Sozialrecht und Recht der sozialen Sicherheit: Die Begriffsbildung in Deutschland, Frankreich und der Schweiz [1 ed.] 9783428448333, 9783428048335


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German Pages 447 Year 1981

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Sozialrecht und Recht der sozialen Sicherheit: Die Begriffsbildung in Deutschland, Frankreich und der Schweiz [1 ed.]
 9783428448333, 9783428048335

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FELIX SCHMID

Sozialrecht und Recht der sozialen Sicherheit

Schriftenreihe für Internationales und Vergleichendes Sozialrecht Herausgegeben von Ha n 8 F. Z ach e r, München

Band 5

Sozialrecht und Recht der sozialen Sicherheit Die Begriffsbildung in Deutschland, Frankreich und der Schweiz •

Von

Dr. Felix Schmid

DUNCKER &

HUMBLOT

I

BERLIN

Alle Rechte vorbehalten

@ 1981 Duncker & Humblot, Berl1n

n

Gedruckt 1981 bei Buchdruckerei A. Sayffaerth - E. L. Krohn, Berl1n 61 Printed in Germany ISBN 3 428 04833 4

Meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Studie entstand zwischen 1976 und 1979 an der Projektgruppe für Internationales und Vergleichendes Sozialrecht, dem heutigen Institut für Ausländisches und Internationales Sozialrecht der Max-Planck-Gesellschaft in München. Der Abschluß des Manuskriptes erfolgte im September 1979. Die Literatur wurde grundsätzlich bis Mitte 1979 berücksichtigt. Nach der Annahme der Arbeit als Dissertation Mitte 1980 wurden zur Vervollständigung noch einige wichtige inzwischen erschienene Werke eingearbeitet. Das betrifft zunächst die dritte Auflage des Lehrbuchs Sozialrecht von Helmar Bley (Deutschland) und das Lehrbuch Schweizerisches Sozialversicherungsrecht von Alfred Maurer (Schweiz). Als Sekundärliteratur wurden in den Anmerkungen die Schrift von Eike von Hippel, Grundfragen der Sozialen Sicherheit, und die Dissertation von Susanne Pfeiffer-Munz über das Sozialrechtsverständnis von Otto von Gierke nachträglich berücksichtigt. Die lange Beschäftigung mit dem Thema war nur möglich durch das großzügige Stipendium während des fast dreijährigen Aufenthaltes in München. Ich danke der Max-Planck-Gesellschaft für die mir gewährten Mittel - auch für diese Veröffentlichung - und Herrn Professor Hans F. Zacher für die Zusprechung des Stipendiums und sein Verständnis, mit dem er sich für die außerordentlich lange Stipendienzeit eingesetzt hat. Ebenso wichtig wie die finanzielle Unterstützung war die fachliche Unterstützung von verschiedenen Seiten. Die Möglichkeit zum Aufenthalt an der Projektgruppe in München zeichnete sich 1975 während meiner Assistenzzeit an der Universität Freiburg (Schweiz) ab. Herr Professor Luzius Wildhaber hat mich dazu ermuntert und sich bereit erklärt, das Projekt von der Schweiz aus zu betreuen und als erster Referent im Promotionsverfahren an der Universität Freiburg mitzuwirken. Ich bin ihm für seine wohlwollende Begleitung der Arbeit, die er auch nach seinem Wechsel an die Universität Basel weitergeführt hat, zu tiefem Dank verpflichtet. Die Universität Freiburg hat 1980 diese Studie als Dissertation begutachtet. Ich danke den Mitgliedern der juristischen Abteilung, daß sie die Arbeit als Freiburger Dissertation angenommen und mir die Erlaubnis erteilt haben, sie in dieser Schriftenreihe zu veröffentlichen.

Vorwort

8

Das gewählte Thema rechts vergleichend und mit historischen Bezügen zu bearbeiten, war nur möglich durch die Arbeitsbedingungen und die fachliche Unterstützung, die ich an der Projektgruppe für Internationales und Vergleichendes Sozialrecht genießen konnte. Herr Professor Hans F. Zacher, der Direktor des jetzigen Instituts, hat mir an der Projektgruppe Gastrecht gewährt, die Themenstellung vorgeschlagen und sie mir auch erst im Laufe der Zeit in ihrer Vielfältigkeit erschlossen. Auf dem langen Werdegang hat er mit intensiver Lektüre und Kritik der entstehenden Kapitel ganz wesentlich zum vorliegenden Resultat beigetragen. Weiter hat er die Arbeit als zweiter Referent im Promotionsverfahren mitgetragen und mir die Veröffentlichung des Buches in dieser Schriftenreihe angeboten. Ihm gilt für dies alles mein ganz besonderer Dank. Daneben wurde ich von den Mitarbeitern, Stipendiaten und Gästen der Projektgruppe beim Fortgang der Arbeit ermuntert und unterstützt. Alle zu nennen ginge zu weit; ihre Namen sind in teilweise adäquaterer Weise in die Anmerkungen eingegangen. Für viele Erleichterungen der Arbeit waren die nichtwissenschaftlichen Mitarbeiter der Projektgruppe verantwortlich. Besonders erwähnen möchte ich zudem noch diejenigen, die in München und St. Gallen am Manuskript geschrieben haben, ohne den Humor zu verlieren. Der wichtigste Dank geht an alle - ob sie oben mitgenannt sind oder nicht - die den über das Fachliche oft der völligen Wirrnis nahen Autor ertragen, ihn wieder auf die Beine gestellt haben und deshalb daran mitschuldig sind, daß die vorliegende Arbeit nur den kleineren Teil meiner Erinnerung an ihre Entstehungszeit ausfüllt. St. Gallen, im Juli 1980

FeZix Schmid

Inhaltsverzeichnis Kapitel I

EINFUHRUNG 1.

15

Fragestellung und Vorgehen ..... " .. " ............ " . . .. . .. . . ..

15

1.1.

Anlaß und Interesse am Thema .................. , .. .. .. ... . ...

15

1.2.

Fragestellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

21

1.3.

Vorgehen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

2.

Sinnebenen der Begriffsbildung ................................

27

2.1.

Die Begriffe in unterschiedlichen Sachzusammenhängen

.. . . . . ..

27

2.2.

Die Begriffe in unterschiedlichen Definitionsformen ............

28

2,3.

Die Begriffe in unterschiedlichem Gebrauchszusammenhang ....

30

3.

Hintergrundbegriffe ............................................

32

3.1. 3.1.1. 3.1.2. 3.1.3. 3.1.4.

Die Sozialpolitik 32 Entstehung und Entwicklung der Sozialpolitik .............. ;... 32 Sozialpolitik als Wissenschaft? .................................. 37 Ausprägungen der Sozialpolitik ........ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .39 Sozialpolitik und Sozialrecht .................................... 41

3.2. 3.2.1.

Die soziale Sicherheit .......................................... Die Ursprünge der sozialen Sicherheit im angloamerikanischen Raum ....................................................•...... 3.2.2 Die Internationalisierung und Rezeption des Konzepts .... . . . . .. 3.2.3. Die Unterschiede der Konzepte von sozialer Sicherheit

43

4.

Grobübersicht über den Begriffsgebrauch ......................

52

4.1.

Bundesrepublik Deutschland ....................................

52

4.2.

Österreich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

54

44 47 49

4:3.

Schweiz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

55

4.4.

Frankreich

56

4.5.

Belgien

58

4.6.

Italien

59

Inhaltsverzeichnis

10 4.7.

Großbritannien.. . .. .. .... .. . ... .. ........ .... ...... .. .... .....

60

4.8. 4.8.1. 4.8.2. 4.8.3. 4.8.4.

Internationale und supranationale Organisationen .............. Die Vereinten Nationen ........................................ Die Internationale Arbeitsorganisation .......................... Der Europarat . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Die Europäischen Gemeinschaften ..............................

62 63 64 65 65

Kapitel 11

DEUTSCHLAND

67

1.

Die Begriffsbildung im historischen Ablauf

1.1. 1.1.1. 1.1.2.

Die ersten Ansätze zu einem Sozialrechtsbegriff ................ 67 Die partikulären Begriffe von Roesler und Gierke .............. 67 Sozialpolitisches Recht und Rechtswissenschaft vor dem Ersten Weltkrieg ...................................................... 73

1.2. 1.2.1. 1.2.2.

Sozialrecht und Arbeitsrecht zur Weimarer Zeit. .... .. .. .. ..... Arbeitsrecht oder Sozialrecht als neue Rechtsdisziplin .......... Die offenere Theorie des sozialen Rechts ..... . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1.3.

1.3.2. 1.3.2.1. 1.3.2.2. 1.3.2.3. 1.3.2.4.

Sozialrecht und soziale Sicherheit in der Bundesrepublik Deutschland .......................................................... Der Begriff des Sozialrechts .................................... Die Begriffsansätze bis 1965 .................................... Die Intensivierung der Diskussion bis 1970 ...................... Der Sozialrechtsbegriff und die Schaffung des Sozialgesetzbuchs Exkurs - Die Begriffe Sozialverwaltungsrecht und Sozialleistungsrecht ...... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Der Begriff der sozialen Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Unausgewogener Gebrauch bis 1960 ............................ Die allgemeine Anerkennung des Terminus in den 60er Jahren .. Abflachen des Gebrauchs nach 1970 ............................ Exkurs - Soziale Sicherheit und soziale Sicherung ............

2.

Analyse der Begriffe

1.3.1. 1.3.1.1. 1.3.1.2. 1.3.1.3. 1.3.1.4.

67

77 77 81 85 90 90 96 106 121 127 127 131 137 139 141

2.1.

Vorschläge zur Begriffsanalyse in der deutschen Literatur ...... 143

2.2.

Faktoren der Begriffsgeschichte ................................ 150

2~3.

2.3.1. 2,3.2.

Sozialrecht im weiteren Sinne .................................. 156 Die Begriffselemente .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 157 Der Begriffsumfang ............................................ 161

2.4. 2.4.1. 2.4.2. 2.4.3. 2.4.4.

Die engere Begriffskonzeption .................................. Die Begriffselemente .......................................... Der Begriffsumfang ............................................ Zuordnungsprobleme Bereichszuweisung und Binnensystematik ......................

164 165 170

171

175

11

Inhaltsverzeichnis 3.

Zusammenfassung

178

3.1.

Sozialpolitik und Begriffsbildung

3.2.

Gesetzgebung und Begriffsbildung

.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 178

3.3~

Rechtswissenschaft und Begriffsbildung ........................ 185

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 182

3.4.

Sozialrecht zwischen öffentlichem und privatem Recht .......... 189

3.5.

Die Trennung von Sozialrecht und Arbeitsrecht ................ 191

3.6.

Sozialrechtsbegriff und Ersatzbegriffe .......................... 194

Kapitel 111

FRANKREICH

197

1.

Die BegriffsbUdung im historischen Ablauf

197

1.1.

Einleitender Exkurs - Ein philosophisch-soziologisches Konzept von ,droit social' ................................................ 197

1.2.

,Legislation industrielle' als juristisches Lehrfach vor dem Ersten Weltkrieg .............. ,....................................... 209

1.3.

,Droit ouvrier' und ,droit social' in der Zwischenkriegszeit ...... 221

1.4. 1.4.1. 1.4.1.1. 1.4.1.2. 1.4.1.3. 1.4.2. 1.4.3. 1.4.3.1. 1.4.3.2.

Der Weg zum Begriff von ,droit social' nach 1945 ..•............. Der Begriff der ,securite sociale' ................................ Das Entstehen der französischen ,securite sociale' ..... . . . . . . . . . .. ,Securite sociale' als Lehrfach ab 1954 .......................... Das aktuelle Verständnis von ,securite sociale' ........... ~ . . . . .. Aspekte des Begriffs .,droit du travail' .......................... Der Begriff ,droit social' ...................................... Die Bildung des Konzepts bis 1970 .............................. Der aktuelle Begriff von ,droit social' ...................... ;...

2.

Analyse der Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 280

2.1. 2.1.1. 2.1.2. 2.1.3.

Der Begriff ,droit social' .............•.......................... Faktoren der Begriffsgeschichte .......•........................ Die Begriffselemente .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Der Begriffsumfang ............................................

283 283 289 292

2.2. 2;2.1. 2.2.2. 2.2.3. 2:2.4.

Der Begriff ,securite sociale' .................................... Faktoren der Begriffsgeschichte ................................ Die Begriffselemente .................................. , . . . .. . . .. Der Begriffsumfang ............................................ Ein enger und ein weiter Begriff· von sOzialer· Sicherheit? o. . ..

294 294 296 299 304

~'O

°

3.1. 3:2.

0

••

229 232 232 239 247 255 260 260 272

Zusamme.nf.assung ... , .. '.' .. ".' ....... '....... '.• , ........ '. . . . . .... . . .. 305 . Der

re~tstheoretische

und der disziplinäre Sozialrechtsbegriff. . .. 305

Sozialpolitik und Begriffsbildung .............................. 308

12

Inhaltsverzeichnis

3.3.

Rechtswissenschaftliche Lehre und Begriffsbildung

309

3.4.

Gesetzgebung und Begriffsbildung

311

3.5.

Die Einheit von Arbeitsrecht und sozialer Sicherheit ............ 313

3.6.

Sozialrecht und Gesamtrechtsordnung .......................... 315 Kapitel IV SCHWEIZ

316

1.

Die Begriffsbildung im historischen Ablauf

1.1.

Die Ansätze vor dem Ersten Weltkrieg ........................ 316 Die sozialpolitische Gesetzgebung .............................. 316 Zur sozialen Ausgestaltung des Zivilrechts ....... . . . . . . . . . . . . . .. 321

1.1.1. 1.1.2. 1.2. 1.2.1. 1.2.2.

316

Die Situation in der Zwischenkriegszeit ........................ 327 Soziales Recht im Bannkreis des Privatrechts .................. 327 Der Begriff der Sozialgesetzgebung ............................ 333

1.3.3.

Die Der Der Der

2.

Analyse der Begriffe

359

2.1.

Die Begriffe Sozialrecht und Sozialgesetzgebung ................ Faktoren der Begriffsgeschichte ................................ Die Begriffselemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Der Begriffsumfang ............................................ Zuordnungsprobleme

362

375

2.2.2. 2.2.3.

Der Begriff der sozialen Sicherheit ......... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Faktoren der Begriffsgeschichte ................................ Die Begriffselemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Der Begriffsumfang ............................................

3.

Zusammenfassung .............................................. 384

3.1.

Sozialpolitik und Begriffsbildung

384 387

1.3. 1.3.1. 1.3.2.

2.1.1. 2.1.2. 2.1.3. 2.1.4. 2.2. 2.2.1.

Begriffsentwicklung in neuerer Zeit ........................ Begriff der Sozialgesetzgebung ............................ Begriff des Sozialrechts .................................... Begriff der sozialen Sicherheit ..............................

337 339 343 351

362 367 370 373 375 377 379

3.2.

Gesetzgebung und Begriffsbildung

3.3.

Rechtswissenschaft und Begriffsbildung ........................ 390

3.4.

Sozialrecht zwischen öffentlichem und privatem Recht ...... :... 391

3.5.

Die Zusammengehörigkeit von Arbeitsrecht und sozialer Sicherheit ....................................................... '..... 3'94

Inhaltsverzeichnis

13

Kapitel V

VERGLEICHENDE SCHLUSSBEMERKUNGEN

396

1.

Die Begriffsentwicklung ........................................ 397

1.1.

Der Ausgangspunkt: Das Ende des 19. Jahrhunderts ............ 397

1.2.

Der Sozialrechtsbegriff als Rechtsprinzip oder als Rechtsbereich 401

1.3.

Das Eindringen des Begriffs der sozialen Sicherheit ............ 407

2.

Die aktuelle Begriffsbildung ........... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 411

2.1.

Die begriffsbestimmenden Faktoren ............................ 411.

2.2.

Namen und Begriffskonzeption

2.3.

Soziale Sicherheit oder Sozialrecht im engeren Sinne als Teilbereich des Sozialrechts ........................................ 418

2.4.

Sozialrechtliche Begriffsbildung zwischen Rechtswissenschaft und Gesetzgebung .................................................. 422 LITERATUR VERZEICHNIS

414

426

Abkürzungsverzeichnis Abs. AHV And. Anm. Art. Aufl. bes. Bd. Bde. BGB BV BVerwGE BVerfGE bzw. eH D ders. Diss. ebd. EG EO EVG F FRG GG Hrsg. hrsg. IAO i. e. S. i.w.S. insbes. IV Jg. Kap. KUVG lit. Nr. o.J. OR RVO S. SGB SGB-AT SGG Sp. u.a.m. UNO vgl. ZGB

= = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = =

Absatz Alters- und Hinterlassenenversicherung Andere Länder (Verweis auf das Literaturverzeichnis, Teil 4) Anmerkung Artikel Auflage besonders Band Bände Bürgerliches Gesetzbuch Bundesverfassung Bundesverwaltungsgerichtsentscheid Bundesverfassungsgerichtsentscheid beziehungsweise Schweiz (Verweis auf das Literaturverzeichnis, Teil 3) Deutschland (Verweis auf das Literaturverzeichnis, Teil!) derselbe Dissertation ebenda Europäische Gemeinschaften Erwerbsersatzordnung Eidgenössisches Versicherungsgericht Frankreich (Verweis auf das Literaturverzeichnis, Teil 2) Fremdrenten-Gesetz Grundgesetz Herausgeber herausgegeben Internationale Arbeitsorganisation im engeren Sinne im weiteren Sinne insbesondere Invalidenversicherung Jahrgang Kapitel Kranken- und Unfallversicherungsgesetz littera Nummer ohne Jahr Obligationenrecht Reichsversicherungsordnung Seite Sozialgesetzbuch Sozialgesetzbuch Allgemeiner Teil Sozialgerichtsgesetz Spalte und anderes mehr United Nations Organisation (= Vereinte Nationen) vergleiche Zivilgesetzbuch

Kapitell

Einführung 1. Fragestellung und Vorgehen 1.1. Anlaß und Interesse am Thema

Am Ausgangspunkt dieser Arbeit steht die Tatsache, daß von ,Sozialrecht', von ,droit social', von ,derecho social' wie, wenn auch in beschränkterem Maße, von ,diritto sociale' und von ,social law' als von rechtswissenschaftlich relevanten Begriffen die Rede ist. Wenn nun in verschiedenen Ländern mit verschiedenen Sprachen ein gleichlautender Name Eingang gefunden hat, muß das zunächst noch kein besonderes Interesse auf sich ziehen. Diesem Begriff ist aber eigen, daß er nicht nur von Land zu Land unterschiedlich betont wird und unterschiedliche Nuancen aufweist, sondern daß er auch in den einzelnen Ländern keineswegs endgültig gefaßt und teilweise umstritten ist. übereinstimmend werden mit diesem Namen in den verschiedenen Rechtsordnungen vielfältige, vielschimmrige und teilweise widersprüchliche Aussagen verknüpft. Daher mag die meist nur unterschwellige Abneigung einzelner Autoren stammen, diesen Terminus im wissenschaftlichen Sprachgebrauch zu verwenden. Eine grundsätzliche Ablehnung derartiger Begriffe findet sich zwar selten; Zweifel daran, ob ihnen ein rechtswissenschaftlich prägnanter Aussagegehalt zukommt, sind schon häufiger. Doch ist gerade in den letzten Dezennien so oft von Sozialrecht die Rede, daß dieser Begriff als rechtswissenschaftlicher Begriff untersucht werden kann. Zunächst muß allerdings auf die Aspekte hingewiesen werden, welche seine Vieldeutigkeit und Unbestimmtheit hervorrufen. In ihnen steckt die unzweifelhaft vorhandene Provokation dieses Terminus, ohne welche die verschiedenen Kontroversen der Begriffsdiskussion kaum einsichtig werden können. Das erste und wohl auch wichtigste Element der Unbestimmtheit der Sozialrechtsbegriffe liegt schon in der Wortbildung selbst, im Partikel ,sozial', der eine Vieldeutigkeit bis hin zu einer Konturenlosigkeit einbringt. Diesem sprachlichen Ungenügen könnte damit begegnet werden, daß die Wortbildung als unglücklich beiseite geschoben wird.

16

Kapitel I: Einführung

Andere Namen, dasselbe zu bezeichnen, ließen sich problemlos finden. Aber gerade das geschieht nicht. Mit diesem Adjektiv scheint eine spezifische Aussage verbunden zu sein, die in die Diskussion eingebracht werden soll. Anders ist nicht erklärbar, daß trotz der immer wiederkehrenden und unbestrittenen Hinweise auf die Unfaßlichkeit des ,Sozialen' am Terminus Sozialrecht oder an verwandten Prägungen festgehalten wird. Das Adjektiv ,sozial' hat von seinem heutigen Bedeutungsspektrum her eine überschaubare Vergangenheit. Ursprünglich stammt das Wort aus dem Lateinischen und bedeutet dort als ,socialis' ohne signifikante Abweichungen gesellschaftlich, in Bezug zur Gesellschaft oder Gemeinschaft!. Bei den wissenschaftlichen Autoren der Neuzeit, die sich dieser Sprache als der europäischen Gelehrtensprache bedienen, ist dieses Wort selbstredend zu finden und nimmt besonders in der Tradition der neuzeitlichen Naturrechtslehre einen nicht unbedeutenden Stellenwert ein2 • In die europäischen Nationalsprachen geht es aber relativ spät ein. In Frankreich ist der Gebrauch von ,social' schon im 16. Jahrhundert zu finden, in ausgedehnterer Weise kann er aber erst für das 18. Jahrhundert ausgemacht werden3 • In der deutschen Sprache finden sich die ersten Vorkommen um die Wende zum 19. Jahrhundert'. Mit dem Wort wird zunächst meist die Bedeutung aus dem Lateinischen übernommen. Sozial benennt in indifferenter, wertneutraler Weise die Beziehung zu einer Gesellschaft oder Gemeinschaft, es bezeichnet Verhältnisse "relatif a un groupe d'individus, d'hommes, con!;u comme une rI~alite distincte"s. In der Mitte des 19. Jahrhunderts vollzieht sich aber ein bedeutsamer Wandel im Gebrauch dieses Wortes wie in seiner Aussage6 • ,Sozial' wird zu einem Schlagwort und der Aussagegehalt konzentriert sich auf eine ganz bestimmte Beziehung zur Gesellschaft. Bezeichnend dafür ist die feststehende Wendung von der ,sozialen Frage', der ,question sociale'7. ,Sozial' bezeichnet nun das Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft, was seine wirtschaftliche Situation betrifft; das Wort bezieht sich auf die Unterschiede der ökonomischen Situation der verschiedenen 1 Geck (D), das Eindringen des Wortes sozial, S. 19 f.; Zimmermann (D), S.176. 2 Vgl. Gurvitch (F), L'idee du droit social, S.173 passim, der mit seiner Darstellung der Geschichte der sozialrechtlichen Ideen bei Hugo Grotius und dessen Begriff ,ius sociale' beginnt; ähnlich: Geck (D), Sozialreform; weitere Ausführungen dazu unten Kap. 111/1.1. 3 Robert (F), S. 1657. , Geck (D), das Eindringen des Wortes sozial, S. 25 ff. S Robert (F), S. 1657. 8 Fournier / Questiaux (F), S. 1 f.; Geck (D), das Eindringen des Wortes sozial, S. 33 ff.; Robert (F), S. 1657. 7 Vgl. inhaltlich dazu unten Kap. 1/3.1.1.

1. Fragestellung und Vorgehen

17

gesellschaftlichen Klassen. Aus seinem konkreten historischen Zusammenhang wird das Schlagwort in kritischem Blick auf den damals neu aufgebrochenen Problemkreis des Industrieproletariats verwendet. Es schimmert damit immer die gesamte Breite der Bedingungen und Folgen der industriellen Revolution durch und damit verbunden eine kritische Haltung zur herrschenden Ideologie des Liberalismus8 • Dieser Bedeutungszusammenhang ist bis heute noch unauflöslich mit dem Wort ,sozial' verknüpft, doch die Verwendung im älteren Sinne bleibt weiterhin möglich. Zwischen diesen Extrempositionen eröffnet sich ein weiter Bedeutungsfächer, wobei im konkreten Gebrauch die jeweilige spezifische Bedeutung nur aus dem Kontext erkennbar wird 9 • Als Beispiel für einen mittleren Aussagewert, der zwischen den beiden historisch erklärten Bedeutungen liegt, kann die aktuell im allgemeinen Sprachgebrauch oft zu findende Verknüpfung des Sozialen mit Sachbereichen wie der Familie oder der Erziehung angeführt werden. Nicht nur die Vieldeutigkeit dieses Wortes ist aus der historischen Entwicklung seines Gebrauchs verständlich. Von dort her stammt auch die historisch und aktuell bestehende ideologische Verknüpfung, die appeLZartige Aussagewirkung10• Auf der einen Seite kann das Wort ,sozial' negative Assoziationen auslösen; es kann ein bestimmtes Phänomen als anrüchig-revolutionär oder doch als überbordend reformerisch kennzeichnen. Andererseits kann ,sozial' eine positive Appellwirkung auslösen; es steht für etwas Fortschrittliches, Progressives. Vom individuellen Interessenstandpunkt her kann mit dem ,Sozialen' etwas Armleutehaftes assoziiert werden, im Sinne einer Mildtätigkeit, auf die man hoffentlich nie angewiesen sein wird, oder im Gegenteil etwas positiv empfunden Emanzipatorisches. Wegen dieser ausgeprägt gegensätzlichen Schlagworthaftigkeit besteht eine Tendenz zu pervertiertem Gebrauch. Je nach der abgeschätzten positiven oder negativen Aufnahme, die das Wort finden soll, wird all das, was verunglimpft werden soll, als sozial bezeichnet, oder aber es wird versucht, eine Maßnahme nur schon durch dieses Epitheton zu legitimieren. In jüngster Zeit kann die Tendenz festgehalten werden, daß die positive Appellwirkung eher überwiegt; endgültig ist dies aber noch nicht. In Bezug auf das Juristische hat Hans F. Zacher darauf hingewiesen, daß die negative Verknüpfung noch nicht der Vergangenheit angehört, wenn er von der "Bürgerlichkeit einer Gesellschaft und ihres Juristenstandes" spricht, "für die ,das Soziale' links ist, etwas für arme Leute, in dem man sich 8 Treffend die aphoristische Definition von Fournier I Questiaux (F), S.2: "Le social apparait a chaque fois que la ,main invisible' d'Adam Smith se trouve en defaut." 9 Geck (D), das Eindringen des Wortes sozial, S. 44 ff. 10 Vgl. die vielen Beispiele bei Zimmermann (D), bes. S.174.

2 Schmid

18

Kapitel I: Einführung

nicht engagiert, ohne in diesem oder jenem Sinne rot zu werden oder schon zu sein"lI. Von der Vieldeutigkeit des Sozialen her scheint es zumindest verständlich, daß die Rezeption von damit gebildeten Termini auf juristischem Gebiet nicht ohne Schwierigkeiten vor sich gegangen ist. Gegen derartige Begriffe spricht die mögliche negative Appellwirkung des Wortes; als befürwortendes Argument kann dagegen die positive Assoziation angeführt werden. Wenn das erstere oft stärker betont wird, dann deshalb, weil sich die Rechtswissenschaft im besonderen Maße ideologisch unbelastet geben will, frei von direkten Werturteilen. Das kann dazu führen, Worte auch nur tendenziell kontroversen Charakters aus dem wissenschaftlichen Sprachgebrauch zu verbannen. Neben dieser ideologischen Verknüpfung des Wortes sozial, die sicher insofern gegeben ist, als damit Probleme angesprochen sind, die in besonderer Weise zu werthafter Stellungnahme herausfordern, ist mit der Bedeutungsvielfalt des Wortes der Mangel verbunden, daß sein operationaler Charakter aus sich heraus relativ gering erscheint. Beispielhaft ist das Argument, alles Recht sei sozial und somit der Ausdruck Sozialrecht redundant 12 • Auf der anderen Seite kann aber gerade auch diese Unbestimmtheit des Terminus seine begriffliche Verwendung fördern. Das vielleicht nur unterbewußt über die Definition hinaus Mitgesagte oder Mitbedeutete mag eine besondere Attraktivität ausüben 13 • Jedenfalls ist anzunehmen, daß die spezifische Bedeutungsvielfalt des ,Sozialen' in unterschiedliche Richtungen wirkt, daß seine Verwendung in besonderem Maße nicht von wissenschaftlichen Kriterien, sondern von subjektiven Vorlieben oder Abneigungen beeinflußt wird. Daß die fehlende Eindeutigkeit des Wortgehalts nicht dazu führen muß, derartige Termini im wissenschaftlichen Gebrauch grundsätzlich zu meirlen, zeigt sich in anderen Bereichen. So ist der Begriff der Sozialwissenschaften als Oberbegriff verschiedener Wissenschaftsdisziplinen - zu denen wohl auch die Rechtswissenschaft gezählt werden muß unbestrittenu. Darüber hinaus wird heute in unverfänglicher Manier von Sozialpsychologie, Sozialphilosophie, Sozialmedizin u. a. m. gesprochen, um besondere Ausprägungen und Ausrichtungen der vorgeordneten Disziplinen zu bezeichnen15 • Ein weiteres zentrales Beispiel gibt die Sozialpolitik ab, deren besonders intensive Beziehung zum sozial11 12

Zacher (D), Lehre des Sozialrechts, S. 12. In diese Richtung z. B.: Müller (eH), S. 828 f.; Richter (D), S. 21 f.; Rivero /

Savatier (F), S. 1. 13 Vgl. Marquard (D), S. 337. 14 Vgl. etwa Weisser (D), Sozialwissenschaft, 15 Vgl. HartjieL (D), S. 606 f.

S. 786.

1. Fragestellung und Vorgehen

19

rechtlichen Bereich noch hervorzuheben sein wird l6 • Im Blick auf diese wissenschaftlichen Termini ist es zumindest nicht erstaunlich, daß auch auf juristischem Gebiet Namen wie Sozialrecht, Sozialgesetzgebung oder soziale Sicherheit zu finden sind. Aktuell kann jedenfalls festgestellt werden, daß derartige Begriffe in der Rechtswissenschaft in verschiedenen Ländern verwendet werden und teilweise weite Verbreitung oder gar eine vorherrschende Stellung gefunden haben. Von besonderem Interesse erscheint dabei, wann, wie und warum es dazu gekommen ist. Die Geschichte der Begriffe, ihr erstes Vorkommen und die darauf folgenden Verwendungen beeinflussen die aktuellen Fassungen ganz wesentlich, auch wenn diese Faktoren zuweilen nur unbewußt ihren Einfluß ausübenl7 • Es kann auch schon vorweg darauf hingewiesen werden, daß die sozialrechtlichen Begriffe im Verhältnis etwa zur Anerkennung der Begriffe von Sozialpolitik oder Sozialwissenschaften sich erst recht spät als herrschend durchgesetzt haben. Andererseits sind aber einzelne markante Prägungen schon früher aufzufinden, teilweise noch bevor das ,Soziale' Schlagwortcharakter angenommen hat. Nicht erst die ,soziale Frage' hat den Ausschlag gegeben; latent ist diese aber, seit sie als solche erkannt wurde, immer von bestimmendem Einfluß gewesen. So kann die Verwendung oder Nichtverwendung derartiger Termini Hinweise geben bezüglich des Verhältnisses der Rechtswissenschaft zu den sozialen Problemen. Die Begrifflichkeit der Jurisprudenz ist wohl mehr nur als ein Indiz für ihr diesbezügliches Selbstverständnis. Von Bedeutung ist dabei aber ebenso, auf welchen Aussagegehalt von ,sozial' diese Begriffe rekurrieren. Vom bis heute wirksamen Sog des betont werthaften Verständnisses des ausgehenden 19. Jahrhunderts mag sich ergeben, daß die zeitgenössischen juristischen Begriffe sich vorrangig darauf abstützen. Daneben haben aber auch aktuellere Fassungen den älteren Aussagegehalt mitaufgenommen und weitervermittelt. So bleibt eine Verschiebung im Rahmen dieses Spektrums weiterhin möglich. Dies droht jedoch teilweise vom gleichlautenden Namen verdeckt zu werden; die Gefahr, daß das übereinstimmend Benannte nicht übereinstimmt, ist vom Semantischen her besonders groß. Diese Elemente semantischen und begrifflichen Ungenügens stehen nun aber nicht für sich, sie sind zugleich Indizien für die grundsätzlichen Schwierigkeiten der damit in Zusammenhang gesetzten Rechtsbereiche. Unbesehen der Abweichungen der verschiedenen Begriffsfassungen Vgl. unten Kap. 1/3.1. Marquard (D), S.337; ganz allgemein sei hier auf den begriffsgeschichtlichen Ansatz der Historiker hingewiesen, aus dem wohl durch eine übertragung auf die Rechtswissenschaft eine weitere Legitimation einer Arbeit wie dieser auf theoretischer Ebene abgeleitet werden könnte; vgl. dazu auch KoseHeck (D), mit weiteren Verweisen. 16 17

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Kapitel I: Einführung

weisen diese immer wiederkehrende, übereinstimmende Elemente auf. Eines der wichtigsten ist die Neuartigkeit des als Sozialrecht bezeichneten, was ganz spezifische wissenschaftliche Folgen nach sich zieht. Dies soll kurz im Blick auf die aktuellen Fassungen angetönt werden, die weit überwiegend eine Zusammenfassung des sozialpolitisch geprägten Rechts vornehmen. Zunächst hat der Bereich wie auch seine Begriffsbildung in der wissenschaftlichen Behandlungen noch keine längere Tradition. Deshalb gilt das Gebiet noch als wissenschaftlich unzureichend bearbeitet; es fehlt ein anerkannter dogmatischer Unterbau l8 • Dazu kommt, daß die rechtlichen Regelungen von einer ausgeprägten Dynamik beherrscht sind, die nicht bloß als Folge der Neuartigkeit erscheint. Der dauernde Änderungsprozeß, der bis heute nicht zur Ruhe gekommen ist und auch auf absehbare Zeit nicht zur Ruhe zu kommen scheint, hat Züge prinzipiellen Charakters. Damit verbunden war bisher auch die dauernde Ausweitung des betroffenen Sachbereichs, die zuweilen als expansiver Drang der damit befaßten Juristen ausgelegt wurde. Und nicht nur für das Sozial recht nach aktuellem Verständnis gilt, daß es systematisch am Rande steht oder an den Rand gedrängt wird, daß es nicht voll ins juristische Gesamtsystem integriert ist. Insbesondere ergibt sich das daraus, daß dieses Recht der Einordnung in die übliche Unterteilung von Privatrecht einerseits und öffentlichem Recht andererseits sich widersetzt. Dies kann als bloße Besonderheit angesehen werden, es kann aber auch zum Anlaß genommen werden, diese Grundeinteilung selbst kritisch zu beleuchten. Die Stellung des Sozialrechts in diesem Spannungsfeld scheint eine zentrale Schwierigkeit der Begriffsbildung zu sein, auch wenn, oder gerade weil sie oft unreflektiert bleibt. Die angedeuteten Probleme bewegen sich in recht verschiedenen Zusammenhängen. Ihre inneren Beziehungen sind auf den ersten Blick zuweilen nicht einsichtig. Ob sich dies auch bei näherer Betrachtung so darstellt, ist ein Teil der Zielvorgabe. Anders ausgedrückt, es stellt sich die Frage, ob die sozialrechtlichen Begriffsprägungen bloß aus Zufällen und aus zufälligen Konventionen hervorgehen. Die andere Möglichkeit liegt darin, daß diese Begriffe eine Reaktion der Rechtswissenschaft in formaler Form auf die tatsächlichen sozialen Probleme in ihren zeit- und ortsbedingten Ausprägungen darstellen, sei dies in direkter Ableitung daraus oder in einer von der Rechtswissenschaft oder der Gesetzgebung beeinflußten oder gar entscheidend geprägten Optik. 18 Vgl. für Frankreich, aus dem Jahre 1949: Durand (F), securite sociale; für Deutschland, aktueller, Zacher (D), Grundfragen, S. 13 ff.

1. Fragestellung und Vorgehen

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1.2. Fragestellung Die kurz angeschnittene Problematik der sozial rechtlichen Begriffe bildet den Anlaß zu dieser Arbeit. Die eigentliche Aufgabenstellung liegt nun darin, die in diesem Problemfeld stehenden, verschiedenen Sozialrechtsbegriffe aufzusuchen. Wie diese von der Rechtswissenschaft geprägt werden, soll ausführlich dargestellt und untersucht werden. Es geht somit zentral um eine Beschreibung und Analyse rechtswissenschaftlicher Literatur. Außer Betracht bleibt die theoretische Frage nach der Notwendigkeit eines Sozialrechtsbegriffs oder nach den Anforderungen, die an einen solchen - von irgendwelchen abstrakten Kriterien her - zu stellen wären. Ebenso wenig kann es sich darum handeln, eine Synthese der verschiedenen nationalen Begriffe zu versuchen oder einen im internationalen Rahmen verwendbaren Sozialrechtsbegriff zu postulieren. Die Möglichkeit derartiger grundsätzlicher Ansätze erscheint von der Funktion rechtswissenschaftlicher Klassifikation her ungangbar19• Die Begriffe dienen in erster Linie der intersubjektiven Verständigung der jeweils befaßten Wissenschaftler. Sie sind demnach an ihrer Praktikabilität zu messen sowie daran, daß sie sich in das schon bestehende begriffliche System einordnen. Die Begriffsbildung erscheint von dieser Funktion her immer auch als dezisiver Prozeß, der nicht von irgend einem abstrakten Richtigkeitskriterium her geprüft werden kann 20 • Natürlich wird angestrebt, daß die Begriffe möglichst widerspruchslos, möglichst unmißverständlich und möglichst einleuchtend sind. Alternative Begriffsvorschläge bleiben aber immer denkbar. Kein Ansatz kann zwingend aus der Gesamtheit des juristischen Materials abgeleitet werden. Das wichtigste Argument für die eine oder andere Begriffsprägung liegt darin, daß diese weithin Anerkennung gefunden hat. Nur so kann sie die wissenschaftliche Verständigungsfunktion optimal wahrnehmen. Deshalb muß die juristische Lehre bei dieser Untersuchung im Vordergrund stehen. Das davon erfaßte normative Material, welches möglicherweise Hinweise auf relevante Ansätze der Begriffsbildung geben kann, wird insofern in Betracht gezogen, als es auch von der juristischen Literatur reflektiert wird. Dabei ist beispielsweise zu denken an Kodifikationen wie das deutsche Sozialgesetzbuch oder an grundrechtliche Normen wie die Garantie auf ein Recht auf soziale Sicherheit in internationalen Vereinbarungen, bzw. die Ansätze der nationalen Verfassungen in diese Richtung. Im darstellenden Teil wird zur Erklärung der Begriffsentwicklung auch die Entwicklung des positiven Rechts kurz benannt werden müssen, aber auch hier sind die von der Begriffsdiskussion abgesteckten Grenzen nicht ohne Not zu überschreiten. 19

20

Vgl. Klüver (D), bes. S. 374 ff.; Rode (D), bes. S. 646 ff. Rode (D), S. 646.

Kapitel I: Einführung

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Was nun im Sinne dieser Untersuchung als Sozialrechtsbegriff gilt, wird vom Ausgangspunkt eines nominalistischen Ansatzes her angegangen. Die zentrale Frage lautet, in welchen Begriffsprägungen das Adjektiv ,sozial' zu finden ist und wie diese Begriffe definiert werden21 • So wird nicht eng an der Wortprägung ,Sozialrecht' oder ,droit social' festgehalten. Ebenso werden die zeitweilig beinahe gleich wichtigen Ersatzbegriffe wie ,Recht der sozialen Sicherheit' oder ,droit de la securite sociale' berücksichtigt, aber auch weniger geläufige Prägungen wie ,Sozialverwaltungsrecht' oder ,legislation sociale'. Eine Begrenzung des Untersuchungsobjekts liegt darin, daß nur die Sozialrechtsbegriffe berücksichtigt werden, die als übergreifende Begriffe vorkommen, als systematische Oberbegriffe. Darunter einzuordnende Teilbegriffe, die ihrem Namen auch den Partikel ,sozial' verwenden - wie beispielsweise ,Sozialhilfe' oder ,aide sociale' -, bleiben außer Betracht. Abgestellt wird darauf, ob den in Frage kommenden Begriffen die Qualifikation als ,sozial' selbständig oder nur in Ableitung von den vorgeordneten Begriffen zugesprochen werden muß. Anders ausgedrückt heißt dies, daß nur das Genus Sozialrecht, bzw. soziale Sicherheit untersucht wird, nicht aber die verschiedenen sozialrechtlichen Speziesarten. Mögen diese konkreten Entscheidungen bisweilen etwas willkürlich erscheinen, so stimmen sie doch damit überein, daß die Begriffe, welche als Oberbegriffe untersucht werden, hier oder dort, in weitester oder engster Fassung auch unter dem Namen Sozialrecht zu finden sind. Dieser semantische Ansatz geht implizit von der Hypothese aus, daß mit dem Adjektiv ,soziaL' im juristischen Bereich und in verschiedenen Ländern etwas Ähnliches und Vergleichbares bezeichnet wird. Vom Resultat her interessant erweist sich dann, wie weit die Abweichungen reichen und wovon sie abhängen. Inwiefern hat die Gleichartigkeit des ,Sozialen' in der historischen Entwicklung und im aktuellen, üblichen Verständnis auf rechtlicher Ebene in den verschiedenen Ländern die Zusammenfassung analoger Sinneinheiten bewirkt? Wie weit hat auch die Veränderung des Verständnisses von ,sozial' auf die Entwicklung dieser Rechtsbegriffe durchgeschlagen? Unabhängig davon, wie diese Antworten ausfallen, will die Untersuchung ein Informationsbedürfnis abdecken. Beim Vorkommen gleichlautender Begriffe in verschiedenen Rechtsordnungen liegt die Gefahr nahe, vorschnell vom gleichen Wortlaut auf gleiche Inhalte zu schließen. Auch wenn man vom rechtsvergleichenden Arbeiten her dagegen grundsätzlich gewappnet ist, kann eine synoptische Nebeneinanderstellung derartiger Begriffe von Hilfe sein. Die verschiedenen Nuancen der Begriffsfassungen in den verschiedenen Ländern mögen besonders deshalb verwirrend wirken, weil sie durch die je besondere 21

Zum nominalistischen Ansatz vgl. unten Kap. 1/1.2.

1. Fragestellung und Vorgehen

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historische Entwicklung oder durch ein je unterschiedliches Wissenschaftsverständnis einen anderen Stellenwert erhalten können. Ein Bedürfnis nach einer zusammenfassenden Darstellung der verschiedenen Begriffsnuancen zeigt sich aber nicht nur im internationalen Rahmen22 • Auch in den einzelnen Ländern sind so viele kleinere und größere Abweichungen bei unterschiedlichen Autoren zu finden, daß sie nurmehr schwer zu überblicken sind, und auch hier werden die historischen Einflüsse nur selten sichtbar gemacht, obwohl sie vielfach prägende Wirkung entfalten. Der nominalistische Ausgangspunkt bedarf bezüglich der rechtsvergleichenden Bemerkungen einer kurzen Erläuterung. üblicherweise wird ein derartiger Ansatz in der Lehre von der Rechtsvergleichung abgelehnt. Die vergleichende Untersuchung hat von einem funktionalen Ansatz, von einer konkreten Problemformulierung auszugehen, um nicht der Gefahr zu erliegen, Unvergleichbares miteinander zu vergleichen 23 • Das heißt, daß nicht direkt rechtliche Regelungen miteinander verglichen werden, sondern von einem vorrechtlichen Problem ausgehend die rechtliche Normierung nachgefragt wird. Damit soll der Blick offen bleiben dafür, daß demselben Problem grundsätzlich mit verschiedenartigen rechtlichen Regelungen beigekommen werden kann. Es soll hier nicht darum gehen, sich mit der Notwendigkeit des funktionalen Ansatzes auseinanderzusetzen. Doch scheint in der Theorie der Rechtsvergleichung offen zu sein, ob diese Regel grundsätzlichen Charakters ist oder bloß ein in der Praxis gefundener Leitsatz, der die Gefahr vermindert, erst nach langwierigen Untersuchungen die Unvergleichbarkeit festzustellen 24 • Diese Problematik bleibt hier überdies zweitrangig, da der nominalistische Ansatz nur den ersten Ausgangspunkt darstellt. Die zu behandelnde Fragestellung ist nämlich nach üblichem rechtswissenschaftlichem Verständnis eine atypische. Der Rechtsvergleicher wie der Jurist überhaupt fragt normalerweise, was im konkreten Fall Rechtens sei, das heißt, er fragt nach der rechtlichen Normierung tatsächlicher Verhältnisse. Hier aber soll untersucht werden, wie die Gesamtheit der Rechtsnormen oder Teile davon - nicht also rechtserhebliche Sachver22 Dazu Igl (F), Literaturbericht, S. 97: "Wie kaum in einem anderen Rechtsgebiet steht man beim Sozialrecht vor der Schwierigkeit, mit Blick gerade auf das ausländische Recht gemeinsame Konturen einer Definition auszumachen." 23. Vgl. Rheinstein (D), S. 25 ff.; Zacher (D), Vorfragen, S. 36 ff.; Zweigert I Kötz (D), S. 29 ff. 24 Rheinstein (D) und Zweigert I Kötz (D), ebd., neigen dazu, den funktionalen Ansatz als einzig richtigen herauszustellen; Zacher (D), S. 38 f., bezeichnet den nominalistischen Ansatz als in besonderen Fällen angemessene Alternative.

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Kapitel I: Einführung

halte rechtswissenschaftlich reflektiert und eingeordnet werden. Der Sozialrechtsbegriff, um den es geht, will in erster Linie rechtsnormative Sätze ordnen. Die tatsächlichen Verhältnisse spielen höchstens insoweit mit, wie sie durch die jeweilige Regelung begriffsrelevant vermittelt werden. Im Sinne des funktionalen Ansatzes erscheint als konkretes Sachproblem die Gesamtheit von Rechtsnormen, welche durch Begriffe rechtswissenschaftlich geordnet wird. Bewegt sich im typischen Fall der Vergleichungsvorgang zwischen den Ebenen der konkreten Lebensphänomene und ihrer rechtlichen Normierung, so hier zwischen den rechtlichen Normen und der rechtswissenschaftlichen Einordnung derselben. Zum Schluß dieses Aufrisses der Fragestellung sind noch die sachlichen Beschränkungen der Arbeit zu explizieren: Zunächst ist das die rechtsvergleichend gebotene Bezeichnung der zu untersuchenden nationalen Rechtsordnungen. In einem ersten Schritt soll versucht werden, überblicksmäßig die Sozialrechtsbegriffe der wichtigsten westeuropäischen Länder darzustellen, eingeschränkt allerdings durch die subjektiven Möglichkeiten des Schreibenden, durch seine Sprachkenntnisse. Diese Darlegung im weiteren Rahmen will eine grobe Information über den aktuellen Begriffsgebrauch geben und stützt sich auf die zentrale Standardliteratur. Es geht nicht um die Aufbereitung für eine vergleichende Betrachtung, sondern um eine rechtskundliche Beschreibung. Konkret betrifft das folgende Länder: Bundesrepublik Deutschland, Österreich, Schweiz, Frankreich, Belgien, Großbritannien und Italien. Dieser flächigen Darstellung sind auch die entsprechenden Begriffe der einschlägigen internationalen und supranationalen Organisationen anzufügen. Dies betrifft die Vereinten Nationen, die Internationale Arbeitsorganisation, die Europäischen Gemeinschaften sowie den Europarat. Für die eingehendere Bearbeitung werden lediglich drei Länder herangezogen, worauf sich auch die einleitenden Bemerkungen und der vergleichende Teil konzentriert: die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich und die Schweiz. Dabei handelt es sich bei Deutschland und Frankreich um zwei Länder, bei denen das Selbstverständnis der Rechtswissenschaft - das hier eine entscheidende Bedingung ausmacht - recht gegensätzlich ist, während die Schweiz insofern dazwischen steht, als sie üblicherweise von beiden Ländern nicht unwesentlich beeinflußt wird. Es ist zu erwarten, daß in diesem Rahmen die meisten möglichen Aspekte sozialrechtlicher Begriffsbildung aufzufinden sind. Eine einschränkende Bemerkung betrifft die Darstellung der historischen Entwicklung der Begriffe. Es soll nur darum gehen, die wich-

1. Fragestellung und Vorgehen

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tigsten Schwerpunkte der Begriffsentwicklung hervorzuheben, wobei jedoch die Bestimmung von Schwerpunkten und die Ausscheidung von weniger Wichtigem immer in gewissem Maße fragwürdig bleibt. Leitlinien dazu sind in der Literatur praktisch keine zu finden. Hinzu kommt die Schwierigkeit, daß wegen der vielen möglichen unterschiedlichen Sozialrechtsbegriffen eine Schwerpunktsetzung nicht unbedingt dem Aufzeigen der Entwicklungslinie zu den heutigen Begriffen entspricht. So muß ein Gleichgewicht gesucht werden zwischen dem Anspruch, die verschiedenen Möglichkeiten von Sozialrechtsbegriffen grundsätzlich aufzuzeigen, und dem Anspruch, die Geschichte der aktuellen Begriffe aufzuhellen. Um letzteres zu erreichen, ist es bisweilen erforderlich, den semantischen Ausgangspunkt zu überschreiten und Vorläufer der aktuellen Sozialrechtsbegriffe zu berücksichtigen, welche unter anderen Namen stehen, wie beispielsweise ältere Fassungen von ,Arbeitsrecht' oder ,legislation ouvriere'. Hier soll aber noch ausgeprägter eine Beschränkung auf das für das Verständnis der aktuellen Begriffe Notwendige und auf das besonders Markante Platz greifen. Weiter bleibt die historische Darstellung stark von einem aleatorischen Moment bestimmt. Wegen der Offenheit des Terminus ,sozial' besteht die Möglichkeit, praktisch überall in der rechtswissenschaftlichen Literatur, auch an unerwartesten Stellen, Ansätze zu damit gebildeten Begriffen zu finden 25 • 1.3. Vorgehen

Noch im Rahmen der Einleitung sind zunächst eimge Hinweise darauf zu geben, in welch unterschiedlichen Sinn zusammenhängen, auf welch verschiedenen Sinnebenen sich Sozialrechtsbegriffe bilden können. Aus dem Verständnishorizont, in welchen die Begriffsfassung eingefügt ist, erklären sich zu einem Teil die unterschiedlichen Aspekte der jeweiligen Begriffe. So kommt es etwa vor, daß sich aus ganz pragmatischen Gründen abweichende Begriffsabgrenzungen aufdrängen. Der Begriff richtet sich nach spezifischen wissenschaftlichen oder sonstigen Bedürfnissen, er hat ganz bestimmten Zweckbestimmungen zu entsprechen. Dies kann erklären, daß abweichende Begriffe nicht notwendig kontrovers sein müssen; gemäß den unterschiedlichen An25 Als Beispiel, in welch unerwarteten Zusammenhängen von Sozialrecht die Rede sein kann, sei auf eine zufällig gefundene Stelle hingewiesen: Berichte der deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, Verhandlungen der 11. Tagung in Innsbruck 1969, Karlsruhe 1971, S.211, im Diskussionsbericht über das Thema "Das Problem der Rechtsetzung durch internationale Organisationen"; Schnorr von Carolsfeld habe von einem "persönlichen Sozialrecht innerhalb der Völkerrechtsgemeinschaft" gesprochen bezüglich des Satzungsrechts der UNO; vgl. in ähnliche Richtung unten, Kap.III, S. 208 f.

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Kapitel I: Einführung

sprüchen, die an sie gestellt werden, können sie als koexistierende oder gar komplementäre Begriffe vorkommen. (I. 2) Ein ganz besonderer Verständnisbezug des Sozialrechts überhaupt und damit auch der Sozialrechtsbegriffe liegt in der Sozialpolitik. Sicherlich in den Schwerpunktländern steht diese von ihrem Interesse und ihrem Programm her in einer intensiven und notwendigen Wechselbeziehung zum Sozial recht. Ihr Wirkungsbereich und ihre Zielvorstellungen stimmen weitgehend mit denen des Sozialrechts überein. Als gemeinsames Bestimmungselement der zu untersuchenden Begriffe kann dieser Hintergrundbegriff für die verschiedenen Länder gemeinsam dargestellt werden, wobei auf die der Sozialpolitik eigenen Unterschiede hinzuweisen ist, die nicht nur von Land zu Land, sondern auch innerhalb eines Landes je nach dem Standpunkt oder der historischen Verknüpfung vorkommen und ihr Gesicht bestimmen. (I. 3.1) Als weiterer wichtiger Hintergrundbegriff gilt die soziale Sicherheit, die im Kern ein bestimmtes Konzept von Sozialpolitik bezeichnen kann. Sie weist aber die Besonderheit auf, daß sie sich in praktisch allen Ländern auch als juristischer Begriff verfestigt hat. Die Entwicklung der sozialen Sicherheit als sozialpolitisches Konzept wie als sozialrechtlicher Begriff ist in besonderem Maße in einem internationalen Prozeß vor sich gegangen. Deshalb muß diese Entwicklung gesondert herausgehoben werden, um allzuviele Wiederholungen zu vermeiden, hier allerdings mit Schwerpunkt auf den sozialpolitischen Aspekten. (I. 3.2)

Darauf folgt die verkürzte Darstellung der verschiedenen sozialrechtlichen Begriffe im Rahmen des weiteren Länderkatalogs. Für die Schwerpunktländer soll diese Grobübersicht eine Zusammenfassung der detaillierteren Darstellung vorwegnehmen. (I. 4)

In den drei folgenden Hauptkapiteln wird die Begriffsentwicklung und die Problematik der Begriffsbildung in den Schwerpunktländern behandelt. Jeweils den ersten Teil bildet eine deskriptive Darstellung der verschiedenen Begriffsvorschläge, die sich in der rechtswissenschaft~ lichen Diskussion finden lassen. (11. 1, IH. 1, IV. 1) Daraufhin wird vom aufbereiteten Material her versucht, Linien der Entwicklung aufzuzeigen und die verschiedenen aktuellen Begriffe nebeneinander zu stellen und zu analysieren. (H. 2, IH. 2, IV. 2) In einem dritten Teil kann dann eine Zusammenfassung der jeweils nationalen Begrifflichkeit gegeben und deren Stimmigkeit und Unstimmigkeit angesprochen werden. Dabei ist zu fragen nach den Bedingungen, die für die Begriffsbildung bestimmend sind, ob es sich um Besonderheiten des positiven Rechts, der rechtswissenschaftlichen Reflexion oder aber um außerjuristische Anstöße handelt. In besonderem Maße wird es natürlich

2. Sinnebenen der Begriffsbildung

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darum gehen müssen, die Zusammenhänge im Recht aufzudecken, die die jeweiligen Begriffsfassungen plausibel machen. (II. 3, III. 3, IV. 3) Im Schlußkapitel werden die Ergebnisse der drei Landesberichte einander gegenübergestellt. Welche Gründe bedingen, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede des nationalen Begriffsgebrauchs? Wie weit haben die überlegungen in einem Land auch ihre Maßgeblichkeit für die entsprechenden Probleme im anderen? Hier wird sich wohl eindeutiger aussagen lassen, wieweit einzelne Aspekte der Begriffsbildung auf willkürlichen Entscheidungen beruhen, wieweit sie von der Sache her, d. h. vom jeweils unterschiedlichen positiven Recht, oder aber von einem abweichenden Wissenschaftsverständnis her determiniert sind. (V)

2. Sinnebenen der Begriffsbildung 2.1. Die Begriffe in unterschiedlichen Sachzusammenhängen Mit dem Verstehen von Recht, mit der Schaffung, Auslegung und Anwendung von Rechtsnormen sind verschiedene gesellschaftliche Bereiche originär befaßt. Die Jurisprudenz ist auch nicht der einzige Bereich, der sich wissenschaftlich damit beschäftigt. Andere Disziplinen können ausschließlich oder zu einem Teil das Recht als Untersuchungsobjekt (Materialobjekt) beanspruchen; sie unterscheiden sich dann von der Rechtswissenschaft durch eine unterschiedliche Betrachtungsweise (Formalobjekt)26. Auch sie können sich veranlaßt sehen, in ähnlicher Weise wie die Rechtswissenschaft die verschiedenen Phänomene zu gruppieren und ihre Grundprinzipien zusammenzufassen. Es sind somit auch hier Begriffe zu erwarten, die in weitestem Sinne als sozialrechtliche Begriffe verstanden werden können. Von der abweichenden Betrachtungsweise her, vom anderen Schwerpunkt des Erkenntnisinteresses, kann es sich ergeben, daß die hier geprägten Begriffe zwar im Kern dasselbe betreffen, in ihrer präzisen Ausgestaltung aber Abweichungen aufweisen. Hierbei muß zuvörderst die Sozialpolitik genannt werden, die im Recht einen wesentlichen Durchsetzungsmechanismus ihrer Postulate sieht 27 . Von ihrem Auftrag her fühlt sie sich aber weniger stark als die Rechtswissenschaft dem positiven Recht verpflichtet. Sie legt es darauf an, die gesellschaftlichen Strukturen zu untersuchen, zu beeinflussen 26 Vgl. KaUfmann, Arthur (D), S. 3; Neumann (D), S.174. 27 Vgl. unten Kap. 1/3.1.4.

Kapitel I: Einführung

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und zu verändern, was zur Folge hat, daß die Rechtsnormen für sie weit mehr ein Objekt der Kritik sind. Zudem bildet die Gesetzgebung nur einen möglichen Regelungsmechanismus, neben dem andere, gleichwertige oder ergänzende stehen können. Diese Zusammenhänge sind zu berücksichtigen, wenn in der Sozialpolitik von Sozial recht oder sozialer Sicherheit gesprochen wird, aber auch wenn die juristische Literatur sozialpolitische Fragen aufwirft. Noch unmittelbarer beteiligt sich die allgemeine Politik als vermittelnde Instanz der maßgeblichen gesellschaftlichen Kräfte an der Regelung der sozialen Verhältnisse und an der Setzung von Recht. Sie will aber auch ihre Aktivitäten den Bürgern angemessen vermitteln. Wenn der Terminus der sozialen Sicherheit vielenorts zu einem Schlagwort geworden ist, verdankt er dies fast ausschließlich der Politik. Daraus kann sich die Tendenz ergeben, möglichst vieles mit derartigen Schlagwörtern in Verbindung zu setzen, um es der diesem Worte zukommenden Zustimmung teilhaben zu lassen. So erklärt sich Form und Inhalt von Informations- oder Propaganda schriften der Regierungen, wozu etwa auch die üblich gewordenen Darstellungen von Sozialbudgets gehören. Die Tendenz, in diesem Zusammenhang möglichst viel dem Bereich des Sozialen zuzuschlagen, versteht sich: die Regierung will ,ihren' Staat in möglichst bestem Lichte präsentieren. Ein wissenschaftlicher Bereich, der näher bei der Jurisprudenz liegt, ist der der Rechtsphilosophie und der Rechtstheorie28 • Diese Disziplinen befassen sich ausschließlich mit dem Recht, jedoch nicht schwerpunktmäßig, im Bereich des positiven, des geltenden Rechts, sondern mit grundsätzlicheren Fragen über rechtliche Strukturen und Recht überhaupt. Wird in diesem Zusammenhang vom Sozialen im Recht, von einem Sozial recht gesprochen, so bewegt sich dies auf einer grundsätzlicheren Ebene, die sich im geltenden Recht nicht, nur teilweise oder noch nicht nachvollziehen läßt. Die übergänge von rechtsphilosophischen zu rechtswissenschaftlichen Begriffen sind aber in besonderem Maße fließend, was nicht nur an der Nähe dieser Disziplinen liegt, sondern auch an der Tendenz der rechtswissenschaftlichen Diskussion, über ihren engen Rahmen hinaus vorzustoßen. 2.2. Die Begriffe in unterschiedlichen Definitionsformen

Auch im Bereich der Rechtswissenschaft im engeren Sinn stehen von Fall zu Fall unterschiedliche Aspekte und Schwerpunkte im Vordergrund. Die Ausgestaltung und Formulierung eines Begriffs kann von unterschiedlichen Ebenen des Denkens, des Ordnens und des Beschreibens beeinflußt sein. 28

Vgl. etwa Kaufmann, Arthur

(D),

S. 1 ff.

2. Sinnebenen der Begriffsbildung

29

Zunächst ist es möglich, unterschiedliche Elemente der Begriffsbildung, unterschiedliche Zuweisungskriterien zu wählen. Die verschiedenen Phänomene können nach ihren rechtlichen Besonderheiten gefaßt werden, sei dies nun auf der Ebene der einzelnen normativen Bestimmungen, auf der Ebene von Rechtsverhältnissen oder auf der Ebene ganzer Normenkomplexe. Ein anderer Ordnungszusammenhang kann dem geregelten Sachbereich entnommen werden. Es wird nach Unterschieden und Zusammenhängen der tatsächlichen Phänomene gesucht, die rechtlich geregelt sind. Wieder eine andere Möglichkeit bietet die Frage nach der Funktionalität, der Zielrichtung, dem Effekt, der durch die gesetzlichen Normen erreicht werden will. Und diese funktionale Ausrichtung kann die Funktionalität der einzelnen Bestimmung sein oder die Funktionalität ganzer Gesetzeskomplexe. Es kann auch eine individuelle funktionale Ausrichtung nachgefragt werden oder eine im gesamtgesellschaftlichen Rahmen. Damit sind allerdings ganz grundsätzliche Probleme der Begriffsbildung angesprochen29 • üblicherweise werden diese Zuweisungskriterien nicht willkürlich gewählt, sie haben sich danach zu richten, in welches Begriffssystem der zu bildende Begriff eingeordnet werden will. Doch bleibt denkbar, daß in demselben Bereich unterschiedliche Begriffssysteme bestehen, von denen jedes in einem besonderen Zusammenhang seine Bedeutung hat, oder daß eine Begriffsprägung bewußt den üblichen Rahmen verläßt. Wird von einer abweichenden Darstellung der Begriffe gesprochen, so handelt es sich nicht um eigentlich unterschiedliche Begriffe, sondern um unterschiedliche Stufen der Begriffsbildung. Es können bei der Begriffsumschreibung die Ordnungselemente herausgestellt werden, welche die Zuweisung der einzelnen Objekte zum Begriff regeln. Es kann aber auch das Resultat der Zuweisung im Vordergrund stehen, etwa als Enumeration der zugewiesenen Objekte. Auch in diesem Fall ist anzunehmen, daß die Zuweisung aufgrund von präzisen Kriterien vorgenommen wird, die bisweilen jedoch nicht expliziert werden. Diese Unterschiede der Begriffsdarstellung hängen zusammen mit dem Spannungsverhältnis zwischen Begriffsinhalt und Begriffsumfang. Jeder Begriff hat ein Doppeltes zu leisten: er soll die innere Einheit, den gemeinsamen Sachzusammenhang der dem Begriff zugeordneten Einzelphänomene aufzeigen. Er soll aber darüber hinaus gezielt helfen, Einzelzuweisungen vornehmen zu können, d. h. gen au zu bestimmen, welche Objekte dem Begriffsbereich zugehören und welche nicht. Diese doppelte Aufgabe ist zwar keineswegs gegensätzlich, stellt aber je andere praktische Probleme. Wiewohl das Gemeinsame im Prinzip klar 29 Vgl. Engisch (D); Klüver (D); die hier einschlägigen begriffstheoretischen Fragen werden nur sehr selten grundsätzlich angesprochen; im Vordergrund stehen die eigentlichen Rechtsbegriffe, nicht die rechtswissenschaftlichen Ordnungsbegriffe.

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Kapitel I: Einführung

herausgearbeitet ist, kann im Begriffshof die jeweilige Zuordnung unklar bleiben. Es kann sich in einem anderen Fall aber auch die Einzelzuweisung als unproblematisch aufdrängen, wiewohl die Fassung der Zuweisungskriterien Schwierigkeiten bereitet. 2.3. Die Begriffe in unterschiedlichem Gebrauchszusammenhang Neben diesen grundsätzlichen Problemen und abweichenden Möglichkeiten juristischer Begriffsbildung übt auch der Gebrauchswert der Begriffe einen maßgeblichen Einfluß auf ihre Ausgestaltung aus. Je nach dem Standort des damit Befaßten kann sich eine unterschiedliche Orientierung aufdrängen, die bisweilen zu willkürlichen pragmatischen Fassungen führt, welche logisch nicht mehr gerechtfertigt erscheinen. Eine derart gewillkürte Einschränkung oder Ausweitung ist dann zu tolerieren, wenn ersichtlich bleibt oder ausdrücklich erwähnt wird, aus welchen Gründen dies geschieht. Am seltensten finden sich derartige dezisive Entscheidungen bei der Begriffsbildung auf rechtsdogmatischer Ebene. Aber soweit vom gegebenen Normenmaterial her gedacht werden muß, üben die pragmatischen Elemente, die dort eingeflossen sind, ihren Einfluß aus, auch wenn versucht wird, sie systemkonform zu erfassen. Im Rahmen des universitären Wissenschaftsbetriebs sind pragmatische Besonderheiten viel wahrscheinlicher. Die Verleihung von Venien, die Beschreibung universitärer Lehrstühle und die Begrenzung des Sachbereichs von Instituten sind stark von zufälligen, zeit- und personengebundenen Entscheidungen abhängig. In der Lehrplangestaltung und den darauf ausgerichteten lehrbuchmäßigen Darstellungen steht weitgehend das Erfordernis einer präzisen Abgrenzung des Bereichs im Vordergrund. Auch der Student will wissen, was er zu lernen hat. Bei einzelnen Forschungsvorhaben kann sich aus der Fragestellung die Notwendigkeit ergeben, eine in diesem Fall sachgerechte, sonst aber nicht voll überzeugende Abgrenzung zu treffen. Eine ganz ausgeprägte Funktion der Einteilung des Gesamtrechtsbereichs kommt bei der Organisation der verschiedenen gerichtlichen Rechtswege zum Tragen. Unerläßlich ist hier, daß jeder mögliche Rechtsfall einem der Gerichtszweige zugewiesen wird. In der Abgrenzung dieser Zweige gegeneinander steht zunächst im Vordergrund, daß die zusammengefaßten Bereiche innerliche Gemeinsamkeiten aufweisen, auf die in Unterschieden des Verfahrens und der Gerichtsorganisation Rücksicht genommen werden soll. Daneben können aber auch äußerliche Faktoren, insbesondere pragmatische Erfordernisse, wie beispielsweise die Arbeitslast, Einfluß ausüben. Ähnliche Prinzipien sind auch im Rahmen der Organisation der Verwaltungsbehörden maßgebend.

2. Sinnebenen der Begriffsbildung

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Die Rechtssetzung steht in einem ganz besonderen Verhältnis zur Rechtswissenschaft und ihrer Begriffsbildung. Es geht dabei nicht nur um die Schaffung einzelner Normen, sondern auch um deren äußere Anordnung und Strukturierung. Die verschiedenen Bestimmungen werden zu einem Gesetz zusammengefaßt und die verschiedenen Gesetze wiederum oft besonders geordnet. Nach unterschiedlichen Kriterien können Gesetzessammlungen hergestellt, einzelne ,Codes' geschaffen oder gar Kodifikationen angestrebt werden. Für die juristische Begriffsargumentation hat dies nicht unwesentliches Gewicht. Meist sind darin auch die vorgängigen juristischen Reflexionen eingeflossen, besonders weil diese Arbeit wesentlich von der Rechtswissenschaft mitgetragen wird. In allen diesen Zusammenhängen wirken neben Einflüssen aus dem nationalen solche aus dem internationalen Raum. Die über die .Landesgrenzen hinausgehende wissenschaftliche Kooperation spielt nicht nur in der Rechtsvergleichung. Die wissenschaftliche Arbeit wie die politische und die gesetzgeberische Wahrnehmung der staatlichen Aufgaben hat meistens auch ein Auge offen für die Verhältnisse jenseits der Grenzen. Die Notwendigkeit von internationalen Beziehungen verstärkt sich zudem nachhaltig durch die aktuellen Tendenzen zur internationalen Integration. Dies wirkt sich insbesondere auch auf sprachlicher und begrifflicher Ebene aus, da hier die Verständigung besondere Schwierigkeiten stellt. So kann es sich ergeben, daß im Rahmen dieser Beziehungen nationale Begriffe ein anderes Gesicht erhalten. Die der internationalen Verständigung angepaßte Terminologie kann ihrerseits wieder auf die nationale Begrifflichkeit zurückwirken, möglich bleibt jedoch die gegenläufige Tendenz zu einem gewissen Eigenleben. In jedem Fall können die internationalen Begriffe Anlaß dazu geben, die nationalen Besonderheiten zu reflektieren und kritisch zu überprüfen. Dieses Wechselspiel zwischen nationaler und internationaler Begrifflichkeit demonstriert besonders ausgeprägt das Beispiel der sozialen Sicherheit30 • Auf den verschiedenen Sinnebenen, die hier angesprochen worden sind, findet nicht immer in ausgeprägter Form das statt, was man gemeinhin Begriffsbildung nennt. Aber schon der bloße Gebrauch eines Wortes in diesem oder jenem Sinne hat in beschränktem Maße begriffliche Qualität. Unausgesprochen übt der allgemeine Sprachgebrauch Einfluß auf die Begriffsbildung aus, er sollte es zumindest. Es kann nicht das Ziel sein, eine wissenschaftliche Terminologie zu prägen, die vom üblichen Sprachgebrauch abweicht, wenn sich dies nicht aus wichtigen Gründen aufdrängt. 30

Vgl. unten Kap. 1/3.2.

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Kapitel I: Einführung

3. Hintergrundbegriffe 3.1. Die Sozialpolitik 3.1.1. Entstehung und Entwicklung der Sozialpolitik

Wesen und Begriff der Sozialpolitik verstehen sich nur aus dem historischen Zusammenhang des 19. Jahrhunderts, aus dem sie hervorgegangen sind 31 • Die Zwänge der Industrialisierung, in den einzelnen Ländern zu verschiedenen Zeitpunkten und mit unterschiedlicher Intensität ausgebrochen, haben eine neue gesellschaftliche Klasse, das Arbeiterproletariat geschaffen. Mit der Einführung und Ausdehnung der Fabrikarbeit einher geht zumeist auch eine ausgeprägte Tendenz zur Verstädterung. Der Fabrikarbeiter ist gezwungen, in einer neuen Umgebung zu leben, wo er sich nur durch den Verkauf seiner Arbeitskraft gegen Geld ernähren kann. Dadurch entsteht auch erst das Rechtsverhältnis des Arbeitsvertrags im modernen Sinn als Tauschverhältnis, weitgehend losgelöst von Fürsorge- und Unterstützungspflichten32 • Falls der einzelne einen Arbeitsplatz findet, kann er notdürftig sein Leben fristen; dies allerdings zumeist im Rahmen von unmenschlichen Arbeitsbedingungen und überlangen Arbeitszeiten. Sobald jedoch seine Arbeitskraft nicht mehr verwertbar ist, sei dies aufgrund des überangebots an Arbeitskräften oder aufgrund individuellen Unvermögens, etwa wegen Alters oder infolge Unfalls, sieht er sich seiner Lebensgrundlage beraubt. Diese Existenznot, die für den einzelnen tödlich sein kann, wird von aufgeklärteren Geistern jener Zeit als Problem erfaßt. Das Bewußtsein dafür artikuliert sich unter dem Schlagwort der ,sozialen Frage', der ,question sociale'. Ein wesentlicher Faktor des gesellschaftlichen Bewußtwerdungsprozesses liegt in der Tatsache, daß das Proletariat zu einem politischen Problem wird. Die Arbeiterschaft organisiert sich allmählich und fordert nicht nur eine Verbesserung der Lebensverhältnisse, sondern auch eine Veränderung der bürgerlichen Gesellschaft. Diese ist gezwungen, in irgendeiner Form zu reagieren 33 • Die im 19. Jahrhundert entstandene Arbeiterfrage kann als neuartiges Phänomen betrachtet werden. Soziale Probleme sind zwar schon durch die ganze Menschheitsgeschichte hindurch zu beobachten. Die Arbeiterfrage des 19. Jahrhunderts, aus ganz neuen sozioökonomischen Strukturen erwachsen und von anderer politischer Brisanz, zeigt aber ein unterschiedliches Gesicht und beansprucht einen anderen 31

Allgemein zur Entwicklung der Sozialpolitik: Brück (D), S. 20 ff.; Gla-

den (D), S. 1 ff.; Greffe (F), S. 158 ff.; Schweingruber (eH), Sozialgesetzgebung, 2. Aufl., S. 5 ff.; Seidl (D). 32 Vgl. Sönner (D). 33 Vgl. Abendroth (D); Raupach (D).

3. Hintergrundbegriffe

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Stellenwert. Es können zwar, insbesondere was die individuelle Situation der Betroffenen angeht, Vorläufer der sozialen Frage gefunden werden, beispielsweise im Bergwerksbereich des späten Mittelalters oder in den Manufakturen des Merkantilismus. Doch haben diese Verhältnisse zu ihrer Zeit partikulären Charakter gehabt und werden nur im Sinne einer Rückprojektion in diesen Zusammenhang gestelW'. Zunächst sehr zaghaft wird die soziale Frage von der Politik aufgegriffen und die nötigsten Verbesserungen eingeleitet. Damit einher geht die Reflexion einzelner Wissenschaftler, die sich davon herausgefordert fühlen. In erster Linie sind es Ökonomen. Die Juristen vernachlässigen für lange Zeit den gesamten Themenkreis, auch wenn auf gesetzlicher Ebene Bestimmungen zum Schutze der Industriearbeiter zu finden sind 35 . Dies erklärt sich teilweise durch die Konzentration der Jurisprudenz auf das Privatrecht, was sich zu einem Teil als politische Präferenz deuten läßt30. Wo diese Probleme reflektiert werden, wird von der ,sozialen Frage' gesprochen, von ,sozialem Fortschritt', von einer ,sozialen Bewegung', von einer ,socialen Politik' oder auch von ,Sozialpolitikt37 • Der letzte Terminus findet insbesondere in Deutschland schnelle Verbreitung, maßgeblich bedingt durch die Gründung eines "Vereins für Socialpolitik" im Jahre 1873 38 . Dieser Zusammenschluß überwiegend von Volkswirtschaftlern wird dadurch nötig, daß diese die Gesellschaft für Volkswirtschaft, welche sich nicht für die soziale Problematik verantwortlich fühlt, als unzureichendes Forum für ihre neuen Fragestellungen und Ideen erachten. In Frankreich hingegen taucht der Terminus ,politique sociale' erst nach dem Zweiten Weltkrieg auf 39 . Die Frage nach dem Namen soll hier aber nicht im Vordergrund stehen. Auch in Frankreich ist im 19. Jahrhundert eine sozialpolitische Diskussion festzustellen, die aber weniger ausgeprägt ein besonderes Selbstverständnis entwickelt und stärker im Rahmen der politischen Ökonomie verbleibt. Doch zeigt sich unter dem Namen ,economie sociale' dasselbe Bedürfnis, von einem anderen, neuen Standpunkt aus Wirtschaftswissenschaft zu betreiben und dies mit einer neuen Bezeichnung hervorzuheben4~. In aktuellen 34 So Seidl (D), S.533; vgl. ähnlich: Albrecht (D), Sozialpolitik, S.17 ff.

35 Wieacker (D), Privatrechtsordnung, S. 55 ff.; Willrodt-v. Westernhagen (D), S. 29 f./179 ff.; nicht in so ausgeprägter Zeitverschiebung in Frankreich, vgl. wem (F), S. 430 ff. 30 Vgl. Grimm (D). 37 Geck (D), das Eindringen des Wortes sozial, S. 33 ff. 38 Vgl. Albrecht (D), Verein für Sozialpolitik; Einflüsse aus Deutschland, besonders von den Kathedersozialisten nennt wem (F), S. 431. 39 z. B. Belorgey (F); Fournier / Questiaux (F); Greffe (F); sowie Ribas (F), schon 1957, S. 626.

40 z. B. Antoine (F); Gide (F).

3 Schmid

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Kapitel I: Einführung

Werken der ,politique sociale' wird jedoch rückblickend der Problemkreis auch schon vom Entstehen an als ,politique sociale' bezeichnet41 • Wenn von der historischen Entwicklung der Sozialpolitik die Rede ist, so stellt die wissenschaftliche und politische Diskussion nur einen Teil davon dar. Dazu gehört ebenso die Entwicklung der sozialen Frage selbst, die sich unter dem Einfluß der sozialpolitischen Maßnahmen wie auch davon unabhängiger gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entwicklungen verändert. Hauptsächlich werden dabei zwei Epochen unterschieden, die der alten und die der neuen Sozialpolitik. Die sog. alte Sozialpolitik sieht sich ausschließlich befaßt mit der Arbeiterschaft als gesellschaftlicher Marginalgruppe, als unterprivilegierter Klasse, als viertem Stand, deren ökonomische Lage das vordringlichste Problem darstellt. Doch wird nicht nur versucht, die wirtschaftliche Not der Arbeiter abzuschwächen und ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern, zugleich besteht das weitere Ziel, die Arbeiterklasse als ganzes in die Gesellschaft zu integrieren. Die Situation der Arbeiterschaft wird als eine Fehlentwicklung der liberalen Wirtschaftsordnung angesehen, die es zu korrigieren gilt. Die Strukturen des Wirtschaftssystems selbst werden aber nicht grundsätzlich abgelehnt. So kann diese Sozialpolitik als konservative im Sinne von konservatorisch bezeichnet werden42 • Sie hat die Aufgabe, die bestehenden bürgerlichen Gesellschaftsstrukturen zu erhalten und zu befestigen. Auch wenn die Sozialpolitiker in erster Linie ethisch-humanistisch motiviert sind, hängt das Zustandekommen der sozialpolitischen Maßnahmen wesentlich von anderen Faktoren ab. Gründe und Hintergründe bilden ein unauflösliches Konglomerat von ethisch-religiösen Maximen, von politischem Kalkül und von Wirtschaftlichkeitsüberlegungen. Die Intention der Sozialpolitik setzt sich zunächst besonders mit Hilfe interventionistischer Gesetzgebung durch. Diese konzentriert sich vorerst auf die Verhältnisse in der Fabrik. Die schlimmsten Auswüchse der Kinderarbeit werden abgebaut, die unerträglichen Arbeitszeiten etwas verkürzt und die größten Gefahren beim Arbeitsprozeß entschärft43 • über die Frage der Arbeitsunfälle bahnt sich eine neue Qualität der sozialpolitischen Gesetzgebung an. Es wird erkannt, daß die Verbotsmaßnahmen der Fabrikgesetzgebung nicht ausreichen. Gerade U So De Laubier (F); wie auch mit seinem historischen Abriß, Greffe (F), S. 158 ff. 42 So entsprechend der theoretischen Diskussion in Deutschland: Boettcher (D), Sozialpolitik und Sozialreform, S.19; Brück (D), S. 29 ff.; Preller (D), Sozialpolitik, S. 130 ff.; sowie Schweingruber (eH), Sozialgesetzgebung, 2. Auf!., S. 22 f. 43 Vg!. Gladen (D), S. 12 ff.; Pechan (D); WeiH (F), S. 432 ff.

3. Hintergrundbegriffe

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wenn der Arbeiter nicht mehr arbeiten kann, ist er auf eine besondere Fürsorge angewiesen. Es entstehen die Arbeiterversicherungen, zunächst bezüglich der Risiken Unfall, Krankheit und Alter, erst später wird das Risiko der Arbeitslosigkeit angegangen44 • Aber auch bei dieser Ausweitung des sozialpolitischen Schutzes über den engsten Arbeitsbereich hinaus bleibt das wesentliche Element bestehen, das die alte Sozialpolitik prägt: erstrangig betrachtet sie die Arbeiterschaft als ihr Zielobjekt. Im Laufe des 20. Jahrhunderts zeigen sich in der Gesetzgebung Tendenzen, die auch zu einem Wandel im Konzept der Sozialpolitik führen, zu dem, was als neue Sozialpolitik bezeichnet werden kann. Die zunächst für die Fabrikarbeiter bestimmten Maßnahmen werden auf andere Bevölkerungsschichten ausgedehnt. In einem ersten Schritt wird die Gesamtheit der abhängig Beschäftigten als schutzwürdiger Personenkreis verstanden. Dies stellt aber keinen Endpunkt dar; besonders seit dem Zweiten Weltkrieg tendiert die Entwicklung darauf, die Bevölkerung insgesamt einzubeziehen. Diese Ausweitungstendenz geht Schritt für Schritt vor sich und ist bis heute nicht überall endgültig abgeschlossen45 • Die wissenschaftliche Theorie nimmt diese Tendenz in dem Sinne auf, daß sie die Sozialpolitik als die gesamte Bevölkerung erfassend definiert46 • Diese neue Sozialpolitik beschäftigt sich demnach mit dem Verhältnis aller gesellschaftlichen Gruppen zueinander. Es ist nicht mehr eine ganz bestimmte Gruppe, auf deren Probleme sie eingeht. Vielmehr wird das komplexe Verhältnis zwischen den gesellschaftlichen Schichten als einheitlicher Regelungsmechanismus verstanden, der als Gesamter in Bewegung gerät, wird auch nur an einem bestimmten Punkt eine Veränderung vorgenommen. Im Mittelpunkt steht aber weiterhin die unterschiedliche ökonomische Situation der verschiedenen Gruppen. Es bleibt der Anspruch der Sozialpolitik, sich in besonderem Maße um die Randgruppen, um die Benachteiligten zu kümmern, doch muß dies nicht immer dieselbe Marginalgruppe sein. Daraus ergibt sich auch das neue Verständnis der Sozialpolitik als reformatorische. Sie beschränkt sich nicht mehr eng darauf, Fehlentwicklungen gegenzusteuern. Wo es als notwendig erachtet wird, legt sie es darauf an, die Gesellschaftsstruktur selbst planend zu beeinflussen 47 • Bei dieser Um44 Vgl. die Übersichtstabelle zur Entstehung der Sozialversicherung in verschiedenen Ländern: Leibfried (D), S. 293. 45 Vgl. Schweingruber (CH), Sozialpolitik, S.58; Stolleis (D), S. 11 ff.; für Frankreich vgl. die entsprechende Diskussion im Zusammenhang mit der Einführung der ,securite sociale', unten Kap. 1II/1.4.1. 46 Boettcher (D), Sozialpolitik und Sozialreform, S. 18 ff.; ders., Strukturwandel, S. 154 ff.; Brück (D), S. 36 ff.; Mötteli (CH), S. 63.



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Kapitel I: Einführung

orientierung handelt es sich ja wohl eher um ein neues, realistischeres Selbstverständnis der Sozialpolitik denn um eine tatsächliche Konzeptänderung. Wie die geschichtliche Entwicklung zeigt, haben schon die Maßnahmen des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts nicht unbedeutend zu Veränderungen der Gesellschafts- und Wirtschaftsstruktur beigetragen. Wenn man das breitgefächerte Maßnahmenbündel der Sozialpolitik betrachtet, kann man sich kaum vorstellen, daß dieses sich zu den gesellschaftlichen Strukturen indifferent verhält. In der Bundesrepublik Deutschland wird in diesem Zusammenhang auch vorgeschlagen, nicht mehr von Sozialpolitik sondern von GeseLlschaftspolitik oder von Sozialreform zu sprechen48 • Für eine beschränkte Zeitspanne wird der Terminus Sozialreform häufiger verwendet, doch längerfristig kann er den Begriff Sozialpolitik nicht verdrängen. In Frankreich, wo erst jetzt von ,politique sociale' die Rede ist, bezieht sich der historisch unbelastete Begriff direkt auf dieses aktuelle Verständnis49 • In den letzten Jahren scheint nochmals eine Ausdehnung des Wirkungsbereichs der Sozialpolitik sich anzubahnen. Sozialpolitik war bis dahin wesentlich nationale Politik. Internationale Bemühungen zielten lediglich darauf ab, die jeweiligen nationalen Maßnahmen gegenseitig abzustimmen 50 • Mit dem immer aktueller werdenden Nord-Süd-Konflikt, mit den Forderungen der Entwicklungsländer an die Industrieländer ist aber eine neue, weltweite ,soziale Frage' angesprochen, die analoge Strukturen zur europäischen sozialen Frage des 19. Jahrhunderts aufweist. Die Entwicklungsländer bitten nicht mehr um Almosen, sie stellen Ansprüche. Unter diesen Zwängen hat sich die frühere Entwicklungshilfe umzuformieren zu einer internationalen solidarischen Zusammenarbeit. Unter Außerachtlassen der geographischen Distanzen ist die Armut der Völker der Dritten Welt in vielerlei Hinsicht vergleichbar mit der Lage der Arbeiterklasse des 19. Jahrhunderts 51 • Die Bemühung um eine Entwicklungspolitik kann als konsequente Fortschreibung nationaler Sozialpolitik verstanden werden, vernachläßigt man die mithin zufälligen staatlichen Schranken. Anerkennt man diese Zusammenhänge, läßt sich aus den heutigen Widerständen gegen eine Vgl. insbes. Brück (D), S. 29 ff.; Preller (D), Sozialpolitik, S. 125 ff./142 ff. So Boettcher (D), Sozialpolitik und Sozialreform, S. 32 ff.; in davon abweichendem Sinne den Begriff Sozialreform verwendend: Höfjner (D), Sozialreform; Schweingruber (CH), Sozialgesetzgebung, 2. Aufl., S. 11 f. (9 Belorgey (F); und Grefje (F); von ihrem Ansatz einer politischen Analyse der sozialpolitischen Institutionen her gelangen sie nicht zu derartigen Fragestellungen. 50 Vgl. etwa Savelsberg (D). 51 In diese Richtung: Liejmann-Keil (D), S.578, mit Bezug auf Gunnar Myrdal; Ruge (D), S.187; Schweingruber (CH), Sozialgesetzgebung, 2. AUfl., als Nachwort, S. 301 ff. 47

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3. Hintergrundbegriffe

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effektive und nachhaltige Entwicklungszusammenarbeit erahnen, welche Hindernisse der Sozialpolitik des 19. Jahrhunderts in unseren Ländern in den Weg gelegt wurden. 3.1.2. Sozialpolitik als Wissenschaft?

Sozialpolitik ist zentral handlungsorientiert. Sie kann, was schon in ihrer Bezeichnung zum Ausdruck kommt, als Teil der allgemeinen Politik verstanden werden52 • Sie betrifft den Teil des politischen Handelns, der direkt und gezielt auf die gesellschaftlichen Verhältnisse und die sie konstituierenden ökonomischen Gegebenheiten Einfluß nehmen will. In diesem Sinne ist zu verstehen, wenn Regierungen oder politische Parteien davon sprechen, sie betrieben Sozialpolitik53 • Darüber hinaus gehören notwendig auch Reflexion und Diskussion über die im politischen Prozeß zu ergreifenden Maßnahmen zur Sozialpolitik. Sie erarbeitet Argumentationshilfen für das alltägliche politische Geschäft, sie macht Vorschläge und schätzt die Zweckmäßigkeit intendierter Maßnahmen ab. Insofern ist Sozialpolitik zu verstehen als handlungsorientiertes Denken. Dieser Aspekt, der sich in der sozialpolitischen Literatur niederschlägt, ist ebenso wie die Tagespolitik in besonderem Maße engagiert. Daß dies wesentlich zur Sozialpolitik gehört, kommt schon zum Ausdruck beim Verein für Sozialpolitik, der es ausdrücklich darauf angelegt hatte, sozialpolitische "Agitation" zu betreiben54. Im deutschen Bereich allerdings wird auch versucht, die Sozialpolitik als wissenschaftliche Disziplin zu begründen55 • Das sozialpolitische Denken soll als wissenschaftliche Reflexion legitimiert werden und sich damit über die pragmatische Politik erheben. Daß die Wissenschaftlichkeit, wenn sie akzeptiert ist, nur einen Aspekt der Sozialpolitik ausmacht, zeigt die bisweilen vertretene Unterscheidung zwischen einer theoretischen, d. h. wissenschaftlichen, und einer praktischen Sozialpolitik56 • Daneben wird aber auch versucht, in integrativem Sinn wissenschaftliche Sozialpolitik als wissenschaftliche Reflexion über das Handeln zu erfassen51 • Wenn auch die akademische Diskussion über den Wissenschaftscharakter der Sozialpolitik eine deutsche Besonderheit ist, können einzelne Aspekte darüber hinaus interessieren. Zudem erVgl. bes. Heyde (D), S. 539 f. Schweingruber (CH), Sozialgesetzgebung, 2. Aufl., S. 30 f., geht auf die Sozialpolitik in den Parteiprogrammen ein. 54 So nach Albrecht (D), Verein für Sozialpolitik, S. 12. 55 Achinger (D), Sozialpolitik, S. 3 ff.; Kleinhenz (D); Pütz (D); Weichelt (CH); Wiese (D). 66 Wiese (D), S. 548, selbst mit Einschränkungen. 51 So Kleinhenz (D), S. 28 ff. 52 53

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Kapitel I: Einführung

scheint es nötig, diese Fragen anzuschneiden, um dieses Verständnis angemessen zu relativieren. Festzuhalten bleibt, daß in Frankreich derartige Ansätze fehlen, was jedoch praktisch keine direkten Folgen auf die Konzeption der Sozialpolitik nach sich zieht, aber eine Relativierung der Fragestellung nahelegt58 • Die definitorische Umschreibung der Wissenschaft von der Sozialpolitik bereitet erhebliche Schwierigkeiten. Im Laufe der Zeit ist eine fast unübersehbare Anzahl von derartigen Versuchen gemacht worden, von denen sich keiner als endgültig konsensfähig erwiesen hat59 • Die Bestimmung des Materialobjekts steht im Zusammenhang mit der Einordnung der Sozialpolitik ins weitere System der Sozialwissenschaften oo . Problematisch erweisen sich etwa die Fragen, wo die Sozialpolitik aufhört und die Sozialethik, die Soziologie, die Sozialpsychologie oder die Volkswirtschaftslehre beginnt. Dazu kommt die Abgrenzungsproblematik gegenüber der allgemeinen Politik wie Teilen davon, beispielsweise bei der Wirtschaftspolitik. Diese gegenseitigen Abgrenzungsfragen können hier nicht zu beantworten versucht werden. Wenn eine präzise Bereichsbegrenzung überhaupt möglich ist, bleiben immer noch engste Interdependenzen zwischen diesen Bereichen bestehen, die ein eigentliches Wesenselement der Sozialpolitik ausmachen. Dies zeigt sich in der Literatur, die die Schwerpunkte recht unterschiedlich setzt, je nachdem von welchen Wissenschaftsdisziplinen her die Autoren stammen. Besondere Betonung können beispielsweise wirtschaftswissenschaftliche, soziologische oder juristische Betrachtungsweisen finden. Ein bestimmender Aspekt der Wissenschaftlichkeit liegt in der Frage nach der Wertbezogenheit. Als praktische Politik ist die Sozialpolitik unbestritten direkt wertbezogen. Je nach dem Wissenschaftsverständnis kann das aber für diese Qualifikation ausschlaggebend sein. Auch bezüglich der Sozialpolitik hat Max Weber den Werturteilsstreit initiiert. Weber selbst hat nicht eine wertfreie Sozialpolitik gefordert, sondern ihr wegen ihrer Wertbezogenheit den Wissenschafts charakter abgesprochen81 • Heute wird sie überwiegend als wertende Disziplin verstanden, meist aber ohne die Folgerung von Weber62 • Bezeichnend in diesem Sinne ist die Ansicht von Leopold Wiese, der dies in ausdrücklichem Gegensatz zur Soziologie hervorhebt 63 • 58 Vgl. Belorgey (F); Greffe (F); erklärlich auch vom pointiert politischen Standpunkt, der in diesen Büchern durchgehalten wird. 58 Siehe bei Höffner (D), S. 347 ff.; sowie bei Wiese (D), S. 547 ff. 60 Kleinhenz (D), S. 46 ff.; Wiese (D), S. 552 ff. 01 So Kleinhenz (D), S. 15/25. 62 Achinger (D), Sozialpolitik, S. 6 ff.; Kleinhenz (D), S. 25 ff., doch nicht als notwendige Komponente; Preller (D), Sozialpolitik, S.293; Wiese (D), S.550. 63 Wiese (D), S. 550.

3. Hintergrundbegriffe

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3.1.3. Ausprägungen der Sozialpolitik

Die verschiedenen Unsicherheiten einer wissenschaftlichen Definition von Sozialpolitik schlagen kaum auf die praktische sozialpolitische Arbeit durch. Diese Fragestellungen sind insofern nicht absolut notwendig, als die Sozialpolitik offensichtlich ohne eine zureichende Antwort darauf sich behaupten kann. Dies zeigt das französische Beispiel, wo den theoretischen Problemen überhaupt keine Beachtung geschenkt wird und dennoch ,politique sociale' betrieben und beschrieben wird. Nicht so unterschiedlich verhält es sich praktisch im deutschen Sprachraum, wo trotz definitorischer Kontroversen ein relativ festes Verständnis davon besteht, was unter Sozialpolitik zu verstehen ist. Dieses Verständnis wird allerdings eher intuitiverfaßt, als im eigentlichen Sinne definiert. Dadurch ist es auch stärker von den jeweiligen, konkreten Schwerpunkten der sozialpolitischen Arbeit geprägt, was aber ihrem Wesen entspricht. Seit von Sozialpolitik die Rede ist, besteht eine gewisse Beständigkeit im Sachbereich, mit dem sie sich befaßt64 • Im Zentrum steht die menschliche Arbeit, die Arbeitsverhältnisse und Arbeitsbedingungen als üblicherweise bestimmender Rahmen menschlicher Existenz. Ein besonderer Stellenwert kommt dem Problem des Einkommens aus dieser Arbeit zu, das die individuelle Existenz ermöglicht und begrenzt. Dieser Einkommensaspekt verselbständigt sich dadurch, daß nicht nur das Einkommen aus der Arbeit, sondern auch die Probleme des Fehlens derartiger Einkommen und ihres Ersatzes erfaßt werden. Mit anderen Worten heißt dies, daß es um den Bereich der individuellen Reproduktion geht. Von diesem Kernbereich aus können weitere Aspekte der menschlichen Lebensbedingungen dem Sachbereich zugeschlagen werden: Probleme des Wohnungswesens, der Konsumentenpolitik, der Gesundheitspolitik, des Bildungswesens und bisweilen in einem we.iteren Sinne der Lebensbedingungen in der natürlichen Umwelt, insbesondere des Schutzes dieser Umwelt, doch sind dies schon Grenzbereiche 65 • Mit der Umschreibung vom individuellen Standpunkt aus kann die analoge aus einem gesamtgesellschaftlichen Blickwinkel übereinstimmen. Sozialpolitik befaßt sich dann mit den ökonomischen Strukturen der Gesellschaft im weitesten Sinne, immer aber im Blick auf die konkrete Existenz des einzelnen Menschen und bestimmter Gruppen von Menschen 66 • 84 Vgl. die lehrbuchmäßigen Darstellungen, für Deutschland: Brück (D); für Frankreich: Belorgey (F); oder theoretisch: Achinger (D), Sozialpolitik, S. 58 ff.; Preller (D), Sozialpolitik, S. 246ff. 65 MitbehandeIt etwa bei Fournier I Questiaux (F), S. 667 ff. 86 Als Ausgangs-. und Schlußpunkt bei Preller (D),· Sozialpolitik, S. 6 ff./

299 ff.

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Kapitel I: Einführung

Damit ist aber das Betätigungsfeld der Sozialpolitik nur annähernd festgelegt, keineswegs hinweisend präzisiert. Es geht nicht um die grundsätzliche und abstrakte Aufarbeitung der Probleme in diesem Gebiet, sondern darum, diese in ihrer konkreten und sich ständig ändernden Ausgestaltung zu untersuchen. Die einzelnen Probleme ändern sich damit, daß sich die zu Grunde liegenden gesellschaftlichen Verhältnisse ändern, teilweise eben durch die Anstrengungen der Sozialpolitik. Die gesellschaftlichen Veränderungen stehen für die Sozialpolitik im Vordergrund, so daß die Beschreibung des Objektfelds ihre Aufgabe nur beschränkt wiedergeben kann. Die konkreten Wege und Möglichkeiten der Sozialpolitik und ihre Betrachtungsweisen werden von verschiedenen Faktoren beeinflußt. Zunächst zu nennen ist, wie schon der Name zeigt, die allgemeine PoLitik. Sie beeinflußt direkt, was an Sozialpolitik gesellschaftlich wahrgenommen werden kann und setzt so die Prioritäten. Nicht jedes soziale Problem muß auch zugleich ein sozialpolitisches sein. Es hängt weitgehend von der Opportunität und von Sachzwängen ab, was in den politischen Prozeß eingebracht wird. Es kann der Druck bestimmter gesellschaftlicher Gruppen sein, der sozialpolitische Reaktionen provoziert, oder allgemeine politische Randbedingungen, die auf Innovationen hin tendieren, wie bedrohliche Krisensituationen oder ein Krieg, es kann aber auch nur das Zustimmung erheischende Gebaren der politischen Parteien sein. Eine weitere prägende Bedingung stellt die Wirtschaftspolitik dar; sie ist unauflöslich verbunden mit der Sozialpolitik61 • Die wirtschaftlichen Verhältnisse setzen die Rahmenbedingungen, in denen Sozialpolitik als Verteilungs- oder Umverteilungspolitik erst geschehen kann. Sie bestimmen, wieweit sozialpolitische Maßnahmen ökonomisch möglich und langfristig wünschbar sind. Was heute an derartigen Maßnahmen in den hochindustrialisierten Ländern vorzufinden ist, entstand weitgehend parallel zu einer expandierenden Wirtschaftsentwicklung. Als nicht zu unterschätzender personaler Faktor kommt zu diesen Bestimmungsgründen das Engagement und die Phantasie der Sozialpolitiker6s • Soziale Probleme müssen zunächst als solche erkannt und bewußt gemacht werden. Dabei darf nicht davor zurückgeschreckt werden, auch auf unliebsame Faktoren hinzuweisen, wobei immer offen bleibt, ob die Politik diese Hinweise auch aufnimmt. Für die sachgerechte Lösung neuerkannter Probleme kann des öfteren nicht auf bewährte Mechanismen zurückgegriffen werden. Es bedarf der Anstrengung, neuartige und zweckmäßige Maßnahmen erst zu entwickeln. e1

es

Ausführlich dazu ebd., S. 83 ff.; vgl. auch Greffe (F), S. 15 fI. Preller (0), Sozialpolitik, S. 293 f., spricht ihren "Spürsinn" an.

3. Hintergrundbegriffe

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Diese verschiedenen die Sozialpolitik bestimmenden Elemente sind der Grund dafür, daß sie konkret nur in den jeweils gegebenen Rahmenbedingungen angemessen erfaßt werden kann. Je nach den Zeitumständen und den daraus hervorgehenden sachlichen Beschränkungen, aber auch als nationale Sozialpolitik von Land zu Land abweichend determiniert, stellt sie sich unterschiedlich dar. Wenn die theoretische Sozialpolitik als abstraktes wissenschaftliches Forschungsfeld überhaupt umschrieben werden kann im Sinne eines Rahmens, der durch wissenschaftliche Untersuchungen auszufüllen ist, so ist die praktische Sozialpolitik immer nur das, was im jeweiligen Zeitpunkt tatsächlich an sozialpolitischen Untersuchungen und an daraus hervorgehenden Maßnahmen vorzufinden ist. Wenn weiland die Rede davon war, Sozialpolitik habe die soziale Frage zu lösen, wird das heute kaum mehr in dieser Form behauptet. Mag vielleicht sogar die Ansicht vorhanden gewesen sein, die neu entstandenen Probleme der Industrialisierung könnten mit entsprechender Anstrengung ein für alle Mal gelöst werden, so wird diese Aufgabe heute als kontinuierlicher Prozeß gesehen, der deshalb nicht zu einem Ende kommen kann, weil mit einem gelösten Problem andere bewußt oder erst geschaffen werden 69 • In diesem Sinne erscheint der französische Sprachgebrauch angemessen, der von ,politiques sociales' im Plural spricht'°. Diese Bildung, die im Deutschen unmöglich ist, erschiene sachlich auch hier angemessen. 3.1.4. Sozialpolitik und Sozialrecht

Die innere Verknüpfung dieser zwei Gebiete ist schon an ihrem gemeinsamen historischen Ausgangspunkt und an den weitgehend parallelen Entwicklungen festzustellen. Auch das Sozial recht versteht sich seit jeher in irgend einem Sinne immer als Antwort auf die neuen Probleme der modernen, der industriellen Gesellschaft; es hat sich analog der Sozialpolitik ursprünglich eher auf die enge Arbeiterfrage konzentriert, im Laufe der Entwicklung aber darüber hinaus auf weitere Problemfelder ausgedehnt und damit sein Aussehen und seinen Wirkungskreis nachhaltig verändert. Der innere Zusammenhang besteht darin, daß beide das gleiche Feld tatsächlicher Verhältnisse betreffen. Dies widerspiegelt sich in der wissenschaftlichen Diskussion insbesondere bei den Begriffs- und Definitionsversuchen beider Gebiete. Es erscheint als Gemeinsamkeit, daß beide Schwierigkeiten haben, ihr 69 In diese Richtung der Versuch von Geissler sozialen Frage" einzubringen. 70

(D),

den Begriff der "neuen

Belorgey (F), S. 10; Fournier / Questiaux (F), S. 971 ff.

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Kapitel I: Einführung

Objektfeld zureichend abzugrenzen, daß sich dieses in beiden Fällen in steter Bewegung befindet und daß beide Disziplinen in ihrem Vorgehen stark auf interdisziplinäre Betrachtungsweisen angewiesen sind. Insbesondere das Sozialrecht nimmt dabei oft direkt Bezug auf die Sozialpolitik, es zieht diese bisweilen gar als eigentliches Definitionselement hinzu, ungeachtet der Tatsache, daß die Sozialpolitik selbst mit analogen Definitionsschwierigkeiten kämpft. Sozialrecht wird so als sozialpolitisches Recht bezeichnet, auch wenn dies bei der Bereichsbestimmung nicht immer mit letzter Konsequenz weitergeführt wird 71 • Wegen rechtswissenschaftlicher Besonderheiten kann es sich aufdrängen, sozialpolitisch geprägtes Recht nicht ins Sozialrecht aufzunehmen. Wo in überkommenen und klar abgegrenzten Rechtsgebieten Regelungen sozialpolitischer Prägung zu finden sind, werden sie meist dort belassen, mag dies in einzelnen Fällen nur ein Zugeständnis an wissenschaftliche Konventionen sein, kann es auch darauf zurückgehen, daß die sozialpolitische Prägung nicht im Vordergrund steht. Doch auch über die Begriffsfrage hinaus stößt man in der sozialrechtlichen Literatur immer wieder auf die Sozialpolitik. Sie erscheint als notwendiger Verständnisbezug des Sozialrechts. Nicht nur für das wissenschaftliche Erfassen seiner Regelungen, auch für die richterliche Auslegung können bisweilen erst die sozialpolitischen Hintergründe und Argumentationen, die zu einer bestimmten Normierung geführt haben, notwendige Aufschlüsse geben. Die Kausalität der Beziehungen zwischen diesen zwei Bereichen scheint grundsätzlich vom Sozialpolitischen in Richtung auf das Sozialrechtliche zu gehen. Dies ist klar dort angesprochen, wo das Sozialrecht als "zur Norm verfestigte Sozialpolitik" bezeichnet wird 72 • Wenn in dieser Sicht für den Juristen bisweilen zu ausgeprägt der bloße Instrumentalcharakter des Rechts betont wird, ist dies für die Sozialpolitik kein Argument. Sie versteht das Recht weitgehend nur als möglichen Durchsetzungsmechanismus ihrer Postulate. Nach der üblichen Einteilung der Sozialpolitik nach Akteuren ist der Staat nur einer unter mehreren73 • Je nach dem, auf welche Weise die Sozialpolitik aktiv wird, kommt der rechtlichen Normierung eine unterschiedliche Bedeutung zu; sie kann konstitutiv für die entsprechenden Maßnahmen sein, nur flankierend oder gar überflüssig. Auf kritisches Interesse bei dieser rechtlichen Vermittlung von sozialpolitischen Intentionen stößt bei Sozialpolitikern die Möglichkeit, daß Vgl. unten Kap. 11/2.3; Kap. 111/2.1; Kap. IV/2.1. Von der Sozialpolitik her in diesem Sinne: Wiese (D), S.552, bezüglich des Arbeitsrechts, dieses aber wohl in weitem Sinne verstanden. 73 Albrecht (D), Sozialpolitik, S. 95 ff.; Belorgey (F), S. 13 ff.; Schweingruber (eH), Sozialgesetzgebung, 2. Aufl., S. 18 ff.; Weddigen (D), S. 554 ff. 71

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3. Hintergrundbegriffe

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sich in diesen Vermittlungsprozeß Fehler einschleichen können 74 . Ein juristisch bedingtes Eigenleben der entsprechenden Normen kann sozialpolitisch unkontrollierbar werden. Ein aktuelles Problem dieser Art liegt in der überkomplexität des heutigen Sozialrechts. Es kann selbst zu einem sozialen Problem werden, daß der einzelne nicht mehr erkennt, was ihm an Hilfen angeboten wird. Die weitgehende übereinstimmung in den Untersuchungsgegenständen wie die übereinstimmende funktionale Ausrichtung von Sozialrecht und Sozialpolitik machen es schwieriger, die Bereiche gegeneinander abzugrenzen als ihre inneren Zusammenhänge aufzudecken. Der Unterschied der zwei Disziplinen kann nicht daran liegen, daß sie andere Sachbereiche betreffen; er muß in einer abweichenden Betrachtungsweise begründet sein. Leopold Wiese will dies darin sehen, daß die Sozialpolitik wertenden Charakters sei im Gegensatz zum Recht 75 . Dieses Verständnis der Jurisprudenz wird von ihr selbst wohl nicht durchgängig akzeptiert, besonders dann nicht, wenn auch von der Rechtswissenschaft ,de lege ferenda' die Rede ist. Und gerade auf sozialrechtlichem Gebiet kommt den rechtspolitischen Aspekten eine besondere Bedeutung zu, was im ausgeprägt dynamischen Charakter des Sozialrechts begründet liegt. Auffällig erscheint, daß auch diejenigen Juristen, die Sozialrecht auch als sozialpolitisches Recht umschreiben, diese Abgrenzungsproblematik nicht grundsätzlich reflektieren. Die Fragestellung erscheint insofern unfruchtbar, als die sozialrechtliche Literatur faktisch sozialpolitischer Aspekte nicht entbehren kann. In vielen Fällen erscheint es gar als unbedeutend, was nun als noch sozialrechtliche oder schon sozialpolitische Aussage einzustufen ist. 3.2. Die soziale Sicherheit Die Geschichte dieses Terminus wird von verschiedenen Autoren in erstaunlicher übereinstimmung dargestellt7~. Als bemerkenswert hervorgehoben werden kann die kurze Zeitspanne, in welcher der Begriff praktisch über die gesamte Welt Verbreitung gefunden hat. Allerdings gilt das nicht in gleichem Maße von dem zugrundeliegenden 74 Vgl. Preller (D), Sozialpolitik, S. 273 ff.

Wiese (D), S.550, spricht von der "juristisch-rubrizierenden" Behandlungsweise der Rechtswissenschaft im Gegensatz zur "ethisch-politisch wertenden" der Sozialpolitik. 76 Achinger (D), Soziale Sicherheit; Dupeyroux (F), seeurite sociale, S. 67 ff.; Friedrichs (D); Hippel (D); Kaufmann, Franz-Xaver (D); Schweingruber (eH), Sozialgesetzgebung, 2. Aufl., S. 38 ff.; Steinlin (eH), Soziale Sicherung; Weisser (D), Soziale Sicherheit; abweichend in der Ableitung nur Ziegler (eH), securite sociale. 75

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Konzept. Dieses hat sich im Laufe der Rezeption verschiedentlich verändert und wird heute recht unterschiedlich gefaßt. Franz-Xaver Kaufmann weist darauf hin, daß schon zu Beginn der Entwicklung der Terminus früher feststand als der eigentliche Begriff 71 • Dem entspricht, daß in einzelnen Ländern lediglich das Wort aufgenommen wurde, nicht aber die damit verbundenen, präzisen oder weniger präzisen, aber neuartigen Inhalte. Weithin erklärt sich das aus dem Schlagwortcharakter auch des Wortes ,Sicherheit'. Es wird geradezu von einem "Mythos der Sicherheit" gesprochen 78 • Die Appellwirkung, die davon und noch stärker von der Wendung soziale Sicherheit ausgeht, ist besonders im politischen Bereich gern aufgenommen worden. Nur selten wird darauf hingewiesen, daß das darin angesprochene Ziel, nimmt man es ernst, nie voll zu erreichen ist79 • 3.2.1. Die Ursprünge der sozialen Sicherheit im angloamerikanischen Raum

Die ersten Entwicklungsstufen der sozialen Sicherheit entstammen fast ausschließlich dem angloamerikanischen Raum 80 • Ausgangspunkt sind dabei die Vereinigten Staaten zur Zeit der Administration Roosevelt. In der Botschaft an den Kongreß vom 8. 6. 1934 proklamiert Roosevelt als politische Zielvorstellung die ,social security'. Dahinter steht zunächst kein konkretes Programm und auch das Wort selbst hat sich noch nicht verfestigt. Die im Anschluß daran geschaffene Institution, die ein Maßnahmenbündel konzipieren soll, heißt "Committee on Economic Security". Ein aus ihren Vorschlägen erwachsendes Gesetz trägt dann aber wieder die überschrift "Social Security Act 1935"81. Dieses Gesetz enthält bundes rechtliche Regelungen für die Einführung einer Arbeitslosenversicherung auf einzelstaatlicher Ebene, es richtet eine Bundesversicherung für das Risiko des Alters ein und sieht für Alte und Waisen Fürsorgeleistungen und ähnlich konzipierte Gesundheitsleistungen vor.

Kaufmann, Franz-Xaver (D), S. 92. Auerbach (D), Mut zur Sozialen Sicherheit, S.10; Friedrichs (D), S.278; Perrin (F), schon in der überschrift. 78 Kaufmann, Franz-Xaver (D), S. 119 ff., weist darauf hin, daß "Sicherheit" 11

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kein praktikables sozialpolitisches Ziel sein könne. 80 Kaufmann, Franz-Xaver (D), S. 95, weist allerdings darauf hin, daß Peru 1936 ein Gesetz über die soziale Sicherheit erlassen hat; ebd., S. 128, Anm. 4, der Hinweis, die Formel soziale Sicherheit sei schon bei Simon Bolivar 1819 zu finden. 81 Vgl. allgemein Doberschütz (And.); sowie Dupeyroux (F), Entwicklung und Tendenzen, S. 73 ff.; Hippet (D), S. 9 f.; Kaufmann, Franz-Xaver (D), S. 92 ff.

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Wenn diese Maßnahmen im Verhältnis zur Sozialversicherung europäischer Länder wenig N eu es bringen, stellen sie für die USA einen Einschnitt dar. Bis dahin kannte dieses Land keine eigentliche Sozialversicherung, sondern nur einzelstaatliche, zivilrechtliche Regelungen der ,workmen's compensation'. Daß das Konzept von Roosevelt politisch überhaupt realisierbar war, ist nur zu verstehen auf dem Hintergrund der damaligen Rezession. Der ,Social Security Act' stellt im Rahmen des ,New Deal' eine der Antworten des Präsidenten auf die Folgen der Wirtschaftskrise dar. Vergleicht man die Situation, aus der diese soziale Sicherheit hervorgegangen ist, mit den europäischen Verhältnissen um die Jahrhundertwende - der Entstehungszeit der Sozialversicherung -, so zeigen sich erhebliche Unterschiede: Die Wirtschaft insgesamt befindet sich in einem desolaten Zustand. Nicht nur eine besondere gesellschaftliche Gruppe sondern die gesamte Gesellschaft ist davon betroffen; viele Individuen unterschiedlicher Schichten verlieren ihren sozialen und ökonomischen Status. Das Ziel kann somit nicht die Lösung eines Klassenkonfliktes oder die Verwirklichung einer vertikalen Umverteilung sein. Dies wäre wohl damals wie heute in der amerikanischen Gesellschaft undurchführbar, da diese die Prinzipien eines ausgeprägten Individualismus und Liberalismus noch weithin anerkennt82 • Die Politik der ,social security' versucht, soweit dies überhaupt in den Rahmen des ,New Deal' paßt, auf wirtschaftsliberalen Gleisen zu verbleiben. Die soziale Sicherheit strebt keine Statussicherung an, sondern will nur eine beschränkte Grundsicherheit gegen individuelle Not, ein letztes Auffangnetz schaffen. Die Höhe der Leistungen ist recht gering und sie werden zudem teilweise nach fürsorgerischen Prinzipien gewährt. Die Grundidee dieser sozialen Sicherheit, die vom europäischen Standpunkt her interessant erscheint, ergibt sich auch aus den beschriebenen politischen und ökonomischen Randbedingungen. Die soziale Sicherheit soll die gesamte Bevölkerung erfassen. Jeder der durch die wirtschaftliche Krise in eine Notlage gerät, soll dieser Unterstützung teilhaftig werden. Was in Europa oft von ideologischen Prämissen her abgelehnt wird, wurde hier ganz pragmatisch durchgesetzt. Und dieses Grundprinzip der Erfassung der gesamten Bevölkerung bleibt das zentrale Element, welches die verschiedenen Entwicklungsstufen des Konzepts der sozialen Sicherheit prägt. Ein nächstes Mal taucht der Begriff ,social security' in Neuseeland auf. Im Jahre 1938 wird unter der Ägide der ,Labour Party' ein ,Social Security Act' erlassen83 • Dieses Gesetz, ebenfalls im Banne der AusVgl. Doberschütz (And.), S. 12 ff./33 ff. Vgl. Dupeyroux (F), securite sociale, S. 71 f.; Friedrichs (D), S.278; Hippel (D), S. 10 f.; Kaufmann, Franz-Xaver (D), S.95; Social security in New Zeeland (And.), S. 36 ff. 82

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wirkungen der großen Rezession konzipiert, stellt die Weichen und entwirft die Prinzipien zu einem noch heute exemplarischen System der Staatsbürgerversorgung. Das Spitalwesen wird als nationaler Gesundheitsdienst organisiert. Die auf Einkommensersatzleistungen ausgerichteten Sozialversicherungszweige werden zusammengefaßt und mit einem neuen Beitrags- und Leistungsverhältnis ausgestattet. Die Beiträge bemessen sich nach der Leistungsfähigkeit des einzelnen, was für Einkommensbezüger einen linearen Beitragssatz ohne Obergrenze bedeutet. Die Leistungen werden weitestgehend unabhängig von der Beitragszahlung gewährt und richten sich nach den im Rahmen von besonderen ,mean tests' festgestellten individuellen Bedürfnissen. Die Leistungsberechtigung knüpft in keiner Weise an das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses an, sondern hängt vom neuseeländischen Wohnsitz (resident) ab. Bestimmend für das, was heute besonders auf dem europäischen Kontinent unter sozialer Sicherheit verstanden wird, ist der Bericht eines englischen Komitees von 1942 über "Social Insurance and Allied Services", nach dem Namen des Vorsitzenden als ,Beveridge Report' bekannt84 • Aufgabe dieser Kommission war es, die sozialpolitische Entwicklung nach Kriegsende vorzubereiten. Nicht nur für das vorgeschlagene Konzept, sondern auch für den Erfolg, den der Bericht hatte, war die Kriegslage der englischen Nation bestimmend, die einen besonderen Zusammenhalt des Volkes forderte 8s • Im Blick auf die schon bestehende Sozialversicherung in Großbritannien erscheinen die Grundzüge des Konzepts weniger revolutionär als die Roosevelt's für die Vereinigten Staaten knapp zehn Jahre zuvor. Beeindruckend ist aber insbesondere die innere Folgerichtigkeit und Klarheit von Konzeption und Argumentation. Ein großer Teil der Vorschläge wurde auch von der Gesetzgebung gleich nach dem Kriege verwirklicht; bis heute hat sich aber das englische System nicht unerheblich wieder in eine andere Richtung entwickeltB6 • Das zentrale ELement des Beveridge-PLans liegt in der Einheitlichkeit des Systems der sozialen Sicherheit: die gesamte Bevölkerung soll davon erfaßt werden und die Durchführung der Maßnahmen soll - mit Ausnahme des nationalen Gesundheitsdienstes - bei einer einzigen Verwaltungsbehörde konzentriert werden. Bezüglich der Finanzierung der Leistungen schlägt Beveridge ein zweigleisiges System vor. Der nationale Gesundheitsdienst wie die Familienleistungen sollen über die Beveridge (And.). Dupeyroux (F), SEkurite sociale, S. 75, berichtet, dieser Report mit einer Auflage von 70 000 sei innerhalb von drei Stunden nach Erscheinen vergriffen gewesen. 86 Dupeyroux (F), Entwicklung und Tendenzen, S. 75 ff.; HippeZ (D), S. 10 f.; Schulte (And.), S. 222 ff. 84

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3. Hintergrundbegriffe

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Steuern finanziert werden, mit der Folge eines Umverteilungseffekts. Bei den Lohnersatzleistungen aber wird dies nicht als Ziel angestrebt; sie basieren auf dem ,flat-rate principle'. Das bedeutet, daß Beiträge und Leistungen für jeden grundsätzlich dieselben sind 87 • Es besteht keine direkte Relation zum jeweiligen Arbeitsentgelt, das nicht in seiner Höhe abgesichert werden soll: es geht somit auch hier nur um die Garantie eines Existenzminimums, einer Basissicherung. Im Gegensatz zum amerikanischen und neuseeländischen Modell profiliert sich Beveridge als überzeugter Gegner von ,mean tests'. Doch diese Zielsetzung, Fürsorgeleistungen durch die soziale Sicherheit überhaupt überflüssig zu machen, erweist sich aus verschiedenen Gründen als unerreichbar 88 • Dem Beveridge-Konzept liegt wie der amerikanischen ,social security' eine grundsätzlich wirtschaftsliberale Ausrichtung zugrunde, was bisweilen zu wenig beachtet wird. Es geht nicht um eine Veränderung der Klassenstruktur oder des Wirtschaftssystems, sondern um eine Absicherung aller Bürger; es soll, wie Jean-Jacques Dupeyroux sagt, dem liberalen Wirtschaftssystem ein Boden unterlegt werden8u • Dafür spricht auch, daß Beveridge wesentlich von den keynsianischen Wirtschaftstheorien beeinflußt gewesen istlHl • 3.2.2. Die Internationalisierung und Rezeption des Konzepts

Schon vor dem Beveridge-Report hat auch die Internationalisierung des Begriffs der sozialen Sicherheit eingesetzt. 1941 wird die soziale Sicherheit in der Atlantik-Charta der Alliierten als programmatischer Punkt aufgenommen, als positives Kriegsziel 91 . Noch während des Krieges nimmt die Internationale Arbeitsorganisation anläßlich ihrer Konferenz in Philadelphia im Jahre 1944 die soziale Sicherheit in ihr Arbeitsprogramm auf 92 . Davon beeinflußt nennt sich die "Internationale Konferenz für Versicherung auf Gegenseitigkeit und Sozialversicherung" 1947 um in "Internationale Vereinigung für Soziale Sicherheit"93. Weltweite Anerkennung findet die soziale Sicherheit 1948 im Schoße der Vereinten Nationen: sie wird als weltweites Grundrecht aller Menschen proklamiert94 • In diesem weltweiten Rahmen bleibt die Forderung Vgl. Dupeyroux (F), Entwicklung und Tendenzen, S. 81 ff. Vgl. Ogus I Barendt (And.), S. 12 ff. 89 Dupeyroux (F), Entwicklung und Tendenzen, S. 78. uo Ebd., S. 76 f. 91 Ebd., S. 75; Hippel (D), S.ll; Kaufmann, Franz-Xaver (D), S. 95 f. 92 Friedrichs (D), S.279; Hippel (D), S. 13 ff.; Kaufmann, Franz-Xaver (D),

87

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S.102.

93 Kaufmann, Franz-Xaver (D), S. 102. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dez. 1948, der Vereinten Nationen, bes. Art. 22; vgl. Hippel (D), S. 11 ff. 94

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Kapitel I: Einführung

nach sozialer Sicherheit weitgehend Programm. Konkrete Standards können den einzelnen Ländern nur empfohlen werden. Die großen Unterschiede zwischen den verschiedenen Staaten verbietet eine präzise Fassung. Man beschränkt sich im Kern darauf, zu beschreiben, in welchen Risikofällen der einzelne abgesichert werden so1l95. In den kontinentaleuropäischen Ländern wird der Begriff der sozialen Sicherheit nach dem Kriege unterschiedlich rasch und mit abweichenden Ausprägungen aufgenommen. Für Frankreich beabsichtigen die Resistancekreise, gleich nach dem Krieg ein zentralisiertes und vereinheitlichtes System der ,securite sociale' zu schaffen, das sich weitgehend ans britische Vorbild anlehnen soll96. Wenn sich dieses Programm nur teilweise verwirklichen läßt, bewirkt es doch große Wandlungen des überkommenen Sozialleistungssystems. Der Begriff der ,securite sociale' führt sich damit endgültig ein und entwickelt sich zum anerkannten Namen für die verschiedenen Sozialleistungen und die Institution, die diese erbringt. In der Bundesrepublik Deutschland schlägt dem Begriff der sozialen Sicherheit zunächst eher Antipathie entgegen. Ihm werden ideologische Positionen angelastet, die ihm zumindest vom angloamerikanischen Ursprung her nicht zukommen: das Konzept trage gefährliche Tendenzen in Richtung auf einen Kollektivismus sozialistischer Prägung in sich97 . Die auch hier einsetzende Diskussion um eine Neuordnung des Systems der staatlichen Sozialleistungen firmiert unter dem Namen Sozialreform; doch die daraus erwachsenden Vorschläge können das überkommene Sozialversicherungssystem nicht grundlegend umstülpen. Um so erstaunlicher erscheint es, daß sich in den 60er Jahren der Begriff der sozialen Sicherheit trotzdem durchsetzt. Mit ihm werden jedoch kaum spezifisch neue Ideen verknüpft. Er erweist sich als neuer übergreifender Name für das historisch gewachsene System staatlicher Sozialleistungen. Ähnlich verläuft die Entwicklung in der Schweiz. Der Terminus soziale Sicherheit wird zunächst nur selten aufgenommen98. Das Erscheinen des Beveridge-Reports in einer deutschen Übersetzung während des Krieges in der Schweiz scheint keinen besonderen Einfluß zu haben. Im Zusammenhang mit der nach dem Kriege entstandenen Alters- und Hinterlassenenversicherung und der später angegliederten Invalidenversicherung, welche viele Übereinstimmungen mit den angloamerikanischen Konzepten aufweist, kommt diesem Namen keine be05 Vgl. unten Kap. 1/4.8. 96 Dupeyroux (F), securite sociale, S. 267 ff.; Igt (F), S.25; vgl. auch unten Kap. 111, S. 240 f./244 ff. 97 Kaufmann, Franz-Xaver (D), S. 113 ff.; vgl. auch unten Kap.II/1.3.2. 98 Vgl. unten Kap. IV/1.3.3.

3. Hintergrundbegriffe

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sondere Bedeutung zu. Trotz zunächst hörbarer ideologischer Vorurteile dringt der Begriff allmählich aber durch, ohne daß damit spezifische Inhalte verbunden würden. Soziale Sicherheit steht als neuer Name für das schweizerische Sozialleistungssystem, im Rahmen der eigenständigen Diskussion über die Definition von Sozialversicherung. Um noch weitere Stationen der nationalen Rezeptionsgeschichte kurz anzuschneiden, sei zunächst Österreich genannt, wo die analoge übernahme des Terminus eher später als in Deutschland und der Schweiz erfolgt98 • In Italien findet die ,sicurezza sociale' erst in den letzten Jahren stärkere Beachtung. Hier steht der Name im Zusammenhang mit der intendierten Neugestaltung des Sozialleistungssystems und weist auf die Elemente der angloamerikanischen Konzeption hin 10o • Wohl unter dem Einfluß der Mitarbeit in der IAO findet das Wort entgegen stärkerer Widerstände auch in den Staaten des Ostblocks Eingang. Auch hier werden damit die Systeme zum Schutz in einzelnen Risikofällen, insbesondere die Sozialversicherungssysteme, benannt101 • Folgerichtig im Verhältnis zur Rezeption in den kontinentaleuropäischen Ländern und in den weltweiten Organisationen findet der Begriff der sozialen Sicherheit im Rahmen der europäischen Integration im Europarat und in den Europäischen Gemeinschaften Aufnahme 102 • Seine Aussage lehnt sich an das Verständnis der IAO und der kontinentaleuropäischen Länder an. Insbesondere eine Beschränkung auf die bloße Existenzsicherung greift hier nicht Platz, da die meisten betroffenen Staaten eine derartige Einschränkung ihrer Systeme kaum als Ziel anstreben. 3.2.3. Die Unterschiede der Konzepte von sozialer Sicherheit

Bei der Entwicklung und internationalen Verbreitung des Begriffs der sozialen Sicherheit lassen sich drei Stufen unterscheiden, die sich zeitlich überlappen. Sie markieren auch ein jeweils unterschiedlich betontes Verständnis. Die erste Stufe stellt die von den Vereinigten Staaten ausgehende Entwicklung des ursprünglichen Konzepts von ,social security' im angloamerikanischen Raum dar. Ab 1941 beginnt die Tendenz zur Internationalisierung, die sich 1952 mit dem übereinkommen Nr.102 der IAO weitgehend verfestigt. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzt die Rezeption des Namens in den verschiedenen europäischen Ländern ein, die heute fast überall abgeschlossen ist. Vgl. unten Kap. 1/4.3. Vgl. unten Kap. 1/4.6. 101 Eingehend dazu Modlinski (F). 102 Vgl. unten Kap. 1/4.8.3. und 4.8.4. 98

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Kapitel 1: Einführung

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Im angloamerikanischen Raum, wo erstmals von ,social security' die Rede ist, wird dieses Wort übereinstimmend verwendet für ein ganz bestimmtes politisches Programm 103 • Es bezeichnet einen neuen oder neu konzipierten Maßnahmenkomplex zur Sicherung der ökonomischen Situation der Bürger. Den Anlaß dazu bilden wirtschaftliche Krisensituationen, die Weltwirtschaftskrise in den USA und in Neuseeland, in Großbritannien befürchtete wirtschaftliche Einbrüche nach dem Krieg. Die soziale Sicherheit soll die dadurch entstehenden individuellen Notlagen abfangen, ohne das zugrundeliegende liberalistische Wirtschaftssystem nachhaltig zu tangieren. Auf diesem Hintergrund erklären sich die übereinstimmenden Grundprinzipien der Systeme: die gesamte Bevölkerung, nicht nur einzelne Gruppen, soll vom Schutz der sozialen Sicherheit profitieren, doch bleibt der Schutz darauf beschränkt, die existenziellen Bedürfnisse abzudecken, d. h. eine Basissicherung zu garantieren. Dies wird als Aufgabe des Staates betrachtet, während darüber hinausgehende Schutzvorkehrungen der Initiative des einzelnen anheimgestellt bleiben. Diese Konzeption weicht in doppeltem Sinne von den überkommenen Sozial versicherungs systemen ab, welche bestimmte Gruppen zu erfassen trachten, denen aber auch die Tendenz innewohnt, einen höheren Schutz anzustreben, nämlich dem einzelnen innerhalb bestimmter Grenzen den durch seine Arbeit erworbenen Status zu sichern104 • Schon während und besonders nach dem Kriege verbreitet sich der Begriff der sozialen Sicherheit in den internationalen Organisationen, zunächst in der IAO und der UNO, mitbedingt dadurch, daß die angloamerikanischen Länder ihr sozialpolitisches Schlagwort auch als Kriegsziel propagiert habenIOs. Es erweist sich in der Folge als Kristallisationspunkt für die Hoffnung nach einer internationalen Ordnung, die nicht nur ein friedliches Zusammenleben der Staaten, sondern als Voraussetzung dazu auch eine Ordnung erreichen will, in der Existenzsicherheit für jedes Individuum besteht. Inhaltlich allerdings verliert das ursprüngliche Konzept auf dieser Ebene an Präzision. Um es für die verschiedenen Länder konsensfähig zu machen, muß die soziale Sicherheit allgemeiner und anpassungsfähiger gefaßt werden. Sie kann nicht mehr ein konkret determiniertes, direkt umsetzbares politisches Programm sein. Das Ziel, die gesamte Bevölkerung von der sozialen Sicherheit zu erfassen, wird in der UNO als Grundrecht formuliert, im Rahmen des IAO-übereinkommens Nr.102 aber nur in Form einer anpassungsfähigen Norm eingebracht106 • Doch dieses Dokument erreicht es, 103

Vgl. oben Kap. 1/3.2.

Dupeyroux (F), securite sociale, S. 113 ff. 105 Vgl. Dupeyroux (F), Entwicklung und Franz-Xaver (D), S. 95 f. 104

Tendenzen, S.75; Kaufmann,

3. Hintergrundbegriffe

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den Schutzbereich der sozialen Sicherheit durch die Enumeration der Risiken in später klassisch gewordenem Sinn zu umschreiben. Die Rezeption im kontinentaleuropäischen Raum lehnt sich stärker an das internationale Verständnis von sozialer Sicherheit an als an die angloamerikanischen Konzepte. Nur gerade Frankreich tendiert in den ersten Jahren der Nachkriegszeit nachhaltig daraufhin, eine am englischen System inspirierte ,securite sociale' zu verwirklichen107 • In den anderen europäischen Ländern kann das ursprüngliche Konzept höchstens als eine Argumentationsposition in der Diskussion um die Neuformierung der überkommenen Sozialversicherung wirken. Daß dennoch in einem allmählichen Prozeß der Begriff von sozialer Sicherheit üblich wird, ist zum einen bedingt durch die internationale Anerkennung, die er inzwischen gefunden hat. Ebenso wichtig ist aber, daß die Entwicklung der Sozialversicherungssysteme hier darauf tendiert, den erfaßten Personenkreis kontinuierlich auszuweiten, was im Endeffekt dazu führt, daß die gesamte Bevölkerung erfaßt wird lo8 • In diesem Sinne besteht ein direkter Bezug zum ursprünglichen angloamerikanischen Verständnis, wenn in neuerer Zeit in diesen Ländern von sozialer Sicherheit gesprochen wird. Ein Unterschied bleibt aber darin bestehen, daß entgegen dem älteren Verständnis im europäischen Rahmen das Ziel erhalten bleibt, dem Individuum den durch seine Arbeit erworbenen Status zu erhalten, also nicht bloß Basisleistungen zu gewähren. In diese Richtung läuft jedoch beispielsweise auch die englische Entwicklung, die sich in neuerer Zeit stark von der ursprünglichen Konzeption abwendet loß • Diese Rezeptionsgeschichte der sozialen Sicherheit ist primär die Geschichte soziaLpolitischer Programme. Darüber hinaus zeigt sich aber übereinstimmend eine Tendenz, den Begriff soziale Sicherheit auch auf juristischer Ebene zu verankern. In den Ursprungsländern geschieht dies dadurch, daß die Gesetze, welche das Programm der ,social security' verwirklichen sollen, in pragmatischer Weise ,Social Security Act' genannt werden llO • Im internationalen Bereich vermischen sich die politische und rechtliche Formulierung, indem die programmatischen Forderungen nach sozialer Sicherheit in völkerrechtlichen Verträgen oder Vereinbarungen niedergeschrieben werden. Im europäisch kontinentalen 106 übereinkommen Nr. 102 über die Mindestnormen der sozialen Sicherheit, vom 28. Juni 1952, der IAO. 107 Vgl. die Konvergenztheorie von Dupeyroux (F), in: L'evolution des systemes; ders., securite sociale, S. 117 ff. 108 Vgl. oben Kap. 1/3.1.1. 109 Vgl. Dupeyroux (F), securite sociale, S. 93 ff. 110 In den Vereinigten Staaten: Social Security Act 1935; in Neuseeland: Social Security Act 1938; in Großbritannien erst später in Gesetzestiteln: Ministry of Social Security Act 1966 und Social Security Act 1971.

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Kapitel I: Einführung

Raum verläuft die juristische Rezeption meist anders. In Frankreich zwar wird zugleich mit dem Programm auch der Begriff der ,securite sociale' in Gesetzestexten aufgenommen111 • In den anderen Ländern, insbesondere den hier zu behandelnden, Deutschland und Schweiz, wird der Begriff der sozialen Sicherheit von der Rechtswissenschaft weniger schnell als juristisch klassifizierender Sammelbegriff aufgenommen. In Gesetzestexten ist er kaum zu finden 112 • Ähnliches gilt für die osteuropäischen Staaten" 3 • Indirekt allerdings findet der Begriff auch hier als juristisch-normativer Eingang über die entsprechenden internationalen und supranationalen Vereinbarungen.

4. Grobübersicht über den Begriffsgebrauch 4.1. Bundesrepublik Deutschland1l4 In Deutschland ist der Name Sozial recht als Bereichsbezeichnung unbestritten und herrschend. Doch sind im Kern zwei verschiedene Begriffsfassungen zu unterscheiden, eine weitere und eine engere, wobei üblicherweise Sozialrecht im engeren Sinne (i. e. S.) gemeint ist, wenn keine besondere Präzisierung folgt.

Sozialrecht im weiteren Sinne (i. w. S.) bezeichnet einen ausufernden Bereich sozialpolitisch determinierter Gesetzgebung. Es um faßt neben dem Sozialrecht i. e. S. als wesentlichen Bestandteil das gesamte Arbeitsrecht sowie weitere Regelungen privatrechtlicher Herkunft, die unter besonderer Berücksichtigung des Schutzes des Individuums normiert sind, beispielsweise aus dem Wohnrecht, aber auch öffentlichrechtliche Bereiche, welche sich nur schwierig dem präziser definierten Sozialrecht i. e. S. zuordnen lassen. Genaue Abgrenzungen werden und sollen nicht festgeschrieben werden, um diesem Gebiet eine originäre Offenheit zu bewahren, weshalb auch vom offenen Sozialrechtsbegriff gesprochen wird. Der Begriff des Sozialrechts i. w. S. wird kaum als Bezeichnung für eine einheitliche wissenschaftliche Disziplin verstanden, und es finden sich kaum mehr Anhänger der Theorie, dieses Sozialrecht stelle ein Drittes dar zwischen dem öffentlichen und dem privaten Recht. Die wesentliche Funktion des Begriffs besteht darin, bei der Schon in der ersten einschlägigen Ordonnance vom 4. Okt. 1945. In der Bundesrepublik Deutschland nur in unbedeutender Funktion in RVO § 1321; FRG §§ 13/15; in der Schweiz lediglich in der Systematik der Systematischen Sammlung des Bundesrechts, TeilS. 113 Vgl. ModZinski (F). 114 Vgl. dazu die ausführliche Darstellung im Kapitel II. 111

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4. Grobübersicht über den Begriffsgebrauch

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Beschäftigung mit dem Sozialrecht i. e. S. auf die von ihrer sozialpolitischen Prägung analogen und komplementären Regelungen hinzuweisen, welche zur vollen Erfassung aller Aspekte der einschlägigen Probleme mitberücksichtigt werden müssen. Der Begriff von Sozialrecht in engerem Sinne wird bisweilen durch pragmatische Ausgrenzungen von diesem weiteren Begriff her, zumeist aber autonom gebildet. In neuester Zeit wird der erfaßte Bereich oft mit einer Einheit des positiven Rechts gleichgesetzt: Sozialrecht in diesem Sinne ist das Recht, das im Sozialgesetzbuch geregelt ist. Dazuzurechnen sind überdies die aus pragmatischen Gründen ausgeschiedenen Normen zur Sozialgerichtsbarkeit und das Kriegsfolgerecht. Dies stimmt überein mit der Darstellung des Gebiets durch ihre übliche Untergliederung. So gilt Sozialrecht i. e. S. als Oberbegriff für die Teilbereiche der Sozial versicherung, der Sozialhilfe und der Versorgung oder, im Sinne der neueren Trias, des Rechts der Vorsorge, der Entschädigung und des Ausgleichs. Zwei weitere Termini, die inhaltlich weitgehend mit dem Sozialrecht i. e. S. übereinstimmen, weisen auf zwei zentrale Eigenheiten des Gebiets hin. Der Name Sozialverwaltungsrecht expliziert, daß dieses Sozialrecht einen Teil des Verwaltungsrechts bildet. Diese Einordnung stößt kaum auf Widerspruch, bringt aber insofern nur wenig an materiellen Aussagen, als die bestehenden übereinstimmungen und Unterschiede zum Verwaltungsrecht wenig geklärt sind. Es folgt daraus aber - und dies ist ein Unterscheidungskriterium zum weiteren Begriff -, daß das Sozialrecht ausschließlich öffentliches Recht enthält. Die Abgrenzung zum Arbeitsrecht wird damit noch nicht endgültig vorgenommen. Diese ergibt sich daraus, daß das Sozialrecht auf die direkte Erbringung von Leistungen an Individuen durch öffentliche Träger zentriert ist. Das können Geld-, Sach- oder Dienstleistungen sein, die meistens Entschädigungsfunktion haben, immer stärker aber auch als präventive Schutzvorkehrungen vorkommen. Darauf weist der bisweilen verwendete, inhaltlich übereinstimmende Name Sozialleistungsrecht hin. Die beherrschende Stellung des Begriffs Sozialrecht hat den regen Gebrauch des Begriffs soziale Sicherheit während der 60er Jahre weit zurückgedrängt. Soziale Sicherheit bezeichnet die Zusammenfassung der unterschiedlichen, gesetzlich geregelten Systeme zum Schutz des Individuums in den üblichen Risikofällen. Durch die tendenzielle Ausdehnung des Regelungsbereichs des Sozialrechts i. e. S. scheint die früher übliche Gleichsetzung von Sozialrecht und sozialer Sicherheit nicht mehr voll zuzutreffen. Soziale Sicherheit bezeichnet damit nurmehr einen, wenn auch zentralen Teil des Sozialrechts. Der weniger verbreitete Ausdruck soziale Sicherung enthält keine grundsätzlichen

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Kapitel I: Einführung

Abweichungen, er hat jedoch keine präzisen juristischen Konturen. Er wird zumeist bewußt untechnisch verwendet und kann damit einen eher etwas weiteren Bereich als die soziale Sicherheit bezeichnen. 4.2. österreich Das aktuelle Begriffsverständnis in Österreich stimmt weitgehend mit dem in der Bundesrepublik überein. Wenn bisweilen noch andere Positionen vertreten werden, ist das darauf zurückzuführen, daß die Begriffsentwicklung parallel, aber zeitverschoben ähnliche Wege gegangen ist. Ein sehr weites Verständnis von Sozialrecht als wissenschaftlicher Disziplin ist auch nach dem Kriege noch vertreten worden. Dieser ältere Sozialrechtsbegriff umgreift das Arbeitsrecht, das Recht der Sozialversicherung und tendenziell auch die Gebiete der Versorgung und der Fürsorge 115 • Bestimmend dafür ist sicherlich das 1928 erschienene Lehrbuch von Max Lederer, das wohl als erstes unter dem Haupttitel Sozialrecht firmierte 116 • In diesem Sinne versteht sich auch eine Bestimmung des Prüfungsreglements für Juristen von 1945, die von "Sozialrecht einschließlich Sozialversicherungsrecht" sprichtl17 • In neuerer Zeit wird dieses weite Begriffsverständnis teilweise gar vehement abgelehnt118 • Der inzwischen vollzogene Wandel läßt sich denn auch am neuen Studienreglement von 1978 ablesen, das im einschlägigen Fach die "Arbeits- und Grundzüge des Sozialrechtes" prüfen läßt119 • So muß ein engerer Begriff von Sozialrecht als herrschend bezeichnet werden, der sich aber nicht neben den weiteren stellt, sondern diesen verdrängt. Dieses Sozialrecht umfaßt zwar einen ähnlichen Bereich wie nach altem Verständnis, aber unter Subtraktion des gesamten Arbeitsrechts l20 • Sozial recht ist das Recht der Sozialversicherung, zu der gesondert auch die Arbeitslosenversicherung zugerechnet wird, das Recht der staatlichen Versorgung sowie das als Landesrecht zersplitterte Fürsorgerecht. Als angemessen kann die Begriffsumschreibung von Theodor Tomandl genannt werden, die als Sozialrecht den Teil der Rechtsordnung versteht, der sich mit "gesellschaftlichen Vor-

Adamovitch (And.), S. 305 ff.; Ftoretta (And.), S. 17 ff. Lederer (And.), bes. S. 1 ff. 117 Juristische Studien- und Staatsprüfungsordnung vom 3.9. 1945, Staatsgesetzesblatt Nr. 164. 118 Strass er (And.), Rapport national, S. 1 f. 119 Bundesgesetz vom 2. März 1978 über das Studium der Rechtswissenschaften, Bundesgesetzesblatt Nr. 44, § 5. 120 Schmitz (And.), S. 180 ff.; Strass er (And.), Rapport national, S.4; Tomandl (And.), S. 1 ff. 115 116

4. Grobübersicht über den Begriffsgebrauch

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kehrungen zur Meisterung sozialer Risiken" befaßt, welche durch eine "institutionalisierte Hilfe auf Gemeinschaftsbasis zur Deckung sozialer Risiken" geschieht und zu diesem Rechtsbereich gehört, "sofern diese Hilfe vom Staat eingerichtet oder zumindest gefördert und überwacht wird"121. Von sozialer Sicherheit wird seltener gesprochen Dieser Terminus ist relativ spät in Österreich eingedrungen über internationale Vereinbarungen, besonders über die Europäische Sozialcharta122 • Als Rechtsbegriff hat er keine besondere Ausprägung gefunden; er wird in Anlehnung an den internationalen Gebrauch beschrieben und mit den konzeptualen Eigenheiten des angloamerikanischen Verständnisses verbunden123 • Wenn der Name soziale Sicherheit als Bereichsbezeichnung verwendet wird, stimmt der Umfang mit dem des Sozialrechts überein124 • Daneben ist partikulär auch von sozialer Sicherung die Rede, was die Unsauberkeit des Wortes Sicherheit als Vermischung von einem Maßnahmenkomplex mit der angestrebten Zielvorstellung entschärft125 • Der sozialen Sicherung wird ein eher größeres Gebiet als dem Sozialrecht zugeschrieben: praktisch alle staatlichen Leistungen zugunsten des Individuums, unbesehen ob sie in direkter oder indirekter Form zur Verfügung gestellt werden, gehören dazu. 4.3. Schweiz 126 Der wohl noch herrschende rechtswissenschaftliche Oberbegriff ist der der Sozialgesetzgebung oder ,legislation sociale', welcher praktisch alle sozialpolitisch determinierten gesetzlichen Maßnahmen zusammenfaßt. Das betrifft einerseits das Recht der sozialen Sicherheit, bzw. das weitverstandene Sozialversicherungsrecht, und das Recht der Fürsorge, von dem höchstens der kleine Teil bundesrechtlicher Fürsorge gewürdigt wird, während das kantonale Recht wegen seiner Vielfalt kaum berücksichtigt und dadurch bisweilen auch vom Begrifflichen her vernachlässigt wird. Auf der anderen Seite steht als zentraler Bereich das Arbeitsrecht. Von der sozialpolitisch umfassenden Konzeption her werden auch Teile des Mietrechts, das Recht der sozialen Gewerbehilfe und der sozialen Bauernhilfe dazugezählt. Letztere Zuordnung bedeutet allerdings keine grundsätzliche Ausdehnung auf das Gebiet des Wirt-

Tomandl (And.), S. 2 f. 122 Strass er (And.), Rapport national, S. 1, bezeichnet den Begriff .noch 1966 als nicht geläufig. . 123 Strass er (And.), Soziale Sicherung, S. 11 ff.; Tomandl (And.), S. 25 ff. 124 So Berger (And.), S. 162 ff. 125 Strass er (And.), Soziale Sicherung, S. 17 ff. 126 Vgl. dazu die ausführliche Darstellung im Kapitel IV. 121

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Kapitel I: Einführung

schaftsrechts, da die Beschränkung auf die sozialpolitisch geprägten Maßnahmen betont wird und überdies diese Zugehörigkeit nicht unumstritten anerkannt ist. In den letzten Jahren wird immer öfter anstelle von Sozialgesetzgebung von Sozialrecht oder ,droit social' gesprochen. Grundsätzliche Unterschiede bestehen zwischen diesen Begriffen nicht. Die deutschsprachige Lehre grenzt sich bei der Verwendung dieses neue ren Namens bisweilen ausdrücklich vom Verständnis in der Bundesrepublik Deutschland ab, im französischen Landesteil kann sich die Fassung an das analoge Verständnis in Frankreich lehnen. Mit dem Begriff Sozialrecht ist jedoch die Tendenz verbunden, die Randbereiche weniger zu betonen und ,droit social' hauptsächlich als Oberbegriff der relativ selbständigen Bereiche ,droit du travail' und ,droit de la securite sociale' zu verstehen. Die aktuell stärkere Betonung dieses Namens scheint beeinflußt von der regen Diskussion um Sozialrechte im Sinne von sozialen Grundrechten auf Verfassungsstufe. Doch umfangmäßig greifen diese eher über den Bereich des Sozialrechts hinaus. So sind im Vorentwurf zur Revision der Bundesverfassung neben dem Sozialrecht auf Arbeit, auf soziale Sicherheit und auf Existenzsicherheit die weiteren Rechte auf Wohnung, auf Bildung und auf Schutz der Familie enthalten, die auf gesetzlicher Ebene nicht vollständig und eindeutig dem Sozialrecht zuzuschlagen sind. Ebenfalls erst im letzten Jahrzehnt hat der Begriff der sozialen Sicherheit, der ,SEkurite sociale' eindeutig Konturen eines juristischen Begriffs angenommen. Gemäß der offiziellen Gesetzessammlung betrifft das Recht der sozialen Sicherheit auf Bundesebene die Gesetzgebung über Sozialversicherung, Wohnverhältnisse und Fürsorge. In der wissenschaftlichen Diskussion ersetzt der neue Terminus den älteren der Sozialversicherung, dies jedoch in expansiver Weise, in überwindung der strengen Unterscheidung zwischen eigentlicher Sozialversicherung und sozialer Privatversicherung auch letztere miterfassend, sowie die vorsorgemäßig finanzierte Militärversicherung. Ob die Fürsorgegesetzgebung und das Wohnrecht über die soziale Sicherheit oder unabhängig dem Sozialrecht zuzuweisen sind, scheint nicht endgültig geklärt. 4.4. Frankreich 127

Wie im Zusammenhang mit der Schweiz angedeutet, bestehen dort gewisse übereinstimmungen zur französischen Lehre, die auch die Unterschiede zur deutschen und österreichischen Begrifflichkeit markieren. 127

Vgl. dazu die ausführliche Darstellung im Kapitel IH.

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,Droit social' wird pragmatisch als Oberbegriff für die Bereiche des ,droit du travail' und des ,droit de la securite sociale' verstanden. Es bezeichnet somit ein Rechtsgebiet, in welchem öffentlichrechtliche wie privatrechtliche Normen enthalten sind. Dabei wird die ,securite sociale' überwiegend als öffentlichrechtlich charakterisiert, während das ,droit du travail' dem Bannkreis des ,droit civil' entstammt, mit dem es teilweise noch verbunden ist. Nicht endgültig geklärt erscheint, wieweit das Sozialrecht selbst eine eigentliche wissenschaftliche Disziplin darstellt oder in anderem Sinne als Oberbegriff für die zwei von ihr erfaßten Disziplinen fungiert. Jedenfalls steht der Begriff dafür, daß nach einem gewissen Abflachen während der ersten Nachkriegsjahre das Bedürfnis wiederauflebt, die innere Verbindung der zwei betroffenen Bereiche zu betonen. Kaum vertreten wird die Theorie, daß das ,droit social' einen neuen, dritten Typus bildet zwischen den überkommenen des privaten und des öffentlichen Rechts; eher wird es als eine Einheit besonderen Charakters gesehen, die auch nicht bloß neben Bereiche wie das Strafrecht und das Verwaltungsrecht gestellt werden kann. Diese Fragen der Einordnung werden aber nur selten direkt angesprochen oder eigenständig reflektiert, was jedoch nichts daran ändert, daß der Begriff allgemein anerkannt ist. Differenzierter zeigt sich der Begriff der ,securite sociale'. Im juristischen Gebrauch kann ein weiteres und ein engeres Verständnis festgehalten werden, eine Unterscheidung, die in der Lehre kaum ausdrücklich vorgenommen wird. Im Kern betreffen beide Fassungen denselben Bereich und die Grenzlinien zwischen dem einen und dem anderen sind fließend. Der weiter zurückreichende enge Begriff von ,securite sociale' umfaßt das Recht, das im ,Code de la securite sociale' zu finden ist und zur Durchführung der nach dem Kriege geschaffenen ,organisation de securite sociale' zugewiesen wurde. Inhaltlich entspricht dies weitgehend der in vielen Ländern anerkannten Zusammenfassung der Vorkehrungen zum Schutz gegen die typischen sozialen Risiken des Individuums. Vom Organisatorischen her bedingt wird insbesondere nicht dazu gerechnet der Schutz gegen das Risiko der Arbeitslosigkeit, der durch eine kollektivvertraglich geschaffene, autonome Institution garantiert wird. Ebenso gehört zur engeren sozialen Sicherheit nicht das Sozialhilfe recht, das von anderen Trägern durchgeführt wird. Allmählich erst hat sich in der juristischen Lehre das weitere Konzept von ,securite sociale' gebildet, das nicht mehr eng auf das organisatorische Element abstellt, sondern die soziale Sicherheit stärker als angestrebtes Ziel umschreibt, welches über verschiedenartige Mechanismen erreicht werden kann. Bei der Zuweisung der sozialen Sicherheit als Teilbereich des Sozialrechts wird aktuell eher diese weitere Fassung

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Kapitel I: Einführung

gemeint sein. Dazu gehört über den engeren Begriffsbereich hinaus die kollektivvertragliche Sicherung des Risikos Arbeitslosigkeit wie die analogen Zusatzrentensysteme. Des weiteren ist die die Arbeitslosenversicherung ergänzende ,aide public' wie die ,aide sociale', die Sozialhilfe, dazuzurechnen. Schon mit den möglichen Ausdehnungen der letzteren erweisen sich die Grenzen dieses weiten Bereichs als nur schwer endgültig bestimmbar. 4.5. Belgien Die Begriffsfassungen in Belgien stimmen weitgehend mit denen in Frankreich überein, was schon durch die häufigen Verweise auf die französische Literatur sichtbar wird. Arbeitsrecht und soziale Sicherheit werden unter dem Namen ,droit social' zusammengefaßtl28 • Dieses Sozialrecht wird qualifiziert als ,branche autonome', welche nicht voll in die übliche Einteilung von Privatrecht und öffentlichem Recht paßt. Verbindendes Element ihrer Teilbereiche ist das gleichartige Ziel des Schutzes einzelner Gruppen oder Individuen. Bisweilen wird für das gesamte Sozialrecht die Beschränkung auf die abhängigen Arbeitnehmer ausdrücklich abgelehnt und gar von einem ,droit social du travail independent' gesprochen, das neben dem ,droit social du travail dependent' steht, wobei beide zusammen das ,droit social general' ausmachen l29 • Ähnlich wie in Frankreich hat sich auch hier gleich nach dem Kriege die Wendung ,securite sociale' als gesetzlicher Begriff eingeführt130 • Heute werden ausdrücklich zwei abweichende Konzeptionen unterschieden, eine weitere und eine engere131 • Die weitere orientiert sich an der Zielvorstellung von sozialer Sicherheit und umfaßt nicht nur den Schutz gegen die klassischen Risiken, sondern auch Maßnahmen auf dem Sektor der Gesundheitspolitik und Bestrebungen, die im weitesten Sinne ein Einkommen garantieren sollen. Die engere Konzeption ist stärker an den Techniken der Sozialversicherung ausgerichtet und betrifft den Schutz in den klassischen Risikofällen. Wegen Besonderheiten des positiven Rechts ist die Zuordnung der Garantie von bezahltem Urlaub zur sozialen Sicherheit möglich132 • Wie beim Sozialrecht kann auch hier zwischen einer ,securite sociale des travailleurs salaries' und einer ,securite sociale des travailleurs independants' unter128 129

S. 8 f. 130 131 132

Vgl. Orianne (And.); Stroobant (And.), S. 4. So Berger(And.), bes. S. 16 ff./235 ff.; sowie ebd., im Vorwort, Orianne, Vgl. Denis (And.), S. 02 - 11. Vgl. ebd., S. 03 - 1 ff. Ebd., S. 02-12: Stroobant (And.), S. 5.

4. Grobübersicht über den Begriffsgebrauch

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schieden werden, Bereichen, die sich auch in ihrer rechtlichen Normierung stark unterscheiden 133 • 4.6. Italien Der Terminus ,diritto sociale' ist als eigenständiger juristischer Begriff weithin unbekannt. Das rechtswissenschaftliche Wörterbuch, das darauf verweist, setzt ihn in Beziehung mit Art. 1 der Verfassung, welcher die italienische Republik als "fondata sul lavoro" kennzeichnet; ,diritto sociale' steht somit für ein Konzept der Solidarität aller Menschen im Staat 134 • Die in den anderen Ländern mit Sozialrecht oder sozialer Sicherheit bezeichneten Rechtsgebiete sind zum größten Teil im Rahmen der Disziplin des ,diritto deI lavoro' zu suchen135 • übereinstimmend wird diesem Arbeitsrecht ein sehr weiter Bereich zugewiesen, vergleichbar der in Frankreich und Deutschland vertretenen Konzeption zwischen den beiden Weltkriegen. Zum ,diritto deI lavoro' gehört nicht nur das individuelle und kollektive Arbeitsrecht wie der öffentlichrechtliche Arbeitsschutz, sondern auch der Bereich der ,previdenza sociale', d. h. der Sozialversicherungl36 • Nicht oder nur ganz am Rande miterfaßt wird das Recht der öffentlichen Fürsorge. Für einen Teilbereich dieses Arbeitsrechts findet sich bisweilen der Name ,legislatione sociale'137. Damit wird der Inbegriff der öffentlichrechtlichen Normen des Arbeitsrechts bezeichnet, also sowohl das Arbeitsschutzrecht als auch die Sozialversicherung. Verbreiteter jedoch ist der Begriff der ,previdenza sociale', welcher ein engeres Gebiet ausgrenzt138 • Sein Kernbereich bildet die auf die abhängigen Arbeitnehmer ausgerichtete Sozialversicherung, doch auch ihre neueren, über den ursprünglichen Adressatenkreis hinausweisenden Institutionen bleiben darin integriert. Die Zuweisung der für die unabhängigen Arbeitnehmer neugeschaffenen Vorsorgeinstitutionen fällt dadurch leicht, daß auch diese Personen als ,lavoratore' bezeichnet werden können, aber auch das der Sozialversicherung angegliederte Mindestrentensystem gehört dazu. Trotzdem wird die ,previdenza sociale' übereinstimmend als Teilbereich des Arbeitsrechts gesehen, obwohl sie zu einem Teil von darauf spezialisierten Arbeitsrechtslehrern betreut wird . So Berger (And.), bes. S. 49 ff.; vgl. auch Stroobant (And.), S. 5. Palerrno (And.), S. 431 ff. 135 Vgl. Simons (And.), S. 351. 136 Riva-Sanseverino·(And.), S. 1 f.; Simons (And.), S. 351 f. 137 Levi Sandri (And.), S. 3 ff. ;Riva-Sanseverino (And.), S. 3. 138 Levi Sandri (And.), S. 201 ff.; Persiani (And.), S. 43 ff.; Riva-SanseverinD (And.), S. 3; Simons (And.), S. 350 f. . 133 134

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Kapitel I: Einführung

Praktisch völlig unabhängig vom Arbeitsrecht, der Sozial gesetzgebung und der sozialen Vorsorge steht die ,assistenza sociale', die Fürsorge, welche schon vom Ansatz her nicht auf die Arbeitnehmer beschränkt, sondern auf die gesamte Bevölkerung ausgerichtet ist139 • Obwohl sie eigentlich dem Verwaltungs recht zugehört, bleibt sie auch dort am Rande und erscheint zumindest rechtswissenschaftlich isoliert und nur unvollständig bearbeitet. Das gesamte überkommene Begriffssystem gerät dadurch immer stärker ins Wanken, daß in neuerer Zeit von der Sozialpolitik her der Begriff der ,sicurezza sociale' in die Diskussion Eingang gefunden hat140• Deren Konturen sind aber nicht endgültig gefaßt, wie auch die juristische Prägung eines ,diritto della sicurezza sociale' fehlt. Die Tendenz läuft in einem ersten Schritt eindeutig dahin, mit dieser sozialen Sicherheit die bisher getrennten Gebiete der ,pevidenza' und der ,assistenza' zusammenzufassen, war aber nicht bloß in additiver Form geschieht, sondern in Reflexion des Hintergrunds der allgemeinen konzeptionellen wie inhaltlichen Reform des italienischen Sozialleistungssystems. Die in Bewegung geratene regionalisierte Fürsorge, der neugeschaffene nationale Gesundheitsdienst wie die Verstärkung von Basiselementen in der Sozialversicherung tendieren auf eine begriffliche Neuorientierung. Es bleibt aber noch abzuwarten, ob die ,sicurezza sociale' einen neuen, selbständigen juristischen Sachbereich bilden kann, in welchem die ,previdenza sociale' nur noch einen Teil betrifft, den mit dem Arbeitsrecht besonders verbundenen Bereich der Einkommenssicherung. 4.7. Großbritannien Die Suche nach sozialrechtlichen Begriffen sieht sich hier relativ ausgeprägt der Schwierigkeit gegenüber, daß wegen der pragmatischen Ausrichtung der Rechtswissenschaft derartige Fragestellungen auf kein besonderes Interesse stoßen!