten, wie sie unserem Bild von Marktwirtschaft vertraut sind - z.B. Hilfen für Unternehmen, die in Schwierigkeiten geraten sind, oder auch Subventionen für bestimmte Produkte des Grundbedarfs, Schutzbestimmungen für die Arbeitnehmer oder das Ziel einer Vollbeschäftigungspolitik -, haben bereits in nahezu allen Ländern Mittel- und Osteuropas ihren Abschied erhalten. Überdies besteht die Gefahr, daß diese Strukturelemente einer sozialen Marktwirtschaft schon deshalb tabuisiert werden, weil sie Bestandteil des alten Systems waren und im Kanon der reinen Marktwirtschaftslehre kaum einen Stellenwert inne haben. Eher noch ist man geneigt, aus Angst vor den sozialen Folgen eines Zusammenbruchs den Fortbestand der alten Staatsunternehmen zu sichern. 18 Bei der Ausgestaltung der Sicherungssysteme und -institutionen im Sozialsektor ist deshalb vorsichtig vorzugehen. TImen darf keine "Überlast" zugemutet werden. Insofern scheint mir das westdeutsche Modell der "sozialen" Marktwirtschaft auf mittelfristige Sicht im Prozeß der Systemtransformation nicht übertragbar! Für die soziale Integration 19 kann es bestenfalls als ein langfristiges Leitbild unter Berücksichtigung länder- und bereichsspezifIscher Besonderheiten eingerichtet werden. D. Ausgestaltung der sozialen Sicherungssysteme: Die organisatorisch-institutionelle Perspektive 1. ModeUstrukturen

Im Rahmen des solchermaßen "reduzierten" Ansatzes sozialer Integration der Marktwirtschaft stellt sich die Frage nach den Parametern für die Weiterentwicklung bzw. Umgestaltung der sozialen Sicherungssysteme in den mittelund osteuropäischen Ländern. Hierbei läßt sich zunächst an jene von H.F. Zacher entwickelten Strukturmerkmale anknüpfen, mit denen wesentliche Elemente eines Systems zur sozialen Sicherheit auf dem europäischen Kontinent allgemein erfaßt werden könnten. 2O Dabei ist allerdings - wie schon anklang - zu bedenken, daß soziale Sicherung ein Sekundärsystem darstellt, das als Ausfallsicherung einspringt, wenn 18 Siehe am Beispiel Bulgariens Plame" PaJschew, Mittelstand in Bulgarien: Marktbedeullmg und Entwicklungsprobleme, in: Südosteuropa 42 (1993), S. 26 ff., 34. 19 Zu Begriff und Deutungsgehalt "solialer Integration" vgl. Rainer Pilschas, Soziale Sicherung durch fortschreitende Verrechtlichung?, in: Rüdiger Voigt (Hg.), Verrechtlichung, Königstein!fs. 1980, S. 150 ff., 151 f., 153. 20 Hans F. Zacher, Wechselwirkungen zwischen dem Europäischen Sozialrecht und dem So:lialrecht der Bundesrepublik Deutschland - Einführungsreferat aus sozialrechtlicher Sicht in: Bemd SchulteIHans F. Zacher (Hg.), Wechselwirkungen zwischen dem Europäischen Solialrecht und dem Solialrecht der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1991, S. 11 ff., 18 f.

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Primärkreisläufe versagen. Dies kann entweder im Wege einer internalisierenden oder über externalisierende Bedarfsdeckung geschehen. Dieser Ansatz konzentriert sich auf Relationen; nicht der Gegenstand, sondern die "Beziehungen" von Sicherungssektoren werden aktualisiert. Immer ist jedoch Voraussetzung, die soziale Realität nach typischen sozialen Lagen, Institutionen, Funktionen, Gruppen, Maßnahmen oder Leistungen beschreiben zu können, ehe über Intemalisierungs- oder Externalisierungschancen sozialer Sicherung gesprochen werden darf. Denn von der Präzision, mit der unbekannte Strukturen typisiert werden, hängt es letztlich ab, ob die soziale Realität adäquat erfaßt wird und die darin lebenden Bürger ausreichender sozialer Sicherung zugeführt werden können. Mit anderen Worten versagen "Internalisierung" und "Externalisierung" als theoretische Grundkategorien dann, wenn die Sozialstrukturen, denen der Kompensationsgedanke gilt, nicht stabil genug sind, sondern sich in der Dynamik des sozialen Wandels neue Realitäten und damit neue Typologien ankündigen (Problem inhomogener Sozialstrukturen).21 Zu prüfen bleibt also immer, welche Risikogruppen in einzelnen Ländern z.B. angesichts traditioneller und informeller Sicherungen kaum Bedeutung erlangen oder spezifIsche Zuordnungen von Risikolagen voraussetzen. Bedeutung erlangt hierbei auch die Frage nach der (politisch) adäquaten sozialen Sicherung nationaler Minderheiten. Im Ergebnis erfordert die Intention, "unversorgte", aber bereits jetzt sicherbare Felder für die Entwicklung sozialer Sicherungsinstitutionen und der Sozialrechtsinfrastruktur zu erfassen, einen über unsere bisherigen Erkennblisse hinausgehenden Ansatz. Es gilt, soziale Problem felder breiter angelegt und mit erweiterten Kategorien zu orten, um ihre institutionelle Sicherung in oder neben dem vorftndlichen Sicherungskomplex zu entwerfen. 22 2. Institutionelle Einsichten

Mit diesen Vorbehalten ist H.F. Zacher zuzustimmen, wenn er zur Entwicklung von Modellstrukturen sozialer Sicherung auf deren spezifIschen Organisationsbezug verweist Dessen Intensität, d. h. der erforderliche organisatorische Aufwand für erfolgreiche Sozialpolitik, ist ein gewichtiges Strukturmerkmal für Auf- und Ausbau sozialer Sicherungssysteme. Es reicht also nicht aus, soziale Sicherheit bei Krankheit oder im Alter ausschließlich unter dem bloß monetären Aspekt der Rentengewährung oder dem Gesichtspunkt me21 RaifU!r PitschaslArmin IJ[. SozialrechiSinfrastruktur als Entwicklungspotential - Rechtlicher Entwicklungsbedarf sozialer Sichenmgssysterne und soziale Infrastruktur in Entwicklungsländern am Beispiel Brasilien und Peru. in: Pitschasl/ff. Soziale Sicherung in Brasilien und Peru, Speyer 1991, S. 1 ff., 10. II RaifU!r PitschaslArmin Iff, (Fn. 21), S. 13 f.

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dizinischer Leistungen zu entwickeln. Schon allein darin, daß Leistungen durch eine Sozialversicherung und eben nicht im Wege individueller privater Vorsorge verfügbar gemacht werden, liegt eine grundlegende Organisationsentscheidung. Folgerichtig wird sie z.B. in Polen durch die jetzige Verfassung getroffen. 23 Freilich ist auch dieser Organisationsbezug als solcher zu eng gedacht Seine Erwähnung läßt die organisatorischen Grundlagen der Erbringung von Sozialleistungen eher als "strukturelle Restgrößen" werten. Ein derartiges Verständnis führt jedoch auf Irrwege, wie nicht zuletzt die institutionellen DefIzite der europäischen Sozialpolitik verdeutlicht haben. 24 Vemntwortlich hierfür ist die weitgehend ausgeblendete Auseinandersetzung damit, daß die konkrete Organisation sozialer Sicherung ihrerseits nur Bestandteil eines diese umschließenden institutionellen Denkens von formalisierten, auf Kanalisierung und Steuerung von Handlungen gerichteten Regelungskomplexen darstellt, die stets durch gesellschaftliche Interessen, politische Ziele, institutionelle Eigeninteressen sowie materielle Restriktionen geprägt werden. 25 In diesem Verständnis ist die institutionelle Perspektive sozialer Sicherung bestimmender Teil eines verflochtenen Zusammenhanges von Organisationsstrukturen, Handlungsweisen, Inhalten und Entwicklung sozialer Politik in den Nationalstaaten Europas und den Mitgliedstaaten der EG.26 Dementsprechend sind die Bemühungen um eine soziale Integration der Marktwirtschaft in den mittel- und osteuropäischen Staaten auch und gerade einer spezifIsch institutionellen Perspektive zu unterwerfen. Diese bezieht sich zunächst auf die Leistungsfiihigkeit von Institutionen (a), um sodann einzelne institutionelle Parameter der sozialen Integration (b) in den Blick zu nehmen. Dabei sind die Traditionsbezüge (c) institutioneller Ordnung von Sozialleistungen zu beachten, aber auch die Bedürfnisse der Bürger (d), wie sie das ILO-Übereinkommen Nr. 102 vom 4. Juni 1952 zusammenstellt 27

23 Eine grundlegende Verfassungsrefonn steht freilich an, vgl. Edgar Malyscholc, Der Entwurf einer neuen Verfassung der Republik Polen und die Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Recht in Ost Wld West 36 (1992), S. 225 ff.; siehe femer das vor einiger Zeit verabschiedete Gesetz über das Verfahren zur Vorbereitung und Beschlußfassung einer neuen Verfassung (Rzeczpospolita, 24.4. Wld 22.5.1992). 24 Dazu siehe statt aller und mit weiteren Nachweisen RaiMr Pitschas, Die soziale Dimension der Eurq>äischen Gemeinschaft, in: Die öffentliche Verwaltung 45 (1992), S. 277 ff., 280 ff. 25 Joachim Jens HesseJArthllT Benz, Die Modemisierung der Staatsorganisation, Baden-Baden 1990, S. 235. 26 RaiMr Pitsehas, Soziale Integration Europas durch Institutionenentwicklung: Die EG auf dem Weg zwn Eurq>äischen Sozialstaat, in: Dellef MertenlRainer Pitschas (Hg.), Der Europäische Sozialstaat Wld seine Institutionen, BerIin 1993, S. 91 ff., 104 ff. 'E1 Abgedruckt in: Hans F. ZacMr, Internationales und Europäisches Sozialrecht, Percha 1976, S. 158 ff.

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a) Leistungsfähigkeit sozialpolitischer Institutionen Die soziale Integration der Marktwirtschaft in den mittel- und osteuropäischen Ländern bedeutet im wesentlichen den Aufbau von Institutionen, die den Rahmen für sozialpolitische Entscheidungsprozesse und die Grundlage für die Gewährung von Sozialleistungen bieten. Ihnen ist die Funktion der partiellen Steuerung und Beeinflussung nationaler Sozialpolitik übertragen. Denn "Institutionen" formieren ein komplexes System der Politikgestaltung und - implementation auf verschiedenen Ebenen der sozialen Sicherung. Die institutionelle Komponente der sozialen Sicherung für die soziale Integmtion der Staaten Mittel- und Osteueropas herauszuschälen, bedeutet somit im Kern, speziftsche Entwicklungsbedingungen der nationalen Sozialpolitik hervorzuheben. In gewisser Weise handelt es sich dabei um einen Prozeß der "Modernisierung" sozialer Sicherung. 28 Betroffen davon ist einerseits die Makroebene jeweils nationaler Sozialpolitik in bezug auf die notwendigen Reformen der zentralstaatlichen Organisation sozialer Sicherung, so z.B. der Einführung von Selbstverwaltung, der Überführung staatlicher Sicherungsfunktionen in private Sicherungsanstrengungen einschließlich der Rolle der Betriebe in der künftigen Sozialpolitik. Auf einer mittleren Ebene geht es dann darum, unterschiedliche Typen sozialer Sicherungssysteme in konkrete Organisationszusammenhänge zu überführen und zu einem Netzwerk institutionellorganisatorischer Arrangements von Sozialversicherungs- bzw. Sozialhilfeträgern und Trägem der Arbeitsmarkt- und Gesundheitspolitik zu verknüpfen. Auf der Mikroebene geht es schließlich darum, die Arbeit der einzelnen - gegebenenfalls gegliederten - Sicherungsinstitutionen wie z.B. Landesversicherungsanstalten, Sozialämter etc. in den Blick zu nehmen, ihre Organisation und Verfahren zu überprüfen und die Effektivität der Dienstleistungen und des Managements - auch in personeller Hinsicht - zu verbessern. b) Strukturelemente der institutionellen Perspektive Damit schälen sich erste Strukturmerkmale der institutionellen Perspektive heraus. Im Sinne der vorangehenden Ausführungen die soziale Integmtion der Marktwirtschaften in Mittel- und Osteuropa anzugehen, heißt zu klären, in welchem Ausmaß "Zentralität" oder "Dezentralität" (Selbstverwaltung) bzw. "Regionalität" die sozialpolitische Entwicklung prägen sollten. Von überragender Bedeutung ist ferner zu entscheiden, in welchem Verhältnis staatliche und private Sicherungsverantwortung zueinander stehen. Weiterhin erscheint bedeutsam, welche Funktionen der "Dritte Sektor" und eine "betriebliche Sozialpolitik" in privater Hand übernehmen könnten. 28

Dazu im intematiooalen Vergleich Joachim Jens HesselArthllT Benz, (Fo. 25), S. 186 ff.

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Auf diese Weise zeigt sich der institutionell-organisatorische Ansatz zur Beb'achtung der Umgestaltung von Systemen sozialer Sicherheit in den Staaten Mittel- und Osteuropas als ergiebig genug, ergänzend zu den Techniken und Instrumenten sozialer Sicherung weitere für den sozialen Integrationsprozeß zenb'ale Fragen herauszwubeiten und diejenigen Antworten zu diskutieren, die verschiedene Staaten in der Lösung zenb'aler sozialer Aufgaben inzwischen schon gewählt haben. c) Traditionsbezüge der sozialen Sicherung Dabei ist allerdings zu bedenken, daß die institutionelle Perspektive in ihrer Orientierung an den Bedürfnissen des Bürgers ("Bürgernähe") die historischen Traditionen der sozialen Sicherung einzubeziehen hat. Letztere begründen nämlich spezifische Identitäten und Wertverständnisse; ihre Berücksichtigung erleichtert die Akzeptanz von Reformen, so daß Institutionen gegenüber dem Anliegen der Marktwirtschaft vermittelnd tätig werden können. Die Erkenntnis dessen spricht in gewisser Weise für eine partielle Wiederaufnahme bzw. Wiederanknüpfung an "vorsozialistische" Strukturen. Allerdings ist hierbei besondere Vorsicht geboten, wie am Beispiel Polens Szurgacz nachweist 29 Zu überlegen scheint mir auch, ob nicht einzelne Komponenten der bisherigen sozialen Sicherungssysteme "im Sozialismus" erhalten werden sollten. Ich rechne dazu etwa Einrichtungen des öffentlichen Gesundheitsdienstes bzw. der Kinderbetreuung (Kindergärten, Kinderkrippen).3O Eine solche vorsichtige Bewegung in der Institutionenentwicklung vermeidet Systembrüche und vorhersehbare Qualitätsmängel eines "neuen" Sozialleistungsrechts. Diese ersprießen häufig dem Mangel an programmatischen Grundlagen,31 der Vernachlässigung von Organisationsentwicklung und Finanzierung,32 aber auch dem Zeitdruck, unter dem Institutionspolitik im Sozialsektor steht 33 29 Herbert SZlI1'gacz, Die neueren Entwicklungen auf dern Gebiet des Sozialrechts in Polen, in: Zeitschrift für ausländisches und internationales Arbeits- und Sozialrecht 5 (1991), S. 279 ff., 304 f.; ebenso kritisch - im Hinblick auf Ungarn - siehe Zruzsa Ferge, Social Policy Regimes and Social Structure - Hypotheses aboot the Prospects of Social Policy in Central and Eastern Europe, in: Z. Fergeßon Eivind Kolberg (Hg.), Social Policy in a Oanging Europe, Frankfurt a.M./Boulder-Colorado 1992, S. 201 ff., 218 f. 30 Zur Diskussion in diese Richtung unter Verweis auf die jungen Bundesländer Deutschlands bzw. die frühere DDR siehe etwa Holger BacldJaus-Maulffhomas Olle, Die Konstitution kommunaler Sozialpolitik: Probleme des Aufbaus sozialer Venorgungsstrukturen in den neuen Bundesländern, in: Oristof Rühl (Hg.), Institutionelle Reorganisation in den neuen Ländern, Marburg 1992, S. 83 ff., 92 ff., 104 ff. 31 So für Polen z.B. SZUTgacz (Fn. 29), S. 283. 32 Beispielsweise im Bereich der polnischen Sozialversicherung, vgl. SZUTgacz (Fn. 29), S. 285 f. 33 Siehe die Hinweise bei JoachimJens Hesse/Klaus H. Goetz (Fn. 7), S. 413 f.

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Ich plädiere also dafür, daß in der gegenwärtigen Zwischenphase der sozialen Integration Mittel- und Osteuropas nur "reduzierte" und zurückhaltende Übergangslösungen gewählt werden sollten. Viel zu weit geht daher die von Hart1/Vecernik34 vorgeschlagene radikale Dezentralisierung der zentralstaatlichen Sicherungssysteme bei gleichzeitiger Überleitung der Sicherungsaufgaben auf die örtlichen Verwaltungsstellen bzw. Gebietskörperschaften (" ... local authorities, who would be complerely autonomous").3S Ich halte jedenfalls dafür, nicht immer und jedenfalls nicht in allen Ländern Mittel- und Osteuropas einen konzeptionellen Neubeginn der sozialen Sicherung zu wagen. d) Reichweite institutionalisierter Sicherungsanstrengungen Institutionenentwicklung im sozialen Sektor hat sich durchgängig an den realen Bedürfnissen des Bürgers zu orientieren. Ausgangspunkt hierfür können die (ver-)sicherbaren Risiken und deren Zuordnung zu einer bestimmten Sicherungsform sein. Das ILO-Übereinkommen Nr. 10236 sieht diesbezüglich einen Kanon typischer Risikolagen vor, der unter Betonung monetärer Sicherungsinstrumente ein grundkategorielIes Muster für den Auf- bzw. Ausbau entsprechender Institutionen der sozialen Sicherung abgeben könnte. Allerdings ist dieses Muster angesichts seiner tendenziellen Orientierung an öffentlichen Finanztransfers vor allem in jenen Situationen zu modifIZieren, in denen es zu einer sich zuspitzenden Krise der öffentlichen Haushalte kommt. Im Vordergrund muß dann eher die Frage stehen, wie angesichts knapper Transferressourcen und "gebremster" Beitragssätze unter den Bedingungen einer "stratifizierten" Gesellschaft die soziale Sicherung aufzubauen wäre. In der Antwort hierauf ist m.E. eine Rahmen-Konzeption vorzuziehen, die auf die noch relativ offenen Strukturen im sozialen Integrationsprozeß der Staaten Mittel- und Osteuropas risikospezifisch und prozeßbewußt reagiert. 37 Sie ist zu ergänzen durch eine "Parameter-Kombination", die spezifische Sicherungslagen wie z.B. Krankheit, Armut und Arbeitslosigkeit auf bestimmte Zielgruppen wie z.B. Frauen, Kinder etc. projiziert und Entwicklungskonzeptionen an spezifische, für den jeweiligen Verbund von Sicherungslage und Zielgruppe einschlägige Sicherungsinstitutionen (z.B. Sozialversicherung, Sozialhilfe, Sozialarbeit, Selbsthilfegruppen etc.) bindet. 38 Die Sicherungslagen stellen in diesem Konzept zugleich die Bezugsfelder des institutionellen Umbaus gegenwärtiger sozialer Sicherung in den Ländern Mittel- und Osteuropas dar. 34 Ja" HartllJiri Vecer1lik, Economy Policyand Welfare in Transitioo, in: Zsuzsa Ferge/Jon Eivind Ko1berg (Fn. 29), S. 161 ff., 170 ff. 35 Ja" Hart/IJiri Vecer1liA:: (Fn. 34), S. 171. 36 S. Fn. 27. 37 VgI. auch Szurgacz (Fn. 29), S. 279. 31 RaiMr PilschasIArmilllff(Fn. 21), S. 12 ff., 16 f.

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3. Institutionell-organisatorische Grundstrukturen der deutschen sozialen Sicherung

In der skizzierten instibltionellen Perspektive läßt sich als Vergleichsmaßstab für die Gestaltung der Prozesse sozialer Integration der Staaten Mittel- und Osteuropas in die Marktwirtschaft der instibltionelle Zusammenhang der sozialen Sicherung in der Bundesrepublik Deutschland heranziehen. Der Blick auf die in ihm geborgenen nationalen instibltionellen Arrangements vermag anhand der voraufgehend diskutierten Kategorien, Ebenen und Bezugsfelder (Alterssicherung, Krankheit, Armut und Arbeitslosigkeit) einige der Voraussetzungen und Anforderungen an die Weiterentwicklung bzw. Umgestalblng sozialer Sicherungssysteme in Mittel- und Osteuropa zu verdeutlichen. a) Gemischte Sozialverfassung und kooperative Sozialverantwortung In der Bundesrepublik Deutschland hat die dem Grundgesetz immanente "Sozialverfassung" in ihrem Zusammenwirken mit der Arbeits- und Wirtschaftsverfassung als konstitutionelles Subsystem 39 die staatliche Sozialpolitik und die soziale Sicherung insgesamt der ausschließlichen Wahrnehmungskompetenz des Staates entzogen. Staatliche Sozialpolitik und private soziale Sicherung ergänzen sich zu einem Zusammenhang kooperativer Sicherungsinstitutionen. Diese können einerseits staatlichen Ursprungs sein oder para-staatliche Formen annehmen; daneben stehen andererseits die privatwirtschaftlich organisierte soziale Sicherung (Privatversicherung, betriebliche Sozialpolitik) und die Anstrengungen des "Dritten Sektors" im Bereich der Sozialleisblngen. 4O Maßgeblich im einzelnen ist der zwischen diesen Institutionen herrschende prinzipielle Wettbewerb, der sich in Deutschland allerdings erst teilweise - unter europäischem Druck - zu verwirklichen beginnt. b) Dezentralisierung und Selbstverwaltung In ihrer institutionellen Garantie verkörpert die deutsche Sozialversicherung jenen eigenständigen Komplex von Organisationsstrukwren, Handlungsweisen, Politikinhalten und Entwicklungen sozialer Sicherung auf der Grundlage des Versicherungsprinzips (Umlageverfahren), der außerhalb der unmittelbaren Staatsverwalblng steht. Sie ist selbständigen öffentlich-rechtlichen Trägem anvertraut, denen das Recht die Selbstverwaltung einräumt. 41 Versicherungs39 Rupert ScholzlRainer Pilschas, Sozialstaat und Gleichheit, in: Festschrift zum 25jährigen Bestehen des Bundessozialgerichts, Bd. 2, Köln o.a. 1979, S. 627 ff., 639 ff. 40 HelmIlI K. AnheierlWolfgang Seibel (Hg.), The Third Sector: Comparative Studies of Nonprofit Organizations, Berlin/New Yom 1990; Rainer Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, München 1990, S. 275 ff.

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zwang, öffentlich-rechtliche Organisationsstruktur, öffentlich-rechtliche Gestaltung der Versicherungsverhältnisse grenzen die Sozialversicherung dabei von den Privatversicherungen eindeutig ab. Die spezielle Organisationsfonn gibt darüber hinaus auf Mikro- und Mesoebene - allerdings unter Berücksichtigung von Wirtschaftlichkeits überlegungen - eine Grundgewähr für die Verwirklichung von Bürgernähe, finanzieller Solidität und Berechenbarkeit sowie Freiheit von staatlicher Einflußnahme. Das Prinzip der Selbstverwaltung begrenzt auf diese Weise den Staatssektor in der sozialen Sicherung. Gleichwohl gewährleistet es die Integration der verselbständigten Sozialversicherungsträger in das staatlich-gesellschaftliche Gesamtgefüge. Dabei bildet die öffentlich-rechtliche Fonn der Sozialversicherungsträger (Körperschaften des öffentlichen Rechts)42, die Versichertenmitwirkung43 unter Beteiligung der Sozialpartner sowie die Eigenverantwortlichkeit (Staatsdistanz, grundsätzliche Beschränkung auf Rechtsaufsicht)44 wesentliche Gestaltungsprinzipien. 45 Kraft der strikten gesetzlichen Differenzierung in politische und rechtliche Selbstverwaltung 46 fmden sich zugleich die Aspekte eigenverantwortlicher Aufgabenerfüllung durch die Akteure mit den partizipationspolitischen Intentionen der Selbstverwaltungsidee verbunden. Als Selbstverwaltungsorgane dienen Vertreterversammlung und Vorstand. 47 Für ihre Zusammensetzung gilt das Prinzip der Parität von Versicherten und Arbeitgebern. Unter den einzelnen Varianten sei hier die "drittelparitätische" Konzeption bei den Trägem der landwirtschaftlichen Unfallversicherung herausgehoben (Einbezug der Selbständigen ohne fremde Arbeitskräfte). Die Vertreterversammlung ist als Lenkungs-, KontroU- und Normgebungsorgan konzipiert; der Vorstand bildet das VoUzugsorgan. Personell und fachlich wird die Selbstverwaltung aus dem Engagement der Verbände ("verbandliche" oder "verbandsgesteuerte" Selbstverwaltung)48 "gespeist". Die in ihr zugleich geborgene Integration der Arbeitgeber und Gewerkschaften in die Aufgaben der Sozialversicherung versachlicht die sozialpolitische Diskussion und erhöht die Stabilität der sozialen Sicherung trotz der 41 RejnJrard Hendler, Organe und Selbstverwalblng der Sozialversicherung, in: Bemd von Maydell/Franz Rullllld (Hg.), Sozialrechtshlllldbuch, Neuwied 1988, S. 224 ff. 42 Vgl. § 29 Abs. 1 Sozialgesetzbuch (SOB) - Buch IV: Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung - vom 23. Dezember 1976 (BOBI. I S. 3845). 43 § 29 Abs. 2 SOB IV. 44 §§ 29 Abs. 3, 87 SOß IV. 45 Näher dam Hendler (Fn. 41), S. 232 ff. 46 § 29 Abs. 3 SGB IV. 47 § 31 Abs. 1 SGB IV. 48 Zu den "Instibltionen" und "Grundformen" der Selbstverwaltung namentlich in der Sozialversicherung DeUlschlands siehe Peter A. Köhler/Hans F. Zacher, Die Selbstverwaltung der So-

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Ausgliederung aus der unmittelbaren Staatsverwaltung. Nicht verschwiegen werden soU allerdings, daß die rechtliche Bindung der Selbstverwaltung durch zentralstaatliche Vorgaben erheblich ist (namentlich im Bereich der Rentenversicherung). Lediglich im Vorsorgesektor und im Rehabilitationsbereich bleiben der Selbstverwaltung größere Entfaltungsspielräume. c) Regionalisierung der Sozialversicherung Zu den großen Diskussionsthemen der Gegenwart gehört in der Bundesrepublik Deutschland der Versuch, die bereits in Gestalt der Landesversicherungsanstalten (Rentenversicherung für Arbeiter) vorfmdliche regionale Gliederung der Sozialversicherung nach Adressaten bzw. Versichertenkreisen auf alle Träger der Sozialversicherung, also auch auf die in mittelbarer Bundesstaatlichkeit organisierten Körperschaften und Anstalten auszudehnen. 49 Freilich ist diese Diskussion stets in ihrem unlöslichen Zusammenhang zur föderalistischen Konstrukti,m der Bundesrepublik Deutschland zu sehen; unter dem zentralisierenden Einfluß der Europäischen Gemeinschaften (EG) sehen sich die Länder gezwungen, zusammen mit ihrer staatlichen Eigenständigkeit auch die ihnen am Herzen liegenden Probleme der Organisation sozialer Sicherheit neu zu formulieren. 50 d) Leistungssysteme Die deutsche Sozialversicherung ist in eigenständige Zweige aufgegliedert, die den typischen Lebensrisiken - Krankheit, Unfall, Alter, Hinterbliebenenschaft, Illvalidität, Arbeitslosigkeit - entsprechen. So gibt es eine Rentenversicherung, Krankenversicherung, Arbeitslosenversicherung etc. Die jeweiligen Sozialleistungen beruhen - dem Versicherungsprinzip entsprechend - schwerpunktmäßig auf Geldleistungen mit Ausnahme der Krankenversicherung. In dieser herrscht das Sachleistungsprinzip; der Versicherungsträger bedient sich des Gesundheitsmarktes zum Erwerb der Leistungen, die er den Versicherten zur Verfügung steUt51 zialversichenmg in der Bundesrepublik Deutschland, in: Die Versichenmgsnmdschau 36 (1981), S. 65 ff., 72 ff., 74 ff. 49 Mar/cus HeintzenlChristoph K_ng~ßer, Die Regionalisienmg der Sozialversichenmg aus verfassungsrechtlicher IDId verfassungspolitischer Sicht, in: Die Angestelltenversichenmg 40 (1993), S. 58 ff. SO Dazu am Beispiel von Arbeitsfördenmgsrecht und Arbeitsförderungsverwaltung näher Rainer Pilschas, Funktionsprobleme der Arbeitsverwaltung im europäischen Regionalisienmgsprozeß, in: Otfried Seewald (Hg.), Organisationsprobleme der Sozialversicherung, SL Augustin 1992, S. 167 ff., 168, 180 ff. 51 BerNl von Mayckll, Leistungsbeschaffung (insbesondere von Heil- und Hilfsmitteln) durch die gesetzlichen Krankenkassen zwischen öffentlichem IDId privatem Recht, in: Der Betrieb 38 (1985), S. 276 ff.; Bertram Schuli", Sozialrecht, 4. Aufl., Düsseldorf 1991, S. 86 f.

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Diejenigen Sozialleistungsbereiche, die der Staat in unmittelbarer Staatsverwaltung organisiert und aus Steuermitteln fmanziert, zeichnen sich durch eine besondere Verantwortungslast der staatlichen Gemeinschaft sowie durch mangelnde Vorsorgemöglichkeiten des einzelnen aus. Hierzu gehören die Kriegsopferversorgung ebenso wie sonstige besondere Bedarfslagen, z.B. der Familienlastenausgleich, die Ausbildungsförderung oder das Wohngeld. Sie sind allesamt als staatliche Leistungsbereiche eingerichtet, in unmittelbarer Staatsverwaltung organisiert und als steuerfinanzierte Auffangsicherung geführt. e) Soziale Sicherung zwischen Staat und Markt: Der "Dritte Sektor" Soziale Sicherung in der Bundesrepublik Deutschland ist in erheblichen Teilen durch die Tätigkeit von Organisationen des "Dritten Sektors" gekennzeichnet.52 Dazu rechnen in erster Linie die großen privatförmigen Wohlfahrtsorganisationen der sog. Freien Träger der Wohlfahrtspflege. 53 Diese sind vorwiegend auf kommunaler Ebene tätig und in ihrem Wirken prinzipiell unabhängig vom Staat gestellt. Freie Wohlfahrtspflege und andere "Nicht-Regierungsorganisationen" entsprechen auf diese Weise den Bedürfnissen bestimmter Zielgruppen der sozialen Sicherung eher als die staatlichen bzw. selbstverwalteten Sozialleistungsträger, und sie sind in der Lage, Sicherungslücken durch eigene Initiative und in Anpassung an die sozialen Risiken auszufüllen. 1) Finanzierung

Die institutionell-organisatorische Selbständigkeit der Sozialversicherung in Deutschland basiert auch auf der Eigenständigkeit ihrer Finanzierung. Damit kommt der Beitragsfinanzierung geradezu konstitutive Wirkung im institutionellen Zusammenhang zu. 54 Dies gilt auch dann, wenn - wie in der Renten- und Arbeitslosenversicherung - der Beitragssatz durch den Gesetzgeber selbst festgelegt wird. Denn das gemeinsame Beitragseinzugsverfahren für die Beiträge

52 Dies gilt namentlich für die Bereiche der Sozial- und Jugendhilfe, vgl. umfassend Peter Trenk-Hillterberger, Sozialhilferecht, in: Bemd von Mayde1lJFranz Ruland (pn. 41), S. 951 ff., 965 f.; JohallMS MiiNhr, Jugendhilferecht, ebd., S. 987 ff., 991 f., 999 f. 53 Roland Wegener, Staat und Verbände im Sachbereich Wohlfahrtspflege, Berlin 1978; Eclrart PankoJce, Freie Wohlfahrtspflege: Fragen mr Vetbandsstruktur, Verbandsressourcen, Verbandspolitik, in: Dietrich Thränhardt u.a. (Hg.), Wohlfahrtsverbände zwischen Selbsthilfe und S0zialstaat, 1986, S. 119 ff. 54 Peter Krause, Instrumente risiko-, bedarfs- und systemgerechter Finanzierung von Sozialleistungen, in: Bertram Schulin (Redaktion), Sozialfinanzverfassung, Wiesbaden 1992, S. 41 ff., 44ff.

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zur Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung ist Angelegenheit der Krankenkassen und damit in die Verantwortung eines Sozialversicherungsträgers gelegt Zwischen Beitrag und Leistung besteht regelmäßig (aber nicht ausnahmslos) ein Abhängigkeitsverhältnis; aus ihm erfährt der Beitrag seine Rechtfertigung als Finanzierungsmittel: Um ihre sozialpolitisch intendierte Wirkung zu erreichen, müssen die Leistungen durch Beiträge "erworben" werden. Dementsprechend sind die Beiträge zu steigern, wenn die Leistungen an der Erhöhung des Lebensstandards beteiligt werden sollen. Zur Finanzierung der diesem Wachstum innewohnenden Dynamisierung bedienen sich die deutschen Sozialversicherungsträger des Rückgriffs auf das Umlageverfahren. 4. Maßstäbe der Instltutlonell-organisatorl'iCh "verdichteten" Sozialpolitik

Zu den Grundproblemen jeder sozialen Sicherung gehört die Frage, ob Sozialleistungen ausschließlich monetär oder auch durch Sachleistungen und persönliche Hilfe erbracht werden sollen. In der Bundesrepublik Deutschland hat die Erbringung monetärer Sozialleistungen einen gewissen tatsächlichen Vorrang. Dies hat dazu geführt, institutionell-organisatorische Konsequenzen aus der an sich gegebenen gleichrangigen Bedeutung von persönlichen Dienstleistungen einzufordern. So wird die Verbesserung von Beratungs- und Vorsorgeeinrichtungen verlangt und die institutionelle Förderung des freiwilligen Einsatzes in sozialen Diensten angeregt 55 Des weiteren unterliegt Institutionspolitik auch den Grundentscheidungen darüber, inwieweit der einzelne die Risiken und Lasten der sozialen Sicherung tragen muß und welchen Trägem bzw. in welchem Verhältnis zueinander diese Lasten andernfalls und im übrigen auferlegt werden sollen. Bezugspunkt hierfür ist die sozialethisch begründete, d.h. nach den Prinzipien von Solidarität und Verantwortung festgelegte Grundaufgabe moderner sozialer Sicherungssysteme, materielle Freiheit zu ermöglichen und zu sichern. Konkretisiert wird dieser Auftrag in der Zuständigkeitsordnung über das sozialrechtliche Subsidiaritätsprinzip unter Einwirkung der Leitprinzipien von Bedarfs-, Chancen-, Leistungs- und Verteilungsgerechtigkeit.

55 Bertram SchulÜl, Empfiehlt es sich, die Zuweisung von Risiken IDld Lasten im Sorialrecht neu zu ordnen?, in: Verhandlungen des 59. Deutschen Juristentags (DIT), Bd. I, Gutachten E, München 1992, S. 7ff., 130 ff.

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m. Problemlagen der institutionellen Entwicklung sozialer Sicherung Vor dem skizzierten Vergleichshintergrund geht es nunmehr darum, in den Bezugsfeldern des institutionellen Umbaus (Alterssicherung, Krankheit, Armut und Arbeitslosigkeit) die eigengearteten Voraussetzungen und Anforderungen der institutionellen Entwicklung sozialer Sicherungssysteme in den Staaten Mittel- und Osteuropas zu kennzeichnen. Als unerläßlich erweist es sich, "to outline the general direction which reform efforts need to take, if the public sector is to mate a positive contribution to the intertwined processes of ... societal change. "56 Freilich bedarf es dabei einer erheblichen Vorsicht darin, bestimmte hiesige (deutsche) institutionelle Arrangements der sozialen Sicherung gleichsam als "Rezept" zu empfehlen. So ist einerseits die in ausgeprägtem Maße festzustellende Unterschiedlichkeit der Länder Mittel- und Osteuropas in der Entwicklung ihrer sozialen Sicherung zu berücksichtigen (1). Darüber hinaus gilt es, in einzelnen Länderberichten den aktuellen Stand der institutionellen Verankerung sozialer Sicherung nachzuzeichnen und zu analysieren (2. ff). 1. Das "Vier-Kreise-Konzept"

In einem ersten und noch vorläufigem Zugriff auf die Systeme sozialer Sicherheit in den Staaten Mittel- und Osteuropas lassen sich einzelne Ländergruppen ausdifferenzieren, die sich im Grad der "Entsozialisierung" , nach dem Maß ihrer jeweiligen marktwirtschaftlichen Entwicklung, in der Ausprägung des Wandels der je spezifischen Verwaltungskultur im Rahmen ihrer institutionellen Ordnung und im Ausgriff bisher eingeleiteter Reformen ihres öffentlichen Sektors unterscheiden lassen. 57 Die Länder Polen, Ungarn und die frühere Tschechoslowakei einerseits sind dabei von den Staaten Bulgarien, Rumänien, Kroatien, Slowenien und Serbien andererseits zu trennen. 58 Diesen

56 JOQChimJ~1IS H~ss~/Klaus H. Goetz (pn. 7), S. 415. 57 Zu solchen und anderen Differenzierungserfordemissen siehe U.a. B~rnd VOll

Maydell, Die Systeme sozialer Sicherheit in den Staaten Miuel- und Osteuropas, in: Zeitschrift für Versicherungswesen 1992, S. 310 ff.; A1e/rsandar M. Vacic, Systemic Transformation in Central and Eastern Europe: General Frameworlt, Specific Features and Prospecls, in: Osteuropa-Wirtschaft 37 (1992), S. 331 ff.; Endre SilcIlvtJII Svetlik, Shifts in the Welfare Mix. Significant Features in Countries with Planned Economy: Similarities and Differences, in: Adalhert EversIHelrnut Wintersberger (Hg.), Shifts in the Welfare Mix, Wien 1988, S. 273 ff. 58 Diese Sonderung findet ihren Grund nicht mletzt in den sog. "Europäischen Abkommen", die VOll der EG im Wege der Assoziierung mit Polen, Ungarn und der (früheren) Tschechoslowakei in den beiden letzten Jahren abgeschlossen worden sind, vgl. dazu Gabr~11a Izik H~dri, Die EG und die Staaten des "Visegrader Dreiecks", in: Osteuropa 43 (1993), S. 154 ff.; allgemein müssen

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beiden Gruppen stehen die Baltischen Staaten in ihren eigengefügten Grundlagen der sozialen Sicherung gegenüber.59 Eine weitere Gruppe bildet die Russische Föderalistische Republik in Verbindung mit Weißrußland und der Ukraine. 60 Eine SonderroUe nimmt Albanien ein. 61 Über die skizzierte Klassifikation läßt sich natürlich streiten. Manches in der gegenwärtigen Entwicklung spricht dafür, Bulgarien eher der Gruppe um Polen, Ungarn und die Tschechische bzw. Slowakische Republik zuzuordnen.62 Freilich zeigt der unvoreingenommene Blick auf die institutionelle Entwicklung im post-kommunistischen Bulgarien, daß der Übergang von der alten zentralen Plan- zur gewollten Marktwirtschaft gefährlich lange dauert. Der institutionelle Wandel ist gering, Privatisierungsmaßnahmen werden verzögert. 63 Eine Verwaltungsreform ist kaum feststellbar. Und auch das System der sozialen Sicherung beruht immer noch vorwiegend auf den überkommenen Strukturen.64

Davon abgesehen, können die nachfolgenden Bemerkungen zur Situation und Analyse der institutionellen Grundlagen sozialer Sicherung nicht auf alle genannten Staatengruppen bzw. Einzelstaaten eingehen. Im Vordergrund stehen deshalb ausgewählte Staaten aus den einzelnen Staatengruppen in ihrem institutionellen Sicherungsgefüge nach Maßgabe ebenendifferenzierter und kategorial aufgeschlossener Sicherungsfelder.

die genannten miue1europäischen Länder als diejenigen Staaten des ehemaligen "Ostblocks" angesehen werden, deren ökonomische und sozialpolitische Entwickllmg mit Blick auf die im Text angegebenen Kriterien und im Vergleich zu den westeuropäischen Staaten einerseits sowie zu den genannten weiteren osteuropäischen Staaten andereneits arn fortgeschrittensten encheint. 59 Dazu der Überblick bei Rolmrd GötzlUwe Halbach, Die Nachfolgestaaten der UdSSR - kurz vorgestellt (ll). Daten zu Geographie, Bevölkerung, Politik und Wirtschaft der Republiken der ehemaligen Sowjetunion (Estland, Lettland, Litauen), in: Osteuropa 42 (1992), S. 582 ff. 60 Zu den Otarak.teristika dieser Staatengruppierung in ihrem Herauswachsen aus der ehemaligen Sowjetunion siehe z.B. Ulrich Lohnra"", Perestrojka, Sonalpolitik und -recht in der UdSSR 1985 - 1990, in: Zeitschrift für internationales und ausländisches Arbeits- und So7ialrecht 5 (1991), S. 306 ff.; AJexander Teljulww, Das System der sonaIen Sicherung in der UdSSR. Traditionelle Strukturen und innovative Trends, in: Die Sonalvenicherung 1991, S. 177 ff. 61 Hans-Joachim Hoppe, Albanien im Umbruch: Wandel in der politischen Szenerie, in: Siidosteuropa 41 (1992), S. 1 ff. 62 So venahrt beispielsweise Berttd Schirmer, Reorganisation of the health care systems of Eastem Europe, in: International Journal of Risk & Safety in Medicine 4 (1993), S. 79 ff. 63 Yia""is D. Stef_idis, Der Entwurf eines europäischen Profils für das post-kommunistische Bulgarien, in: Südosteuropa Mitteilungen 32 (1992), S. 219 ff. 64 Das räumt auch Po/ja Go/eva, Gesellschaften mit ausländischer Beteiligung (Joint Ventures) in Bulgarien, in: Recht in Ost und West 36 (1992), S. 353 ff., ein (S. 356).

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2. Länderberkht Polen

a) Institutionenentwicklung als Vedassungsauftrag Die Vedassungsänderungen der vergangenen Jahre und die Restrukturierung des Vedassungs- und Verwaltungsrechts in Polen65 haben dem Versuch gedient, die politische und wirtschaftliche Ordnung Polens im Sinne einer demokratischen und marktförmigen Gesellschaft zu reformieren. Speziell der Vedassungsentwicklung wurde zugleich eine institutionelle Dimension gegeben. Nach Art. 5 der Polnischen Vedassung (PV) gewährleistet die Republik Polen "die Teilnahme der territorialen Selbstverwaltung an der Machtausübung und die Freiheit der Tätigkeit anderer Selbstverwaltungsformen". Mit Wirkung zum 9. Dezember 1992 hat das polnische Parlament ferner die Europäische Menschenrechtskonvention ratifIZiert 66 In Fortsetzung dieser institutionellen Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips wird nunmehr auch der Sozialstaat Polen konsequent institutionalisiert Art. 70 Abs. 2 PV verpflichtet die staatlichen Organe, die Sozialversicherung für den Fall der Krankheit, des Alters und der Arbeitsunfähigkeit zu entwickeln sowie verschiedene Formen der Sozialhilfe auszubauen. Gleichermaßen wird dem Staat die Entwicklung der Gesundheitsfürsorge und der Ausbau von Krankenhäusern, Sanatorien, Ambulatorien, Polikliniken und Sanitätseinrichtungen aufgegeben. Nochmals erwähnt wird die Sozialversicherung in Art 78 Abs. 2 PV, wonach in der Republik Polen die Garantie der Gleichberechtigung der Frau auch das Recht auf Sozialversicherung umfaßl. Speziell in der Fürsorge für Mutter und Kind wird dem Staat der Ausbau des Netzes an Geburtskrankenhäusern, Krippen und Kindergärten sowie die Entwicklung eines Netzes von Leistungsanstalten und Gemeinschaftsküchen aufgegeben. Freilich sind erst noch die wirtschaftlichen Bedingungen zu schaffen, die das "soziale" Wohlstandsgefälle zu den westlichen Marktwirtschaften zu überbrücken vermögen. Es gilt, jenes wirtschaftliche Wachstum zu ermöglichen, das die institutionellen Vorgaben der Vedassung auch im Sozialsektor einhalten läßt b) Organisation der Sozialversicherungsanstalt Das Zentralverwaltungsorgan der Sozialversicherung in Polen ist die Sozialversicherungsanstalt, die sich in ihrem Wirkungskreis auf die Feststellung 65 Dazu vgl. etwa Mechlhüd Exner, VerfasslDlgsentwic1dung in Polen in jiingster Zeit, in: Zeitschrift für RechtsvergleichlDlg 32 (1991), S. 392 ff.; Friedrich E. ScluuJpplAN:lrzej WasilewsJci, Das polnische Verwaltungsverfahrensgesetzbuch, in: VerwaltlDlgsarchiv 83 (1992), S. 409 ff. 66 Dziennik Ustaw (poln. Gesetzblatt, Abkürzung Dz. U.) Nr. 85/1992, Pos. 426.

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und Festsetzung der Sozialversicherungspflicht, des Leistungsanspruchs und der Leistungsauszahlung, auf die Einziehung und Verrechnung sowie auf die kassen mäßige Abrechung von Beiträgen - auch mit anderen Leistungsträgern erstreckt Hinzu kommen Maßnahmen zur Förderung von Prophylaxe sowie Infrastrukturmaßnahmen. 67 In ihrer alltäglichen Tätigkeit sorgt sich die Sozialversicherungsanstalt einschließlich der ihr (unmittelbar) nachgeordneten Organisationseinheiten in erster Linie um Bedürfnisse von Rentnern. 68 Die Leitung der Anstalt obliegt dem Präsidenten, der vom Ministerpräsidenten ernannt wird und von diesem auch abberufen werden kann. Die Abteilungsleiter der Anstalt werden sodann vom Anstaltspräsidenten ernannt und abberufen, dies im Einverständnis mit dem zuständigen Organ in der territorialen Staatsverwaltung, also derjenigen Stelle, die in einer Wojwodschaft allgemeine Aufgaben erfüllt. Erforderlich ist die Stellungnahme des Aufsichtsrats der jeweiligen Anstaltsabteilung. (f) Die staatliche Aufsicht übt der Minister für Arbeit und Sozialpolitik auf der Grundlage periodischer Berichte des Anstaltspräsidenten über die Anstaltstätigkeit aus. Diese Berichte werden an den Hauptaufsichtsrat gerichtet, der seinerseits periodisch der Ministerpräsidentin über seine Tätigkeit Bericht erstattet Von Interesse ist die Konstruktion des "Hauptaufsichtsrats" , der sich aus Vertretern der intergewerkschaftlichen Organisationen (Gewerkschaftsverbände), der landesgenossenschaftlichen Organisationen, der gesellschaftlichberuflichen Organisationen zusammensetzt Die Aufsichtsrechte des Hauptaufsichtsrats bestehen in der Kontrolle der Anstaltstätigkeit, in der Bewertung der periodischen Berichte über die Anstaltstätigkeit nebst Vorschlagsrechten, in der Bewertung der Anstaltsfmanzpläne, in der Prüfung von Projekten zur Unterstützung bestimmter Rehabilitationspläne und vorbeugender Maßnahmen etc. c) Organisation der Krankenversicherung Auf der Grundlage des Art 70 PV ist Ende 1991 die allgemeine Gesundheitsfürsorge als staatliche Krankenversicherung im Rahmen der Sozialversicherung neu gestaltet worden,7o Gewählt wurde eine Anstaltslösung, derzufolge "die Anstalt der Gesundheitsfürsorge ... eine organisatorisch (aus dem (j1 Vgl. Gesetz über die Organisation und Finanzienmg der Sozialversicherung vom 25.11.1986, Dz. U. Nr. 42, Pos. 202. 611 Siehe auch SZlITgacz (Fn. 29), S. 284 ff., 285 f. 69 Vgl. Art. 8, 9 und 15 Gesetz über die Organisation und Finanzierung der Sozialversicherung (Fn.67). 70 Gesetz über Anstalten der Gesundheitsfürsorge vom 30.8.1991 (Dz. U. Nr. 91, Pos. 408) und Gesetz über die Grundsätze der Bezahlung für Armeimittelund sanitäre Artikel vom 27.9.1991, Dz. U. Nr. 94. Pos. 422; Nr. 107, Pos. 465); rur Diskussion hierum vgl. wiederum SZlITgacz (Fn. 29), S. 292 f.

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Staatsaufbau) ausgegliederte Zusammensetzung von Personen und Vennögensmitteln (darstellt), die zum Zweck der Erteilung und Erbringung von Gesundheitsleistungen, Krankheits- und Verletzungsvorbeugung, Verbreitung der (allgemeinen) Gesundheitsbildung und nach Möglichkeit auch zur Ausbildung von Personen, die medizinische Berufe ausüben, errichtet, aufrecht erhalten und unterhalten wird". Dem Minister für Gesundheit und Sozialfücsorge wird im Einvernehmen mit dem Hauptärzterat das (Verordnungs-)Recht zuerkannt, als Anstalten der Gesundheitsfücsorge auch solche anzuerkennen, die nur zum Zweck der Krankheiten- und Verletzungs-(Unfall-)vorbeugung bzw. -versorgung sowie zur Verbreitung der Gesundheitsbildung errichtet worden sind.71 Medizinische Leistungen können damit sowohl von Krankenhäusern, Ambulatorien, Arzlpraxen, Rettungsdiensten, diagnostischen Einrichtungen, zahntechnischen Werkstätten U.ä. als auch von natürlichen Personen mit entsprechenden Befähigungsnachweisen erbracht werden. Allerdings ist mit alledem noch keine grundlegende Reform des polnischen Gesundheitswesens verbunden. So ist z.B. die finanzielle Ausstattung nicht in Fonn einer Versicherungslösung gewährleistet, sondern einem staatlichen Leistungssystem übertragen. Dessen Finanzierung obliegt dem staatlichen Haushalt; allerdings dürfen Finanzmittel aus zusätzlichen entgeltlichen Gesundheitsleistungen als Gewinn verbucht werden. 72 Im einzelnen werden die Gesundheitsleistungen durch die erwähnten Einrichtungen der Gesundheitsfürsorge erbracht Die Fachaufsicht hierüber obliegt dem Minister für Gesundheit und Sozialfücsorge bzw. den von ihm beauftragten Stellen sowie dem jeweiligen Wojewoda für die Einrichtungen in seinem Wirkungsgebiet Eine "gesellschaftliche" Aufsicht obliegt daneben dem jeweiligen Aufsichtsrat. Dieser kontrolliert und begutachtet die staatliche Anstaltstätigkeit; auch verfügt er über Antragskompetenzen, und er beschließt die Satzung und sonstige Anstaltsordnungen.

d) Organisation der Armutsbekämpfung Als Einrichtung der staatlichen Sozialpolitik, die darauf abzielt, Einzelpersonen und Familien zu ennöglichen, schwierige Lebenssituationen zu überwinden, ohne diese durch den Einsatz eigener Mittel abwenden zu können,73 ergänzt in Polen die Sozialhilfe das System der Einkommensersatzleistungen. 74

Art. 1 Abs. 2 Gesetz über Anstalten der Gcsundheitsfünorge (Fn. 70). Art. 49 Abs. Ziff. 2 (Fn. 70). 73 Art. 1 Abs. 1 Gesetz über Soli.nrilfe vom 30.11.1990 (Dz. U. Nr. 87, Pos. 505). 74 Eingehende Hinweise m ihren Funktionen finden sich bei Herwrl SZlITgaez, Entwicklungstendenzen der Sozi.nrilfe - dargestellt am polnischen Beispiel, in: Zeitschrift für Solialhilfe/Sozialgesetzbuch 1989, S. 73 ff. 71 72

22 von Maydell/Hohnerlein

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Zum Adressatenkreis der Sozialhilfe zählen Personen und Familien, die insbesondere wegen Armut, Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit oder auch langfristiger Krankheit der Hilfe bedürftig sind 75 Diese umfaßt neben Naturalien das Recht auf Geldleistungen. Sie stehen denjenigen Personen zu, die keine sonstigen Unterhaltsquellen haben oder deren Einkommen je Person in der Familie die niedrigste Altersrente unterschreitet Die Leistungen der Sozialhilfe werden von Organen der staatlichen Verwaltung und der kommunalen Selbstverwaltung in Zusammenarbeit mit gesellschaftlichen Organisationen, Konfessionsverbänden, Wohltätigkeitsvereinigungen, Stiftungen und natürlichen Personen erbracht 76 Auf territorialer Ebene sind die zuständigen Organe der Regierungsverwaltung die Wojewoden und ihre Vertreter in denjenigen Verwaltungsbezirken, die mehrere Gemeinden erfassen. Zuständige Organe der Selbstverwaltung sind in erster Linie die kommunalen Vertretungskörperschaften. 77 Die Ausführung der Sozialhilfeaufgaben ist Pflicht der Gemeinde oder der Regierungsverwaltung im gesetzlich zugewiesenen Bereich. Zu den Aufgaben gehört auch die Sozialarbeit, die darauf gerichtet ist, dem Hilfesuchenden zu ermöglichen, seine Fähigkeit zu gesellschaftsbezogener Tätigkeit zu verstärken oder wiederzugewinnen bzw. Bedingungen zu schaffen, die diesen Zweck begünstigen. Im einzelnen ist die Wahrnehmung der Sozialhilfeaufgaben auf die Gemeinden oder die Regierungsverwaltung verteilt Zu den Aufgaben der letzteren gehört u.a die Organisation und Finanzierung der Sozialhilfeheime und Für80rgezentren, deren Einzugsbereich überörtlich ist, sowie die Unterbringung hilfsbedürftiger Personen in diesen Einrichtungen. Zugleich sind die Regierungsbehörden dazu verpflichtet, die Tätigkeit gesellschaftlicher Organisationen, Konfessionsverbände und Wohltätigkeitsvereinigungen bzw. Stiftungen zu unterstützen, soweit diese im Bereich der Sozialhilfe tätig sind. 78 Auch die Gemeinde arbeitet mit Einrichtungen der gesellschaftlichen Organisationen und der Kirchen sowie mit denjenigen Arbeitsbetrieben zusammen, die auf ihrem Gebiet ansässig sind. In diesen Tätigkeiten unterliegen die Regierungsbehörden und die Gemeinden der Staatsaufsicht. Diese ist im Innenbereich der Regierung Dienstaufsicht, in bezug auf die Gemeinden als Rechtsaufsicht anzusehen. Eine "gesellschaftliche" Aufsicht übt der Sozialhilferat beim Minister für Arbeit und So-

3 poln. Sozialhilfegesetz (Fn. 73). 1 Abs. 2 (Fn. 73). 77 Art. 9 (Fn. 73). 78 Art. 12 Abs. 1,47 Abs. 1 (Fn.73). 75 Art. 76 Art.

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zialpolitik aus_ Er fungiert als Bewertungs- und Beratungsorgan in Sozialhilfeangelegenheiten_ 79 Für die Finanzierung der Sozialhilfeausgaben gilt das Prinzip der Deckung der Ausgaben durch die Einnahmen, soweit es um eigene Angelegenheiten der Gemeinden im Bereich der Sozialhilfeverwaltung geht. Für die Erfüllung von Auftragsangelegenheiten werden dagegen die Finanzmittel durch die Staatsverwaltung bereitgestellt. Im übrigen sind die Sozialhiifeaufwendungen von den Empfängern zurückzuzahlen, wenn das Einkommen je Person die Höhe der niedrigsten Altersrente überschreitet Diese Rückzahlungsgrenze ist allerdings sehr niedrig angesetzt Ob überhaupt in der Lebenswirklichkeit die niedrigste polnische Altersrente für sich eine Lebensgrundlage bilden kann, mag hier dahinstehen. Von besonderem Interesse ist schließlich das Gesetz vom 24.10.1968 über Sozial- und Wohnungsfonds in Einheiten der vergesellschafteten Wirtschaft, das derzeit noch immer gilt 80 Auf der Grundlage dieses Gesetzes dienen Mittel der Sozial- und Wohnungsbetriebsfonds einer Finanzierung von Sozial- und Wohnungsbautätigkeit zum Nutzen der Arbeitnehmer und ihrer Familien sowie der ehemaligen Beschäftigten (Altersrentner und Familien) im betrieblichen Rahmen. e) Soziale Förderung bei Arbeitslosigkeit Angesichts einer Arbeitslosenquote in Polen von derzeit ca. 12% spielen in Auseinandersetzung mit den sozialen Folgen des Übergangs zur Marktwirtschaft die soziale Sicherung gegen Arbeitslosigkeit und vor allem die Beschäftigungsförderung eine besondere Rolle. Rechtsgrundlage hierfür ist das Gesetz vom 16.10.1991 über die Beschäftigung und die Arbeitslosigkeit in seiner Änderungsfassung. 81 Neben der Regelung materieller Aufgaben schafft dieses Gesetz zugleich die institutionellen Grundlagen einer hierarchisch gestuften Arbeitsverwaltung. Als Zentralamt der Staatsverwaltung wird ein Arbeitsamt errichtet, das dem Minister für Arbeits- und Sozialpolitik untersteht. Der Amtsleiter wird vom Ministerpräsidenten auf Antrag des Fachministers sowie nach Anhörung des Hauptbeschäftigungsrates ernannt. Auf dem Verordnungswege bestimmt der Minister für Arbeits- und Sozialpolitik Organisa-

79 Art. 53 Abs. 1 (Fn. 73).

80 Im sozialpolitischen Zusammenhang ist besonders von Interesse Art. 3 Gesetz über Sonalund Wohnungsfonds in Einheiten der vergesellschafteten Wirtschaft, der es erlaubt, Minel der beiden Fonds gegenseitig umzuschichten. 81 Gesetz über die Beschäftigung vom 29.12.1989 (Dz. U. Nr. 75, Pos. 446) in der Fassung des Gesetzes über die Beschäftigung und die Arbeitslosigkeit (Dz. U. Nr. 106, Pos. 457).

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tion, Arbeitsgrundsätze und Wirkungskreis des Arbeitsamtes sowie der (nachgeordneten) Wojewodschafts- und Bezirksarbeitsämter. 82 Der beim Minister für Arbeit und Sozialpolitik eingerichtete Hauptbeschäftigungsrat wird als Begutachtungs- und Konsultativorgan errichtet; zugleich gibt es Wojewodschafts-Beschäftigungsräte und Bezirksbeschäftigungsräte. Ihre Zusammensetzung folgt auf jeder Ebene dieser dreistufigen Arbeitsverwaltung demselben Prinzip: Zu gleichen Anteilen wirken Vertreter der Gewerkschaften, der Arbeitgeber, der Staatsverwaltung und der territorialen Selbstverwaltung an den Aufgaben der "gesellschaftlichen Kontrolle" mit. 83 Zu den Aufgaben der Arbeitsverwaltung gehört neben der Bereitstellung von Einkommensersatzleistungen im Falle der Arbeitslosigkeit auch die Arbeitsvermittlung und Berufsberatung. Falls ein Arbeitsplatz nicht vermittelt werden kann, kommen Leistungen der Fortbildung und Umschulung, Arbeitsplatzförderungsmaßnahmen, Beschäftigung in öffentlichen Arbeiten sowie Darlehen und Hilfe bei der Aufnahme von Krediten für eine selbständige Tätigkeit in Betracht. Die Finanzierung von Einkommensersatzleistungen und Arbeitsförderung ist einem Arbeitsfonds übertragen, der als staatlicher Zweckfonds errichtet wird und über den der Minister für Arbeit und Sozialpolitik verfügt,84 Ein entsprechender staatlicher Fonds wurde für die Berufsrehabilitation der Behinderten eingerichtet t) Reformperspektiven

Die voraufgehend nur knapp skizzierten polnischen Ansätze der sozialpolitischen und institutionellen Entwicklung sozialer Integration in die Marktwirtschaft zeigen im Vergleich zur Bundesrepublik Deutschland ein noch relativ eindimensional gefügtes Muster der institutionellen Ordnung von Sozialleistungen. Dessen weitere Entwicklung im Sozialstaat Polen ist mit der künftigen marktwirtschaftlichen Anpassung programmiert, blickt man nur auf das filigrane Geflecht von Sozialleistungsträgern in Deutschland. In diesem Geflecht zeichnen sich die zielgruppen- und risikospezifischen Ausdifferenzierungen einzelner Sozialleistungen unter Reaktion auf besondere Lebenslagen während und außerhalb des Erwerbslebens deutlich ab. Für Polen dürfte im Zuge einer solchen Entwicklung zunächst der Zusammenhang einer Reform der Finanzierung des Sozialversicherungssystems mit einer Reform des Steuersystems im Vordergrund stehen. Durch die Einführung der allgemeinen Einkommenssteuer ergeben sich Anpassungserfordernisse im 82 83 84

Art. 3 und 4 Beschäftigungsgesetz (pn. 81). Art. 7 - 10 Beschäftigungsgeselz (Fn. 81). Art. 51 Beschäftigungsgesetz (pn. 81).

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Hinblick auf die Altersversorgung der Arbeitnehmer und ihrer Familien. Die Sozial- und Wohnungsbetriebsfonds in den "vergesellschafteten" Wirtschaftseinheiten und die für Beschäftigung und berufliche Rehabilitation bestehenden Fonds müssen zu einem neuen Finanzierungssystem zusammengeführt werden - ganz abgesehen davon, daß die Inflationsbekämpfung angesichts der geringen Höhe von Einkommensersatzleistungen die Situation der sozial Schwachen in Polen dramatisch verschlechtern wird. 85 Weitere Reformerfordernisse im institutionellen Bereich betreffen die Vereinheitlichung der Sozialversicherung; die arbeitsrechtlichen Ausdifferenzierungen und insbesondere Privilegierungen sind zurückzuführen. Für die Arbeitsbetriebe als staatliche Organisationseinheiten, die im überkommenen System einen wichtigen Baustein im sozialen Gefüge darstellten, ist weitgehend Ersatz zu fmden. Gleichermaßen ergeben sich für die Sozialversicherung der Landwirte anhaltende Reformerfordernisse aus dem Bemühen um eine unvermeidliche - Rationalisierung und daraus erfließende Restrukturierung der in zahllose kleine Güter zersplitterten Landwirtschaft Schließlich geht es im Sektor der Gesundheitsfürsorge (Krankenversicherung) um die Zusammenführung der Behandlungs- und Pflegeleistungen mit den Einkommensersatzleistungen in einer Krankenversicherung als Bestandteil der Sozialversicherung. 86 Die unter marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten unausweichliche Umstellung bzw. Rationalisierung der Produktion stellt darüber hinaus eine beschäftigungspolitische Herausforderung ersten Ranges dar. Arbeitslosigkeit bildet ein neues und bislang unbekanntes Risiko, dem wirksam durch Beschäftigungsförderung und strukturelle Ergänzung der Sozialhilfe mit der Entwicklung einer Arbeitslosenversicherung zu begegnen wäre. Dabei und auch in den übrigen Bereichen der sozialen Sicherung hat Institutionspolitik sowohl effektive soziale Sicherung zu gewährleisten als auch die wertevermittelnde Komplementärfunktion der Sozialpolitik zur Marktwirtschaft umzusetzen. 87 Dies bedeutet u.a., daß im Wege der Dezentralisation und Entwicklung der Selbstverwaltung die gegebenen Partizipationsstrukturen bisheriger sozialer Sicherung grundlegend umgebaut werden müssen. 85 So mu&en etwa im vergangenen Jahr die Familien-, PfIege- und Geburtsbeihilfen sowie die Beihilfen für Arbeitnehmerinnen während des Erziehungsurlaubs entsprechend der Preissteigerungsnte angehoben werden (Dz. U. Nr. 41/1992, Pos. 179); gleiches gilt für die Garantie einer Mindestrente (Dz. U. Nr. 2/1992). Zum Wandlungsbedarf des Finanzierungssystems siehe auch Szurgaez (Fn. 29), S. 285 f. 86 Szurgacz (Fn. 29), S. 292 f.; Bolesiaw Banasz/cUwicz, Reform der Sozialversicherung in Polen, in: Soziale Sicherheit in der Landwirtschaft 1991, S. 169 ff.; zu den künftigen Anfocderungen an die Beschäftigungssicherung siehe ferner Zenon Wisniewski. Beschäftigungs- und Lohnmechanismus in Polen. in: Mitteilungen aus der Arheitsmarkt- und Berufsforschung 21 (1988). S. 416 ff. 87 VgI. nochmals Woycicka. (Fn. 16).

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Freilich bleibt erst noch die Einschränkung der Ingerenz des Staates in das Leben der Bürger zu "lernen"; die Geschwindigkeit der staatlichen Systemveränderungen scheint derzeit wesentlich höher zu sein als das Tempo der gesellschaftlichen Anpassung an diesen Prozeß. Einen Ausweg aus dieser vor allem subjektiv empfundenen Bedrohung der Lebenssituation ermöglicht der weitere Aufbau von Institutionen der Sozialarbeit im Familienbereich und die Gründung von Selbsthilfeorganisationen zur Lösung sozialer Probleme vor Ort. 88 Für den Bereich der Beschäftigung hat jedenfalls die Zukunft schon begonnen. Der Aufbau einer systematischen Arbeitsmarktstatistik ist eingeleitet; hierauf sollen Informationssysteme zur Arbeitsvermittlung und Berufsberatung aufbauen. Hinzu kommen Ansätze zur Einrichtung arbeitsmarktbezogener Frühwarnsysteme gegenüber drohenden Massenentlassungen und zur Erhöhung der Mobilität auf dem Arbeitsmarkt. 89 3. Länderbericht Bulgarien

a) Institutionenentwicklung als Verfassungsauftrag Die Verfassung Bulgariens von 1971 in der Fassung der Änderung vom 4.4.1990 und insgesamt neu verabschiedet am 12.7.199190 gewährleistet in Art. 43 Abs. 2 die Einrichtung einer obligatorischen und freiwilligen Sozialversicherung und die erforderliche Haushaltsfmanzierung. Die Verwirklichung dieser VerfassungsbestiInmung ist freilich im Kontext der politischen und wirtschaftlichen Situation zu sehen: Die erste nichtkommunistische Regierung Bulgariens seit Ende des Zweiten Weltkriegs ist erst seit kurzem im Amt. Sie hat zunächst den Umbau des Wirtschaftssystems in Angriff genommen, um auf diese Weise den Rückstand gegenüber anderen Staaten Osteuropas, die sich zeitlich früher auf den Weg zur Marktwirtschaft begeben hatten, aufzuholen. Inzwischen läuft die Privatisierung der Wirtschaft langsam an. Eine neu gegründete Privatisierungskommission91 soll bis 1995 etwa 25% des Staatseigentums in private Hand überführen. Insgesamt sind Großbetriebe betroffen, die fast 70% der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter beschäftigen. Begleitet 88 Einige ÜberleglDlgen in diese Richtung bei Miroslaw Ks~zopolsJcjjlreNJ SieflJco, Between State and Society: The Impact of Traditional and New Fonns of VollDlteering in Poland, in: EversIWintersberger (Fn. 51), S. 297 ff. 19 Dies in Ausfü1l1mg des Gesetzes über die Beschäftigung und die Arbeitslosigkeit, (Fn. 81); zu den flankierenden Bemühungen der deutschen BlDldesanstalt für Arbeit siehe Kurt Berlmger, Aufbau und Refonn ausländischer Arbeitsverwaltungen, Nürnberg 1993 (IDlveröff. Manuskript). 90 Dazu vg!. D~trich Freflzke, Die neue bulgarische VerfasslDlg in deutscher Übersetzung, in: Osteuropa-Recht 38 (1992), S. 188 ff., sowie Klaus Schrameyer, ebd., S. 159 ff. 91 Die Grundlage für ihre Errichtung bildet eine PrivatisierungsanordnlDlg des bulgarischen Ministerrats, vg!. Darzaven Vestnik (StaatszeitlDlg, Gesetzblatt - abgekürzt D.V.) Nr. 68/1992.

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wird dieser Prozeß von dem Erlaß einer Reihe wirtschaftlicher Gesetze. die den privaten Sektor entwickeln helfen sollen. Deren wichtigste Regelungen betreffen die Wirtschafts tätigkeit ausländischer Personen und den Schutz ausländischer Investitionen. die Privatisierung sowie das Bank- und Kreditwesen. Das bulgarische "Gesetz zum Schutz des Wettbewerbs" aus dem Jahr 1991 ist geradezu radikal marktwirtschaftlich ausgerichtel 92 Dennoch scheint die Bedeutung der alten Staatsmonopoie derzeit weitgehend ungebrochen. Nur ca. 20% der angemeldeten privaten Unternehmen üben "eine reale Wirtschaftstätigkeit aus".93 Im übrigen setzt sich die Talfahrt der bulgarischen Wirtschaft vorerst mit ungebremster Geschwindigkeit fort. Die wirtschaftliche Umstrukturierung kommt nur zögerlich voran. die sozialen Folgen dieses Prozesses sind dagegen gewichtig: Von 3.5 Mio. Erwerbstätigen ist eine halbe Million arbeitslos. Besonders schlimm von der Entwicklung sind die 2 Mio. Rentner betroffen: Deren Grundrente steht unter dauerndem Wertverlust. Fast ein Fünftel der Bulgaren hat Schwierigkeiten. sich zu ernähren. so daß es nicht überrascht. wenn in einer jüngsten Meinungsumfrage 84.2% der bulgarischen Bevölkerung behaupten. die Staatsführung nehme das Problem der Arbeitslosigkeit nicht ernst genug.94 Die im bulgarischen Arbeits- und Sozialversicherungsrecht verankerten Rechtsgrundlagen der sozialen Sicherung belegen diesen Vorwurf; sie basieren weitgehend noch auf dem überkommenen Recht. Eine Ausnahme begründet das geltende Investitionsrecht lediglich für die Arbeitnehmer solcher joint ventures. an denen die ausländische Beteiligung mehr als 50 % beträgL 95 b) Reorganisation der Sozialversicherung Festzustellen ist somit. daß bisher die institutionellen Grundlagen der sozialen Sicherung dem Prozeß der Wirtschaftsanpassung kaum gefolgt sind. Soziale Sicherung wird nach wie vor als eine staatliche Leitungsaufgabe begriffen. Federführend für soziale Angelegenheiten einschließlich der Sozial92 Vgl. dazu Valemin Karabashev, The Economic Refonn in Bulgaria - First Results and Prospects for Development, in: Bulgarian Quarterly 1/1991, S. 73 ff.; siehe ferner das erste Gesetz über ausländische Investitionen vorn 17.5.1991 (D.V. Nr. 47/1991) sowie das zweite Gesetz über die Wirtschafts tätigkeit ausländischer Personen und den Schutz ausländischer Investitionen (D.V. Nr. 8/1992) mit deutscher Übersetzung und Einführung durch Christa lessel-Holst, in: Wirtschaft und Recht in Osteuropa 1 (1992), S. 88 Cf. 93 Patschew (Fn. 18), S. 27. M Die Angaben im Text beruhen auf dem Bericht "Hindernisse auf dem Weg zur Marlctwirtschaft. Trotz mutiger Reformschritte leidet Bulgarien an schweren sozialen Problemen" (0. Verf.), in: Süddeutsche Zeinmg vom 9.9.1992, S. 30. 95 Vgl. Go/eva (Fn. 64), S. 356; m Stand und Entwicklung des bulgarischen Sozialrechts bis Ende 1990 sime im übrigen Christa Jessel-Holst, in: Zeitschrift für ausländisches und internationales Arbeits- und Sozia1recht 1991, S. 352 Cf. mit zahlreichen Nachweisen.

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hilfe ist deshalb konsequent das Ministerium für Arbeit und Sozialfürsorge als "staatliches Leitungsorgan" .96 Nach wie vor fmdet sich in der Sozialversicherung aoch die gruppenbezogene Zersplitterung der Rentenversicherung in einzelne Kategorien von Dienstzeit- und Altersrenten, ergänzt um Sonderregelungen für spezifISChe Risiken und Berufsgruppen. Hinzu kommen Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenrenten für selbständige Handwerker und Freiberufler. In bezug auf letztere ist institutionell von besonderem Interesse die Zuordnung zu berufsspezifISChen Versicherungsträgern: So gibt es z.B. in der Sozialversicherung für organisierte Rechtsanwälte einen speziellen juristischen "Versicherer"; für nichtorganisierte Rechtsanwälte ist das zuständige Rayongericht berufen. In der Sozialversicherung der freiberuflich tätigen Geistesschaffenden übernehmen die Künstler- bzw. Berufsverbände die Versicherungsdurchführung. Bei fehlender Mitgliedschaft übernehmen das anstellende Kulturinstitut oder die Firma, an die der Betreffende vertraglich gebunden ist, die soziale Sicherung. 97 Eine der marktwirtschaftlichen Orientierung eher angepaßte Entwicklung der Rentenversicherung findet sich für diejenigen Personen, die eine Arbeit in Firmen von Bürgern, als selbständige Landwirte bzw. in landwirtschaftlicher Produktion in Akkordlohn wahrnehmen, sowie - seit 1991 - für Ärzte, die eine Privatpraxis betreiben. 98 c) Organisation der Armutsbekämpfung Im Zuge des Übergangs zu marktwirtschaftlichen Produktionsbedingungen sowie angesichts einer raschen Verarmung der Bevölkerung und einer wirtschaftliChen Rezession, die diese Mangelsituation verschärft, spielt die Armutsbekämpfung eine zunehmende Rolle in der sozialen Sicherung. Grundlage hierfür ist nunmehr das Reglement für die Sozialhilfe vom 23.3.1991. 99 Es wird durch Regelungen ergänzt, die Leistungen der regionalen (Gemeinde-)Zentren für Sozial fürsorge vorsehen: Einzurichten sind öffentliche Speiseräume, Tagesheime für Kinder und Senioren, Rehabilitationszentren, Clubs für Rentner und Invaliden sowie Büros für soziale Tätigkeit und eine Art häuslicher Betreuung. Die Sozialfürsorge hat darüber hinaus Wohnungen zur

96 Anfang 1990: Komitee für AJbeit und Sozialfürsorge beim Ministerrat; seit September 1990: Ministerium für BeschäftiglDlg IDld Sozialfürsorge - im Dezember 1990 umbenannt in Ministeriurn für AJbeit IDld Sozialfürsorge, das auch für die Sozialversicherung zuständig ist (vgl. MinisterratsVerordnlDlg Nr. 30 vorn 26.2.1991, D.V. Nr. 19/1991). 97 Nachweise hierzu bei fessel-Holst (Fn. 95), S. 367. 9B Vgl. die Ordnung Nr. 5 über Voraussetzungen und Verfahren für das Betreiben einer ärzllichen Privatpraxis (D. V. Nr. 37/1991). 99 D. V. Nr. 26/1991.

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vorübergehenden Einweisung von sozial schwachen Personen und Familien zu beschaffen. Ein "Sozialhilfefonds" beim Ministerium für Arbeit und Sozialfürsorge soll Mittel für die Unterstützung sozial schwacher Personen einwerben sowie für Heilbehandlung im Ausland, für Anneimittelimporte und für die Unterstützung sozialer Einrichtungen. Der Fonds soll aus freiwilligen - steuerbefreiten - Beiträgen finanziert werden, die sich aus Finnengewinnen, Schenkungen, Toto-Einnahmebeteiligungen und den Erlösen aus Wohltätigkeitsveranstaltungen speisen. 100 d) Soziale Förderung bei Arbeitslosigkeit Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit vennag auf einem Sicherungssystem aufzubauen, das auf der Grundlage von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträgen Einkommensersatzleistungen in Gestalt von Arbeitslosengeld und Hilfsmaßnahmen für Arbeitslose vorsieht lOl Eine zentrale organisatorische Rolle spielen in diesem Sicherungssystem die Arbeitsämter. Sie übernehmen die Registrierung der Arbeitslosen, bemühen sich um Vennittlung in Arbeit, um (Weiter-)Qualifizierung sowie um Umschulungsmaßnahmen. Ihre Tätigkeit wird aus einem gesonderten Fonds für berufliche Qualifizierung und Umschulung gespeist, den die Arbeitgeber mit Beiträgen in Höhe von 5% der Lohnsumme ausstatten. 102 Für Absolventen einer Berufsausbildung greift bei staatlicher Erstanstellung die Sozialhilfe. e) Refonnperspektiven Der Blick auf die wichtigsten sozialen Sicherungsinstitutionen und ihre Aufgaben zeigt für das Land Bulgarien - und ähnliches gilt für die damit angesprochene Ländergruppe -, daß die hochfiligrane Ausdifferenzierung sozialer Sicherung nach dem deutschen Modell der "sozialen" Marktwirtschaft keinesfalls kurzfristig übertragbar ist Zunächst gilt es, unter Überwindung der zersplitterten institutionellen Trägerlandschaft ein neues Grundgefüge der sozialen Sicherung aufzubauen, das zu einer Vereinheitlichung der Rentenversicherung unter Einschluß dezentralisierender Selbstverwaltung führt. Auch die beschäftigungspolitische Herausforderung ist vor dem Hintergrund wachsender Arbeitslosigkeit mit dem gegenwärtigen Aufbau des Sicherungssystems nicht zu bewältigen. D. V. Nr. 51/1991. Grundlage hierfür ist die Ministerrats-Verordnung Nr. 57 vom 5.12.1989 über die Umlenkung und effektive Nutzung der freigewordenen Arbeitskraft (0. V. Nr. 96/1989) in ihrerneuesten Fassung (0. V. Nr. 49/1991). 102 Auf DefIzite in der aktuellen Nutmng dieses Fonds für Fortbildung und Umschulung macht allerdings aufmeIksam Patschew (Fn. 18), S. 39. 100 101

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Freilich ginge es auch nicht darum, etwa die deutsche Arbeitsverwaltung zu adaptieren. Bulgarien muß aus mancherlei Gründen einen eigenständigen Weg für den Aufbau seiner sozialen Sicherung finden.t 03 Dessen Erfolg setzt allerdings voraus, die grundlegenden institutionellen Bedingungen zu schaffen, die wie z.B. die Tätigkeit der "Agentur zur Privatisierung"l04 - wirtschaftliches Wachstum erst ermöglichen. Allerdings wird auch dann noch das Ausmaß, in dem derzeit sinnvoll soziale Politik gemacht werden kann, durch das überaus beschränkte Entwicklungsniveau begrenzt 4. Länderbericht Serbien

a) Institutionenentwicklung als Verfassungsauftrag Frühere Grundlage der sozialen Sicherung in der ehemals Sozialistischen Föderativen Republik (SFR) Jugoslawien war die Verfassung von 1974, die im Jahre 1981 letztmalig geändert wurde. Das Sozialsystem der SFR Jugoslawien umfaßte auf dieser sozialstaatlichen Grundlage Institutionen der Sozialversicherung, Sozialhilfe und des Gesundheitsschutzes. 105 Dem Zerfall des Vielvölkerstaates Jugoslawien durch die Unabhängigkeitserklärungen Sloweniens und Kroatiens sowie der Ablösung Bosniens und Herzegowina folgte dann allerdings die Ausprägung je eigener Strukturen sozialer Sicherung in diesen Ländern. Dies gilt auch für die Republik Serbien, deren Verfassung am 28. September 1990 in Kraft trat. 106 In ihr ist eine eigenständige, als Auftrag zu entsprechender Institutionenentwicklung anzusehende Garantie der sozialen Sicherung enthalten (Art. 40, 68). Darüber hinaus existieren institutionell wirksame soziale Grundrechte, wie Z.B. das Recht auf Arbeit (Art. 35) oder das Recht auf Gesundheitsschutz (Art. 30) bzw. auf Gleichstellung von Frau und Mann (Art. 13). Dagegen entfällt eine Garantie des "Sozialstaats"; insoweit wird an die frühere Bundesverfassung nicht an-

103 Dies vor dem Hintergrund eines ausgreifenden Anspruches auf Integration in das vereinte Europa, dazu vgl. S/efanidis (pn. 63), S. 222 ff. 104 Diese Agentur ist ein Organ des bulgarischen Ministerrats mit Sitz in Sofia und einigen Re· gionalbüros; ihre rechtliche Grundlage ist die Privatisierungsanordnung des Ministerrats, vgl. oben (Fn.91). 105 Zu "Verfassungsentwicklungen in Osteuropa • aus der Sicht der Rechtsphilosophie und der Verfassungslehre" siehe den gleichnamigen Beitrag von Pe/er Häberle, in: Archiv für öffentliches Recht 117 (1992), S. 169 ff.; speziell zur früheren jugoslawischen Verfassung vgl. lvan Kris/an, Die Föderative Verfassung Jugoslawiens, in: Jahrbuch für Ostrecht XXVI (1985), S. 527 ff. 106 Verfassung der Republik Serbien vom 28. September 1990, abgedruckt in: Sluzbeni glasnik (Gesetzblatt - abgekürzt SI. g.) Nr. 1/1990, Pos. 1; im folgenden zitiert nach der deutschen Übersetzung von Ulrich Wiedemann, Die neuen Verfassungen von 1990, in: Jahrbuch für Ostrecht xxxn (1991), S. 583 ff.

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geknüpft. In den einfachgesetzlichen Sozialrechtsvorschriften fmden sich die Kranken-, Renten- und Invaliditätsversicherung aber nicht mehr dem Arbeitsrecht zugewiesen. 107 b) Reorganisation der Sozialversicherung Auf der Grundlage des Rechts auf Arbeit wurden nach Maßgabe der jugaslawischen Verfassung von 1974 die Kranken-, Renten- und Invaliditätsversicherung für Arbeiter und Beamte durch kollektive Verträge für alle Arbeitnehmer mit den Beschäftigungsfmnen durchgeführt ("Selbstverwaltungsinteressengemeinschaften").l08 Individualverträge dienten allein der Durchführung des jeweiligen Kollektivvertrags und nur in seinem Rahmen. Die Versicherung der Landwirte übernahmen analog ländliche Koopemtiven. In den 80er Jahren führte die Entwicklung dieses Systems sozialer Sicherheit trotz punktueller bundesstaatlicher Reformen in eine tiefe Krise. 109 Wie alle anderen ehemaligen Mitgliedstaaten der SFR Jugoslawien versucht auch Serbien, dieser Krise nunmehr durch eine eigenständige Sozialgesetzgebung zu entkommen - allerdings unter den Bedingungen einer schwer lastenden KriegswirtschafL c) Wandel der Renten- und Kmnkenversicherung Im Vordergrund steht dabei einerseits der Aufbau der in Art. 40 der serbischen Verfassung vorgesehenen "Pflichtsozialversicherung". Das neue "Gesetz über die Renten- und Invalidenversicherung" von 1992 110 regelt die Rechte der Pflichtversicherten und bestimmte Rechte der freiwillig Versicherten in Abweichung von den überkommenen gesetzlichen Grundlagen. Zu den Rentenversicherten zählen nunmehr die Arbeitnehmer, die selbständig Tätigen und die Landwirte. Als Leistungen nach dem Gesetz werden die Altersrente, die Frührente, die Invalidenrente, Umschulungs- und Fortbildungsmaßnahmen sowie die Versetzung an einen adäquaten Arbeitsplatz im Falle der Invalidität sowie fmanzielle Hilfen während Umschulungs- und Fortbildungsmaßnahmen im Rahmen der Rehabilitation vorgesehen. Die Wahrnehmung dieser Aufgaben ist einer staatlichen Rentenanstalt im Einklang mit Art. 68 Abs. 2 Serbische Verfassung übertragen. Flankiert werden diese Regelungen durch weitere gesetzli107 Vgl. Veljlw RIIS, Social Policy between Negative and Positive EquaIity: The YugosJavian Case, in: Ferge/Kolberg (Fn. 29), S. 189 ff. 101 Diese beruhien auf An. 114 der früheren lugoslawischen Verfassung, (Fn. lOS); vgl. auch 1_ Svetlilc, lugoslavia: Three Ways of Welfare System Restructuring, in: EvenIWintenberger (Fn. 57), S. 331 ff., 332. 109 Vgl. RIIS (Fn. 107), S. 195; Swtlik (Fn. lOS), S. 336. llO SI. g. Nr. 27/1992, Pos. 634.

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che Vorschriften über die Höhe der Löhne, Zulagen und anderer Einkommen im Laufe der Anwendung der ökonomischen Sanktionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. lll Eine vorrangige Rolle im Umbau des sozialen Sicherungssystems spielt auf der anderen Seite der Gesundheitsschutz. Dies belegt das vom serbischen Parlament im Jahre 1992 verabschiedete "Gesetz über den Gesundheitsschutz".112 Unter "Gesundheitsschutz" im Sinne dieses Gesetzes werden alle Tätigkeiten der Gesellschaft verstanden, die dem Zweck dienen, die Gesundheit der Bürger zu bewahren, zu fördern und im Krankheitsfall wiederherzustellen. Dementsprechend regelt das Gesetz die Rechte der Bürger auf Gesundheitsfürsorge, das Verfahren der Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen und den Aufbau des Gesundheitswesens. Der Organtransplantation und der Obduktion wird ein eigenes Kapitel gewidmet. Dem Gesundheitsschutz widmet sich überdies das parallel geschaffene "Gesetz über die Krankenversicherung" .113 In ihm werden die Rechte der Pflichtversicherten und der freiwillig Versicherten in der staatlichen Krankenversicherung sowie die Organisation und die Finanzierung der Krankenversicherung geregelt. Deren Leistungen umfassen die Übernahme der Kosten für die medizinische Gesundheitsfürsorge, den Ersatz des durch die Erkrankung verursachten Verdienstausfalles, den Ersatz von Reisekosten, die in Zusammenhang mit der Gesundheitsfürsorge entstehen sollten, und den Ersatz von Bestattungskosten. Konkrete Leistungen der Gesundheitsfürsorge können in Form eines staatlichen Gesundheitsdienstes zur Verfügung gestellt werden. Dieser ist regional und kommunal organisiert; er wird durch einen Fonds finanziert, der aus Steuern und Abgaben sowie aus den Bruttogewinnen der Firmen gespeist wird. Vom staatlichen Gesundheitsdienst unabhängige private Ärzte-, Zahnärztepraxen und Apotheken konstituieren ergänzend dazu mit ihrem Leistungsangebot einen "Gesundheitsmarkt" , auf dem sie im Wettbewerb mit dem nationalen Gesundheitsdienst stehen. d) Organisation der Armutsbekämpfung Staatliche Unterstützung im Fall der Armut wird in dem überkommenen System der informalen Familienhilfe als Ausnahmesituation begriffen. Gleichwohl sind als Verwaltungsunterbau des Ministeriums für Arbeit und Soziales auf Kreis- und Gemeindeebene Sozialämter eingerichtet. Frauen, die älter als sechzig Jahre sind, und Männer, die das 65. Lebensjahr überschritten haben, 111 Radüa JovanOllic, Zweifacher Kampf gegen die Blockade: "Serbien", in: Serbisches Ministerium für Infonnationen, Belgrad, unveröff. Manuskript vom 23.11.1992. 112 SI. g. Nr. 17/1992, Pos. 369. 113 SI. g. Nr. 18/1992, Pos. 373.

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dürfen - sofern sie nicht die Bedingungen für eine Minimalrente erfüllen - Sozialhilfe beantragen. Diese entspricht der Höhe der Minimalrente. Das Sozialamt ist darüber hinaus als Betreuungs- und Beratungsinstitution in Scheidungsprozesse einbezogen, in denen es um die Sorge für minderjährige Kinder geht. Anspruch auf Betreuung und finanzielle Leistungen haben darüber hinaus Betroffene in Scheidungsprozessen, die ohne eigenes Einkommen sind; sie erhalten für die Dauer des Prozesses und bis zum Bezug eventueller Unterhaltsleistungen nach Scheidung Einkommensersatzleistungen.

Die gemeindlichen Sozialämter haben auf die administrative und rechtliche Gestaltung der Sozialhilfe im übrigen keinen Einfluß. Das Sozialwesen kennt keinen Beitrag der kommunalen Selbstverwaltung. 1l4 Dies schließt nicht aus, daß eigene Aktionen VOll Gemeinden und Schulen im Rahmen der Sozialhilfe/Altersfürsorge durchgeführt werden. Pamllel dazu sind Privatisierungsbestrebungen im Bereich der Sozial- und Altenhilfe auf den Weg gebracht. Sie betreffen zum einen den Pflegebedarf älterer Bürger, zum anderen die Gründung eines privaten Fonds ("Kapetan Dragan"), der im Jahre 1991 gegründet wurde, um schwerverletzte Opfer des Bürgerkrieges bzw. die Familien von Hinterbliebenen zu unterstützen. Dieser Fonds wird aus privaten Mitteln gespeist; er ist vom Staat unabhängig, wird aber staatlicherseits anerkannt Organisation, Finanzierung und materielle Leistungsgewähr sowie das Leistungsverfahren sind in einem eigenen Gesetz geregelt. Der Fonds verfügt über einen eigenen Unterbau in den Kreisen und Gemeinden, der organisatorisch dem Unterbau der staatlichen Sozialverwaltung angeglichen ist. Unter den Bedingungen des Krieges in Bosnien/Herzegowina bleibt schließlich das Flüchtlingsproblem zu bewältigen. Serbien hat für diese Zwecke eine zentrale Anlaufstelle für Flüchtlinge in Belgrad eingerichtet Flüchtlinge werden sowohl privat als auch in öffentlichen Objekten untergebracht; sie genießen politische Gleichstellung mit den Einwohnern Serbiens. Solange sie keine Erwerbstätigkeit fmden, erhalten sie Sozialhilfe und kostenlose gesundheitliche Vor- und Fürsorge. Zu unterstützen sind derzeit nach Angaben des Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen in Belgrad etwa 400 000 Personen. 115 e) Soziale Förderung bei Arbeitslosigkeit Es nimmt nicht wunder, daß vor diesem Hintergrund in Serbien erhebliche Arbeitslosigkeit zu verzeichnen ist Nach dem Gesetz zur Änderung und ErVgl. Gesetz über die staatliche Verwaltung, SI. g. Nr. 20/1992, Pos. 424. Sie haben allesamt nach dem serbischen Gesetz über Flüchtlinge vom 12. Apri11992 (SI. g. Nr. 18/1992, Pos. 371) einen Anspruch auf Hilfen zur Sichenmg des Lebensunterhalts, allerdings auch die Pflicht zum Wehr- und Arbeitsdienst wie die Bürger der Republik Serbien. 114 115

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gänzung des Gesetzes über die Rechte der Arbeitslosen und Arbeitsvennittlung 1l6 erhalten Arbeitnehmer ohne Beschäftigung Arbeitslosengeld. Träger dieser Leistungen ist die Anstalt für Arbeit, die über regionale und gemeindenahe Dienststellen verfügL Zu ihren Leistungen gehören ferner Umschulungsmaßnahmen, deren Kosten von den Arbeitsämtern getragen werden. Die bestehende Pflicht der Firmen zur Beschäftigung von Behinderten wird durch Quoten und Vermittlungsanstrengungen der Arbeitsämter sowie privater Firmen für Stellenvermittlung, die auf Provisionsbasis arbeiten, realisiert Seit 1990 gibt es Ansätze zu einer "Privatisierung" der Arbeitsvermittlung. Dementsprechend wird das noch bestehende Monopol der Anstalt für Arbeit durch die Tätigkeit privater Vermittlungsftrmen ergänzt bzw. durchbrochen. Zweifel an deren Wirksamkeit sowie an derjenigen der staatlichen Institutionen auf dem Arbeitsmarkt ergeben sich allerdings angesichts der Quote realer Arbeitslosigkeit im Jahr 1991 von ca. 30% der Erwerbstätigen. t) Reformperspektiven

Der an institutionellen Strukturen ausgerichtete Blick auf die soziale Sicherung in Serbien (Rest-Jugoslawien) offenbart nicht nur ein karg ausdifferenziertes System sozialer Sicherheit, das darum bemüht ist, sich unter kriegsähnlichen Bedingungen um Elemente einer maIktwirtschaftlichen Anpassung anzureichern, sondern ebenso den anhaltenden Vorrang staatlicher wie informeller Sozialvorsorge der privaten Hand. Von einem serbischen Sozialstaat mit einem intakten institutionellen Geflecht dezentraler sozialer Integration kann derzeit nicht die Rede sein. Nach Ende des Krieges dürfte daher die vordringliche Aufgabe auf dem sozialen Sektor darin bestehen, die soziale Infrastruktur zu erneuern und die soziale Sicherung systematisch einer "kooperativen Sozialverantwortung"1l7 zuzuführen. Dies setzt den grundlegenden Umbau des gegenwärtigen Sicherungssystems in Richtung auf Dezentralität und soziale Selbstverwaltung unter Re-Deftnition des Sozialen voraus. 5. Länderbericht Russische Föderation

Die zunehmende Radikalisierung der Umwandlungsprozesse in der Russischen Föderation (RSFSR) und ihre de-integrative Tendenz erlauben derzeit kaum sichere Einschätzungen der institutionellen Entwicklung sozialer Siche-

116

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Ergangen auf der Grundlage von Art. 72 Abs. 1 Nr. 4 Serbische Verl"assung. Dazu näher Svetlilc (Fn. lOS), S. 346 ff., 349 ff., 352 ff.

Institutionell-organisatorische Gnmdfragen

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rung in der Zukunft. Ein allgemeiner Trend scheint allerdings weg von differenzierten Formen der sozialen Gestaltung und hin zu einer einheitlich staatlich-sozialen Mindestsicherungspolitik unter Gewährenlassen privater Sicherungsanstrengungen zu führen. Durch Gesetz wurde z.B. im Mai 1992 der monatliche Mindestlohn für Mitarbeiter staatlicher Einrichtungen und Organisationen ebenso angehoben wie die Mindestrenten. 118 Gleichzeitig erhöhte der Präsident der RSFSR die Löhne zahlreicher Arbeitnehmer um 90 %.119 Im Sinne einer "sozialorientierten Marktökonomie"l20 gibt es auf diesem Weg allerdings zugleich zahlreiche Schritte zur Deregulierung der Sozialgesetzgebung. So sieht z.B. das neue Rentenrecht der RSFSR vor, daß Unternehmen und Organisationen in den staatlichen Rentenfonds erst ab 1996 volle Beiträge entrichten müssen.l 21 Gleichwohl sind einige "marktwirtschaftliche" Reformbestrebungen der RSFSR auf dem sozialen Sektor beachtlich. Zu ihnen zählen Bemühungen im Gesundheitswesen, um Einkommenssicherung bei Arbeitslosigkeit und im Alter sowie um Familienhilfen. 122 a) Organisation der Krankenversicherung Vor allem in Rußland, aber auch in der Ukraine und Weißrußland läßt sich seit Mitte 1991 unter zunehmender Distanzierung von der reinen und überaus defizitären staatlichen Gesundheitsversorgung in der früheren Sowjetunioo 123 der Übergang auf ein gemischtes Gesundheitsversorgungssystem mit privaten Zuzahlungsmöglichkeiten für gehobene Ansprüche beobachten. So hat sich in den letzten Jahren eine "Versicherungsmedizin" herausgebildet, die sich auf spezielle Versicherungsfonds stützt. Diese werden aus Beiträgen der Betriebe und der Versicherten sowie aus Haushaltszuweisungen gespeist. 124 Ergänzend hierzu hat die RSFSR im Juni 1991 ein Gesetz über den medizinischen Schutz der Bürger erlassen. 125 Die Regelungen ermöglichen nunmehr neben den staatlichen einen privaten Gesundheitsschutz. Der staatliche Gesundheitsschutz deckt alle medizinischen Grundbedürfnisse, der private soll das Angebot einer Zusatzversorgung ermöglichen. Den Versicherten garantiert das Gesetz die freie Wahl der Versicherung und freie Arztwahl. DageDazu die Angaben in Rossijskaja Gazeta vom 20.4.1992 und 1.5.1992. Erlaß des Präsidenten der RSFSR, abgedruckt in: Vedomosti S-ezda narodnych deputatov RSFSR i Verchovnogo Soveta RSFSR (Mitteilungsblatt des Kongresses der Volksdeputierten der RSFSR und des Obersten Sowjets der RSFSR - abgekürzt VSND RSFSR) Nr. 47/1991, Art. 1610. 120 Dazu im einzelnen Lohmann (Fn. 60), S. 308 f. 121 Vgl. Rossijskaja Gazeta vom 23.1.1992. 121 Siehe auch den Überblick bei LohmaM (Fn. 60), S. 309 ff., 314 Cf., 319 Cf. 123 Dazu Schirmer (Fn. 62), S. 80 f. 124 Details und Nachweise hierzu bei LohmaM (Fn. 60), S. 320. 125 VSNDRSFSR Nr. 27/1991, Art. 920. 118 119

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Rainer Pitschas

gen wird die staatliche Versicherung aus den Haushalten und Beiträgen fmanziert. Diese Pflichtkrankenversicherung gilt für alle Bürger der RSFSR, für Staatenlose und Ausländer, soweit internationale Abkommen keine andere Regelung vorsehen. Die Tarife dieser staatlichen Krankenversicherung werden von den Versicherungsträgern im Zusammenwirken mit dem Ministerrat der RSFSR und den Republiken festgelegt. Sie sollen sich nach der Rentabilität des Versicherers und den Anforderungen richten, die der Sicherstellung der staatlichen Gesundheitsfürsorge dienen. Dagegen dürfen die privaten Versicherer ihre Tarife vertraglich mit den Versicherungsnehmern vereinbaren. 126 b) Soziale Förderung bei Arbeitslosigkeit Wie in allen Ländern Miuel- und Osteuropas spielt die K()()rdination der Arbeitsmarktpolitik mit den Privatisierungsinitiativen der Staaten eine für die sozialstaatliche Entwicklung maßgebliche Rolle. So hat auch die RSFSR im Mai 1991 ein entsprechendes Beschäftigungsgesetz erlassen.l 27 Ihmzufolge hat jeder Bürger einen Anspruch auf einen Arbeitsplatz seiner Wahl, wobei allerdings diesem sozialen Recht nicht die Pflicht des Staates korrespondiert, den gewählten Arbeitsplatz auch zur Verfügung zu steUen. Das damit gesetzlich verankerte "Recht auf Arbeit" existiert nur in einem programmatischen Sinn. Das neue Beschäftigungsgesetz regelt ferner die Tätigkeit der Arbeitsverwaltung, der Arbeitsvermittlung sowie die Beteiligung der Gewerkschaft und anderer gesellschaftlicher Organisationen an der Durchführung der Arbeitsgesetze. Diese Regelungsanstrengungen sind darauf zurückzuführen, daß die neugeschaffenen Möglichkeiten "betriebsbedingter Kündigungen" nicht nur nach einer neuen Einstellung gegenüber offener Arbeitslosigkeit verlangen, sondern auch nach der Entwicklung von Hilfen bei der Arbeitsplatzsuche. Diese Situation führt zu der Aufgabe, eine "neue" staatliche Arbeits- und Beschäftigungspolitik zu schaffen, den Arbeitsmarkt auszugleichen und die gesetzlich durch die Russische Föderation festgesetzten Arbeitsplatzgarantien in konkrete Leistungen umzusetzen. Dazu zählt auch die Entwicklung rayon- und stadtbezogener Beschäftigungsprogramme und der Aufbau eines Systems von Berufsberatungs-, Berufsbildungs- und -förderungsmaßnahmen. 128

126 S.

Gesetz über den medizinischen Schutz der Bürger (pn. 125).

1Z7 VSND RSFSR Nr. 18/1990, Art. 545.

128 Dies unter flankierender deutscher Hilfe, vgl. Berlinger (Fn. 89), S. 2 und 4; zu den Anfingen dieser Entwicklung siehe auch Hans-Erich Gramatzlci, Die sowjetische Beschäftigungspolitik, in: Siegfried Baske (Hg.), Perestrojka. Multidisziplinäre Beiträge zwn Stand der Realisierung in der Sowjetunion, Berlin 1990, S. 111 ff.

Institutionell-organisatorische Gnmdfragen

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c) Refonnperspektiven Der ordnungspolitische Zustand der ehemaligen Sowjetunion und auch der Rußlands ist von dem der übrigen Staaten Mittel- und Osteuropas grundverschieden. Will man ihn knapp kennzeichnen, so herrscht - mangels Durchsetzbarkeit von Bestimmungen - ein eher regulatives Chaos. Überlegungen, einen Wohlfahrtsstaat westlichen Musters als Vorbild für die künftige Entwicklung zu wählen, kann ich im Hinblick hierauf nur als eine totale Utopie ansehen. 129 Zu empfehlen ist statt dessen eine zurückhaltende Unterstützung solcher sozialer Refonnschritte, die zu den vennutlich weiterhin dominierenden staatlichen Strukturen in der russischen Wirtschaft "passen".1 30 Methodisch dürfte hierzu die Hilfe der westlichen Staaten in Gestalt einer "Modellpolitik" anzuraten sein, wie sie auf dem Gebiet der Beschäftigungssicherung die deutsche Bundesanstalt für Arbeit pflegt. 131

Ebenso Nage/s (Fn. 4), S. 18 f. Dazu, daß "die russischen Refonnen, deren Bestandteil die Privatisienmg ist, ... zweifelsolme nicht zu einer westlichen Modellen ähnelnden Marktwirtschaft führen" werden, vgl. Franlc Ewrs, Privatisienmg in Rußland, in: Recht in Ost und West 36 (1992), S. 351 ff., 366. 131 Siehe nur den Bericht von Berlinger, (Fn. 89). 129

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23 von Maydell/Hohnerlein

Die Organisation der Systeme sozialer Sicherheit in Slowenien von Anjuta Bubnov-Skobeme

I. Besondere Merkmale der wirtschaftlich-sozialen Entwicklung Verglichen mit anderen Staaten Mittel- und Osteuropas befmdet sich Slowenien 1 auf seinem Weg hin zu politischem Pluralismus, Marktwirtschaft und Privateigentum von Wirtschaftsunternehmen und anderen Einrichtungen in einer etwas anderen Ausgangslage. In den vergangenen zwei Jahrzehnten waren in Slowenien Wirtschaftssubjekte, soziale Sicherungssysteme sowie Privatpersonen verhältnismäßig unabhängig vom Staat und somit autonom in der Bestimmung ihrer Entwicklung. 2 Die Eigentumsstruktur im wirtschaftlichen und öffentlichen Sektor wies die Merkmale des gesellschaftlichen, und nicht die des Staatseigentums auf. 3 Auf 1 Statistische Daten: Bevölkerungszahl (1990): 1999945; Beschäftigte (1991): 816849 (84,3 % im wirtschaftlichen und nicht-wirtschaftlichen öffentlichen Sektor; 15,7 % im privaten Sektor); Arbeitslose (1991): 75075 (9 %); Rentner (1991): 393200 (ca. 60 % Altersrenten; 20 % Invaliditätsrenten; 20 % Hinterbliebenenrenten); durchschnittlicher monatlicher Nenolohn eines Industriearbeiters in DM (Schätrung für 1992): 683 DM (Quelle: Statistisches Jahrbuch für Slowenien, 1991, und eine Untersuchung des Instituts für Wirtschaftsforschung über ''Wirtschaftliche Elem:2lte des Rentensystems in Slowenien", Ljubljana, 1992.) 2 An. 10 der Verfassung der Sozialistischen Bundesrepublik Jugoslawien von 1974: "Die sozialistische gesellschaftlich-wirtschaftliche Ordnung der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien beruht auf frei vereinter Arbeit mit den in gesellschaftlichem Eigentum befmdlichen Produktionsmineln, auf der Selbstverwaltung der Arbeiter in der Produktion und auf der Veneilung des Gesellschaftsproduktes in Grundorganisationen und anderen Organisationen assoziierter Arbeit und auf der gesellschaftlichen Reproduktion als GesamtheiL " Die Verfassung der Republik Slowenien von 1974 enthielt gleiche oder ähnliche Bestimmungen. 3 An. 12 der jugoslawischen Verfassung von 1974: "Die Produktions- und sonstigen Minel vereinter Arbeit, die Produkte der vereinten Arbeit und das durch vereinte Arbeit geschaffene Einkommen, die Minel mr Befriedigung gemeinsamer und allgemeiner Bedürfnisse, die Naturreichtümer und die Güter im allgemeinen Gebrauch bilden gesellschaftliches Eigentum. Das Eigentumsrecht auf gesellschaftliche Mittel, welche die Vorbedingungen für die Arbeit in Grundorganisationen und sonstigen Organisationen assoziierter Arbeit oder die materielle Grundlage zur Verwirklichung der Funktionen selbstverwalteter Interessengemeinschaften oder sonstiger selbstverwalteten Organisationen und Gemeinschaften und gesellschaftlich-politischer Gesellschaften bilden, kann niemand erwerben. Die gesellschaftlichen Minel können weder zur Aneignung des Arbeitsmehrwertes Anderer noch zur Schaffung von Vorbedingungen einer solchen Aneignung genutzt werden."

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dieser verfassungsrechtlich und gesetzlich gesicherten Grundlage wurde ein System der Selbstverwaltung von Wirtschaftsuntemehmen und anderen Einrichtungen durch die Arbeitnehmer geschaffen. 4 Die staatliche Planung spielte dabei eine vergleichsweise geringe Rolle. da der Staatsplan eher den Charakter von Richtlinien als den eines rechtsverbindlichen Gesetzes aufwies. Im Prinzip waren Wirtschaftssubjekte und andere Organisationen frei in ihren ökonomischen Entscheidungen sowie in Fragen der Teilnahme an in- und ausländischen Märkten. Die Systeme der sozialen Sicherheit (Sozialversicherung und Sozialhilfe) wurden in der Vergangenheit gemäß der Verfassung und den Gesetzen durch die nach dem Prinzip der Selbstverwaltung organisierten Interessengemeinschaften implementiert. 5 Diese Organisationen 6 waren verantwortlich für die Erhebung von Beiträgen,? die Verwaltung der Geldleistungen sowie für die Organisation medizinischer und sozialer Dienstleistungen. Die Verwaltungsorgane dieser Gemeinschaften bestanden zu gleichen Teilen aus gewählten Ar-

4 Art. 14 der jugoslawischen Verfassung von 1974: "Jedem Arbeiter in vereinter Arbeit mit Mitteln im gesellschaftlichen Eigentum wird das Recht verbürgt, bei der Verwirltlichung des Rechtes auf Arbeit mit gesellschaftlichen Mineln in der Grundorganisation assoziierter AJbeit, in der er tätig ist, und in allen sonstigen Formen der Vereinigung von Arbeit und Mitteln gemeinsam und gleichberechtigt mit anderen Arbeitern die Arbeit und die Angelegenheiten der Organisation assoziierter Arbeit sowie die Angelegenheiten und Minel in den Gesamtbeziehungen der gesellschaftlichen Reproduktion zu verwalten, die gegenseitigen Arbeitsbeziehungen zu regeln, über das in verschiedenen Formen der Vereinigung von Arbeit und Mitteln erzielte Einkommen zu beschließen und persönliches Einkommen zu erwerben. Die Grundorganisation assoziierter Arbeit bildet die grundlegende Form der vereinten Arbeit, in der die Arbeiter unmittelbar und gleichberechtigt ihre gesellschaftlich-wirtschaftlichen und sonstigen Selbstverwaltungsrechte verwirldichen und über sonstige Fragen ihrer gesellschaftlich-wirtschaftlichen Stellung beschließen. Jeder Akt und jede Handlung, durch die diese Rechte der Arbeiter verletzt werden, ist verfassungswidrig." s Art. 51 der jugoslawischen Verfassung von 1974: "Selbstverwaltete Interessengemeinschaften werden von Werktätigen unminelbar oder im Wege ihrer selbstverwalteten Organisationen und Gemeinschaften gegründet, um ihre persönlichen und gemeinsamen Bedürfnisse und Interessen zu befriedigen sowie die Arbeit innerhalb des Bereiches, für den die Interessengemeinschaft errichtet wird, mit diesen Bedürfnissen und Interessen in Einklang zu bringen. Die Rechte, Pflichten und Verantwortungen werden in bezug auf die gegenseitigen Beziehungen in der selbstverwalteten Interessengemeinschaft durch Selbstverwaltungsabkommen über ihre Errichtung, ihre Satzungen und sonstige Selbstverwaltungsakte geregelt. Zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse und Interessen in selbstverwalteten Interessengemeinschaften entrichten die Werktätigen an diese Gemeinschaften Beiträge aus ihrem persönlichen Einkommen und aus dem Einkommen der Grundorganisationen assoziierter Arbeit, und zwar im Einklang mit der Bestimmung oder Zielrichtung, denen diese Minel dienen." 6 In Slowenien waren die selbstverwalteten Gemeinschaften für Gesundheit, soziale Wohlfahrt, Kinderfürsorge, Beschäftigung sowie Renten- und Invaliditätsversicherung getrennt voneinander organisiert. 7 S. Art. 51 Abs. 3 (Fn. 5).

Organisation sozialer Sicherheit in Slowenien

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beitnehmervertretern und Vertretern der im Bereich der medizinischen, sozialen und arbeitsfördernden Sozialleistungen tätigen Organisationen. 8 Die ökonomischen und sozialpolitischen Schwächen dieses auf gesellschaftlichem Eigentum und Selbstverwaltung basierenden Systems lagen vor allem im mangelnden Verantwortungsbewußtsein für die wirtschaftliche und rationelle Verwendung der Finanzmittel. Ein unverhältnismäßig großer Anteil des erwirtschafteten Einkommens wurde für den individuellen Verbrauch und für die Aufrechterhaltung des sozialen Systems verwandt Die Ansprüche auf Geld- und Dienstleistungen in den Bereichen der Sozialversicherung, der Sozialhilfe und der Kinderbeihilfen stiegen stetig an - ungeachtet der dadurch verursachten Kosten und der wirtschaftlichen Folgen. 9 Trotz seiner Schwächen vennittelte dieses Selbstverwaltungssystem den Menschen das Gefühl, an dem Entscheidungsprozeß in bezug auf ihre Leistungsansprüche beteiligt zu sein. Insofern sind die Ablehnung und Frustration über die auf verfassungsrechtlicher Grundlage geplanten gesetzlichen Beschränkungen der Arbeitnehmennitbestimmung verständlich. 10 Das verfassungsrechtlich und gesetzlich garantierte Recht auf eine feste Anstellung war aus der Sicht der Bevölkerung von besonderer Relevanz. Ein Arbeitsverhältnis konnte demnach nur in Ausnahmefällen gekündigt werden. 1l 8 Die rechtliche Grundlage für den Aufbau der Verwalllmgsorgane wurde durch Art. 52 der jugoslawischen Verfassung von 1974 geschaffen: "Arbeiter und andere Werktätige, die im Bereich des Bildungswesens, der Wissenschaften, der Kultur, des Gesundheitswesens und des Sozialschutzes ihre penönlichen und gemeinsamen Bedürfnisse und Interessen nach den Grundsätzen der Gegenseitigkeit und Solidarität verwirldichen, und Arbeiter der Organisationen assoziierter Arbeit, die in diesen Bereichen tätig sind, gründen selbstverwaltete Interessengemeinschaften, in denen sie den freien Austausch der Arbeit verwirklichen, Arbeit und Mittel zusammenschließen und gleichberechtigt und gemeinsam über die Besorgung dieser Tätigkeiten in Übereinstimmung mit gemeinsamen Interessen beschließen, die Politik der Entwicklung und der Förderung dieser Tätigkeiten festsetzen und sonstige gemeinsame Interessen verwirldichen. Die gegenseitigen Beziehungen in diesen selbstverwalteten Interessengemeinschaften werden derart geregelt, daß die Rechte der Arbeiter und sonstiger Werktätigen in bezug auf die Beschlußfassung über die von ihnen vereinten Mittel sowie auch die Rechte der Arbeiter in Organisationen assoziierter Arbeit, die im Bereich, für den die Interessengemeinschaft errichtet ist, tätig sind, gewährleistet werden, damit sie in freiem Austausch der Arbeit eine gleiche gesellschaftlich-wirtschaftJiche Stellung verwirldichen, die auch Arbeitern in sonstigen Organisationen assoziierter Arbeit zusteht." 9 Z.B. der Muttenchaftsurlaub, der mehrmals bis auf schließlich 365 Tage bei lOO%igem Lohnausgleich verlängert wurde, oder die Rentenindexierung auf monatlicher Basis usw. 10 Eine Gesetzesvorlage über die Arbeitnehmennitbestimmung wurde dem Parlament rugeJeiteL Art. 75 der Verfassung der Republik Slowenien legt fest: "Die Arbeitnehmer wirken an der Verwaltung von Wirtschaftsunternehmen und Anstalten auf die Art und unter den Bedingungen mit, die durch das Gesetz festgelegt werden." 11 Das Recht auf eine feste Anstellung wurde in Art. 32 Abs. 4 der jugoslawischen Verfassung vom 1974 gesichert: "Wenn infolge technologischer oder sonstiger Verbesserungen, die zum Wachstum der Arbeitsproduktivität und zum besseren Erfolg der Organisation beitragen, der Bedarf

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Auf diese Weise sicherte die Vollzeitbeschäftigung von Männem und Frauen sowie die Möglichkeit, ein zusätzliches Einkommen durch eine Nachmittagsbeschäftigung in der Landwirtschaft oder im Handwerk 12 zu erzielen, der Bevölkerung einen verhältnismäßig hohen Lebensstandard; zudem förderte der Staat den individuellen Wohnungsbau bzw. -kauf. 13 Angesichts dieser nun der Vergangenheit angehörenden günstigen gesellschaftlichen Situation werden steigende Arbeitslosigkeit und sinkender Lebensstandard - im Zuge der Arbeitsmarktgründung, des wirtschaftlichen Strukturwandels und der infolge verlorener jugoslawischer Märkte 14 verstärkten Orientierung hin zu westlichen Märkten - von der Bevölkerung als besonders schmerzlich empfunden. Die radikale Änderung der Arbeitsgesetzgebung, die nun individuelle und kollektive Kündigungen ermöglicht, führt zu erheblicher Unsicherheit und Zukunftsangst. Aufgrund der ungünstigen Wirtschaftslage und der hohen Auslandsverschuldung wurden - nach der Änderung der Bundesverfassung und der Republikverfassungen des ehemaligen Jugoslawien - zwischen 1988 und 1989 Wirtschaftsreformen eingeführt Die Selbstverwaltung wurde dabei eingeschränkt,IS und der Privatisierungsprozeß in der Wirtschaft wurde eingeleitet. 16 Nach der Proklamation der Unabhängigkeit Sloweniens am 25. Juni 1991 17 begann schließlich der Prozeß der Umwandlung und der Anpassung des gesamten Rechtssystems im Hinblick auf die Einführung von politischer Demokratie, Privateigentum und Marktwirtschaft. Die neue slowenische Verfassung,18 die Gesetze über die Privatisierung sowie eine Reihe weiterer relevanter Gesetze wurden verabschiedet; darüberhinaus liegen den Gesetzgebungsor-

an Arbeit des Arbeiters in dieser Organisation erlischt, kann der Arbeiter, solange bis ilun nicht ein anderer, seinen Tätigkeiten und Qualifikationen entsprechender Arbeitsplatz gewährleistet wird, nicht seine Eigenschaft als Arbeiter dieser Grundorganisation assoziierter Arbeit verlieren." Wirtschaftliche Schwierigkeiten wurden zu jener Zeit noch nicht berücksichtigt. 11 In der Industrie war die Arbeitszeit von 6.00 bis 14.00 Uhr festgelegt und ennöglichte so die zusätzliche Ausübung einer Erwerbstätigkeit am Nachmittag. 13 Es wird geschätzt, daß in Slowenien 6S % des Wolmraurns (Einfamilienhäuser oder Wohnungen) sich im Eigentum von Privatpersonen befinden. 14 In den 80er Jahren exportierte Slowenien ca. 30 % seines Gesamtumsatzes an die anderen Republiken Jugoslawiens. Gegenwärtig exportiert es ca. IS % seines Gesamtumsatzes vor allem nach Kroatien. 15 Diese Gesetzesänderungen schufen die ersten Rechtsvonchriften für den Übergang zur Marktwirtschaft. 16 Ein besonderes Bundesgesetz über Handel und Nutzung (Verfügung) des kollektiven Kapitals (Zakon 0 prometu in razpolaganju z dndbenim kapitalom), Gesetzblätter SFRI Nr. 84 vom 22.12.1989 und Nr. 46 vom 10.8.1990, schaffte die Voraussetzungen für die Privatisierung. 11 Am 2S. Juni 1991 verabschiedete das Parlament der Rq>Ublik Slowenien die "Grundlegende Verfassungsurkunde über die Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Republik Slowenien", GesetzblaltRS Nr. 1 vom 25.6.1991. 11 Verfassung der Republik Slowenien, Gesetzblatt RS Nr. 33 vom 28.12.1991.

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ganen noch mehrere Gesetzentwürfe vor.l 9 Auf dem Gebiet der sozialen Sicherung wurden neue Gesetze verabschiedet, die sich auf alle Sozialversicherungszweige sowie auf die Sozialhilfe beziehen; das Gesetz über Familienleistungen liegt zur Verabschiedung vor.

11. Die Errichtung der neuen Systeme sozialer Sicherung Die Neuregelung der sozialen Sicherung in Slowenien besteht vor allem in der Schaffung neuer rechtlicher Grundlagen zur Anpassung der Systeme an die veränderten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten. Die wesentlichen Änderungen sind: - Die Schaffung von Möglichkeiten - zusätzlich zum grundlegenden öffentlichen System, das bisher eine MonopolsteIlung innehatte - der freiwilligen Versicherung und der privaten Erbringung medizinischer und sozialer Dienstleistungen (die sowohl gewinnorientiert wie auch nicht-gewinnorientiert ausgerichtet sein können). - Die Neuregelung gewährleistet größtenteils den Fortbestand des alten S~ zialversicherungssystems. 2O Gewisse Beschränkungen der Leistungsanspruche wurden jedoch eingeführt, um Mittel einzusparen und Sozialausgaben zu reduzieren. - Manche Bereiche, vor allem jener der Sozialhilfe für Arbeitslose und Bedürftige, wurden den veränderten Verhältnissen infolge der zunehmenden Arbeitslosigkeit und der Verarmung einiger Bevölkerungsschichten (durch die Schaffung zusätzlicher Leistungsanspruche) angepaßL - Die neuen Systeme sind so ausgestaltet, daß eine größtmögliche Harmonisierung mit den westeuropäischen Systemen erzielt wird Im Zuge der Annahme der neuen Verfassung und Gesetze wurde eine Vielzahl grundsätzlicher Fragen aufgeworfen. Die wichtigste darunter war wohl die, ob das bestehende Sozialversicherungssystem auf der Grundlage von Versicherten- und Arbeitgeberbeiträgen sowie einkommensbezogenen Leistungen (Lohn- und Gehaltsersatzleistungen sowie Renten) beibehalten werden sollte, oder ob man zur Abdeckung einiger oder aller sozialen Risiken einheitliche 19 Gesetz über die Reprivatisierung (Zakon 0 denacionalizaciji), Gesetzblatt RS 27 vom 29.11.1991; Gesetz über die Eigenrurnsumwandlung von Unternehmen (Zakon 0 lastninskem preoblikovanju podjetij), Gesetzblau RS 55 vom 22.11.1992. Gesetzesanträge über Untemehmensgründung/-führung, Arbeitnelunermitbestimmung, Gewerkschaften und Kollektivverhandlungen befinden sich in Gesetzgebungsverfahren. 20 Das Sozialversicherungssystem in Slowenien basiert auf einer längeren Tradition und ist vergleichbar mit den Systemen in Österreich, der Bundesrepublik Deutschland und Italien.

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Grundleistungen für die gesamte Bevölkerung gemäß dem Universalprinzip einführen sollte, die aus dem Staatshaushalt zu finanzieren wären (nicht-beitragsbezogenes System der sozialen Sicherung). Das System der Grundleistungen wurde insbesondere im Hinblick auf die Altersversorgung durch die Einführung einer staatlichen Altersrente ab dem Erreichen des festgesetzten Rentenalters vorgeschlagen. Der Gedanke dabei war der, daß man den Umfang der Sozialausgaben durch die Einführung einer einheitlichen Mindestunterstützung reduzieren und gleichzeitig die Bevölkerung dahingehend beeinflussen könnte, sich eigenverantwortlich um eine Zusatzversicherung und andere Sicherungsformen zur Abdeckung sozialer Risiken zu kümmern. Es herrscht der Standpunkt vor, daß es nicht möglich ist, kurzfristig eine radikale Umwandlung der Sozialversicherungssysteme, die in Slowenien auf eine lange Tradition zurückblicken, herbeizuführen, sondern daß es vielmehr notwendig sein wird, die Systeme über einen längerfristigen Zeitraum auf der Basis gründlicher Analysen umzuwandeln. Durch die allmähliche, langfristige Einführung von Änderungen kann ein allzu plötzlicher Eingriff in die erworbenen und für selbstverständlich gehaltenen Ansprüche des Einzelnen verhindert werden. 21 Außerdem ist zu berücksichtigen, daß der Wechsel von einem System der einkommensbezogenen Sozialleistungen, das eine gewisse Kontinuität des individuellen Lebensstandards gewährleistete, hin zu einem System, in dem jeder nur Anspruch auf eine einheitliche Grundleistung zur Abdeckung lediglich seiner Mindestbedürfnisse hat, ein gewisses Niveau der gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung und der sozialen Wohlfahrt voraussetzt

ID. Merkmale der neuen rechtlichen Regelung der sozialen Sicherung Die im Dezember 1991 verabschiedete Verfassung der Republik Slowenien regelt auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit in ihrem weitesten Sinne die fundamentalen Rechtsgrundsätze und die Menschenrechte. Unter den "Allgemeinen Bestimmungen" der Verfassung wird in Artikel 2 Slowenien zu einem Rechts- und Sozialstaat erklärt. Zwei weitere, zu den Menschenrechten und den Grundfreiheiten zählende Rechtsvorschriften, die im wesentlichen auch den Charakter fundamentaler Rechtsgrundsätze besitzen, sind die in Artikel 14 genannte Bestimmung, die allen die gleichen Menschenrechte und Grundfreiheiten, ungeachtet der persönlichen Umstände,22 gewährleistet, 21 Die Frage, ob die Altersrente den Schutz eines Eigentumsrechtes genießen sollte, wird im nachstehend genannten Beitrag erörtert: Janez SinIco1!ec, Socialna drzava (Woblfahrtsstaat), Podjetje in delo 7,1992, S. 749-752 21 Art. 14 der Slowenischen Verfassung von 1991 (Gleichheit vor dem Gesetz): "Allen werden

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und das in Artikel 34 verbriefte Recht eines jeden auf persönliche Würde und FreiheiL23 Die besonderen verfassungsmäßig geschützten Menschenrechte umfassen: das Recht aller Staatsbürger auf soziale Sicherheit (Art. 50), das Recht eines jeden auf Gesundheitsfürsorge (Art. 51), das Recht von Kriegsveteranen und Kriegsopfern auf besonderen Schutz (Art. 50 Abs. 3), das Recht Behinderter auf besonderen Schutz und berufliche Eingliederung (Art. 52), das Recht von Kindern auf besonderen Schutz und besondere Fürsorge (Art. 56) und das Recht von Familien, Eltern und Kindern auf besonderen Schutz (Art. 53 Abs. 3).24 Der Staat ist gemäß Artikel 50 Abs.2 dazu verpflichtet, die Kranken-, Renten-, Invaliditäts- und andere soziale Pflichtversicherung zu regeln und für deren Funktionieren zu sorgen. Auf der Grundlage des verfassungsmäßigen Rechts auf soziale Sicherheit sind bereits eine Reihe neuer Gesetze verabschiedet worden, Z.B. zur Rentenund Invaliditätsversicherung, zur Gesundheitsfürsorge und zur Krankenver-sicherung sowie zur Arbeitslosenversicherung. 25 Das System der sozialen Wohlin Slowenien die gleichen Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet, ungeachtet der Nationalität, der Rasse, des Geschlechts, der Sprache, des Glaubens, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Vermögensvemältnisse, der Geburt, der Bildung, der gesellschaftlichen Stellung oder irgendeines sonstigen personenbezogenen Umstands." 23 An. 34 der Slowenischen Verfassung von 1991 (Recht auf persönliche Würde und Sicherheit): "Jedermann hat das Recht auf persönliche Würde und Sichemeit" 24 An. SO der Slowenischen Verfassung von 1991 (Recht auf soziale Sichemeit): "Die Staatsbürger haben das Recht auf soziale Sichemeit unter den gesetzlich festgelegten VOl1lUssetzungen. Der Staat regelt die Kranken-, Renten-, Invaliditäts- und andere soziale Pflichtversicherung und sorgt für deren Funktionieren. Kriegsveteranen und -QJlfern wird ein besonderer Schutz in Einklang mit dem Gesetz gewährleistet." Art SI (Recht auf Gesundheitsfürsorge): "Jedermann hat das Recht auf Gesundheitsfürsorge unter den gesetzlich festgelegten Voraussetmngen. Die Rechte auf eine aus öffentlichen Mitteln finanziene Gesundheitsfürsorge werden durch Gesetz bestimmt Niemand darf zu einer ärztlichen Behandlung gezwungen werden, außer in den gesetzlich bestimmten Fällen." An. 52 (Rechte Behindener): "Behindenen wird in Einklang mit dem Gesetz ein besonderer Schutz und die Möglichkeit zur beruflichen Eingliederung gewährleistet. Kinder mit Störungen in ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung und andere schwer behindene Personen haben das Recht auf Ausbildung und Befähigung für ein aktives Leben in der Gesellschaft. Die Ausbildung und Befähigung aus dem vorigen Absatz wird aus öffentlichen Mitteln finanziert" Art 56 (Rechte der Kinder): "Kinder genießen besonderen Schutz und besondere Fürsorge. Menschenrechte und Grundfreiheiten genießen Kinder entsprechend ihrem Alter und ihrer Reife. Kindern wird ein besonderer Schutz vor winschaftlicher, sozialer, körperlicher, geistiger oder sonstiger Ausbeutung und Mißbrauch gewährleistet. Dieser Schutz wird durch Gesetz geregelt. Kinder und Minderjährige, die nicht von Eltern versorgt werden, keine Eltern haben oder ohne entsprechende Fürsorge sind, genießen einen besonderen staatlichen Schutz. Ihre Rechtsstellung wird durch Gesetz geregelt" 2.S Gesetz über die Renten- und Invaliditätsversicherung (Zakon 0 pokojninskem in invalidskem zavarovanju), Gesetzblatt RS Nr. 12 vom 13.3.1992; Gesetz über die Gesundheitsfürsorge und die Krankenversicherung (Zakon 0 zdravstvenem varstw in zdravstvenem zavarovanju), Gesetzblatt RS Nr. 9 vom 21.2.1992; Gesetz über Beschäftigung und AdJeitslosenversicherung (Zakon 0 zaposlovanju in zavarovanju za primer brezposelnosti), Gesetzblatt RS Nr. 5 vom 5.2.1991.

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Anjuta Bubnov-Skobeme

fahrt wird gemäß dem Sozialhilfegesetz geregelt 26 Die besondere Unterstützung von Kindern und Familien wird gemäß dem Gesetz über die soziale Sicherung von Kindern geregelt rI Diese Gesetze sichern auch die in der ILO-Konvention Nr. 102 festgeschriebenen und für Slowenien rechtsverbindlichen Ansprüche auf soziale Sach- und Geldleistungen. 28 Renten-, Krankengeld-, Mutterschafts- und Arbeitslosenleistungen werden als prozentualer Anteil des vorherigen Einkommens des Versicherten innerhalb eines festgelegten Zeitraumes berechnet 29 Die jeweils für die Leistungsberechnung festgesetzten Prozentsätze sind für die meisten Sozialleistungen in der Regel genauso hoch oder sogar höher als die in den anderen europäischen Ländern geltenden Sätze und entsprechen auch jenen des alten Systems.30 Gemäß dem Gesetz über die medizinische Versorgung und die Krankenversicherung hat jeder einen Anspruch auf den bestmöglichen Gesundheitszustand. Ein besonderes Merkmal der slowenischen Regelung der Sozialversicherung besteht darin, daß sie einen weitgefaßten Kreis von Leistungsempfängern zwingend vorschreibt. Das einheitliche System der Renten- und Invaliditätsversicherung umfaßt zusätzlich zu den Arbeitnehmern und ihren Angehörigen auch die Selbständigen, Landwirte und deren Angehörige sowie einige weitere Berufsgruppen. Die Krankenversicherung, die einer Universalsicherung am nächsten kommt, erstreckt sich nicht nur auf die Erwerbsbevölkerung, sondern auch auf alle in Slowenien wohnhaften slowenischen Staatsbürger. Die Arbeitslosenversicherung ist obligatorisch für alle Personen in einem abhängigen Arbeitsverhältnis. Die wesentlichen Änderungen der Renten- und Invaliditätsversicherung gegenüber der früheren Regelung wurden vor allem im Hinblick auf die Begren26 Gesetz über die Sozialhilfe (Zakon 0 socia1nem vantvu). Gesetzblatt RS Nr. S4 vom 13.11.1992. 'EI Gesetz über die soziale Sichenmg von Kindern (Zakon 0 drufbenem vantvu otrok). Gesetzblatt RS Nr. 3S vom 7.12.1979. Diskussionen um eine neue Gesetzesvorlage sind seit langem in Gange. weil bisher kein Konsens über die Regellmg des Kindergeldes erzielt wurde. Umstritten ist vor allem. ob diese Leistung bedarfsabhängig oder univenal sein sollte. 28 Die n..O-Konventionen. die vom ehemaligen Iugoslawien ratifiziert wurden. werden auch von Slowenien respektiert und wurden bereits norifiziert (Gesetzblatt RS Nr. S4 vom 13.11.1992). 29 Die Altenrente errechnet sich auf der Grundlage des höchsten Verdienstes zehn aufeinanderfolgender Iahre; die Berechmmgsgrundlage für das Krankengeld ist das durchsclmittliche monatliche Gehalt des vorhergehenden Kalenderjahres; das Muttenchaftsgeld entspricht dem Monatsgehalt, das dem/der Venicherten im Rahmen seinesl ihres Arbeitsvertrages zustünde; die Berechnungsgrundlage für das Arbeitslosengeld ist das durchschnittliche Monatsgehalt der letzten drei Monate vor Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses. 30 Der Höchstsatz für die Berechnung der Altenrente beträgt 8S % (für 40 Venicherungsjahre bei Männem und 30 bei Frauen); für das Krankengeld beträgt er SO-100 %. für Muttenchaftsgeld 100 % und für Arbeitslosengeld zwischen 70 % und 60 %.

Organisation sozialer Sicherheit in Slowenien

363

zung des Rentnerzustroms zu diesem System vorgenommen. 31 Über einen Zeitraum von fünf Jahren, dh. bis 1998, wird das Rentena1ter bezüglich aller Rentenarten um drei Jahre heraufgesetzt werden. Trotz dieser Erhöhung bleibt die Altersgrenze dennoch niedrig, da im Falle einer sog. vollen Versicherungsdauer (40 Jahre Berufstätigkeit bei Männern bzw. 35 bei Frauen) das Mindestrentenalter für Männer auf 58 Jahre bzw. für Frauen auf 53 Jahre festgesetzt ist Eine frühzeitige Verrentung ist nicht mehr für alle Versicherten möglich, sondern kann nur gemäß den in der Novelle genannten spezifischen Fällen zugelassen werden. 32 Demgegenüber wurde in der Krankenversicherung ein neues System für die Bezahlung medizinischer Leistungen entwickelt, das vor allem auf eine Kostensenkung im Gesundheitswesen abzielt. Dabei wurde die Beteiligung der Patienten an den Versorgungskosten beträchtlich erhöht. 33 Gleichzeitig wurde die gesetzliche Möglichkeit einer freiwilligen Zusatzversicherung zur Abdeckung der von der staatlichen Pflichtversicherung nicht erfaßten Leistungsansprüche geschaffen. Das neue Sozialhilfegesetz regelt das System sozialer Beratungsdienste und institutioneller Fürsorge!Betreuung sowie die Anspruchsberechtigung für S nach oben begrenzt.

388

Winfried Schmähl

Übersicht 3 enthält Beispiele für das Aufteilungsverhältnis zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberzahlungen im Rahmen der Sozialversicherung für Alter, Hinterbliebene und Invalidität in verschiedenen Ländern. Obersiehl3 Auftellung von Sozlalverslcherungsbelträgen zwüchen Arbeitnehmern und Arbeitgebern (Betrieben) In Sozlalverslcherungssystemen für Alter, Hinterbliebene und Invalldltäta) (1991) Beiuagssätze der Land

Arbeitnehmer

Arbeitgeber

Anteil der Arbeitgeber

in% Belgien

7,5

8,86

54,2

Deutschland

8,85

8,85

50,0

Frankreich

7,6

8,2

61,9

Griechenland

5,25

10,50

66,7

Italien

7,29

18,93b)

Luxemburg

8,0

72,2

8,0

50,0

Österreich

10,25

12,55

55,3

Portugal

11,0

24,5

69,0

Spanien

4,8

24,0

83,3

Türkei

9,0

11,0

55,0

USA

6,2

6,2

50,0

Bulgarien

0

30,0

100,0

CSFR

0

50,0

100,0 100,0

Polen

0

43,0

Rumänien

3,0

20,0-25,0

87,0·89,3

Rußland

1,0

26,0

96,3

Ungam

10,0

43,0

81,1

10,0

12,5

55,6

DDR (bis 6/1989 im Pflichtsystem ) a)

Unterschiede in der konkreten Definition der Bemessungsgnmdlage werden hier nicht berück-

sichtigL Auch der Staat ist in IDlterschiedlicher Weise an der Finanzienmg beteiligL Z.T. (wie z.B. in Portugal) werden mit den Beitragseinnahmen auch noch andere Ausgaben finanzielL b)

Zusätzlich spelielle Zuschläge je nach Wirtschaftszweigen.

Quelle: Zusammengestellt nach Angaben in U.S. Department of Health and HlDDan Services, Social Security Programs Throughout the Warld - 1991, Washington, D.C., September 1992.

Grundfragen der Finanzierung

389

Es zeigt sich, daß die hälftige Aufteilung der Beitragszahlung - wie sie in Deutschland üblich ist - nur eine unter vielen Aufteilungsverhältnissen ist. Häufig sind die Arbeitgeberzahlungen höher.

Besonders deutlich wird, daß in ehemals sozialistischen Ländern (mit Ausnahme der DDR) die Zahlungen der Betriebe (Arbeitgeber) weitaus dominieren. 1S Formal lassen sich die erwähnten Ausgestaltungsmerkmale wie folgt darstellen: (1) Bit = bt . 0* Bit = (individuelle) Beitragszahlung von oder für einen Versicherten zum Zeitpunkt t. b = Tarif-Beitragssatz 0* =beitragspflichtiges (individuelles) Einkommen (z.B.Bruttolohn) (2) 0* = 0 ::; BGR Für 0 > BGR gilt 0* = BGR 0= individuelles Einkommen (Bemessungs-Grundlage) BGR = Beitragsbemessungsgrenze (3) J>ANt = x . bt J>AN = Arbeitnehmeranteil an den Beitragszahlungen mit

O::;xs.1.

Die Beitragszahlungen steigen also bei einem einheitlichen Beitragssatz ab der Untergrenze (Freigrenze) bis zur Beitragsbemessungsgrenze proportional mit dem (versicherungspflichtigen) Einkommen (vgl. Übersicht 4, oberer Teil). Endet die Versicherungspflicht nicht an der Obergrenze, so bleibt die absolute Beitragszahlung ab der Beitragsbemessungsgrenze unverändert. Im Falle einer Versicherungspflichtgrenze würde keine Pflicht-Beitragszahlung mehr erfolgen. Manchmal besteht dann die Möglichkeit zur freiwilligen Weiterversicherung oder ein Versicherungsschutz kann durch (freiwilligen) Abschluß einer Privatversicherung erworben werden. Bezieht man die individuelle Beitragszahlung auf das jeweilige individuelle Arbeitsentgelt (bzw. das versicherungspflichtige Einkommen), so erhält man 15

In Ländern mit Steuer-Transfer-Systemen, wie dem System der Staatsbürgerrente in Schwe-

es manchmal auch "Beiträge" zur Finanzierung, die z.B. in Schweden ausschließlich von Arbeitgebern entrichtet werden (neben den etwa 1/4 der Gesamtfinanzierung ausmachenden Zahlungen aus dem Staatshaushalt). Auch die (lohnbezogene) Zusatzrente (ATP) wird allein aus Arbeitgeber-Beiträgen finanziert, die sich auf das volle Arbeitsentge1t beziehen (während für die Rentenberechnung Arbeitsentge1te über eine Höchstgrenze nicht berücksichtigt werden). den, gibt

390

Winfried Schmähl

den durchschnittlichen Beitragssatz (bi = Bi/O), der bei einheitlichem TarifBeitragssatz (b) zwischen Unter- und Obergrenze gleichfalls einheitlich ist, ab der Beitragsbemessungsgrenze jedoch einen regressiven Verlauf aufweist (vgl. ÜbersichJ 4, unterer Teil). Die bei steigendem Beitragssatz höheren Beitragszahlungen der Arbeitnehmer reduzieren zunächst deren Nettolohn. 16 Ob dadurch auch die Lohnkosten beeinflußt werden, hängt von den Lohnverhandlungen ab. Würde es den Arbeitnehmern bzw. ihren Vertretungen (Gewerkschaften) gelingen, aufgrund der höheren Beitragsbelastung höhere Löhne auszuhandeln, als sie sonst gezahlt worden wären, so würden in diesem Fall die Arbeitnehmerzahlungen auf die Arbeitgeber überwälzt. Die Arbeitgeberzahlungen sind unmittelbarer Bestandteil der Lohnkosten. Im Unterschied zu den von den Arbeitnehmern entrichteten Zahlungen wirkt sich eine Erhöhung des Beitragssatzes zumindest zunächst unmittelbar auf die Lohnkosten aus, steigert sie, auch wenn der in die Bemessungsgrundlage eingehende Bruttolohn unverändert bleibt. 17 Auch hier stellt sich die Frage, wie Unternehmungen darauf reagieren (können). Die Überwälzungsannahmen hinsichtlich der Sozialversicherungsheiträge sind umstritten. In der Literatur dominieren folgende Hypothesen: - Arbeitnehmerzahlungen werden nicht überwälzt, reduzieren also das Einkommen der Arbeitnehmer. - Arbeitgeberzahlungen werden dagegen in der Regel überwälzt. Hier bestehen wiederum unterschiedliche Hypothesen darüber, in welcher "Richtung" die Überwälzung erfolgt: (a) Rückwälzung auf die Arbeitnehmer (die dann entsprechend niedrigere Lohnsteigerungen z.B. bei der nächsten Lohnrunde erhalten würden) und/oder auf die Vorlieferanten; (b) "Vorwälzung" über die Preise auf die Abnehmer (die die Endverbraucher sein können oder andere Unternehmungen, die diese Produkte weiterverarbeiten).

16 Bruttolohn abzüglich direkter Abgaben, d.h. Lohnsteuer und Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung. 17 Ein Beispiel: Der Bruttolohn (als BmiessungsgnmdJage für Beitragszahhmgen) betrage 100. Der Betrag soll je zur Hälfte vom Arbeitgeber und Arbeitnehmer bezahlt werden. Der Beitragssatz betrage 10 %. (Von anderen Abgaben sei abstrahiert). Dann sind die Lchnkosten 100+-5=105, wäh· rend der Arbeitnehmer 100·5=95 ausgezahlt erhält Steigt der Beitragssatz auf 14 %, so steigen bei unverändertem Bruttolohn von 100 die Lohnkosten von 105 auf 107 (während sich der Nettolohn auf 93 verringert).

391

Grundfragen der Finanzierung

tJbersü:1tJ 4

Beitragszahlung, Tarlfbeltragssatz und durcbsc:hnlttllcher BeItragssatz bei unterschledUcher Höhe des versicherungspflichtigen Lohnes

b = konstant für alle L; bis zur Beitragsbemessungsgrenze

Geringverdienergrenze (Freigrenze)

Beitragsbemessungsgrenze

b

Geringverdienergrenze (Freigrenze) Bi b b; L;

Beitragsbemessungsgrenze

Beitragszahlung Tarifbeitragssatz durchschnittlicher Beitragssatz versicherungspflichtiger Lohn

392

Winfried Schmähl

Erfolgt keine Überwälzung, so werden dadurch die Gewinne der Unternehmungen reduziert. In Obersicht 5 sind die soeben erwähnten Alternativen schematisch zusammengefaßt ObersichtS

Überwälzungsannahmen für Arbeitgeber-Beitragszahlungen zur Sozialversicherung Rückwllzung

keine Oberwllzung

; - ~ -Ärb8itiiehmer ~ I I I

I I I0

_________

I I I ...

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