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MAX - PLAN C Κ - I N STITUT FÜR AUSLÄNDISCHES U N D INTERNATIONALES SOZIALRECHT
Ein Jahrhundert Sozialversicherung
Schriftenreihe für Internationales und Vergleichendes Sozialrecht Herausgegeben von H a n s F. Z a c h e r , München
Band 6
Ein Jahrhundert Sozialversicherung in der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Österreich und der Schweiz
Herausgegeben von
Peter A. Köhler und Hans F. Zacher
D U N C K E R
&
H U M B L O T /
B E R L I N
Redaktion: Peter Α. Köhler
Alle Hechte vorbehalten © 1981 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1981 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3 428 04882 2
Vorwort Der vorliegende Band stellt das Ergebnis der zweiten Stufe des dreistufigen Forschungsvorhabens „Ein Jahrhundert Sozialversicherung — Bismarcks Sozialgesetzgebung i m europäischen Vergleich" dar, das i n der Einleitung zu dem Band 3 der Schriftenreihe für Internationales und Vergleichendes Sozialrecht „Bedingungen für die Entstehung und Entwicklung von Sozialversicherung" (1979) näher dargestellt ist. Die erste Stufe war das internationale und interdisziplinäre Colloquium über „Bedingungen für die Entstehung und Entwicklung von Sozialversicherung", das 1978 i n Tutzing stattgefunden hat, und über das der zitierte Band berichtet. Die zweite Stufe sind die hier wiedergegebenen Landesberichte über die Entwicklung der Sozialversicherung von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart in Frankreich, Großbritannien, Österreich, der Schweiz und Deutschland (dem Deutschen Reich/der Bundesrepublik Deutschland). Die dritte Stufe w i r d ein zweites internationales und interdisziplinäres Colloquium sein, das sich 1981 m i t der Entwicklung, der Lage und der Zukunft der Sozialversicherung befassen soll. Die m i t diesem Band vorgelegten Landesberichte sollen — zusammen m i t dem eingangs zitierten Bericht über das Colloquium von 1978 — eine wesentliche Grundlage des bevorstehenden Colloquiums sein. Die Herausgeber haben den Autoren der Landesberichte zu danken, welche diese Berichte i n zwei eingehenden Diskussionen m i t den Herausgebern vorbereitet haben. Sie haben aber auch der Thyssen-Stiftung und der Max-Planck-Gesellschaft zu danken, welche die bisherigen Forschungsarbeiten finanziell getragen haben. München, i m Dezember 1980 Peter A. Köhler
Hans F. Zacher
Inhaltsverzeichnis
Erster T e i l Einführung Peter A. Köhler
und Hans F. Zacher:
Sozialversicherung: Pfade der Entwicklung'
9
Zweiter T e i l Landesberichte Detlev
Zöllner:
Landesbericht Yves
Deutschland
45
Saint-Jours:
Landesbericht Frankreich Anthony
181
I. Ogus:
Landesbericht Großbritannien Herbert
269
Hofmeister:
Landesbericht Österreich Alfred
445
Maurer:
Landesbericht Schweiz
731
Anhang Namenverzeichnis (Auswahl)
837
Systematisches Stichwortverzeichnis
838
Dieses Buch hat eine doppelte Paginierung. Die äußeren Seitenzahlen gelten für den Band, die inneren Seitenzahlen f ü r die einzelnen Beiträge. Bei Verweisungen sind stets die Seiten des Sammelbandes angegeben.
ERSTER T E I L
Einführung Von
Peter A. Köhler und Hans F. Zacher
Inhaltsübersicht
I. Der Ort der Landesberichte i m Konzept des Forschungsvorhabens „ E i n Jahrhundert Sozialversicherung" I I . Die Wechselbeziehung zwischen sozialer Problemstellung Sozialversicherung als möglicher staatlicher A n t w o r t 1. Vergleichbare Reaktionen
Ausgangssituation:
Verschiedene
und
staatliche
2. Soziale Sicherung als „öffentliches G u t "
5
13
6
14
8
IG
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10
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b) Die unterschiedliche Rezeption des i n Deutschland durchgeführten „ W i e " staatlicher Intervention 11
19
c) Fernwirkungen der unterschiedlichen Grundentscheidungen über „ O b " u n d „ W i e " staatlicher Intervention 15
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I I I . Unterschiedliche soziale Risiken bewirken unterschiedliche staatliche Reaktion 19
27
a) Das Erfordernis staatlicher Intervention
1. Das „erste" soziale Risiko: Der Arbeitsunfall
19
27
2. K r a n k h e i t als „soziales" Risiko
21
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3. Unversorgtes A l t e r als „neues" soziales Risiko
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4. Die Ausweitung auf das soziale Risiko der Arbeitslosigkeit ..
27
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30
38
IV. Die Expansion des Systems der Sozialversicherung V. Sozialversicherung — soziale Sicherung — soziale Förderung ...
Sozialversicherung: Pfade der Entwicklung I. Der Ort der Landesberichte im Konzept des Forschungsvorhabens „Ein Jahrhundert Sozialversicherung" Vor einem Jahrhundert nahm die Sozialpolitik durch die Entwicklung, Realisierung und Ausbreitung des Modells „Sozialversicherung" neue, moderne Züge an. Seither wurde Sozialpolitik i n der Welt selbstverständlich. Die noch eher exzeptionelle Korrektur sozialer Mißverhältnisse durch die Sozialversicherung vor einem Jahrhundert wurde durch umfassende Konzepte differenzierter sozialer Sicherung abgelöst. Gleichwohl ist das spezifische Instrument der Sozialversicherung i n der Welt immer noch ein wichtiger Bestandteil der Politik der sozialen Sicherung. Gleichwohl auch w i r d dieses Instrument immer wieder erneut herangezogen — sei es i n Entwicklungsländern, sei es in entwickelten Ländern dort, wo andere Methoden sozialer Sicherung der Reform oder der Ergänzung zu bedürfen scheinen. So regte die Jahrhundertfeier der Kaiserlichen Botschaft, mit der am 17. November 1881 die Sozialversicherungsgesetzgebung des Deutschen Reiches eingeleitet wurde, dazu an, der Entwicklung der Sozialversicherung nachzugehen, um ihre Geschichte und ihre Gegenwart besser verstehen und bewerten zu können, aber auch, um daraus Lehren für die Zukunft zu ziehen. Dies ist der Sinn des Forschungsvorhabens „ E i n Jahrhundert Sozialversicherung — Bismarcks Sozialgesetzgebung im europäischen Vergleich" 1 , i n dessen Rahmen auch die i n diesem Band vorgelegten Landesberichte zu sehen sind. Nun unterlag aber schon bei der Konzeption dieses Forschungsvorhabens niemand der Illusion, gleichsam auf Anhieb Fragen lösen zu können, die im Grunde ebenso lang i n der wissenschaftlichen Diskussion stehen, wie der säkulare Anlaß des Forschungsprojekts selbst. Deshalb wurde ein dreistufiges Vorgehen geplant. Die differenzierteren Detailergebnisse der verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und die Erfahrungen und Standpunkte verschiedener Länder sollten Schritt für Schritt aufbereitet und aufeinander zugeführt werden, um am Ende 1 Z u r Konzeption dieses Forschungsvorhabens s. Hans F. Zacher, Einleitung zu Bd. 3 der Schriftenreihe f ü r Internationales u n d Vergleichendes Sozialrecht: Bedingungen f ü r die Entstehung u n d E n t w i c k l u n g von Sozialversicherung (hrsg. v. Hans F. Zacher), B e r l i n 1979, S. 7 ff.
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Sozialersicherung: Pfade der Entwicklung
einer Erklärung der historischen Entwicklung und der gegenwärtigen internationalen Funktion des Phänomens „Sozialversicherung" immerhin näher zu kommen 2 . Nach dem „ A u f t a k t " einer bewußt möglichst vielfältig angelegten „Stoffsammlung" und „StoffSichtung" durch Vertreter verschiedener Disziplinen i n dem Colloquium über „Bedingungen für die Entstehung und Entwicklung von Sozialversicherung" 3 , das 1978 i n Tutzing stattfand, sollten die aus nationaler Sicht von Juristen und einem i n der Sozialrechtspolitik hocherfahrenen Ökonomen erstellten Berichte über die Entwicklung der Sozialversicherung i n fünf als repräsentativ ausgewählten Länder eine festere Basis für eine komparative Betrachtung der Entwicklung schaffen. Diese Berichte werden m i t diesem Band vorgelegt. M i t den darin enthaltenen Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten der nationalen Entwicklungen sind sie eine Bestätigung des Hauptergebnisses des Colloquiums 1978. Sie belegen nicht nur die Bedeutung nationaler Geschichtsverläufe für die jeweiligen Verläufe auch des Weges zur Sozialversicherung, sondern zugleich die Kraft dieser Idee, sich bei aller Anpassung an nationale Spezifika trotz dieser Verschiedenheiten i m Kern durchzusetzen4. Die Diskussion und Ergänzung dieser Berichte i n einem zweiten — weiter gespannten — internationalen und interdisziplinären Colloquium i n Berlin vom 16. bis zum 20. November 1981 w i r d als dritte Stufe das Gesamtvorhaben vorerst abschließen. Doch bleibt es die Hoffnung der Beteiligten, daß diese Arbeiten weitere Studien sowohl anregen, als auch erleichtern. I I . Die Wechselbeziehung zwischen sozialer Problemstellung und Sozialversicherung als möglicher staatlicher Antwort Den fünf Landesberichten, i m Zusammenhang gelesen, kann ein wohl allgemein gültiges gemeinsames Ergebnis bescheinigt werden: so sehr sich nämlich die Details unterscheiden und so sehr dies ohne Zweifel Anlaß zu mannigfaltiger historischer und juristischer Interpretation ist, so bestätigen die fünf Studien doch die Vermutung, daß zu dem Zeitpunkt, als Bismarck i n Deutschland die erste Sozialgesetzgebung auf den Weg brachte, die ökonomische, soziale und politische Ambiance i n 2
Hans F. Zacher, ebd., S. 14. Referate u n d Diskussionen dieses Colloquiums sind i m genannten Bd. 3 der Schriftenreihe inzwischen veröffentlicht. 4 s. u. S. 45 ff. 3
Soziales Problem — Möglichkeiten staatlicher A n t w o r t
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allen Ländern tendenziell gleichartig war 5 . Diese m i t Schlagworten wie „industrielle Revolution", „Durchsetzung der kapitalistischen Wirtschaftsform", „Urbanisierung", oder — höchst abstrakt — „Modernisierung" immer nur i n Ausschnitten getroffene Ambiance darf zu Recht als eine alle Bereiche des menschlichen Lebens erfassende Umbruchszeit bezeichnet werden 6 . Eine der Konsequenzen dieses gesamteuropäischen Phänomens, von dem kein Land unberührt blieb, war die Herausbildung von vielfältigen und konturschwachen Lebensumständen wie Krankheit, Invalidität, Alter und dergleichen zum typischen „sozialen Risiko". Die neuen Formen des Erwerbslebens, die neue Gestalt der Familie, auch die neuen Möglichkeiten, Krankheit zu behandeln, schließlich das Bedürfnis, Hilfen verläßlich bereitzustellen, wie es das Muster der Privatversicherung „vorgelebt" hatte, — all dies ließ ein Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen der Regel eigener Lebensverantwortung und der Ausnahme von „Risiken" faßbar werden, die i n der Sorge der Gesellschaft stehen, also „soziale Risiken" sind und vom Recht als solche typisiert und m i t Maßnahmen der Vorsorge und der Abhilfe verknüpft werden. I n Sonderheit die „Arbeiterfrage", welche die „soziale Frage" der Zeit war, nahm zwei Gestalten an: das Problem der Arbeit, der Arbeitsbedingungen und des Arbeitslohnes und das Problem des Defizits an Arbeitskraft, Arbeit und Arbeitslohn. Und dieses zweite Problem kristallisierte sich i n Gestalt der „sozialen Risiken". Da diese tiefgreifende Erschütterung hergebrachter Lebensweisen eben nicht nur einzelne, sondern zusammen m i t dem rasanten Fortschreiten technischer und wirtschaftlicher Innovation, m i t Geburtenexplosion und Proletarisierung immer weitere Kreise der Bevölkerung betraf, und schließlich m i t dem ebenso schnell entstehenden neuen Bedarf der sich entwickelnden Industriestaaten an neuer gesellschaftlicher Stabilität als Erschütterung auch der Gesellschaft und damit des Staatswesens erkannt wurde, gewann i n allen Ländern die „soziale Frage" den über das nur soziale Problem hinausgreifenden Charakter einer Herausforderung an den Staat, eine über kurzfristige Nothilfen hinausgehende Lösung i n Angriff zu nehmen. Darin steckte ein Wandel des Staatsverständnisses. Der Sozialstaat war längst geboren, ehe er diesen Namen bekam. A m Ende haben diese Veränderungen überall dazu geführt, das Ziel sozialer Stabilität über die Schaffung von Vorkehrungen zur Entschärfung der „sozialen Risiken" anzugehen und dies als Staatsaufgabe, als Bereitstellung eines „öffentlichen Gutes", zu 5
s. Zacher (Anm. 1), S. 10. s. ζ. B. die Beiträge von W o l f r a m Fischer u n d Erich Gruner i n Bd. 3 der Schriftenreihe für Internationales u n d Vergleichendes Sozialrecht (Anm. 1), S. 91 ff. u. S. 103 ff. 6
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Sozialersicherung: Pfade der Entwicklung
akzeptieren. I n allen fünf Ländern wurde dabei Sozialversicherung als wichtiges Institut erkannt und eingesetzt 7 . Der Schutz, den sie gegen die „sozialen Gefahren" zu bieten vermochte, führte im Laufe der Zeit zu dem allgemeineren, weiteren Konzept der sozialen Sicherheit. 1. Vergleichbare Ausgangssituation: Verschiedene staatliche Reaktionen
I n allen fünf Ländern, über die hier berichtet wird, bestanden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sehr ähnliche Kombinationen sehr ähnlicher sozialer, rechtlicher und politischer Probleme, die insgesamt die Einführung von Sozialversicherung erforderlich machten, bei der konkreten Einführung der Sozialversicherung aber doch zu national sehr unterschiedlichen Zeitpunkten und in sehr unterschiedlicher Reihenfolge führten. Es dauerte i n allen Ländern lange, bis man die gesellschaftliche, ja massenhafte Erscheinung und die typische, allgemeine, breite Wirkung der immer noch als individuell und familiär verstandenen Einbrüche i n den sozialen Biographien der vielen Einzelnen wie Unfall, Krankheit, Invalidität, Alter usw. erkannte, und noch länger, bis man die soziale Bedingtheit ihrer neuen Gestalt und Bedeutung akzeptierte. Erst nach diesem schwierigen Prozeß konnte die Notwendigkeit kollektiver Modelle der Sicherung — der typisierenden Selektion und Abgrenzung der sozialen Risiken, der Leistungen, ihnen zu begegnen, und der Regeln und Institutionen, gegen sie vorzukehren, — wahrgenommen und damit für das Rechtsbewußtsein der Zeitgenossen überhaupt erst erträglich werden. Während ferner die staatliche Intervention zur Garantie staatlicher Stabilität längst akzeptiert war, bedurfte die Intervention zugunsten gesellschaftlicher Stabilität erst einer zusätzlichen Legitimation. Und diese Prozesse verliefen nicht einheitlich — nicht nach ein und demselben Muster für alle Risiken und für alle Schritte. I n diesen Unterschieden des Verlaufs machte sich die Masse der unterschiedlichen Bedingungen geltend. Die Rolle, welche die Sozialversicherung jeweils spielen sollte und heute i n den zum Vergleich stehenden Ländern spielt, scheint so ein Ergebnis des Stroms der Wechselwirkungen zu sein, die sich im Rahmen unterschiedlichster politischer, rechtlicher, ökonomischer, sozialer und sonstiger gesellschaftlicher Bedingungen zwischen — dem Prozeß, die sozialen Konsequenzen der Modernisierung als neues, lösungsbedürftiges und lösungsfähiges soziales Problem zu erkennen, 7 Z u r Entstehung u n d Ausformung des Begriffs „Sozialrecht", s. Felix Schmid, Sozialrecht u n d Recht der Sozialen Sicherheit. Die Begriffsbildung i n Deutschland, Frankreich u n d der Schweiz, Bd. 5 der Schriftenreihe für I n t e r nationales und Vergleichendes Sozialrecht, B e r l i n 1981.
Soziales Problem — Möglichkeiten staatlicher A n t w o r t
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— der m i t unterschiedlicher Entschlossenheit deshalb an den Staat gestellten Forderung, sozial zu intervenieren, und der Bereitschaft des Gemeinwesens, diese Forderung als legitim und sinnvoll anzunehmen, — und den unterschiedlichen Schritten, die von dieser Intervention schließlich getan worden sind, vollzogen. 2. Soziale Sicherung als „öffentliches Gut"
Die Legitimation sozialer Sicherung durch staatliche Intervention stellt i n den Kategorien heutigen wirtschaftswissenschaftlichen Denkens die Anerkennung eines „öffentlichen Gutes" dar. Bei einem „öffentlichen Gut" handelt es sich um ein Gut, „ . . .which has the property of non-appropriability (i. e. non excludability, because i t cannot be w i t h held from those, who do not contribute) and indivisibility (i. e. jointness of supply, since consumption by one person does not reduce the amount available to anyone else)" 8 . Wenn danach als „öffentliches Gut" ein solches verstanden werden soll, von dem ein einzelner nicht ausgeschlossen werden kann, und wenn es dazu noch i n dem Sinn unteilbar ist, daß es stets allen zugute kommt, so kann Sozialversicherung als ein System, zu gesamtgesellschaftlichen Risiken gewandelte Einzelrisiken auf öffentlich-kollektiver Ebene aufzufangen, als „öffentliches Gut" gelten. Dies hilft, die Schwierigkeiten zu erklären, die i n allen fünf Ländern bei der Entstehung und Entwicklung von Sozialversicherung zu überwinden waren und i n ständiger Abwandlung stets neu zu überwinden sind. Schon aus der Definition „öffentliches Gut" folgt ja die Frage, wie denn einerseits der natürlichen Neigung des einzelnen begegnet werden kann, ohne eigene Leistung gleichwohl vom angebotenen Vorteil i m Übermaß zu profitieren, und wie andererseits jeder einzelne davon überzeugt werden kann, daß seine Einzelleistung dennoch notwendig ist, obwohl doch offenbar ist, daß der vom „öffentlichen Gut" per definitionem erhoffte Effekt nur aus einer kollektiven Gesamtleistung entstehen kann. „Öffentliche Güter" bedingen so den Einsatz verbindlicher Regelung — konkret: des Rechts. Die Frage, ob der Staat aktiv werden soll, ist also nicht zu trennen von dem Problem, wie diese staatliche Intervention zu gestalten sei. 8 s. ζ. B. John A. C. Conybeare, International Organization and the Theory of Property Rights, i n : International Organization, Vol. 34, Nr. 3, Sommer 1980, S. 327. Z u r Theorie der öffentlichen Güter i m K o n t e x t der sozialpolitischen Diskussion, s. neuerdings: Die Rolle des Beitrags i n der sozialen Sicherung, Bd. 4 der Schriftenreihe für Internationales u n d Vergleichendes Sozialrecht (Hrsg. Hans F. Zacher), B e r l i n 1981, insbes. die Diskussion nach dem Referat von Hedtkamp, S. 453 ff.
2 Sozialversicherung
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a) Das Erfordernis
staatlicher
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Intervention
Alle Landesberichte bestätigen dazu die Existenz dessen, was gemeinhin als „das Zeitalter des Liberalismus" bezeichnet wird. Der L i beralismus und die damit verbundene Ideologie eines forcierten Individualismus lieferten den Gegnern staatlicher Intervention allgemein — und natürlich besonders den Gegnern staatlicher Eingriffe i n individuelle Freiräume des sozialen Bereichs — die politischen Hauptargumente 9 . Für den liberalen europäischen „Zeitgeist" spricht die anhaltende Wirkung dieser Argumente und die auffallende Beobachtung, daß der sich darauf stützende Widerstand nicht allein von den typisch „liberalistischen" Gruppen schlechthin kam, also von bürgerlichen Unternehmern und Kapitaleignern, sondern in allen Klassen verbreitet war. Dies zeigt die hartnäckige Verteidigung von i m Grunde ja ebenfalls individualistischen Selbsthilfeeinrichtungen: der Mutualités i n Frankreich, der Friendly Societies i n England und der frühen Hilfskassen i n Deutschland, Österreich und der Schweiz. Dies zeigt sich an dem Bild, das für die preußisch-deutsche Beamtenschaft u m 1880 ebenso wie für die österreichische Administration gezeichnet w i r d 1 0 : für beide gilt die Dominanz eines liberalen Verständnisses der Staatsaufgaben, was überall auf den Grundsatz möglichster Minimierung staatlicher Intervention i n gesellschaftliche Verhältnisse hinauslief, besonders freilich dann, wenn es sich um Intervention zugunsten der Opfer der Modernisierung handelte. Der Schluß ist erlaubt, daß der liberale „Zeitgeist" zwar Motor der Modernisierung und insbesondere der Industrialisierung war, daß er aber dort dem Einsetzen staatlicher Intervention hindernd i m Wege stand, wo diese sich als eine A n t w o r t auf die m i t den an sich erwünschten Innovationen unvermeidlich aufkommenden sozialen Probleme verstand 11 . I n allen Ländern ging deshalb die Auseinandersetzung vorab um die Grundsatzfrage, ob soziale Sicherung des einzelnen i n der Gesellschaft überhaupt als staatliche Aufgabe gefaßt werden könne, und ob dies auch staatliche Intervention legitimiere. Nirgends waren freilich liberale Bedenken stark genug, den Beginn sozialpolitisch intendierter Gesetzgebung gänzlich zu verhindern, doch ebensowenig fand diese tatsächlich die Grundsätze des Staatsverständnisses berührende Frage eine dieser Bedeutung entsprechende konsequente A n t w o r t i n der politisch-gesetzgeberischen Praxis. Und nirgends 9 s. exemplarisch die Beiträge von Saint-Jours, Ogus u n d Hofmeister, S. 181 ff., S. 269 ff., S. 445 ff. 10 s. die Beiträge v o n Zöllner, S. 83 ff. u n d Hofmeister, S. 474 ff. 11 Gegen Interventionen des Staates i n Form z. B. der Subvention v o n technisch/wirtschaftlicher Innovation hatte man gemeinhin nichts einzuwenden; s. m. ausf. Nachw. der „ B r ü n n - S t u d i e " : Peter A . Köhler, Entstehung von Sozialversicherung. E i n Zwischenbericht, i n : „Bedingungen f ü r die E n t stehung u n d E n t w i c k l u n g von Sozialversicherung" (Anm. 1), S. 75 ff.
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war es der Liberalismus allein, der dafür verantwortlich war. I n keinem der Länder waren die politischen Gegenströme zum Liberalismus — i m wesentlichen also Arbeiterbewegung, Sozialisten, Kirchen und Konservative — willens oder gar einflußreich genug, entweder die politischen Impulse zur Durchsetzung wirksamer Sozialgesetzgebung zu geben, oder deren dennoch vom Staat schrittweise i n Angriff genommene Einführung entscheidend zu hindern. Signifikant dafür ist das Beispiel Deutschlands und der Schweiz. Scheiterte i n der Schweiz die Initiative des Arbeiterbundes, eine unentgeltliche Krankenversicherung für die gesamte Bevölkerung einzuführen, fast zum gleichen Zeitpunkt, als 1900 gegen den berühmten Vorstoß des Bundesrats Forrer m i t Erfolg das Referendum ergriffen wurde 1 2 , so brachte i n Deutschland zwar Bismarck die historisch ersten Sozialversicherungsgesetze auf den Weg. Doch war selbst er dabei gleichfalls zu erheblichen Zugeständnissen gezwungen und statt der schnellen Verwirklichung eines umfassenden Konzepts mußte er wegen der Opposition „zahlreicher Gesellschaftskreise" einräumen, daß „das Gebiet der sozialen R e f o r m . . . schrittweise nach und nach betreten werden (muß)" 1 3 . b) Die unterschiedliche Rezeption des in Deutschland durchgeführten „Wie" staatlicher Intervention I m Ergebnis aber kam man i n allen Ländern — auch i n England und Frankreich, wo Individualismus und bürgerliches Rechtsverständnis wohl am tiefsten verwurzelt waren 1 4 — i n etwa gleichzeitig dazu, die generelle Notwendigkeit staatlicher Intervention i m sozialen Bereich mehr oder weniger „schweren Herzens" zu akzeptieren. Ist es danach möglich, für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts — die Zeit also der ersten deutschen Sozialversicherungsgesetze — zu konstatieren, daß i n den wichtigsten Ländern Europas die Einsicht dafür vorhanden war, daß die Sicherung sozialer Stabilität nur über ein Engagement des Gesetzgebers geschaffen werden könne, so erhebt sich die Frage, wie die erste aus dieser Einsicht fließende gesetzgeberische Tat, nämlich die deutsche Sozialversicherungsgesetzgebung der achtziger Jahre, auf die anderen Länder wirkte. Die Frage w i r d i n allen Landesberichten erörtert 1 5 : das doppelte Beispiel wirkte sehr verschieden. Dabei w i r d deutlich, daß das deutsche Beispiel nicht zuletzt deshalb eine unterschiedliche Wirkung hatte, weil man auch bei den Nachbarn i n Europa ja die grundsätzliche Notwendigkeit staatlicher A k t i v i t ä t 12
s. den Beitrag von Maurer, S. 783. s. den Beitrag von Zöllner, S. 91. 14 Dies zeigen die Beiträge von Saint-Jours u n d Ogus an vielen Stellen. 15 s. f ü r Frankreich, S. 189, Großbritannien, S. 313 ff., Österreich, S. 528 ff. u n d die Schweiz, S. 775 ff. 13
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eingesehen hatte. N u n bestand aber erstmals die Möglichkeit, anhand anderswo erlebter Praxis das „Wie" staatlicher Interventionen i m sozialen Bereich zu diskutieren. Und die Argumente i n den Ländern, die das deutsche Modell ursprünglich als nicht transponierbar ansahen, betrafen i m Kern auch nicht das Faktum staatlicher A k t i o n schlechthin, sondern deren A r t und Weise, m. a. W. die Errichtung von Sozialversicherung als staatliches Instrument, das „öffentliche Gut" sozialer Stabilität durch soziale Sicherheit zu schaffen. I n allen Ländern war die wirtschaftliche, rechtliche und administrative Situation an einem Punkt angelangt, wo die moderne Idee der Versicherung zu einem Instrument wirksamer Vorsorge i n allen ökonomischen Bereichen werden konnte und tatsächlich auch zu vielfacher praktischer Anwendung kam. Zugleich wurde zwar sichtbar, daß eine streng privatrechtlich verstandene, unternehmerisch oder freiwillig-genossenschaftlich konzipierte Versicherung dieser neuen Herausforderung nicht gewachsen schien. Gleichwohl führte diese Erfahrung von These (Versicherung) und A n t i these (Grenzen der Versicherung) nicht schlechthin zur Synthese von Sozialversicherung. Parallel der historischen Wirkung des Liberalismus bereiteten vielmehr die Fortschritte privatrechtlicher Versicherungstechniken zwar den Boden dafür, daß Sozial-Versicherung überhaupt machbar wurde, hinderten aber gleichzeitig den für diese erforderlichen Wandel, zu einem öffentlich-rechtlichen staatlich-instrumentalen Verständnis von Versicherung zu kommen. Haupthindernis, dem deutschen Beispiel zu folgen, waren wohl die beiden Aspekte von Sozialversicherung, die i n Deutschland und Österreich zu ihrer Durchsetzung führten: die darin enthaltene Idee, alle M i t glieder einer sozialpolitisch ins Auge gefaßten sozialen Gruppe auch auf die Gefahr h i n zu erfassen, daß einzelne auf diese Weise ohne oder ohne ausreichende Vorleistung i n den Schutz der Versicherung gelangen (in der Terminologie der Theorie der „öffentlichen Güter" das „free-rider-problem") 1 6 ; und die Idee, dies m i t dem Zwang des (öffentlichen) Rechts zu bewirken (das i n der Terminologie der Sozialversicherung „Obligatorium" genannte „forced-rider"-Problem der „öffentlichen Güter") 1 7 . Schon i n der deutschen K r i t i k der Sozialversicherung vermischen sich beide Probleme. Das bedingte nicht zuletzt die Gestaltwerdung der Sozialversicherung; verkürzter Reichszuschuß und spezifische „genossenschaftliche" Organisationsform der Selbstverwaltung der Sozialversicherung sind auch Folge der Argumente, trotz Anerkennung der sozialen Sicherung als öffentlicher Aufgabe immer wieder auf die „Betroffe16 17
s. oben S. 17. s. oben S. 17, Anm. 8.
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nen", auf die „Verursacher von Risiken" und auf die „Eigenverantwortung der Versicherten" zu rekurrieren 1 8 . Aber die Überzeugung, daß all dies nur über den Staat i n jeder Hinsicht effektiv gewährleistet werden kann, lassen das „Obligatorium", die Versicherungspflicht, die öffentlich-rechtliche Organisation und die staatliche Verantwortung für das System bald einhellige Meinung sein. Inhaltlich ähnlich verlief die Diskussion i n Österreich. Die Gestaltung der Beitragslast nahm auf das „free-rider-Problem" Rücksicht, indem „moralisch" argumentiert w u r de 19 . Finanzielles Engagement des Staates wurde als „communistische Maßregel" bekämpft 2 0 . Und bei der Errichtung territorial gegliederter Träger m i t Selbstverwaltung taucht der Rekurs auf die bewährten Modelle der Privatversicherung ebenso auf, wie die Hoffnung auf Bewältigung des „free-rider-Problems" 2 1 durch Selbstkontrolle der Versicherten. Früher als i n Deutschland fand i n Österreich die sozialpolitisch notwendige Konsequenz, Sozialversicherung mittels Versicherungspflicht durchzusetzen, sogar die Unterstützung der Liberalen. Andererseits führte die gleiche Mischung von Argumenten, Erfahrungen und Befürchtungen i n der Schweiz zu einem ganz besonders gearteten Mittelweg 2 2 : vor dem Hintergrund einer relativ weit ausgebauten Privatversicherung war es vor allem die Aversion gegen das Obligatorium, welche die „lex Forrer" als Konzeption einer umfassenden Sozialversicherung scheitern ließ und dort, wo man zunächst obligatorische staatliche Versicherungsanstalten akzeptierte — also bei der Unfall- und Militärversicherung —, waren dies Teilbereiche, i n denen sich die Bedenken gegen den „forced rider" von der Natur der Sache her nicht eigentlich stellten. Das nach zähem Ringen 1911 zustande gekommene Bundesgesetz über die Kranken- und Unfallversicherung stellt tatsächlich einen i n der Schweiz grundsätzlich noch heute geltenden „doppelten Kompromiß" 2 3 dar, i n dem über eine staatliche Förderung der Krankenkassen dort das Obligatorium zwar vermieden werden konnte, über die Spezifika dieser Förderung aber vom Staat die Voraussetzungen geschaffen wurden, sowohl eine umfassende Krankenversicherung entstehen zu lassen, wie auch indirekt dem Phänomen des ungeliebten „free rider" gegensteuern zu können. Bei der dem deutschen Vorbild entsprechenden Einführung des Obligatoriums bei der Unfallversicherung handelte es sich demgegenüber vor allem u m die konsequente Fortführung des Entwicklungsstands der damals bereits 18 19 20 21 22 23
s. bei Zöllner, insbes. S. 83 ff. s. den Beitrag von Hofmeister, S. 544. Ebd., S. 546 - 547. Ebd., S. 547 ff. s. den Beitrag von Maurer, S. 784 ff. Ebd., S. 785.
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traditionellen Haftpflichtgesetze 24 . Daß der Deckungsbereich dieses Sozialversicherungszweigs schon sehr weit konzipiert wurde, ist letztlich aber ebenfalls eine Konsequenz aus dem Bemühen, „free riders" unter den bisher nicht erfaßten Betrieben abzuschaffen. I n England und Frankreich nahm der Weg zur staatlichen Sozialversicherung nun einen ganz anderen Verlauf. Die beiden Landesberichte erwähnen eine ganze Reihe von Faktoren, die von historischen Sonderfällen nationaler Geschichte wie der Niederlage Frankreichs 1871 und dem damit verbundenen Untergang der Pariser Kommune 2 5 bis hin zu (Völker-)psychologischen Vermutungen reichen 26 . Immerhin kann bei allen Abweichungen seiner historischen Herkunft und seiner nationalen Einfärbung eine für beide Länder übereinstimmende Dominanz des Individualismus bis weit ins 20. Jahrhundert hinein festgestellt werden. Aber trotz der vielleicht i n England und Frankreich außergewöhnlich großen auch politischen Kraft des liberalen Individualismus war schließlich auch hier der Druck der sozialen Probleme spürbar genug, um eine Herausforderung auch des Staates zu werden und als solche angenommen zu werden: ein Prozeß, i n dem i n England zuerst „die A u f deckung eines Mißstandes kam, der als unerträglich empfunden wurde und den m a n . . . mittels Gesetzgebung i n der entsprechenden Form zu beseitigen hoffte" 2 7 , während für Frankreich herausgestellt wird, daß der entscheidende Faktor für die Entwicklung der Sozialversicherung die sowohl dem Liberalismus wie auch allen sozialistischen Strömungen gemeinsame Ausrichtung auf das Problem der Rolle des Staates im sozialen Sektor w a r 2 8 . Das i n Deutschland und Österreich praktisch gewordene Beispiel der ersten Sozialversicherungsgesetze scheint dabei freilich einen allen Hypothesen über eine „Ausstrahlung" oder einen internationalen „Diffusionsprozeß" 29 entgegengesetzten Effekt gehabt zu haben. Noch einmal konnte man die — wohl schon als unvermeidlich erkannte — Notwendigkeit staatlicher Intervention i m sozialen Bereich durch die Diskussion der ausländischen Praxis hinausschieben. Und wieder fällt auf, daß man sich weniger dagegen wehrte, soziale Sicherung als öffentliches Gut zu akzeptieren, als gegen die Konsequenzen, die sich aus dem Einsatz von Sozialversicherung zur Erreichung dieses Gutes ergeben. Denn 24
Ebd., S. 786. s. Saint-Jours, S. 201 ff. 26 s. Ogus, S. 302. 27 Ebd., S. 293. 28 s. Saint-Jours, S. 198 - 199. 29 Z u den dazu vertretenen Theorien s. Köhler (Anm. 11), S. 72 ff. u. ausf. Jens Alber, Die E n t w i c k l u n g sozialer Sicherungssysteme i m Licht empirischer Analysen, i m gleichen Band (Anm. 11), S. 123 ff. 25
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auch i n England und Frankreich war klar, daß ein sozial intendiertes Versicherungsmodell, um eine A n t w o r t auf die sozialen Problem sein zu können, das Obligatorium voraussetzt. Genau hier setzte die K r i t i k an, die sich der Unterstützung aller individualistischer Strömungen und der zahlreichen Frühformen genossenschaftlich-freiwilliger Versicherungsorganisationen sicher sein konnte. Argumente wie das „heilige Prinzip des freien Willens", der Gefahr der Zentralisierung oder einer unvermeidlich anwachsenden Bürokratisierung 3 0 lassen sich weitgehend dahin zusammenfassen, daß i n England und Frankreich Sozialversicherung vor allem aus einer vielfach motivierten Angst vor dem dam i t verbundenen „forced-rider-Problem" anfänglich auf eine so breite Front der Ablehnung stieß, daß nicht nur eine erhebliche zeitliche Verschiebung für ihre Einführung die Folge war, sondern daß i n diesen Ländern der Beginn staatlicher Sozialgesetzgebung (neben einer eher zaghaften Arbeitsschutzgesetzgebung) weitgehend auf die Subventionierung oder rechtliche Stärkung vorhandener Selbsthilfeeinrichtungen beschränkt blieb. c) Fernwirkungen der unterschiedlichen Grundentscheidungen über „Ob" und „Wie" staatlicher Intervention Angesichts der objektiven Tragweite, welche die Einführung rationaler sozialer Sicherungssysteme wie der Sozialversicherung (oder deren Unterlassung oder Verzögerung trotz vorhandenen Problemdrucks) für jedes Staatswesen hat, kann es nicht verwundern, daß die verschiedenen Konstellationen beim Einsetzen nationaler Sozialgesetzgebung bei deren Weiterentwicklung selbst i m Zeitraum von 100 Jahren ersichtliche Spuren hinterlassen haben. Diese Spuren lassen sich i n allen Landesberichten zahlreich finden. Hier können nur einige besonders auffällige Aspekte hervorgehoben werden. So stützen die Entwicklungen i n allen fünf Ländern die Annahme, daß auch für Institutionen der sozialen Sicherung die Erfahrung gilt, wonach Institutionen — einmal etabliert — ein „Eigenleben" entwikkeln, eine „eigene Dynamik der ständigen inkrementellen Ausdehnung" 3 1 . I n Deutschland, Österreich und auch der Schweiz setzt von dem Augenblick an, wo der erste Schritt zur Einführung von Sozialversicherung getan wurde, der Prozeß der systematischen Ausdehnung ein, der diesen Ländern über alle sonstigen nationalen Differenzierungen hinweg gemeinsam ist. Er w i r d vielfach durch systeminterne Impulse — durch den Perfektions- und Expansionsdrang des Systems — vorange30 31
s. den Beitrag v. Saint-Jours, insbes. S. 199, u. den von Ogus, S. 312 ff. s. A l b e r (Anm. 29) unter Bezug auf die Studie von Rimlinger, S. 129.
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trieben. A u f der anderen Seite sehen w i r die Zählebigkeit der Vorläufer. Institutionen, die i n England und Frankreich so lange existent geblieben sind, weil die Politik der Sozialversicherung vergleichsweise spät einsetzte. Die erstaunliche Widerstandskraft, welche die zahlreichen, untereinander sehr verschiedenen, auf die alte mutualité zurückgehenden „Sondersysteme" sozialer Sicherung i n Frankreich bis heute allen Versuchen entgegensetzten, die „sécurité sociale" übergreifend zu generalisieren, mag dadurch wenigstens zum Teil erklärbar sein 32 . Und die i m englischen Landesbericht wiederholt angesprochenen Probleme, auf die man i n diesem Lande besonders bei der verwaltungsrechtlichen Durchführung von Sozialversicherung und bei der rechtlichen Gestaltung von Anspruchs- und Beitragsvoraussetzungen permanent stieß, scheinen nicht zuletzt eine Folge dessen zu sein, daß England einerseits noch i n der spezifischen Tradition jahrhundertelanger „poor-law Gesetzgebung" verharrte, während Gedanken an eine Sozialversicherung auch noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf eine Rechtstradition trafen, die den „Wechsel von einem privatrechtlichen Verhältnis auf Vertragsbasis zu einem öffentlich-rechtlichen Verhältnis zwischen Bürger und Staat" 3 3 nur unter größten Schwierigkeiten vollziehen konnte. Schließlich sei daran erinnert, daß m i t Rückkehr Elsaß-Lothringens nach Frankreich die dort institutionalisierte Sozialversicherung nach dem deutschen System nicht nur nicht wieder abgeschafft werden konnte, sondern, weil dort „die A r b e i t e r . . . besser gegen die sozialen Risiken geschützt (waren) als i m übrigen Frankreich", zu einem der „Faktoren wurde, die für eine Einführung der Sozialversicherung" 34 i n Frankreich sprachen. Doch besteht die Fernwirkung des historischen Faktums, daß man sich i n einem Land für staatliche Intervention i m sozialen Bereich früh entschlossen hat und dafür das Instrument der Sozialversicherung gewählt wurde, nicht nur darin, daß die ursprünglich geschaffenen noch speziellen Institutionen später zum System wachsen. Das ist der Idee von Sozialversicherung ja inhärent, wenn diese als ein Weg verstanden wird, das öffentliche Gut soziale Sicherung zu erreichen. Zieht man noch einmal die Theorie der öffentlichen Güter zur Erklärung für die Rolle von Sozialversicherung i m Gesamtgefüge sozialer Sicherung heran, so wäre auch zu bedenken, daß nach dieser Theorie sektorale staatliche Intervention ebenso notwendig ist, wie gleichzeitig angenommen wird, daß ein staatliches Engagement zum Vorteil eines Sektors zu Wohlfahrts-Verlusten („welfare-losses") auf einem anderen Sektor 32 33 34
s. Saint-Jours, S. 263. Ogus, S. 434 - 435. s. Saint-Jours, S. 226.
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führen kann 3 5 . So wäre durchaus denkbar, daß ein rechtlich und politisch so schwieriges Unterfangen wie es die Einführung von Sozialversicherung überall war, Aktivitätspotentiale des Staates soweit absorbieren mußte, daß daneben für nennenswerte Sozialpolitik kein Raum mehr blieb. Des weiteren könnte die Ausdehnung der Sozialversicherungssysteme, gekoppelt m i t den von ihnen erzielten Erfolgen, ein die weiterhin bestehenden sozialen Probleme aus dem Blickfeld gerückt, verdrängt haben. Und das, obwohl es eine große Zahl sozialer Probleme gab und gibt, für die eine Abhilfe über ein wie immer geartetes Versicherungsmodell nicht vorstellbar ist. Schließlich sind sogar „welfarelosses" denkbar, die unmittelbar auf ein existierendes Sozialversicherungssystem rückführbar sind. Der Vergleich der fünf Länder zeigt, daß zwar jedenfalls im A n fangsstadium der Errichtung von Sozialversicherung dies überall, wo es gelang, als großer sozialer Fortschritt empfunden wurde, daß tatsächlich die gesamte Sozialpolitik damit „besetzt" war. Doch läßt sich daraus nicht folgern, der Verzicht auf Sozialversicherung hätte zu mehr Sozialpolitik geführt. I m Gegenteil: als i n der Schweiz das groß angelegte Konzept der „lex Forrer" scheiterte, schuf dies nicht etwa den Raum für anderweitige, diesem i n der Wirksamkeit auch nur annähernd korrespondierende sozialpolitische Aktivität, sondern machte das den mühsamen Kompromiß von 1911, den Verzicht auf umfassende Sozialversicherung erforderlich. Und die zeitlich parallelen Vorgänge i n England und Frankreich zeigen ebenfalls eher, daß ein Großteil (sozial-)politischer Energie von der Gegnerschaft zur Sozialversicherung absorbiert wurde — mehr als durch den Verzicht auf Sozialversicherung zu anderem wirksamen sozialpolitischen Handeln freigeworden wäre. Für den Gedanken, eine tatsächlich errichtete Sozialversicherung hätte für andere Sozialpolitiken blind gemacht oder gar notwendige Aktivitäten verhindert, w i r d meist das Argument angeführt, daß i m Deutschland Bismarcks Sozialversicherung statt einer gleichermaßen notwendigen Arbeitsschutzgesetzgebung eingeführt worden wäre 3 6 . Das Beispiel der Schweiz und besonders das Österreichs zeigt aber, daß auch dieser Schluß nicht unbedingt zwingend ist. Zwar wurde i n der Schweiz „ m i t erstaunlicher Geschwindigkeit" bereits 1877 ein Fabrikgesetz erlassen, das neben anderen erheblichen Eingriffen i n die freie Gestaltung des Arbeitsvertrags „ständig angestellte eidgenössische Fabrikinspektoren" vorsah; doch wurde gegen dieses Gesetz das Referendum ergriffen. Es wurde endlich nur „nach heftig geführtem K a m p f " 3 7 und nur 35
s. die L i t e r a t u r oben A n m . 8. s. dazu die Diskussion nach dem Referat von Lenoir, i n : Bedingungen für die Entstehung u n d E n t w i c k l u n g von Sozialversicherung (Anm. 1), S. 278 ff. 37 s. Maurer, S. 767. 36
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m i t einer knappen Mehrheit angenommen. Und dies, obwohl ein Zusammenhang m i t der Sozialversicherung nicht bestand, die Alternative der Sozialversicherung also kein Gegenargument sein konnte 3 8 . Und i n Österreich, das sonst weithin dem deutschen Beispiel folgte, war selbst dann, als dort Sozialversicherung etabliert war, stets der „Arbeiterschutz als ein notwendiges, ja sogar vorrangiges Element zur Sozialpolitik betrachtet worden" 3 9 . Besonders schwierig ist die Frage zu beantworten, inwieweit Sozialversicherung „welfare-losses" für soziale Problemstellungen produziert, die dem versicherungstechnischen Zugriff nicht zugänglich sind. Das dabei am nächsten liegende Argument ist, daß Sozialversicherung sich ganz auf Geldleistungen konzentriert, was zu der Tendenz führt, Dienst- und Sachleistung, insbesondere personale Dienste, letztlich menschliche Zuwendung zu vernachlässigen. Überlegungen, daß ein i m Verlauf seiner Entwicklung immer enger geknüpftes Netz von Versicherung soziale Dienste notwendig i n den Hintergrund drängt, könnte sich auf Phänomene wie die „Action sociale" i n Frankreich stützen 40 oder darauf verweisen, daß i n England das Angebot von „personal services" i m sozialen Bereich oft für größer gehalten wird, als ζ. B. i n der Bundesrepublik Deutschland 41 , Sozialversicherung sich aber i n keinem Fall zu einem starren exklusiven System entwickelt. Sie ist überall Gegenstand einer umfassenden Sozialpolitik geblieben. Sie wurde zu einem dialektischen Element, das Einseitigkeiten hervorbrachte, ihre Korrektur provozierte und ihr letztlich immer auch Raum gab 42 . Wenn ohne Zweifel in allen Ländern eine Vielzahl sozialer Probleme — wie etwa das von Sozialversicherung durch Rentenleistung allein nicht lösbare Problem eines einsamen, auf persönliche Hilfe angewiesenen Alters — auf eine Lösung drängen, so spricht mehr dafür, daß diese Probleme trotz Sozialversicherung bestehen, nicht aber wegen der Existenz dieser Institution. Vielleicht wurden „nicht versicherbare Probleme" oft erst dadurch sichtbar (und damit wiederum erst zum Problem), daß die versicherbaren sozialen Risiken über Sozialversicherung Schritt für Schritt aufgefangen wurden.
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s. Maurer, S. 766 - 767. s. Hofmeister, S. 525. 40 s. Saint-Jours, S. 258. 41 Aus dem Landesbericht von Ogus läßt sich dies freilich n u r i n d i r e k t folgern, etwa aus der Tatsache der zahlreichen bis heute bestehenden Charity Organisationen; zur Rolle der personal services i n England s. auch den Beitrag von Kaim-Caudle u. die daran anschließende Diskussion i n : Bedingungen f ü r die Entstehung u n d Entwicklung von Sozialversicherung (Anm. 1), S. 223 ff. 42 s. ζ. B. den Beitrag von Zöllner, S. 173 ff. 39
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I I I . Unterschiedliche soziale Risiken bewirken unterschiedliche staatliche Reaktion Der Weg, den die einzelnen Risiken i m Kontext der Entwicklung von Sozialversicherung i n den fünf Ländern genommen haben, kann dies bestätigen. Zugleich macht er deutlich, daß „versicherbare soziale Risiken" und solche sozialen Probleme, die einer versicherungstechnischen Lösung nicht zugänglich sind, nur schwerlich a priori und kaum je endgültig voneinander geschieden werden können. 1. Das „erste" soziale Risiko: Der Arbeitsunfall
Technologie ist mehr, als nur eine ansonsten „neutrale" A r t der Produktionsweise; sie trägt den Code einer ihr zugehörigen w i r t schaftlichen, sozialen und kulturellen Struktur i n sich 43 . Die Wirklichkeit, i n der Sozialversicherung entstanden ist, war geprägt von der fortgeschrittenen Technologie der sich entfaltenden Industriegesellschaft. Blickt man auf die Details, so war der Stolz damaliger Technologie die Dampfkraft. Die durch sie verfügbare Energie ließ Dinge machbar werden, deren neuartige Konsequenzen i n ihrer Tragweite von den Innovatoren nicht einmal erahnt werden konnten. Ihre zuerst spürbare beträchtliche Auswirkung war die qualitative und quantitative Veränderung des Phänomens des Industrieunfalls. I n allen Ländern w i r d deshalb der Arbeitsunfall als ein nicht mehr dem persönlichen Schicksal allein zurechenbares, der individuellen Verantwortung oder gar persönlicher Vorsorge zugängliches Unglück erkannt, sondern als ein der Strukturveränderung der neuen Technologie innewohnendes „soziales Risiko". Dieses „soziale Risiko" war eine neue Herausforderung an den Staat. Doch weil es so neu war wie die junge I n dustrie, fehlten anfangs adäquate Methoden der Reaktion. Man versuchte zunächst überall, m i t herkömmlichen rechtlichen M i t t e l n zu reagieren. Ausgangspunkt waren i n allen Ländern die weithin ähnlichen bürgerlich-rechtlichen Regelungen über den Arbeitsvertrag. A r beitsschutz und Haftung wurden der Entwicklung angepaßt. Das österreichische Eisenbahnhaftpflichtgesetz von 186944, das deutsche Reichshaftpflichtgesetz von 1871 und das schweizerische Fabrikgesetz von 1877 und die schweizerischen Gesetze betreffend die Haftpflicht aus Fabrikbetrieb von 1881 und 188745 veränderten nicht nur die bürgerlichrechtlichen Beweisregeln zugunsten der geschädigten Arbeiter, sondern 43 Die Frage w i r d heute am engagiertesten i m Rahmen der Vereinten Nationen unter dem Stichwort „Technologietransfer" diskutiert; s. ζ. B. Johan Galtung, Towards a New International Technological Order, i n : A l t e r natives, Vol. 4 Nr. 3, Jan. 1979, S. 277 ff. 44 s. Hofmeister, S. 533. 45 s. Maurer, S. 769 ff.
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führten für die neue Gefahrenquelle der Dampfkraft die Gefährdungshaftung ein. Die Unternehmer wurden so angeregt, sich gegen die Risiken der neuen Industrie zu versichern 46 . Die rechtliche Idee, Industriearbeitern bei Arbeitsunfällen Schadensersatz ohne strengen Verschuldensbeweis zukommen zu lassen, ist in den „Workmens Compensation Acts" von 1897 und 1906 auch i n England i n praktische Anwendung gekommen 4 7 . I n Frankreich dagegen ging man einen anderen Weg. Dort schuf man zwar schon 1898 eine nationale Versicherungskasse für A r beitsunfälle, die freilich keine Pflichtversicherung war und fast nur von der wirtschaftlich potenten Großindustrie benutzt wurde. Ansonsten hielt man aber an den klassischen Prinzipien der Schadensersatzhaftung fest 48 . I n allen fünf Ländern waren jedoch die Mängel dieser ersten Versuche, im wesentlichen über Unternehmerhaftung das neue soziale Problem einer Lösung zuzuführen, bald offenbar. Während man aber in Deutschland und Österreich alsbald daran ging, das Risiko Arbeitsunfall m i t den Unfallversicherungsgesetzen aufzufangen, und während das Schweizer Kranken- und Unfallversicherungsgesetz m i t seinem Inkrafttreten 1918 die Fabrikhaftpflichtgesetze ablöst, dauert es i n England bis zum „National Insurance (Industrial Injuries) A c t " von 1946, u m die traditionelle „Workmens Compensation"-Gesetzgebung abzuschaffen 49 . Nach dem französischen Landesbericht scheint als Folge des i n dem Gesetz von 1898 angelegten Kompromisses das Risiko Arbeitsunfall bis heute noch nicht durch einen geschlossenen Zweig der Sozialversicherung w i r k l i c h umfassend gedeckt zu sein 50 . Die Vermutung liegt nahe, daß diese unterschiedlichen Wege staatlicher Reaktion auf das Risiko Arbeitsunfall bis auf den heutigen Tag die jeweilige Ausgangssituation reflektieren. I n Deutschland, Österreich und der Schweiz w i r d das Versicherungsprinzip i m Unfallversicherungszweig der Sozialversicherung am schnellsten und nachhaltigsten verwirklicht. Den schrittweisen Ausbau bürgerlich-rechtlicher Besserstellung der Arbeiter i n England mag man als Beispiel eines bewußt „liberalen" Weges nehmen. Für den französischen Sonderfall mag eine Ursache darin gesehen werden, daß dort m i t der frühen Etablierung einer freiwilligen Versicherungskasse für die Unternehmer die Weichen für eine spezifische Tradition eines „mittleren Weges" gestellt worden sind. 46 s. dazu ausf. Maurer, i n : Bedingungen f ü r die Entstehung u n d E n t w i c k l u n g von Sozialversicherung (Anm. 1), S. 359 ff. u. Benöhr, ebd., S. 315 ff. 47 s. Ogus, S. 277. 48 s. Saint-Jours, S. 215 ff. 49 s. Ogus, S. 283. 50 s. Saint-Jours, S. 263.
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2. Krankheit als „soziales" Risiko
Anders als bei den auch von den Zeitgenossen als Folgen der Umstellung auf die industrielle Produktion empfundenen Arbeitsunfällen war die Tatsache, daß jeder Mensch zu jeder Zeit von Krankheit bedroht ist, nirgendwo etwas an sich Neues. Dennoch trug auch für dieses uralte Risiko die neue Technologie einen „Code" i n sich, der Krankheit vom allgemein menschlichen zum sozialen Risiko veränderte. Als Teil des Strukturwandels der Gesellschaften wurden nunmehr immer größere Schichten der Bevölkerung absolut vom Verdienst ihrer Arbeit abhängig. Damit war jede Krankheit über die Bedrohung körperlichen Un-Wohlbefindens hinaus plötzlich auch ökonomisch lebensbedrohend geworden, denn sie bedeutete jetzt Lohnausfall und damit in zunehmend häufigeren Fällen Wegfall der Existenzgrundlagen. Das soziale Problem „Krankheit" wurde durch die Dynamik des technisch-wissenschaftlichen Wandels noch weitergehend erfaßt, weil dieser Wandel im ökonomischen Bereich den Faktor Lohnarbeit unaufhaltsam wachsen ließ, durch die damit verbundenen Nebeneffekte wie schlechte Arbeits-, Ernährungs- und Wohnbedingungen nunmehr „massenhafter" Industriearbeiter diese selbst krank machte und schließlich weil er zugleich zum Wachstum einer medizinischen Wissenschaft und Praxis führte, die bald i n der Lage sein sollte, Krankheit auf moderne, also rationale (im input teurere, i m output effektivere) Weise zu bekämpfen. Parallel zu allen diesen Entwicklungen war die Fähigkeit der Familie, den m i t Krankheit verbundenen Lohnausfall, Behandlungsaufwand und Pflegebedarf in sich zu leisten, laufend gefährdet. Auch dieser Einbezug des Schicksals „Krankheit" i n den Prozeß der „Modernisierung" war m i t geringen Zeitverschiebungen ein gesamteuropäisches Phänomen. Die Versuche, Krankheit als „soziales Risiko" zu bewältigen, gehen entsprechend weit zurück. I n Deutschland waren die verschiedenen, auf kommunaler Ebene zum Teil bereits obligatorischen Hilfskassen derart ausgebaut, daß m i t dem Krankenversicherungsgesetz von 1883 „lediglich eine gesetzliche Ordnung, keine Neugestaltung nötig und möglich erschien" 51 . Ganz ähnlich ging es i m österreichischen Arbeiterkrankenversicherungsgesetz von 1888 i m wesentlichen darum, „bereits Bestehendes zu erhalten, den Zwecken der neuen Gesetzgebung anzupassen und für die bislang noch nicht Krankenversicherten einen Ergänzungsmechanismus zu schaffen" 52 . Auch i n der Schweiz waren dank kantonaler Anstrengungen und dem hohen Entwicklungsstand der Versicherungswirtschaft die Krankenkassen selbst längst vorhanden, als der die Kranken51 52
s. Zöllner, S. 89. s. Hofmeister, S. 565.
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Versicherung betreffende Teil des Kranken- und Unfallversicherungsgesetzes am 1. 1. 1914 (und deshalb eben früher als der die Unfallversicherung betreffende Teil dieses Gesetzes) i n K r a f t trat 5 3 . Für diese Länder führte die Tradition bestehender Krankenkassen, vor deren Hintergrund die innovatorische Unfallversicherungsgesetzgebung durchgesetzt wurde, zu einem ihnen allen bis heute gemeinsamen Charakteristikum ihrer Systeme sozialer Sicherung: die Vielzahl territorial und personal gegliederter Krankenkassen, die Trennung von Krankenversicherung und Unfallversicherung m i t je eigenen Risikobereichen, Versichertenkreis und Trägern sowie der finanziellen Absicherung sowohl des Einkommensausfalls als auch des Behandlungs- und Pflegebedarfs durch die Sozialversicherung bei gleichzeitiger Belassung der sonstigen Strukturen des „Gesundheitswesens" und der medizinischen Versorgung. Für England steuerte die lange Tradition, Krankheit als ein Armutsproblem innerhalb der überkommenen Strukturen des „Poor L a w " aufzufassen 54 , die Entwicklung anders. Auch hier entstanden durch die „friendly societies" schon früh Formen freiwilliger Versicherung, die um die Jahrhundertwende annähernd die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung erfaßten. I m Kontext der nationalen Gegebenheiten war deren Effekt auf eine Abdeckung des Risikos Krankheit durch staatliche Sozialversicherung aber anders. Sie konzentrierte sich darauf, i n Zusammenarbeit m i t einer sich als unabhängig verstehenden Ärzteschaft medizinische Sachleistungen anzubieten. Der durch krankheitsbedingten Lohnausfall Mittellose aber fiel entweder der rigorosen und stigmatisierenden Behandlung nach den „Poor Laws" anheim, oder er war auf die Hilfe caritativer Organisationen angewiesen. Letztere waren dann, als viktorianisch-puritanische Kehrseite eines i n England besonders starken Individualismus, unter diesen Gegebenheiten eine auch politisch nicht zu unterschätzende Kraft, die später dem Versuch Lloyd Georges, eine dem kontinentalen Vorbild entsprechende Krankenversicherung einzuführen, zusammen m i t freier Ärzteschaft und Friendly Societies, die größte Opposition entgegensetzte 55 . Der i m „National Insurance A c t " von 1911 am Ende für die Krankenversicherung erzielte Kompromiß nimmt alle Faktoren dieser Entwicklung auf und stellt so eine ganz eigene Mischung aus „Pflichtversicherung und freiwilliger Sozialversicherung" dar, der erstaunlicherweise bis 1946 ohne wesentliche Veränderung erhalten blieb 5 6 . Wenn dieses vergleichsweise zurückhaltende Aufgreifen des Risikos Krankheit m i t dem In53 54 55 56
s. s. s. s.
Maurer, S. 784 ff. Ogus, S. 337. Ogus, S. 338. Ogus, S. 339 u n d S. 439.
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strument Sozialversicherung und das darauf folgende jahrzehntelange sozialpolitische Stagnieren dieses Zweiges der Sozialversicherung für England m i t „finanziellen Gründen" erklärt w i r d 5 7 , so w i r d hier finanziellen Gründen diese Wirkung keineswegs abgesprochen. Doch sei eine aus dem Vergleich der Landesberichte gewonnene Vermutung erlaubt: I n den Ländern, wo es zu staatlicher Intervention durch obligatorische Sozialversicherung auf dem Gebiet der Arbeitsunfälle, also zur gesetzlichen Unfallversicherung gekommen ist, mußte hinsichtlich nicht arbeitsbedingter Krankheit ein entsprechendes Äquivalent geschaffen werden. Die Bedeutung der Krankheitsursache für den sozialen Schutz wäre für die Betroffenen sonst unerträglich gewesen. Und diese Unterscheidung selbst hätte schwerwiegende rechtliche, politische und verwaltungstechnische Probleme aufgeworfen 58 . Darüber hinaus bestätigt sich die Vermutung, daß die ursprüngliche nationale Grundsatzentscheidung über Ob und Wie staatlicher Intervention i m sozialen Bereich tatsächlich „Jahrhundertwirkung" auf die Rolle von Sozialversicherung i m überall gleichermaßen notwendigen System sozialer Sicherung hatte. Das zurückhaltende Vorgehen Englands 1911 stabilisierte die aus dem 19. Jahrhundert stammenden Einrichtungen der Krankenversicherung zunächst so, daß dies zusammen m i t den Auswirkungen der Wirtschaftskrisen der Zwischenkriegszeit jede Reformdiskussion abschnitt. A u f lange Sicht aber führte es zu der 1946 unabweisbaren Notwendigkeit einer Totalrevision. Den nun herrschenden politischen Optionen folgend, schienen die dem beitragsgebundenen Versicherungsprinzip zugeschriebenen Mängel nur mittels eines staatlichen Gesundheitssystems schnell und effektiv genug überwunden werden zu können 5 9 . Insgesamt können beide Annahmen i n der relativen Parallelität der französischen Entwicklung eine zusätzliche Stütze finden. I n Frankreich dauerte es bis ins Jahr 1930, u m das Risiko Krankheit unter den Schutz obligatorischer Krankenversicherung innerhalb eines Sozialversicherungssystems zu stellen 60 . Blieb, wie ausgeführt, die Unfallversicherung noch unvollständig, so blieb auch die Krankenversicherung noch weit von einer das soziale Problem wirksam entschärfenden Lösung entfernt. Eine der englischen ähnliche Konstellation eines Bündnisses aus „mutualités" und selbstbewußter freier Ärzteschaft ließ den Ansatz umfassender sozialer Krankenversicherung, also die Bereitstellung ausreichender Sach-, Dienst- und Geldleistungen, um dem „sozialen Risiko" Krankheit umfassend begegnen zu können, zu einem kaum hin57 58 59 60
s. Ogus, S. 347. Ähnliche Gedanken klingen bei Zöllner an, S. 106 ff. s. Ogus, S. 351 ff. s. Saint-Jours, S. 228 ff.
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länglichen System bloßer Kostenerstattung schrumpfen 61 . Diese Schwächen stärkten natürlich die dadurch notwendigen Institutionen zusätzlicher Versicherung, und da wieder die „mutualités", die für diese Situation m i t ursächlich waren. Diese eigenartige Wechselbeziehung überstand — anders als i n England — am Ende auch alle Bestrebungen einer grundlegenden Reform, wie sie nach Ansicht des Landesberichts für Frankreich gerade i m Aufbruch von 1945 möglich gewesen wäre. Die Mitgliedschaft bei mutualistischen Zusatzkassen stieg kontinuierlich. Und heute bietet dieses System i n Frankreich Kostenfreiheit bei einem funktionierenden Netz ärztlicher Versorgung 62 . Allerdings stießen die Entwicklungen der Krankenversicherung i n den fünf Ländern bei allen systematischen Unterschieden auf ein gemeinsames Problem. So sehr der Fortschritt von Medizin und Pharmazie ursprünglich zu den Voraussetzungen gehörte, die eine wie immer geartete versicherungstechnische Lösung des Krankheitsrisikos überhaupt erst machbar werden ließen, so trug dieser Fortschritt zugleich einen „Code" i n sich, der auf lange Sicht diese Lösung i n allen Ländern vor eine schwierige Bewährungsprobe stellt: unabhängig vom gewählten Weg, ob durch Sozialversicherung, durch private Zusatzversicherung flankierte Sozialversicherung oder durch staatlichen Gesundheitsdienst — überall ist heute die vom Stand der medizinischen Technik ausgelöste Kostenexplosion i m Gesundheitswesen das Hauptproblem einer Absicherung vor dem sozialen Risiko Krankheit 6 3 . 3. Unversorgtes Alter als „neues" soziales Risiko
Medizinischer Fortschritt und Verbesserung der allgemeinen Lebensverhältnisse haben — bei allen Opfern, die der technologische Strukturwandel sonst gerade von der Industriearbeiterschaft forderte — sicher auch m i t dazu beigetragen, daß selbst die armen Schichten der Bevölkerung nun begannen, „ a l t " zu werden. Sozial und ökonomisch bedeutete das freilich zunächst nur, daß die Menschen länger lebten, als sie i m Sinne der Industriewirtschaft arbeitsfähig waren 6 4 . Wegen ihres Alters aus dem Arbeitsprozeß ausgeschiedene Menschen aber waren — analog zum Fall der Krankheit — immer auch mittellos, in ihrer Existenz bedroht und damit ein soziales Problem. Dabei war die Vorsorge für einen gesicherten Lebensabend eines der Leitbilder liberaler Lebensgestaltung und das Erreichen des sozialen Status des „Rentiers" wohl der bourgeoise Traum des Jahrhunderts. Beides scheint eine 61
s. Saint-Jours, S. 230. s. Saint-Jours, S. 254 - 255. 63 Dies findet sich i n allen Landesberichten. 04 Z u diesem Phänomen s. ausführlich Peter A. Köhler, i n : Bedingungen für die Entstehung u n d E n t w i c k l u n g von Sozialversicherung (Anm. 1), S. 46 ff. 62
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psychologische Rolle gespielt zu haben, als man i n den fünf Ländern daran ging, das sonst unentrinnbar unversorgte A l t e r des weitaus größten Teils des Staatsvolks als Herausforderung für staatliche Intervention zu begreifen. Trotz aller (insbesondere i n England und Frankreich) immer wieder vorgetragener Appelle an die ethische Verpflichtung des Individuums, selbst für sein A l t e r zu sparen, war doch den Zeitgenossen bereits klar, daß dem von der Hand i n den Mund lebenden Industriearbeiter zum Sparen nichts übrig blieb. Jede auf materielle Sicherung des Alters zielende Sozialpolitik hatte daher das Problem zu lösen, materiellen Ersatz zu schaffen für das objektive Unvermögen des einzelnen, selbst Vorsorge zu treffen und gleichzeitig den Eindruck zu vermeiden, daß durch diesen Ersatz dem einzelnen etwa etwas „geschenkt" werde. Denn mehr noch als Krankheit und Unfall traf das „Risiko" Alter einen Nerv bürgerlicher Verantwortungsvorstellungen, wonach eben das „ A l t - W e r den" selbst ebenso ausschließlich Sache des Individuums war, wie die Vorsorge für diesen Lebensabschnitt. Darüber hinaus war es besonders schwierig, auf das soziale Problem des unversorgten Alters eine tatsächlich wirksame, auch praktisch durchführbare A n t w o r t zu finden. Nicht nur mußte ein Weg gefunden werden, die Zukunft für die gegenwärtig arbeitenden Menschen zu sichern, vielmehr galt es auch, die bereits jetzt drückende Not mittelloser Alter sofort zu lindern. Demzufolge war der versicherungstechnische Grundsatz, daß Rentenansprüche Versicherungszeiten voraussetzen, daß ein Versicherungsmodell das Problem A r m u t i m A l t e r also nur sehr langfristig lösen kann, i n England einer der Hauptgründe, anfangs nicht den Weg der Sozialversicherung zu gehen, denn staatliche Intervention zur Abkürzung der Wartezeit wollte man nicht 6 5 . Dem steht die Einführung eines „Old-Age-Pensions-Act" von 1908 nicht entgegen. I m Gegenteil: dessen Leistungen wurden zum Teil aus der Staatskasse finanziert, zum anderen Teil aber aus Geldern der Armenhilfe; und schon dies verweist darauf, daß die staatliche A k t i o n von 1908 wohl Intervention war, aber eine Intervention i m alten Geist. Man schuf „eine Rente für die sehr Alten, die sehr Armen und die sehr Respektablen" 66 . Der Zusammenhang m i t dem traditionellen Poor L a w ist danach unverkennbar. Neu war allerdings die rechtliche Ausgestaltung, die einen Vergleich m i t den durch staatliche Sozialversicherung angebotenen Alterssicherungssystemen nahelegt. Auch i n England w a r es das Risiko Alter, wofür erstmals ein Rechtsanspruch, auf finanzielle Unterstützung aus öffentlichem Recht geschaffen wurde 6 7 . Und diese Methode, eine vom Staat verbürgte Sicherung 65 66 67
s. Ogus, S. 347. s. Ogus, S. 327. s. Ogus, ebd.
3 Sozialversicherung
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durch eine dem einzelnen gegebene Rechtsposition zu garantieren, ist ja auch Hauptargument für die Einführung von Sozialversicherung gewesen. Dieser Aspekt, ökonomische Absicherung des Alters auch rechtlich m i t der ganzen Autorität des bürgerlichen Rechtsstaats Stabilität zu verleihen, hatte vorher schon das deutsche Vorgehen, Invaliden- und Rentenversicherung i m Wege der Sozialversicherung einzuführen, gekennzeichnet 68 . M i t der Verbindung aus Obligatorium, hälftigen Beiträgen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, staatlicher Aufsicht und staatlichen Zuschüssen gelang es, den Anspruch individueller Vorsorge m i t der Notwendigkeit kollektiven Sparens zu verbinden, das Problem einer sofortigen Auswirkung des neuen Systems auf diejenigen zu lösen, die zum Zeitpunkt seiner Einführung bereits für „Vor"-Sorge zu alt waren und schließlich beides m i t der für den Gesamterfolg so wichtigen staatlichen Garantie rechtlicher Sicherheit zu versehen. Gerade das französische Beispiel der von spektakulären Konkursen diskreditierten Versuche, Altersvorsorge der Arbeiter privatrechtlich über Betriebskassen und ähnliches bereitzustellen 69 , zeigt ebenso, wie das wegen praktischer Mängel wenig erfolgreiche Gesetz über Arbeiterund Bauernrenten von 1910, daß Alterssicherung durch Sozialversicherung die komplizierte Harmonisierung einander gegenläufiger Tendenzen leisten muß, u m wirksam zu werden: die sozialpolitisch zielorientierte Aktivierung der knappen Vorsorgemöglichkeiten des einzelnen in einem obligatorischen System, das erst kollektive solidarische Sicherung ermöglicht, das finanzielle Engagement des Staates, um diese Sicherung materiell über die Armenhilfe herauszuheben und die Rechtsgarantie des Staates, u m beides praktikabel und vor allem sicher zu machen. Wie wichtig gerade für Rentensysteme das Moment der Sicherheit ist, bestätigt auch das Scheitern der ersten obligatorischen Alterssicherung i n der Schweiz 1929/30. I m unsicheren K l i m a der internationalen wirtschaftlichen Krisen kommt es zum ablehnenden Referendum gegen die „lex Schulthess", w e i l die Hauptvoraussetzung zuverlässiger Sicherung von diesem Gesetz allgemein nicht erwartet wurde 7 0 . Z u dieser Sicherheit gehört aber auch die Garantie, daß der A n spruch nicht m i t der Geldentwertung selbst entwertet wird. I n allen Landesberichten kann nachgelesen werden, daß dies i n neuerer Zeit das Hauptproblem der Altersvorsorge ist 7 1 . 68 69 70 71
s. Zöllner, S. 96 ff. s. Saint-Jours, S. 223. s. Maurer, S. 794. s. insbes. Zöllner, S. 172, Ogus, S. 442 - 443 u. Saint-Jours, S. 265.
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4. Die Ausweitung auf das soziale Risiko der Arbeitslosigkeit
Schon die zuerst als solche erkannten sozialen Risiken waren ja von unendlich vielen zusammenwirkenden ökonomischen, technologischen, traditionellen etc. Faktoren determiniert. Und alle i m weiteren Verlauf auftretenden Risiken waren und sind dies nicht weniger. M i t zunehmender Entwicklung der Sozialversicherung wurde der Einbezug neuer Risiken nun nicht etwa leichter, sondern i n einer weiteren Dimension kompliziert. Zwar konnte i n England das i m Vergleich erste staatliche Arbeitslosenversicherungssystem nicht zuletzt deshalb bereits als Teil I I des „National Insurance A c t " von 1911 eingeführt werden, weil dabei „keine wesentlichen angestammten Interessen bedroht waren" 7 2 . Doch waren bereits für diesen Beginn der Ausweitung der Sozialversicherung auf das soziale Risiko Arbeitslosigkeit Erkenntnisse vorhanden, die eine nur versicherungstechnische Reaktion auf dieses Risiko verboten. So waren die Schwierigkeiten, dieses m i t den w i r t schaftlichen Konjunkturzyklen und Strukturveränderungen einhergehende Risiko versicherungsmathematisch i n den Griff zu bekommen, so groß, daß ursprünglich i n England nur einige Industriezweige versicherbar erschienen. Außerdem war schon damals klar, daß Versicherung allein hier nicht genügen könne. I n England ebenso wie i n den anderen Ländern bestand von Anfang an eine Priorität dafür, durch Arbeitsvermittlung das Risiko gar nicht erst eintreten zu lassen. Und überall entstanden aus der praktischen Durchführung der Vermittlung Probleme, welche die vorhandene Rechtstradition reflektierten. Das Element der Kontrolle, das i n der Verbindung von Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenleistung liegt, drückt sich i n England i m Prinzip der „less eligibility" aus, das aus dem Poor L a w stammt. Das i m Vergleich zweite Arbeitslosenversicherungsgesetz, nämlich das von Österreich aus dem Jahre 1920, greift zum gleichen Zwecke auf die aus den alten Fürsorgeprinzipien stammende Kategorie der Bedürftigkeit zurück 7 3 . Die 1927 i n Deutschland vergleichsweise spät eingeführte A r beitslosenversicherung konnte bereits auf eine ausgebaute Tradition der Arbeitsvermittlung zurückgreifen und nun Arbeitsvermittlung und A r beitslosenversicherung als zwei komplementäre Grundelemente des Aufgabenbereichs der neuen Reichsanstalt gesetzlich fixieren, was später zum rechtlichen Problem führte, wer für welche Arbeit nach welchen Kriterien „vermittelbar" sein soll 7 4 . A l l e drei Systeme der Arbeitslosenversicherung gerieten aber gleichermaßen m i t der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre an den Punkt, 72 73 74
3·
s. Ogus, S. 340. s. Hofmeister, S. 635. s. Zöllner, S. 156 - 157.
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Sozialersicherung: Pfade der Entwicklung
wo auch Versicherung versagen muß, weil Arbeitsvermittlung nicht mehr möglich ist. Führte die internationale Wirtschaftskatastrophe de facto zum Ende des Funktionierens der Arbeitslosenversicherung vor allem i n Deutschland und Österreich, so scheint dies und der dort durchschlagende wirtschaftliche Niedergang nicht zuletzt dazu geführt zu haben, daß i n Frankreich 7 5 und der Schweiz 76 Arbeitslosigkeit sehr viel später m i t den Methoden der Sozialversicherung angegangen wurde. IV. Die Expansion des Systems der Sozialversicherung Halten w i r das Grundmuster der „Erfindung" der Sozialversicherung i n der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fest: Sicherung der Industriearbeiter gegen die Risiken des Arbeitsunfalls, der Krankheit und des Alters. Von diesem „nucleus" aus vollzog sich ein permanenter Prozeß der Ausdehnung und Vervollständigung. I h n i n Kürze historisch vergleichend darzustellen, so daß die Abfolge ebenso sichtbar w i r d wie die Gleichzeitigkeit, ist vollends unmöglich. Natürlich fingen ältere Systeme i m Regelfall früher an, sich zu ergänzen. Aber jüngere Systeme entstanden ebenso i n der Regel schon i n der Vorstellungswelt der vollkommeneren Modelle. Sie waren so schon bedingt von den Entwicklungen, welche die älteren Systeme genommen hatten, und den Erfahrungen, die m i t ihnen gemacht worden waren. Vielleicht nahmen sie sogar schon die K r i t i k positiv auf, die an Unvollkommenheiten älterer Systeme geübt worden war, so daß sie zunächst als die „Moderneren" erschienen und den älteren, hier und da durch das Gesetz der Beharrung an der Entwicklung behinderten Systeme als die Perfekteren gegenübertraten. Die Tendenz der Ausdehnung kann zunächst für den Kreis der geschützten Personen festgestellt werden 7 7 . Schon von Anfang an erschien es ungenügend, nur den Industriearbeiter selbst und nicht auch die, die von seinem Unterhalt abhingen, zu sichern. Das führte zur Sicherung der Hinterbliebenen i m Falle des Todes des versicherten Arbeitnehmers, zur Berücksichtigung seiner Unterhaltslasten bei Einkommensersatzleistungen (ζ. B. Renten) und zur Mit-Sicherung der Familienmitglieder für den Fall, daß diese erkrankten. Aber auch der U r typus des Versicherten, der Industriearbeiter, erwies sich als zu eng und erweiterte sich zum Arbeitnehmer. „Randfiguren" (wie Hausgewerbetreibende) mußten einbezogen werden, desgleichen andere Per75
s. Saint-Jours, S. 256 - 257. s. Maurer, S. 812 ff. 77 Dies gilt prinzipiell f ü r alle zum Vergleich stehenden Länder; s. Zöllner, S. 170, Saint-Jours, S. 265, Ogus, S. 436 ff., Hofmeister, S. 724 ff. u n d Maurer, S. 827. 76
29
Die Expansion des Systems der Sozialversicherung
37
sonenkreise, die ähnlich schutzbedürftig waren wie die Arbeitnehmer (z. B.Kleingewerbetreibende) 78 . Größere Schwierigkeiten bereitete überall die soziale Sicherung der selbständigen Landwirte. I m Laufe der Zeit sollten und wollten immer mehr Selbständige — gewisse Gruppen von Selbständigen oder die selbständigen Erwerbstätigen schlechth i n — i n das Gefüge der sozialen Sicherung einbezogen werden. Endlich wurde die Idee der „Volksversicherung" — oder wie immer man die Sicherung eines jeden Staatsbürgers oder Einwohners nennen w i l l — geboren 79 . Ähnlich entwickelten sich auch die Risiken, gegen die soziale Sicherung schützen sollte. Von vornherein drängte Invalidität auch dann zu sozialer Sicherung, wenn sie nicht durch einen Arbeitsunfall ausgelöst wurde. Dem Risiko des Alters w a r so das Risiko der Invalidität benachbart. M i t der Arbeitslosigkeit wurde, wie schon erwähnt, ein völlig neues Feld betreten. Der Lohnausfall i m Konkurs erschien — fast ein Jahrhundert nach den Anfängen — als eines der jüngsten „Angebote" sozialer Sicherung 80 . Nicht minder wichtig ist, wie sich um alte Grundrisiken Nachbarschaften verwandter Risiken bildeten. Neben das Risiko des Arbeitsunfalls trat das Risiko der Berufskrankheit. Noch stärker entfaltete sich das Risiko der Krankheit: Schwangerschaft, (perinatale) Mutterschaft, Schwangerschaftsabbruch, Sterilisation, Empfängnisverhütung wurden einbezogen 81 . Auch die Leistungen entwickelten sich. Sie wurden differenziert und verbessert. I n einzelnen Ländern setzte sich der Gedanke durch, daß Sozialversicherung nicht nur Schäden kompensieren darf, sondern daß es auch Sache der Sozialversicherung ist, dem Schadensfall vorzubeugen. Der Unfallversicherung w a r so schon früh die Unfallverhütung vorgelagert 82 , den Versicherungen gegen Krankheit und Invalidität wurden mehr und mehr Maßnahmen der Früherkennung von K r a n k heiten, der Vorbeugung gegen Krankheiten und physische Leistungsminderung usw. zugesellt. Auch die „Verschwisterung" der Arbeitslosenversicherung m i t der Arbeitsvermittlung (allgemeiner: der Arbeitsförderung) gehört hierher 8 3 . U n d ist der Schadensfall eingetreten, so soll — meint eine sich ausbreitende Ansicht — auf ihn nicht nur m i t Behandlung und Einkommensersatz, sondern auch m i t Rehabilitation 78
s. exemplarisch Zöllner, A n m . 77. s. z. B. Ogus, S. 435 ff. u n d Saint-Jours, S. 266. 80 s. Zöllner, S. 157. 81 Obgleich gerade zu diesem P u n k t sehr viele Unterschiede i n den einzelnen Ländern bestehen, ist das Phänomen grundsätzlicher A u s w e i t u n g der abgedeckten Risiken doch überall zu beobachten. 82 s. dazu exemplarisch Hofmeister, S. 556, Zöllner, S. 87 ff. 83 s. dazu schon oben S. 35. 79
38
Sozialersicherung: Pfade der Entwicklung
0
reagiert werden. Der Betroffene soll soweit als möglich einem normalen Berufsleben zurückgegeben werden 8 4 . V. Sozialversicherung — soziale Sicherung — soziale Förderung Damit scheinen i n der Sozialversicherung Tendenzen der Perfektion angelegt zu sein, die über die technischen Möglichkeiten der Sozialversicherung hinausgehen. I m „nucleus" der Sozialversicherung steckt — wohl als Allgemeinstes — die Idee der verläßlichen Sicherung von Lebensmöglichkeiten, die über der „Armutslinie" der Gesellschaft liegen. Das ist eine Idee, die seit den 30er Jahren unseres Jahrhunderts m i t dem Begriff der „sozialen Sicherung" bezeichnet w i r d 8 5 . Der Wohlstand und die neuen sozialen Impulse der 60er und 70er Jahre des Jahrhunderts fügten die Gedanken der Herstellung von Chancengleichheit und Vermittlung von Wohlstandsteilhabe durch Sozialleistungen hinzu. Damit genügt es i n manchen Ländern nicht mehr, Sozialleistungen an soziale Gefahren (soziale Risiken) anzuknüpfen. Auch andere soziale Lagen, i n denen Chancenungleichheit manifest wird, können soziale Leistungen (ζ. B. der Berufsförderung) auslösen. I n diesem Stadium der Entwicklung ist es geboten, sich das Spezifische der Sozialversicherung noch einmal vor Augen zu führen: — Sozialversicherung schützt gegen bestimmte typische Gefahren (wie Krankheit, Mutterschaft, Invalidität usw.). — Sozialversicherung w i r d (ganz oder teilweise) durch Beiträge der Personen finanziert, die von diesen Gefahren bedroht sind und die durch die Sozialversicherung gegen diese Gefahren geschützt werden. Sozialversicherung ist i n diesem Sinne trotz aller sozialpolitischen Überlagerungen und „Verwachsungen" Versicherung, nämlich kollektive Sicherung gegen künftige zufällige und schätzbare Bedarfe durch entsprechende Beitragsleistungen der von einer gemeinsamen Gefahr Bedrohten. Darin liegt die Fähigkeit der Sozialversicherung zur „System-Autonomie", womit die Sozialversicherung den sozialpolitischen Durchbruch der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erzielen konnte und welche auch heute noch Sozialversicherung — je nach den politischen, administrativen, ökonomischen usw. Rahmenbedingungen — unentbehrlich machen kann. W i r d ihre Eigenart voll entfaltet, w i r d Sozialversicherung 84 Wenngleich dafür i n den verschiedenen Ländern ein höchst unterschiedliches I n s t r u m e n t a r i u m gewählt w i r d , ist der Grundgedanke doch allen sozialen Sicherungssystemen gemeinsam. 85 s. dazu noch einmal Felix Schmid, A n m . 7.
31
Sozialversicherung — soziale Sicherung — soziale Förderung
39
— durch besondere Träger durchgeführt, — die aus den Beiträgen der Versicherten finanziert werden und — i n Selbstverwaltung der Versicherten (und anderer Beitragszahler, insbesondere der Arbeitgeber) stehen. Das ermöglicht, daß Sozialversicherung ohne Inanspruchnahme, Belastung oder Veränderung vorgegebener staatlicher und kommunaler Organisations- und Finanzstrukturen eingerichtet w i r d — so wie die Sozialversicherung zur Zeit Bismarcks die föderativen Abwehrkräfte zur Verteidigung der gegebenen Verteilung bundesstaatlicher Kompetenzen und M i t t e l nicht zur Geltung kommen ließ 8 6 . Sozialversicherung muß nicht i n diesem Sinn autonom finanziert und/oder autonom verwaltet werden. Sowohl Mischfinanzierung (Beiträge und allgemeine Haushaltsmittel des Staates) als auch staatliche Administration (durch besondere oder allgemeine) staatliche Behörden sind denkbar. Aber auch i m Falle einer „Mischstruktur" können einzelne für die Sozialversicherung typische Struktur-Elemente „System-befreiend" wirken. Insbesondere der Beitrag spielt als eine vom allgemeinen Abgabensystem ablösbare Weise der Finanzierung von sozialer Sicherheit eine wesentliche Rolle 8 7 . Andererseits bleiben so der Technik der Sozialversicherung auch immer die Grenzen gesetzt, die sich aus der Korrespondenz der beiden Grundelemente, der typischen Gefahr (des sozialen Risikos) und des Beitrages derjenigen, die gegen diese typische Gefahr geschützt werden, ergeben. Wo Gefahren nicht mehr typisierbar sind, kann der Kreis der Bedrohten nicht bestimmt werden. Somit kann auch der Kreis der Beitragspflichtigen schließlich nicht mehr ermittelt werden. Die Ubergänge sind i n einem breiten Feld fließend. Aber letztlich gibt es klare Grenzen der Unzumutbarkeit (und der Nicht-Akzeptanz) von Beitragspflichten. Sie liegen nicht nur dort, wo die Typisierbarkeit der Gefahr endet, sondern auch dort, wo der Begriff der „Gefahr" verlassen wird. Förderungsleistungen, die an Personen gehen, die von keiner sozialen Verschlechterung bedroht sind, denen vielmehr eine soziale Chance oder sonstwie eine gesteigerte Wohlstandsteilhabe vermittelt werden soll, müssen vom Gemeinwesen als ganzem, sie können nicht von einer Ver88
s. dazu Michael Stolleis, Die Sozialversicherung Bismarcks. Politisch institutionelle Bedingungen ihrer Entstehung, i n : Bedingungen f ü r die Entstehung u n d E n t w i c k l u n g v o n Sozialversicherung (Anm. 1), S. 387 ff. u n d Zöllner, S. 86 ff. 87 Dies bestätigt ζ. B. der Landesbericht/Großbritannien gerade f ü r das sonst sehr eigenartige englische „Mischsystem" sozialer Sicherung; s. Ogus, S. 436 ff.
Sozialersicherung: Pfade der Entwicklung
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sichertengemeinschaft oder einer (analog zur Versichertengemeinschaft gedachten) Gemeinschaft der zu Fördernden finanziert werden. A u f der anderen Seite setzen Βeitragspfliehten die Fähigkeit voraus, Beiträge leisten zu können. Diese „Vorsorgefähigkeit" war von vornherein eine der wesentlichen Implikationen der Sozialversicherung 88 . Sozialversicherung ist so von vornherein kein Instrument zur sozialen „Absorption" von Armut. Sozialversicherung kann A r m u t bei Personen verhindern, die schon einmal „nicht-arm" waren. Sie kann aber Arme nicht über die A r m u t hinausheben. Gewiß hat man mittlerweile Techniken entwickelt, u m unter besonderen Umständen Personen, die Beiträge nicht leisten und infolgedessen den Zugang zur Sozialversicherung nicht finden können, den Beitragsfähigen gleichzustellen — so etwa wenn für Behinderte Sozialversicherungsbeiträge gezahlt werden, die sie selbst nicht leisten können. Aber dieser Lösung sind vom System her Grenzen gesteckt. Allgemein die Beiträge derer, die Beiträge nicht leisten können, zu substituieren, würde die Idee der Sozialversicherung ad absurdum führen. So muß eine Sozialpolitik, — die soziale Leistungen auch i n sozialen Lagen vorsieht, gegen die — weil sie nicht typisierbar oder keine „Gefahren" sind — Sozialversicherung nicht stattfinden kann, und — die Sozialleistungen nicht nur i n Ausnahmefällen, sondern als Regel auch an Personen heranführen w i l l , die nicht imstande sind, entsprechende Beiträge zu leisten, das Modell der Sozialversicherung verlassen. Das hat vielfach dazu geführt, daß die Sozialversicherung als etwas Überholtes angesehen wird. Die jüngere und allgemeinere Kategorie der sozialen Sicherung (jedenfalls für die Bundesrepublik genauer: der sozialen Sicherung und Förderung), die nicht an der technischen Kette des Beitrags liegt, scheint sowohl der Gegenwart wie der Zukunft mehr zu bieten. Das ist aber nur i n der Weise richtig, daß eine Sozialpolitik, die über einer allgemeinen, auf das Existenzminimum zielenden Fürsorge nur das leisten wollte, was die besondere Technik der Sozialversicherung leisten kann, nicht mehr denkbar ist. Es ist aber nicht i n dem Sinne richtig, daß alles das, was moderne Sozialpolitik über die Sicherung des Existenzminimums hinaus leisten soll und w i l l , auf andere Weise als durch Sozialversicherung geleistet werden sollte oder auch nur könnte. Vielmehr scheint das, was eine entwickelte Sozialpolitik an sozialer Sicherung und Förderung anbieten soll, nur durch ein Gefüge von Techniken 88
s. dazu Köhler (Anm. 11), S. 33 ff.
3
Sozialversicherung — soziale Sicherung — soziale Förderung
41
möglich zu sein, i n dem der Sozialversicherung nach wie vor ein bedeutsamer Platz — international gesehen wohl aber ein notwendiger Platz — zukommt. Welches der optimale Platz der Sozialversicherung ist, ist sicher eine national und historisch konkret zu entscheidende Frage. Gleichwohl ist zu hoffen, daß das Colloquium, dessen Vorbereitung die hiermit eingeleiteten Landesberichte dienen, dazu beiträgt, die A n t w o r t auf diese Frage zu erleichtern.
ZWEITER T E I L
Landesberichte
Landesbericht Deutschland
Von
Detlev Zöllner
Inhaltsübersicht
Α. Einleitung: Grundzüge und Eigenarten der Sozialgesetzgebung in Deutschland 1. Sozialausgaben u n d Umfang der Sicherung
7
51
2. Sicherungsinstitutionen
9
53
10
54
13
57
13
57
3. Leistungen u n d Finanzierung
B. Historische Entwicklung I. Die Ausgangslage (1850 - 1880) 1. ökonomische u n d soziale Veränderungen a) Bevölkerungszunahme u n d Urbanisierung
13
57
b) Zunehmende Lohnabhängigkeit
14
58
c) Industrialisierung
15
59
d) Einkommens- u n d Lebenslage der Arbeitnehmer aa) Verbesserung der Beschäftigungslage bb) Konstante Realeinkommen cc) Problem der Einkommenssicherung dd) Räumliche Konzentration u n d Bewußtseinslage der Industriearbeiterschaft
17 17 17 19
61 61 61 63
19
63
2. Das politische Kräftefeld
20
64
a) Reichsgründung, A d e l u n d Bürgertum
20
64
b) Die Arbeiterbewegung
21
65
c) Bismarck u n d die Arbeiterfrage aa) Motive u n d Aktionsbereitschaft bb) Der Einfluß v o n Sozialreformern
24 24 28
68 68 72
d) Zusammenhänge m i t der Reichspolitik
29
73
3. Formen sozialer Sicherung
31
75
a) Fürsorge
31
75
b) Arbeitgeberverpflichtung
33
77
c) Versicherung aa) Hilfskassen bb) Knappschaftskassen
35 36 38
79 80 82
48
4
Inhaltsübersicht
I I . Die erste Gesetzgebung 1. Entscheidungsprozesse
39
83
39
83
a) Die Durchsetzung der Versicherungspflicht
40
84
b) Organisation u n d Finanzierung
42
86
c) Die Grundlagen der weiteren E n t w i c k l u n g
47
91
48
92
2. Das materielle Recht a) Personenkreis der Versicherten
48
92
b) Leistungen
49
93
c) Finanzierung
50
94
d) Organisation
51
95
52
96
53
97
3. Das sozialpolitische Ergebnis 4. Erste Weiterentwicklungen (1883 - 1900) a) Kreis der versicherten Personen
53
97
b) Leistungen
55
99
c) Finanzierung
55
99
56
100
I I I . Die E n t w i c k l u n g seit der Jahrhundertwende 1. Ausbau u n d Kodifikation (1900 - 1914) a) Fortgang der sozio-ökonomischen Umstrukturierung . . . .
56
100
56
100
b) Das politische Kräftefeld
57
101
c) Konsolidierung der Sozialversicherung
59
103
d) Die Reichsversicherungsordnung aa) Gang der Kodifikation bb) Neuerungen
62 62 63
106 106 107
e) Hinterbliebenensicherung
64
108
f) Angestelltenversicherung
66
110
2. Der Erste W e l t k r i e g
67
111
3. Die Weimarer Republik (1919 - 1932)
68
112
a) Rahmenbedingungen
68
112
b) Die aa) bb) cc) dd) ee) ff)
71 72 72 73 73 74 75
115 116 116 117 117 118 119
E n t w i c k l u n g der klassischen Zweige Personenkreis Geldleistungen Sach- u n d Dienstleistungen Finanzierung A u s w i r k u n g e n der Deflationspolitik Organisation
c) Normierung des Kassenarztrechts
76
120
d) E i n f ü h r u n g der Arbeitslosenversicherung
78
122
e) Ansätze zu Sozialhilfe u n d sozialer Entschädigung
81
125
5
Inhaltsübersicht
49
4. Die Zeit des Nationalsozialismus (1933 - 1945)
83
127
a) Rahmenbedingungen
83
127
d) Beseitigung der Selbstverwaltung, politische u n d rassische Verfolgung
84
128
c) Die Rechtsentwicklung
85
129
5. Die Bundesrepublik Deutschland
88
132
a) Rahmenbedingungen
88
132
b) Die Entwicklung bis zum Grundgesetz (1945 - 1949)
90
134
c) Grundlegungen der Bundesgesetzgebung (bis 1955) aa) Sozialversicherung i m Grundgesetz bb) Der erste Deutsche Bundestag cc) „Errichtungsgesetze" dd) Kassenarztrecht ee) Selbstverwaltung ff) W ü r d i g u n g
92 92 93 94 95 95 96
136 136 137 138 139 139 140
97 97 101
141 141 145
103 103 104 104 106 106 107 107 108
147 147 148 148 150 150 151 151 152 153
d) Die Rentenreform von 1957 aa) Reformdiskussion u n d Willensbildung bb) I n h a l t der Neuregelungen e) Weiterentwicklungen u n d Auslaufen der (bis 1965) aa) Kindergeld bb) Sozialhilfe cc) Altershilfe f ü r L a n d w i r t e dd) Handwerkerversicherungsgesetz ee) Fremdrenten ff) Andere Prioritäten gg) Unfallversicherungsneuregelungsgesetz hh) Reform der Krankenversicherung
Sozialreform
f) ökonomisierung u n d Anpassung (1966 - 1969)
109
g) Weiterentwicklungen 1970 - 1975
113
157
h) Konsolidierung u n d Kostendämpfung ab 1975 aa) Krankenversicherung bb) Rentenversicherung cc) Sonstige Entwicklungen
117 118 119 122
161 162 163 166
1. Z u r Entstehung
124
168
2. Z u r Expansion
126
170
3. Z u m Funktionswandel
129
173
4. Schlußbemerkung
133
177
135
179
C. Schluß: Aspekte der Erklärung
Literatur 4 Sozialversicherung
Α. Einleitung: Grundzüge und Eigenarten der Sozialgesetzgebung in Deutschland 1. Sozialausgaben und Umfang der Sicherung
Der Hauptteil dieser Arbeit stellt die Entstehung und Entwicklung eines Systems der sozialen Sicherung dar, das weltweit als umfassend und funktionsfähig eingeschätzt wird. I n merkwürdigem Kontrast zu dieser Erfahrung steht eine andere: die Schwierigkeit, einem wenig informierten Interessenten das deutsche System verständlich zu machen. Institutionelle Vielfalt, sektorspezifische Sonderheiten und eine Vielzahl von Rechtsquellen geben oft Anlaß zu Irritierungen. Die vom deutschen System der sozialen Sicherung bewirkten monetären Umsätze sind enorm. Die Summe aller aufgrund gesetzlicher Vorschriften erbrachten Leistungen zum Zwecke des Einkommensersatzes oder der Vermeidung zusätzlicher Belastungen i m Falle bestimmter sozialer Tatbestände entspricht fast einem Drittel des Bruttosozialprodukts. M i t dieser Sozialleistungsquote steht die Bundesrepublik Deutschland international i n der Spitzengruppe. Die Sozialleistungen werden vor allem für folgende Tatbestände erbracht (in v. H. aller Sozialausgaben, 1975): Alter und Hinterbliebene 36,2, Gesundheit 31,7, Familie 16,1, Beschäftigung β ^ 1 . Diese funktionale Gliederung der Sozialleistungen sieht davon ab, welche Institutionen diese Leistungen erbringen, welche Rechtsvorschriften ihnen zugrunde liegen und wie sie finanziert werden. Als ersten Grundzug der Sozialgesetzgebung i n Deutschland kann man also herausstellen, daß sie i n vergleichsweise großem Ausmaß monetäre Umverteilung bewirkt; als Eigenart mag dabei i m internationalen Vergleich erscheinen, daß die Ausgaben für die Alterssicherung dominieren 2 . Der hohe monetäre Aufwand für die Tatbestände Alter und Gesundheit sollte vermuten lassen, daß alle Bürger des Landes gegen diese Grundrisiken gesichert sind. I m Grundzug t r i f f t dies zu. Konstitutiv Hinweis: Anmerkungen ohne Fundstellennachweis beziehen sich auf das Literaturverzeichnis Seite 179. 1 Sozialbericht 1976, hrsg. v o m Bundesminister f ü r A r b e i t u n d Sozialordnung, Bonn 1976, S. 105. Zitate aus anderen Sozialberichten (seit 1970, vorerst bisJ.980) beziehen sich auf die Veröffentlichung des B M A . 2 Detlev Zöllner, Alterssicherungssysteme i m internationalen Vergleich, Schriftenreihe des Deutschen Sozialgerichtsverbandes Bd. X V I I , 1978, S. 146. 4*
52
Landesbericht Deutschland
für die Sozialversicherung ist die auf Gesetz beruhende Versicherungspflicht oder die durch Gesetz eingeräumte Möglichkeit der freiwilligen Versicherung. Grundsätzlich sind alle Arbeitnehmer pflichtversichert i n der Rentenversicherung und der Unfallversicherung; i n der Krankenversicherung besteht für Angestellte eine Versicherungspflichtgrenze. Von den selbständig Erwerbstätigen sind mehr als zwei Drittel entweder i n der Sozialversicherung für Arbeitnehmer oder i n eigenständigen Einrichtungen versichert. Der gegen Krankheitsfolgen gesicherte A n t e i l der Erwerbstätigen betrug i m Jahre 1973 93,7 v. H., der für den Fall des Alters gesicherte i m gleichen Jahr 86,8 v. H A Zu den Eigenarten der deutschen Sozialversicherung gehört jedoch, daß auch heute nach hundertjähriger Entwicklung noch nicht die gesamte Bevölkerung gegen die Grundrisiken versichert ist. I m Gegensatz zu Ländern, die hinsichtlich der Abgrenzung des gesicherten Personenkreises das Wohnsitzprinzip zugrunde legten, ist i n Deutschland bis heute das Prinzip der Schutzbedürftigkeit gültig geblieben. Technisches M i t t e l der Anwendung dieses Prinzips ist die Abgrenzung der Versicherungspflicht horizontal nach einzeln definierten Personengruppen und vertikal nach der Einkommenshöhe. Eine Fülle von Literatur, Rechtsprechung und Rechtsetzung diente der jeweils als richtig empfundenen Abgrenzung des gesicherten Personenkreises. Das Ergebnis zahlloser punktueller gesetzgeberischer Schritte unter allmählicher Akzentverschiebung von der Frage der Sicherungsbedürftigkeit zur Sicherungsfähigkeit kommt demjenigen i n Ländern m i t Wohnsitzprinzip recht nahe. Doch es gibt weiterhin Lücken, die als historisches Erbe der Anwendung des Schutzbedürftigkeitsprinzips anzusehen sind. Die schrittweise Auffüllung dieser Lücken ist weiterhin Diskussionsgegenstand, wie ζ. B. die soziale Sicherung der nichterwerbstätigen Ehefrau, der Künstler, der Behinderten. Während hinsichtlich der Versicherungspflicht i n der Sozialversicherung noch spezifische Begrenzungen bestehen, gilt für andere Leistungsbereiche das Wohnsitzprinzip. Die Sozialhilfe gewährt i m Falle unzureichenden Einkommens Hilfe zum Lebensunterhalt oder Hilfe i n besonderen Lebenslagen an alle Personen, die sich i m Gebiet der Bundesrepublik aufhalten. Das gleiche gilt bei Erfüllung der erforderlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Kindergeld und Ausbildungsförderung. Ebenso stehen Leistungen der sozialen Entschädigung bei Vorliegen der entsprechenden Schädigungsursachen allen Wohnbürgern zu. 3 Sozialbericht 1972, S. 2. K r a n k h e i t : gesetzliche Krankenversicherung, Anspruch auf Beihilfe oder Heilfürsorge, ohne private Krankenversicherung. A l t e r : gesetzliche Rentenversicherungen (ohne latent Versicherte), Altershilfe f ü r Landwirte, Beamtenversorgung, ohne betriebliche Altersversorgung.
Grundzüge der Sozialgesetzgebung i n Deutschland
53
2. Sicherungsinstitutionen
Grundzug und Eigenart zugleich des deutschen Systems ist dessen institutionelle Vielfalt. Die Träger der klassischen Zweige der Sozialversicherung — Rentenversicherung, Krankenversicherung, Unfallversicherung — erbringen knapp zwei Drittel aller direkten Leistungen. Sie sind nach der Zahl der betreuten Personen, dem monetären A u f wand und der Zahl der Beschäftigten das Kernstück des Systems. Daneben stehen weitere Einrichtungen, die man der Versicherung zuordnen kann: die Arbeitslosenversicherung, die Altershilfe für Landwirte, berufsständische Versorgungswerke. Entschädigungsleistungen für Kriegsbeschädigte, Vertriebene und Verfolgte werden von besonderen staatlichen Behörden, Leistungen der Sozialhilfe von kommunalen Behörden erbracht. Die Sozialversicherungsträger i n der Bundesrepublik Deutschland sind nicht staatliche Behörden, sondern organisatorisch und finanziell selbständige öffentlich-rechtliche Körperschaften. Diese Eigenart ist historisch bedingt, ebenso wie ihre Untergliederung nach verschiedenen Kriterien. Es gibt rd. 1.400 Krankenkassen, 54 gewerbliche und 19 landwirtschaftliche Berufsgenossenschaften als Träger der Unfallversicherung und 21 Träger der Rentenversicherung. Dies widerspiegelt die Gliederung der Sozialversicherungsträger nach Sicherungszweigen. Weiter gibt es eine Gliederung nach Wirtschaftszweigen: die Berufsgenossenschaften, die nach Wirtschaftszweigen abgegrenzt sind, Sondereinrichtungen für Landwirtschaft, Bergbau und Seeschiffahrt, Innungskrankenkassen für das Handwerk. Hinzu kommt eine Gliederung nach der sozialen Stellung der Versicherten i m Erwerbsleben: Rentenversicherung der Arbeiter und Rentenversicherung der Angestellten, Ersatzkassen für Angestellte, Alterskassen und Krankenkassen für Selbständige i n der Landwirtschaft. Neben den allgemeinen Ortskrankenkassen gibt es eine große Zahl von Betriebskrankenkassen. Schließlich sind die Sozialversicherungsträger regional untergliedert: die Ortskrankenkassen, die Landesversicherungsanstalten, teilweise die gewerblichen Berufsgenossenschaften, die Träger der landwirtschaftlichen Sozialversicherung. Dieses kaum systematisierbare institutionelle Geflecht hat historische Ursachen, auf die später einzugehen sein wird. Es hat von seiner Entstehung an bis heute immer wieder K r i t i k ausgelöst und dennoch ein hohes Maß an Kontinuität bewiesen. Die Frage nach den dafür ursächlichen Gründen w i r d später wieder aufgenommen. Bei den Sozialversicherungsträgern gibt es seit ihrer Entstehung eine Selbstverwaltung, mittels derer die Versicherten und ihre Arbeitgeber an der Willensbildung des Versicherungsträgers mitwirken. Die von diesen Gruppen gewählten ehrenamtlichen Vertreter bilden Organe —
54
Landesbericht Deutschland
10
Vertreterversammlung und Vorstand —, die die Satzung des Versicherungsträgers und dessen Haushalt beschließen, den Geschäftsführer wählen und i m Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen den Gang der Verwaltung festlegen. Die Organe sind i m allgemeinen m i t der gleichen Zahl von Versicherten- und Arbeitgebervertretern besetzt, doch gibt es auch hier wieder — meist historisch bedingte — Ausnahmen: Bei der Bundesknappschaft (Bergbau) besteht eine Zweidrittelmehrheit der Versicherten, bei den Ersatzkassen gibt es allein Versichertenvertreter; bei den landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften haben die Arbeitnehmer wie die Arbeitgeber ein Drittel der Sitze, ein weiteres Drittel stellen die Selbständigen, die keine fremden Arbeitskräfte beschäftigen. 3. Leistungen und Finanzierung
Die Sozialleistungen werden i n der Bundesrepublik Deutschland zu etwa 40 v. H. aus staatlichen Mitteln und zu etwa 60 v. H. aus Beiträgen finanziert. Die Sozialversicherung allein finanziert sich ganz überwiegend aus Beiträgen; lediglich zu den Aufwendungen der Rentenversicherung gewährt der Bund Zuschüsse, die bei der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten etwa 15 v. H. der Ausgaben entsprechen. Der Grundzug besteht also i n einem hohen Anteil der Beiträge an der Gesamtfinanzierung. Entsprechend hoch sind die von Versicherten und ihren Arbeitgebern je zur Hälfte zu tragenden Beiträge. Von dem Arbeitsentgelt (bis zur Beitragsbemessungsgrenze) sind zu entrichten 18,5 v. H. für die Rentenversicherung, 11,3 v. H. (im Durchschnitt) für die Krankenversicherung und 3 v. H. für die Arbeitslosenversicherung, zusammen also fast ein Drittel des Entgelts. Der hohe Finanzbedarf ist bedingt durch ein gut ausgebautes Leistungssystem. I m Falle der Krankheit erhalten der Versicherte und seine leistungsberechtigten Familienangehörigen diejenigen ärztlichen Leistungen, die zur Heilung oder Linderung nach dem jeweiligen Stande der Heilkunde zweckmäßig und ausreichend sind; dazu gehört auch die Überweisung an Fachärzte und Krankenhäuser sowie die Verordnung von Arzneien. Der Versicherte hat die freie Wahl unter den zugelassenen Kassenärzten. Diese letzteren sind zu Kassenärztlichen Vereinigungen zusammengeschlossen, die die kassenärztliche Versorgung sicherzustellen haben und Vertragspartner der Krankenkassen für die ärztliche Honorierung sind. Es bestehen also zwischen dem einzelnen Arzt und dem Patienten keinerlei finanzielle oder sonstige Rechtsbeziehungen. Die wirtschaftliche Sicherung i m Krankheitsfalle ist gewährleistet durch einen Anspruch auf Weiterzahlung des Arbeitsentgelts gegen den Arbeitgeber für die Dauer von 6 Wochen. Danach erhält der Versicherte vom Krankenversicherungsträger ein Krankengeld i n Höhe von 80 v. H. seines Arbeitsentgelts.
11
Grundzüge der Sozialgesetzgebung i n Deutschland
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I m Falle eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit erhält der Verletzte Heilbehandlung und Berufshilfe. Ist die Erwerbsfähigkeit des Verletzten um mindestens 20 v. H. über die 13. Woche nach dem Unfall hinaus gemindert, so erhält er eine Rente. Diese entspricht bei Erwerbsunfähigkeit zwei D r i t t e l des voraufgegangenen Arbeitsverdienstes, sonst dem Teil der Vollrente, der dem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit entspricht. I m Falle des Alters und der Invalidität erhält der Versicherte (im Falle seines Todes seine Hinterbliebenen) eine Rente, die sich berechnet nach Maßgabe der Versicherungsdauer und des individuellen Arbeitsverdienstes während des zurückliegenden Arbeitslebens. Eine A k t u a l i sierung dieser früheren Arbeitsverdienste stellt sicher, daß die Stellung des Versicherten i m Einkommensgefüge während seines Arbeitslebens sich i n der Rentenhöhe ausdrückt. Die Rentenversicherung w i l l also den relativen Lebensstandard sichern. Ein Versicherter, der stets den Durchschnittsverdienst bezogen hat, erreicht nach 40 Versicherungsjähren eine Rente, die u m 60 v. H. des aktuellen Durchschnittsverdienstes liegt 4 . Die laufenden Renten werden jährlich an Veränderungen des Durchschnittslohnes angepaßt, u m ein Absinken des Lebensstandards der Rentner infolge von Lohn- und Preiserhöhungen zu vermeiden. I n der Alterssicherung ist das Prinzip der Äquivalenz zwischen Dauer und Höhe der Beitragsentrichtung einerseits und Rentenhöhe andererseits stark ausgeprägt. Zwar gibt es eine Reihe von Elementen, die von diesem Äquivalenzprinzip abweichen — u. a. Rente nach Mindesteinkommen, Kinderzuschüsse, Anrechnung beitragsloser Zeiten — doch sind diese vorwiegend pragmatisch motiviert i m Hinblick auf eine gerechte Umverteilung zwischen Jung und A l t ; sie sind jedenfalls nicht motiviert als Umverteilung zwischen Reich und Arm. Es löst zuweilen Erstaunen aus, wie wenig das deutsche System der Sozialversicherung vom Motiv der „redistribution" i m letztgemeinten Sinne geprägt ist. Dies t r i f f t für die Alterssicherung weitgehend zu. I n der Krankenversicherung dagegen findet eine erhebliche vertikale Umverteilung statt, weil hier einerseits die Beiträge streng einkommensproportional erhoben werden, andererseits 90 v. H. der Ausgaben Sach- und Dienstleistungen sind, die unabhängig vom Einkommen allein nach Maßgabe des (medizinischen) Bedarfs erbracht werden. Die Darstellung von Grundzügen und Eigenarten der deutschen Sozialgesetzgebung kann an dieser Stelle weder objektiv noch annähernd vollständig sein. Der an mehr Information über das gegen4 Dieses „Rentenniveau" schwankt i m zeitlichen A b l a u f i n Abhängigkeit von der Lohnentwicklung; die Z a h l f ü r 1977 betrug 66,4.
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wärtige System interessierte Leser sei auf andere Quellen verwiesen 5 . Wenn mehr Fragen entstanden sind als beantwortet wurden, so möchte doch deutlich geworden sein, daß die Grundzüge und Eigenarten des deutschen Systems — wie immer man diese auswählt und gewichtet — i n starkem Maße eine historische Bedingtheit aufweisen. Fast immer w i r d man auf die Frage Warum? historisch rekurrieren müssen. Der nachfolgend gegebene historische Rekurs ist nach Intention und Umfang begrenzt. Er kann deshalb auch nur eine Auswahl der zahlreich vorhandenen Literatur auswerten und erwähnen. Dies gilt insbesondere für die Entstehungsphase der Sozialversicherung i n Deutschland. Der weitergehend interessierte Leser sei auf die i n Band 3 dieser Schriftenreihe enthaltenen Beiträge und die dort genannten Quellen verwiesen. Die i m folgenden geschilderte Entwicklung hat sich i n einer großen Anzahl von Rechtsetzungsakten niedergeschlagen. Z u r Sozialversicherung i m engeren Sinne sind seit 1883 etwa 400 Gesetze und über 1.000 Verordnungen ergangen. Viele dieser Rechtsquellen müssen i n der Darstellung erwähnt werden. I m Interesse der Lesbarkeit und der Raumersparnis werden nur die Kurzbezeichnungen und das Erscheinungsjahr der Gesetze angegeben. Der an Langbezeichnung und Fundstelle interessierte Leser muß auf die vorhandenen chronologischen Zusammenstellungen verwiesen werden 6 .
5 Eine wertfreie, vollständige u n d korrekte Darstellung gibt die von Dieter Schewe u n d Mitautoren bearbeitete Übersicht über die soziale Sicherung, hrsg. v o m Bundesminister f ü r A r b e i t u n d Sozialordnung, 10. Aufl., Bonn 1977. 6 Zeittafel sozialpolitischer Gesetze u n d Verordnungen 1839 - 1939 i n SyrupNeuloh, S. 543 ff.; 70 Jahre Sozialversicherungsrecht, Bundesarbeitsblatt 1953, S. 751; ab 1954 vgl. jährliche Verzeichnisse i m Bundesarbeitsblatt; Verzeichnis der Änderungen der RVO seit 1925 i n der Textausgabe „Sozialgesetzbuch. Reichsversicherungsordnung" des Beck-Verlages; vgl. auch Michael Stolleis, Quellen zur Geschichte des Sozialrechts, Göttingen 1976 sowie Horst Peters, Die Geschichte der sozialen Versicherung, 3. Aufl., Sankt Augustin 1978. Eine recht detaillierte Zusammenstellung vor allem auch von Materialien der Versicherungsträger u n d ihrer Verbände gibt Florian Tennstedt, Quellen zur Geschichte der Sozialversicherung, i n : Zeitschrift f ü r Sozialreform, 1975, S. 225, 358 u. 422.
Β. Historische Entwicklung I. Die Ausgangslage (1850 - 1880) Die Gesetzgebung über Sozialversicherung entstand i n Deutschland aus einer gegebenen sozialen, ökonomischen, rechtlichen und politischen Situation und wollte i n diese hineinwirken. Der Versuch, sich diese Situation rückschauend zu vergegenwärtigen, erfordert eine Auswahl charakteristischer und für die Entstehung der Sozialgebung relevanter Sachverhalte. Diese Auswahl kann nicht allein unter der Fragestellung erfolgen, welche Sachverhalte nach heutigem Erkenntnisstand relevant erscheinen, sondern muß berücksichtigen, welche Sachverhalte die damals agierenden Menschen zu A k t i o n oder Reaktion veranlaßten. Ferner muß die Schilderung der Ausgangssituation wesentlich eine Darstellung der Veränderung von Sachverhalten sein, denn solche Änderungen waren es vor allem, die zur Sozialgesetzgebung Anlaß gaben. Dabei ist wiederum die Darstellung der heute erkennbaren Änderungen zu ergänzen durch Beantwortung der Frage, ob, i n welchem Maße und i n welcher Weise die Veränderungen den damaligen Akteuren bewußt waren. 1. ökonomische und soziale Veränderungen
a) Bevölkerungszunahme
und Urbanisierung
I m vorigen Jahrhundert wuchs die Bevölkerung Deutschlands von 23 Mill, auf 56 Mill. Menschen an. I n der zweiten Hälfte des Jahrhunderts verstärkte sich das Wachstum der Bevölkerung noch gegenüber der ersten Hälfte; i m Durchschnitt der Jahre 1850 - 1900 wuchs die Bevölkerung u m jährlich 1,2 °/o. Dieses Wachstum vollzog sich trotz deutlich zurückgehender Geburtenzahlen durch eine drastische Erhöhung der Lebenserwartung infolge von Fortschritten der Medizin — vor allem bei der Bekämpfung von Epidemien — und der Anhebung des Lebensstandards. Hungersnöte, die i n früheren Jahrhunderten die Bevölkerung regelmäßig reduziert hatten, fehlten infolge erhöhter agrarischer Produktivität und verbesserter Transportmöglichkeiten. Der Bevölkerungszuwachs w a r m i t einer Vermehrung der städtischen Bevölkerung verbunden. Die Bevölkerung in Orten dörflichen Charakters wuchs zwischen 1850 und 1900 kaum nennenswert an; i n Orten zwischen 2.000 und 30.000 Einwohnern wuchs sie um etwa 60 °/o, i n Orten über 30.000 Einwohnern etwa auf das Fünffache.
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b) Zunehmende
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Lohnabhängigkeit
Die wachsende Bevölkerung verursachte einen zunehmenden Bedarf an Arbeitsplätzen. Dieser Arbeitsplatzbedarf wurde noch erhöht durch die Auswirkungen der beiden großen Reformen i n der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: der Bauernbefreiung und der Einführung der Gewerbefreiheit. Die Bauernbefreiung bestand i m wesentlichen i n der Aufhebung der persönlichen Bindungen an den Grundherrn, der Umwandlung von Dienstpflichten und naturalen Abgaben i n Geldleistungen und i n der Verteilung des Eigentums anstelle von Nutzungsrechten. Die Ablösung der bäuerlichen Verpflichtungen mußte jedoch entgolten werden. Entweder wurde nur ein Teil der bisher vom Bauernhof genutzten Fläche i n Eigentum überführt (die Hälfte, bei bereits vorhandenem Erbrecht zwei Drittel) oder die bisherigen Verpflichtungen wurden i n eine A b lösesumme umgewandelt, die vom Bauern zu verzinsen und zu amortisieren war. M i t anderen Worten: die Bauernhöfe wurden wirtschaftlich geschwächt oder zusätzlich belastet. Diese Vorgänge fielen i n eine Zeit niedriger Getreidepreise. Die Inhaber größerer Betriebe, zumeist identisch m i t den bisherigen Grundherren, waren hinsichtlich Vermögen und Liquidität ungeschwächt. Unter ihnen setzte sich das Erwerbsprinzip durch und sie gingen zur Beschäftigung von Lohnarbeitern („Tagelöhner") über. Durch Anwendung rationeller, kapitalintensiver Anbaumethoden konnten sie Einkommensverluste durch vermehrte Erträge kompensieren. Infolge dieser unterschiedlichen Bedingungen w u r den viele kleine Besitzstellen von größeren Betrieben aufgekauft. Arbeitslosigkeit auf dem Lande war die Folge. Beschäftigungs- und bindungslos gewordene ländliche Hintersassen gerieten i n größte Bedrängnis 7 . Z u Anfang des 19. Jahrhunderts hatten etwa 85 °/o aller Familien ein — wenn auch eingeschränktes — Bodennutzungsrecht; um die Mitte des Jahrhunderts betrug dieser A n t e i l etwa 60 °/o8. Auch i n der Folgezeit ist der A n t e i l landloser oder landarmer Familien stetig gestiegen. Der A n t e i l der i n der Landwirtschaft Erwerbstätigen sank von etwa zwei Drittel u m 1800 auf die Hälfte um 1875. Die Gewerbefreiheit wurde i n den linksrheinischen Gebieten unter französischer Besatzung (um 1790), i n Preußen 1807, i n allen deutschen Ländern bis 1868 eingeführt. Sie hatte ebenso wie die Bauernbefreiung eine Freisetzung von Arbeitskräften zur Folge. Zwar nahm kurzfristig die Zahl der Handwerksmeister und damit der Betriebe zu, doch zeigte sich i m Ganzen, daß das Handwerk unter der zünftigen Ordnung überbesetzt gewesen war. Die Freisetzung von Arbeitskräften aus dem 7 8
A. v o n Lengerke, Die ländliche Arbeiterfrage, 1849. Henning, Bd. 2, S. 45.
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Handwerk schuf eine wichtige Voraussetzung für die beginnende Entwicklung der Industrie und zwar vor allem m i t Bezug auf die Qualität der Arbeitskräfte. Vor dem Hintergrund weitverbreiteter Arbeitslosigkeit w a r ein Arbeitsplatz i n der Industrie sehr begehrt. „Gegenüber den bäuerlichen und handwerklichen Unterschichten . . . galten die Fabrikarbeiter i n den dreißiger und vierziger Jahren als begünstigte Schicht. Fabrikarbeit bedeutete vielen Sicherung des Existenzminimums, persönliche Unabhängigkeit, Möglichkeit zur Familiengründung, ja relative Sicherheit und soziales Ansehen 9 ." Doch die Industrie konnte lange Zeit nicht genügend Arbeitsplätze bereitstellen. Die durch Bevölkerungszunahme sowie Freisetzungen bewirkte Zunahme lohnabhängiger Menschen hatte deshalb einen Auswanderungsdruck zur Folge. Zwischen 1815 und 1835 sind mehr als 400.000 Menschen aus Deutschland ausgewandert. „Die Zeiten der Nahrungsmittelknappheit (Teuerungsjähre, Hungerperioden) erhöhten die Zahl der Auswanderer (1816/17, 1828, 1831). Nahrungsmittelüberfluß und niedrige Agrarpreise dämpften die Auswanderung. Dies ist als ein Indiz dafür anzusehen, daß nicht begüterte Schichten (Bauern, wohlhabende Handwerker und Händler) auswanderten, sondern von Lohn lebende Bevölkerungsgruppen einschließlich schlecht verdienender Handwerker, die keine oder nur eine geringe Landnutzung hatten 1 0 ." Die Auswanderung nahm i n den folgenden Jahrzehnten noch zu von jahresdurchschnittlich 15.000 Personen i m Zeitraum 1831 - 40 auf 82.000 Personen i m Zeitraum 1861 - 70. c) Industrialisierung Ein für die Entstehung der Sozialversicherungsgesetzgebung entscheidender Vorgang war die Industrialisierung. Sie setzte i n Deutschland i n den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts ein. Die Industrialisierung war gekennzeichnet und zum guten Teil auch bedingt durch folgende Faktoren: — Anwachsen der Zahl der vermögenslosen und lohnabhängigen Menschen (Arbeitnehmer); — Fortschritte der Produktionstechnik, vor allem Ersetzung der Handarbeit durch Maschinenarbeit; — Vermehrter Kapitaleinsatz (Nettoinvestitionen); — Schaffung des Deutschen Zollvereins (bis 1834) und innerhalb dessen Patentübereinkunft (1849); 9 10
Grebing, S. 22. Henning, S. 107.
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— Ausbau des Bankwesens; — Ausbau des Verkehrswesens, insbesondere durch den Eisenbahnbau (seit 1835). A r t und Ausmaß der Industrialisierung werden durch folgende Entwicklungen gekennzeichnet 11 : — die Zahl der Dampfmaschinen i n der gewerblichen Wirtschaft Preußens stieg von 1835 - 1850 auf rd. 2.000, von 1850 - 1875 auf rd. 30.000; — die Zahl der Maschinenfabriken i n Preußen stieg zwischen 1852 und 1875 von 180 auf 1.196; die Zahl der i n diesen Fabriken Beschäftigten erhöhte sich i m gleichen Zeitraum von knapp 10.000 auf über 160.000; die Fabriken wurden also nicht nur zahlreicher, sondern auch größer; die durchschnittliche Zahl der Beschäftigten je Betrieb stieg i n diesen 23 Jahren von 54 auf 133; — die Roheisenproduktion i n Deutschland versechsfachte sich zwischen 1850 und 1870; — der Eisenbahnbau entwckelte sich wie folgt: 1845 1860 1880
rd. 2.000 k m rd. 12.000 k m rd. 34.000 k m
Technischer Fortschritt, vermehrter Kapitaleinsatz und vergrößerte Betriebseinheiten hatten eine rasch steigende Arbeitsproduktivität zur Folge. Zwei Beispiele: Die Spitzenleistung je Hochofen stieg zwischen 1835 und 1875 auf das Fünffache (von 2.000 auf 10.000 t Roheisen); die Eisenbahn senkte die Transportkosten gegenüber dem Straßentransport auf ein Zehntel. Die Industrialisierung hatte tiefgreifende Wandlungen auf dem A r beitsmarkt zur Folge. Die Zahl der i n der Industrie (einschließlich Manufaktur und Bergbau) Beschäftigten erhöhte sich i m Zeitraum 1835 - 1850 jährlich durchschnittlich um rd. 17.000, im Zeitraum 1850 1865 u m fast 50.000 und i m Zeitraum 1865 - 1880 um mehr als 200.000. Die absolute Zahl der Industriearbeiter betrug: 1835 1850 1867 1882
0,5 0,8 2,0 6,0
Mill. Mill. Mill. Mill.
Bezüglich der Herkunft der industriellen Arbeiterschaft i n der Zeit 1835 - 1900 ist berechnet worden, daß 38 °/o aus dem eigenen Sektor, d.h. aus dem Bevölkerungszuwachs der gewerblichen Bevölkerung kamen; 62 °/o stammten aus dem primären Sektor, d. h. i m wesentlichen 11
Henning, S. 116, 118, 130, 150, 154, 163, 238.
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aus der Landwirtschaft 1 2 . Fast zwei Drittel der neu i n der Industrie Beschäftigten wechselte den Beruf. Bei vielen von ihnen war dies auch m i t einem Wechsel des Wohnortes und der Lebensumwelt verbunden, denn die industriellen Arbeitsplätze entstanden vorwiegend i m Westen Deutschlands, während ländliche Arbeitslosigkeit vor allem i n den östlichen Landesteilen herrschte. Von 205.000 Bergarbeitern des Ruhrgebietes i m Jahre 1899 kamen 44 % aus Oberschlesien, West- und Ostpreußen sowie dem osteuropäischen Ausland. Man hat für diese Jahrzehnte von einer „industriellen Völkerwanderung" gesprochen 13 . d) Einkommens-
und Lebenslage der Arbeitnehmer
aa) Verbesserung der Beschäftigungslage Obwohl die wachsende Industrie neue Arbeitsplätze bot, war dieses Angebot längere Zeit geringer als der Bedarf an Arbeitsplätzen. Verschiedene Indizien — die Klagen der Zeitgenossen über geringe Erwerbschancen, niedrige Löhne, steigende Ausgaben der Städte für das Armenwesen, hohe Auswandererzahlen — deuten auf Jahrzehnte anhaltender Arbeitslosigkeit hin. Erst ab etwa 1855 verbesserte sich die Beschäftigungslage, weil nunmehr das Arbeitsplatzangebot vor allem i n der Metallindustrie und i m Eisenbahnbau nicht nur weiterhin wuchs, sondern größeres quantitatives Gewicht bekam. bb) Konstante Realeinkommen Der gleiche Umstand dürfte ursächlich dafür sein, daß die sektoral zunehmende Arbeitsproduktivität sich verstärkt i n steigendem Volkseinkommen niederschlug. Das Volkseigentum stieg (in realen Preisen) von 1850 bis 1900 auf das 3,5fache, wegen der zunehmenden Bevölkerung pro Kopf auf das 2,2fache. Diese Einkommenssteigerung kam jedoch i n erster Linie den Beziehern von Grundrenten und Kapitaleinkommen zugute. Die Erhöhung der Grundrenteneinkommen beruhte auf den i n der Zeit 1825 bis i n die 70er Jahre tendenziell ansteigenden Agrarpreisen sowie auf dem raschen Anstieg der Einkommen aus Baugrundstücken i m Zusammenhang m i t dem Wachstum der Städte. Die Kapitaleinkommen stiegen — bei langfristig gleichbleibendem Zinssatz u m 4 % — vor allem als Folge eines steigenden Kapitalstocks sowie zunehmender Unternehmergewinne. Die Folge war, daß der Anteil der Arbeitseinkommen am gesamten Volkseinkommen während des 19. Jahrhunderts rückläufig war. Das Arbeitseinkommen pro Kopf blieb i n dem Zeitraum 1840 - 1880 real konstant 1 4 . 12 13 14
Henning, S. 126. Syrup-Neuloh, S. 50. Henning, S. 28.
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Die ab Mitte des vorigen Jahrhunderts aufgeworfene soziale Frage lag also nicht i n zunehmender A r m u t der Arbeiter i m Vergleich zur vorindustriellen Zeit begründet. Zwar belastete die Wohnungsmiete die Löhne der vom Lande i n die Stadt zugezogenen Arbeiter; sie senkte aber nicht deren vorausgegangenen Lebensstandard. Die i n der Stadt vorgefundenen Zustände wurden vor dem Hintergrund früherer agrarisch-ländlicher Zustände beschrieben. Man sah die Industrie nicht nur als Ort, sondern auch als Ursache der A r m u t an. Als Friedrich Engels 1845 sein Buch über „Die Lage der arbeitenden Klassen i n England" veröffentlichte und darin die Industrialisierung als Ursache der schlechten Lage der Arbeiter ansah, wurde ihm darin sogleich widersprochen m i t dem Hinweis, daß i n Deutschland die Not dort am größten sei, wo es keine Industrie gäbe. Diese Beurteilung w i r d von der neueren Geschichtsforschung bestätigt: „Aber diese ,heile Welt 4 von ehedem, diese ,vorindustrielle Harmonie zwischen Stadt und Land', die der Welt der Maschinen und Fabriken gegenübergestellt wurde, war überzeichnet. Es fehlten i n dem B i l d die Krisen, die auch die vorindustrielle Welt erschütterten: es fehlt der Hunger, der i n kürzeren Intervallen und i n langsam sich verschärfender Not die Menschen bedrängte 15 ." Die A r m u t war auch nicht auf die Industriearbeiterschaft beschränkt. 1850 wurde i n einem Aufsatz über den „vierten Stand" geschrieben: „Die Proletarier der Geistesarbeit sind i n Deutschland die eigentliche ecclesia militans des vierten Standes. Sie bilden die große Heersäule der Gesellschaftsschicht, welche offen und selbstbewußt m i t der bisher überlieferten sozialen Gliederung gebrochen hat . . . Ich fasse auch diese Gruppe des vierten Standes i n ihrer ganzen Konsequenz und weitesten Ausdehnung, Beamtenproletariat, Schulmeisterproletariat, perennierende sächsische Predigtamtskandidaten, verhungernde akademische Privatdozenten, Literaten, Journalisten, Künstler aller A r t . . . 1 6 ." Es handelte sich also u m die seit jeher vorhandene A r m u t der Besitzlosen, nicht um eine für Fabrikarbeiter charakteristische Armut. Ab Mitte des Jahrhunderts gibt es Anzeichen für einen sich langsam bessernden Lebensstandard i n den Städten. Der Verzehr tierischer (teuerer) Produkte nahm zu bei gleichzeitiger Abnahme des aus pflanzlicher Nahrung stammenden Kalorienanteils. Die durchschnittliche A r beitszeit der Lohnarbeiter war i n den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts angestiegen (von etwa 65 auf 90 Wochenstunden), ab Mitte des Jahrhunderts begann sie stetig zu fallen 1 7 . Als i n Literatur und Politik 15 W i l h e l m Abel, Massenarmut u n d Hungerkrisen i m vorindustriellen Deutschland, Göttingen, 2. A u f l . 1977, S. 6 f.; dort auch Hinweis auf den zeitgenössischen Engels-Kritiker Bruno Hildebrand. 16 W i l h e l m Heinrich Riehl 1850, zitiert nach A b e l (Anm. 15), S. 12. 17 Henning, S. 195, 231.
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die soziale Frage aufgeworfen wurde, begann sich die Lage der Arbeitnehmer zumindest i n Hinsicht auf Beschäftigungschancen, Realeinkommen und Arbeitszeit zu verbessern. cc) Problem der Einkommenssicherung Ungeachtet dessen — und vielleicht gerade dadurch schärfer ins Bewußtsein tretend — bestanden für die Arbeiter neue Belastungen. Es waren dies das i m Vergleich zu bäuerlicher und handwerklicher Tätigkeit ungewohnte Arbeitstempo, der Arbeitsrhythmus und die Eintönigkeit der industriellen Arbeit, ferner die oft gesundheitsschädigenden Arbeitsbedingungen. Die Arbeit von Frauen und Kindern w a r wohl kaum häufiger als i n der vorindustriellen Zeit, sie hatte aber i n den Fabriken physisch und psychisch weit verheerendere Wirkungen. Weitere Belastungen waren die soziale Bindungslosigkeit der Arbeiter in den Städten und vor allem das Problem der Einkommensstetigkeit bei Arbeitsunfähigkeit und Arbeitslosigkeit. Diese Probleme wurden objektiv verschärft durch die Herauslösung vieler Arbeiter aus Primärgruppen (Dorfgemeinschaft, Großfamilie), weil sie vielfach i n Kleinfamilien i n fremder Umgebung lebten und weil sie ausnahmslos vermögenslos waren. Sie wurden zusätzlich subj e k t i v durch die räumliche Konzentration der betroffenen Menschen verschärft. dd) Räumliche Konzentration und Bewußtseinslage der Industriearbeiterschaft Daß die soziale Frage zu einer politischen Frage wurde, scheint durch das Zusammenfallen dieser drei Faktoren verständlich: das quantitative Gewicht der Industriearbeiterschaft seit der Mitte des Jahrhunderts, deren räumliche Konzentration und die Schnelligkeit der Entwicklung; denn man muß sehen, „daß die deutsche Industriearbeiterschaft ein Produkt von nur 50 Jahren ist" und daß die Arbeiterschaft „plötzlich als ein geschlossener Koloß i m Blickfeld der Gesellschaft erschienen" ist. Zahl, Konzentration und schnelles Wachstum der Industriearbeiterschaft veränderte das Bewußtsein der Gesellschaft; es veränderte aber zunächst und vor allem das Bewußtsein der Arbeiter selbst. „Sie wurden 30 Jahre lang i n den Strudel einer ungeheuren wirtschaftlichen Expansion hineingerissen, deren Ziel und Sinn ihnen lange unbekannt blieb, bis die politische und gewerkschaftliche Bewegung sie allmählich zu bestimmten Gruppen Zusammenschloß und ihnen ihren gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Standort zum Bewußtsein brachte 18 ." Dieses durch wachsende Zahl, räum18
Otto Neuloh, Arbeiterbildung i m neuen Deutschland, Leipzig 1930, S. 18.
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liehe Konzentration und Neuartigkeit der Erscheinungen geförderte Zusammenschließen der Arbeiterschaft zu einer neuen gesellschaftlichen Gruppierung leitet über zur Darstellung des politischen Kräftefeldes. 2. Das politische Kräftefeld a) Reichsgründung, Adel und Bürgertum Die Ankündigung einer Sozialversicherungsgesetzgebung i n Deutschland i m Jahre 1881 steht i n Zusammenhang m i t der Gründung des Deutschen Reiches 10 Jahre vorher. Diese Reichsgründung erfolgte i m Vergleich zu europäischen Nachbarländern spät; Traditionen des Verhaltens gegenüber dem Reich und tradiertes Reichsrecht fehlten daher zunächst. Die Reichsgründung war kein spontaner Akt, sondern Ergebnis einer jahrzehntelangen — wesentlich durch Bismarck geprägten — planvollen Politik, die mehrfach Risiken einzugehen und vielfache Widerstände zu überwinden hatte. Den Zeitgenossen, und insbesondere den politisch aktiven unter ihnen, erschien das Reich nicht als etwas Gegebenes, sondern als etwas „Gemachtes". Die Ereignisse, die zur Reichsgründung führten, waren noch i n Erinnerung: 1833 1848
Gründung des Deutschen Zollvereins unter Führung Preußens. Zusammentreten der Deutschen Nationalversammlung i n der Paulskirche zu Frankfurt; diese wählt den Preußischen König zum Kaiser der Deutschen. Der König lehnt wegen fehlender Zustimmung der übrigen Fürsten ab. 1862 Bismarck w i r d preußischer Ministerpräsident und arbeitet seither auf die Reichsgründung durch Preußen hin. Er entscheidet sich für die kleindeutsche Lösung i m Gegensatz zu starken Strömungen, die eine großdeutsche Lösung unter Einschluß Österreichs wünschten. 1866
Als Ergebnis des Krieges gegen Preußen stimmt Österreich einer Neuordnung Deutschlands ohne seine M i t w i r k u n g zu. Der Norddeutsche Bund w i r d gegründet (Bismarck Bundeskanzler).
1870
Der Krieg gegen Frankreich stärkt die nationalen Emotionen und schafft die Voraussetzungen für den Zusammenschluß der süddeutschen Staaten — vor allem Bayerns — m i t dem Norddeutschen Bund zum
1871 Deutschen Reich; Bismarck w i r d Reichskanzler. Das Deutsche Reich ist ein Bundesstaat m i t damals 41 M i l l . Einwohnern. Träger der Souveränität ist der Bundesrat, die Vertretung der Landesfürsten und der Städte. Träger der eigentlichen Reichsgesetzgebung ist der Reichstag. Der Reichskanzler w i r d vom Kaiser ernannt.
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Träger der Einigungsbestrebungen i n Deutschland war vor allem das von Gedanken und Idealen des Liberalismus getragene Bürgertum. Die 1861 gegründete (liberale) Deutsche Fortschrittspartei hatte die Mehrheit i n dem nach Dreiklassenwahlrecht gewählten Preußischen Abgeordnetenhaus. Auch i m 1871 erstmals (durch allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahl) gewählten Reichstag ist die Nationalliberale Partei m i t 119 von 397 Sitzen stärkste Fraktion; sie repräsentiert das national gesinnte westdeutsche Bürgertum und t r i t t für einen liberalen Rechtsstaat ein. Weiter sind i m Reichstag vertreten die liberalkonservative Deutsche Reichspartei, die Fortschrittspartei, die A l t k o n servativen (Repräsentant des preußischen Adels) sowie das Zentrum als Repräsentant des bürgerlich-katholischen Elements. Die Machtverhältnisse i m Reich wurden i m wesentlichen bestimmt durch den preußischen Adel, der vor allem die Führungspositionen i n Armee und Verwaltung innehatte, und das Großbürgertum, i n dessen Händen sich Industrie, Handel und Geldwesen befand. Während der Adel i m wesentlichen konservativ eingestellt war, lebten i m Bürgertum starke liberal-demokratische Traditionen und Bestrebungen. Diese Bestrebungen waren jedoch hinsichtlich ihrer politischen Wirkungen verdeckt und verzögert. Ursächlich hierfür war das Scheitern der liberalen Reformbestrebungen 1848 und die glänzenden nationalstaatlichen Erfolge Bismarcks bis zur Reichsgründung, die — zusammen m i t der w i r t schaftlichen Expansion — das Bürgertum weithin zu einem Anpassungsverhalten an vom Adel geprägte Verhaltensmuster und an monarchisch-autoritäre Ordnungsvorstellungen veranlaßten. Die feudalistische Prägung des jungen Reiches w a r eine Ursache dafür, daß die Integration der Arbeiterschaft sich i n Deutschland schwieriger gestaltete als i n den Nachbarländern. b) Die Arbeiterbewegung Bis 1848 fehlte i n Deutschland eine politische Arbeiterbewegung. Zwar waren i n den 30er und 40er Jahren Arbeiterbildungsvereine entstanden; deren Bedeutung lag jedoch nicht i n ihrem aktuellen politischen Gewicht, sondern darin, daß hier erste organisatorische Erfahrungen gesammelt wurden, die i n spätere Zusammenschlüsse eingebracht wurden. I m Gefolge der von Frankreich nach Deutschland übergreifenden revolutionären Ereignisse des Jahres 1848 wurde i n Berlin aus lokalen Arbeitervereinen die „Allgemeine deutsche Arbeiter-Verbrüderung" gegründet, die man als erste deutsche politische Arbeiterorganisation bezeichnen kann. Durch Bundesgesetz von 1854 wurde die „Arbeiterverbrüderung" verboten; nur unpolitische und konfessionelle Arbeiter5 Sozialversicherung
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vereine kannten weiterarbeiten. Doch gibt es von ihr aus „deutlich erkennbar organisatorische und personelle Verbindungslinien bis i n das Jahr 1863, dem Gründungs jähr des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins" 1 9 . Dieser Verein unter Führung von Ferdinand Lassalle war ein Zusammenschluß von Arbeitervereinen (längst nicht aller), der ein politisches Programm hatte und sich als Partei verstand. 1869 entstand ebenfalls auf der Basis bereits bestehender Arbeitervereine eine zweite Partei, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei unter maßgebendem Einfluß von August Bebel und Wilhelm Liebknecht. 1875 traten führende Mitglieder des Arbeitervereins zu den Sozialdemokraten über; es wurde die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands gegründet, die sich ab 1891 Sozialdemokratische Partei Deutschlands nannte. Das politische Gewicht der Arbeiterschaft äußerte sich i n den Stimmabgaben zur Reichstagswahl wie folgt: 1871 3,2 °/o, 1874 6,8 °/o, 1877 9,1 % ; zum ersten Mal zogen 1877 12 sozialdemokratische Abgeordnete i n den Reichstag ein. Als erste gewerkschaftliche Organisation kann der (nach einem Vorläufer 1848: Deutscher Nationalbuchdruckerverein) 1862 gegründete Fortbildungsverein für Buchdrucker bezeichnet werden, weil i m Vordergrund seiner praktischen Tätigkeit die Vertretung der Arbeiterinteressen gegenüber den Arbeitgebern stand. Weitere Gewerkschaften wurden nach Aufhebung des Koalitionsverbots 1867 i n Preußen, 1869 i n den übrigen deutschen Staaten (durch die Gewerbeordnung) gegründet; sie entstanden vor allem auf Anregung des von England beeinflußten Hirsch (Hirsch-Dunckersche Gewerkvereine). Daneben entstanden „freie" Gewerkschaften, die jedoch 1879 teilweise wieder aufgelöst wurden. Ein für die Arbeiterbewegung entscheidender Einschnitt war die Verabschiedung des Sozialistengesetzes i m Jahre 1878. Aus Anlaß zweier Attentate auf den Kaiser hatte Bismarck das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie" i m Reichstag eingebracht und durchgesetzt. Aufgrund dieses Gesetzes wurden die Organisationen der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands aufgelöst, fast alle ihre Publikationsorgane verboten. Man schätzt, daß etwa 1.500 Personen zu Haftstrafen verurteilt, 900 ausgewiesen und viele andere zur Emigration veranlaßt wurden. Das Sozialistengesetz wurde auch auf die Gewerkschaften angewandt m i t Ausnahme der Hirsch-Dunckerschen, deren Mitglieder durch Unterschrift bestätigen mußten, weder Mitglied noch Anhänger der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei zu sein. I m übrigen fand man Anlässe, 19
Grebing, S. 46.
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„ u m Tausende großenteils noch ziemlich harmlose Arbeiter ihrer Vereine und ihrer Kassen zu berauben; sie wurden nun erst Sozialdemokraten" 2 0 . Die Organisationstätigkeit ging unter Tarnungen weiter. Nach Aufhebung des Sozialistengesetzes schlossen sich die sozialistischen (freien) Gewerkschaften 1890 zur „Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands" zusammen. Die Zahl ihrer Mitglieder stieg von rd. 200.000 auf 1,8 M i l l , i m Jahre 1908 und überflügelte damit schnell und dauerhaft diejenige anderer Gewerkschaftsorganisationen. Die antiliberale Aggressivität des Vorgehens gegen die politische Arbeiterbewegung ist aus der Rückschau schwer verständlich. Nach dem Gothaer Programm der Sozialistischen Arbeiterpartei erstrebte diese „den freien Staat und die sozialistische Gesellschaft, die Zerbrechung des ehernen Lohngesetzes durch Abschaffung des Systems der Lohnarbeit, die Aufhebung der Ausbeutung i n jeder Gestalt, die Beseitigung aller sozialen und politischen Ungleichheit". Aber: diese Ziele wurden erstrebt „ m i t allen gesetzlichen M i t t e l n " 2 1 . Das Unbehagen der i m Kaiserreicht herrschenden Kräfte gegenüber der sich ausweitenden Arbeiterbewegung ist wie folgt erklärt worden: „Objektiv gab es zwar i m Kaiserreich angesichts der praktischen Polit i k der Sozialisten keine Veranlassung zur Revolutionsfurcht, subjektiv bestand aber weder bei Bismarck noch i m Adel und i m Bürgertum irgendein Zweifel an der dem Staat und der Gesellschaft drohenden Gefahr.. 2 2 . " Die Revolutionsfurcht konnte sich allenfalls aus der revolutionären Terminologie der Sozialisten und der aggressiven Sprache ihrer Publikationen, nicht jedoch aus deren Programmatik und politischer A k t i o n herleiten — und sei es nur deshalb, weil die Sozialisten vor dem Sozialistengesetz für wirksame politische Aktionen zu schwach waren (1877 493.000 Wähler bei einer Bevölkerung von 44 Millionen). Die Reaktion Bismarcks auf die Arbeiterbewegung nicht nur durch das Sozialistengesetz, sondern auch durch die wenig später erfolgende Sozialgesetzgebung geht auf Motivationen zurück, die noch näher zu schildern sind. Hier bleibt hinzuzufügen, daß die Arbeiterbewegung der damaligen Zeit die Sozialversicherungsgesetzgebung weder als vorrangige Forderung erhoben noch inhaltlich befruchtet hat. Aus der A r beiterschaft fließen i n der Zeit bis zur Kaiserlichen Botschaft „die Stimmen zur Frage einer staatlichen Versicherungsgesetzgebung nur recht spärlich" 2 3 . I m Gothaer Programm von 1875 werden m i t Bezug auf die 20
Schmoller, S. 464. A r t . I I des Gothaer Programms der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands von 1875; zitiert nach: Programme der deutschen Sozialdemokratie, Hannover 1963, S. 74. 22 Grebing, S. 74. 23 Vogel, S. 51. 21
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soziale Sicherung nur zwei Forderungen erhoben, die weder neu noch innovationsträchtig sind: „ E i n wirksames Haftpflichtgesetz" und „volle Selbstverwaltung für alle Arbeiter-Hilfs- und Unterstützungskassen" 24 . Auch die Gewerkvereine traten um diese Zeit meist lediglich nur für eine Ausdehnung des Haftpflichtgesetzes ein. Der zweite Vereinstag der deutschen Arbeitervereine beschloß i m Jahre 1864, eine „allgemeine Altersversicherungskasse für deutsche Arbeiter" zu entwickeln. Diese Kasse sollte i n höherem Lebensalter ein Kapital auszahlen; der Eint r i t t i n die Kasse sollte dem Arbeiter freistehen, der Arbeitgeber sollte sich moralisch verpflichtet fühlen, einen Teil der Leistungen zu übernehmen. Als eine solche Kasse nicht zustande kam, wurde zwar die Meinung geäußert, daß staatliche Hilfe nötig sei; diese Meinung setzte sich jedoch nicht gegen das bei den Führern der Sozialdemokratie herrschende Mißtrauen gegenüber staatlicher Verwaltung der Arbeiterkassen durch. Sie forderten vielmehr die einzelnen Gewerke auf, sich nach der A r t der Trade Unions i n England und des Deutschen Buchdruckervereins zu allgemeinen Gewerksgenossenschaften zusammenzuschließen und diesen die Gründung von Versicherungskassen zu überlassen. Die Sozialdemokraten befürworteten energisch den Arbeiterschutz, standen aber der Arbeiterversicherung auch nach ihrer Entstehung bis etwa zur Jahrhundertwende kritisch gegenüber; man sah i n i h r keine echte soziale Reform, sondern nur Verbesserungen i n der Armenpflege, die zudem nur als taktisches M i t t e l benutzt werde, u m die Arbeiter vom richtigen Weg abzulenken 25 . c) Bismarck und die Arbeiterfrage aa) Motive und Aktionsbereitschaft Die Meinungen stimmen darin überein, daß die Sozialgesetzgebung für Bismarck nicht Selbstzweck, sondern M i t t e l zum Zweck war. I n seinen recht ausführlichen „Gedanken und Erinnerungen" hat er die Arbeiterfrage als Sachproblem nicht behandelt. Andererseits ist belegt, daß i h n die Arbeiterfrage und Methoden zu ihrer Lösung früh und immer wieder beschäftigt haben, und daß er die Sozialpolitik entscheidend beeinflußt hat 2 6 . Auslösendes Motiv für den Sozialpolitiker Bismarck ist die Befürchtung, daß die Arbeiterschaft eine Gefahr für den Staat sei. Bereits 1849, als junger Abgeordneter i n der Preußischen Kammer, sagte er 24
Programme . . . (Anm. 21), S. 75. Vogel, S. 52, 54 f. 28 Aus der sehr umfangreichen Bismarck-Literatur stellvertretend: Hans Rothfels, Z u r Geschichte der Bismarckschen Innenpolitik, A r c h i v f ü r P o l i t i k u n d Geschichte V I I . Heft 9, B e r l i n 1926. 25
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von den Fabriken, diese „erzögen eine Masse von Proletariern, von schlecht genährten, durch die Unsicherheit ihrer Existenz dem Staate gefährlichen Arbeitern" 2 7 . Die Sozialistenfurcht war verstärkt worden durch die Ereignisse des Pariser Kommuneaufstandes i m März 1871, den preußisch-deutsche Regierungskreise unmittelbar miterlebt hatten und „dessen Verherrlichung durch Bebel auf Bismarck den tiefsten Eindruck gemacht hatte" 2 8 . Das Motiv der Gefahrenabwehr vom Staat war dominant für den Erlaß des Sozialistengesetzes 1878 und klingt noch in der Kaiserlichen Botschaft vom 17. 11. 1881 deutlich durch: sie spricht die Uberzeugung aus, „daß die Heilung der sozialen Schäden nicht ausschließlich i m Wege der Repression sozialdemokratischer Ausschreitungen . . . zu sichern sein werde" und den Wunsch, „dem Vaterlande neue und dauernde Bürgschaften seines inneren F r i e d e n s . . . zu hinterlassen" 29 . Etwas weniger majestätisch hat es später ein Mitarbeiter Bismarcks ausgedrückt, der „betonte, daß die Sozialpolitik nicht aus Liebe, sondern aus Furcht der herrschenden Klassen, besonders der Regierungskreise, geboren sei" 3 0 . Andererseits hat Bismarck auch früh erkannt und bekannt, daß man der Arbeiterfrage nicht allein m i t Repression begegnen könne. I n einer Kontroverse m i t seinem Handelsminister i m November 1871 schrieb er diesem: „Einziges Mittel, der sozialistischen Bewegung i n ihrer gegenwärtigen Verirrung Halt zu gebieten, ist die Realisierung dessen, was i n den sozialistischen Forderungen als berechtigt erscheint und i n dem Rahmen der gegenwärtigen Staats- und Gesellschaftsordnung verwirklicht werden kann 3 1 ." Und dies ist auch das zukunftweisende Motiv der Kaiserlichen Botschaft, wenn sie ausführt, daß die Heilung sozialer Schäden „nicht ausschließlich i m Wege der Repression..., sondern gleichmäßig auf dem der positiven Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen sein werde" und daß man wünsche, „den Hilfsbedürftigen größere Sicherheit und Ergiebigkeit des Beistandes, auf den sie A n spruch haben, zu hinterlassen". Es ist belegt, daß Bismarck die Kaiserliche Botschaft nicht nur i n den Grundzügen angelegt, sondern auch eigenhändig gründlich redigiert hat. Seine doppelte Zielsetzung, daß er zwar die Sozialdemokratische Partei gewaltsam unterdrücken, die Beschwerden und Mißstimmungen der Arbeiter aber, soweit sie ihm berechtigt erschienen, durch eine soziale Gesetzgebung abstellen wollte, hat Bismarck i n einer Reichstagsrede (1884) öffentlich dargelegt 32 . 27 28 29 30 31 32
Herkner, S. 98. Herkner, S. 347. Relevanter Textauszug aus der Kaiserlichen Botschaft vgl. unten S. 87. Gemein ist Theodor Lohmann, vgl. Vogel, S. 135. Syrup-Neuloh, S. 55. Vogel, S. 149.
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Hinsichtlich seines Grundgedankens, die Arbeiterschaft durch soziale Leistungen an den Staat zu binden, erscheint Bismarck i m deutschen Kontext i n zeitlicher und sachlicher Hinsicht durchaus originär. Es gibt Anzeichen dafür, daß er diesen Grundgedanken i n Frankreich aufgegriffen hat. Bei Besuchen 1855 und 1857 sowie als Gesandter 1861 i n Paris hat i h n das Regime Napoleons I I I . stark interessiert vor allem hinsichtlich der Art, wie Napoleon i n der Arbeiterschaft und Teilen der ländlichen Bevölkerung Anhängerschaft warb durch Staatsrenten, Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, Produktionsgenossenschaften, Arbeiterkassen u. a. 33 . 1889, bei der Begründung der Invaliditätsvorlage, sagte er i m Reichstag: „Ich habe lange genug i n Frankreich gelebt, u m zu wissen, daß die Anhänglichkeit der meisten Franzosen an die Regierung . . . wesentlich damit i n Verbindung steht, daß die meisten Franzosen Rentenempfänger vom Staate sind, . . 3 4 . " Weil Bismarck Sozialpolitik i n erster Linie als M i t t e l zum Zweck sah, war er hinsichtlich der Methoden ihrer Durchführung i m Prinzip offen. Allerdings m i t einer gewichtigen Einschränkung: Er lehnte eine Politik des Schutzes der Arbeitskraft i m Erwerbsleben ab. Seine Motive waren Sorge u m die Konkurrenzfähigkeit der Industrie gegenüber dem Ausland sowie u m die Erhaltung des Arbeitswillens und der Erwerbsmöglichkeit des Arbeiters. Darum lehnte er das Verbot von Sonntags- und Nachtarbeit sowie die Einschränkung der Arbeit von Frauen und Jugendlichen ab. „ A l l e seine Mitarbeiter bedauerten wohl ohne Ausnahme, daß Bismarck sich von diesen manchesterlichen Argumenten nicht abbringen ließ 3 5 ." Abgesehen von dieser negativen Fixierung bleibt gleichwohl eine Offenheit Bismarcks i n methodischer Hinsicht festzustellen. Gleich nach seinem Amtsantritt als preußischer Ministerpräsident (1862) stellte sich Bismarck die Frage, wie er die Arbeiter als Bundesgenossen gegen den Liberalismus gewinnen könne. Als ein M i t t e l hierzu erschien i h m die Einführung des allgemeinen gleichen und direkten Wahlrechts und die staatliche Unterstützung von Produktivgenossenschaften. Er w a r hierüber m i t Ferdinand Lassalle i m Gespräch und i m Briefwechsel. Bismarck sagte später über Lassalle: „ . . . ein bedeutender Mann, m i t dem konnte man wohl reden." I n der Forderung nach allgemeinem, gleichem 33 K a r l Thieme, Bismarcks Sozialpolitik, Archiv für P o l i t i k u n d Geschichte, 1927, Heft 11, S. 385. 34 Herkner, S. 102. Es scheint, daß Bismarck übertrieben hat oder unzureichend informiert war. Die Hilfskassenvereine (sociétés de secours mutuelles) zahlten i m Jahr 1872 rd. 30.000, 1896 rd. 200.000 Renten aus. Vgl. Schmoller, S. 388. 35 Vogel, S. 164. Dieser grundsätzliche Dissens über die Notwendigkeit einer P o l i t i k des Arbeitsschutzes u n d des Arbeitsrechts führte später zum Bruch m i t Lohmann. Vgl. Hans Rothfels, Theodor L o h m a n n u n d die K a m p f jahre der staatlichen Sozialpolitik, B e r l i n 1927.
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Wahlrecht hatte man keine Meinungsverschiedenheiten; allerdings: Lassalle erhoffte sich hiervon einen Zuwachs städtischer, proletarischer Stimmen; „Bismarck versprach sich vom letzteren dagegen damals noch eine Vermehrung der Stimmen der unter dem geistigen und politischen Einfluß des Großgrundbesitzes stehenden Bauern und Landarbeiter. Hier waren Berührungspunkte gegeben". Lassalle bescheinigte Bismarck, daß er von Anfang an den Wunsch gehabt habe, womöglich das soziale Element der Arbeiterbewegung durchzuführen, „moins das politische" 36 . I n den sechziger Jahren gingen Bismarcks Gedanken i n Richtung auf Unterstützung von Produktivgenossenschaften, Einschränkung der K i n derarbeit, Förderung von Altersversorgungsanstalten auf kommunaler Grundlage und Sparkassen. Diese Gedanken waren damals nicht neu und ließen noch keine charakteristischen Elemente des späteren Gesetzgebungswerkes erkennen. Seine methodische Offenheit hat Bismarck selbst mehrfach bezeugt. I m Reichstag sagte er 1878 m i t Bezug auf die staatliche Unterstützung von Produktivgenossenschaften: „Der Versuch, ich weiß nicht, ob unter dem Eindrucke von Lassalles Räsonnement oder unter dem Eindrucke meiner eigenen Uberzeugung, die ich zum Teil i n England während eines Aufenthaltes i m Jahre 1862 gewonnen hatte — m i r schien es, daß i n der Herstellung von Produktivassoziationen, wie sie i n England i n blühenden Verhältnissen existieren, die Möglichkeit lag, das Schicksal des Arbeiters zu verbessern, i h m einen wesentlichen Teil des Unternehmergewinns zuzuwenden." Selbst m i t Bezug auf seine eigene Sozialversicherungsvorlage sagte er 1882 i m Reichstag, er sei sich zwar über die Ziele, aber nicht über die Wahl der Wege so unbedingt sicher. „Ich b i n teils noch nicht m i t m i r darüber einig, teils nicht mehr i n dem Maße, wie ich es früher war, noch nicht, w e i l ich der Belehrung bedarf." Die methodische Offenheit Bismarcks darf nicht als Interesselosigkeit oder Gleichgültigkeit angesehen werden. Es war eine Offenheit für bessere Lösungen. Methodische Offenheit bedeutete insbesondere nicht Gleichgültigkeit gegenüber gewissen, i n Bismarcks Augen staatspolitisch relevanten Gestaltungsprinzipien. Hier hat er — wie noch zu zeigen ist — wiederholt energischen Willen bekundet und entscheidenden Einfluß ausgeübt. Allerdings lassen sich die bei Bismarck erkennbaren Leitprinzipien systematisch schwer einordnen. „ I n Bismarcks Sozialpolitik liegen persönliche Erfahrungen und Enttäuschungen, patriarchalische, staatssozialistische und wirtschaftlich-manchesterliche Gesichtspunkte i n eigentümlichem Gemenge beieinander 37 ." 36 37
Vogel, S. 148, 149. Vorstehende Zitate nach Vogel, S. 132, 144, 169.
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bb) Der Einfluß von Sozialreformern Die Suche Bismarcks nach geeigneten Lösungen bekundet sich auch i n seinem über Jahrzehnte anhaltenden Interesse an Meinungen und Vorschlägen der Wissenschaftler zur Lösung der Arbeiterfrage. Man gew i n n t den Eindruck, daß er stets auf der Suche nach politisch realisierbaren Vorschlägen war, ohne sich dabei auf Lehrmeinungen oder Konzepte festzulegen. Auch i n dieser Beziehung t r i t t einem der Realpolitiker Bismarck entgegen. Bis nach der Mitte des Jahrhunderts herrschte die Lehre von der freien Konkurrenz, die den Staat auf die Verwirklichung von Rechtszwecken und die Aufrechterhaltung der Rechtsordnung beschränkt sehen wollte. Ein Wandel trat erst ein m i t der Entstehung der historischen Schule der Nationalökonomie, die sich ein Organ i n den „Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik" schuf und m i t dem A u f treten der Kathedersozialisten i m „Verein für Sozialpolitik", der i n den siebziger Jahren erhebliche Publizität erlangte und dem Liberalismus entgegentrat. Ein Wortführer dieser Gruppe war Gustav Schmoller, der den Staat nicht als ein möglichst zu beschränkendes Übel, sondern als „das großartigste sittliche Institut zur Erziehung des Menschengeschlechtes" sah; der Staat habe aus der preußischen Überlieferung einen „sozialpolitischen Beruf" 3 8 . Diese Auffassung war typisch auch für andere Sozialreformer dieser Zeit (Ketteier, Schäffle, Rodbertus, Wagner, Wichern); sie prägte auch eine Gruppe sozialkonservativer Autoren (Roesler, Meyer), die sich i n der bis 1873 erscheinenden „Berliner Revue" artikulierten, von der gesagt wurde, daß ihre Beiträge „mehr für Bismarcks Augen als für ein großes Lesepublikum" geschrieben w u r den 3 9 . Dies erklärt, w a r u m aus dem Bemühen der Sozialreformer nicht — wie etwa i n England — eine sozialreformerische Bewegung entstand; man wandte sich an den Staat, hielt diesen für verantwortlich und wartete auf dessen Eingreifen. Die Wissenschaftler erörterten — oft kontrovers — eine Fülle von Vorschlägen zur Lösung der Arbeiterfrage, darunter auch und immer wieder die Frage einer Arbeiterversicherung. Es ist nicht erkennbar, daß die schließlich vorgelegten Regierungsvorlagen durch entscheidend neue Vorschläge der Wissenschaft geprägt wurden. Die Wissenschaftler haben jedoch zu Anfang der 70er Jahre durch Engagement und weit über ihre Amtspflichten hinausgehende Aktivitäten Entscheidendes zur Her38
Gustav Schmoller, Die soziale Frage u n d der preußische Staat, Preußische Jahrbücher, 1874, Bd. 3, Heft 4. Dabei hatte Schmoller betont, daß die von i h m erstrebte Reform keine U m k e h r der Wissenschaft, keinen Umsturz der bestehenden Verhältnisse u n d keine Förderung des Sozialismus wolle; „ . . . w i r protestieren gegen alle socialistischen Experimente". Vgl. Jahrbücher f ü r Nationalökonomie u n d Statistik, 1873, S. 11. 39 Vogel, S. 87.
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Stellung eines politischen Klimas getan, das der späteren Gesetzgebung den Boden bereitete. Insofern sind sie auch als ein Faktor i m politischen Kräftefeld der 70er Jahre anzusehen. Denn i m übrigen hatte Bismarck kaum verläßliche Verbündete. Es konnte gesagt werden, daß die Arbeiterversicherungsgesetzgebung Gestalt gewann, „obwohl starke praktische und ideale Interessen sich dieser Wendung entgegensetzten. Das private Versicherungsgeschäft, die individualistische Nationalökonomie und der politische Liberalismus wetteiferten, die segensreichen Folgen freier Geschäfts- und Vereinstätigkeit, die Schädlichkeit bureaukratischer Schablonen und Zwangsmaßregeln zu schildern" 40 . Die Argumente des politischen Liberalismus gegen die Sozialgesetzgebung waren (schon damals) i m wesentlichen: Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit, Lockerung der Familienverbundenheit, Schwächung der Selbstverantwortung, Tötung des Sparsinnes 41 . d) Zusammenhänge mit der Reichspolitik Das Grundmotiv Bismarcks hinsichtlich der Sozialpolitik: Bekämpfung der Sozialdemokratie und Bindung der Arbeiterschaft an den Staat hat sich i m Zeitablauf nicht gewandelt. Hinsichtlich des Zeitpunktes der Realisierung mußte er auf Konstellationen warten — oder solche herbeiführen —, die eine Zustimmung des Reichstages wahrscheinlich machten. Eine solche Konstellation war i m ersten Reichstag (1871) m i t seiner nationalliberalen Mehrheitsfraktion und dem starken konservativen Element nicht gegeben. Die Landwirtschaft w a r aus konservativer Grundhaltung gegen jede Sozialgesetzgebung eingestellt. Die Industrie — von einzelnen Persönlichkeiten abgesehen — lehnte eine Versicherungsgesetzgebung ab oder stand ihr doch zumindest abwartend gegenüber. Man sah Arbeiteransprüche an den Staat als bedenklich für das Ansehen des Staates an, fürchtete sich vor Staatssozialismus und hielt die Kosten nicht für tragbar. Die Einstellung der Industrie noch kurz vor Verkündung der Kaiserlichen Botschaft wurde so geschildert: „Und wenn nicht die Dankbarkeit gegen den FürstenReichskanzler und mehr noch vielleicht die Furcht, diese mächtige Stütze unserer bisherigen Handelspolitik eventuell einzubüßen und som i t die mühsam erkämpften Zölle bald wieder zu verlieren, davon abhielte, so würde schon jetzt die Industrie geschlossen gegen das Projekt Front machen 42 ." Auch die private Versicherungswirtschaft argumentierte gegen den sozialistischen Staatsgedanken und für die Selbst40
Schmoller, S. 392. Syrup-Neuloh, S. 120 unter Bezugnahme auf zeitgenössische Quellen. 42 Briefliche Äußerung des Herausgebers der „Deutschen Volkswirtschaftlichen Korrespondenz", v. Roell, v o m 1. M a i 1881, zit. nach Vogel, S. 41. 41
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hilfe. „So verteidigten die Versicherungsgesellschaften, ähnlich wie die Industrie, ihre privatkapitalistischen Interessen. Sie hielten sich m i t wenigen Ausnahmen, wenn nicht i n direkter Opposition, so doch zum mindesten abwartend." A b 1872 beschäftigte Bismarck der sogenannte Kulturkampf, ein Machtkampf zwischen Staat und katholischer Kirche. Seine Motive waren der von Bismarck verkörperte Anspruch des Staates gegenüber der Kirche sowie der starke politische Einfluß des Liberalismus. Gesetzgeberisches Ergebnis des Kulturkampfes w a r die staatliche Schulaufsicht (1872) sowie die obligatorische Zivilehe (1874). Politisch w a r der Katholizismus durch das Zentrum vertreten, einer Partei, die 1871 i m Reichstag die zweitstärkste Fraktion bildete. U m den Einfluß dieser Partei zu mindern, wurde Bismarck 1874 geraten, die soziale Frage als „vielleicht einzig wirksames Kampfmittel gegen den Ultramontanismus" ins Feld zu führen 4 3 . Er sah jedoch zu diesem Zeitpunkt keine Möglichkeit der Realisierung, weil m i t der Zustimmung der nationalliberalen Partei, seit 1866 seine parlamentarische Stütze, nicht zu rechnen war. Der Kulturkampf wurde 1878 abgebrochen u. a., weil er sich politisch nicht als erfolgreich erwiesen hatte. Die Zahl der Zentrumsabgeordneten i m Reichstag stieg von 58 i m Jahre 1871 auf 91 i n 1874 und 93 i n 1877. Hinzu kam eine veränderte politische Konstellation. Das Jahr 1873 brachte für Deutschland eine „Gründerkrise". Eine bis dahin sprunghaft sich ausdehnende industrielle Produktion hatte ein Überangebot und als dessen Folge Preissenkungen, Einengung der Ertragslage und Firmenzusammenbrüche hervorgerufen. Die von den Preissenkungen betroffene Industrie reagierte i n mehrfacher Hinsicht: durch wettbewerbsmindernde Absprachen über Preise, Absatzmengen und Absatzgebiete, durch die Gründung des Zentralverbandes der Industrie (1875) und durch die Forderung nach Wiedereinführung der zwischen 1869 und 1873 abgeschafften Eisenzölle. I m Jahre 1879 wurde der — vor allem gegen die englische Konkurrenz gerichtete — Zoll auf Roheisen wieder eingeführt. Auch die Agrarpreise fielen i n den siebziger Jahren vor allem durch rückläufige Getreidepreise infolge drastisch sinkender Transportkosten aus Ubersee. Man begann deshalb auch i n der Agrarpolitik von der Freihandelspolitik (seit 1865 war die Getreideeinfuhr zollfrei) abzugehen; ab 1880 wurde der Getreidezoll wieder eingeführt und auch von tierischen Produkten Einfuhrzölle erhoben. Obwohl die Agrarschutzzollpolitik den Interessen der Industrie entgegenstand, unterstützte sie diese i m Rahmen ihrer allgemeinen Schutzzollpolitik. Bei der Reichsregierung kam als Motivation für die Zollpolitik hinzu, daß die Zollein43
Hermann Wagener an Bismarck 1874, zit. nach Vogel, S. 156.
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nahmen ihre einzige direkte Einnahmequelle waren, während sie i m übrigen auf die m i t den Ländern auszuhandelnden Matrikularbeiträge angewiesen war. Bismarck nutzte die veränderte Lage aus, indem er die Industrie den liberalen Parteien zu entfremden und sie als Bundesgenossen zu gewinnen suchte. „Innenpolitisch brach Bismarck m i t den Nationalliberalen, w e i l sie seine neue Schutzzollpolitik nicht mitmachen wollten und wandte sich dem Zentrum, das er i m Kulturkampf eben noch befehdet hatte, und den Konservativen zu 4 4 ." Es „wurde 1877/78 unter seiner Führung ein Bündnis zwischen Großindustrie und Großgrundbesitz zum Zwecke des gegenseitigen Zollschutzes abgeschlossen" 45 . Es handelte sich u m einen folgenreichen politischen Kurswechsel. Die Zollpolitik ermöglichte Bismarck die Herstellung einer veränderten politischen Konstellation. Er wandte sich ab vom allgemeinpolitischen und wirtschaftspolitischen Liberalismus und gewann damit A k tionsfreiheit für Sozialistengesetz (Oktober 1878) und Sozialversicherungsgesetzgebung. 3. Formen sozialer Sicherung
Die nach 1881 entstandene deutsche Sozialversicherung enthält i n eigentümlicher Gewichtung die 4 methodischen Ansätze der sozialen Sicherung: 1. Sparen, 2. Fürsorge (durch Gemeinde oder Staat), 3. A r beitgeberverpflichtung und 4. Versicherung. U m zu verstehen, wie und warum es zur spezifischen Ausprägung der Sozialversicherung i n Deutschland kam, müssen die bis dahin vorhandenen Formen sozialer Sicherung i n methodischer und institutioneller Hinsicht vergegenwärtigt werden. Dabei kommt dem Sparen keine praktische Bedeutung zu. Es wurde zwar i n der zeitgenössischen Literatur gepriesen und empfohlen, doch entwickelte sich weder eine individuelle, freiwillige Spartätigkeit unter den Arbeitern, weil deren Sparfähigkeit zu gering war, noch ein obligatorisches Sparen analog dem englischen provident-fundSystem. Allerdings ging die Idee des Sparens insofern i n die spätere Invalidenversicherung ein, als deren Leistungen sich — bei Vorliegen des Versicherungsfalles — nach Dauer und Höhe der Vorleistung staffelten. a) Fürsorge Die Fürsorge hat ihren Ursprung i m christlich-karitativen Gedankengut. Lange Zeit war die Kirche alleiniger Träger von Maßnahmen, die man heute als Sozialpolitik bezeichnet. Kirchengemeinden und Klöster 44 45
Vogel, S. 158. Herkner, S. 104.
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errichteten Hospitäler und Asyle; sie unterstützten arme, kranke und alte Personen. Dadurch waren Chancen des Überlebens geschaffen für Personen, die kein Erwerbseinkommen hatten. M i t t e l der Hilfeleistung war die Almosen-Gewährung. Nach der Ursache der A r m u t wurde i n der Regel nicht gefragt. A r t und Umfang der Hilfe hing vom Ermessen des Spenders ab. Die Hilfe war daher großzügig und ohne verpflichtende Auflagen einerseits, wahllos und ungewiß andererseits, so daß Mißernten und Hungersnöte regelmäßig ihre Opfer unter den Hilfsbedürftigen forderten. Der Geist der christlichen Karitas hielt sich auch i n den Städten, als diese erblühten und sich von Kirche und Grundherrschaft emanzipierten. Ursprünglich wurden Hospitalgründungen (meist durch Orden) von den Städten subventioniert. Später übernahmen die Städte solche A r meneinrichtungen i n eigene Regie. Ab 1520 entstanden städtische A r menordnungen. Die Reichspolizeiordnung von 1530 bestimmte, daß Städte und Gemeinden ihre Armen selbst unterhalten sollten. Dies besagte einerseits Anerkennung einer Unterhaltspflicht durch die öffentliche Hand, andererseits Abwehr der Zuständigkeit des Landesherrn. Der erstere Aspekt wurde i n der Zeit des Absolutismus aufgegriffen, konkretisiert und auf den Staat übertragen. Das „Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten" aus dem Jahr 1794 postulierte: „Dem Staat kommt es zu, für die Ernährung und Verpflegung derjenigen Bürger zu sorgen, die sich ihren Unterhalt nicht selbst verschaffen und denselben auch von anderen Privatpersonen, welche nach besonderen Gesetzen dazu verpflichtet sind, nicht erhalten können." Wenn auch die Durchführung der Armenpflege bestehenden Korporationen (Zunft, I n nung, Knappschaft) sowie den Städten und Gemeinden auferlegt w u r de und A r t und Umfang der Hilfe sowie deren Finanzierung ungeregelt blieben, so liegt hier doch eine folgenreiche Anerkennung staatlicher Verantwortung für Bedürftige vor. Als i m 19. Jahrhundert i m Zuge der Liberalisierung Freizügigkeitsgesetze ergingen, mußte man parallel dazu die örtliche Zuständigkeit für die Armenunterstützung regeln. Dem diente ζ. B. das preußische Gesetz über die Verpflichtung zur Armenpflege von 1842, dessen Inhalt später Bundes- und Reichsrecht (1876) wurde. Danach waren Organe der Unterstützung die Ortsarmenverbände, bestehend aus einer oder mehreren Gemeinden. Die Fürsorgepflicht der Gemeinden umfaßte die Aufrechterhaltung des Existenzminimums. Die Unterstützung trat subsidiär ein und hatte den zeitweiligen Verlust des Wahlrechts und des Rechts auf Bekleidung öffentlicher Ämter zur Folge. Aus der früheren Fürsorge hat sich institutionell die heutige Sozialhilfe entwickelt. Daneben haben sich — wie noch zu zeigen sein w i r d —
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gewisse, der Fürsorge eigene Merkmale m i t solchen der Versicherung verbunden, als die deutsche Sozialversicherung Gestalt annahm. Dies gilt insbesondere hinsichtlich der Finanzierung aus öffentlichen M i t t e l n (Staatszuschuß) und der Anwendung des Bedarfsprinzips (sozialer Ausgleich). Daß dieser Zusammenhang nicht nur technisch-methodischer Natur ist, sondern dem Gesetzgeber die Fürsorge — i n damaliger Terminologie „Armenpflege" — als Verantwortungsbereich und Tradition bewußt war, zeigen Ausführungen i n der Begründung zum ersten Unfallversicherungs-Gesetzentwurf. Dort w i r d daran erinnert, daß der moderne Staat die gesetzliche Regelung der Armenpflege als eine i h m obliegende Aufgabe anerkenne und daß es sich bei den Maßnahmen zur Verbesserung der Lage der besitzlosen Klassen „ n u r u m eine Weiterentwicklung der Form, welche der staatlichen Armenpflege zugrunde liegt" handele 46 . b) Arbeitgeberverpfiichtung Die Erbringung sozialer Leistungen durch den Arbeitgeber für seine Arbeitnehmer geht auf alte patriarchalische Traditionen zurück, die i m Rahmen der Grundherrschaft, aber auch i m Rahmen der Zünfte sowie i n der Seefahrt bestanden hatten. Solche patriarchalischen Verhaltensweisen — deren freiheitsbeschränkende Auswirkungen vielfach beklagt worden sind — w i r k t e n i n die Zeit der beginnenden Industrialisierung hinein und hatten einen heute oft unterschätzten Umfang betrieblicher Sozialeinrichtungen zur Folge. Nach einer Untersuchung des preußischen Ministeriums für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten gab es i m Jahre 1876 i n 4.850 Betrieben Preußens soziale Einrichtungen. Den größten Anteil an diesen Einrichtungen hatte die Unfallversicherung (2.828 Betriebe), gefolgt von den Kranken- und Unterstützungskassen. I m Jahre 1860 gab es i n Preußen 779 Unterstützungskassen für Fabrikarbeiter m i t 171.000 M i t gliedern, bei denen auch die Arbeitgeber Beiträge leisteten. Bis 1874 war diese Zahl auf 1.931 m i t 456.000 Mitgliedern angestiegen. Solche Kassen bestanden i n 3,6% aller gewerblichen Betriebe m i t mehr als 5 Arbeitern; ihre Mitgliedschaft umfaßte 35,8 % aller Arbeitnehmer 4 7 . A n die erwähnten Traditionen knüpften später gesetzliche Regelungen an. Die preußische Gesindeordnung von 1810 machte der Herrschaft die Gewährung von Pflege und ärztlicher Versorgung an das Gesinde i m Krankheitsfall zur Pflicht. Das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch von 1861 verpflichtete den Reeder zur Übernahme der 46
Motive zum Unfallversicherungsgesetz, Reichstagsdrucksache 1881, No. 41. W o l f r a m Fischer, Die Pionierrolle der betrieblichen Sozialpolitik i m 19. u n d beginnenden 20. Jahrhundert, Zeitschr. f. Unternehmensgeschichte, N o vember 1978, S. 32. 47
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Kosten für Verpflegung und Heilung eines erkrankten Seemannes bis zu 3 Monaten i m Heimathafen und bis zu 6 Monaten i n einem fremden Hafen. Für Handlungsgehilfen schrieb dieses Gesetz die Gehaltsweiterzahlung bis zu 6 Wochen i m Krankheitsfalle vor. Beide Vorschriften knüpften an bestehende Zustände und Gewohnheiten an. Besonders deutlich fand die Methode der Arbeitgeberverpflichtung Anwendung hinsichtlich der Unternehmerhaftung für Schäden i m Zusammenhang m i t der Betriebstätigkeit. Dieser Gedanke fand zum ersten M a l Eingang i n das preußische Gesetz über die Eisenbahnunternehmungen von 1838; es verpflichtete die Eisenbahngesellschaften zum Schadenersatz für beförderte Personen, es sei denn, der Schaden ist durch eigenes Verschulden oder ein unabwendbares Ereignis eingetreten. Ein Zusatzgesetz von 1869 bestimmte, daß die Haftung der Eisenbahngesellschaften nicht durch Vertrag ausgeschlossen oder eingeschränkt werden kann. Es handelt sich hier um das erste Verbot privater Abmachungen gegenüber öffentlich-rechtlichen Gesellschaften. Für den Bereich der übrigen Betriebsunfälle brachte das Reichshaftpflichtgesetz von 1871 gegenüber dem allgemeinen Zivilrecht eine Erweiterung der Haftung des Betriebsunternehmers. Dieser war bis dahin nur schadensersatzpflichtig, wenn i h n oder einen seiner Angestellten ein Verschulden traf, bei dessen Auswahl er es an der nötigen Sorgfalt hatte fehlen lassen; jetzt wurde für die i m Gesetz aufgeführten, m i t besonderer Unfallgefahr verbundenen Betriebe der Entlastungsbeweis abgeschnitten; er w a r auch dann ersatzpflichtig, wenn er seine Aufsichtspersonen sorgfältig ausgesucht hatte. Die Beweislast lag jedoch weiter beim Geschädigten. Die Unternehmer reagierten auf die erweiterte Haftpflicht durch Versicherung gegen haftpflichtige Unfälle bei privaten Versicherungsunternehmen oder bei neu entstandenen Gegenseitigkeitsgesellschaften; während die ersteren gegen vorab vereinbarte feste Prämien Verpflichtungen übernahmen, legten die letzteren die entstandenen Kosten nachträglich um. Die Beiträge waren i n der Regel nach Gefahrenklassen abgestuft und wurden nach der Lohnsumme berechnet. Es wurde geschätzt, daß 1879 etwa ein Drittel aller Arbeiter auf diese Weise gegen Unfälle versichert w a r 4 8 . Dies leitet über zur Darstellung der vor Einführung der Sozialversicherung vorhandenen Einrichtungen auf Grundlage des Versicherungsgedankens. Hier bleibt festzuhalten, daß die Methode der Arbeitgeberverpflichtung, die bei der Ausgestaltung der Sozialversicherung 48
Schmoller, S. 400.
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i n Gestalt des Arbeitgeberbeitrages und der alleinigen Finanzierung der Unfallversicherung durch den Arbeitgeber übernommen wurde, auf ältere Traditionen zurückgeht; „es war ferner ein uraltes soziales Prinzip, daß der Dienstherr, der Grundherr, der Schiffsführer, der Bergwerkseigentümer für seine kranken, alten, i n Not befindlichen Leute m i t einzutreten hatte. Diese Verpflichtung verwandelte sich j e t z t . . . i n die öffentlich-rechtliche Zuschußpflicht der Arbeitgeber zu den Arbeiterversicherungskassen oder gar i n die Pflicht für gewisse Schäden (die Unfälle), welche sich als ein Teil der Produktionskosten darstellten, ganz aufzukommen" 4 9 . c) Versicherung Entstehung und weitere Entwicklung der Sozialversicherung i n Deutschland sind i n besonderem Maße durch Anwendung des Versicherungsprinzips geprägt. Versicherung ist allgemein gekennzeichnet durch — die Bildung von Gefahrengemeinschaften durch Zusammenschluß von Personen, die gleichartigem Risiko ausgesetzt sind (Versicherte); — die Entrichtung von Beiträgen (Prämien) durch die Versicherten nach Maßgabe der Risikowahrscheinlichkeit; — einen Risikoausgleich innerhalb der Versicherten, indem bei Eint r i t t eines definierten Versicherungsfalles ein Leistungsanspruch entsteht. Die Methode der Versicherung wurde lange vor Entstehung der Sozialversicherung angewandt. Institutionell lassen sich insbesondere drei Entwicklungslinien verfolgen, die die spätere Sozialversicherungsgesetzgebung beeinflußten und teilweise determinierten: private Versicherungsunternehmen, Unterstützungs- oder Hilfskassen und Knappschaftskassen. Ohne die Entwicklung der Privatversicherung hier i m einzelnen zu belegen, sei dies festgestellt: Ausgehend insbesondere von der Seeund Feuerversicherung breitete sich i n Deutschland das Versicherungswesen i n der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beträchtlich aus und betrieb auch Lebensversicherung, meist i n Form der Zusicherung einer Kapitalsumme i m Todesfall. A l l e i n i n der Zeit zwischen 1833 und 1857 wurden i n Deutschland 50 Versicherungsgesellschaften gegründet. Gleichwohl hatte das private Versicherungswesen für die soziale Sicherung i m ganzen geringe, i m Hinblick auf die Arbeiterschaft keine praktische Bedeutung. Andererseits w a r während der Vorbereitung der Sozialversicherungsgesetzgebung der Versicherungsgedanke allenthalben präsent; auch bezüglich versicherungstechnischer Kenntnisse hatten 49
Schmoller, S. 368.
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die vorangegangenen Jahrzehnte Fortschritte gebracht, nicht allein auf dem Gebiet der Privatversicherung.
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wenngleich
aa) Hilfskassen Der Versicherungsgedanke wurde für sozialpolitische Ziele frühzeitig von den Zünften angewandt. Der i n den Zünften vorhandene und gepflegte Solidaritätsgedanke führte zur Bildung von „Zunftbüchsen", d. h. Kassen, i n die jeder Zunftangehörige regelmäßig einen Beitrag zu zahlen hatte. Die Zunftbüchse gewährte i m Krankheitsfalle Unterhalt i n Spitälern, m i t denen vertragliche Beziehungen bestanden, i m Todesfall Beerdigungskosten, bei Invalidität und Alter Verpflegung und Wohnung. Die sozialpolitischen Aktivitäten der Zünfte entstanden aus sporadischen Ansätzen, wurden allmählich institutionalisiert und etwa ab Mitte des 14. Jahrhunderts durch „Satzung", „Ordnung" u. a. reglementiert. Nachdem die Handwerksgesellen zunächst ebenfalls den Zünften angehörten und beitragspflichtig zur Zunftbüchse waren, erfolgte später eine organisatorische Trennung. Neben den Zünften bildeten sich Gesellenbruderschaften, denen die Gesellen obligatorisch angehörten und zu denen sie beitragspflichtig waren. Die Bruderschaften gewährten wie die Zünfte i m Krankheitsfalle Unterbringung i n Hospitälern; neben Vertragshospitälern hatten die Gesellenbruderschaften teilweise auch eigene Hospitäler, später auch eigene Ärzte. Über die Leistungen der Zünfte hinausgehend zahlten die Bruderschaften auch Krankengeld. M i t der Allgemeinen Gewerbeordnung Preußens von 1845 wurden alle Zunftprivilegien abgeschafft. Den Gesellen wurde jedoch die Beibehaltung der zur gegenseitigen Unterstützung vorhandenen besonderen Verbindungen und Kassen gestattet; darüber hinaus enthielt dieses Gesetz zwei zukunftsträchtige Neuerungen: Erstens wurden die Gemeinden ermächtigt, den Beitritt der Gesellen zu den Kassen für obligatorisch zu erklären. Zweitens wurde die Möglichkeit der Neugründung von Kassen auch für Fabrikarbeiter geschaffen. Eine wichtige Weiterentwicklung brachte eine Verordnung 1849. Die Gemeinden wurden ermächtigt, durch Ortsstatut — auch für Fabrikarbeiter den Beitritt zu Unterstützungskassen für obligatorisch zu erklären, — den Fabrikinhaber zu verpflichten, zu den Unterstützungskassen der Arbeiter Beiträge zu entrichten bis zur Hälfte des Betrages, den die bei ihnen beschäftigten Arbeiter aufbringen, — den Fabrikinhaber zu verpflichten, die Beiträge der Arbeiter unter Vorbehalt der Anrechnung auf die nächste Lohnzahlung vorzuschießen.
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Historische Entwicklung
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Es kam eine Reihe solcher Statuten zustande, die i m einzelnen Rechte und Pflichten der Mitglieder und ihrer Arbeitgeber festlegten. Die Leistungen bezogen sich auf Krankenunterstützung i n Form von ärztlicher Hilfe, Arznei und Verpflegungsgeld sowie Beerdigungskosten. Die Aufsicht über die örtlichen Hilfskassen hatten die Gemeinden. H i n g die Errichtung von Unterstützungskassen bis dahin von der Initiative der Betroffenen ab, so brachte das Gesetz betreffend die gewerblichen Unterstützungskassen von 1854 die Ermächtigung, durch Ortsstatut die Pflicht zur Errichtung von Kassen einzuführen. Weiter wurden, weil „die Ortsbehörden, gehindert durch die Abneigung der Unternehmer, zögerten" 50 , auch die Bezirksregierungen ermächtigt, einen Beitrittszwang zu den Krankenkassen auszusprechen. Die 1854 geschaffene Rechtslage wurde i m wesentlichen von der Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes 1869 übernommen. Neuerungen brachte erst das Gesetz über die eingeschriebenen Hilfskassen von 1876. Es stellte gewisse Normativbedingungen auf und gab auch den freien (nicht durch Ortsstatut gebildeten) Kassen bei Erfüllung dieser Bedingungen eine rechtliche Grundlage. Sie blieben zwar privatrechtliche Körperschaften, erwarben jedoch aufgrund einer Zulassung die Rechte einer „eingeschriebenen Hilfskasse", d. h. den Status einer juristischen Person m i t Haftungsbeschränkung auf das Kassenvermögen. Die Normativbedingungen bezogen sich auf Verfassung, Organe, Aufsicht sowie Ober- bzw. Untergrenzen für Beiträge und Leistungen. A m Vorabend der Sozialversicherungsgesetzgebung stellte sich die Situation wie folgt dar: Es gab i n Deutschland 1874 rd. 10.000 Hilfskassen aller A r t m i t rd. 2 M i l l . Mitgliedern 5 1 . Bei etwa 8 M i l l . Arbeitern war also nur eine Minderheit Mitglied einer Hilfskasse. Von der Gesamtzahl waren etwa die Hälfte eingeschriebene Hilfskassen. Zahlenmäßig vorherrschend waren einerseits Kassen für Arbeiter bestimmter Berufe und Gewerbe, für die örtlicher Beitrittszwang bestand (Ortskrankenkassen) und andererseits Kassen für Arbeiter bestimmter Betriebe (Betriebskrankenkassen). Neben der unzureichenden Einbeziehung der Arbeiterschaft wurde als Mangel empfunden das verwirrende Nebeneinander verschiedener Kassen sowie die Uneinheitlichkeit der Leistungsarten und Leistungsvoraussetzungen.
50 Soweit ersichtlich, w u r d e i n dieser Zeit erstmals eine gesetzliche B e i tragspflicht gefordert v o n W i l h e l m Wagner, Denkschrift über Allgemeine Hülfskassen f ü r Arbeiter m i t gesetzlicher Beitragspflicht der Arbeitgeber u n d Arbeiter, B e r l i n 1851. 51 Schmoller, S. 391.
6 Sozialversicherung
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bb) Knappschaftskassen I m Bereich des Bergbaus entstand bereits i m Mittelalter eine freie — grundherrlich nicht gebundene — Arbeiterschaft. Deren Lebensumstände waren denjenigen der späteren Industriearbeiter insofern ähnlich, als sie vielfach nicht ortsstämmig, räumlich konzentriert und lohnabhängig waren. Die Bergleute schlossen sich nach dem Vorbild der städtischen Zünfte genossenschaftlich zusammen. Diese Zusammenschlüsse, die Knappschaften, übernahmen u. a. eine Fürsorge für erkrankte und verunglückte Knappen sowie deren Angehörige. Die Hilfe wurde zunächst durch einen freiwillig entrichteten „Büchsenpfennig" finanziert. Später wurden i n landesherrlichen Bergordnungen Beitragspflichten der Knappen und ihrer Arbeitgeber (Gewerken) sowie A r t , Höhe und Dauer der Leistungen i m Falle von Krankheit, Unfall, Invalidität und Tod geregelt. Wenngleich die Mitgliedschaf t i n den Knappschaftsvereinen nach Ablösung des i m Zeitalter des Absolutismus entstandenen staatlichen Direktionssystems i m Prinzip freiwillig war, gehörten diesen i m Jahre 1852 i n Preußen 83 ϋ /ο der Bergleute an 5 2 . Entscheidende Neuerungen brachte das preußische Gesetz betreffend die Vereinigung der Berg-, Hütten- und Salinenarbeiter i n Knappschaften von 1854; es enthielt folgende Regelungen: — Versicherungspflicht für alle Bergarbeiter bei obligatorisch zu errichtenden Knappschaftskassen m i t weitgehender Selbstverwaltung; — freie „ K u r und Arznei" sowie Krankenlohn während der Krankheit; — lebenslängliche Unterstützung bei Invalidität oder Tod des Ernährers; — Beitragspflicht für Versicherte und Arbeitgeber; — Beitragsabführung durch Arbeitgeber. Wegen dieser Elemente, insbesondere Versicherungspflicht, Arbeitgeberbeitrag und Selbstverwaltung, hat man von einer Vorprägung der späteren Sozialversicherungsgesetzgebung durch die Knappschaftsversicherung gesprochen. E i n Zeitgenosse urteilte nach Aufführung einiger Mängel der Knappschaftsversicherung zusammenfassend so: „Aber i m ganzen hat sie sich doch so bewährt, daß sie i n den Augen der besten deutschen Unternehmer und der Regierungen ein ideales Vorbild für alle Arbeiterversicherungen wurde. . . . i n der öffentlichen Debatte wurde 1850 - 1890 immer wieder auf sie hingewiesen 53 ." 52 Joseph Höffner, Sozialpolitik i m deutschen Bergbau, Münster 1956, S. 48. ' M Schmoller, S. 390.
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I m Jahre 1876 bestanden 88 Knappschaftskassen m i t 255.000 versicherten Bergleuten. I I . Die erste Gesetzgebung Die Ausgangslage vor Verkündung der Kaiserlichen Botschaft erforderte Initiativen, die vielfach gefordert und vorgeschlagen wurden. Beim Reichskanzler war seit längerem prinzipiell Aktionsbereitschaft vorhanden. A b 1876 bildete sich eine politische Konstellation, die Initiativen aussichtsreich erscheinen ließ. Soweit die Reformbestrebungen sich auf die soziale Sicherung bezogen, waren drei methodische Ansatzpunkte vorhanden, die i m Bewußtsein der Akteure lebendig waren und an die technisch angeknüpft werden konnte: die öffentliche Fürsorge, die Arbeitgeberverpflichtung und die Versicherung; letztere hatte sich i n ausgeprägter Weise aus den Prinzipien der Solidarität und der genossenschaftlichen Selbsthilfe heraus entwickelt und war i n Teilbereichen bereits obligatorisch geworden. U m diese Ansatzpunkte, ihre Weiterentwicklung und Ergänzung rankte sich die Diskussion i n der vorbereitenden Phase der Gesetzgebung. 1. Entscheidungsprozesse
A n der Diskussion der Gestaltungsprinzipien der i n Aussicht genommenen Sozialversicherung war i n starkem Maße die Beamtenschaft beteiligt, der die Erarbeitung der Gesetzentwürfe oblag. Diese Beamtenschaft w a r zunächst und i m ganzen dem neuen Vorhaben keineswegs günstig gesonnen. Die Mehrzahl der Beamten w a r „von der Richtigkeit der Lehre vom freien Spiel der Kräfte und der gesellschaftlichen Harmonie überzeugt und einer direkten Staatshilfe abgeneigt" 54 . Andererseits w i r d als Merkmal der Sonderstellung der deutschen Sozialpolitik hervorgehoben, daß hinter der sozialpolitischen A k t i v i t ä t außer der politischen Absicht „das soziale Verantwortungsgefühl hoher Staatsbeamter stand, die sich als Vertreter des sozialen Fortschritts und Verfechter der Einführung sozialer Institutionen zur Existenzsicherung der Arbeiter betätigten" 5 5 . Bismarck hat i n der Tat zur Durchführung seiner Schutzzoll- und Sozialpolitik neue Mitarbeiter berufen (Hofmann). Aus der Tatsache, daß i h m dies offensichtlich keine Schwierigkeiten bereitete, und ferner, daß er sich später von engagierten sozialpolitischen Mitarbeitern wegen grundsätzlicher Meinungsverschiedenheiten trennte (Lohmann), w i r d man folgern können, daß die Beamtenschaft kein gewichtiger Faktor 54 55
*
Vogel, S. 30. Syrup-Neuloh, S. 56.
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i m politischen Kräftefeld war. Andererseits hat die Beamtenschaft angesichts der methodischen Offenheit des Kanzlers sowie der unter Sozialpolitikern allgemeinen Anschauung, daß der Staat aktiv werden müsse, auf die Gestaltung der Entwürfe großen Einfluß gehabt. Die Entscheidungsprozesse auf politischer Ebene rankten sich vor allem u m die Frage der Versicherungspflicht sowie die Frage der Organisation und der Finanzierung 5 6 . a) Die Durchsetzung der Versicherungspflicht Einer Erweiterung der Versicherungspflicht über Knappschaftsversicherung und gemeindlichen Beschluß hinsichtlich Hilfskassen (1854) hinaus standen der liberalistisch geprägte Zeitgeist i n Bürokratie, Wissenschaft und Publizistik sowie die Auffassung der Mehrheit der Unternehmerschaft entgegen, die entweder prinzipiell gegen soziale Reformen eingestellt war oder freie Hand für betriebliche Sozialpolitik behalten wollte. I m November 1872 beriet aufgrund einer Vereinbarung der beiden Kanzler eine preußisch-österreichische Regierungsdelegation über Maßnahmen zur Begrenzung der Gefahren der internationalen Arbeiterbewegung. Hinsichtlich des Kassenwesens einigten sich die Konferenzteilnehmer „auf das preußische Prinzip der Zwangskasse m i t obligatorischer Beitragspflicht der Arbeiter und Arbeitgeber" 5 7 . Ein Weiterdenken i n Richtung auf eine allgemeine Versicherungspflicht wurde hierbei noch nicht sichtbar. Außerhalb der Regierung wurde die Versicherungspflicht erstmalig von Wissenschaftlern gefordert und publizistisch wirksam vorgetragen, so von Albert Schäffle i n einem Buch 187058, von Adolph Wagner i n einer „Rede über die soziale Frage" i n der Berliner Garnisonkirche 187 1 5 9 und von Gustav Schmoller i n der Eröffnungsrede des Vereins für Sozialpolitik 187260. Aber noch 1874 sprach sich der Verein für Sozialpolitik nach einer Umfrage unter seinen Mitgliedern nicht für eine allgemeine Versicherungspflicht, sondern nur für einen indirekten, d. h. Kassenzwang nach bisherigem Muster aus 61 . Neben den Wissenschaftlern traten zwei Unternehmer — beide i m Montanbereich tätig — für eine allgemeine Versicherungspflicht ein. 56 57 58 59 60 61
Vgl. zum Folgenden auch Rothfels (Anm. 35). Vogel, S. 28. A l b e r t Schäffle, Kapitalismus u n d Sozialismus, 1870. Jahrbuch f. Nationalökonomie u n d Statistik, 1872, S. 219. Jahrb. f. Nat. u. Statistik, 1873, S. 9. Schriften des Vereins f ü r Sozialpolitik, Bd. V, 1874.
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1878 stellte v. Stumm-Halberg i m Reichstag einen Antrag auf Errichtung staatlicher Alters- und Invalidenkassen m i t Zwangsbeitritt. 1880 erstellte Baare — Generaldirektor des Bochumer Vereins — auf Wunsch des Reichskanzleramtes eine Denkschrift, i n der vorgeschlagen wurde, die Haftpflicht der Arbeitgeber bei Arbeitsunfällen durch eine Unfallversicherung zu ersetzen. Bismarck scheint sich i m Jahre 1880 für die Versicherungspflicht entschieden zu haben — wenn auch zunächst nur i n Hinsicht auf die Unfallversicherung. Als die Mehrzahl der zum Stummschen Antrag befragten Behörden sich gegen eine allgemeine gesetzliche Versicherungspflicht aussprachen, weil deren Durchführung zu schwierig sei, bemerkte Bismarck auf dem entsprechenden Bericht des Reichsamtes des Innern i m J u l i 1880: „ m i t Recht". Immerhin ließ er sich gleichzeitig Statute von Knappschaftskassen vorlegen, die Stumm als Muster empfohlen hatte 6 2 . Ansatzpunkt der Regierungsarbeiten zur Sozialversicherungsgesetzgebung war sachlich und zeitlich die Unfallversicherung. Zu einer Lösung drängten die allenthalben beklagten oder doch anerkannten Unvollkommenheiten des Reichshaftpflichtgesetzes von 1871. Das Verbleiben der Beweislast beim Arbeiter hatte zur Folge, daß man es seitens der Unternehmer und der Versicherungsgesellschaften meist auf einen Prozeß ankommen ließ; selbst wenn der Arbeiter einen solchen Prozeß gewann, erhielt er nur eine einmalige Entschädigungssumme. Bei den Unternehmern lösten hohe Kosten, viel Schreibarbeit und viele Prozesse ebenfalls Unzufriedenheit aus. Dem Reichstag lagen seit 1878 zwei Anträge auf eine Revision der Haftpflicht-Gesetzgebung vor. Anfang 1880 legte das Reichsamt des Innern Entwürfe eines Haftpflichtrevisionsgesetzes und eines Unfallanzeigegesetzes vor. Bismarck hatte praktische Bedenken gegenüber diesen Entwürfen, hielt sie an und übersandte sie dem Zentralverband deutscher Industrieller zur Stellungnahme, die negativ ausfiel (März 1880). I m A p r i l wurde die Baaresche Denkschrift m i t dem Vorschlag einer Unfallversicherung vorgelegt. Als das Reichsamt des Innern auf eine Entscheidung über seine Entwürfe, insbesondere hinsichtlich der vorgeschlagenen Umkehrung der Beweislast drängte, vermerkte Bismarck i m J u l i auf der Vorlage: „Staat! wo culpa nicht nachweisbar." Als i m August 1880 eine Besprechung über die grundsätzliche Änderung des Haftpflichtgesetzes stattfand, legte Bismarck seine Direktiven dar 6 3 : 62 Vogel, S. 39. Es ist nicht erkennbar, welchen Einfluß auf die Meinungsb i l d u n g ein auf Wunsch des Reichskanzleramtes 1879 erstellter Bericht des deutschen Generalkonsuls i n London über die v o n den friendly societies errichteten Hilfskassenvereine hatte (Vogel, S. 13). 63 Vogel, S. 33, 152 unter Bezugnahme auf A k t e n der Reichskanzlei.
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— Keine Revision der Haftpflicht, sondern Versicherung; — Begrenzung der Höhe der Entschädigung, aber Vermehrung der Zahl der Fälle, i n denen Unterstützung gewährt w i r d ; — Errichtung einer Reichs- oder Staatsversicherung. Bismarck gab Weisung, eine Vorlage auszuarbeiten, die unter Benutzung der Baareschen Denkschrift die zivilrechtliche Haftpflicht durch eine allgemeine Unfallversicherung ersetze. Diese Weisung erging nicht als Zustimmung, sondern entgegen dem Rat des federführenden Unterstaatssekretärs (Lohmann). Damit war die Entscheidung für die Versicherungspflicht gefallen; sie ist danach, jedenfalls i m Kreise der Regierung, auch i n bezug auf die Kranken- und Invalidenversicherung nicht mehr i n Frage gestellt worden. Die Versicherungspflicht knüpfte rechtstechnisch an den Arbeitsvertrag an. Diese Verknüpfung ist i m Hinblick auf die damaligen Verhältnisse als Einbruch i n den Arbeitsvertrag beschrieben worden. Der Gedanke, i n den Arbeitsvertrag Vorkehrungen zur Versicherung der Arbeitskraft aufzunehmen, sei „ein ebenso einfacher wie genialer Gedanke, der ungeheuren Widerhall finden sollte" 6 4 . b) Organisation und Finanzierung Bismarck hatte 1880 gewünscht, die Unfallversicherung von einer Reichsversicherungsanstalt durchführen zu lassen. Dies entsprach seiner Vorstellung von der Rolle des Reiches als Wohltäter der Arbeiter. Aus dem gleichen Motiv gab er Weisung, neben den Beiträgen der A r beitgeber einen Reichsbeitrag zu den Kosten der Unfallversicherung vorzusehen. I n dieser Form ging der Entwurf eines Unfallversicherungsgesetzes am 8. 3. 1881 dem Reichstag zu. Unterstützend wurde zur Eröffnung der Sitzungsperiode am 15. 2. 1881 eine Thronrede des Kaisers verlesen, i n der die Notwendigkeit des Gesetzes betont und an die M i t w i r kung des Reichstages appelliert wurde. Doch der Reichstag stimmte nicht vorbehaltlos zu. Während die Versicherungspflicht bejaht wurde, lehnte der Reichstag den Zuschuß des Reiches ab, wollte die Reichsversicherungsanstalt durch Landesanstalten ersetzen und einen Beitrag der Arbeitnehmer einführen. Diesen Änderungen versagte die Reichsregierung ihre Zustimmung; der Entwurf wurde m i t dem Auslaufen der Legislaturperiode gegenstandslos. Bismarck war entschlossen, i m neu 64 J.-J. Dupeyroux, E n t w i c k l u n g u n d Tendenzen der Systeme der sozialen Sicherheit i n den Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaften u n d i n Großbritannien, hrsg. v o n der Hohen Behörde der Eur. Gem. f ü r Kohle u n d Stahl, L u x e m b u r g 1966, S. 35 u. 64.
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gewählten Reichstag einen neuen Anlauf zu nehmen. U m diesen zu unterstützen, wurde zur Eröffnung der ersten Session des fünften Reichstages am 17. November 1881 die als Kaiserliche Botschaft bekannt gewordene Thronrede verlesen 65 . „Schon i m Februar d. J. haben W i r Unsere Überzeugung aussprechen lassen, daß die Heilung der sozialen Schäden nicht ausschließlich i m Wege der Repression sozialdemokratischer Ausschreitungen, sondern gleichmäßig auf dem der positiven Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen sein werde. W i r halten es f ü r Unsere Kaiserliche Pflicht, dem Reichstage diese Aufgabe von Neuem ans Herz zu legen, u n d w ü r d e n W i r m i t u m so größerer Befriedigung auf alle Erfolge, m i t denen Gott Unsere Regierung sichtlich gesegnet hat, zurückblicken, w e n n es Uns gelänge, dereinst das Bewußtsein mitzunehmen, dem Vaterlande neue u n d dauernde Bürgschaften seines inneren Friedens u n d den Hülfsbedürftigen größere Sicherheit u n d Ergiebigkeit des Beistandes, auf den sie Anspruch haben, zu hinterlassen. I n Unseren darauf gerichteten Bestrebungen sind W i r der Zustimmung aller verbündeten Regierungen gewiß u n d vertrauen auf die Unterstützung des Reichstages ohne Unterschied der Parteistellungen. I n diesem Sinne w i r d zunächst der von den verbündeten Regierungen i n der vorigen Session vorgelegte E n t w u r f eines Gesetzes über die Versicher u n g der Arbeiter gegen Betriebsunfälle m i t Rücksicht auf die i m Reichstage stattgehabten Verhandlungen über denselben einer Umarbeitung u n terzogen, u m die erneute Berathung desselben vorzubereiten. Ergänzend w i r d i h m eine Vorlage zur Seite treten, welche sich eine gleichmäßige O r ganisation des gewerblichen Krankenkassenwesens zur Aufgabe stellt. Aber auch diejenigen, welche durch A l t e r oder I n v a l i d i t ä t erwerbsunfähig w e r den, haben der Gesamtheit gegenüber einen begründeten Anspruch auf ein höheres Maß staatlicher Fürsorge, als ihnen bisher hat zu T h e i l werden können. F ü r diese Fürsorge die rechten M i t t e l u n d Wege zu finden ist eine schwierige, aber auch eine der höchsten Aufgaben jedes Gemeinwesens, welches auf den sittlichen Fundamenten des christlichen Volkslebens steht. Der engere Anschluß an die realen K r ä f t e dieses Volkslebens u n d das Zusammenfassen der letzteren i n der F o r m korporativer Genossenschaften unter staatlichem Schutz u n d staatlicher Förderung werden, w i e W i r hoffen, die Lösung auch von Aufgaben möglich machen, denen die Staatsgewalt allein i n gleichem Umfange nicht gewachsen sein würde. I m m e r h i n aber w i r d auch auf diesem Wege das Z i e l nicht ohne die A u f w e n d u n g erheblicher M i t t e l zu erreichen sein."
I n Motivation und genereller Zielsetzung knüpfte die Botschaft an die Thronrede vom Februar des gleichen Jahres an: Heilung sozialer Schäden nicht ausschließlich i m Wege der Repression sozialdemokrati65 Die Kaiserliche Botschaft v o m 17. November 1881 (Verhandlungen des Reichstags, 5. Legislaturperiode, I. Session 1881/82, Bd. 1, S. 1) w a r weder die erste kaiserliche Thronrede, die sich m i t Sozialversicherung befaßte (vgl. diejenige v o m 15. 2. 1881), noch die letzte: Eine Thronrede v o m 14. 4. 1883 mahnte zur Erledigung der Vorlagen über U n f a l l - u n d Krankenversicherung, eine weitere v o m 22.11.1888 kündigte die Vorlage über die Invalidenversicherung an.
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scher Ausschreitungen, sondern auch auf dem der Förderung des Wohles der Arbeiter. Inhaltlich ging die Botschaft entschieden weiter. War i m Februar nur eine Versicherung gegen die Folgen von Unfällen angesprochen worden, so wurden nun auch die Krankenversicherung sowie „ein höheres Maß staatlicher Fürsorge" für den Fall des Alters und der Invalidität angesprochen. Für die Unfallversicherung wurde die Umarbeitung des i m Sommer gescheiterten Entwurfs „ m i t Rücksicht auf die i m Reichstage stattgehabten Verhandlungen" angekündigt. I n einem entscheidenden Punkt wurde jedoch zugleich eine neue Zielrichtung hinsichtlich der Organisation verdeutlicht: „Der engere Anschluß an die realen Kräfte des Volkslebens und das Zusammenfassen der letzteren i n der Form korporativer Genossenschaften unter staatlichem Schutz und staatlicher F ö r d e r u n g . . . " Dies war Bismarcks Reaktion auf die Tatsache, daß die von i h m ursprünglich gewünschte Reichsversicherungsanstalt nicht mehrheitsfähig war. Er hat seit damals auf den Gedanken der berufsgenossenschaftlichen Organisation großen Wert gelegt, und zwar offenbar erneut aus übergreifenden politischen Motiven. Seine Mitarbeiter berichteten (1883): „Die Unfallversicherung an sich sei i h m Nebensache, die Hauptsache sei ihm, bei dieser Gelegenheit zu korporativen Genossenschaften zu gelangen, welche nach und nach für alle produktiven Volksklassen durchgeführt werden müßten, damit man eine Grundlage für eine künftige Volksvertretung gewinne, welche anstatt oder neben dem Reichstage ein wesentlich m i t bestimmender Faktor der Gesetzgebung werde, wenn auch äußerstenfalls durch das M i t t e l eines Staatsstreiches . . , 6 6 ." Bismarck wollte obligatorische Berufsgenossenschaften für verwandte Unternehmen als öffentlich-rechtliche Körperschaften — und setzte sie durch. Bei der Erörterung des ersten Unfallversicherungsentwurfs hatte sich das Problem der Entschädigung der großen Zahl der nur m i t vorübergehender Arbeitsunfähigkeit verbundenen Arbeitsunfälle als schwierig erwiesen. Man wußte von den privaten Versicherungsgesellschaften, daß diese außerordentlich hohe Verwaltungskosten verursachten. Von daher entstand der Gedanke, diese den bereits vielfach bestehenden Hilfs(-Kranken-)kassen zu übertragen. Da außerdem die Sicherung i m Krankheitsfalle allgemein als unzureichend und das Hilfskassenwesen als ordnungsbedürftig empfunden wurde, entschloß sich die Reichsregierung, m i t dem zweiten Unfallentwurf am 8. 5. 1882 auch den Entwurf eines Krankenversicherungsgesetzes vorzulegen. Kernstück des Krankenversicherungsgesetzes war die Einführung der Versicherungspflicht kraft Gesetzes. I n organisatorischer Hinsicht 68
Vogel, S. 158 unter Bezugnahme auf Lohmann.
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waren die Vorgegebenheiten i n Gestalt der bereits zahlreich bestehenden Hilfskassen so prägend, daß lediglich eine gesetzliche Ordnung, keine Neugestaltung nötig und möglich erschien. Die Beiträge waren zu 2/3 von den Arbeitern, zu 1/3 von den Arbeitgebern zu zahlen. Ursprüngliche Vorstellungen Bismarcks, daß der A r beiter hier ebenso wie i n der Unfallversicherung keine Beiträge zahlen sollte, weil sonst „die Wirkung auf i h n verloren" gehe 67 , setzten sich bei der Regierung nicht durch. Seine Mitarbeiter sahen darin einen Verstoß gegen das Versicherungsprinzip; wichtiger war wohl, daß die Beitragszahlung der Arbeiter zu den Hilfskassen bereits eingespielt war. Das Krankenversicherungsgesetz wurde — vielleicht w e i l man bei i h m wenig grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten hatte — i m zuständigen Reichstags-Ausschuß zuerst beraten; es wurde, da man die Unfallversicherung nicht mehr glaubte bewältigen zu können, vom Unfall-Entwurf gelöst und allein dem Plenum vorgelegt. Dieses verabschiedete das Gesetz m i t 216 gegen 99 (vor allem Sozialdemokraten und Fortschrittspartei) Stimmen am 31. 5. 1883; das Gesetz wurde am 15. 6. 1883 verkündet und trat am 1. 12. 1884 i n Kraft. Die Regierung mußte den Unfall-Entwurf dem Reichstag am 6. 3. 1884 zum dritten Mal vorlegen. Erst jetzt ließ Bismarck den Reichszuschuß fallen, weil er nicht durchsetzbar erschien. Der Entwurf wurde am 6. 7. 1884 verkündet und trat am 1. 10. 1885 i n Kraft. Die Regierung nahm nun die Invalidenversicherung i n Angriff. I n 1887 vom Reichsamt des Innern veröffentlichten „Grundzügen" w a r vorgesehen, diese organisatorisch den Berufsgenossenschaften zu übertragen. Diese Absicht stieß auf massiven Widerspruch der Industrie, die eine Übermacht der Berufsgenossenschaften fürchtete. Der Plan, nunmehr — wie ursprünglich i n der Unfallversicherung — eine Reichsversicherungsanstalt zu errichten, scheiterte am Widerstand des Bundesrates, der einer Stärkung der Reichsgewalt ablehnend gegenüberstand. So kam es zur Errichtung von Landesversicherungsanstalten. Der Ende 1888 dem Reichstag zugeleitete Entwurf wurde i m Reichstag zügig beraten. „Die Annahme erfolgte unter dem Druck Bismarcks, der sich nochmals m i t der ganzen Wucht seiner Persönlichkeit dafür einsetzte 68 ." Das Gesetz wurde am 22. 6. 1889 verkündet und trat am 1. 1. 1891 i n Kraft. Hinsichtlich der Finanzierung sah er je zur Hälfte von Arbeitgeber und Arbeitnehmer aufzubringende Beiträge und einen Reichszuschuß vor. Der Regierungsentwurf hatte eine Beteiligung des Reichs i n Höhe 67 68
Vogel, S. 151. Syrup-Neuloh, S. 124.
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eines Drittels der Rentenausgaben vorgesehen. Als Motive wurden genannt das Interesse des Reiches an der Zweckerfüllung der Versicherung, die Gefahr, daß die Belastung für einzelne Berufszweige zu hoch werde und die Erwartung, daß die Versicherung eine erhebliche Erleichterung der öffentlichen Armenpflege bewirke. I n der Absicht, die Belastung des Reiches zu reduzieren, legte der Reichstag fest, daß zu jeder Rente ein fester Betrag von 50 M jährlich zu zahlen sei 69 . Immerh i n realisierte sich hier erstmalig der alte Wunsch Bismarcks nach einer finanziellen Beteiligung des Reiches an der Sozialversicherung. Ein Charakteristikum der deutschen Sozialversicherung ist die Selbstverwaltung durch die Versicherten und ihre Arbeitgeber. Dieser Gedanke war jedenfalls als Prinzip nicht i n gleichem Maße kontrovers wie die Versicherungspflicht und die Organisation der Trägerschaft. Die Tradition genossenschaftlicher Selbsthilfe sowie auch der gemeindlichen Selbstverwaltung war allseits lebendig und anerkannt; die zahlreich bestehenden Hilfskassen standen i n Selbstverwaltung ihrer M i t glieder. I n der Kaiserlichen Botschaft war die Rede vom „engeren Anschluß an die realen Kräfte des Volkslebens" und von „korporativen Genossenschaften" gewesen. Da man die Krankenversicherung gesetzgeberisch zuerst behandelte und dabei aus Zweckmäßigkeitsgründen an die Hilfskassen anknüpfte, bestand weder der Anlaß, eine Selbstverwaltung zu induzieren, noch die Möglichkeit, sie zu beseitigen. Man komplettierte die Selbstverwaltungsorgane u m die Arbeitgeber, die nun auch beitragspflichtig wurden, eben nach Maßgabe ihres Beitragsanteils (ein Drittel). So lag es nahe, bei den wenig später entstehenden Berufsgenossenschaften den Unternehmern als den allein Zahlungspflichtigen die Verwaltung zu übertragen. Die Regierung hatte vorgeschlagen, den Vorständen Arbeiterausschüsse zuzuordnen; „der Unternehmereinfluß i m Reichstag wußte sie zu beseitigen" 76 . Es wurde lediglich eine Zuziehung gewählter Arbeiter für die Unfalluntersuchung und die Beratung der Unfallverhütungsvorschriften vorgesehen. I m Invalidenversicherungsgesetz wurde neben dem hauptamtlichen Vorstand ein Ausschuß als kontrollierende und beschlußfassende Vertretung errichtet, der sich entsprechend der Finanzierungsregelung paritätisch aus Arbeitgebern und Arbeitnehmern zusammensetzte. Das Gesetz erlaubte außerdem, daß dem beamteten Vorstand ehrenamtliche Unternehmer und Arbeiter beitreten.
69 Die Absicht erfüllte sich nicht; i m Ergebnis lag der A n t e i l der Reichsm i t t e l an den Ausgaben der Rentenversicherung i n den 90er Jahren u m 40 %>. 70 Schmoller, S. 402.
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c) Die Grundlagen der weiteren
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1889 also war die Phase der Grundsteinlegung der deutschen Sozialversicherungsgesetzgebung beendet. Diese w a r zeitlich i n mehreren Stufen und organisatorisch i n mehreren Zweigen entstanden. Die zeitliche Stufung hatte sich zum einen aus der Vordringlichkeit einer Regelung der Unfallentschädigung ergeben. Z u m anderen w a r sie von Bismarck aus taktischen Gründen gewollt. „Wollte die Reichsregierung" — so schrieb er 1881 — „gegenwärtig m i t dem gesamten Plane der Neuorganisation gleichzeitig hervortreten, so würden zahlreiche Gesellschaftskreise durch die Größe der bevorstehenden A u f gaben abgeschreckt und zur Opposition getrieben werden. Das Gebiet der sozialen Reform muß daher schrittweise nach und nach betreten werden,..." Die organisatorische Gliederung ergab sich zum einen aus der bereits bestehenden Hilfskassen-Organisation, war zum anderen Folge des erwähnten taktischen Vorgehens. Sie w a r auf jeden Fall Ergebnis von Kompromissen, nicht gewollte Konzeption. 1905 erklärte der zuständige Staatssekretär (Posadowsky-Wehner) i m Reichstag: „Wenn w i r heute res integra hätten, würde doch kein vernünftiger Mensch daran denken, eine besondere Organisation der Krankenversicherung und eine besondere Organisation der Alters- und Invalidenversicherung zu schaffen . . . Ich glaube, es muß eine Aufgabe der Zukunft sein, diese drei großen Versicherungen i n eine einheitliche Form zusammenzufassen . . . 7 1 ." A n gesichts dieser frühen und gewichtigen Meinung, die über die Zeit hin immer wieder Befürworter fand und bis heute findet, hat die organisatorische Grundstruktur der deutschen Sozialversicherung eine erstaunliche Kontinuität bewiesen. Kontinuität hat auch die Grundstruktur der Finanzierung der Sozialversicherung bewiesen. Die Dreiteilung der Finanzierungsquellen i n Arbeitnehmerbeiträge, Arbeitgeberbeiträge und Staatszuschüsse ist i m einzelnen oft geändert und i n ihrer Gewichtung verschoben, nie jedoch grundsätzlich i n Frage gestellt worden. Zusammenfassend ergibt sich, daß sich Bismarcks ursprüngliche Vorstellungen hinsichtlich Organisation und Finanzierung nur unvollkommen und abgewandelt realisiert haben. V o l l durchgesetzt hat er sich allein hinsichtlich der Durchsetzung der allgemeinen Versicherungspflicht. Diese Durchsetzung zu einem vergleichsweise frühen Zeitpunkt gegen erhebliche Widerstände i n Theorie und Praxis macht es ungeachtet mancher Einschränkungen i m Gedenken an seine Motive auch heute noch möglich, i m Ergebnis den Feststellungen von „Augenzeugen" 71
Syrup-Neuloh, S. 125.
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zuzustimmen, nämlich: Es „ist äußerst unwahrscheinlich, daß das Werk der Arbeiterversicherung ohne die titanischen Kräfte des Fürsten vollendet worden wäre" 7 2 . Und: „Die Riesenkraft, welche sie gegen Windund Tagesströmung durchdrückte, w a r eine politische, keine speziell sachverständige 73 ." Dessen ungeachtet war beim politisch motivierten „Durchdrücken" soviel Sachverstand eingeflossen, daß sich die Schöpfung der deutschen Sozialversicherung als arbeitsfähig und vor allem ausbaufähig erwies. Die grundlegenden Entscheidungsprozesse hatten dazu geführt, daß vorhandene Ideen und Methoden konsequent und wesentlich erweitert wurden: — aus der Versicherung entstand die Versicherungspflicht; — aus der Arbeitgeberverpflichtung entstand der Arbeitgeberbeitrag; — aus der staatlichen Verantwortung enstanden öffentlich-rechtliche Trägerschaft und Staatszuschüsse; — aus genossenschaftlicher Selbsthilfe entstand Selbstverwaltung. 2. Das materielle Recht
Die drei ersten Sozialversicherungsgesetze enthielten eine Fülle detaillierter Regelungen, die nachfolgend i n der üblichen Systematik unter Abhebung auf sozialpolitische Gewichtigkeit dargestellt werden. Die gewählte Unterteilung i n Personenkreis, Leistungsvoraussetzungen, Geldleistungen, Sach- und Dienstleistungen, Finanzierung und Organisation w i r d i n den folgenden, chronologisch unterteilten Abschnitten, so weit zweckmäßig, wiederholt, um auch einen Nachvollzug der Entwicklung i n jedem einzelnen dieser Sachbereiche zu ermöglichen. a) Personenkreis der Versicherten Krankenversicherung: Versicherungspflicht kraft Gesetzes für Arbeiter, die i n bestimmten, gesetzlich bezeichneten Betriebsarten beschäftigt sind. Angestellte sind versicherungspflichtig, wenn ihr Jahreseinkommen weniger als 2.000 M beträgt. Ein Versicherungsrecht besteht für Arbeitnehmer i n den bezeichneten Betrieben, die der Versicherungspflicht nicht unterliegen und eine bestimmte Einkommenshöhe nicht überschreiten. Die Krankenkassen haben das Recht, durch Satzungsbeschluß auch Familienangehörige der Versicherten einzubeziehen, und zwar entweder zu Lasten aller Kassenmitglieder oder gegen Entrichtung eines 72 73
Herkner, S. 105. Schmoller, S. 414.
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Zusatzbeitrages des einzelnen Versicherten (ohne Beteiligung seines Arbeitgebers). Unfallversicherung: Versichert sind Personen, die i n bestimmten Betriebsarten beschäftigt sind (Angestellte bis zu einem Jahreseinkommen von 2.000 M). Rentenversicherung: Versicherungspflicht für alle Lohnarbeiter und Angestellte bis zu 2.000 M Jahreseinkommen. Möglichkeit der freiwilligen Weiterversicherung; Selbstversicherungsrecht für Hausgewerbetreibende und Betriebsunternehmer. b) Leistungen Leistungsvoraussetzungen Krankenversicherung: Krankheit (ohne Legaldefinition). Unfallversicherung: Unfall, der durch besondere, dem Betrieb eigentümliche Gefahren verursacht ist, unter Ausschluß des vorsätzlich herbeigeführten Unfalls. Rentenversicherung : — Erwerbsunfähigkeit; sie liegt vor, wenn der Versicherte außerstande ist, einen Lohn zu verdienen, dessen Höhe der Summe aus einem Sechstel des mittleren Jahresarbeitsverdienstes seiner Lohnklasse und einem Sechstel des ortsüblichen Tagelohns entspricht; die Erwerbsfähigkeit des Versicherten mußte also u m zwei D r i t t e l gemindert sein. Wartezeit: 200 Wochenbeiträge (5 Jahre). — Alter: 70 Jahre und 1.200 Wochenbeiträge (30 Jahre). Geldleistungen Krankengeld: 50 v. H. des Lohnes vom 3. Tage der Arbeitsunfähigkeit an bis zu 13 Wochen. Verletztenrente: Zwei D r i t t e l des Jahresarbeitsverdienstes bei voller Erwerbsunfähigkeit; Teilrente entsprechend der Erwerbsminderung; bei Pflegebedürftigkeit Erhöhung auf 100 v. H. Witwenrente: 20 v. H. des Jahresarbeitsverdienstes. Invalidenrente: Grundbetrag 50 M (Reichszuschuß), Festbetrag 60 M und weiterer Betrag nach Maßgabe der Dauer der Beitragszahlung sowie der Lohnklasse, i n der Beiträge entrichtet sind. Sach- und Dienstleistungen Die Krankenversicherung leistet freie ärztliche Behandlung, Arznei und kleine Heilmittel. Anstelle des Krankengeldes und der ärztlichen Behandlung kann Krankenhausbehandlung und ein Teil-Krankengeld
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treten. Wöchnerinnenunterstützung w i r d während 4 Wochen nach der Niederkunft gewährt. Die Kassen erfüllen ihren Sicherstellungsauftrag freier ärztlicher Behandlung, indem sie einzelne Ärzte als Bezirksärzte unter Vertrag nehmen. Es gilt also das Sachleistungsprinzip. A n Stelle des üblichen zweiseitigen Verhältnisses zwischen Arzt und Patient t r i t t ein Dreiecksverhältnis zwischen Krankenkasse, Arzt und Patient. Diese A r t der Gestaltung einer Versicherungsleistung war durchaus neu und „bis dahin i n der Welt überhaupt noch nicht vorhanden" 7 4 . Die Berufsgenossenschaften leisten Heilbehandlung ab der 14. Woche. Sie werden ermächtigt, Vorschriften zur Verhütung von Unfällen zu erlassen, bei deren Nichtbeachtung den Betrieben Einstufung i n eine höhere Gefahrenklasse und Beitragszuschläge, den Versicherten Geldstrafen auferlegt werden können. Die Landesversicherungsanstalten sind ermächtigt, für Versicherte, die nicht krankenversichert sind, die Krankenfürsorge zu übernehmen, wenn als Folge der Krankheit Erwerbsunfähigkeit zu besorgen ist, die einen Rentenanspruch begründet. c) Finanzierung Krankenversicherung: Beiträge, die zu zwei Drittel vom Versicherten, zu einem Drittel vom Arbeitgeber zu tragen sind. Bei den Hilfskassen trägt der Versicherte den Beitrag allein. Der Beitragssatz schwankt zwischen 1,5 und 6 v. H. Die Krankenkassen sollen ein Vermögen i n Höhe von 3 Jahreseinnahmen ansammeln. Unfallversicherung: Beiträge der Arbeitgeber; Finanzierung durch Umlageverfahren 75 . Rentenversicherung: Beiträge, die je zur Hälfte von Versicherten und Arbeitgebern zu tragen sind. Die Beiträge sind nominal als Wochenbeitrag für Lohnklassen festgesetzt, denen die Versicherten angehören. Dabei ist eine Degression eingebaut: Als Beitragssatz errechnet sich i m Durchschnitt 1,7 °/o; er beträgt i n der niedrigsten Lohnklasse über 2 °/o, i n der höchsten nur etwa 1 °/o. Das Reich zahlt einen Zuschuß zu jeder Rente i n Höhe von 50 M jährlich und gewährleistet eine Reichsgarantie. Finanzierung durch Kapitaldeckungsverfahren 76 . 74 M a x i m i l i a n Sauerborn, Kassenärzterecht i n der Entwicklung, Bundes arbeitsblatt 1953, S. 205. 75 Das von der Beamtenschaft ursprünglich vorgesehene u n d hartnäckig verteidigte Kapitaldeckungsverfahren hatte Bismarck abgelehnt, u m die I n dustrie erst allmählich zunehmend zu belasten; vgl. Vogel, S. 98 f. 76 Die Höhe der Beiträge w a r f ü r einen 10jährigen Zeitraum so zu bemessen, daß durch sie gedeckt werden Verwaltungskosten, Rücklagen zur B i l d u n g
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d) Organisation Das Krankenversicherungsgesetz sah folgende Kassenarten vor: — Ortskrankenkassen durch Beschluß der Gemeinde für Versicherte eines Gewerbezweiges oder einer Betriebsart; — Betriebskrankenkassen durch Beschluß des Betriebes; — Innungskrankenkassen durch Beschluß der Innung; — Knappschaftskassen nach bisheriger Regelung; — Baukrankenkassen, die von Bauherren unter bestimmten Bedingungen zu errichten sind; — Gemeinde-Krankenversicherung; eine kommunale Einrichtung (keine Krankenkasse), die von allen Gemeinden (ggf. gemeinsam m i t anderen Gemeinden) zu errichten ist; ihr gehören alle nicht von einer anderen Kasse erfaßten Personen an. Die daneben weiterbestehenden freien Hilfskassen können, wenn ihre Leistungen denjenigen der örtlichen Gemeinde-Krankenversicherung entsprechen, durch behördliche Bescheinigung als Träger der Krankenversicherung anerkannt werden m i t der Folge, daß die Mitgliedschaft bei ihnen von der Mitgliedschaft bei gesetzlichen Kassen befreit („Ersatzkassen"). Die Verwaltung der Ortskrankenkassen erfolgt durch den ehrenamtlichen gewählten Vorstand und die Generalversammlung (bei über 500 Mitgliedern Delegiertenversammlung), i n denen Arbeitnehmer und Arbeitgeber i m Verhältnis 2 : 1 vertreten sind. Durch Satzungsbeschluß können die gesetzlichen Mindestleistungen der Krankenkassen erweitert werden. Bei Streit über die Rechte und Pflichten nach dem Gesetz entscheidet zunächst die Aufsichtsbehörde; gegen deren Entscheidung ist der ordentliche Rechtsweg offen. Träger der Rentenversicherung sind örtlich zuständige Landesversicherungsanstalten m i t eigener juristischer Persönlichkeit und Selbstverwaltungsorganen. Die durch das Unfallversicherungsgesetz geschaffenen Berufsgenossenschaften werden von einem Vorstand aus gewählten Vertretern der Unternehmer verwaltet. Die den Berufsgenossenschaften übertragenen Aufgaben der Unfallverhütung standen neben den Aufgaben der bereits vorher existiereneines Reservefonds, Beitragserstattungen „sowie der K a p i t a l w e r t h der von der Versicherungsanstalt aufzubringenden Anteile an denjenigen Renten, welche i n dem betreffenden Zeitraum voraussichtlich zu bewilligen sein w e r den" (§ 20 des Invaliditätsgesetzes).
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den Fabrikinspektoren. Bestrebungen der Regierung, eine Vereinheitlichung in der Weise herbeizuführen, daß die Berufsgenossenschaften ermächtigt werden, die Fabrikinspektoren als ihre Beauftragten zu bestellen, setzten sich nicht durch 7 7 . Seither besteht der Dualismus zwischen staatlicher Gewerbeaufsicht und den Unfallverhütungsmaßnahmen der Unfallversicherungsträger. Durch das Unfallversicherungsgesetz w i r d das Reichsversicherungsamt errichtet. Das A m t ist oberste Instanz der Rechtssprechung und der Aufsicht für die Unfallversicherung und die Rentenversicherung. Später w i r d das A m t auch oberste Spruch- und Beschlußinstanz für die Krankenversicherung (1913), die Angestellten- und Knappschaftsversicherung (1923) und für die Arbeitslosenversicherung 78 . 3. Das sozialpolitische Ergebnis
Die erste Gesetzgebung über Sozialversicherung verbesserte die Lage vieler Arbeitnehmer entscheidend. Vor Inkrafttreten des Krankenversicherungsgesetzes waren rd. 2 M i l l . Arbeiter Mitglied einer Hilfskasse gewesen. 1885 hatte die Krankenversicherung 4,3 M i l l . Mitglieder. Etwa die gleiche Anzahl w a r unfallversichert und wenig später auch rentenversichert. A u f Anhieb verdoppelte sich also die Zahl der Arbeitnehmer m i t Versicherungsschutz. Die Versicherungspflichtgrenze für Angestellte (2.000 M) war aus heutiger Sicht vergleichsweise hoch; sie entsprach etwa dem 3fachen des durchschnittlichen Arbeitnehmerverdienstes i m Jahr 1892. Auch für diejenigen, die vorher bereits i n irgendeiner Form versichert gewesen waren, verbesserte sich die Situation entscheidend. Bei einem Arbeitsunfall hatte der Verletzte einen öffentlich-rechtlichen Anspruch gegen die Berufsgenossenschaft ohne Beweispflicht und ohne Rücksicht auf die Schuldfrage; an die Stelle der zivilrechtlichen Verschuldenshaftung w a r die Gefährdungshaftung getreten. A n die Stelle einer einmaligen Entschädigungszahlung w a r ein Rentenanspruch getreten, dessen Höhe dem Verletzten die Aufrechterhaltung des Lebensstandards auch i m Falle völliger Erwerbsunfähigkeit erlaubte. I m Falle der Krankheit w a r dem Versicherten kostenfreie ärztliche Versorgung an Stelle der bisherigen Kostenerstattung gewährleistet; ein Krankengeld bewahrte vor plötzlichen Absturz i n drückende Not. Bei Invalidität und i m A l t e r bestand ein lebenslänglicher Rentenanspruch. I n dieser Beziehung enthielt die Erstgesetzgebung der Ren77
Näheres bei Syrup-Neuloh, S. 75 f. Näheres bei W a l t e r Bogs, Das Bundesversicherungsamt i m Rückblick, i n : Die Praxis des Bundesversicherungsamtes, hrsg. v o n Dieter Schewe, Bonn Bad Godesberg 1977, S. 195 ff. 78
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tenversicherung eine durchaus modern anmutende Regelung hinsichtlich der Leistungsvoraussetzungen. Übergangsbestimmungen stellten unbeschadet des Kapitaldeckungsverfahrens eine Rentenzahlung an über 70jährige von Anfang an sicher. Dies wurde erreicht durch befristeten Verzicht auf die normale Wartezeit. Da jede Rente einen festen Reichszuschuß sowie einen Grundbetrag enthielt, kamen auch bei sehr kurzen Versicherungszeiten hilfreiche Rentenbeträge zur Auszahlung. Bereits i m ersten Jahr der Invalidenversicherung (1891) wurden 133.000 AltersRenten bewilligt; nach 10 Jahren waren es rd. 600.00079. Der Fortschritt war sowohl i n quantitativer als auch i n qualitativer Hinsicht unbestreitbar groß i m Vergleich zum vorherigen Zustand. Mißt man das Erreichte dagegen aus heutiger Sicht am Leitbild einer ausreichenden sozialen Sicherung für alle Staatsbürger, so entsteht ein bescheidenes B i l d voller Lücken und Mängel. Wichtige Tatbestände waren nicht abgesichert, wie insbesondere der Schutz bei Arbeitslosigkeit, der Krankheitsschutz für die Angehörigen der Versicherten und der Schutz bei Ausfall des Ernährers durch Tod. War auch die absolute Zahl der Versicherten sprunghaft gestiegen, so war der relative Umfang des gesicherten Personenkreises gering. Die Anzahl der Versicherten (1885 4,3 M i l l , i n der KV) entsprach rd. 40 °/o aller Arbeitnehmer und knapp 10 % der Bevölkerung. Bescheiden war auch die Höhe der Rentenleistungen. Die durchschnittliche Höhe der Rente i m Jahre 189180 entsprach 18 °/o des durchschnittlichen Jahresverdienstes eines Arbeitnehmers. Man betrachtete die Altersrente an den Arbeiter als „eine Zubuße zu seinem verminderten Verdienst oder sonstigen Einkommen" 8 1 . 4. Erste Weiterentwicklungen (1883 - 1900)
a) Kreis der Versicherten Die Fortentwicklung des Systems der sozialen Sicherung setzte früh ein und vollzog sich i n rasch aufeinanderfolgenden Schritten. Dies war i n den aufgezeigten Mängeln und Unvollkommenheiten begründet, die aus sich heraus zur Fortentwicklung drängten. Gerade weil ein bescheidener Anfang gemacht war, traten die Lücken und Begrenzungen des Schutzes u m so deutlicher ins Blickfeld. Hinzu kam aber recht bald ein gesteigertes Zutrauen der Legislative und der Exekutive zu sich selbst und zur „Machbarkeit" der Probleme. Das neue System — das 1893 seine erste zusammenhängende rechtssystematische Darstellung fand 8 2 — erwies sich für die Beteiligten überraschend schnell als funk79 80 81 82
Reichsarbeitsblatt, 1905, S. 339. Reichsarbeitsblatt, 1905, S. 340. Schmoller, S. 411. Heinrich Rosin, Das Recht der Arbeiterversicherung, B e r l i n 1893.
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tionsfähig und finanzierbar. Viele der vorher befürchteten Schwierigkeiten und negativen Folgen erwiesen sich als übertrieben oder weniger gewichtig. Die die erste Gesetzgebung ergänzenden, erweiternden und klarstellenden Rechtsetzungsakte 83 werden i m folgenden nicht chronologisch referiert, sondern selektiv i m Hinblick auf ihren Problem- und W i r kungsgehalt. Eine geradezu stürmische Entwicklung vollzog sich i n bezug auf den Personenkreis: Neben der Einführung der Versicherungspflicht kraft Gesetzes hatte das Krankenversicherungsgesetz die Gemeinden, die Länder, den Bundesrat und den Reichskanzler ermächtigt, die Versicherungspflicht auf weitere Personengruppen auszudehnen. Diese Maßnahme trug dem Gedanken der verwaltungsmäßigen Durchführbarkeit Rechnung, wie er heute i n den Methode der schrittweisen Ausdehnung der sozialen Sicherung i n wenig industrialisierten Ländern vielfach und systematisch angewandt w i r d 8 4 . Durch Ausfüllung dieser Ermächtigungen, aber auch durch reichsgesetzliche Ausdehnung der Versicherungspflicht — daneben auch i n erheblichem Maße durch die zunehmende Zahl der i m versicherungspflichtigen Bereich Beschäftigten — stieg die Zahl der Mitglieder der gesetzlichen Krankenkassen zwischen 1885 und 1900 von 4,3 M i l l , auf 9,5 M i l l . an. Die Kassen machten zunehmend von ihrem Recht zur Einbeziehung der Familienangehörigen i n die Leistungsberechtigung Gebrauch. I m Jahre 1900 w a r bereits für rd. die Hälfte aller versicherten Arbeitnehmer die Familienversicherung eingeführt, und zwar ganz überwiegend zu Lasten des allgemeinen Beitrags. Von 201 Krankenkassen m i t Familienversicherung erhoben nur 11 Zusatzbeiträge 85 . Auch die Unfallversicherung wurde durch mehrere Gesetze schnell auf weitere Betriebsarten ausgedehnt, so auf eine Reihe von Reichsund Staatsbetrieben (1885), auf land- und fortwirtschaftliche Betriebe (1886), auf das Baugewerbe und die Seeschiffahrt (1887). Die Zahl der gegen Unfall Versicherten stieg — auch durch Erhöhung der Versicherungspflichtgrenze von 2.000 auf 3.000 M — von 4,1 Mill, i m Jahre 1887 auf fast 19 M i l l , i m Jahre 1900. Nicht ganz so stürmisch verlief die Ausdehnung der Rentenversicherung, doch stieg die Zahl der Versicherten auch hier durch Zunahme 83
zen.
I n der Zeit 1885 - 1900 ergingen 10 Änderungsgesetze zu den 3 Erstgeset-
84 Detlev Zöllner, Planung u n d Durchführung v o n Gesundheitsmaßnahmen i n Entwicklungsländern, i n : Soziale Sicherung durch soziales Recht, Festschr. f. Horst Peters, hrsg. von Hans F. Zacher, Stuttgart 1975, S. 239. 85 Horst Peters, S. 57.
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der Arbeitnehmer sowie durch Bundesratsbeschlüsse und ein Änderungsgesetz (1900) um rd. ein Drittel. b) Leistungen Hinsichtlich der Leistungsvoraussetzungen wurde im Invalidenversicherungsgesetz 1899 der Invaliditätsbegriff neu gefaßt: Die ZweiDrittel-Grenze blieb zwar, doch wurde erstmalig die Zumutbarkeit einer Verweisung auf andere Tätigkeiten begrenzt, indem als Maßstab eine Tätigkeit gesetzt wurde, „die ihm unter billiger Berücksichtigung seiner Ausbildung und seiner bisherigen Tätigkeit zugemutet werden kann". Ursprünglich war es allein auf die „Kräfte und Fähigkeiten" des Versicherten angekommen. I m Bereich der Sach- und Dienstleistungen machten die Rentenversicherungsträger unverzüglich Gebrauch von der ihnen eingeräumten Möglichkeit, unter bestimmten Bedingungen auch Krankenfürsorge zu übernehmen. I m Vordergrund der Bemühungen stand die Bekämpfung der Tuberkulose, die eine häufige Invaliditätsursache war. 1894 wurden die ersten Lungenkranken zur K u r verschickt, ein Jahr später wurde die erste eigene Heilstätte der Rentenversicherung eröffnet, der bald weitere Einrichtungen folgten. Aufgrund der ersten Erfahrungen wurde die zugrunde liegende gesetzliche Vorschrift i m Invalidenversicherungsgesetz 1899 erweitert; die Träger wurden ermächtigt, Heilverfahren i n dem ihnen geeignet erscheinenden Umfange durchzuführen. Voraussetzung blieb jedoch, daß „infolge der Krankheit Erwerbsunfähigkeit zu besorgen ist", welche einen Rentenanspruch begründet. I m Jahr 1900 wurden fast 30.000 Heilverfahren durchgeführt, deren Kosten sich auf rd. 7 °/o der Rentenausgaben beliefen (zum Vergleich 1977: 4 %). Auch die Unfallverhütungstätigkeiten der Unfallversicherungsträger liefen bald nach deren Entstehung an. 1886 entstanden die ersten Unfallverhütungsvorschriften. Als die Berufsgenossenschaften i m Jahre 1900 gesetzlich verpflichtet wurden, Sicherheitsbeauftragte anzustellen, hatte deren Mehrzahl dies bereits getan. Durch Zusammenlegung der Schiedsgerichte für einzelne Berufsgenossenschaften m i t den Schiedsgerichten für die Invalidenversicherung entstanden 1899 Schiedsgerichte für die Arbeiterversicherung als erste Ansätze der späteren Sozialgerichtsbarkeit. c) Finanzierung Hinsichtlich der Finanzierung ergab sich bald, daß die ursprünglichen Annahmen über die Invaliditätshäufigkeit überhöht gewesen waren. *
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Die Rentenversicherung hatte daher beträchtliche Überschüsse. I h r Vermögen betrug um die Jahrhundertwende etwa das Zehnfache einer Jahresausgabe. Zwischen den Rentenversicherungsträgern ergaben sich jedoch erhebliche Unterschiede; es gab bald relativ „reiche" und relat i v „arme" Anstalten, w e i l die Altersstruktur der Versicherten und deren Verteilung auf die Lohnklassen sehr unterschiedlich waren. Die ursprüngliche Annahme, daß die Risiken sich innerhalb der Anstalten ausgleichen würden, realisierte sich nicht. Deshalb wurde m i t dem Invalidenversicherungsgesetz 1899 ein begrenztes Gemeinlastverfahren eingeführt, um einen finanziellen Ausgleich unter den Anstalten zu schaffen; i n die Gemeinlast gingen vier Zehntel der Beiträge ein. Dies war der Anfang einer finanziellen Zentralisation bei — oder besser: zur — Aufrechterhaltung der organisatorischen Dezentralisation. Die fortdauernde Bedeutung dieser Entscheidung lag darin, daß man i n der Rentenversicherung, anders als i n der Kranken- und Unfallversicherung, von reichseinheitlichen Leistungen und auch Beiträgen ausging.
I I I . D i e E n t w i c k l u n g seit der Jahrhundertwende 1. Ausbau und Kodifikation (1900 - 1914)
a) Fortgang der sozio-ökonomischen
Umstrukturierung
Die sozio-ökonomischen Faktoren, die die Ausgangslage der Sozialversicherungsgesetzgebung gekennzeichnet hatten, w i r k t e n i n der Zeit bis zum ersten Weltkrieg weiter. Deutschland vollzog i n den letzten Jahrzehnten vor Beginn des ersten Weltkrieges endgültig den Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft. Die Bevölkerung des Deutschen Reiches nahm i n der Zeit zwischen der Reichsgründung und dem Beginn des ersten Weltkrieges nochmals um rd. 40 Vo zu. Begünstigt durch die Zunahme der Großbetriebe und den weiteren Ausbau des Eisenbahnsystems setzte sich auch die Urbanisierung rasch fort. I m Zeitraum 1880 - 1914 stieg die Zahl der Bewohner von Städten m i t mehr als 30.000 Einwohnern auf das Dreifache. Die m i t der Bevölkerung wachsende Zahl der Beschäftigten fand weiterhin zunehmend i m sekundären (industriellen) Produktionsbereich Arbeitsplätze; i m Jahre 1914 waren dies 38 °/o aller Beschäftigten. Die Tendenz zu größeren Betriebseinheiten zeigt sich darin, daß i m Zeitraum 1882 - 1907 der A n t e i l der Beschäftigten i n Betrieben m i t weniger als 6 Beschäftigten sich halbierte, während derjenige i n Betrieben m i t über 1.000 Beschäftigten auf das Zweieinhalbfache stieg 86 . 86 Materialien zur Statistik des Kaiserreiches 1870 - 1914, v o n G. Hohorst, J. Kocka, G. A. Ritter, 2. Aufl., München 1978, S. 58.
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Die Industrieproduktion stieg i n der Zeit 1890 - 1914 auf das Zweieinhalbfache. Expandierende Faktoren waren die Produktion von Stahl und Roheisen, die chemische Industrie, die Elektroindustrie und der Schiffbau. Durch ein schnelles Wachstum holte Deutschland eine Entwicklung nach, die i n anderen westeuropäischen Ländern — vor allem England — sich Jahrzehnte früher vollzogen hatte. Deutschland wurde zunehmend zu einem Exporteur industrieller Produkte. Die Entwicklung zur Arbeitnehmergesellschaft setzte sich fort. I n dem Zeitraum 1882 - 1907 sank der Anteil der Selbständigen an allen Erwerbstätigen von 32 auf 22 v. H.; entsprechend stieg der Anteil der Arbeitnehmer von 68 auf 78 v. H. I n den gleichen Zeitraum fällt auch das durch zunehmende Funktionsteilung i n den größeren Betrieben bedingte starke Anwachsen der Angestellten. Ihre Zahl stieg auf das Siebenfache, i h r A n t e i l an den Erwerbspersonen von 1,9 auf 5,2 v. H. Weiter erhöhte sich der A n t e i l der weiblichen Arbeitnehmer, und zwar insbesondere unter den Angestellten. Der A n t e i l der Frauen an allen Arbeitnehmern i n Industrie, Handel und Verkehr (ohne Landwirtschaft) stieg von 13 auf 20 v. H. (1882 - 1907), unter den Angestellten jedoch von 2 auf 12 v. H. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad der Arbeitnehmer erhöhte sich beträchtlich. Der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder an allen Arbeitnehmern (ohne Landwirtschaft) betrug 1890 etwa 6 °/o, 1900 etwa 11 °/o und 1913 etwa 32 °/o. Die industrielle Expansion hatte ein deutliches Ansteigen des Volkseinkommens zur Folge. Je Kopf der Bevölkerung stieg es i m Jahrzehnt 1891 - 1900 um 2 0 v . H . ; i m folgenden Jahrzehnt 1901-1910 sogar u m fast 30 °/o an. Der durchschnittliche Jahresverdienst der Arbeitnehmer i n Industrie, Handel und Verkehr stieg von 1895 = 100 bis 1913 auf nominal 163 und real 125. Die durchschnittliche tägliche Arbeitszeit ging von 12 Std. um 1870 auf 9,5 Std. u m 191487 zurück. b) Das politische Kräftefeld Die stürmische Umstrukturierung von Wirtschaft und Gesellschaft reflektierte sich i n politischer Repräsentation und sozialen Verhaltensmustern nur m i t deutlicher Phasenverschiebung. Von den wichtigsten i m Reichstag vertretenen politischen Gruppierungen blieb i n der Periode von der Reichsgründung bis zum ersten Weltkrieg allein das Zentrum i n seinem Stimmenanteil bei den Reichstagswahlen weitgehend konstant u m 20 v. H. Die konservativen Parteien erhielten bis 1887 etwa 25 v. H. der Stimmen, fielen dann aber kontinuierlich auf 12 v. H. zurück. Auch der Stimmenanteil der Liberalen halbierte sich. 87
Vorstehende Angaben teils entnommen, teils errechnet aus Materialien, S. 67, 69, 107, 135, 156.
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Diese Parteien hatten bei der ersten Reichstagswahl fast die Hälfte aller Stimmen erhalten; 1890 lagen sie bei einem Drittel, 1912 bei einem Viertel. Die Verluste der Konservativen und Liberalen kamen der SPD zugute. Deren Stimmenanteil lag bei der ersten Reichstagswahl bei 3 °/o; er erhöhte sich bis 1884 auf 10 °/o, stieg 1890 — nach Aufhebung des Sozialistengesetzes — ruckartig auf 20 °/o, um dann recht kontinuierlich bis auf 35 % i m Jahre 1912 anzusteigen. Diese Veränderung des Stimmenanteils spiegelte sich allerdings nicht proportional i n der Verteilung der Reichstagsmandate wieder. Infolge des Direkt-Wahlsystems und der seit 1871 unverändert gebliebenen Wahlkreis-Einteilung führte die Binnenwanderung der Bevölkerung dazu, daß die Industriezentren und Großstädte zugunsten der Landgebiete benachteiligt waren. Aus diesem Grunde erhielten ζ. B. bei den Wahlen von 1903 die Konservativen 13,5 °/o der Stimmen, aber 18,9 °/o der Sitze; die Sozialdemokraten dagegen hatten bei 31,7 % der Stimmen nur 20,4 °/o der Sitze 88 . Stärker noch als Wahlergebnisse und Sitzverteilung i m Reichstag hinkte die rechtliche und bewußtseinsmäßige Integration der Arbeiterschaft i n Gesellschaft und Staat den tatsächlichen Verhältnissen nach. Engagierte und kenntnisreiche Sozialpolitiker kennzeichneten die Situation u m die Jahrhundertwende so: M i t dem „Monumentalwerk" der Arbeiterversicherung stehe das Deutsche Reich i m internationalen Vergleich an der Spitze, i m Arbeiterschutz ringe es m i t anderen Ländern um die Palme, „hinsichtlich der Gleichberechtigung der Arbeiter, dieses Edelsteins aller Sozialreform, haben w i r uns weit überholen lassen" 89 . Als Kernstück der Gleichberechtigung wurde nicht nur von Sozialreformern, sondern auch von Gewerkschaftlern und Sozialdemokraten das Koalitionsrecht angesehen. Die Forderung nach Koalitionsrecht und rechtlicher Fundierung des Tarifvertragswesens hatte für die Führer der Arbeiterbewegung deutliche Priorität. Daß demgegenüber die Forderung nach Ausbau der Sozialversicherung nicht m i t gleicher Dringlichkeit vorgetragen wurde, hing auch damit zusammen, daß die Errungenschaften der Sozialversicherungsgesetzgebung von Regierung und bürgerlicher Publizistik stark herausgestellt und als Argument gegen weitere sozialpolitische Aktivitäten angeführt wurden. Während der Widerstand gegen einen Ausbau der Sozialversicherung i n Regierung und Reichstagsmehrheit nur hinhaltend, jedenfalls aber überwiegend undogmatisch war, w a r derjenige gegen Koalitionsfreiheit und Tarifvertragsrecht hart und prinzipieller Natur 9 0 . 88 A l l e vorstehenden Angaben zu den Reichstagswahlen aus Materialien, S. 173 ff. 89 Ernst Francke, i n : Soziale Praxis I X , 1899, Sp. 865.
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Hinsichtlich der Weiterentwicklung der Sozialversicherung war die Situation um die Jahrhundertwende offen. Es gab i m politischen Raum einerseits keine spürbar treibende Kraft, andererseits keine entscheidenden Widerstandskräfte. Die konservativen Kräfte hatten sich m i t der Existenz der Sozialversicherung abgefunden; die Regierung verwies auf die erreichten Erfolge und hielt eine Phase der Konsolidierung für angebracht; die Arbeiterbewegung bejahte das Erreichte und verwies auf die Notwendigkeit des Ausbaus. Seit 1899 (aus Anlaß einer Novelle zum Invalidenversicherungsgesetz) stimmte die SPD-Fraktion des Reichstages den Sozialversicherungsgesetzen zu, vor allem wohl, weil eine Ablehnung von ihrer Wählerschaft nicht verstanden worden wäre, und weil der zunehmende Einfluß der erstarkenden, pragmatisch denkenden und handelnden Gewerkschaften auf die Partei entdogmatisierend wirkte. Um einen Ausbau der Sozialversicherung zu verwirklichen, bedurfte es jedoch zusätzlicher Anstöße. Nicht zum politischen, wohl aber zum geistesgeschichtlichen Kolorit dieser Zeit gehört das Erscheinen eines Buches über „Unerwünschte Folgen der deutschen Sozialpolitik", das in kurzer Zeit mehrere Auflagen erreichte und lebhaft diskutiert wurde. I n dem Buch wurden Rentenhysterie, parteipolitischer Mißbrauch sozialpolitischer Institutionen sowie staatliche Reglementierung beklagt 9 1 . Die hier erstmals geschlossen vorgelegten Argumente gegen die Sozialversicherung sind seither von konservativer Seite i n mehr oder minder modifizierter Form oft wiederholt worden und bis heute ständige Begleiter des weiteren Ausbaus der sozialen Sicherung gewesen. Doch ungeachtet dieser Diskussion hatte sich die Sozialversicherung i n der gleichen Zeit konsolidiert. c) Konsolidierung
der Sozialversicherung
Fortgang der Industrialisierung, Zunahme der Arbeitnehmer und Erhöhung der Arbeitseinkommen i m ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts schufen gute Voraussetzungen für eine Weiterentwicklung der Sozialversicherung, die nicht von bedeutenden Problemen belastet war. Nach wie vor ging es i n erster Linie um den Ausbau des nunmehr bereits bewährten Systems und der Anwendung gewonnener Erfahrungen. Diese Erfahrungen waren sowohl auf Seiten der Verwaltung als auch auf Seiten der Versicherten gut. 90
Zahlreiche Belege bei Rolf Neuhaus, Die Gesellschaft für Soziale Reform 1901 - 1914, Magisterarbeit, Bonn 1978. 91 L u d w i g Bernhard, Unerwünschte Folgen der deutschen Sozialpolitik, B e r l i n 1912. Gegenargumente bei Herkner, S. 365 f.; die damalige Diskussion g r i f f auch auf England über: Lewis S. Gannett, Bernhard, Unerwünschte Folgen der deutschen Sozialpolitik and its critics, Quarterly Journal of Economics, vol. X X V I I I (1914), S. 561 ff.
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Die Zahl der Versicherten stieg i m Zeitraum 1900 - 1914 i n der Krankenversicherung von 9,5 auf 15,6 Mill., i n der Unfallversicherung von rd. 19 auf rd. 28 M i l l . Der Anteil der gegen Krankheitsfolgen geschützten Personen (Versicherte und deren mitversicherte Familienangehörige) an der Bevölkerung betrug etwa 35 °/o. Ein Änderungsgesetz i m Jahre 1903 verlängerte die Bezugsdauer des Krankengeldes von 13 auf 26 Wochen. Die Rentenversicherung zahlte i m Jahr 1913 rd. 1,2 M i l l . Renten, und zwar ganz überwiegend wegen Invalidität; nur weniger als 10 °/o aller Renten waren Altersrenten. Die Zahl der Krankenkassen hatte sich von ursprünglich rd. 18.000 insbesondere durch Zunahme der Ortsund Betriebskrankenkassen bis auf rd. 23.000 i m Jahre 1910 erhöht. Die Versicherungsträger bildeten zur Wahrnehmung gemeinsamer Aufgaben Verbände. Bereits 1885 war der „Verband der Deutschen Berufsgenossenschaften" gegründet worden; 1894 entstand der Centraiverband der Ortskrankenkassen, 1907 der Verband deutscher Betriebskrankenkassen, 1910 der Hauptverband deutscher Innungskrankenkassen und 1912 der Verband kaufmännischer eingeschriebener Hilfskassen (Ersatzkassen). Diese Verbandsbildung war vom Gesetzgeber nicht vorgesehen gewesen; sie entstand aus Bedürfnissen der Praxis und auf Initiative der Selbstverwaltung. Die Konsolidierung der Sozialversicherung zeigte sich insbesondere auch i m Hinblick auf deren Finanzlage. Alle drei Versicherungszweige hatten von Beginn an bis 1914 jährlich einen beträchtlichen Einnahmeüberschuß. Dieser führte zu einem Vermögensbestand, der i n der Rentenversicherung i n der gesamten Periode 1894 -1914 m i t nur leichten Schwankungen etwa dem 8fachen der jeweiligen Jahresausgabe entsprach. Aus der heutigen Sicht des modifizierten Umlageverfahrens war dies eine enorm hohe Rücklage. Aus der Sicht des damals vorgeschriebenen Kapitaldeckungsverfahrens blieb die Vermögensansammlung weit hinter dem Erforderlichen zurück. I n der Krankenversicherung thesaurierten sich die Einnahmeüberschüsse zu einem Vermögensbestand, der seit der Jahrhundertwende knapp einer Jahresausgabe entsprach. Der durchschnittliche Beitragssatz der Krankenkassen stieg bis 1913 von 2 auf 3 °/o an. Weniger mühelos als auf organisatorischem und finanziellem Gebiet vollzog sich die Konsolidierung i m Hinblick auf die Beziehungen zwischen Krankenkassen und Ärzten. Der Gesetzgeber hatte diese Beziehungen als so problemlos angesehen, daß er ursprünglich keinerlei Regelung vorgesehen hatte. Seit 1892 hatten die Kassen das gesetzliche Recht, durch Satzung das Arztsystem festzusetzen sowie Zahl und Person der Kassenärzte zu bestimmen; man ging dabei vom Einzeldienstvertrag aus. I n der Praxis hatten die Krankenkassen sich zur V e r w i r k -
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lichung des ihnen vorgegebenen Sachleistungsprinzips überwiegend vertraglich der Dienste von Bezirksärzten bedient und damit eine begrenzt freie Arztwahl sichergestellt. Damit w a r nur ein Teil der Ärzte zur Behandlung der Kassenmitglieder zugelassen. Den daraus entstehenden Konflikt beschrieb ein Zeitgenosse so: „Von ärztlicher Seite ist geradezu behauptet worden, die Versicherungsgesetzgebung habe zum Ruin des ärztlichen Standes geführt. Die beklagten Mißstände erwachsen aber nicht so sehr aus der gesetzlichen Versicherung, als aus der Überfüllung des ärztlichen Standes. . . . So ist unter den Ärzten ein gegenseitiges Unterbieten eingetreten, das sich die Krankenkassen zunutze gemacht haben 9 2 ." Der Hintergrund dieser Feststellung w a r sehr real: I n der Zeit 1876 - 1900 hatte sich die Arztdichte u m 50 °/o erhöht 9 3 . Die Auseinandersetzungen i n den 90er Jahren gingen vor allem um die beiden Fragen, ob die Kassen alle oder nur ausgewählte Ärzte zuzulassen und ob sie Einzel- oder Kollektivverträge abzuschließen hätten. I n dieser Situation wurde i m Jahre 1900 der „Verband der Ärzte Deutschlands" (Hartmannbund) gegründet u. a. m i t dem Ziel der unbeschränkten freien Zulassung aller niedergelassenen Ärzte zur Kassenpraxis. Der Verband bewirkte eine rege publizistische Tätigkeit, die aber selbst 1911 (RVO) keine weitere gesetzliche Vorschrift zur Folge hatte, als daß der Abschluß schriftlicher Verträge zwischen Ärzten und Krankenkassen obligatorisch wurde. Erst nach Ankündigung und Vorbereitung eines ärztlichen Generalstreiks i m Jahre 1913 kam es zum „Berliner Abkommen" zwischen Ärzten und Krankenkassenverbänden. Damit hatte der Hartmannbund seine Anerkennung als Vertragspartner der Krankenkassen erreicht — eine Anerkennung, die die Gewerkschaften zu dieser Zeit noch nicht erreicht hatten. I m übrigen sah das Berliner Abkommen vor: — Zulassung mindestens eines Arztes auf j e 1.350 Versicherte (bei Familienbehandlung auf je 1.000 Versicherte); — als Kassenarzt w i r d nur zugelassen, wer von einem Registerausschuß gewählt ist; — der Einzelvertrag des Arztes bedarf der Zustimmung eines paritätisch besetzten Vertragsausschusses. Damit waren nach langwierigen und heftigen Auseinandersetzungen von der Selbstverwaltung i m rechtsfreien Raum Grundlagen gelegt, die durch alle späteren gesetzgeberischen Normen verfeinert und modifiziert, nicht aber prinzipiell geändert wurden. Zugleich waren grund92
Herkner, S. 361. I m gleichen Zeitraum 1876 - 1900 hat sich die Z a h l der Krankenhausbetten je Einwohner verdoppelt. 93
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sätzliche Alternativen, wie etwa bei Krankenkassen angestellte Ärzte, die nach der Rechtslage weiterhin möglich blieben, faktisch ausgeschlossen. d) Die Reichsversicherungsordnung aa) Gang der Kodifikation Die sozialpolitische Diskussion nach der Jahrhundertwende zentrierte u m 3 Themenkreise: die Wünschbarkeit und Machbarkeit der Einbeziehung weiterer Personenkreise i n die Versicherungspflicht, die fehlende Hinterbliebenensicherung sowie die Unübersichtlichkeit und Uneinheitlichkeit des Rechts und der Organisation der Sozialversicherung. Die Diskussion über diese Fragen erreichte allerdings nicht die Breite und Tiefe der Ausgangsphase i n den 70er und 80er Jahren. Es mag dahingestellt bleiben, ob dies trotz oder wegen der guten Konsolidierungserfolge der Sozialversicherung der Fall war; ein gewichtiger Grund war sicherlich die Tatsache, daß i n den Augen der Arbeiterbewegung und vieler Sozialreformer Fragen des Arbeitsrechts Vorrang hatten. Doch ungeachtet dessen stagnierte die Entwicklung der Sozialversicherung keineswegs. Der Wunsch nach Vereinfachung von Recht und Organisation der Sozialversicherung verdichtete sich 1903 zu einer Reichstags-Entschließung, i n der ersucht wurde, „ i n Erwägung darüber einzutreten, ob nicht die drei Versicherungsarten . . . zum Zwecke der Vereinfachung und Verbilligung i n eine organische Verbindung zu bringen und die bisherigen Arbeiterversicherungsgesetze i n einem einzigen Gesetz zu vereinigen seien" 94 . Die Regierung ließ sich Zeit m i t ihren Erwägungen. Als sie sich schließlich vier Jahre später äußerte, lehnte sie eine Zusammenlegung der Versicherungszweige ab, stellte aber eine Kodifikation i n Aussicht. I m März 1908 legte sie den Länderregierungen Grundzüge der Reichsversicherungsordnung vor. Dem Reichstag ging der Entwurf der RVO i m März 1910 zu; der Entwurf eines Einführungsgesetzes zur Aufnahme von Ubergangsbestimmungen folgte. Beide Gesetze wurden 1911 angenommen und verkündet. Sie traten i n K r a f t für die Rentenversicherung am 1. 1. 1912, für die Unfallversicherung am 1. 1. 1913 und für die Krankenversicherung am 1. 1. 1914. Die Reichsversicherungsordnung faßte alle bestehenden Arbeiterversicherungsgesetze i n systematischer Gliederung zusammen. Sie enthielt aber auch eine Reihe sachlicher Neuerungen.
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Verhandlungen des Reichstags, Bd. 188, S. 9201.
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bb) Neuerungen Hinsichtlich des Personenkreises war entscheidend, daß die Krankenversicherungspflicht jetzt auch auf alle Arbeitnehmer i n der Landwirtschaft ausgedehnt wurde, die bisher nur vereinzelt durch Ortsstatuten versichert gewesen waren. Außerdem wurden Dienstboten, unständige Arbeiter sowie das Haus- und Wandergewerbe — insgesamt fast 7 M i l l . Personen — einbezogen. Die Versicherungspflichtgrenze für Angestellte wurde auf 2.500 M erhöht. Dies war faktisch allerdings eine Herabsetzung; da der Durchschnittsverdienst sich zwischen 1883 und 1913 fast verdoppelt hatte, war das Verhältnis der Versicherungspflichtgrenze zum Durchschnittsverdienst ( = 1) von 3,0 auf 1,8 abgesunken; es wurde jetzt auf 2,3 erhöht. I n der Unfallversicherung wurde die Versicherungspflichtgrenze auf 5.000 M erhöht. Weitere Neuerungen waren hier die Einführung des Einspruchverfahrens bei Rentenfestsetzung und die Ermächtigung an den Bundesrat, den Schutz der Unfallversicherung auch auf bestimmte Berufskrankheiten auszudehnen. Die Reichsversicherungsordnung beseitigte die rd. 8.500 gemeindlichen Einrichtungen der Krankenversicherung; die dort Versicherten (rd. 1,7 Mill.) wurden i m wesentlichen Mitglieder der Ortskrankenkassen. Dadurch erhöhte sich der A n t e i l der bei den Ortskrankenkassen Versicherten an allen Versicherten — der 1885 bei etwa einem Drittel gelegen hatte (zwei Drittel Betriebskrankenkassen) — auf etwa 60 °/o. Als neue Kassenart wurden die Landkrankenkassen geschaffen. Da deren Zahl bei weitem nicht die Zahl der beseitigten gemeindlichen Träger erreichte, beginnt m i t der RVO der bis heute andauernde Konzentrationsprozeß der Krankenversicherungsträger. Die eingeschriebenen Hilfskassen wurden nicht i n die RVO einbezogen; sie werden seither als Ersatzkassen von den „RVO-Kassen" unterschieden. Ein besonderes Gesetz i m Jahre 1911 hob das frühere Hilfskassengesetz auf und unterstellte die eingeschriebenen Hilfskassen als Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit dem Gesetz über die privaten Versicherungsunternehmungen. Allerdings regelte die RVO das Verhältnis zu den reichsgesetzlichen Kassen und die Voraussetzungen für die Zulassung der Hilfskassen als „Ersatzkassen". Bezüglich der Krankenversicherung war vielfach darüber geklagt worden, daß i n deren Verwaltung und Selbstverwaltung infolge der Zweidrittel-Besetzung m i t Vertretern der Versicherten die Sozialdemokratie dominiere. Dem entgegenzuwirken diente die Vorschrift der RVO, daß der Vorsitzende und die leitenden Angestellten der Kasse von der Mehrheit sowohl der Versicherten als auch der Arbeitgeber gewählt werden müssen; das gleiche galt für Satzungsänderungen. I m
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Falle der Nicht-Einigung hatte die Aufsichtsbehörde zu entscheiden. „Diese Neuerungen wurden getroffen, um Mißbräuche parteipolitischer A r t , die früher unter der Herrschaft des unbeschränkten Majoritätsprinzips i n manchen Ortskrankenkassen aufgetreten waren, einen w i r k samen Riegel vorzuschieben 95 ." Diese Neuerungen waren es unter anderem, die die SPD-Fraktion des Reichstages veranlaßten, gegen die RVO zu stimmen. Schließlich brachte die Reichsversicherungsordnung eine Vereinheitlichung des Verfahrensrechts der Versicherungsträger und eine einheitliche Gestaltung der Versicherungsbehörden. Es wurden Versicherungsämter bei den unteren Verwaltungsbehörden und Oberversicherungsämter bei den höheren Verwaltungsbehörden vorgeschrieben. Sie traten an Stelle der bisher bestehenden Schiedsgerichte und sonstige für Streitfälle zuständigen Instanzen. Wichtiger für den Fortgang der Sozialpolitik war aber die ebenfalls m i t der RVO eingeführte Hinterbliebenensicherung i m Todesfall. e) Hinterbliebenensicherung Eine Rentenzahlung an Hinterbliebene eines verstorbenen Versicherten war i n der Erst-Gesetzgebung nur für die Unfallversicherung vorgesehen; hier erhielt die Witwe 20 °/o des Jahresarbeitsverdienstes des Verstorbenen. I n der Rentenversicherung war keine Hinterbliebenenrente vorgesehen; die Begründung bezeichnete eine solche Leistung zwar als wünschenswert, aber vor allem aus finanziellen Gründen als undurchführbar. Das Gesetz sah lediglich eine Erstattung der vom Versicherten geleisteten Beiträge an die Witwe vor, wenn der Verstorbene vorher keine Rente bezogen hatte. I n der Öffentlichkeit, aber auch i m Reichstag wurde die Einführung der Hinterbliebenensicherung wiederholt gefordert. I n der sozialpolitischen Diskussion wurde als Beleg für deren Not darauf hingewiesen, daß bei den Witwen die Sterblichkeit, die Selbstmordrate und die Beteiligung an Vermögensdelikten deutlich höher sei als bei verheirateten .Frauen 96 . Z u einem Fortschritt i n der Sache führte ein zusätzlicher Anstoß, der sich aus einer spezifischen parlamentarischen Situation ergab. I m Jahre 1901 legte die Reichsregierung den Entwurf eines Zolltarifgesetzes vor, das eine Anhebung der Zölle insbesondere auf Agrarprodukte, aber auch der Industriezölle vorsah. Die Vorlage war i n der Öffentlichkeit 95
Herkner, S. 353. Materialien hierzu bei Wolfgang Dreher, Die Entstehung der A r b e i t e r witwenversicherung i n Deutschland, B e r l i n 1978, S. 39. 96
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und i m Reichstag heftig umstritten. Die Konservativen (Landwirtschaft) wünschten höhere Zölle, die Sozialdemokraten waren wegen der Auswirkungen auf die Lebenshaltungskosten gegen die Zollerhöhungen. Für das Schicksal der Vorlage w a r ausschlaggebend die Haltung des Zentrums. I n dieser Fraktion konnten die agrarisch orientierten Befürworter der Vorlage die Zustimmung ihrer „linken" Fraktionskollegen nur gegen ein kompensierendes Zugeständnis zugunsten der Verbraucher (sprich: Arbeitnehmer) erlangen. Man einigte sich auf die Hinterbliebenenrente als Kompensationsobjekt. Zentrumsabgeordnete stellten i n Ausschuß und Plenum den Antrag, der zur Einfügung des § 15 i n das Zolltarifgesetz vom 25. 12. 1902 führte 9 7 . Er schrieb vor, daß der den Durchschnitt der Jahre 1898 -1903 übersteigende Ertrag aus bestimmten Landwirtschaftszöllen zur leichteren Einführung einer Hinterbliebenenversicherung angesammelt werde; ferner wurde das Reich verpflichtet, eine solche Hinterbliebenenversicherung bis zum 1.1.1910 zu schaffen 98 . Aus diesem Grunde war die Hinterbliebenensicherung bereits i m ersten Entwurf der Reichsversicherungsordnung von 1908 enthalten. Voraussetzung für die Rentengewährung an die Witwe war deren Invalidität. Es wurde unterstellt, daß der Arbeiterwitwe i n der Regel die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zuzumuten sei, auch dann, wenn sie Kinder zu erziehen hatte und vorher nicht erwerbstätig gewesen war. Man hat berechnet, daß etwa 75 % der nicht invaliden Arbeiterw i t w e n nach dem Tode des Ehemannes eine Erwerbstätigkeit neu aufnehmen mußten 9 9 . Die Rente wurde nicht gewährt, wenn die Witwe selbst invalidenversichert war; sie erhielt i n diesem Falle einen Jahresbetrag der Witwenrente als Abfindung. Schließlich galt die neue Regelung nur für Todesfälle nach dem 1. 1. 1912. Die i m Jahre 1912 zugehenden Witwenrenten betrugen aufgrund einer Mindestregelung 87 M jährlich. Das entsprach 47 °/o der durchschnittlichen Höhe der Invaliditätsrenten und 9 °/o des durchschnittlichen Jahresarbeitsverdienstes. Die Hinterbliebenenversorgung war also nach Voraussetzung und Höhe unzureichend. Doch ungeachtet dessen war ein Grundstein für die weitere, bis in die Gegenwart andauernde Entwicklung gelegt.
97 Sog. „ l e x T r i m b o r n " : der A n t r a g wurde angenommen m i t den S t i m men des Zentrums u n d der SPD gegen diejenigen der Konservativen u n d Freisinnigen bei Spaltung der Liberalen; vgl. zu weiteren Einzelheiten Dreher (Anm. 96), S. 41 f. 98 Dieser T e r m i n w u r d e i m Hinblick auf die bevorstehende Reichs Versicherungsordnung zweimal verlängert. 99 Dreher (Anm. 96), S. 73.
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f)
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Angestelltenversicherung
Nachdem die Sozialversicherungs-Gesetzgebung wirksam geworden war und von den Betroffenen fast überwiegend als Verbesserung ihrer Lage empfunden wurde, regte sich auch bei den nicht versicherten A n gestellten — über 2.000 M Jahresverdienst — ein Interesse an Einbeziehung i n die Versicherung. 1901 wurde ein Interessenverband der Angestellten m i t dem Hauptziel gegründet, eine Versicherungspflicht zu erreichen. Die Bestrebungen erhielten Auftrieb durch die Tatsache, daß i m Jahre 1906 i n Österreich ein Gesetz über die Versicherung von A n gestellten verabschiedet wurde (dort gab es noch keine Arbeiterversicherung). Nach Erörterung zweier Denkschriften legte die Regierung dem Reichstag im M a i 1911 — wenige Tage vor der Plenarberatung der Reichsversicherungsordnung — den Entwurf eines Angestelltenversicherungsgesetzes vor, der zügig beraten und noch i m gleichen Jahr verabschiedet wurde; das Gesetz trat am 1.1.1913 i n Kraft. Eine der Hauptfragen i n der vorparlamentarischen Diskussion war, ob die Invalidenversicherung zugunsten der Angestellten auszubauen, oder eine Sondereinrichtung für Angestellte zu schaffen sei. Innerhalb der Angestelltenschaft waren die Meinungen zunächst geteilt, neigten sich aber m i t fortschreitender Zeit mehrheitlich zugunsten einer Sondereinrichtung. I n Regierung und Parlament wurde die Sondereinrichtung favorisiert aus finanziellen Gründen — eine Einbeziehung in die Arbeiterversicherung hätte die Erweiterung des Reichszuschusses auf den neuen Personenkreis zur Folge gehabt — sowie aus politischen Gründen. „Abgesehen von einem Entgegenkommen gegenüber den Wünschen der Angestellten waren politische Gründe für die Errichtung dieser Sonderversicherung maßgebend. Man wollte die Front des M i t telstandes . . . dadurch erweitern, daß man die Angestellten aus der breiten Front der Arbeitnehmer herauslöste 100 ." Es wurde die Reichsversicherungsanstalt für Angestellte i n Selbstverwaltung der Angestellten gegründet. Das Angestelltenversicherungsgesetz erfaßte neu A n gestellte m i t einem Jahreseinkommen zwischen 2.000 und 5.000 M, umfaßte aber auch alle bisher bereits versicherungspflichtigen Angestellten (zusammen etwa 1,4 M i l l . Personen). Der letztere Personenkreis blieb jedoch i n der Arbeiterversicherung; er war doppelt versichert. Die A n gestelltenversicherung erhielt keinen Reichszuschuß; die von Arbeitgebern und Arbeitnehmern je zur Hälfte aufzubringenden Beiträge waren ungleich höher als in der Arbeiterversicherung: i n den unteren Gehaltsklassen 8 v. H. des Gehalts (einschließlich des Beitrags zur Invalidenversicherung), i n den höheren Gehaltsklassen 7 v. H. Dieser i m Vergleich zur Arbeiterversicherung rd. vierfach höhere Beitragssatz 100
Syrup-Neuloh, S. 134.
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schuf einen finanziellen Spielraum, der entscheidende Verbesserungen nicht nur hinsichtlich der Rentenhöhe, sondern auch hinsichtlich der Rentenvoraussetzungen ermöglichte: — Altersgrenze 65 Jahre (70 bei Arbeitern); — unbedingte Witwenrente (Invalidität bei Arbeitern); — Berufsunfähigkeit bei Minderung der Erwerbsfähigkeit um 50 v. H. (66 2/3 v. H. bei Arbeitern); — stärker eingeschränkte Verweisbarkeit bei Feststellung der Invalidität (Berufsunfähigkeit); — Waisenrenten bis zum 18. Lebensjahr (Arbeiter 15). Diese qualitativen Unterschiede stärkten das Selbst- und Sonderverständnis der Angestellten für lange Zeit ganz i m Sinne der Befürworter einer Sonderregelung. Sie gaben andererseits Anlaß für das jahrzehntelange beharrliche Streben der Arbeiterschaft nach Gleichbehandlung, das sich i n der Tat schrittweise bis 1957 vollzog. Insofern hat die Entscheidung des Jahres 1911 für eine Sondereinrichtung der Angestellten — sicherlich ungewollt — dieser eine Schrittmacher-Funktion zugewiesen, die ungleich stärker zur Auswirkung kam als es bei der noch weiter fortentwickelten Beamtenversorgung der Fall war. 2. Der Erste Weltkrieg
Überraschend für die Beobachter der sozialpolitischen Szenerie gliederte sich die Arbeiterschaft i m Jahre 1914 reibungslos i n das Kriegsgeschehen ein. Die sozialpolitische Diskussion verstummte zunächst. Erst m i t zunehmender Dauer des Krieges und der durch i h n verursachten Belastungen lebte sie wieder auf. U m die M i t w i r k u n g der unter physischem, wirtschaftlichem und psychischem Druck stehenden Arbeiterschaft zu erhalten, arbeitete insbesondere die m i t weitgehenden Vollmachten ausgestattete Militärverwaltung großenteils vorurteilslos m i t den Gewerkschaften zusammen und erkannte diese faktisch an. Für die Gewerkschaftsführer hatten indes während dieser Zeit nicht sozialversicherungsrechtliche Fragen Priorität, sondern Fragen des individuellen und mehr noch des kollektiven Arbeitsrechts, die seit Bismarck immer wieder vertagt worden waren. I n dieser Beziehung „erwies sich i m Sinne der Sozialreform der Vorkriegszeit der erste Weltkrieg als der große Schrittmacher der Sozialpolitik . . . Anerkennung der Gewerkschaften, volle Koalitionsfreiheit, Arbeiterausschüsse, Tarifvertragswesen, Schlichtungseinrichtungen . . . hatten i m Kriege ihren Beginn, zum Teil hatten sie i n dieser Zeit ihre Gestalt, zum Teil wenigstens die Umrisse ihrer Formen erhalten" 1 0 1 . 101
L u d w i g Preller, S. 85.
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Die während des Krieges erweiterten Aufgaben des Staates führten 1917 zur Errichtung des Reichswirtschaftsamtes unter Einschluß der sozialpolitischen Aufgaben, die aus dem Reichsamt des Innern ausgegliedert wurden. I m Oktober 1918 wurde ein Reichsarbeitsamt errichtet, dessen Leiter ein Gewerkschaftsführer (Gustav Bauer) wurde. Die konsolidierte Sozialversicherung erbrachte während des ersten Weltkrieges den Beweis ihrer Funktionsfähigkeit auch unter erschwerten Bedingungen. Es kam nirgends zu ernsten Schwierigkeiten bei der Erfüllung ihrer Aufgaben. Die Gesetzgebung dieser Zeit brachte i m wesentlichen Regelungen der Anpassung an die besonderen Verhältnisse des Krieges, die jedoch überwiegend nicht grundsätzlicher A r t waren. Von weiter reichender Bedeutung war die Einführung der Wochenhilfe i m Dezember 1914 für die Ehefrauen von versicherten Kriegsteilnehmern und i m A p r i l 1915 für die Ehefrauen aller Kriegsteilnehmer sowie die Herabsetzung der Altersgrenze i n der Rentenversicherung der Arbeiter vom 70. auf das 65. Lebensjahr i m Jahre 1916. 3. Die Weimarer Republik (1919 - 1932)
a)
Rahmenbedingungen
Die Ereignisse am Ende des ersten Weltkrieges führten i m November 1918 zum Zusammenbruch der Monarchie und am 11. August 1919 zur Unterzeichnung der Weimarer Verfassung. Sie schuf gegen manche, auch gewalttätige Widerstände von links- und rechtsextremen Kräften unter entscheidender Prägung durch Persönlichkeiten der Sozialdemokratie und der Gewerkschaftsbewegung eine parlamentarisch regierte demokratische Republik. Das innenpolitische Gewicht, das die Sozialversicherung inzwischen gewonnen hatte, schlug sich darin nieder, daß sie i n der Weimarer Verfassung als Aufgabe des Staates verankert wurde (Art. 161). Der Inhalt der Politik der Weimarer Republik wurde i n erheblich stärkerem Maße als vor dem Kriege von der wirtschaftlichen Entwicklung beeinflußt. Zwar setzten sich i n einem allgemeinen Grundzug die Tendenzen der Vorkriegszeit fort: — Rückgang der i m primären Sektor Beschäftigten und Zunahme der Beschäftigten i m tertiären Bereich; — Zunahme der Realeinkommen; — zunehmende Urbanisierung, vor allem Wachstum der Großstädte; — Zunahme der durchschnittlichen Betriebsgröße.
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Hinzu kam als neue Erscheinung eine Verschiebung der Altersstrukt u r der Bevölkerung. Zwischen 1911 und 1934 stieg der A n t e i l der 4565jährigen Personen von 15 auf 21 v. H. an; der über 65jährige Bevölkerungsanteil stieg von 5 auf 7 v. H. an. Für das Verständnis der starken Prägung politischer und sozialpolitischer Vorgänge durch die wirtschaftliche Entwicklung sind nicht diese durchgehenden Tendenzen, sondern die wirtschaftlichen Wechsellagen i n der Zeit der Weimarer Republik maßgebend. I n dieser Beziehung heben sich drei Perioden voneinander ab: — die Nachkriegs jähre (1919 - 1923) m i t der Umstellung auf die Friedensproduktion und der Inflation; diese war durch eine gigantische Reichsschuld i n Höhe des Dreifachen des Volkseinkommens des Jahres 1914 ausgelöst worden; — die Stabilisierungsphase 1924 - 1929 m i t Währungsreform, umfangreichen Investitionen und hohen Wachstumsraten; — die Weltwirtschaftskrise (1929 - 1933) m i t rückläufiger Produktion, sinkenden Reallöhnen und katastrophaler Arbeitslosigkeit. Die Lohnabhängigkeit der Mehrheit der Bevölkerung i n Verbindung m i t einem durch den Krieg und die politische Veränderung gewandelten Bewußtsein der Arbeitnehmerschaft gab der Arbeitsmarktlage einen hohen innenpolitischen Stellenwert. Nach Kriegsende war die hochschnellende Arbeitslosigkeit (fast 3 Mill.) Anlaß zu ernster Sorge und einer Reihe von Abhilfemaßnahmen. Doch bereits i m Laufe des Jahres 1919 sank die Zahl drastisch ab. Auch ein erneuter Anstieg während der Inflationszeit (auf rd. 4 Mill.) w a r nur vorübergehender Natur. Als katastrophal i n ihrer wirtschaftlichen und politischen Auswirkung erwies sich die seit 1929 stetig ansteigende Zahl der Arbeitslosen; sie überschritt i m Winter 1931/32 die 6-Millionen-Grenze; etwa jeder dritte Arbeitnehmer war ohne Arbeit. Diese Situation schlug sich unmittelbar i n den Reichstagswahlergebnissen der NSDAP nieder: 20. 05.1928 14. 09. 1930 31. 07.1932 06.11.1932 05. 03.1933
2,6 v. 18,3 v. 37,3 v. 33,1 v. 43,9 v.
H. H. H. H. H.
I n der Zeit rückläufiger Steuereinnahmen und wachsender Defizite der öffentlichen Haushalte entschied sich die Reichsregierung (Brüning) für eine Deflationspolitik. Sie beruhte auf dem Grundgedanken, durch Preis- und Kostensenkung eine Wiederbelebung der Wirtschaft zu erreichen; dabei sollten Defizite vermieden werden. Es wurden Steuern 8 Sozialversicherung
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gesenkt, Gehälter und Pensionen des öffentlichen Dienstes gekürzt, Arbeitnehmer entlassen und ein Baustopp verhängt. Diese Politik wurde weitgehend unter Ausschluß des Reichstages m i t Notverordnungen auf der Grundlage des Artikels 48 der Reichsverfassung durchgesetzt. Die allgemeine sozialpolitische Entwicklung war in der ersten Nachkriegszeit zunächst durch Erfüllung alter Forderungen i m Bereich des Arbeitsrechts gekennzeichnet. — Unmittelbar nach Kriegsende wurde die Gesindeordnung sowie landesrechtliche Ausnahmegesetze bezüglich Landarbeitern aufgehoben und die bei Kriegsbeginn suspendierten Arbeitsschutzbestimmungen wieder in Kraft gesetzt. — Art. 165 der Weimarer Verfassung brachte die Tarif autonomie zur gleichberechtigten Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen; schon vorher hatte eine Verordnung über Tarifverträge, Arbeiterund Angestelltenausschüsse und Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten vom 23. Dezember 1918 den Begriff des Tarifvertrages, dessen Unabdingbarkeit sowie die Möglichkeit seiner Allgemeinverbindlichkeitserklärung festgelegt. — Einführung des 8-Stundentages i m November 1918. — Das Betriebsrätegesetz von 1920 verbesserte die Wahrnehmungsmöglichkeiten der Arbeitnehmerinteressen i m Betrieb. — Ein Gesetz über die Beschäftigung Schwerbeschädigter (1920) enthielt einen Einstellungszwang für Betriebe m i t bestimmter Beschäftigtenzahl. Während der Stabilisierungsphase ergingen folgende Regelungen: — Die bisherige Armenpflege wurde reformiert und zur reichsrechtlichen Fürsorge (jetzt Sozialhilfe) weiterentwickelt (1924); — das Knappschaftswesen (1923);
wurde
nach Reichsrecht
vereinheitlicht
— Einführung der Arbeitsgerichtsbarkeit (1926); — Einführung der Arbeitslosenversicherung (1927). I n der Zeit der Weltwirtschaftskrise wurde die Deflationspolitik der öffentlichen Haushalte auch auf den Bereich der sozialen Sicherung angewandt. Leistungsvoraussetzungen wurden erschwert, Geldleistungen herabgesetzt. Die Sozialversicherung durchlebte i n den ersten Nachkriegs jähren und sodann wieder während der Weltwirtschaftskrise außergewöhnlich stürmische Zeiten im Hinblick auf die Wechsellagen ihrer Finanzen und
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die Häufigkeit von Rechtsänderungen. Die Jahre 1930 -1932 waren eine Reduktionsphase der Sozialversicherung. Ihre Grundstrukturen blieben jedoch dessen ungeachtet erhalten. Längst sahen Sozialdemokraten und Gewerkschaftler, gegen deren Willen in dieser Zeit nichts Entscheidendes bewirkt werden konnte, die Sozialversicherung als „ihre", als verteidigungswürdige Angelegenheit an. Auch Arbeitgeber und Industrie, zwar weiterhin bedacht auf geringe Belastungen, fanden sich nicht nur m i t der Existenz der Sozialversicherung ab, sondern bejahten sie. Daneben standen die Mitglieder der Selbstverwaltungsorgane sowie die Bediensteten der Sozialversicherungsträger, die i n der Grundtendenz stabilisierend wirkten und sich zugleich stärker als in der Vorkriegszeit öffentliches Gehör verschafften. Es ist daher von nur geistesgeschichtlichem Interesse, zu erwähnen, daß 1928/29 — während der Stabilisierungsphase — mehrere Publikationen erschienen, die grundsätzliches Unbehagen an der Sozialversicherung äußerten 102 . Dabei wurden Argumente aufgegriffen — Sittenverdernis, Verweichlichung, Rentenneurose — die bereits i n dem Jahrzehnt vor dem ersten Weltkrieg — ebenfalls während einer Stabilisierungsphase — artikuliert worden waren 1 0 3 , und die später — abermals i n einer Stabilisierungsphase — während der Reformdiskussion der 50er Jahre noch einmal aufleben sollten. b) Die Entwicklung
der klassischen Zweige
Ungeachtet der Dominanz arbeitsrechtlicher Neuregelungen in den ersten Jahren der Weimarer Republik war die gesetzgeberische A k t i v i tät auch auf dem Gebiet der Sozialversicherung enorm hoch. I m Zeitraum 1883- 1918 war durchschnittlich je Jahr ein Gesetz zum Bereich der Sozialversicherung ergangen; i m Zeitraum 1919 - 1932 waren es durchschnittlich 6 Gesetze pro Jahr. Die Mehrzahl erging in den Jahren 1921 (12 Gesetze), 1922 (22 Gesetze) und 1923 (16 Gesetze) 104 . Diese Vielzahl von Gesetzen gab Anlaß für die Neubekanntmachung der RVO vom 15. 12. 1924. Allerdings indizieren diese Zahlen keineswegs eine gleich gewichtige sozialpolitische Weiterentwicklung. Die Mehrzahl der gesetzlichen Regelungen hatte adaptiven Charakter; es wurden Abgrenzungsfragen, Verfahrensregeln, Organisation und nominale Größen i m Beitrags- und 102 Gustav Harz, Irrwege der deutschen Sozialpolitik, B e r l i n 192θ; E r w i n Liek, Die Schäden der sozialen Versicherung, München 1928; Ernst Horneffer, Frevel am Volke, Leipzig 1929. 103 Vgl. A n m . 91. 104 Eine eingehendere Analyse der Gesetzgebungsfrequenz zur Sozialversicherung w i r d der Verfasser an anderer Stelle vorlegen.
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Leistungsrecht den besonderen und vielfach andersartigen, vor allem aber sich schnell ändernden wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Bedingungen der Nachkriegs jähre und der Inflations jähre angepaßt. Den Charakter sozialpolitischer Weiterentwicklungen hatten folgende Regelungen. aa) Personenkreis Hinsichtlich des Personenkreises wurde ab 1923 die Doppelversicherung von Angestellten geringeren Einkommens auch i n der Rentenversicherung der Arbeiter beseitigt; gleichzeitig wurde die Möglichkeit der Selbstversicherung (bis zum 40. Lebensjahr) eingeführt. Erhöhungen der Versicherungspflichtgrenze i n mehreren Stufen (bis 1928 auf 8.400 RM) brachten diese auf das Vierfache des Durchschnittsverdienstes; diese relative Höhe ist vorher und nachher nicht erreicht worden. Die Versicherungspflichtgrenze i n der Krankenversicherung wurde durch Anpassungen i n den Jahren 1925 und 1927 auf eine relative Höhe gebracht, die etwa der heutigen entspricht. I n der Unfallversicherung wurde eine Begrenzung der Versicherung nach der Einkommenshöhe i m Jahre 1923 abgeschafft; eine Reihe weiterer Betriebsarten wurde in die Unfallversicherung einbezogen. Neuartig war (1928) die Einbeziehung von Personen, die bei der Lebensrettung einen Unfall erleiden. Diese Lösung von betriebsbezogenen Tätigkeiten i m Hinblick auf Tätigkeiten, die i m öffentlichen Interesse liegen, war der erste Schritt auf dem Wege zu der jetzt langen Liste versicherter Personen i m § 539 RVO, die heute gelegentlich unter dem Stichwort „unechte" Unfallversicherung diskutiert wird. bb) Geldleistungen Bezüglich der Leistungsvoraussetzungen Weiterentwicklungen :
gab es folgende wichtige
— Einführung des Anspruches auf Wochenhilfe der Krankenversicherung für alle weiblichen Versicherten (1919). — Bezugsdauer der Waisenrenten aus der Rentenversicherung bis zum 18. Lebensjahr (1923). — Ausdehnung des Unfall Versicherungsschutzes auf Berufskrankheiten; Anerkennung von zunächst 11 (1925), später 22 Berufskrankheiten (1929). — Einbeziehung der Wegeunfälle i n den Unfallversicherungsschutz (1925). — Recht auf Witwenrente i n der Arbeiterrentenversicherung bei Vollendung des 65. Lebensjahres auch ohne Invalidität (1927).
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— Recht auf Rente wegen Berufsunfähigkeit aus der Angestelltenversicherung auch bei Vollendung des 60. Lebensjahres nach einjähriger Arbeitslosigkeit (1929). — I n der knappschaftlichen Rentenversicherung w i r d Rente wegen Berufsunfähigkeit unter folgenden Voraussetzungen gewährt: a) 300 Beitragsmonate, b) 180 Beitragsmonate wesentlich bergmännische Arbeit, c) Vollendung des 50. Lebensjahres und d) keine Verrichtung gleichwertiger Lohnarbeit. Die Geldleistungen wurden i n allen Zweigen wiederholt erhöht, doch brachten diese Erhöhungen keine bleibende Verbesserung der Relation zum Erwerbseinkommen, sondern allein eine — vor allem während der Inflation — nachträgliche Anpassung an gestiegene Löhne und Preise. Das auch nach der Währungsstabilisierung noch niedrige Rentenniveau w i r d dadurch gekennzeichnet, daß i m Jahre 1929 30 °/o der Rentner i n Städten ( 2 2 % in Landkreisen) zusätzlich Fürsorgeunterstützung erhielten. Weitere 20 °/o erhielten nur deshalb keine Fürsorge, weil sie zusätzlich Arbeitseinkommen hatten 1 0 5 . Neu eingeführt wurde i m Jahre 1928 i n der Unfallversicherung die Möglichkeit der Zahlung einer Kapitalabfindung zum Erwerb oder zur Erhaltung von Grundbesitz anstelle der Rentenzahlung. cc) Sach- und Dienstleistungen I m Bereich der Sach- und Dienstleistungen wurde als eine neue Leistungsart i m Jahre 1925 die Berufsfürsorge in der Unfallversicherung eingeführt. Aus- und Fortbildungsmaßnahmen waren nicht nur zur Wiedergewinnung oder Erhöhung der Erwerbsfähigkeit i m bisherigen Beruf, sondern auch für einen neuen Beruf vorgesehen. Die Versicherungsträger konnten M i t t e l zur Beschaffung von Arbeitsgelegenheit und zur Schaffung von Einrichtungen für die Berufsfürsorge verwenden. Es war also neben der individuellen auch bereits die institutionelle Förderung i m Ansatz vorhanden. Dies war ein bedeutungsvoller Einstieg i n einen Maßnahmenbereich, der sich rasch weiterentwickelte und der nach dem zweiten Weltkrieg unter dem zeitweise sehr populären Stichwort „Rehabilitation" auch den Trägern der Rentenversicherung und der Bundesanstalt für Arbeit übertragen wurde. dd) Finanzierung Bezüglich der Finanzierung konnten sich die Kranken- und Unfallversicherung mittels des Umlage verfahr ens den wechselnden Bedingun105 Wolfram Fischer, Wirtschaftliche Bedingungen u n d Faktoren bei der Entstehung u n d Entwicklung von Sozialversicherungen, i n : Bedingungen f ü r die Entstehung u n d E n t w i c k l u n g v o n Sozialversicherung, i n : Zacher, S. 95.
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gen so anpassen, daß grundlegende Rechtsänderungen erst während der Weltwirtschaftskrise erforderlich wurden. Die Rentenversicherung der Arbeiter hatte i m Jahre 1917 ein Vermögen i n Höhe von 2,5 Mrd. M ; dies entsprach knapp dem Zehnfachen einer Jahresausgabe. Dieses Vermögen war allerdings fast ausschließlich als Kriegsanleihe gezeichnet. Nach der Inflation war praktisch kein Vermögen mehr vorhanden (0,25 Mrd. RM). Mehr als 30 Jahre nach Errichtung der Versicherung war man hinsichtlich der Anforderung des Kapitaldeckungsverfahrens wieder beim Stande Null. Da die Umstände die Weiterzahlung und Erhöhung der Leistungen erforderten, andererseits wesentliche Beitragserhöhungen nicht erlaubten, praktizierte man de facto ein Umlageverfahren, wenngleich de jure das Kapitaldeckungsverfahren — bis 1957! — bestehen blieb. Unbeschadet zahlreicher Änderungen bezüglich des Reichszuschusses blieb der Anteil der Reichsmittel an den Ausgaben der Rentenversicherung bis 1931 mit etwa 30 v. H. so hoch, wie er bei Kriegsende gewesen war. ee) Auswirkungen der Deflationspolitik Oben wurde erwähnt, daß die prozyklisch wirkende Deflationspolitik der Reichsregierung während der Weltwirtschaftskrise auch auf die Sozialversicherung angewandt wurde. U m die Ausgaben den durch Minderbeschäftigung und Lohnreduzierung rückläufigen Einnahmen anzupassen, wurden durch Notverordnungen der Jahre 1930- 1932 insbesondere folgende Maßnahmen getroffen: — Wegfall der Verletztenrente der Unfallversicherung bei einer M i n derung der Erwerbsfähigkeit um weniger als 20 v. H. (bis dahin 10 v. H.); es fielen rd. 130.000 Renten weg; die Ausgaben reduzierten sich dadurch um 10 v. H. — Die Höhe der Verletztenrente wurde um 7,5-15 v. H. gekürzt. — Die laufenden Renten aus der Rentenversicherung wurden um 6 RM, die Neurenten um 7 R M monatlich gekürzt (Einsparung 410 Mill. R M jährlich). — Kinderzuschuß und Waisenrente der Rentenversicherung enden mit Ablauf des 15. Lebensjahres. — Ruhen der Rente bei Bezug von Krankengeld, Unfallrente oder Versorgungsbezügen. — Einführung einer Krankenscheingebühr und eines Arzneikostenanteils von je 50 Rpf. (Bereits 1923 war eine Arzneikostenbeteiligung von 10 v. H. eingeführt worden.) — Einführung einer Grundlohnhöchstgrenze (10 R M täglich).
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— Beginn des Krankengeldes mit dem 4. Tage der Arbeitsunfähigkeit (bis dahin: der Krankheit). — Beschränkung der Leistungen der Krankenversicherung Regelleistungen. Die Leistungsverschlechterungen hatten enorme Gesamtausgaben der Sozialversicherung, die bis Größen kontinuierlich angestiegen waren, sanken nämlich von 4,4 Mrd. R M i n 1930 auf 3,3 Mrd. R M versicherung erlebte ihre größte Reduktionsphase.
auf die
Auswirkungen. Die dahin in absoluten um ein Viertel ab, i n 1932. Die Sozial-
Aus heutiger Sicht sind diese Maßnahmen noch verstehbar, soweit sie erforderlich waren, um in Zeiten rückläufiger Löhne und steigender Arbeitslosigkeit Beitragserhöhungen zu vermeiden. Nicht mehr verstehbar sind sie bezüglich der Rentenversicherung. Die Arbeiterrentenversicherung hatte bis 1930 wieder ein Vermögen von 1,6 Mrd. R M ( = 13 Monatsausgaben), angesammelt, aus dem das Defizit — i n den Jahren 1931 und 1932 je rd. 180 M i l l . R M — noch lange hätte gedeckt werden können. Die Angestelltenversicherung hatte wegen ihres jüngeren Versichertenbestandes und geringerer Auswirkungen der Arbeitslosigkeit nie Defizite und baute ihr Vermögen in der Zeit 1929 - 1932 um 766 Mill. R M auf; das entsprach fast dem Dreifachen ihrer Jahresausgabe von 1932. Sie erhielt einzig die Auflage, zur Entlastung des Reiches Teile ihres Vermögenszuwachses in Reichsbahnaktien anzulegen. Der Horror vor einem deficit spending und die Faszination durch das errechnete versicherungstechnisch erforderliche Deckungskapital (1931 für die Arbeiterrentenversicherung 18 Mrd. RM) muß unter den Entscheidungsträgern enorm gewesen sein! ff) Organisation I n bezug auf die Organisation setzte sich der Konzentrationsprozeß in der Krankenversicherung fort. I m Jahre 1932 war die Zahl der Krankenkassen auf rd. 6.600 abgesunken. 62 v. H. der Versicherten waren Mitglieder der Ortskrankenkassen, 14 v. H. der Betriebskrankenkassen und 9 v. H. der Ersatzkassen. Eine grundlegende Neuregelung erfuhr das Knappschaftswesen. Die Primärgesetzgebung der 80er Jahre hatte die bestehenden Knappschaftskassen weitgehend unberührt gelassen; sie unterlagen weiterhin Landesrecht. Das Reichsrecht schrieb den Knappschaftskassen lediglich vor, mindestens die Leistungen der Betriebskrankenkassen zu erbringen. Hinsichtlich der Rentenversicherung wurde ihnen freigestellt, diese auf Antrag anstelle der Landesversicherungsanstalten durchzuführen; hiervon machten die meisten Knappschaftskassen Gebrauch. Lediglich für
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die Unfallversicherung war eine Knappschaftsberufsgenossenschaft für das ganze Reichsgebiet entstanden. A m Ende des ersten Weltkrieges bestanden 110 Knappschaftsvereine. Diese Zersplitterung und vor allem der nur partiell geregelte Übertritt zwischen den Vereinen hatte seit längerem die Forderung nach einer reichsgesetzlichen Zusammenfassung des Knappschaftswesens ausgelöst. Ein diese Forderung erfüllender Gesetzentwurf wurde als Reichsknappschaftsgesetz 1923 verkündet. Ein Reichsknappschaftsverein (ab 1926 Reichsknappschaft) führt für alle Beschäftigten in bergbaulichen Betrieben die Kranken- und Rentenversicherung (für Arbeiter und Angestellte) durch. Hinsichtlich der Unfallversicherung verbleibt es bei der Knappschaftsberufsgenossenschaft. Aus dem Bereich der Selbstverwaltung ist zu erwähnen, daß die mit der RVO eingeführte getrennte Abstimmung der Versicherten- und A r beitgebervertreter in den Organen der Krankenversicherungsträger durch Verordnung i m Februar 1919 aufgehoben wurde, so daß die Zweidrittelmehrheit der Versichertenvertreter wieder ausschlaggebend war. Dieses Datum erhielt später für die Maßnahmen der politischen Verfolgung durch das NS-Regime Bedeutung. c) Normierung
des Kassenarztrechts
Während der Weltwirtschaftskrise wurden die Grundlinien des heutigen Kassenarztrechts ausgeformt. Diese Ausformung war allerdings Ergebnis einer längeren, konfliktreichen Entwicklung. Das „Berliner Abkommen" zwischen Ärzten und Krankenkassen (vgl. oben I I I , 1, c) hatte deren Verhältnis zueinander geregelt und auch während der ersten Nachkriegs jähre mit Ausnahme eines Ärztestreiks 1920 seine befriedende Wirkung getan. Z u erneuten Spannungen kam es, als das auf 10 Jahre befristete Berliner Abkommen Ende 1923 auslief. I m Oktober wurden die wesentlichen Bestimmungen dieses Abkommens in die RVO aufgenommen, wogegen die Ärzte protestierten. I m November 1923 kam es zu einem Ärztestreik, der i m allgemeinen bis in den Januar, i n Berlin bis in den Juni 1924 dauerte. I n dieser Situation richtete der Verband Berliner Krankenkassen Ambulatorien m i t angestellten Ärzten zur Sicherstellung der ärztlichen Versorgung ein. Diese aus einer Konfliktsituation geborene Maßnahme gab später Anlaß für viele Grundsatzdiskussionen. Sie wurde von den Verbänden der freiberuflichen Ärzte sofort als bedrohlich empfunden und energisch bekämpft. Immerhin war das Gewicht der 38 Ambulatorien und der in ihnen tätigen Ärzte inzwischen so groß geworden, daß ihr Fortbestand nach Ende des Streiks vertraglich gesichert wurde.
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Neue Spannungen entstanden, als die Regierung i n Reaktion auf die Mindereinnahmen der Krankenkassen i m J u l i 1930 eine Notverordnung erließ, nach der die Kassen entweder ärztliche Prüfstellen bilden oder Vertrauensärzte vor allem für die Durchführung von Nachuntersuchungen anstellen mußten. Zwar hatte die Verordnung gleichzeitig die Verhältniszahl zwischen zuzulassenden Ärzten und Versicherten auf 1 :1.000 verbessert (Berliner Abkommen 1 :1.350); auch gab es zu dieser Zeit bereits mehr als tausend Vertrauensärzte der Krankenkassen. Deren Verallgemeinerung und rechtliche Verankerung löste jedoch den Widerstand der Ärzte aus. Beunruhigend unter den Ärzten w i r k t e auch die Tatsache, daß m i t dem Gedanken gespielt wurde, in der Krankenversicherung das System festangestellter Ärzte einzuführen 1 0 6 . Bemerkenswert war jedoch, daß die Reaktion der Ärzte angesichts der finanziellen Notlage der Kassen offensiv und konstruktiv war. Der Ärztetag 1931 beschloß eine Gesamtvergütung; d. h. die Ärzteschaft wollte einen bestimmten Anteil an den Kasseneinnahmen gesichert wissen selbst angesichts der Gefahr, daß diese Einnahmen absolut rückläufig wären. Dieses Grundkonzept wurde von der Regierung i n einer Verordnung des Jahres 1932 107 übernommen und i m Sinne gleichberechtigter Selbstverwaltung der Beteiligten ausgebaut. Die innenpolitische Situation veranlaßte die Regierung, die Verhältniszahl abermals zugunsten der Ärzte zu verbessern (1 : 600); i m übrigen legte sie jedoch ein geschlossenes System zur Regelung der Beziehungen zwischen Ärzten und Krankenkassen vor. — Errichtung Kassenärztlicher Vereinigungen (KV) als öffentlich-rechtliche Körperschaften; diesen obliegt die Sicherstellung der kassenärztlichen Versorgung. — Verpflichtung zum Abschluß von Verträgen zwischen den K V e n und den Krankenkassen. — Die Krankenkasse zahlt eine vereinbarte Honorarsumme (Kopfpauschale) m i t befreiender Wirkung gegenüber dem einzelnen Arzt an die K V (Gesamtvergütung). Die Kopf pauschale ist an den Grundlohn gekoppelt. — Die K V stellt den Honorarverteilungsmaßstab auf und übernimmt die Haftung für Arzneiverordnungen. — Zulassung zur kassenärztlichen Tätigkeit durch paritätisch besetzte Zulassungsausschüsse. 106 Sauerborn (Anm. 74), S. 211. io? Verordnung v o m 14. 1. 1932 (RGBl. I, S. 19).
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Dieses System zur Regelung des Verhältnisses zwischen Krankenkassen und Ärzten ist zwar seither i n vielen Einzelheiten modifiziert, weiterentwickelt, teils auch aufgehoben worden; i n seinen Grundelementen — Selbstverwaltung, Gesamtvergütung, Sicherstellung der ärztlichen Versorgung und Kontrolle der kassenärztlichen Tätigkeit durch die kassenärztliche Vereinigung — besteht es jedoch bis heute und hat seine Funktionsfähigkeit im Vergleich zu alternativen Lösungsmöglichkeiten in wechselnden Situationen wiederholt bewiesen. d) Einführung
der Arbeitslosenversicherung
Die Einführung einer Arbeitslosenversicherung oder auch nur einer staatlichen Arbeitsvermittlung erschien den Schöpfern der Sozialversicherung unmöglich. Die Frage wurde als Problem der Gesetzgebung i n den 80er und 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts nicht ernsthaft erörtert. Aktivitäten entwickelten zunächst Gewerkschaften und Kommunen; außerdem entstanden gewerbliche Vermittlungsstellen sowie Arbeitsnachweisstellen bei Arbeitgeber- und Industrieverbänden. Vor dem ersten Weltkrieg waren auf diese Weise mehr als 2.000 öffentliche oder verbandliche Arbeitsnachweiseinrichtungen und etwa 7.000 Stellenvermittlungsbetriebe entstanden. 1910 verabschiedete der Reichstag ein Stellenvermittlergesetz, das Voraussetzungen für die Zulassung zur gewerblichen Stellenvermittlung regelte. Bei Gewerkschaften und Städten waren auch Unterstützungskassen für den Fall der Arbeitslosigkeit entstanden; andere Städte zahlten Zuschüsse zu bestehenden Einrichtungen (Genter System). Nach Ausbruch des ersten Weltkrieges stieg die Zahl der Arbeitslosen sprunghaft an 1 0 8 . Dies veranlaßte die Regierung, noch i m August 1914 eine „Reichszentrale für Arbeitsnachweise" zu errichten. Diese konnte zwar koordinierend wirken und die Transparenz des Arbeitsmarktes verbessern, nicht aber die enorm steigende Belastung der bestehenden Unterstützungsfonds mildern. Gewerkschaften und Städte forderten daher eine Beteiligung der öffentlichen Hand an den Aufwendungen. Es kam jedoch während des Krieges nicht zu gesetzgeberischen Maßnahmen, vor allem vohl, weil die Zahl der Arbeitslosen bereits nach wenigen Monaten zurückging und fortan die Beschaffung von Arbeitskräften im Vordergrund des Interesses stand. Diese Situation änderte sich grundlegend, als m i t dem Ende des Krieges rd. 6 M i l l . Soldaten entlassen wurden; Anfang 1919 gab es über eine M i l l i o n Arbeitslose. A m 13. November 1918 erging eine Verordnung über die Erwerbslosenfürsorge, die die Gemeinden zur Fürsorge für Erwerbslose (in nicht festgelegter Höhe) verpflichtete und eine Be108
Nähere Angaben u n d Gründe bei Preller, S. 6 f.
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teiligung des Reiches (50 v. H.) und des Landes (33 v. H.) an den A u f wendungen festlegte; ab 1923 wurden Arbeitgeber und Arbeitnehmer zur Zahlung von Beiträgen zur Erwerbslosenfürsorge verpflichtet, doch blieben deren Leistungen weiterhin von einer Bedürftigkeitsprüfung abhängig. Parallel zu diesen Vorgängen wurde i m Dezember 1918 ein Ausbau der Arbeitsnachweise unter finanzieller Beteiligung des Reiches angeordnet. Die Zuständigkeit für Arbeitsvermittlung ging vom Demobilmachungsamt zunächst auf den Reichsarbeitsminister, sodann auf das am 15. Januar 1920 errichtete Reichsamt für Arbeitsvermittlung über. A m 1. Oktober 1922 trat ein Arbeitsnachweisgesetz i n Kraft, das Organisationsfragen regelte, die Grundsätze der Unparteilichkeit sowie Unentgeltlichkeit der Vermittlung festlegte sowie die gewerbsmäßige Stellenvermittlung untersagte. Seit Kriegsende wurde auch die Frage einer Arbeitslosenversicherung diskutiert. Gegenüber dem bisher angewandten Fürsorgeprinzip setzte sich rasch das Versicherungsprinzip durch. Als schwieriger erwies sich die Frage, ob und in welchem Maße zwischen den Wirtschaftszweigen ein Risikoausgleich stattfinden solle. I n organisatorischer H i n sicht trat der ursprüngliche Gedanke, die neue Versicherung an die Krankenversicherung anzulehnen, bald gegenüber der Einsicht zurück, daß eine Verbindung von Versicherung und Vermittlung vorrangig sei 1 0 9 . Die Finanzierung durch Beiträge w a r allgemeine Auffassung, strittig war allein eine Beteiligung des Reiches oder der Gemeinden. Infolge der Inflation verzögerte sich die gesetzgeberische Behandlung der Materie; mehrfach wurden seit 1919 Entwürfe zurückgezogen und geändert. Als Zwischenmaßnahme führte ein Gesetz des Jahres 1926 eine Krisenfürsorge als Unterstützung für die Zeit nach Ablauf der Erwerbslosenfürsorge ein. Sie war ebenfalls von den Gemeinden zu tragen, die drei Viertel der Kosten vom Reich erstattet erhielten. Schließlich trat am 1. Oktober 1927 das Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung i n K r a f t ; dessen Grundelemente waren: — Errichtung der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung als Körperschaft des öffentlichen Rechts m i t Selbstverwaltung (Vertreter der Arbeitgeber, Arbeitnehmer sowie der öffentlichen Hand) und Behördenunterbau (Landesarbeitsämter, A r beitsämter). 109 Walter Kaskel, Die gesetzliche Regelung der Arbeitsnachweise als V o r aussetzung der Arbeitslosenversicherung. Sehr. d. Dt. Gesellschaft zur Bek ä m p f u n g der Arbeitslosigkeit, 1921, Heft 6; hier auch Forderung der V e r einigung beider Aufgaben i n einem Gesetz.
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— Rechtsanspruch auf Arbeitslosengeld; das bisherige System der Erwerbslosenunterstützung t r i t t außer K r a f t ; die Krisenunterstützung nach Ablauf der Unterstützungshöchstdauer (i. a. 26 Wochen) bleibt als Aufgabe der Reichsanstalt erhalten. — Arbeitsvermittlung und Berufsberatung sind Pflichtaufgaben der Reichsanstalt; Festlegung des Vermittlungsmonopols (mit Ausnahmen) der Reichsanstalt. — Versichert sind die bei der Kranken- und der Angestelltenversicherung erfaßten Personen. — Finanzierung allein durch Beiträge der Arbeitnehmer und Arbeitgeber (zusammen 3 v. H.), die von den Krankenkassen eingezogen werden. Schon kurze Zeit nach dem Anlaufen des neuen Gesetzes stieg die Zahl der Arbeitslosen weit über die als normal angenommene Zahl hinaus an. Die Reichsanstalt geriet bereits i m Laufe des Jahres 1929 i n finanzielle Schwierigkeiten. Das Reich — seinerseits i n einer finanziellen Krise — mußte mit Darlehen und Zuschüssen helfen. Man stand vor der Alternative, Leistungen zu kürzen (dafür Arbeitgeber und insbesondere Deutsche Volkspartei) oder Beiträge zu erhöhen (dafür Gewerkschaften und die an der Regierung beteiligten Sozialdemokraten). Als nicht ausreichende Zwischenlösungen wurden Ende 1929 Einsparungen bei den Leistungen und eine bis Juni 1930 befristete Beitragserhöhung auf 3,5 v. H. beschlossen. Als Anfang 1930 erneut entschieden werden mußte, zerbrach die Große Koalition, weil die Sozialdemokraten keine weiteren Leistungsverschlechterungen, die übrigen Regierungsparteien hingegen keine weitere Beitragserhöhung oder Reichsverschuldung hinnehmen wollten 1 1 0 . Inzwischen stieg die Zahl der Arbeitslosen, m i t denen jahresdurchschnittlich gerechnet werden mußte, weiter an. Als die neue Regierung (Brüning) m i t Sanierungsvorschlägen für die Reichsfinanzen und die Arbeitslosenversicherung i m Reichstag nicht durchdrang, wurde der Reichstag aufgelöst. Eine Notverordnung vom 26. J u l i 1930 schrieb Leistungseinschränkungen, einen erhöhten Reichszuschuß sowie einen Beitrag von 4,5 v. H. vor. Gleichwohl stieg das Defizit schnell weiter; u m seine vollständige Übernahme auf den Reichshaushalt zu vermeiden, wurde bereits i m Oktober 1930 der Beitrag auf 6,5 v. H. erhöht. Zugleich suchte das Reich seine Ausgaben für die Krisenunterstützung zu begrenzen m i t der Folge, daß die Fürsorgekosten der Gemeinden an110 Die häufig zu lesende Darstellung, daß die Große K o a l i t i o n „wegen eines halben Beitragprozentes" zerbrach, ist unzulässig vereinfacht. Z u den sehr komplexen u n d ins Grundsätzliche gehenden wirtschaftlichen u n d p o l i t i schen Zusammenhängen vgl. Preller, S. 428 f.
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wuchsen. Eine immer größer werdende Zahl von Arbeitslosen ging den Weg von der Arbeitslosenversicherung über die Krisenfürsorge zur allgemeinen Fürsorge. Ende 1931 wurden i n jedem dieser Zweige etwa ein Drittel der insgesamt 4,5 Mill. Arbeitslosen unterstützt. Auch die drastische Beitragserhöhung führte nicht zu einem finanziellen Gleichgewicht; eine Notverordnung vom 5. Juni 1931 schrieb neben anderen Einschränkungen drastische Kürzungen der Unterstützungssätze i n Arbeitslosenversicherung und Krisenfürsorge vor. Man diskutierte i n dieser Zeit öffentlich die Suspendierung der Arbeitslosenversicherung unter Rückkehr zu einer bedarfsabhängigen Arbeitslosenhilfe. I m Juni 1932 wurde abermals eine Senkung der Unterstützungssätze sowie eine Begrenzung der Versicherungsleistungen auf 6 Wochen verordnet; danach waren sie von Hilfsbedürftigkeit abhängig. U m der katastrophalen Belastung der Gemeinden entgegenzuwirken, wurde i m November 1932 die Aussteuerung aus der Krisenunterstützung bis zum März 1933 aufgehoben. Bei dieser damals nur für einen Winter gedachten Lösung blieb es fortan 1 1 1 . Das Schicksal der Arbeitslosenversicherung während der ersten Jahre ihres Bestehens ist ein Teilaspekt der Gesamtumstände, die zum politischen System Wechsel des Jahres 1933 führten. Dieser katastrophal folgenreiche Systemwechsel hat sich, wie zu schildern ist, auch auf die Entwicklung der Sozialversicherung ausgewirkt, wenngleich i n weniger tiefgreifender Weise. e) Ansätze zu Sozialhilfe und sozialer Entschädigung I n der Weimarer Republik wurden neben der Arbeitslosenversicherung zwei weitere Materien wenn auch nicht erstmals, so doch grundlegend neu geregelt. Sowohl das Fürsorge- als auch das Versorgungsrecht wurden einerseits i m Vergleich zur Zeit der Monarchie entscheidend fortentwickelt und erhielten andererseits eine Grundstruktur, die sich ungeachtet aller Fortentwicklung bis heute erhalten hat. Aus den Ursprüngen des Fürsorgerechts heraus (vgl. oben I. 3. a) hatte die Unterstützung das zum Leben Notwendigste zu bieten; i m übrigen ist A r t und Maß der Hilfe der Rechtsetzung der Länder überlassen. Den Unterstützten wurde vielfach — bis 1918 — das Wahlrecht entzogen. Hilfsbedürftigkeit wurde nicht gesehen m i t Blick auf das Subjekt des Hilfsbedürftigen, sondern als Störung der öffentlichen Ordnung. Noch 1901 hieß es i n einer Entscheidung des Bundesamtes für das Heimatwesen: „Einen obligatorischen Anspruch auf Unterstützung hat der Arme nicht. Der Arme ist nicht Subjekt, also nicht Träger des 111
Z u r Geschichte der Arbeitslosenversicherung bis 1939 vgl. Näheres bei Syrup-Neuloh, S. 303 ff., 326 ff., 455 ff.
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Anspruchs, das ist die Allgemeinheit, der Staat. Der Arme ist nur der Gegenstand der den Armenverbänden im öffentlichen Interesse auferlegten Unterstützungspflicht 112 ." Diese Sichtweise entsprach nicht mehr derjenigen der neuen Republik. 1924 ergingen die Reichsverordnung über die Fürsorgepflicht und die Reichsgrundsätze über Voraussetzung, A r t und Maß der öffentlichen Fürsorge. Damit war ein einheitliches, modernisiertes Fürsorgerecht sowie leistungsfähige Fürsorgeträger — kreisfreie Städte und Landkreise — geschaffen. A u f der Grundlage der Individualisierung und der Nachrangigkeit der Hilfe wurden entrechtende Folgen beseitigt, die Hilfe zur Selbsthilfe i n den Vordergrund gestellt und die laufende Hilfe zum Lebensunterhalt nach Richtsätzen (heute Regelsätze) bemessen. Diese Richtsätze sollen den „notwendigen Bedarf" sicherstellen, nicht nur den „unerläßlichen Lebensbedarf", wie bisher. Neben der allgemeinen Fürsorge stand die „gehobene Fürsorge", die für besondere Personengruppen — Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene, Sozialrentner und Kleinrentner (bestimmte Inflationsgeschädigte) bereits früher eingeführt worden war. I n der gehobenen Fürsorge galten erleichterte Leistungsvoraussetzungen, gemilderte Anrechnungsbestimmungen und ein u m ein Viertel erhöhter Richtsatz für den Lebensunterhalt. Die Aufwendungen wurden zum großen Teil vom Reich erstattet. Die Versorgung der Kriegsbeschädigten und -hinterbliebenen war i m Jahre 1906 durch das Mannschaftsversorgungsgesetz und das Offizierspensionsgesetz geregelt worden 1 1 3 . Für beide Gruppen galten unterschiedliche Versorgungssätze, was während des Krieges auf Unverständnis bei vielen Beschädigten stieß, die aus gleichen Berufen kamen und eine gleiche Beschädigung erlitten hatten. Die neue Regierung übertrug zunächst 1919 die Zuständigkeit für das Militärpensions- und -Versorgungswesen von den Militärbehörden auf das Reichsarbeitsministerium. I m Reichsversorgungsgesetz von 1920 wurde die Differenzierung der Rente nach dem militärischen Dienstgrad beseitigt, ebenso Unterscheidungen nach äußeren oder inneren Schädigungsfolgen sowie nach Kriegs- und Friedensschädigungen. Grundlegend für die Rentenbemessung war die Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit; außerdem war die Bedeutung der Beschädigung für den Beruf und für den Einkommensausfall des Geschädigten zu berücksichtigen, was mittels einer stark pauschalierten Ausgleichszulage geschah. Ferner gab es bereits unter bestimmten Bedingungen eine Schwerbeschädigtenzulage, eine Pflegezulage sowie die Kapitalabfln112 113
Z i t i e r t nach W i l h e l m Bangert, Die Sozialhilfe, Stuttgart 1961, S. 4. E i n erstes Militär-Pensionsgesetz w a r 1871 ergangen.
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dung. Ein Rechtsanspruch auf Heilbehandlung wurde eingeführt und deren Durchführung den Krankenkassen übertragen. 4. Die Zeit des Nationalsozialismus (1933 - 1945)
a)
Rahmenbedingungen
Als i m Januar 1933 die nationalsozialistische Partei die Macht i m Reiche übernahm, hatte sie i n bezug auf die Sozialversicherung keine politischen Leitvorstellungen. Das Interesse ihrer einflußreichen Führer w a r von anderen Fragen absorbiert. Die Entwicklung der Sozialversicherung während dieser Zeit folgte i m Grundzug den sachlogischen Notwendigkeiten der bisherigen Entwicklung. Der gesicherte Personenkreis wurde erweitert, die Leistungsbeschränkungen der Depressionsjahre zögernd zurückgenommen, die Organisationsstruktur blieb i m wesentlichen erhalten. Die Eingriffe des neuen Regimes i n die Sozialversicherung waren nicht originär motiviert durch eigene sozialpolitische Vorstellungen, sondern abgeleitet aus allgemeinen politischen Wertungen insbesondere antidemokratischen und rassistischen Inhalts; sie lassen sich auf Macht- und Personalpolitik reduzieren. Die Interesselosigkeit der neuen Machthaber an Sozialpolitik lag begründet i n ihrer fehlenden Tradition und Erfahrung aus der Arbeitswelt. Ein Interesse wurde — m i t Ausnahme der antidemokratisch und rassistisch motivierten Eingriffe — auch später nicht geweckt, w e i l die Sozialversicherung keine politisch relevanten Probleme auf warf. Das steigende Volkseinkommen und die drastisch sinkende Zahl der Arbeitslosen führten sie rasch aus ihrer Defizitsituation heraus und ließen sie bald zu einer geräuschlos fließenden Finanzierungsquelle für andere Staatsausgaben werden. I n den Augen der Bevölkerung w a r der Rückgang der Arbeitslosigkeit ein sozialpolitischer Erfolg, angesichts dessen andere Bedürfnisse weniger gewichtig erschienen — abgesehen davon, daß solche Bedürfnisse politisch und publizistisch nicht artikuliert werden konnten. So erklärt sich i m wesentlichen, daß die Sozialleistungsquote drastisch absank nicht nur i m Vergleich zur Depressionsphase, sondern auch zur Weimarer Zeit. Die Sozialleistungsquote (öffentliche Sozialleistungen i n v. H. des Volkseinkommens) betrug 1 1 4 : 1927
10,4
1932
20,7
1939
8,7
114 Detlev Zöllner, öffentliche Sozialleistungen u n d wirtschaftliche wicklung, B e r l i n 1963, S. 21.
Ent-
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Angesichts dieser politischen Rahmenbedingungen blieben Reformvorstellungen, die i n Arbeitsstäben der „Deutschen Arbeitsfront" entwickelt wurden — sie richteten sich auf Einführung einer i m Parteiprogramm vorgesehenen allgemeinen Altersversorgung sowie auf A b schaffung des Arbeitgeberbeitrags bei gleichzeitiger entsprechender Lohnerhöhung — Diskussionsmaterial ohne politische Relevanz. Diskussionspartner w a r wegen des fehlenden politischen „Rückenwindes" i m wesentlichen die Beamtenschaft des Reichsarbeitsministeriums; diese blieb personell weitgehend unverändert, war preußisch-konservat i v oder christlich-sozial orientiert und grundlegenden Reformvorstellungen abhold. Die Abwehr-Diskussion der Jahre 1935 - 1940 wurde m i t den Waffen überlegenen Sachwissens bei flexiblem taktischem Verhalten zäh, aber doch ohne dramatische Höhepunkte durchgestanden 115 . b) Beseitigung der Selbstverwaltung, politische und rassische Verfolgung Dramatisch waren allerdings die machtpolitisch, antidemokratisch und rassistisch motivierten Eingriffe der ersten Jahre des NS-Regimes. Bereits i m M a i 1933 — nur wenige Tage nach der Zerschlagung der Gewerkschaftsbewegung — wurde ein Gesetz zur „Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" sowie ein Gesetz über „Ehrenämter i n der sozialen Versicherung" erlassen. Das erstere Gesetz schuf die Rechtsgrundlage für die Entlassung von 2.500 - 4.000 — oder mindestens 10 v. H. aller — Krankenkassenangestellten 116 ; betroffen waren i n der Hauptsache die Ortskrankenkassen. I n deren Verbandszeitschrift „Die Ortskrankenkasse" motivierte ein Nazi-Funktionär die Maßnahmen später damit, „daß nach der Machtergreifung durch den Führer auch i n den Ortskrankenkassen Wandel geschaffen werden mußte. Es ging darum, die Ortskrankenkassen, die damals zum größten Teil i n den Händen der Marxisten und Juden waren, zurückzugewinnen für ihren eigentlichen Zweck, eine Versicherung der schaffenden Deutschen zu sein" 1 1 7 . Entlassungsgründe waren unter anderem: — Betätigung i m marxistischen (kommunistischen oder sozialdemokratischen) Sinne; — nicht arische Abstammung; — nach der bisherigen politischen Betätigung keine Gewähr für rückhaltloses Eintreten für den nationalen Staat. 115 Diese Bewertung ist Ergebnis von Gesprächen des Verfassers m i t f r ü heren Beamten des R A M . ne Florian Tennstedt, Sozialpolitik u n d Berufsverbote i m Jahre 1933, i n : Zeitschrift f ü r Sozialreform, 1979, S. 140. 117
Z i t i e r t nach Tennstedt (Anm. 116), S. 137.
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Nach dem zweiten Gesetz konnten Inhaber ihrer Ehrenämter enthoben werden, wenn sie auf Vorschlag einer wirtschaftlichen Vereinigung — Gewerkschaft — gewählt worden waren und die Vereinigung oder i h r Nachfolger — i m Falle der Gewerkschaften waren dies NS-Organisationen — erklärte, daß der Amtsinhaber ihr Vertrauen nicht besäße. Hiervon war die Mehrzahl der Versichertenvertreter i n den Organen vor allem der Orts- und Betriebskrankenkassen betroffen. Die freiwerdenden Stellen i n Verwaltung und Selbstverwaltung wurden planmäßig m i t NS-Gefolgsleuten besetzt. Die Selbstverwaltung war faktisch seit M a i 1933 beseitigt; ihre formale Beseitigung folgte durch das „Aufbaugesetz" vom Juli 1934, einem Rahmengesetz, das durch insgesamt 17 Verordnungen während der Jahre 1934 -1942 ausgefüllt und ergänzt wurde. Die Versicherungsträger erhielten staatlich ernannte „Leiter", die der Aufsichtsbehörde verantwortlich waren. Die Selbstverwaltungsorgane wurden beseitigt; lediglich ein „Beirat" war dem Leiter zur Unterstützung und Beratung beigegeben. Die Verfolgung griff auch i n den Bereich der kassenärztlichen Tätigkeit über. Verordnungen des Reichsarbeitsministers i m Jahre 1933 schlossen „Nichtarier" und Personen, die sich i m kommunistischen Sinne betätigt hatten, von der kassenärztlichen Tätigkeit aus. Es ist geschätzt worden, daß dies bis Ende 1933 etwa 2.800 Ärzte oder 8 v. H. aller zugelassenen Kassenärzte betraf. Die Entscheidung über den Ausschluß i m Einzelfall lag bei den kassenärztlichen Vereinigungen; der Ausgeschlossene hatte ein Beschwerderecht an den Reichsarbeitsminister. Es ist erwiesen, daß das Ministerium viele Ausschluß-Entscheidungen der ärztlichen Standesorganisationen aufgehoben hat. Der Ausschluß von der Kassenpraxis war für die Betroffenen existenzvernichtend; denn die kassenärztlichen Vereinigungen informierten die private Krankenversicherung. Der Verband privater Krankenversicherungen versandte die Ausschlußlisten m i t der Überschrift „Liste der staatsfeindlichen Ärzte" 1 1 8 . c) Die Rechtsentwicklung Die sozialpolitische Entwicklung 1 1 9 verlief i m übrigen weitgehend auf hergebrachten Bahnen und kann i n mancher Hinsicht als Fortentwicklung bezeichnet werden. Der einbezogene Personenkreis wurde deutlich erweitert. I n die Krankenversicherung wurden weitere Gruppen Selbständiger (Artisten, 118
Tennstedt (Anm. 116), S. 217, 223. Vgl. auch K a r l Teppe, Z u r Sozialpolitik des D r i t t e n Reiches am Beispiel der Sozialversicherung, Archiv f ü r Sozialgeschichte, 1977, S. 195 ff. 119
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Hausgewerbetreibende, Hebammen) sowie (1941) die Rentenempfänger einbezogen, für die der Rentenversicherungsträger einen Pauschalbeitrag je Rentner an die Krankenversicherung abführte. Die Unfall-Versicherungspflicht wurde (1939) auf alle landwirtschaftlichen Unternehmer und deren Ehegatten ausgedehnt, nachdem dies bis dahin nur durch Satzung vorgesehen werden konnte. I n der Unfallversicherung erfolgte weiter ein bedeutsamer qualitativer Wandel. Seit ihrem Beginn war der Versicherungsschutz durch Einbeziehung weiterer Unternehmen i n die Versicherung erweitert worden. Der Verletzte mußte nachweisen, daß er i n einem versicherten Unternehmen zu Schaden gekommen war. Diese Bindung wurde 1942 aufgehoben; versichert war fortan die Tätigkeit (alle auf Grund eines Arbeits-, Dienst- oder Lehrverhältnisses Beschäftigten). Die Betriebsversicherung wurde ersetzt durch eine Tätigkeitsversicherung. Folglich wurde der Begriff „Betriebsunfall" ersetzt durch den Begriff „Arbeitsunfall". I n der Rentenversicherung wurde (1937) allen Staatsangehörigen bis zum 40. Lebensjahr das Recht zur freiwilligen Versicherung eingeräumt (Selbstversicherung). 1938 erging das „Gesetz über die Altersversorgung für das Deutsche Handwerk"; es erstreckte die Versicherungspflicht für den Fall des Alters und der Invalidität erstmals auf einen größeren Kreis Selbständiger ohne die Begründung, daß sie sicherungsbedürftig ähnlich wie Arbeitnehmer seien. Die selbständigen Handwerker wurden beitragspflichtig zur Angestelltenversicherung; sie waren versicherungsfrei, wenn sie für einen privaten Lebensversicherungsvertrag soviel an Prämien zahlten, wie sonst Beiträge zur Angestelltenversicherung zu zahlen gewesen wären. I m Leistungsrecht wurden — wie erwähnt — die i n der Depressionsphase verordneten Kürzungen und Einschränkungen zum großen Teil schrittweise aufgehoben. Verbesserungen, die darüber hinausgingen, waren i n der Krankenversicherung die Aufhebung einer zeitlichen Begrenzung der Krankenpflege sowie die Einführung eines Wochengeldes als Lohnersatz für je 6 Wochen vor und nach der Geburt eines Kindes bei Kostenerstattung durch das Reich (1942). I n der Rentenversicherung waren die Leistungserhöhungen i m wesentlichen adaptiver Art. Fortgeltende Wirkung hatte die 1942 ergangene Vorschrift, nach der Berechnungsgrundlage für die Renten nicht mehr die gezahlten Beiträge, sondern die bescheinigten Arbeitsentgelte waren. Die Finanzierung der Sozialversicherung bereitete wegen des w i r t schaftlichen Aufschwungs und der zurückhaltenden Leistungspolitik keine ernsten Schwierigkeiten. Die Beitragssätze blieben stabil. Wenn
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gleichwohl 1933 ein Gesetz „zur Erhaltung der Leistungsfähigkeit" der Rentenversicherungen erging und auch das Ausbaugesetz von 1937 Finanzierungsvorschriften enthielt, so ging dies auf das Bestreben zurück, die Voraussetzungen für die Verwirklichung des Anwartschaftsdeckungsverfahrens zu verbessern. Auslösend waren errechnete versicherungsmathematische Fehlbeträge, nicht tatsächliche Defizite; i m Gegenteil, das Vermögen der Rentenversicherung stieg kontinuierlich und kräftig an; es muß te allerdings faktisch sofort wieder gegen Brief oder Schuldbuchforderungen an das Reich abgeführt werden. I m einzelnen wurde der Reichszuschuß zur Arbeiterrenten Versicherung geregelt und erhöht (1933), ein Reichszuschuß zur Angestelltenversicherung sowie eine Reichsgarantie für den Bestand der Rentenversicherung eingeführt (1937). Ferner wurde der Arbeitslosenversicherung eine Mittelabführung an die Rentenversicherung auferlegt. Hier hätte man bei rückläufiger Arbeitslosigkeit eine drastische Senkung des Beitragssatzes vornehmen können. Statt dessen ließ man den hohen Beitragssatz der Depressionsphase (6,5 v. H.) bestehen und verfügte über die Uberschüsse. So waren ab 1938 Mittel an die Rentenversicherung i n Höhe von 18 v. H. (ArV) bzw. 25 v. H. (AnV) der Beitragseinnahmen dieser Träger abzuführen. I m übrigen wurden die Überschüsse der Reichsanstalt verwendet für Autobahnbau, Kinderbeihilfen „sowie Mittel für sonstige staatspolitisch wichtige Aufgaben des Reiches. Was dann noch an Überschüssen verblieb, wurde an das Reich zur Deckung allgemeiner Reichsausgaben a b g e f ü h r t . . . I n Wirklichkeit wurde i h r Beitragsaufkommen wie eine Steuer für den Reichshaushalt behandelt und eingezogen" 120 . Ein wichtiger und bleibender Fortschritt vollzog sich hinsichtlich des Beitragseinzugsverfahrens. A n die Stelle des bisherigen Marken-Verfahrens („Kleben") trat 1942 das Lohnabzugsverfahren. Die Krankenkassen übernahmen den gemeinsamen Beitragseinzug auch für die Renten- und Arbeitslosenversicherung; die Berechnungsgrundlage für Beitrag und Lohnsteuer wurde vereinheitlicht. Daraus ergab sich eine verwaltungstechnisch erhebliche Vereinfachung. I n bezug auf die Organisation wurde oben (III. 3. b) die Beseitigung der Selbstverwaltung bereits erwähnt. Das Aufbaugesetz von 1934 und die auf i h m beruhenden Verordnungen brachten darüber hinaus Ä n derungen, die allerdings nicht grundsätzlicher A r t waren: — Die Gemeinschaftsaufgaben der Krankenversicherung werden auf die Landesversicherungsanstalten übertragen; ebenso der vertrauensärztliche Dienst der Krankenversicherung. 120
*
Syrup-Neuloh, S. 456.
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— Die Ersatzkassen werden Körperschaften des öffentlichen Rechts. — Die Reichsvereinigungen der Krankenkassen werden als Reichsverbände Körperschaften des öffentlichen Rechts. Die wenig tiefgreifende A r t dieser Änderungen erstaunt i m Rückblick, wenn man bedenkt, daß die voraufgegangene Diskussion, auch i n Fachkreisen, von dem Stichwort „Zersplitterung" ausgegangen war, und daß der politisch tonangebende Zeitgeist auf Vereinheitlichung gerichtet war. Dennoch bekannte sich das Aufbaugesetz auch i n seiner amtlichen Begründung eindeutig zur Beibehaltung des gegliederten Systems der Sozialversicherung. Als Gründe hierfür w i r d man annehmen können: Das nach Beseitigung der Selbstverwaltung und des politisch mißliebigen Personals erlahmte Interesse der Parteiführung; ferner die auf Bewahrung des Bestehenden ausgerichtete Einstellung der M i nisterialbürokratie. Hinzu kam wohl eine zunächst unvermutete Bundesgenossenschaft. Die 1933 i n die Verwaltung der Sozialversicherung eingerückten NS-Funktionäre m i t zum Teil weitreichendem Einfluß wurden recht bald vom bestehenden Apparat absorbiert; sie wurden zum Fürsprecher seiner Erhaltung, weil es auch u m die Erhaltung ihrer neu gewonnenen Position ging. 5. Die Bundesrepublik Deutschland
a)
Rahmenbedingungen
Die Bilanz der nationalsozialistischen Herrschaft und des Krieges war katastrophal: Das Deutsche Reich hatte aufgehört zu existieren; die rechtsetzende und vollziehende Gewalt war auf Militärbehörden der Siegermächte übergegangen. Die wirtschaftlichen Kapazitäten i m verbliebenen Deutschland waren i m Durchschnitt aller Wirtschaftszweige auf 70 - 80, i m industriellen Bereich auf 30 - 35 v. H. des Standes von 1937 gesunken 121 . Die unzureichend ernährte, unter Wohnungsnot leidende Bevölkerung nahm ungeachtet der hohen Kriegsverluste durch den Zustrom von Flüchtlingen und Vertriebenen sprunghaft zu. I m Gebiet der heutigen Bundesrepublik lebten 1939 39 M i l l . Einwohner, 1949 waren es 47 M i l l . Der staatliche Wiederaufbau vollzog sich schrittweise von unten. Zunächst wurden 1945/46 die Gemeinde- und Kreisverwaltungen wiederhergestellt; es folgte 1946/47 die Errichtung von Ländern und innerhalb der Besatzungszonen die Schaffung von Zonen-Verwaltungen. Für die britische und amerikanische Zone wurde Anfang 1948 eine bizonale Verwaltung geschaffen. Parallel dazu wurden schrittweise 121
Henning, Bd. 3, S. 184.
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Gesetzgebungsbefugnisse und vollziehende Gewalt von den Militärbehörden auf deutsche Behörden oder Organe übertragen. I m J u l i 1948 erhielten die Ministerpräsidenten der Länder die Vollmacht zur Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung für die Errichtung eines Bundesstaates. Dieser „Parlamentarische Rat" beschloß das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, das am 24. 5. 1949 i n K r a f t trat. I m Herbst 1949 wurde der erste Deutsche Bundestag gewählt und die erste Bundesregierung gebildet. Fast gleichzeitig entstand auf dem Territorium der sowjetischen Besatzungszone die Deutsche Demokratische Republik. Auch das Verbandswesen baute sich „von unten" wieder auf, wobei i m wesentlichen an Traditionen der Weimarer Republik angeknüpft wurde. Eine wichtige Ausnahme waren die Gewerkschaften, die den Gedanken der Richtungsgewerkschaften nicht wieder aufnahmen. Die Industriegewerkschaften schlossen sich 1949 zum Deutschen Gewerkschaftsbund zusammen, der seither ein entscheidender Faktor i m sozialpolitischen Willensbildungsprozeß ist. Parallel zum staatlichen vollzog sich der wirtschaftliche Wiederaufbau. Die ersten Jahre der akuten Notsituation hätten ohne die Hilfe der Besatzungsmächte, vor allem der Nahrungsmitteleinfuhren aus den USA, nicht überstanden werden können. Nach der Währungsreform i m Juni 1948 stieg auch die industrielle Produktion sprunghaft an. Dies hing u. a. damit zusammen, daß die Währungsreform und der m i t i h r einhergehende Abbau der Zwangsbewirtschaftung Ausdruck einer politischen Grundsatzentscheidung zugunsten einer auf Wettbewerb beruhenden Marktwirtschaft („Soziale Marktwirtschaft") war. Die w i r t schaftlichen Wachstumsraten lagen i n den Jahren 1948/49 über 20 v. H.; sie hielten sich bis zur Mitte der 50er Jahre über 10 v. H. und schwanken seither um 5 v. H. I m Jahre 1953 hatte die Versorgung der Bevölkerung m i t Gütern und Diensten des privaten Verbrauchs wieder den Stand des letzten Vorkriegsjahres erreicht 1 2 2 . Durch dieses rasche Wachstum war es möglich, die zunächst hohe Arbeitslosigkeit bald abzubauen. Die Arbeitslosenquote fiel von 12,2 i m Jahre 1950 auf 9,5 i m Jahre 1952 und auf 5,6 i m Jahre 1955; seit Beginn der 60er Jahre herrschte i n der Bundesrepublik Vollbeschäftigung. Die Tendenz zur Arbeitnehmergesellschaft setzte sich fort; der A n t e i l der abhängig Beschäftigten an allen Erwerbstätigen stieg von 69 v. H. (1950) auf 86 v. H. (1979). Die zwanzigjährige wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung wurde unterbrochen durch eine Rezession i m Jahre 1966/67 und eine weitere be122 Wirtschaft u n d Statistik, 1954, S. 167. M a n frage sich, welcher Versorgungsstand bei 14 Jahren friedlicher E n t w i c k l u n g erreicht worden wäre!
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ginnend m i t dem Jahr 1973. Die Arbeitslosenquote stieg von einem Wert unter 1 bis auf 2,3 i m Jahr 1967, sank dann wieder unter 1, u m i m Jahr 1975 den seit 20 Jahren nicht mehr registrierten Stand von 4,7 zu erreichen. Diese Rezessionen waren i m internationalen Vergleich nicht schwerwiegend. Vor dem Hintergrund der vorausgegangenen, anhaltend aufwärts gerichteten Entwicklung hatten sie i n Deutschland einen Bewußtseinswandel zur Folge, der noch nicht abschließend beschrieben werden kann. Für den vorliegenden Zusammenhang ist von Bedeutung, daß sie berichtenswerte Rückwirkungen auf die Sozialversicherung hatten. b) Die Entwicklung
bis zum Grundgesetz (1945 - 1949)
Man hat das Wort „katastrophal" wiederholt auch auf die Situation der Sozialversicherung bei Kriegsende angewandt. Richtig ist, daß i h r Vermögen verloren w a r — wie nach dem ersten Weltkrieg —, und daß zentrale Entscheidungsinstanzen auf staatlicher und verbandlicher Ebene weggefallen waren. Aber: Die örtlichen Leistungsträger existierten weiter und hatten, wenn auch stark geminderte, Beitragseinnahmen. Die Militärbehörden ließen das Recht der Sozialversicherung i n Kraft, lediglich rein nazistisch motivierte Regelungen wurden beseitigt. Auch wurde NS-belastetes Personal aus der Verwaltung entfernt. Diese Umstände hinderten jedoch nicht, daß die Betreuung der Versicherten i m Prinzip und abgesehen von örtlichen Ausnahmen weiterlief. Fehlende Reichseinnahmen und geminderte Beitragseinnahmen zwangen überall zu Leistungsbeschränkungen und -kürzungen. Die Sozialversicherung durchlebte eine weitere Reduktionsphase, doch konnten diese Beschränkungen zum guten Teil bereits i n den Jahren 1946/47, weitgehend i n den Jahren 1948/49 wieder rückgängig gemacht werden. Die Sozialversicherung bestand unter dem Gesichtspunkt der Kontinuität eine weitere, ihre größte Bewährungsprobe. Ihre Institutionen hatten Bestand; ihre Funktionen wurden erfüllt. Diese rückschauende Gesamtbewertung sieht ab von einer großen Zahl von Rechtsetzungsakten i n den Besatzungszonen und Ländern, die hier nicht i m einzelnen geschildert werden sollen 1 2 3 , w e i l sie später i n das Bundesrecht eingingen oder durch dieses verändert wurden. Z u erwähnen ist allerdings das vom Wirtschaftsrat der britisch-amerikanischen Bizone erlassene Sozialversicherungs-Anpassungsgesetz vom 17. Juni 1949, das — ein Jahr nach der Währungsreform — erhebliche Änderungen und Verbesserungen brachte, die später Bundesrecht 123 Vgl. Näheres bei Peters, S. 128 ff.; zur Sonderentwicklung i n Berlin, wo es zur Errichtung eines Einheitsträgers kam, vgl. die Aufsätze von Baker, Foggon, Noetzel u. a., i n : Bartholomäi.
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wurden. Neben der Aufhebung einer Reihe von Sondervorschriften der Kriegs- und Nachkriegszeit, einer Anpassung von Bezugsgrößen sowie einer Rentenerhöhung durch pauschale Zuschläge und Einführung einer Mindestrente von 50,— D M (Witwen 40,— DM) waren dies insbesondere die Einführung der unbedingten Witwenrente i n der Arbeiterrentenversicherung (allerdings nur für Versicherungsfälle ab Juni 1949) und die Herabsetzung der Invaliditätsgrenze für Arbeiter von 66 2/3 auf 50 v. H. der Erwerbsfähigkeit. Damit war die Rechtsstellung der Arbeiter i n zwei wesentlichen Punkten derjenigen der Angestellten angeglichen. Der Beitragssatz i n den Rentenversicherungen wurde von 5,6 auf 10 v. H. erhöht, gleichzeitig jedoch i n der Arbeitslosenversicherung unter Wegfall der bisherigen Zuschüsse von 6,5 auf 4 v . H. ermäßigt. I n der Krankenversicherung wurde der Beitrag zwischen Arbeitgeber und Versichertem halbiert (bis dahin Arbeitgeber ein Drittel). Das Sozialversicherungs-Anpassungsgesetz war inhaltlich der Abschluß der Zonen-Gesetzgebung, zugleich aber auch Auftakt der nun beginnenden expansiven Gesetzgebung des Bundes. Ausgehend von der „Stunde Null"-Empfindung des Jahres 1945 ist später erörtert worden, ob diese Situation für eine durchgreifende Reform der Sozialversicherung Gelegenheit geboten habe und warum diese Gelegenheit nicht genutzt worden sei. Es hat Entwürfe gegeben, die die Errichtung einer Einheitsversicherung vorsahen. Die Autorenschaft dieser Entwürfe ist jedoch ebensowenig geklärt wie die Frage, welche politischen Kräfte hinter ihnen standen. Daß es zu Beschlüssen über grundlegende Reformen der Sozialversicherung nicht kam, dürfte zunächst darin begründet liegen, daß die westlichen Besatzungsmächte sich bereits vor Kriegsende auf die grundsätzliche Weiterführung des bestehenden Systems festgelegt hatten. I n Richtlinien für die zukünftige Politik der amerikanischen Besatzungsmacht vom Dezember 1944 hatte es geheißen: „Die Sozialversicherung w i r d nach bestehenden Gesetzen und Verordnungen weitergeführt, soweit deutsche M i t t e l vorhanden sind." Ein Beteiligter bemerkt hierzu: „Deutsche Emigranten der Naziära i n den USA, die i n der Weimarer Republik an der Entwicklung eines vorbildlichen Systems der sozialen Sicherung i n Deutschland voller Hingabe beteiligt waren, hatten dazu geraten, alle Anstrengungen zunächst auf die schnelle Wiederherstellung der Sozialleistungen für Alte, Erwerbsunfähige und Hinterbliebene zu konzentrieren 1 2 4 ."
124 Herbert W. Baker: Beginn der deutschen Sozial- und Arbeitspolitik u n ter der Militärregierung, i n : Bartholomäi, S. 24.
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„Was die britische Militärregierung anbelangte, so war vor der Besetzung der Grundsatz aufgestellt worden, daß alle bestehenden Systeme der deutschen sozialen Sicherheit soweit wie möglich erhalten werden sollten. Diese Entscheidung konnte nicht überraschen, da das deutsche System i n Großbritannien sehr bewundert wurde 1 2 5 ." Trotz dieser Festlegungen hat der Alliierte Kontrollrat aus nicht rekonstruierbaren Gründen i m März 1946 Grundsätze für eine einheitliche Organisation der Sozialversicherung gebilligt. Dahinter stand aber offensichtlich zumindest auf westallnerter Seite kein politischer I m puls. „ W i r hatten zwar i m Alliierten Kontrollrat die Grundsätze für eine Einheitsversicherung gebilligt, waren aber der Meinung, daß diese wichtige, und für die Zukunft so entscheidende Frage des organisatorischen Neuaufbaus der deutschen Sozialversicherung, von den Deutschen selbst entschieden werden sollte 1 2 6 ." Die Deutschen selbst waren jedoch i m ganzen nicht sehr reformfreudig. Die Kräfte meinungsbildender Fachleute waren absorbiert von der täglichen Wiederaufbauarbeit. Als Reaktion auf die voraufgegangene NS-Periode herrschte eine anti-zentralistische Grundstimmung. Es gab auch keinen als dringlich empfundenen Grund zu weitreichenden Änderungen. Die Sozialversicherung erfüllte ihre Funktionen; zwar zunächst unvollkommen, doch zunehmend besser und m i t Zuversicht auf weitere Besserung. Diese Umstände erklären, warum konservative Kräfte den Reformplan ablehnten. Es kam aber hinzu, daß der Plan auch Einsparungsabsichten verfolgte, indem er ζ. B. die Angleichung des Rentenrechts für Arbeiter und Angestellte auf dem niedrigeren Arbeiterniveau vorsah. Dies entzog i h m die Unterstützung der Gewerkschaften, die teilweise (Britische Zone) sogar widersprachen. Nach alledem hatte der Entwurf keine Chance der Verwirklichung 1 2 7 . c) Grundlegungen
der Bundesgesetzgebung (bis 1955)
aa) Sozialversicherung i m Grundgesetz Wenn man fragt, w a r u m bei so weitgehendem Konsens über Existenznotwendigkeit und Grundstruktur der Sozialversicherung dem Grundgesetz i n dieser Beziehung kein Gestaltungsauftrag eingefügt wurde — wie i h n A r t . 161 der Weimarer Verfassung enthalten hatte — so w i r d eine A n t w o r t nur i n größerem Zusammenhang zu finden sein. Der Grundgesetzgeber legte großen Wert auf die Normierung persön125
George Foggon, A l l i i e r t e Sozialpolitik i n Berlin, i n : Bartholomäi, S. 35. Baker, S. 30. 127 Eine detaillierte, vorzüglich belegte Darstellung hat jüngst vorgelegt: Hans Günter Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen i m Nachkriegsdeutschland : A l l i i e r t e u n d deutsche Sozialpolitik 1945 - 1957, Stuttgart 1980. 126
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licher Grundrechte, auf die Regelung des Verhältnisses zwischen Individuen und Staat sowie auf die Festlegung staatlicher Verfahrensregeln. Er war demgegenüber sehr zurückhaltend i n bezug auf die inhaltliche Festlegung einer Wirtschafts-, Sozial- und Arbeits Verfassung; i n diesen Hinsichten blieb das Grundgesetz „offen" für künftige Entwicklungen. Darin drückt sich verfassungsgeberische Weisheit, aber wohl auch der Umstand aus, daß zur Zeit der Beratung und Verabschiedung des Grundgesetzes faktisch die Entscheidungen für soziale M a r k t w i r t schaft, tarif-partnerlich gestaltete Arbeitsbedingungen und Fortbestand des bisherigen Sozialversicherungssystems bereits gefallen waren. Es bestand kaum weiterer Entscheidungsbedarf; jedenfalls hatten weder Befürworter noch K r i t i k e r der bestehenden Fakten dringenden Anlaß zu neuen Grundsatzerörterungen. Das Bundesverfassungsgericht hat später die Sozialversicherung als einen verfassungsrechtlichen Gattungsbegriff bezeichnet, der alles umfasse, was sich der Sache nach als Sozialversicherung darstelle. Auch hier kommt die Offenheit zum Ausdruck, die sich für die weitere Entwicklung als hilfreich erwiesen hat. Die öffentliche Diskussion, Gesetzgeber und Rechtsprechung mußten sich vergleichsweise wenig m i t begrifflichen Diskussionen und juristischen Konstrukten befassen; das Grundgesetz ließ großen Raum für Diskussionen und Entscheidungen „der Sache nach". bb) Der erste Deutsche Bundestag Solchen Sachfragen wandte sich der i m Herbst 1949 zusammentretende Deutsche Bundestag alsbald zu. Er stand vor einer gewaltigen Aufgabe, die er m i t Fleiß anging. I n der ersten Legislaturperiode w u r den 52 die Sozialversicherung betreffende Gesetze verabschiedet, eine Zahl, die i n keiner späteren Legislaturperiode auch nur annähernd erreicht wurde. Zunächst bestand die Notwendigkeit, die nach 1945 eingetretene Rechtszersplitterung zu beheben, was i m wesentlichen während der ersten Legislaturperiode abgeschlossen werden konnte. Ferner mußten Einkommensgrenzen für die Bemessung von Beiträgen und Leistungen an veränderte Verhältnisse angepaßt werden. Einer Anpassung bedurfte auch die Höhe der Geldleistungen, weil die Durchschnittslöhne sich i n dem Jahrfünft 1948 - 1953 u m mehr als 80 v. H. erhöhten. Diesem Ziel diente das Rentenzulagegesetz und das Teuerungszulagengesetz von 1951 sowie das Grundbetragserhöhungsgesetz von 1953; Leistungsverbesserungsgesetze ergingen 1952 und 1953 auch für die Unfallversicherung. Eine Anzahl Gesetze regelte — wie schon der Titel erkennen läßt — die Rechtsstellung besonderer Personengruppen: Heimkehrergesetz (1950), Schwerbeschädigtengesetz (1953), Häftlingshilfegesetz (für poli-
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tische Häftlinge, 1955). Der sozialen Sicherung i m weiteren Sinne dienten das Bundesversorgungsgesetz (1950), das die Versorgung Kriegsbeschädigter i m wesentlichen nach den Prinzipien des Reichsversorgungsgesetzes der Weimarer Zeit regelte (vgl. oben 3. c) sowie das Lastenausgleichsgesetz (1952), das für die rd. 11 M i l l . Flüchtlinge und Vertriebene neben einem Ausgleich für Vermögensschäden auch Rentenleistungen nach sozialen Kriterien, insbesondere für den Fall des A l ters und der Erwerbsunfähigkeit vorsah. Der Eingliederung der Flüchtlinge i n das System der Sozialversicherung diente das Fremdrenten- und Auslandsrentengesetz von 1953. Das Gesetz beruhte auf dem Entschädigungsprinzip, d. h. Versicherungsträger i n der Bundesrepublik treten unter bestimmten Voraussetzungen für Verpflichtungen von Trägern außerhalb der Bundesrepublik ein. Die Leistungen, insbesondere Renten, richten sich nach dem Recht des Herkunftslandes. Da die Flüchtlinge aus vielen verschiedenen, vor allem osteuropäischen, Ländern m i t sehr unterschiedlichen Rechtssystemen hinsichtlich Versicherungspflicht, Beitrags- und Leistungsberechnung gekommen waren, ergab sich eine sehr ungleiche Situation sowohl unter den Flüchtlingen selbst als auch i m Verhältnis zu Nicht-Flüchtlingen. cc) „Errichtungsgesetze" Neben den Gesetzen, die der Rechtsvereinheitlichung, der Anpassung an veränderte Wirtschaftsdaten und der Regelung von Kriegsfolgen dienten, ergingen recht bald auch solche, die man als strukturgestaltend für die weitere Entwicklung bezeichnen kann. Es waren dies einige „Errichtungsgesetze", die Regelung des Kassenarztrechts und das Selbstverwaltungsgesetz. Errichtet wurde zunächst (mit Wirkung vom 1. 5. 1952) die Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung. Durch Überführung der bis dahin i m Hoheitsbereich der Länder stehenden Arbeitsverwaltung i n die Bundesanstalt wurde der Zustand wiederhergestellt, der i n der Weimarer Republik m i t der Reichsanstalt gegeben war. Ebenso wurde nach früherem Vorbild die Bundesversicherungsanstalt f ü r Angestellte 1953 wiedererrichtet; i n der Zeit nach 1945 war die Versicherung der Angestellten von den Trägern der Arbeiterrentenversicherung mitverwaltet worden. Dem grundgesetzlichen Auftrag zur Schaffung einer eigenen Sozialgerichtsbarkeit (Art. 96) und zu einer klaren Trennung zwischen Rechtsprechung und Verwaltung (Art. 20) entsprach das Sozialgerichtsgesetz von 1953. Es schuf einen dreistufigen Rechtszug m i t neuartigem, kostenfreiem Gerichtsverfahren unter Beteiligung von Laienrichtern. Spätere Änderungen dieses Gesetzes dienten vornehmlich der Vereinfachung und Beschleunigung der Verfahren, berührten jedoch nicht die Grundstruktur der Sozialgerichtsbarkeit, die sich nach Meinung aller
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Beteiligten bewährt hat. M i t dem Entstehen der Sozialgerichtsbarkeit wurde die rechtsprechende Tätigkeit den staatlichen Behörden entzogen. Das waren bis 1945 das Reichsversicherungsamt, danach i n den Ländern Ober- oder Landesversicherungsämter. Diesen verblieben jetzt nur noch Verwaltungs- und Aufsichtsaufgaben nach Maßgabe der Zuständigkeitsaufteilung zwischen Bund und Ländern. Der Bund übertrug (mit Ausnahmen) seine Aufsichtsbefugnisse auf das 1956 als selbständige Bundesoberbehörde errichtete Bundesversicherungsamt 128 . dd) Kassenarztrecht M i t dem Gesetz über das Kassenarztrecht von 1955 wurde das Verhältnis zwischen Krankenkassen und Ärzten bundesrechtlich geordnet. Man lehnte sich dabei an die Prinzipien an, die am Ende der Weimarer Republik entwickelt worden waren (vgl. oben 3. c.). Es wurden Kassenärztliche Vereinigungen und eine Kassenärztliche Bundesvereinigung als Körperschaften des öffentlichen Rechts gebildet, die die kassenärztliche Versorgung sicherstellen und Vertragspartner der Krankenkassen sind. Die Kassen bilden — ebenfalls auf Grund eines Gesetzes von 1955 — Landesverbände und einen Bundesverband ihrer Kassenart als Körperschaft des öffentlichen Rechts. Die zu Beginn der 30er Jahre gefundene und 1955 fortgeschriebene Grundkonstruktion — nämlich Sicherstellung der ärztlichen Versorgung durch selbstverwaltete ärztliche Organisationen, vertragliche Vereinbarung einer von den Kassen zu entrichtenden Gesamtvergütung und Honorarverteilung unter den Ärzten durch die Kassenärztliche Vereinigung — hat unbeschadet mancher Modifikationen und Schwierigkeiten ihre Tragfähigkeit bis i n die gegenwärtige Phase der Kostendämpfungsbemühungen hinein erwiesen. ee) Selbstverwaltung Eines der ersten Gesetze des Deutschen Bundestages auf sozialpolitischem Gebiet war das Selbstverwaltungsgesetz von 1951. Auch dieses knüpfte an alte Traditionen an. Eine wichtige Fortentwicklung w a r allerdings der Übergang zu einer verbandlichen Selbstverwaltung. Leitprinzip war nicht mehr wie ursprünglich das genossenschaftliche Prinzip der Vertretung einzelner Mitglieder i n den Organen, sondern das Prinzip der Vertretung der Versicherten und der Arbeitgeber durch deren jeweilige Verbände 1 2 9 . 128 Die Praxis des Bundesversicherungsamtes, hrsg. von Dieter Schewe, Bonn - Bad Godesberg 1977; vgl. insbes. die Beiträge von W. Bogs, V o m alten Reichsversicherungsamt, u n d von H. Schirmer, Selbstverwaltung u n d A u f sicht. 129 Walter Bogs, Sozialversicherungsrecht (unter dem Obertitel: Versicherungswissenschaft u n d Versicherungspraxis i n den zurückliegenden 75 Jahren), Zeitschrift f ü r die gesamte Versicherungswissenschaft, 1974, S.31.
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Bei den Trägern der Sozialversicherung werden aufgrund von Vorschlagslisten der Verbände Vertreterversammlungen gewählt, die ihrerseits einen Vorstand wählen. Die Selbstverwaltungsorgane wählen den Geschäftsführer des Trägers. Die Mitglieder der Organe werden i m Prinzip je zur Hälfte von Versicherten und Arbeitgebern gewählt; Ausnahmen bestehen für Bergbau, Landwirtschaft und Ersatzkassen. Neuerungen brachte dies für die Organe der Krankenversicherungsträger, die bis dahin entsprechend der bis 1949 bestehenden Beitragsdrittelung zu zwei Dritteln m i t Versichertenvertretern besetzt waren, und für die Organe der Unfallversicherungsträger, i n denen die Versicherten bis dahin nicht vertreten waren. Gewerkschaftliche Forderungen auf eine alleinige oder wenigstens mehrheitliche Vertretung der Versicherten i n den Organen fanden i m Bundestag keine ausreichende Unterstützung 1 3 0 ; die Mehrheit folgte dem „Sozialpartner-Modell", das bis heute Grundlage des Selbstverwaltungsrechts ist 1 3 1 . ff) Würdigung Die vorstehende, sehr geraffte Darstellung der Gesetzgebungstätigkeit während der ersten Jahre der Bundesrepublik Deutschland mag den Eindruck erwecken, als sei der Inhalt dieser Tätigkeit vorwiegend restaurativ gewesen. I n der Tat wurde i n vieler Beziehung wiedererrichtet und wieder angeknüpft. Ein Verständnis dafür erwächst aus folgenden Gründen: Es bestand ein Bedürfnis, den faktisch befriedigend funktionierenden Institutionen und Mechanismen schnell wieder Rechtssicherheit und Rechtseinheit zu vermitteln. Deutschland war über ein Jahrzehnt von der internationalen Diskussion abgeschnitten gewesen, wie sich etwa an der Tatsache absehen läßt, daß der Begriff „Soziale Sicherung" (social security) erst Anfang der 50er Jahre i n den Sprachgebrauch einging. Wichtiger noch war wohl die Tatsache, daß viele Entscheidungsträger- und Meinungsbilder-Positionen i n der neuen Republik von Menschen besetzt waren, die entweder seit 1933 zur Einflußlosigkeit verurteilt waren oder die NS-Zeit m i t der Einstellung des Bewahrens, des Verhütens von Schlimmerem überstanden hatten. Für diese Menschen — n u n meist i n fortgeschrittenem Lebensalter — lag es nahe, an die Zustände, Gedanken und Ideale der Weimarer Zeit anzuknüpfen. Hinzu kommt, daß man keineswegs untätig war. Wie die Zahl, aber auch der stoffliche Inhalt der verabschiedeten und verwaltungsmäßig bewältigten Gesetze zeigt, waren Gesetzgebung, Verwaltung und Selbstverwaltung während der ersten Jahre der Geltung des Grundgesetzes ungewöhnlich fleißig. Auch dies ist zu bedenken, wenn 130 Näheres bei A l f r e d Schmidt, Z u m Entstehen der Selbstverwaltung i n der Nachkriegszeit, i n : Sozialpolitik nach 1945, S. 391. 131 Z u r gegenwärtigen Diskussion vgl.: Sozialpolitik u n d Selbstverwaltung. WSI-Studie Nr. 35, K ö l n 1977.
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man den zögernden und nicht sehr schwungvollen Beginn einer Diskussion um Reformen und Weiterentwicklungen beurteilt. d) Die Rentenreform
von 1957
aa) Reformdiskussion und Willensbildung Die Reformdiskussion begann i n den frühen 50er Jahren m i t einer K r i t i k wissenschaftlicher Autoren an der Unübersichtlichkeit des Sozialrechts und der sozialen Institutionen, aus der Forderungen nach einem neuen Konzept, nach einer rationalen Sozialplanung abgeleitet w u r den 1 3 2 . I m politischen Raum wurde die Forderung nach einem Sozialplan, verbunden m i t Vorstellungen zum quantitativen und qualitativen Ausbau der sozialen Sicherung, von der Sozialdemokratischen Partei vertreten 1 3 3 . Aus deren Reihen entstand — später und ohne praktischen Einfluß auf die Reformgesetzgebung von 1957 — der einzige „Sozialplan" 1 3 4 . I m Deutschen Bundestag legte die SPD m i t gleicher Zielrichtung i m Januar 1952 einen Antrag auf Einsetzung einer „Sozialen Studienkommission" aus unabhängigen Sachverständigen vor, die die Aufgabe haben sollte, „die gegenwärtigen sozialen Einrichtungen und Leistungen Deutschlands festzustellen, die Möglichkeiten der Entflechtung dieser sozialen Leistungen und ihrer systematischen Intensivierung zu prüfen und einen Plan der sozialen Sicherung i n Deutschland aufzustellen". Dieser Antrag wurde i m Februar 1952 von der Regierungsmehrheit abgelehnt, zugleich aber die Berufung eines Beirates beschlossen. „ Z u r Vorbereitung gesetzgeberischer Maßnahmen über die finanzielle Sicherung, Neuordnung und fortschrittliche Entwicklung der sozialen Leistungen, unter klarer Abgrenzung der Versicherung von Versorgung und Fürsorge, w i r d der Bundesminister für Arbeit beauftragt, beim Bundesministerium für Arbeit einen Beirat zu berufen 1 3 5 ." Dieser Beirat für die Neuordnung der sozialen Leistungen hat besonders i n seinen Arbeitsausschüssen — vor allem denjenigen für die 132 Walter Auerbach, Modell eines Sozialplans, Die Krankenversicherung, Heft 5, 1952; Gerhard Mackenroth, Die Reform der Sozialpolitik durch einen deutschen Sozialplan, Schriften des Vereins f ü r Socialpolitik, N. F. Bd. 4, B e r l i n 1952; Hans Achinger, Z u r Neuordnung der sozialen Hilfe. Konzept f ü r einen deutschen Sozialplan, Stuttgart 1954; vgl. i m übrigen die umfänglichen bibliographischen Hinweise i n Richter, Anhang V. 133 Die Grundlagen des sozialen Gesamtplans der SPD, Bonn 1953; beschlossen am 14. 9. 52 v o m sozialpolitischen Ausschuß der SPD i m Einvernehmen m i t dem Parteivorstand. Gleichsinnige Parteitagsbeschlüsse ergingen 1952 u n d 1954. 134 Sozialplan für Deutschland. A u f Anregung des Vorstandes der SPD v o r gelegt von Walter Auerbach u. a., Berlin/Hannover 1957. 135 Die Sozialreform, F I, S. 3, F I I , S. 4.
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Krankenversicherung und das Fürsorgewesen — bis 1958 eine Fülle von Fragen behandelt, zum großen Teil auch einvernehmlich geklärt 1 3 6 . Diese sachliche Vorklärung hat spätere Gesetzgebungen bis i n die 60er Jahre hinein befruchtet und erleichtert. Grundlegende Reformgedanken hat der Beirat hingegen nicht entwickelt; auch entstand aus seiner Arbeit kein einheitliches Konzept und schon gar kein Sozialplan. Von einer „umfassenden Sozialreform" sprach die Regierungserklärung bei Beginn der zweiten Legislaturperiode i m Oktober 1953. Die neue Regierung verwies auf die von der ersten Bundesregierung bereits eingeleiteten Vorarbeiten für die Durchführung einer Sozialreform und erklärte: „Die neue Bundesregierung w i r d diese Vorarbeiten energisch fördern und ein umfassendes Sozialprogramm vorlegen 1 3 7 ." Z u einem solchen umfassenden Sozialprogramm ist es nicht gekommen. Es erfolgte eine „Reduktion der Sozialreform auf eine Reform einzelner Sozialversicherungszweige, zunächst der gesetzlichen Rentenversicherung" 138 . Schon der Begriff „Sozialreform" war inhaltlich reduziert worden. I m Verständnis der Arbeiterbewegung meinte er ursprünglich sehr umfassend den Abbau von Macht und Herrschaft des Kapitals. I n den beiden letzten Jahrzehnten des Kaiserreiches war er m i t der Forderung nach Koalitionsfreiheit und Tariffähigkeit verbunden. I n der frühen Bundesrepublik konnte auch eine konservativ geführte Regierung den Begriff Sozialreform verwenden, w e i l er einerseits sozialistische sowie christlich-soziale Wunschvorstellungen emotional abdeckte, andererseits darunter konkret-politisch allgemein nur noch eine Sozialleistungsreform verstanden wurde. Hinsichtlich eines inhaltlichen Konzepts verließ sich die Regierung nicht auf den von ihr berufenen Beirat, sondern mobilisierte weiteren Sachverstand. Es entstanden 1954 auf Veranlassung des Bundesarbeitsministeriums das Bogs-Gutachten 139 und 1955 „auf Anregung des Herrn Bundeskanzlers" die Rothenfelser Denkschrift 1 4 0 . Doch ungeachtet aller Forderungen, Anregungen und Hilfen kam es nicht zu einem regierungsamtlichen Sozialprogramm. Die Diskussionen dieser Jahre verloren sich teils i m Grundsätzlichen — über Begriffe wie Subsidiarität, Versicherungsprinzip, Volksversicherung — und boten anderenteils, wo sie konkreter wurden, wenig politisch „Griffiges". 136
Zusammenstellung der Ergebnisse i n : Die Sozialreform, C. Bundesanzeiger 1953, Nr. 204, S. 3. 138 Erich Standfest, Sozialpolitik als Reformpolitik, WSI-Studie Nr. 39, K ö l n 1979, S. 30. 139 Walter Bogs, Grundfragen . . . ; das Manuskript lag den Ministerien u n d dem Beirat seit M i t t e 1954 vor. 137
140 Hans Achinger, Joseph Höffner, Hans Muthesius, L u d w i g Neundörfer, Neuordnung der sozialen Leistungen, K ö l n 1955.
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Ein politischer Handlungsbedarf aber staute sich an, und zwar nicht nur wegen der — vor allem von Wissenschaftlern und Publizisten empfundenen — Unübersichtlichkeit des Rechts und der — i n ihren praktischen Auswirkungen oft überschätzten — Rentenkumulation, sondern wegen des ungeachtet mehrerer Rentenerhöhungen i m Vergleich zu den Erwerbseinkommen niedrigen Rentenniveaus. Die Renten betrugen 28 - 32 v. H. der vergleichbaren Löhne und Gehälter 1 4 1 . Man empfand allgemein, daß die Rentner unzureichend am wirtschaftlichen Aufschwung beteiligt seien. Die i m A p r i l 1954 vom Bundesarbeitsminister dem Kabinett vorgelegten „Grundgedanken zur Gesamtreform der sozialen Leistungen" 1 4 2 bezogen sich weitgehend auf eine Reform der Rentenversicherung unter Betonung eines Funktionswandels der Altersrente von der Zuschuß-Rente zur Lebensstandard-Rente. Vom Erscheinen dieser Grundgedanken an konzentrierte sich die ReformDiskussion schnell auf die Rentenreform. Den politischen Handlungsbedarf erkannte Bundeskanzler Adenauer. Er veranlaßte i n den ersten Monaten des Jahres 1955 die Bildung eines Kabinettsausschusses („Sozialkabinett") unter seiner Leitung und die Errichtung eines beim Bundesarbeitsministerium verankerten Generalsekretariats für die Sozialreform, das personell neu ausgestattet wurde. Das Wirken dieses Generalsekretariats i m Zusammenhang m i t der damals laufenden Diskussion um die Sozialreform und der an i h r beteiligten Gruppen ist nachträglich so geschildert worden: „Eine vierte, maßgebliche Gruppe bildete schließlich das Bundesarbeitsministerium (Generalsekretariat für die Sozialreform), das nach längerer Verzögerungstaktik intensiv an pragmatischen (d.h. gesetzgeberisch umsetzbaren) Reformvorschlägen zu arbeiten begonnen hatte. (Anmerkung: I m Generalsekretariat arbeiteten ab 1954/55 unter K u r t Jantz unter anderem W. Haase, H. Hensen, D. Schewe und D. Zöllner.) Während also die drei erstgenannten Gruppen eine grundlegende, sozusagen axiomatische Neuordnung der sozialen Sicherung (wenn auch m i t unterschiedlichen Inhalten, Motiven und Tendenzen) anstrebten, knüpfte die vierte Gruppe sehr viel stärker — unter weitgehender Nichtberücksichtigung der Grundsatzdiskussion — an den aktuellen und dringendsten (oder für dringendst gehaltenen) Bedürfnissen an. Diese Auffassung kann aber nicht als pragmatisch' i m Sinne von theorie- und prinzipienlos bezeichnet werden. Dahinter schien m i r eher die Einsicht i n den Prozeßcharakter der Sozialpolitik zu stehen, i n ihre A b hängigkeit von gesellschaftlichen Entwicklungen und ,Sachnotwendigkeiten' 1 4 3 ." 141 H a r t m u t Hensen, Z u r Geschichte der Rentenfinanzen, i n : Sozialpolitik nach 1945, S. 138. 142 Abgedruckt i n : Die Sozialreform, Β I I I 1. 143 Standfest (Anm. 138), S. 29.
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Die Arbeit an konkreten Gesetzgebungsvorschlägen war eine notwendige, nicht aber auch hinreichende Voraussetzung für politische Entscheidungen; denn der Widerstand insbesondere des Finanzministers blieb stark. I n einer Sitzung des Sozialkabinetts i m Dezember 1955 gab Adenauer dem Verfasser des Schreiber-Plans Gelegenheit zum Vortrag 1 4 4 . Dieser Plan durchbrach i n kühner Weise gewohnte Denkweisen und schlug eine jährliche, automatische Anpassung der Renten an die Lohnentwicklung bei Anwendung des Umlage Verfahrens vor. Die Tatsache der Vorladung des bis dahin wenig bekannten Autors wurde als Politikum verstanden. Eine Vorlage des Generalsekretariats vom 27. 12. 1955 über die hauptsächlichen Entscheidungsalternativen wurde i n der ersten Januarwoche m i t Randnotizen des Kanzlers zurückgegeben; sie präjudizierte wesentliche Punkte der künftigen Reform. A m Rande der Passage über die Anpassung der Renten an die Lohn- und Gehaltsentwicklung fand sich ein „ja". Am. 13. 1. 1956 vergewisserte sich Adenauer der Zustimmung des Parteivorstandes der CDU, am 18. 1. und 17. 2. 1956 „setzte er demgemäß sein Meinungsbild i n Beschlüsse des Sozialkabinetts u m " 1 4 5 . Dies und das spätere Festhalten an dem Grundprinzip der dynamischen Rente gegen mächtige Widerstände ist ein persönliches Verdienst Konrad Adenauers. Denn es gab eine „geradezu panikartige Reaktion mächtiger Interessenverbände, die sogleich nach Schreibers Kabinettsvortrag den Widerstand zu organisieren begannen. I n der langen Phalanx der Gegner vor allem ,des dynamischen Leichtsinns der lohngekoppelten Rente' stand neben den renommierten Häuptern der neoliberalen Schule und der respektheischenden Bank Deutscher Länder fast das gesamte Wirtschaftslager — von den Versicherungsunternehmen und den Banken, durch deren Kassen bisher ein erheblicher Teil der Rentenversicherungskapitalien geflossen war, bis zu den Arbeitgeberverbänden" 1 4 6 . Die Motive Adenauers waren — ähnlich wie i m Falle Bismarck — nicht i m engeren Sinne sozialpolitisch, sondern eher allgemeinpolitisch. „Daß Adenauer die Rentenreform als ein Wahlkampf instrument plante und einsetzte, um den sozialen Anspruch seiner Partei zu manifestieren, ist gesichert. Die dynamische Rente — schon sprachlich eine A r t positiver Ergänzung zur Wahlparole ,Keine Experimente 4 — sollte sich materiell und psychologisch nicht nur auf die Alters- und Invaliditätsrentner auswirken, sondern auch eine Erwartungshaltung der noch i m 144 W i l f r i e d Schreiber, Existenzsicherheit i n der industriellen Gesellschaft, K ö l n 1955. 145 Hans Günter Hockerts, S. 366. Die A r b e i t ist grundlegend f ü r diesen Zeitabschnitt wegen umfangreicher Belegung aus Originalquellen u n d abgewogener Darstellung. 146 Hockerts, S. 367.
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Arbeitsleben Stehenden treffen, indem sie den ökonomischen A u f schwung i n die Phase des individuellen Lebensabends hinein zu verlängern versprach." Dem w i r d unter Bezugnahme auf Ausführungen des Kanzlers vor dem Parteivorstand der CDU i m Januar 1956 hinzugefügt: „ . . . es ist ebenfalls gesichert, daß Adenauer nicht allein den kurzfristigen Wahlkampfzweck i m Auge hatte. Unter den längerfristigen Zielen steht neben dem ,reformkonservativen 4 Wunsch, die bestehende Gesellschaftsordnung durch eine soziale Spannungen abbauende Anpassungsleistung i n Funktion zu halten, ein Aspekt, der i m Zusammenhang m i t einer langfristig angelegten Wiedervereinigungspolitik zu sehen ist: Die Bundesrepublik sollte ,attraktiv bleiben 4 für die ,Menschen i n der Zone' 1 4 7 ." Die politischen Ziele Adenauers wurden erreicht. Bei den Wahlen zum Dritten Bundestag 1957 erreichten die Unionsparteien erdrutschartige Zuwächse und gewannen die absolute Mehrheit. Meinungsforscher berichteten: „Bisher ist kein Beispiel dafür bekannt, daß irgendein Gesetz, eine Institution oder sogar Verfassung und Symbole des Staates eine auch nur annähernd so positive Resonanz gehabt haben wie die Rentenreform 1 4 8 ." bb) Inhalt der Neuregelungen Die vom Bundestag i m Februar 1957 verabschiedeten Rentenreformgesetze enthielten als Kernstück die Dynamisierung der Renten. Für die Rentenberechnung bedeutete dies konkret, daß nicht i n der Vergangenheit liegende Nominalwerte des Beitrags oder Lohns zugrunde gelegt werden, sondern Relativwerte. Die persönliche Bemessungsgrundlage des Versicherten errechnet sich als das Verhältnis, i n dem sein Arbeitsverdienst zum jeweiligen Durchschnittsverdienst gestanden hat. Der sich so i m Durchschnitt des Arbeitslebens ergebende Vomhundertsatz w i r d auf den gegenwärtigen Stand der Durchschnittslöhne (allgemeine Bemessungsgrundlage) bezogen und damit aktualisiert. Die bereits laufenden Renten werden jährlich an die Veränderungen der allgemeinen Bemessungsgrundlage angepaßt. Ob es für diese Dynamisierung Vorläufer i m Ausland gegeben hat, mag hier offen bleiben. Wenn es diese gegeben hat, so waren sie den Mitwirkenden nicht bekannt, so daß diese später ausführen konnten, „daß die Impulse für die Einführung der dynamischen Rente ausschließlich aus dem Inland kamen . . ." 1 4 9 . Hierfür spricht, daß ein systematischer Durchbruch bereits m i t dem Renten-Mehrbetragsgesetz vom 147
Hockerts, S. 370, 371. Bericht über Trendbeobachtungen des Instituts f ü r Demoskopie Allensbach, i n : Bundesarbeitsblatt 1960, S. 66. 149 Hensen (Anm. 141), S. 138. 148
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November 1954 erfolgt war. Die bis dahin durchgeführten Rentenerhöhungen hatten globale Erhöhungen gebracht, deren relativer Nutzen für Versicherte u m so größer war, je geringer und je zeitlich jünger ihre Beitragsvorleistung war. Benachteiligt waren Versicherte m i t höheren und länger zurückliegenden Vorleistungen. Dieses Problem ist recht früh — mindestens 1953 — erkannt worden. „Der Grund für derartige schematische Erhöhungen waren i m wesentlichen verwaltungstechnische Überlegungen 1 5 0 ." Das Renten-Mehrbetragsgesetz w a r es nun — wie ein seit 1955 an der Reform Mitwirkender ausführt, „das als erstes sozialpolitisches Nachkriegsgesetz aus der langfristigen Lohnentwicklung infolge wachsender Produktivität und dem zwangsläufigen Zurückbleiben statisch bemessener Renten hinter den steigenden Erwerbseinkommen Folgerungen zog. Es schrieb vor, daß die aus den Entgelten und Beiträgen der Versicherten abgeleiteten Steigerungsbeträge der Renten i n A b hängigkeit vom Zeitpunkt der Beitragsentrichtung den Gegenwartswerten anzupassen seien. Je rückwärtiger die Beitragsleistung lag, u m so höher w a r der gewährte Mehrbetrag, der die Rente angemessenen Gegenwartswerten annähern sollte" 1 5 1 . Neben der Dynamisierung der Renten und einer weitgehenden Rechtsbereinigung brachten die Reformgesetze von 1957 eine Reihe weiterer Neuregelungen. Die neue Berechnungsformel und der Wegfall von festen Rentenbestandteilen führten zu einer größeren Differenzierung der Renten nach Maßgabe der Versicherungsdauer und des individuellen, lebensdurchschnittlichen Arbeitsverdienstes. Es wurde erreicht, „daß die individuelle Situation des Arbeitnehmers während seines Arbeitslebens ihre entsprechende Fortsetzung während des Empfanges der Rente findet" 152. Der Versicherungsfall der Invalidität wurde unterteilt i n die Fälle Berufsunfähigkeit und Erwerbsunfähigkeit. Man hoffte, sich hiermit von der als ungut empfundenen „Alles oder Nichts"-Entscheidung bei der Rentengewährung lösen zu können. Die Sicherung i m Falle der vorzeitigen Invalidität wurde verbessert durch Einführung einer Zurechnungszeit bis zum 55. Lebensjahr. M i t dem Ziel einer Minderung der Invaliditätshäufigkeit wurden die Möglichkeiten zur Durchführung gesundheits- und berufsfördernder Maßnahmen erweitert und diese Lei150 K a r l - H e i n z Orda, I m Vorfeld der Rentenreform, i n : Sozialpolitik nach 1945, S. 101. 151
Hensen (Anm. 141), S. 139. 152 K u r t Jantz i n der E i n f ü h r u n g zu Jantz/Zweng, Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter u n d der Angestellten, Stuttgart 1957, S. 7. Näheres zur Entstehung u n d F o r t w i r k u n g des Dynamisierungsprinzips siehe auch bei K u r t Jantz, Die Rentendynamik 1957 als V o r b i l d i m Sozialleistungsrecht, i n : Sozialpolitik nach 1945, S. 109.
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stungen vom Status einer Kann- i n denjenigen einer Regelleistung erhoben. Dem Ziel einer Angleichung des Rechts der Arbeiter an . dasjenige der Angestellten dienten die Einführung der Altersgrenze 60 nach einjähriger Arbeitslosigkeit und die Einführung der unbedingten Witwenrente auch für Arbeiterwitwen, deren Ehemänner vor 1949 verstorben waren. Neu war die Einführung der Altersgrenze 60 für Frauen, die i n den letzten 20 Jahren überwiegend versicherungspflichtig beschäftigt waren. Endlich wurde auch das Finanzierungsverfahren geändert. A n die Stelle des AnwartschaftsdeckungsVerfahrens, dem man seit 1891 vergeblich zu entsprechen versucht hatte, trat das Abschnittsdeckungsverfahren, das praktisch darauf hinauslief, daß stets ein Vermögen i n Höhe einer Jahresausgabe vorhanden sein muß. Die erheblichen Rentenerhöhungen machten eine Beitragserhöhung von 11 auf 14 v. H. erforderlich, wobei gleichzeitig der Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung von 3 auf 2 v. H. gesenkt wurde. Der Bund erhöhte seine Zuschüsse, ohne daß jedoch der Anteil der Bundesmittel an den Gesamtausgaben der Rentenversicherung stieg. e) Weiterentwicklungen Auslaufen der Sozialreform
und (bis 1965)
Die während der zweiten Legislaturperiode des Bundestages geführte Reformdiskussion zentrierte so stark auf die Rentenreform, daß darüber einige parallel laufende Entwicklungen unter Gebühr beachtet wurden. Dazu gehörten i m Umfeld der Sozialversicherung die Einführung des Kindergeldes und die Modernisierung des Fürsorgerechts, innerhalb ihres eigenen Bereichs der Ausbau der sozialen Sicherung der Selbständigen und die Neuregelung des Rentenrechts der Vertriebenen. Auch ist zu erwähnen, daß am Ende der zweiten Legislaturperiode noch eine bedeutsame Verbesserung der wirtschaftlichen Sicherung der A r beiter i m Krankheitsfall verabschiedet wurde. aa) Kindergeld Seit Beginn der 50er Jahre gab es eine familienpolitische Diskussion, die von der sozialen Benachteiligung kinderreicher Familien ausging. Diese Diskussion mußte i n Deutschland neu begonnen werden, weil die allein bevölkerungspolitisch motivierten Maßnahmen des NS-Regimes (ab 1935 Kinderbeihilfen ab dem 5., später ab dem 3. Kind) 1945 eingestellt worden waren. Nach längerer Diskussion vor allem über Finanzierung und Trägerschaft erging 1954 das Kindergeldgesetz, das Erwerbstätigen ab dem 3. K i n d einen Anspruch auf Kindergeld einräumte. Als Träger wurden Familienausgleichskassen bei den Berufsgenossen10*
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Schäften errichtet; die Finanzierung erfolgte durch Beiträge der Unternehmer. Wegen zahlreicher Unzulänglichkeiten wurde das System 1964 grundlegend umgestellt. Die Finanzierung übernahm der Bund, die Durchführung eine bei der Bundesanstalt für Arbeit errichtete Kindergeldkasse. Seither erfolgten mehrfach Erhöhungen des Kindergeldbetrages. Seit 1961 besteht auch für das zweite Kind, seit 1975 für alle Kinder ein Anspruch. Die Höhe des Kindergeldes je K i n d steigt m i t deren Anzahl. bb) Sozialhilfe Die öffentliche Fürsorge hatte i n den ersten Nachkriegsjahren außerordentliche Belastungen zu tragen. Als m i t dem Ausbau der Sozialversicherung diese Belastungen relativ zurückgingen, setzte eine Diskussion über ihre Neuregelung ein, die belebt wurde durch ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes von 1954, nach dem ein Rechtsanspruch auf Fürsorge dem Grunde nach bestehe. Damit war eine Wende von der staatsinternen Bindung zum subjektiv-öffentlichen Recht vollzogen. Die Diskussion wurde i n die Reformbestrebungen eingebunden, indem der Beirat für die Neuordnung der sozialen Leistungen einen Ausschuß für Fürsorge-Fragen einsetzte. I n diesem Ausschuß wurden — lautlos, aber wirksam und konkret — die Grundlagen für das Bundessozialhilfegesetz von 1961 erarbeitet. Die Sozialhilfe erhielt die Aufgabe, dem Hilfesuchenden ein der Würde des Menschen entsprechendes Leben zu ermöglichen. A u f der Grundlage der Prinzipien der Nachrangigkeit und der Individualisierung wurde das Recht zusammengefaßt, modernisiert und erweitert. Über die evolutionären Elemente hinaus bleibt insbesondere die Erweiterung der Möglichkeiten für „Hilfen i n besonderen Lebenslagen" bemerkenswert, weil diese eine stärkere Betonung von Dienst- gegenüber Geldleistungen einleitete. Zur Milderung sozialer Härten i m Zusammenhang m i t dem Abbau der Wohnraum-Bewirtschaftung wurde 1960 ein von Bund und Ländern finanziertes Wohngeld eingeführt. cc) Altershilfe für Landwirte Die lebhafte Diskussion von Problemen der Alterssicherung hatte auch die selbständig Erwerbstätigen erfaßt. Allseitig setzte sich die Erkenntnis durch, daß für die Mehrzahl der Selbständigen das Arbeitseinkommen maßgeblich ist und das Kapitaleinkommen keine ausreichende Grundlage für eine Alterssicherung ist. I n der Landwirtschaft ergab sich zunehmend das Bedürfnis, einen über den naturalen Altenteilsanspruch hinausgehenden Ausgleich zwischen der alten und der jungen Generation zu schaffen. Die vorwiegend kleinbäuerlich geprägte Betriebsstruktur in der Bundesrepublik machte die Bargeldversorgung
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der alten Generation schwierig und hatte eine verzögerte Hofabgabe zur Folge. Dies wiederum stand dem damals sehr populären Ziel einer Verbesserung der Agrarstruktur entgegen. Die 1955 beginnenden Diskussionen um eine Alterssicherung für Landwirte gingen deshalb davon aus, daß eine Lösung gefunden werden müsse, die sozialpolitische Zielsetzungen m i t solchen der Strukturpolitik verbindet 1 5 3 . Das Gesetz über eine Altershilfe für Landwirte von 1957 brachte i n mehrfacher Hinsicht neuartige Lösungen: Die Gewährung eines Altersgeldes war an die Voraussetzung der Hofabgabe geknüpft (Übergabe an den Erben, Entäußerung, Verpachtung). Dies hatte bald eine Beschleunigung der Hofabgabe und eine deutliche Senkung des Durchschnittsalters der Betriebsinhaber zur Folge. U m diesen, aber auch den gewünschten sozialpolitischen Effekt zu erreichen, wurde m i t Inkrafttreten des Gesetzes die gesamte „alte Last" i n die Leistungsberechtigung einbezogen; für ältere Landwirte genügte der Nachweis einer Tätigkeit als landwirtschaftlicher Unternehmer an Stelle der für die Zukunft erforderlichen Beitragsentrichtung. Sie wurden behandelt, als ob sie früher Beiträge entrichtet hätten. Als Träger wurden bei den landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften landwirtschaftliche Alterskassen errichtet. Die Finanzierung der Altershilfe erfolgte durch Beiträge der landwirtschaftlichen Unternehmer, die später aus strukturellen Gründen und wegen agrarpolitischer Zielsetzungen in zunehmendem Umfang durch Bundesmittel ergänzt wurden. Die Altershilfe für Landwirte m i t ihren neuartigen Konstruktionselementen hat sich bewährt und ist seither durch eine Reihe von Änderungsgesetzen erheblich ausgebaut worden 1 5 4 . — Das Altersgeld wurde mehrfach erhöht und ist seit 1975 dynamisiert nach Maßgabe des Anstiegs der Arbeitnehmerrenten. — Einführung eines vorzeitigen Altersgeldes bei Erwerbsunfähigkeit (1963). — Einführung von Maßnahmen zur Erhaltung und Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit (1965); an Stelle des während dieser Maßnahmen zu gewährenden Ersatzgeldes kann eine Ersatzkraft gestellt werden.
153 Beschluß des Vorstandes der Agrarsozialen Gesellschaft, i n : Soziale Sicherheit f ü r das Landvolk, Heft 15 der Schriftenreihe f ü r ländliche Sozialfragen, Hannover 1956, S. 138. 154 Heinz Frehsee, Detlev Zöllner, Die E n t w i c k l u n g der Agrarsozialpolitik, i n : Sozialpolitik nach 1945, S. 263.
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— Einführung einer zusätzlichen Landabgaberente für Inhaber von Kleinstbetrieben, weil hier Ubergabeerlös und Altersgeld der Zielsetzung nicht adäquat erschienen (1969). — Staffelung der Höhe des ursprünglich einheitlichen Altersgeldes nach Maßgabe der Beitrags-Zahlungsdauer (ab 1974). dd) Handwerkerversicherungsgesetz Die 1938 eingeführte Handwerkerversicherung befriedigte in Durchführung und Ergebnis nicht. Einerseits waren Erfassung und Beitragsentrichtung der Handwerker unvollständig, andererseits verlangten Angestelltenorganisationen eine Trennung der organisatorischen Durchführung von der Angestelltenversicherung, weil diese durch die Handwerksversicherung unzumutbar belastet sei. Ein Änderungsgesetz von 1956 schrieb zur Klärung der Finanzlage eine getrennte Einnahmenund Ausgabenrechnung sowie gesonderte Beitragsmarken für die Handwerkerversicherung vor. Eine grundlegende Neuregelung erfolgte durch das Handwerkerversicherungsgesetz von 1960; es beseitigte die Wahlmöglichkeit zwischen Sozial- und Privatversicherung, begrenzte andererseits die Versicherungspflicht für alle Handwerker auf 18 Jahre. Ähnlich wie bei den Landwirten beschränkte sich der Gesetzgeber auch bei den Handwerkern auf die Gewährleistung einer Grundsicherung. Die Durchführung der Handwerkerversicherung wurde auf die Rentenversicherung der Arbeiter überführt. ee) Fremdrenten Die Verbesserungen der Rentenreform von 1957 ließen um so schärfer die Mängel des auf dem Entschädigungsprinzip beruhenden Rentenrechts für Vertriebene hervortreten. Die Bezugnahme des Entschädigungsprinzips auf das Recht und die wirtschaftlichen Verhältnisse des Herkunftslandes führten zu schwer verständlichen Unterschieden i m Vergleich zu einheimischen Versicherten, aber auch der Vertriebenen untereinander. A n die Stelle des Entschädigungsprinzips setzte das Fremdrentenund Auslandsrenten-Neuregelungsgesetz von 1960 das Eingliederungsprinzip. Dieses beruhte auf dem ebenso kühnen wie einfachen und hilfreichen Grundgedanken, den Rentner aus Vertreibungsgebieten so zu behandeln, als ob er sein gesamtes Arbeitsleben i m Gebiet der Bundesrepublik verbracht hätte. Beitragszeiten bei einem nicht-deutschen Versicherungsträger stehen den nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleich; eine Beschäftigung i m Ausland steht einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung i m Bundesgebiet gleich, wenn sie hier Versicherungspflicht begründet hätte. Der Berechnung werden die für die jeweilige Beschäftigung i m Bundes-
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gebiet gezahlten Entgelte zugrunde gelegt. Damit waren Eingliederung und Gleichbehandlung der Vertriebenen i n bezug auf die Alterssicherung schlagartig erreicht. Die verwaltungsmäßige Durchführung wurde dadurch erleichtert, daß die Beschaffung von Versicherungsunterlagen aus den unzugänglichen Herkunftsländern nicht mehr allein ausschlaggebend war, sondern es für die Feststellung der erheblichen Tatsachen (des Arbeitslebens) genügt, wenn sie glaubhaft gemacht sind. ff) Andere Prioritäten Nach dem durch die Rentenreform mitbedingten hohen Wahlsieg i m Herbst 1957 erklärte der wiedergewählte Bundeskanzler Adenauer i n seiner Regierungserklärung vom 29. Oktober 1957: „Die Sozialreform w i r d fortgeführt werden. I n erster Linie w i r d neben der Korrektur etwa zutage tretender Mängel i n der bisherigen Gesetzgebung eine Neuordnung der Krankenversicherung und der Unfallversicherung i n Frage kommen." Doch die Regierungserklärung ließ auch die nach dem politischen und finanziellen Kraftakt der Rentenreform gewandelte Stimmung deutlich erkennen. „Die Sozialreform w i r d sich jedoch nicht i n . . . dem Ausbau solidarischer Sicherungseinrichtungen erschöpfen können. . . . Die Bundesregierung ist entschlossen, den Gedanken der Selbsthilfe und privaten Initiative i n jeder Weise zu fördern und das Abgleiten i n einen totalen Versorgungsstaat . . . zu verhindern 1 5 5 ." Diese neue Zielrichtung war i m Schwerpunkt auf die Krankenversicherung gerichtet. Sie hinderte — wie gezeigt — jedenfalls nicht die Neuordnung der Sozialhilfe, der Handwerkerversicherung, des Fremdrentenrechts und den Ausbau der landwirtschaftlichen Altershilfe nach der Rentenreform und auf deren Bahnen. Gleiches gilt auch für die Unfallversicherung, die i n der Tat wenig Ansatzpunkte für Selbsthilfe und private Initiative bot. gg) Unfallversicherungsneuregelungsgesetz Die Bundesregierung hatte noch dem 2. Bundestag einen Gesetzentw u r f zur Neuregelung der Unfallversicherung vorgelegt, der aus Zeitmangel nicht mehr verabschiedet wurde. Eine erneute, überarbeitete Vorlage an den 3. Bundestag wurde ebenfalls nicht verabschiedet; offenbar wurde kein dringendes Reformbedürfnis empfunden. Notwendig erscheinende Leistungsverbesserungen wurden durch „Vorschaltgesetze" (1957 und 1960) bewirkt. Erst 1963 wurde das Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz verabschiedet. Neben einer Modernisierung und Systematisierung des Rechts brachte es als Neuerung eine stärkere Betonung der Unfallverhütung, erweiterte Möglichkeiten der Heil155
Die Sozialreform, Β I I 4, S. 13.
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behandlung und Berufshilfe sowie der Entschädigung von Berufskrankheiten und schließlich eine Regelung zur Anpassung laufender Leistungen an die Lohnentwicklung ähnlich wie i n der Rentenversicherung. Die Bundesregierung hat seither regelmäßig einen Unfallverhütungsbericht vorzulegen. hh) Reform der Krankenversicherung Bei den Bemühungen zur Reform der Krankenversicherung schlug sich die i n der Regierungserklärung von 1957 formulierte Zielrichtung alsbald nieder. E i n 1959 vorgelegter Regierungsentwurf zur Neuordnung der Krankenversicherung sah unter anderem den Übergang zur Vergütung der Ärzte nach Einzelleistung und eine damit verbundene Selbstbeteiligung des Patienten an jeder ärztlichen Leistung vor. Damit sollten die Versicherten motiviert werden, ärztliche Leistungen nicht leichtfertig i n Anspruch zu nehmen; ärztliche Leistungen sollten von leichten auf schwere, langdauernde Krankheitsfälle verlagert, die Krankenversicherung von Bagatellfällen entlastet werden. Dieses Vorhaben stieß innerhalb des Bundestages auf die Ablehnung der SPD-Fraktion und — wichtiger noch für sein Schicksal — außerhalb des Bundestages auf diejenige der Gewerkschaften und der ärztlichen Organisationen. Die ersteren wandten sich gegen die Einschränkung der gesundheitlichen Betreuung, die Ärzte i n der öffentlichen Darstellung gegen die ihnen zugedachte „Inkasso-Funktion". Die K r a f t innerhalb der Regierungsmehrheit des Bundestages reichte nicht aus, u m sich gegenüber dieser ungewöhnlichen Koalition durchzusetzen. Der Entwurf blieb bis zum Ende der Legislaturperiode (1961) unerledigt. Die Regierung blieb jedoch unverdrossen. I n der Regierungserklärung vom 29. 11. 1961 betonte sie, daß Sozialpolitik nicht Selbstzweck sein dürfe, und daß sie Bedacht darauf nehmen werde, die Eigenverantwortung des Menschen zu stärken. „Die Sozialreform w i r d fortgeführt, das ist selbstverständlich. Die Bundesregierung w i r d Entwürfe für die Reform der Krankenversicherung und der Unfallversicherung, die diesen Grundsätzen entsprechen, vorlegen 1 5 6 ." Dies geschah 1962 m i t einem i m K e r n unveränderten Krankenversicherungsentwurf, der lediglich eine andere Form der Selbstbeteiligung vorsah. Zur Erleichterung seiner politischen Durchsetzbarkeit w a r dieser Entwurf i n ein „Sozialpaket" verschnürt, das außerdem die volle Lohnfortzahlung für Arbeiter i m Krankheitsfall durch den Arbeitgeber und ferner die Verlagerung der Kosten für das Kindergeld von den Arbeitgebern auf den Bund vorsah. 156
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Die Widerstände von SPD, Gewerkschaften und Ärzten gegen die Selbstbeteiligung und von Arbeitgebern gegen die Lohnfortzahlung waren so groß, daß eine Beschlußfassung wiederum nicht zustande kam. I m Oktober 1963 nahm der neue Bundeskanzler, L u d w i g Erhard, die Intentionen der Regierung deutlich zurück. I n seiner Regierungserklärung bezeichnete er eine gründliche Durchleuchtung der Sozialgesetzgebung als unabdingbar und kündigte die Durchführung einer SozialEnquête an. Der Begriff „Sozialreform" kam nicht mehr vor. Dies wurde allgemein als Absicht und Aufforderung zu einer „Denkpause" verstanden. Der Bundestag reagierte, indem er i m A p r i l 1964 eine Verbesserung des Kindergeldes und dessen Finanzierung durch den Bund beschloß. Die umstrittenen Teile des Sozialpakets blieben unerledigt. I n der vierten Legislaturperiode wurde 1965 ohne nennenswerte öffentliche Beteiligung noch ein Rentenversicherungs-Änderungsgesetz verabschiedet, das bei erheblicher Komplizierung des Rechts eine Reihe von Härten und Unzulänglichkeiten milderte, die nach der Rentenreform aufgetreten und i n einem Bericht der Bundesregierung zusammengestellt worden waren („Härte"-Novelle). f) ökonomisierung
und Anpassung (1966 - 1969)
I m Jahre 1966 trat eine Rezession ein, die das wirtschaftliche Wachstum fast auf N u l l reduzierte und die Zahl der Arbeitslosen sprunghaft ansteigen ließ. Dieser Einbruch war für die Bundesrepublik eine neue Erfahrung m i t weitreichenden psychologischen und politischen W i r kungen. A m Ende des Jahres wurde eine große Koalition zwischen CDU/ CSU und SPD gebildet. I n bezug auf die Sozialpolitik bestand die Notwendigkeit, den Rezessionsfolgen zu begegnen. Ein Geist der Ernüchterung, ein Bedürfnis nach Rationalität trat auch politisch zutage. I n der sozialpolitischen Fachdiskussion hatte sich bereits früher eine Schwerpunktverlagerung ergeben, die man als „ökonomisierung" bezeichnen kann. Sie war ausgelöst worden allgemein durch das zunehmende Finanzvolumen, das durch die Träger der sozialen Sicherung umverteilt wurde, und i m besonderen durch die stark ökonomisch geprägte Diskussion um die Rentendynamisierung. I n den Jahren 1955 1957 erschienen eine Reihe bahnbrechender Arbeiten zur sozialen Sicherung aus volkswirtschaftlicher Feder 1 5 7 . Bald darauf erschien eine „ ö k o nomische Theorie der Sozialpolitik", die m i t den Worten eingeleitet 157 So insbesondere: H a r t m u t Hensen, Die Finanzen der sozialen Sicherung i m Kreislauf der Wirtschaft, K i e l 1955; W i l f r i e d Schreiber, Existenzsicherheit i n der industriellen Gesellschaft, K ö l n 1955; Horst Jecht, ökonomische Probleme der Produktivitätsrente, Stuttgart 1956; W i l h e l m H a n k e l u. Gerhard Zweig, Die Alterssicherung i n der sozialen Marktwirtschaft, Ordo 1957, S. 157.
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wurde: „Die Sozialpolitik ist eine Politik der Einkommensumverteilung geworden 1 5 8 ." Es wurde der Versuch unternommen, den säkularen A n stieg der Sozialleistungsquote — auch international — durch das W i r ken sozio-ökonomischer Determinanten zu erklären 1 5 9 . Auch der 1966 vorgelegte Bericht der Sozialenquête-Kommission war stark ökonomisch geprägt. Er analysierte erstmals auch die Krankenversicherung mit ökonomischer Methodik und machte konkretere Vorschläge für die Aufstellung eines umfassenden und mittelfristig vorausgerechneten Sozialbudget 160 . Die Vorarbeiten hierfür wurden alsbald aufgenommen; Anfang 1969 wurde das erste Sozialbudget veröffentlicht und dem Bundestag zugeleitet 1 6 1 . Deutlich weiter als das offizielle Sozialbudget ging eine 1968 eingeleitete Gemeinschaftsarbeit „Sozialbudget — Sozialplanung". Hier w u r de eine 10-Jahres-Vorausrechnung nicht auf Grund des geltenden Rechts, sondern auf Grund einer eigens erarbeiteten, rational durchkonstruierten — aber politische Optionen offen lassenden — sozialpolitischen Konzeption erstellt. Abgesehen von ihrem originären methodischen Ansatz zeigte diese Arbeit, daß die Sozialleistungsquote vor allem wegen demographischer Gegebenheiten zwar ansteigen, nicht aber ins Untragbare sich entwickeln werde 1 6 2 . Die 1964 regierungsamtlich eingeleitete Denk- und Handlungspause ging unmittelbar i n die wirtschaftliche Rezession über. Die durch sie bedingten Mindereinnahmen an Steuern und Beiträgen zwangen zu Konsolidierungsmaßnahmen, insbesondere des Bundeshaushalts. 1967 (Finanzänderungsgesetz) wurden die Bundeszuschüsse zur Rentenversicherung reduziert und zugleich der Beitragssatz stufenweise erhöht (1968 15o/o, 1969 16%, 1970 17%); eine kräftige Beitragserhöhung wäre allerdings wegen der bis Mitte der 70er Jahre ansteigenden Altersquote ohnehin nötig geworden. Ein Krankenversicherungsbeitrag der Rentner i n Höhe von 2·°/ο wurde 1970 wieder beseitigt. 158 Elisabeth L i e f m a n n - K e i l , ökonomische Theorie der Sozialpolitik, B e r l i n 1961, S. 1. 159 Detlev Zöllner, Öffentliche Sozialleistungen u n d wirtschaftliche E n t wicklung, B e r l i n 1963. ιβο Walter Bogs, Hans Achinger, H e l m u t Meinhold, L u d w i g Neundörfer, W i l f r i e d Schreiber, Soziale Sicherung i n der Bundesrepublik Deutschland. Bericht der Sozialenquête-Kommission, Stuttgart u. a., 1966; der Begriff Sozialbudget geht auf Mackenroth zurück, vgl. A n m . 132. 161 Sozialbudget 1968, Bundestagsdrucksache V/4160. Näheres zur Entsteh u n g u n d Methodik vgl. Hermann Berié, Das Sozialbudget, Bonn - B a d Godesberg 1970. 162 Sozialbudget — Sozialplanung. Gutachten eines Arbeitskreises der Gesellschaft f ü r sozialen Fortschritt, B e r l i n 1971. Die — auch geistige — L e i t u n g des Arbeitskreises hatte W i l l i Albers.
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Zwar auch durch finanziellen Druck ausgelöst, aber doch länger gehegten sozialpolitischen Wunschvorstellungen entsprechend waren zwei weitere Maßnahmen: der Fortfall der Versicherungspflichtgrenze für Angestellte und der Fortfall einer Beitragserstattung an Frauen bei Heirat. Ein weiteres Änderungsgesetz am Ende der Legislaturperiode (1969) diente der längerfristigen Sicherung der Rentenfinanzen. Eine solche Sicherung schien veranlaßt durch die Erfahrungen der Rezession, aber auch ermöglicht durch den 1968 beginnenden, 1969 bereits deutlich sich niederschlagenden wirtschaftlichen Aufschwung. Das Finanzierungsverfahren wurde noch mehr dem Umlageverfahren angenähert; die Regierung hat jährlich eine jeweils 15 Jahre umfassende Vorausrechnung der Rentenfinanzen vorzulegen; die Mindestrücklage beträgt drei Monatsausgaben. Der Beitragssatz beträgt ab 1972 18 v. H. Bei dieser Gelegenheit wurde auch das seit langem bestehende Problem der ungleichen Finanzentwicklung zwischen den verschiedenen Rentenversicherungsträgern endgültig gelöst. Unter den Trägern der Arbeiterrentenversicherung fand bereits früher (erstmals 1899) ein sog. Gemeinlastverfahren statt, um die regionalen Unterschiede in dem Verhältnis zwischen Beitragszahlern und Leistungsberechtigten a b zugleichen. Weil i n das Gemeinlastverfahren nicht alle Ausgaben eingingen, entwickelten sich die Rücklagen der einzelnen Träger weiterhin unterschiedlich; deshalb wurde 1969 zusätzlich ein Defizitverteilungsverfahren eingeführt. Zwischen den organisatorisch getrennten Rentenversicherungen der Arbeiter und der Angestellten besteht seit 1969 ein weitgehender Finanzausgleich. Dieser wurde erforderlich, w e i l die Zahl der Angestellten i m Gegensatz zu derjenigen der Arbeiter stark zunimmt m i t der Folge, daß das Verhältnis zwischen Beitragszahlern und Rentnern i n der Angestelltenversicherung sehr viel günstiger ist als i n der Arbeiterrentenversicherung. U m die bei gleichen Leistungen und finanzieller Unabhängigkeit erforderliche Konsequenz unterschiedlicher Beitragssätze zu vermeiden, wurde zunächst (1964) ein Ausgleich über entsprechende Verteilung des Bundeszuschusses gesucht. Seit 1969 sind unmittelbare Ausgleichszahlungen zu leisten, wenn das Vermögen eines Versicherungszweiges ein bestimmtes Verhältnis zu den Ausgaben unterschreitet und dasjenige des anderen Versicherungszweiges einen bestimmten Verhältniswert überschreitet. Ferner wurde eine gegenseitige Liquiditätshilfe vorgeschrieben. Der geschilderte finanzielle Verbund läßt die institutionelle Differenzierung unberührt, ermöglicht aber die Nutzung von Vorteilen einer zentralen Organisation. Sie ermöglicht insbesondere ein Auffangen der
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Wirkungen wirtschaftsstruktureller Änderungen und demographischer Verschiedenheiten. Er ist insofern eine Voraussetzung für die Aufrechterhaltung der organisatorischen Gliederung. Was hier 1969 für den Bereich der Rentenversicherung geregelt wurde, w i r d zur Zeit als Problem auch für den Bereich der Krankenversicherung diskutiert. Die Große Koalition verabschiedete nach Uberwindung der Rezession 1969 noch zwei weitere wichtige sozialpolitische Gesetze: das Arbeitsförderungsgesetz und das Lohnfortzahlungsgesetz für Arbeiter. Hinsichtlich der Lohnfortzahlung richteten sich die Forderungen der Arbeiterschaft auf Gleichstellung m i t den Angestellten, die i m Krankheitsfall einen Anspruch auf Gehaltsfortzahlung für 6 Wochen hatten. Ein wichtiger Schritt i n dieser Richtung war noch i n der zweiten Legislaturperiode erfolgt. Das Lohnfortzahlungsgesetz 1957 erhöhte das Krankengeld für die ersten 6 Wochen von (in der Regel) 50 auf 65 v. H. (mit Zuschlägen für Angehörige bis 75 v. H.) des Arbeitsentgelts und verpflichtete den Arbeitgeber, den Unterschiedsbetrag zwischen Krankengeld und 90 v. H. des Nettoarbeitsentgelts zu zahlen. Dieser Prozentsatz wurde 1961 auf 100 erhöht. Die volle Gleichstellung der Arbeiter m i t den Angestellten brachte nun das Lohnfortzahlungsgesetz 1969, das dem Arbeiter einen Rechtsanspruch gegen seinen Arbeitgeber auf Fortzahlung des Arbeitsentgelts bis zur Dauer von 6 Wochen einräumte. U m das dadurch entstehende finanzielle Risiko für Kleinbetriebe zu verteilen, wurde für Betriebe mit weniger als 20 Beschäftigten ein durch Umlagebeiträge gespeister Ausgleichsfonds errichtet. Die Arbeitslosenversicherung hatte i n der Zeit rückläufiger Arbeitslosigkeit und der anschließenden Vollbeschäftigung nicht viel öffentliche Aufmerksamkeit erfordert. Trotz mehrfacher Verbesserung der Geldleistungen konnte der Beitragssatz von ursprünglich 6,5 auf 4,0 (1949), 3,0 (1955) und schließlich 2,0 v. H. (1957) herabgesetzt werden. Ein Änderungs- und Ergänzungsgesetz von 1956 brachte eine sachliche und formelle Vereinheitlichung des Rechtsstoffes, ohne jedoch inhaltlich die Grundlagen des nun fast 30 Jahre alten Gesetzes zu verlassen. 1959 wurden m i t Blick auf die saisonale Arbeitslosigkeit i m Baugewerbe das Schlechtwettergeld und Maßnahmen zur Förderung des Winterbaus eingeführt. Die Rezession 1966/67 hatte mit Bezug auf die Arbeitsverwaltung ein neues Problembewußtsein zur Folge. Es setzte sich die Erkenntnis durch, daß diese nicht nur die Aufgabe habe, Folgen einer Arbeitslosigkeit zu mildern, sondern mehr als bisher vorsorgende Aufgaben wahrnehmen müsse. A u f diesem Grundgedanken basierte ein Ende 1967 vorgelegter Entwurf, der 1969 zur Verabschiedung des Arbeitsförderungsgesetzes führte. Es setzte der umbenannten „Bundesanstalt für Arbeit"
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das Ziel, einen hohen Beschäftigungsgrad zu erhalten, die Beschäftigungsstruktur zu verbessern und das Wachstum der Wirtschaft zu fördern. Das dafür nötige Instrumentarium — Berufsberatung, Arbeitsvermittlung, Förderung der beruflichen Bildung, Förderung der A r beitsaufnahme, Forschung und Information — wurde erheblich erweitert. Dadurch ist die Bundesanstalt seither zu einer modernen Dienstleistungsverwaltung geworden, die über ihre traditionellen Sicherungsaufgaben hinaus Aufgaben der aktiven Arbeitsmarktbeeinflussung wahrnimmt. Diese konzeptionelle Neuorientierung hat sich i n der seit 1974 schwierigen Arbeitsmarktsituation vielfach bewährt 1 0 3 . Diese schwierige Wirtschaftslage führte 1974 auch zur Einführung einer neuartigen Leistung, des Konkursausfallgeldes, das die Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers als Lohnersatz erhalten. g) Weiterentwicklungen
1970 - 1975
Die Bildung einer von der SPD geführten Bundesregierung — „sozialliberale Koalition" — nach den Bundestagswahlen i m Herbst 1969 löste innenpolitisch Empfindungen, Wunschvorstellungen und Aktivitäten aus, die später als „Reformeuphorie" bezeichnet wurden. Nach der voraufgegangenen Phase der Ökonomisierung und der Anpassungsmaßnahmen an die Rezessionsfolgen entstand eine Erwartungshaltung auf die Umsetzung traditioneller sozialdemokratischer Zielsetzungen, die um so mehr gerechtfertigt erschien, als die wirtschaftlichen Voraussetzungen infolge des Aufschwungs gut waren. Diese Zielsetzungen verbanden sich m i t Begriffen wie: Sozialplanung, gestaltende und präventive Sozialpolitik, umfassende soziale Sicherung für alle. Die neue Regierung konkretisierte ihre Absichten nicht nur in der Regierungserklärung (Oktober 1969), sondern auch i n dem wenig später (April 1970) vorgelegten „Sozialbericht 1970", der neben einem ausgebauten und um eine funktionale Gliederung erweiterten Sozialbudget auch eine zusammenfassende Darstellung von Problemen und Aufgaben der Sozialpolitik enthielt. Der Bericht geht „von der Notwendigkeit innerer Reformen aus und versucht aufzuzeigen, wo sich für eine Weiterentwicklung der Sozialpolitik neue Ansätze und Möglichkeiten ergeben" 164 . Der hier benutzte — und später oft wiederholte — Begriff „Weiterentwicklung" wollte einerseits der erwähnten Erwartungshaltung Rechnung tragen; er beinhaltete andererseits aber auch die Absicht, auf der Grundlage des Bestehenden weiter —, nicht auf andere Grundlagen h i n 163 Der Beitragssatz lag ab 1961 unter 2 v. H.; er mußte 1975 auf 2,0 u n d 1976 auf 3,0 v. H. erhöht werden. 164 Sozialbericht 1970, S. 3.
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neu zu entwickeln. Doch man hielt sich m i t begrifflichen Klärungen nicht lange auf; die Weiterentwicklung wurde schnell konkret. Sie erfaßte die Inangriffnahme eines Sozialgesetzbuches sowie quantitative und qualitative Erweiterungen in allen Zweigen der Sozialversicherung. Diese sogleich näher zu schildernden Vorgänge waren jedoch nur ein Ausschnitt aus einer Skala weit angelegter Aktivitäten. Die Bundesregierung berief i m Jahre 1970 4 Kommissionen: Die Kommission für wirtschaftlichen und sozialen Wandel, die 1976 ein abschließendes Gutachten vorlegte 1 6 5 , sowie Sachverständigenkommissionen zur Vorbereitung eines Arbeitsgesetzbuches, für ein Sozialgesetzbuch und zur Weiterentwicklung der sozialen Krankenversicherung. Ein Aktionsprogramm Rehabilitation vom A p r i l 1970 leitete insbesondere eine Erweiterung institutioneller Kapazitäten i n diesem Bereich ein. I m gleichen Jahr wurden Gesetzentwürfe vorgelegt zur Erhöhung des Kindergeldes (verabschiedet 1970), zur Dynamisierung der Kriegsopferrenten (verabschiedet 1970), zur Erweiterung und Vereinheitlichung der Ausbildungsförderung (verabschiedet 1971), zur Ausweitung und Erhöhung des Wohngeldes (verabschiedet 1970) und zur Neuregelung der Betriebsverfassung, die 1972 i n K r a f t trat. Auch auf europäischer Ebene wurde Weiterentwicklung gesucht. Bis 1969 war die deutsche Haltung i n sozialpolitischen Fragen unter Hinweis auf die eng begrenzten Kompetenzen der EG-Organe restriktiv gewesen. Die Diskussion hatte sich über viele Jahre hin an dem Problem der „Harmonisierung" verstrickt. Hierzu hieß es nun: „Die Bundesregierung ist der Meinung, daß eine Harmonisierung i m Bereich der Sozialpolitik um jeden Preis für die europäische Integration ebenso nachteilig wäre wie das unbedingte Beharren auf den historisch gewachsenen vielfältigen Formen der sozialen Systeme." A u f deutsche Initiative h i n beschloß der Rat der Europäischen Gemeinschaften i m November 1970, zu klären, „welche gemeinsamen Ziele i n Zukunft m i t den i m einzelnen unterschiedlich bleibenden Systemen der sechs Mitgliedstaaten anzustreben wären" 1 6 6 . Innenpolitisch nahmen i m Bereich der Sozialversicherung die eingesetzten Kommissionen ihre Arbeit zügig auf. Die i m Mai 1970 eingesetzte Sachverständigenkommission für ein Sozialgesetzbuch hatte die Aufgabe, die Bundesregierung bei der Erarbeitung eines Entwurfs für 165 Wirtschaftlicher u n d sozialer Wandel i n der Bundesrepublik Deutschland, veröffentlicht v o m Bundesminister f ü r A r b e i t u n d Sozialordnung, Bonn 1976. 168 Sozialbericht 1971, S. 42; vgl. i m übrigen Detlev Zöllner, Formen internationaler Zusammenarbeit i n der sozialen Sicherung, Bundesarbeitsblatt 1971, S. 229; vgl. auch Entschließung des Rates der EG v o m 21. 1. 74 über ein sozialpolitisches Aktionsprogramm.
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ein Sozialgesetzbuch zu unterstützen. Damit war ein Vorhaben in A n griff genommen, das erstmals i m Godesberger Programm der SPD von 1959, dann auch i n der Regierungserklärung von 1969 angesprochen worden war. Die Kodifizierung des Sozialrechts i n einem Sozialgesetzbuch war vor allem auf die Ziele Transparenz und Vereinfachung gerichtet. Regierung und Sachverständigenkommission waren sich darin einig, daß ein solches Ziel nur stufenweise erreicht werden könne. Man nahm zunächst einen „Allgemeinen Teil" des Sozialgesetzbuches in A n griff, der i m Frühjahr 1972 als Regierungsentwurf vorgelegt wurde 1 6 7 . Die Verabschiedung erfolgte allerdings erst durch den folgenden Bundestag i m Jahre 1975. Ein Jahr später wurde als zweite Stufe das Sozialgesetzbuch — Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung — verabschiedet. Weitere Stufen — Verwaltungsverfahren und Jugendhilfe — liegen den gesetzgebenden Körperschaften zur Zeit vor. Auch die Arbeiten der i m A p r i l 1970 berufenen Sachverständigenkommission zur Weiterentwicklung der sozialen Krankenversicherung führten recht bald zu konkreten Ergebnissen, die sich auch i n Gesetzesänderungen niederschlugen. Die Weiterentwicklung der Krankenversicherung wurde dadurch begünstigt, daß die Einführung der arbeitsrechtlichen Lohnfortzahlung ab Anfang 1970 zu einer erheblichen finanziellen Entlastung der Krankenversicherung geführt hatte. Ein Weiterentwicklungsgesetz vom Dezember 1970 ermöglichte allen Angestellten den freiwilligen Beitritt zur gesetzlichen Krankenversicherung. Die Versicherungspflichtgrenze wurde dynamisiert i n Höhe von 75 v. H. der jeweiligen Beitragsbemessungsgrenze i n der Rentenversicherung. Freiwillig versicherten Angestellten wurde ein Anspruch gegen den Arbeitgeber auf einen Zuschuß zu ihrem Krankenversicherungsbeitrag eingeräumt. Dieses Gesetz führte weiter als neue Leistungsart der Krankenkassen Maßnahmen zur Früherkennung von Krankheiten ein. Über die seit 1923 zulässigen Kann-Leistungen zur Vorbeugung von Erkrankungen hinaus erhielten Versicherte nun unter bestimmten Bedingungen einen Rechtsanspruch auf Früherkennungsuntersuchungen. Hier wurde eine Wende i m Verständnis der Krankenversicherung in Richtung auf eine Gesundheitssicherung deutlich. Durch ein Gesetz über die Krankenversicherung der Landwirte w u r den 1972 auch die Selbständigen, mitarbeitenden Familienangehörigen sowie die Bezieher von Altersgeld i n die Krankenversicherung einbezogen. Dieser Personenkreis erhält kein Krankengeld, wohl aber unter bestimmten Voraussetzungen für die Weiterführung des Betriebes eine 167 Hans F. Zacher (während der ersten Jahre Vorsitzender der Sachverständigenkommission f ü r ein Sozialgesetzbuch), Das Vorhaben des Sozialgesetzbuchs, Percha 1973.
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Ersatzkraft. Die landwirtschaftlichen Krankenkassen wurden — wie vorher schon die Alterskassen — bei den landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften errichtet. Ein Leistungsverbesserungsgesetz vom Dezember 1973 räumte Versicherten unter bestimmten Bedingungen einen Anspruch auf Haushaltshilfe bei Krankenhausaufenthalt sowie auf Arbeitsfreistellung und Krankengeld bei Erkrankung eines Kindes ein. Die zeitliche Begrenzung der Krankenhauspflege fiel weg. Schließlich wurden m i t Gesetz vom Juni 1975 alle Studenten in die gesetzliche Krankenversicherung einbezogen und m i t einem Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetz vom August 1975 als „sonstige Hilfen" ärztliche Beratung zur Empfängnisregelung, Leistungen bei Sterilisation und Schwangerschaftsabbruch eingeführt. Eine bedeutsame Weiterentwicklung der Unfallversicherung war die Einbeziehung der Schüler, Studenten sowie Kinder in Kindergärten i n den Versicherungsschutz und damit auch i n verstärkte Unfallverhütungsmaßnahmen (1971). Ferner wurde i n der landwirtschaftlichen Unfallversicherung die Betriebs- und Haushaltshilfe als neue Leistung eingeführt (1972). Hinsichtlich der Rentenversicherung sind oben die finanziellen Konsolidierungsmaßnahmen des Jahres 1969 geschildert worden. Sie erwiesen sich i m Nachhinein als überproportioniert. Die unter dem Eindruck der Rezession getroffenen Maßnahmen führten dazu, daß die Vorausrechnungen der folgenden Aufschwung]ahre 1970 - 1972 ständig wachsende Uberschüsse auswiesen. Die Regierung konnte also auch hier Weiterentwicklungen i n Angriff nehmen. I n einem Gesetzentwurf zur weiteren Reform der gesetzlichen Rentenversicherung von 1971 schlug sie vor: — Einführung einer flexiblen (herabgesetzten) Altersgrenze 1 6 8 ; — Rentenberechnung nach einem Mindesteinkommen zum Ausgleich niedriger Löhne i n der Vergangenheit; — Anrechnung eines zusätzlichen Versicherungsjahres für Frauen je K i n d („Babyjahr"); — Öffnung der Rentenversicherung für alle Staatsbürger. 168 Die Aufnahme dieses Programmpunktes, der sich sozialpolitisch u n d ab 1973 arbeitsmarktpolitisch als so segensreich erwies, i n die Regierungserklär u n g von 1969 u n d seine Popularisierung ist i n ungewöhnlichem Maße dem persönlichen Einsatz des damaligen Bundesarbeitsministers Walter Arendt zuzuschreiben; vgl. Walter Arendt, Kennzeichen Sozial, Stuttgart 1972, S. 198 ff.
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Die parlamentarische Beratung des Gesetzes fiel i n eine Zeit abbröckelnder Mehrheit der Regierungskoalition und bevorstehender (vorgezogener) Bundestagswahlen. Dies und die sich i n kurzen Abständen besser darstellenden finanziellen Vorausrechnungen führten zu Beschlüssen, die die ursprünglich geplanten Mehrausgaben etwa verdoppelten. Wieder kam es zu einer Überreaktion auf aktuelle (diesmal günstige) wirtschaftliche Umstände. Von den vorgeschlagenen Maßnahmen wurden die flexible Altersgrenze und die Rente nach Mindesteinkommen beschlossen. Die Öffnung der Rentenversicherung wurde erweitert um großzügige Nachentrichtungsmöglichkeiten. Zusätzlich wurde die Anpassung der Bestandsrenten um ein halbes Jahr vorgezogen. Insbesondere diese letztere Maßnahme belastete die späteren Vorausrechnungen der Finanzlage der Rentenversicherung erheblich. Der Phase der Weiterentwicklung zuzurechnen, obwohl ihre Verabschiedung bereits i n die Zeit des 1973 beginnenden wirtschaftlichen Rückgangs fällt, sind noch die folgenden Gesetze: — Rehabilitations-Angleidiungsgesetz (1974), das eine Verbesserung, vor allem auch eine Vereinheitlichung der Leistungen i m Falle der Behinderung brachte; — Gesetz über die Sozialversicherung Behinderter (1975), das die i n Werkstätten und Anstalten beschäftigten Behinderten unter besonderen Bedingungen i n die Kranken- und Rentenversicherung einbezog; — Gesetz über die Errichtung einer Zusatzversorgungskasse für A r beitnehmer in der Land- und Forstwirtschaft (1974); — Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung (1974), das eine bedingte Unverfallbarkeit von Versorgungsanwartschaften sowie ein Verbot von Leistungskürzungen wegen der Erhöhung von Sozialversicherungsrenten brachte. In) Konsolidierung
und Kostendämpfung
ab 1975
I m Herbst 1973 wurde aus Anlaß des ersten „Ölschocks" offenbar, daß ein wirtschaftlicher Abschwung eingesetzt hatté. Die Zahl der A r beitslosen stieg seit Sommer von Monat zu Monat an und lag deutlich über den jeweiligen Vorjahreswerten. I m Januar 1974 lag sie m i t über 600.000 fast doppelt so hoch wie ein Jahr zuvor. Zugleich wuchs die Zahl ausländischer Arbeitnehmer weiter an. I n dieser Lage erließ der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung i m November 1973 einen Anwerbestopp für ausländische Arbeitnehmer, der bis heute gültig ist. Diese Maßnahme w i r k t e zwar entlastend auf den Arbeitsmarkt, hin11 Sozialversicherung
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der te jedoch nicht den weiteren Anstieg der Zahl der Arbeitslosen, die i m Januar 1975 die Millionengrenze überschritt. Veranlaßt durch die plötzliche ölverteuerung wurde durch Gesetz vom Dezember 1973 den Empfängern von Wohngeld und Sozialhilfe ein einmaliger Heizölkostenzuschuß gewährt. Dieser Vorgang wiederholte sich i m Winter 1979. aa) Krankenversicherung I n bezug auf die Krankenversicherung hatte sich die Regierung nach der bis 1973 erfolgten Ausbauphase die Regelung finanzieller, organisatorischer und struktureller Fragen vorgenommen. I n bezug auf die gleichmäßige kassenärztliche Versorgung hatten sich Mängel i n ländlichen und Stadtrandgebieten gezeigt. Ein i m November 1974 vorgelegter Entwurf, der i m Dezember 1976 verabschiedet wurde, verbesserte das den Kassenärztlichen Vereinigungen zur Verfügung stehende Instrumentarium zur Sicherstellung der kassenärztlichen Versorgung, sah eine Bedarfsplanung und eine M i t w i r k u n g der Krankenkassen vor. Ende 1974 wurde eine Entwicklung offenbar, die bald als „Kostenexplosion" i m Gesundheitswesen bezeichnet wurde. Auslösend waren die rückläufigen Steigerungsraten der Beitragseinnahmen. Dagegen stiegen die Ausgaben mit zunehmenden Raten, wobei strittig diskutiert wurde, ob die Hauptursache dafür die Leistungsausweitungen oder strukturelle Faktoren seien, wie die Verteuerung der Dienstleistungen, die zunehmende Apparatemedizin, das zunehmende Durchschnittsalter und steigende Gesundheitsbewußtsein der Be\rölkerung. Angesichts steigender Beitragssätze bei den Krankenkassen bemühte sich die Regierung i m Laufe des Jahres 1975 i n Gesprächen mit allen beteiligten Gruppen u m eine Politik der Kostendämpfung, die darauf abzielte, „die Handlungsspielräume der Beteiligten auszuschöpfen und die Strukturen i n Richtung auf mehr Wirtschaftlichkeit und Bedarfsgerechtigkeit fortzuentwickeln . . . Die Beteiligten sagten zu, jeweils i n ihren Bereichen alle Möglichkeiten der Kostendämpfung auszuschöpfen" 169 . Die Erfolge dieses Bemühens griffen jedoch nicht schnell und vor allem nicht tief genug. Die Beitragssätze stiegen auf breiter Front weiter. Der durchschnittliche Beitragssatz erreichte m i t 10,4 v. H. i m Jahre 1975 den Stand des Jahres 1969 vor Einführung der arbeitsrechtlichen Lohnfortzahlung. Danach (1971) hatte er 8,2 v . H . betragen. 1976 stieg er auf 11,3 v . H . Die Regierung erwog Ende 1975 und Anfang 1976 gesetzgeberische Maßnahmen, konnte sich aber nicht zu Beschlüssen durchringen 1 7 0 . Immerhin bewirkte das drohende Eingreifen des Gesetz189
Sozialbericht 1976, S. 28.
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gebers eine zurückhaltende Honorarforderungspolitik Organisationen.
der ärztlichen
Erst die nach der Bundestagswahl 1976 neugebildete Regierung legte den Entwurf für ein Krankenversicherungs-Kostendämpf ungsgesetz vor, das i m Juni 1977 verabschiedet wurde. Neben einer Reihe zumutbar erscheinender Leistungsbegrenzungen waren dessen Kernpunkte: — Bei Verhandlungen über die Gesamtvergütung für ärztliche Leistungen ist die Entwicklung der Grundlohnsumme zu berücksichtigen. — Für verordnete Arzneimittel w i r d ein Höchstbetrag vereinbart, bei dessen Überschreitung bestimmte Kontrollmechanismen einsetzen. — Es können Verträge über vorstationäre Diagnostik und nachstationäre Behandlung i n Krankenhäusern abgeschlossen werden. — Bildung einer Konzertierten A k t i o n i m Gesundheitswesen. Weiter wurde ein Finanzausgleich für die Krankenversicherung der Rentner eingeführt. Ein Gesetzentwurf zur Überarbeitung des Krankenhausfinanzierungsgesetzes mit dem Ziel einer besseren Kostensteuerung ist noch nicht verabschiedet. Es bleibt zu berichten, daß die Beitragssätze der Krankenversicherung in den Jahren 1977 - 1979 stabil geblieben sind. Indizien sprechen dafür, daß dies i n erster Linie nicht eine direkte Folge der gesetzlichen Änderungen ist, sondern eine indirekte, deswegen aber nicht weniger begrüßenswerte: Die heftige öffentliche Diskussion und die bloße Tatsache gesetzgeberischer A k t i v i t ä t hatte kostendämpfende Auswirkungen auf das Verhalten aller Beteiligten. bb) Rentenversicherung Die Rentenversicherung ging i n der fraglichen Zeit auf den Höhepunkt des demographisch bedingten sogenannten „Rentenberges" zu. Bei stagnierender Bevölkerung stieg die Zahl der Rentenempfänger zwischen 1969 und 1978 von 9,5 auf 12 Millionen an. Die Rentenreform von 1972 hatte erhebliche Mehrausgaben verursacht. Die hohen Lohnsteigerungsraten der Aufschwung] ahre schlugen sich m i t dem i n der Rentenformel enthaltenen „time lag" nun in hohen Anpassungsraten für die Renten nieder. Den steigenden Ausgaben standen m i t Beginn der Rezession ab Ende 1973 langsamer steigende Einnahmen gegenüber. Die Lage war jedoch zunächst nicht beunruhigend, weil genau für die170 Eine Ausnahme w a r das Gesetz über Regelungen auf dem A r z n e i m i t t e l m a r k t v o m August 1976, das durch Senkung der Handelsspannen eine mäßige Preisniveausenkung f ü r A r z n e i m i t t e l bewirkte.
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sen Fall die Rücklage („Schwankungsreserve") der Rentenversicherung vorhanden war. Das Jahr 1974 Schloß noch m i t einem Einnahme-Überschuß von 6,6 Mrd. D M ab. Erst 1975 entstand ein Defizit von 0,6 Mrd. DM, dem jedoch eine Rücklage i n Höhe von 45 Mrd. D M gegenüberstand. I n dieser Lage hing die Beurteilung politischer Entscheidungen davon ab, welche Annahmen man hinsichtlich des Fortgangs der wirtschaftlichen Entwicklung zugrunde legte. Die nun einsetzende öffentliche Diskussion über die Finanzen der Rentenversicherung war eine Diskussion über mögliche, wahrscheinliche oder befürchtete künftige Entwicklungen. Diese Diskussion verhärtete sich und wurde ein Wahlkampfthema für die Bundestagswahl 1976. Einerseits wurde auf die Gefahr hingewiesen, daß die Rücklage der Rentenversicherung binnen weniger Jahre aufgezehrt sein würde, wenn man „realistische" Annahmen zugrunde lege. Andererseits mußte die Bundesregierung die Möglichkeit und Wünschbarkeit günstigerer A n nahmen betonen schon allein, um einen negativen „Signaleffekt" für die tatsächliche wirtschaftliche Entwicklung zu vermeiden. Ihre Aussage: „Die Renten sind sicher" war begründet, soweit damit die aktuelle Zahlungsfähigkeit der Versicherungsträger, aber auch die künftige Sicherung nicht nur der nominalen Zahlbeträge, sondern auch der Kaufkraft der Renten gemeint war. Wenn die Rentensicherheit von anderer Seite bezweifelt wurde, so bezog sich dies — wenn man von tagespolitischer Polemik absieht — allein auf Zeitpunkt und Ausmaß künftiger Rentenerhöhungen. Hier allerdings entstand ein Entscheidungsbedarf, als sich i m Laufe des Jahres 1976 die wirtschaftlichen Daten nicht besserten und die Rentenversicherung m i t einem Defizit von rd. 6 Mrd. D M abschloß. Die neue Bundesregierung legte i m Februar 1977 den Entwurf eines 20. Rentenanpassungsgesetzes vor, das bereits i m Juni des gleichen Jahres verabschiedet wurde. Es sah neben einer Rentenanpassung zum 1. 7.1977 folgende Konsolidierungsmaßnahmen vor: — Verschiebung des Rentenanpassungstermins auf den 1. Januar jeden Jahres; — Entlastung von Ausgaben für die Krankenversicherung der Rentner zu Lasten der Krankenversicherung (für die gleichzeitig das Kostendämpfungsgesetz erging) ; — Zahlung von Beiträgen für Arbeitslose durch die Bundesanstalt für Arbeit; — Vorzeitige Rückzahlung gestundeter Bundeszuschüsse; — Herabsetzung der Mindestrücklage auf 1 Monatsausgabe.
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Hinzu kamen eine Reihe entlastender Bereinigungen hinsichtlich M i n destbeitrag bei freiwilliger Versicherung, Kinderzuschuß, Nebenverdienstgrenzen und Rehabilitationsmaßnahmen. Die Hoffnung, daß mit diesem Gesetz die Finanzlage der Rentenversicherung dauerhaft konsolidiert sei, erfüllte sich nicht. A u f der Grundlage neuer gesamtwirtschaftlicher Annahmen über die mittelfristige Wirtschaftsentwicklung i m Januar 1978 ergaben die Vorausrechnungen erneut eine Finanzierungslücke. Die Regierung mußte m i t dem Entw u r f eines 21. Rentenanpassungsgesetzes weitere Konsolidierungsmaßnahmen vorschlagen. Das i m J u l i 1978 verabschiedete Gesetz schrieb eine Beitragserhöhung von 18,0 auf 18,5 v. H. ab 1981 vor und setzte abweichend vom bisherigen Verfahren die Anpassungssätze für die Renten diskretionär fest. Nach den Vorschriften der Rentendynamik wären die Renten i n den Jahren 1979 bis 1981 u m 7,2, 6,9 und 6,1 v. H. zu erhöhen gewesen. Das neue Gesetz reduzierte diese Sätze auf 4,5, 4,0 und 4,0 v. H. Diese Beteiligung der Rentner an der Konsolidierung der Rentenfinanzen wurde als wirtschaftlich tragbar angesehen, weil das Rentenniveau i m Vergleich zu den Nettolöhnen seit 1975 erheblich angestiegen war. Kritisiert wurde diese Maßnahme denn auch nicht so sehr wegen ihres wirtschaftlichen Ergebnisses, sondern „wegen ihrer politischen Bedeutung. Die Rentenanpassungen waren ihrer Höhe nach i n der Vergangenheit stets umstritten. Allerdings hatte das (quasi automatische) Anpassungsverfahren so viel normative K r a f t entfaltet, daß es sich auch unter stark konservativen Einflüssen jeweils durchgesetzt hat. Damit war ein Stück soziale Sicherheit faktisch der W i l l k ü r der Politik entzogen; die Stetigkeit der Renteneinkommensentwicklung gehorchte innerhalb der Grenzen der wirtschaftlichen Entwicklung eigengesetzlichen sozialpolitischen Zielen. Die Durchbrechung dieses Dogmas durch das 21. Rentenanpassungsgesetz restauriert i n dieser Hinsicht den Zustand vor 1957: die Rentenpolitik ist wieder stärker dem politischen Zugriff ausgesetzt und gerät damit weiter i n parteipolitische und wahltaktische Überlegungen. Es darf vermutet werden, daß dies der Sachdienlichkeit von Maßnahmen nicht förderlich sein w i r d " 1 7 1 .
171 Standfest (Anm. 138), S. 92. Angesichts der „Gefahr, daß nach den A u s nahmejahren nicht wieder die an die Bruttolohnsteigerungen anknüpfende Anpassung zum Zuge komme", hatte eine Hälfte der bei Beschlußfassung anwesenden Mitglieder des Sozialbeirats eine andere konkrete Lösungsmöglichkeit empfohlen. Vgl. Gutachten des Sozialbeirats v o m 10. 3. 1978, Dt. B u n destag, Drs. 8/1665, Z i t a t S. 7.
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cc) Sonstige Entwicklungen Die sozialpolitische Diskussion war seit 1975 i n starkem Maße durch die erwähnten Kostendämpfungs- und Konsolidierungsbemühungen geprägt. Dies Schloß finanziell wirksame Leistungsverbesserungen weitgehend aus. Immerhin wurde 1978 aus vorwiegend arbeitsmarktpolitischen Erwägungen die flexible Altersgrenze für Schwerbehinderte stufenweise von 62 auf 60 Jahre herabgesetzt. Finanziell wenig wirksam wurden noch in der 7. Legislaturperiode zwei Vorhaben verabschiedet, die strukturell fortdauernde Wirkung haben werden. Das Mitbestimmungsgesetz von 1976 erfaßte rd. 500 Unternehmen und erweiterte die Vertretung der Arbeitnehmer i n deren Aufsichtsrat bis knapp unterhalb der Parität. I m Zusammenhang m i t einer Reform des Ehe- und Familienrechts wurde i m Dezember 1975 ein Versorgungsausgleich eingeführt. Ausgehend von dem Gedanken der gleichberechtigten Teilhabe beider Ehepartner an den während der Ehe gemeinsam erworbenen Versorgungsanwartschaften findet künftig i m Falle der Ehescheidung ein Ausgleich der Anrechte und Aussichten auf eine Invaliditäts- und Altersversorgung statt. Der Ausgleich erfolgt dadurch, daß für den versorgungsrechtlich schwächer abgesicherten Ehegatten, i n aller Regel also für die Frau, Rentenanwartschaften in der gesetzlichen Rentenversicherung übertragen werden oder dort zu begründen sind. A u f diese Weise gutgeschriebene Anwartschaften führen i m Falle der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit und i m Alter zu einer eigenen Rentenleistung aus der gesetzlichen Rentenversicherung. Das Thema der sozialen Sicherung der Frau und der Hinterbliebenen w i r d ein wichtiger Diskussionspunkt der näheren Zukunft sein. Die Neuregelung dieses Bereichs w i r d voraussichtlich eine der ersten sozialpolitischen Reformvorhaben i m zweiten Jahrhundert der Geschichte der Sozialversicherung sein. Das Bundesverfassungsgericht hat 1975 i n einer grundlegenden Entscheidung festgestellt, daß der derzeitige Rechtszustand, nach dem für Witwen- und Witwerrente unterschiedliche Voraussetzungen gelten, angesichts der zunehmenden Erwerbstätigkeit verheirateter Frauen nicht beibehalten werden kann. Der Gesetzgeber wurde verpflichtet, die Hinterbliebenen Versorgung bis 1984 neu zu ordnen. Eine von der Bundesregierung i m Oktober 1977 berufene Sachverständigenkommission hat ihr Gutachten i m Mai 1979 vorgelegt 1 7 2 . Die Diskussion um das letzterwähnte Problem w i r d voraussichtlich — wie schon die Begründung des Bundesverfassungsgerichtsurteils von 172 Vorschläge zur sozialen Sicherung der Frau u n d der Hinterbliebenen, hrsg. v o m Bundesminister f ü r A r b e i t u n d Sozialordnung, Bonn 1979.
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1975 — verstärkt mit soziologischen Argumenten geführt werden und damit eine seit einiger Zeit erkennbare Tendenz bestärken, die man als „Soziologisierung" der wissenschaftlichen Sozialpolitik bezeichnen kann, die auf die oben erwähnte Phase der ökonomisierung folgte. Nachdem die Soziologie über sehr lange Zeit das Phänomen soziale Sicherung kaum wahrgenommen und zu ihrem Forschungsgegenstand gemacht hatte, setzte nach der Rentenreform von 1957 eine K r i t i k an deren „Verrechtlichung" und „Monetarisierung" ein 1 7 3 , deren Vertiefung neben vielen interessanten Gesichtspunkten auch zu der Ansicht führte, daß allein die Soziologie über ein geeignetes Instrumentarium für eine adäquate Behandlung der sozialpolitischen Problematik verfüge 1 7 4 . Es setzten empirische Untersuchungen ein 1 7 5 , deren Anzahl sich i n jüngster Vergangenheit rasch vermehrte. Dabei fällt allerdings auf, daß die neueren Untersuchungen und Reflexionen aus soziologischer Feder fast ausschließlich Randbereiche des institutionell, personell und finanziell großen Gebiets der sozialen Sicherung behandeln. Eine Soziologisierung auch zentraler Fragen w i r d um so eher zu Bereicherungen des Standes der Erkenntnis führen, je mehr anerkannt wird, daß die i n einhundertjähriger Entwicklung entstandenen bedeutsamen monetären Umverteilungsmaßnahmen auf der Grundlage der Rechtssicherheit i m Prinzip unverzichtbar sind 1 7 6 .
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Hans Achinger, Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik, H a m b u r g 1958. Christian von Ferber, Sozialpolitik i n der Wohlstandsgesellschaft, H a m b u r g 1967, S. 26. Diese Ansicht folgt bei Ferber aus einem spezifischen V e r ständnis des Begriffes Sozialpolitik. „Sozialpolitik ist k e i n systematischer, sondern ein historischer Begriff . . . Sozialpolitik bezeichnet einen Konsensus, sie bildet eine Grundlage f ü r politische Aktionen." 175 Franz-Xaver Kaufmann, Sicherheit als soziologisches u n d sozialpolitisches Problem, Stuttgart 1970. 174
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Die Bedeutung der Rechtssicherheit für das Vertrauen der Betroffenen betont aus soziologischer Sicht Hans Braun, Soziale Sicherung, System u n d Funktion, 2. Aufl., Stuttgart 1972, S. 40. Z u r K r i t i k an dem ökonomisierungsu n d Verrechtlichungssyndrom vgl. auch Volker Hentschel, Das System der sozialen Sicherung i n historischer Sicht 1880 bis 1975, Archiv f ü r Sozialgeschichte, 1978, S. 307 ff., insbes. S. 351 f.
C. Schluß: Aspekte der Erklärung Die vorstehende knappe Schilderung der fast 100jährigen Geschichte der deutschen Sozialversicherung verleitet zu der Frage, ob und wie deren Entstehung und Entwicklung erklärt werden kann. Solche Erklärung i m Sinne eines Versuches, das Geschehene i n seiner Sinn- und Zielhaftigkeit zu verstehen, könnte hilfreich sein für vergleichende Betrachtungen, für Vermutungen über die künftige Entwicklung sowie für beratende Tätigkeit beim Auf- und Ausbau junger Systeme der sozialen Sicherung. Allerdings müßte ein derartiger Versuch sehr viel breiter angelegt sein, als es die hier vorgegebenen Zusammenhänge und Begrenzungen erlauben. Deshalb können nur einige wenige Aspekte als „Einstieg" i n eine umfassendere Diskussion angesprochen werden, wobei es zweckmäßig erscheint, zwischen Aspekten zu unterscheiden, die sich auf die Entstehung der Sozialversicherung und solchen, die sich auf deren weitere Entwicklung beziehen. 1. Zur Entstehung
Die Bedingungen für die Entstehung von Sozialversicherung sind an anderer Stelle ausführlich behandelt worden 1 7 7 . Über A r t und W i r k weise der i n Betracht kommenden Faktoren besteht weitgehend Einigkeit; doch ist deren jeweiliges Wirkgewicht weniger geklärt — und gewiß wegen nationaler Sonderheiten auch weniger leicht allgemeingültig klärbar. I n Deutschland w i r k t e n um die Mitte des vorigen Jahrhunderts eine Reihe von Faktoren, die i n gleicher oder ähnlicher Weise auch i n anderen westeuropäischen Ländern wirksam waren: Industrialisierung, Liberalisierung, Bevölkerungszunahme, Urbanisierung, zunehmende Lohnabhängigkeit, räumliche Konzentration der neuen Industriearbeiterschaft. Solche Faktoren höhlten die Funktionsfähigkeit älterer Formen sozialer Sicherung aus und ließen neue Bedürfnisse nach sozialer Sicherung entstehen, die diese älteren Formen nicht befriedigen konnten. Hinzu kam die politische Mobilisierung der Arbeiterschaft, die von der neuen Situation i n erster Linie betroffen war. Diese Politisierung führte vor dem Hintergrund der i m 19. Jahrhundert hervorgetretenen Tendenz zur Rationalisierung, Individualisierung und Demokratisierung zur Verbreitung der vom Liberalismus abweichenden Auffassung, daß 177
Zacher.
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Aspekte der E r k l ä r u n g
169
eine staatliche Verantwortung für die Lösung sozialer Probleme gegeben sei. „Soziale Notstände gewannen damit eine politische Dimension" 1 7 8 . Das Hineinwachsen objektiver Zustände i n das politische Problembewußtsein war neu und für die weiteren Geschehnisse insbesondere i n Deutschland entscheidend. Denn i n bezug auf die wirtschaftliche Entwicklung, den Stand der Industrialisierung war Deutschland zur Zeit der Reichsgründung keineswegs der Spitzenreiter, sondern hatte nach Großbritannien, Belgien, der Schweiz und Frankreich erst den fünften Rangplatz inne. Den frühen Beginn der Sozialgesetzgebung i n Deutschland kann man also aus dem wirtschaftlichen Entwicklungsstand nicht hinreichend erklären. „Soziale Traditionen und politische Konstellationen gaben den Ausschlag" 179 . Ob soziale Traditionen in Deutschland anders, vor allem aber früher und mächtiger gewirkt haben als i n den Nachbarländern, kann hier nicht entschieden werden. Immerhin w i r d darauf hingewiesen, daß die frühe Einführung der Sozialversicherung nicht aus einer besonderen „Modernität" des Bismarckreiches erwachsen ist, „sondern aus der spezifischen und andauernden Labilität der Reichsgründung sowie älteren Schichten von Staatsverständnis und Verwaltungstradition. So war es allenfalls die Modernität des vorliberalen Denkens, zu welchem man i n Deutschland m i t der konservativen Wendung' von 1878 leichter als anderswo zurückkehrte. Es ist das Fesselnde an dieser konservativen Wendung, daß sie — als Reaktion auf die innere Krise — zugleich progressive' Ergebnisse hervorbrachte" 1 8 0 . I m Hinblick auf politische Konstellationen erscheint ein Urteil leichter. Dabei ist an ein für Deutschland spezifisches agens zu erinnern, nämlich daß „ . . . nicht die Parlamentsparteien, sondern die damalige politische Führung und Bürokratie die entscheidende Triebkraft für die Entwicklung eines staatlichen Sozialversicherungssystems i n Deutschl a n d " 1 8 1 waren. Die Frage, warum sich die politische Führung i n Deutschland veranlaßt sah, die Rolle einer Triebkraft für die Entwicklung einer staatlichen Sozialversicherung anzunehmen, ist i m Rahmen politischer Systeme und deren Reaktionsweisen auf veränderte sozioökonomische Daten und politische Mobilisierungseffekte untersucht worden; dabei w i r d das damalige Deutschland als autoritäres System i m Gegensatz zu parla178 Jens Alber, Modernisierung u n d die E n t w i c k l u n g der Sozialversicherung i n Westeuropa, Dissertation M a n n h e i m 1979, S. 22. 179 Fischer, i n : Zacher, S. 91. 180 Michael Stolleis, Die Sozialversicherung Bismarcks. Politisch-institutionelle Bedingungen ihrer Entstehung, i n : Zacher, S. 394. 181 Michael Stolleis, Diskussionsbeitrag i n Bedingungen, S. 222.
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mentarischen Systemen beschrieben. „Das Vorangehen Deutschlands w i r d i n diesem Rahmen dadurch erklärlich, daß sich die frühe politische Organisation der Arbeiter i m autoritären Staat mit einer relativ fortgeschrittenen sozioökonomischen Entwicklung verband" 1 8 2 . Diese Sicht erscheint plausibel, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die politische Führung und Bürokratie diejenigen eines soeben erst errichteten Reiches waren. Diesem Reich fehlte es an demokratischer Legitimation, es war weder gewachsen noch spontan entstanden, sondern eine staatsrechtliche Schöpfung, die politisch „geschmiedet" worden war gegen den Widerstand partikulärer Interessen und zur Enttäuschung großdeutscher Hoffnungen. Man hat den Zustand bezeichnet als die „Unfertigkeit und Unsicherheit, die fortwährende Problematik des neuen Reiches, seine Gefährdung i m Innern wie nach Außen" 1 8 3 . Es bestand also ein hoher Integrations- und Stabilisierungsbedarf oder: ein hoher Sensibilisierungsgrad der Verantwortlichen für destabilisierende Faktoren. Dies letztere gilt i n besonderem Maße für den Schöpfer des Reiches, der die Rolle des Stabilisators annahm und dem die Zeit und Autorität gegeben war, diese Rolle auszufüllen. Bismarck sah die Stabilisierungsaufgabe vorrangig außenpolitisch; er hat aber die innenpolitische Stabilisierungsaufgabe früh empfunden und daraus Aktionen hergeleitet, deren eine die Schöpfung der Sozialversicherung war. Diese seine Schöpfung hat ein Jahrhundert überdauert. 2. Zur Expansion
Die Geschichte der Sozialversicherung i n Deutschland ist eine Geschichte ihrer Expansion. Der von ihr erfaßte Personenkreis entsprach ursprünglich 40 v. H. der Arbeitnehmer oder rd. 10 v. H. der Bevölkerung; heute sind alle Arbeitnehmer und rd. 90 v. H. der Bevölkerung einbezogen. Aus der ursprünglichen Arbeiterversicherung wurde durch Einbeziehung der Angestellten eine Arbeitnehmerversicherung und schließlich durch Einbeziehung großer Gruppen der Selbständigen sowie die Öffnung der Rentenversicherung eine Volksversicherung. Zu der Expansion des gesicherten Personenkreises kam eine Vermehrung und Differenzierung der leistungsauslösenden Tatbestände sowie eine Erhöhung der Einkommensersatzrate i n allen Leistungszweigen. Bot die Sozialversicherung ursprünglich einen Mindestschutz vor Not, so bietet sie heute i n den meisten Fällen Sicherung des Lebensstandards. Die klassische Sozialversicherung der Anfangsphase wurde er182
A l b e r (Anm. 178), S. 181. Hans Rothfels, Prinzipienfragen der Bismarckschen Sozialpolitik, i n : ders., Bismarck, der Osten u n d das Reich, Darmstadt 1962, S. 166. 183
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gänzt durch weitere Leistungsbereiche wie Arbeitslosenversicherung, soziale Entschädigung, Kindergeld, Wohngeld, Ausbildungsförderung und Sondersysteme für selbständig Erwerbstätige. Die Sozialversicherung ist heute Teil — allerdings der bedeutendste Teil — eines umfassenden Systems der sozialen Sicherung. Die Expansion des gesicherten Personenkreises, der Leistungszweige, Leistungsarten und der Leistungshöhe hatte i m Verein m i t einer Steigerung der Altersquote von ursprünglich 5 auf jetzt 15 v. H. der Bevölkerung eine enorme Erhöhung der Ausgaben zur Folge. Die Sozialleistungsquote von ursprünglich etwa 2 v. H. stieg über 10 v. H. i n den 20er Jahren auf gegenwärtig über 30 v. H. Dem angedeuteten Expansionstrend lag zum Teil eine systemimmanente Automatik zugrunde insofern, als die Arbeitnehmerquote und damit die Zahl der Versicherten zu Lasten der Selbständigen und m i t arbeitenden Familienangehörigen ständig anstieg. Zum anderen Teil gab es wiederholt Expansionssprünge, die durch neue Gesetzgebung bewirkt wurden. Solche Sprünge waren insbesondere: die Ausdehnung der Unfallversicherung auf landwirtschaftliche Betriebe (1886), die Ausdehnung der Krankenversicherung auf landwirtschaftliche Arbeitnehmer (1914), die Einführung der Angestelltenversicherung (1913), die Erstreckung der Alterssicherung auf Handwerker (1938) und Landwirte (1957), die Öffnung der Rentenversicherung für alle Staatsbürger (1972). Verallgemeinernd läßt sich sagen, daß gesetzliche Erweiterungen des Personenkreises i n Zeiten wirtschaftlicher Prosperität erfolgten. Der schub- und stoßweisen personalen Expansion des Systems folgte m i t Dämpfungseffekten und zeitlichen Verschiebungen die monetäre Expansion. Sie ergab sich wiederum zum Teil automatisch aus der Vergrößerung des einbezogenen oder leistungsberechtigten Personenkreises. I n längerfristiger Betrachtung kann man i n diesem Zusammenhang auch die Unzahl der „adaptiven" Rechtsetzungsakte sehen, die lediglich Anpassungen an veränderte wirtschaftliche Verhältnisse bewirken und insofern lediglich den Inhalt früherer Entscheidungen bewahren oder wiederherstellen; hierzu gehören Normen, die Bemessungs- und Begrenzungsgrößen an veränderten Lohngrößen anpassen oder die relative Kaufkraft von Leistungen erhalten. Verglichen m i t Rechtsetzungsakten dieser A r t ist die Zahl induktiver Regelungen, nämlich solcher, die eine reale Veränderung des Leistungsniveaus bewirken, weitaus geringer 1 8 4 . Hierher gehören etwa: die Einführung der Angestelltenversicherung m i t erhöhtem Leistungsniveau (1913), die Einführung der Hinterbliebenensicherung i n der 184 Z u r Unterscheidung zwischen i n d u k t i v e r u n d adaptiver Rechtsetzung vgl. Detlev Zöllner, öffentliche Sozialleistungen u n d wirtschaftliche E n t wicklung, B e r l i n 1963, S. 22 ff.
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Arbeiterrentenversicherung (1914), die Anhebung und Dynamisierung der Renten (1957), die Anhebung des Krankengeldes i m Verhältnis zum Lohn (1957, 1961), die Dynamisierung der Unfallrenten (1963), die Herabsetzung der Altersgrenze (1916, 1957, 1972). Auch hier w i r d eine zeitliche Koinzidenz m i t wirtschaftlichen Prosperitätsphasen deutlich. Umgekehrt ist die finanzielle Expansion mehrfach durch Reduktionsphasen unterbrochen worden, die sämtlich m i t Zeiten ökonomischer Depression zusammenfielen. Während der Inflation 1921 - 1923 sowie während der Nachkriegs jähre 1945 - 1948 ergaben sich faktische Leistungsreduktionen, w e i l adaptive Rechtsetzungsakte ungewöhnlich lange ausblieben. Während der Weltwirtschaftskrise 1929 - 1932 und der Rezessionen von 1966/67 sowie ab 1974 erfolgten Reduktionen durch gesetzgeberische Eingriffe. Allerdings wurden nur i m ersteren Falle Leistungen absolut herabgesetzt; i n den beiden letzteren Fällen handelte es sich lediglich u m Reduktionen der bei unveränderter Rechtslage zu erwartenden Leistungserhöhungen. Fragt man nach der inneren Bedingtheit des i m ganzen bis in die jüngste Vergangenheit anhaltenden Expansionstrends, so sind neben den bereits genannten Faktoren der zunehmenden Arbeitnehmerquote und der zunehmenden Altersquote gewiß eine Reihe weiterer Faktoren zu nennen. Viele der möglichen Faktoren dürften sich jedoch subsummieren lassen — und damit vermittelnden Charakter erhalten — unter der Feststellung, daß die Sozialversicherung zur Zeit ihrer Einführung i n erheblichem Maße Funktionsdefizite aufwies. Dies ergibt sich unbeschadet der damals erreichten Fortschritte, wenn man ihre Funktion aus heutiger Sicht betrachtet. Legt man etwa für die Alterssicherung die von der SozialenquêteKommission für richtig gehaltene Konzeption zugrunde, nach der Ziel der Alterssicherung eine Statussicherung für alle Staatsbürger sein sollte 1 8 5 , so w i r d aus dem oben Gesagten deutlich, daß dieses Ziel auch heute noch nicht erreicht ist. Eine Betrachtung vom Ausgangspunkt her ergibt eine Auflistung des Erfolges, des Fortschritts, der Expansion. N i m m t man die Gegenwart zum Ausgangspunkt, so erscheint die Geschichte als ein schrittweiser Abbau von Defiziten 186 . Die Fragestellung richtet sich dann nicht darauf, warum etwas zu gegebener Zeit geschah, sondern warum es spät und unvollkommen geschah. Eine A n t w o r t hierauf ist gewiß auch 185
Sozialenquête (Anm. 160), T Z 340, 347, 388, 390. Detlev Zöllner, Die Funktionserfüllung der gesetzlichen Alterssicherung i m Rückblick, i n : Alterssicherung als Aufgabe f ü r P o l i t i k u n d Wissenschaft, Festschrift f ü r H e l m u t Meinhold, hrsg. von Klaus Schenke u n d W i n f r i e d Schmähl, Stuttgart 1980, S. 195. 186
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schwierig und komplex, aber möglicherweise leichter zugänglich als bei der erstgenannten Fragestellung. Die Wahl einer Sicht auf das anfänglich große und erst allmählich sich abbauende Funktionsdefizit der Sozialversicherung — und gewiß auch auf zunehmende Sicherungsansprüche — w i r d auch nahegelegt durch folgende Gegebenheiten: Parallel zur Expansion der gesetzlichen Alterssicherung expandierte auch die Individualversicherung 1 8 7 und die betriebliche Altersversorgung 1 8 8 . 3. Zum Funktionswandel
I m Zuge ihrer personalen und monetären Expansion unterlag die Sozialversicherung i n mehrfacher Hinsicht auch einem Funktionswandel. Die Ausgabenstruktur verschob sich von den Geldleistungen zu den Sachleistungen. Von den Gesamtausgaben der Krankenversicherung waren 1885 etwa 60 v. H. Geldleistungen, heute sind es nur etwa 10 v. H. Der Anteil der Sachleistungen an den gesamten Sozialausgaben stieg zwischen 1950 und 1978 von 14,1 auf 21,0 v . H . 1 8 9 . I n diesen Zahlen drückt sich die Tendenz steigender Ausgaben für Gesundheitsmaßnahmen bei Krankheit und Invalidität, für Arbeitsförderungsmaßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit und für Sachleistungen i m Rahmen der Sozialhilfe aus. Darin spiegelt sich zugleich der Ausbau von Maßnahmen präventiven Charakters. Beispiele für die Erweiterung der von Sozialleistungsträgern angebotenen Sach- und Dienstleistungen sind der Ausbau der Unfallverhütung, die Erweiterung der Maßnahmen zur Erhaltung und Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit durch die Rentenversicherung, Früherkennungsmaßnahmen der Krankenversicherung sowie die Bereitstellung von Betriebs- und Haushaltshilfe. I n dem Ausbau präventiver Maßnahmen offenbart sich ein Entwicklungstrend, der als Ubergang von der strukturerhaltenden zur strukturgestaltenden Aufgabe der sozialen Sicherung beschrieben worden ist. „ M a n kann von einem Wandel der subsidiär-helfenden Funktion der Sozialversicherung zur prägenden, lebensgestaltenden Funktion der Sozialversicherung sprechen 190 ." Eine solche Sicht w i r d gestützt nicht nur durch den Ausbau präventiver Maßnahmen, sondern auch durch den Ausbau von Steuerungsmechanismen i m Gesundheitswesen, die Sondervorschriften hinsichtlich Finanzierung und Leistungsberechtigung i n Bergbau und Landwirtschaft, die Finanzausgleichsmechanismen in 187 K a r l H a x : Die Entwicklungsmöglichkeiten der Individualversicherung i n einem pluralistischen System der sozialen Sicherung, Stuttgart 1968. 188 Detlef Zöllner (Anm. 2), S. 149 ff. 189 Sozialbericht 1971, T e i l B, A n h a n g 2, Tab. I I - 1 u n d Sozialbericht 1978, S. 72. 190 Hans F. Zacher i n der Einleitung zu Zacher, S. 11.
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der Alterssicherung sowie die besonderen Altersgrenzen für Arbeitslose, Frauen und Schwerbehinderte. Die Sozialversicherung ist heute i n vielerlei Hinsicht auch Instrument der Strukturpolitik. Weiter ist der Trend zu beobachten, den man als stärkere Hinwendung zum Finalprinzip bezeichnen kann. Das deutsche Sozialrecht war ursprünglich stark vom Kausalprinzip geprägt; A r t und Höhe der Sozialleistung richteten sich nach der erbrachten Vorleistung und der Ursache des leistungsauslösenden Tatbestandes. Die stärkere Hinwendung zum Finalprinzip zeigt sich an folgenden Beispielen 1 9 1 : — I n den Ursprungsgesetzen wurde Krankengeld versagt, wenn die Krankheit auf Raufhändel oder Trunksucht zurückging; eine Invalidenrente stand nicht zu, wenn die Erwerbsunfähigkeit vorsätzlich oder bei Begehung eines Verbrechens zugezogen war. Diese kausal motivierten Einschränkungen wurden erst nach Jahrzehnten, i m Krankenversicherungsrecht erst jüngst gestrichen. — Die Lastenausgleichsgesetzgebung (1952), deren Hauptzweck die Entschädigung früherer Vermögensverluste war, nahm finale Gesichtspunkte auf, um den Lebensunterhalt der Geschädigten zu sichern. — Das ursprünglich als Entschädigungsmaßnahme konzipierte Fremdrentengesetz wurde 1961 auf das Eingliederungsprinzip umgestellt. Nicht früher erbrachte Beitragsleistungen i n den Herkunftsländern sind Bemessungsgrundlage der Leistungen, sondern die Situation vergleichbarer Arbeitnehmer i n der Bundesrepublik. — Die Rente nach Mindesteinkommen (1972) stellt Versicherte nach längerer Versicherungsdauer so, als ob sie stets 75 v. H. des Durchschnittsentgeltes aller Versicherten verdient hätten. Damit ist eine Modifikation der Rentenberechnung unter finalem Aspekt vollzogen. — Nach Auflösung einer erneut eingegangenen Ehe lebte die Witwenrente nur unter der Bedingung wieder auf, daß diese Ehe ohne Verschulden der Witwe aufgelöst wurde. Diese auf die Ursache der Eheauflösung abstellende Bedingung wurde 1972 gestrichen. — Das Rehabilitationsangleichungsgesetz von 1974 stand ausdrücklich unter der Motivation, i m Sinn des Finalprinzips die den Behinderten gewährten Leistungen anzugleichen. Die Behinderten sollen die Förderungsleistungen unabhängig von der Ursache der Behinderung und der Kostenträgerschaft nach einheitlichen Kriterien erhalten. — Das Schwerbeschädigtengesetz von 1974 bezog in seinen Schutz neben den Kriegs- und Arbeitsopfern alle Behinderten unabhängig von der Ursache der Behinderung ein. 191 Hier werden n u r vollzogene Änderungen referiert; vgl. darüber hinaus W i l l i Albers; Möglichkeiten einer stärker final orientierten Sozialpolitik, Göttingen 1976.
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Aspekte der Erklärung
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Die angedeuteten Entwicklungslinien wie Zunahme der Sach- und Dienstleistungen, Ausbau instrumentaler und finaler Elemente deuten einen Funktionswandel an, der sich besonders deutlich für den Bereich der Krankenversicherung nachzeichnen läßt. I n diesem Bereich hat sich ein Wandel vollzogen, „den man . . . kennzeichnen kann als die Entwicklung der nunmehr fast ein Jahrhundert alten früheren reichsgesetzlichen Versicherung gegen Krankheit zu einer bundesweiten Gesundheitssicherung" 192 . Man kann eine solche Kennzeichnung ableiten aus der Betrachtung des versicherten Personenkreises und des Leistungskatalogs der Krankenversicherung. Darüber hinaus kann der Wandel verdeutlicht werden, wenn man sich den kontinuierlich zunehmenden Grad der Differenzierung und Problematisierung i m Bereich der Gesundheitssicherung vergegenwärtigt. Bei Schaffung der sozialen Krankenversicherung waren einerseits der Begriff Krankheit und andererseits das Angebot an medizinischen Leistungen für den Gesetzgeber Daten, die nicht problematisch erschienen. Krankheit war i m damaligen Verständnis eine schicksalhafte Gegebenheit; sie erschien jedenfalls i m Prinzip definierbar, wenngleich der Gesetzgeber auf eine Definition verzichtete. Aufgabe der Krankenversicherung war es, gegen die w i r t schaftlichen Folgen der Krankheit — Lohnausfall und Kosten medizinischer Behandlung — zu versichern. Die Nachfrage wurde als gegeben unterstellt, ebenso das Angebot an medizinischen Leistungen. Weder die Zahl noch die A r t der vorhandenen Ärzte und Krankenhäuser wurde als Problem empfunden. Gegenüber dieser Ausgangssituation vollzog sich eine Wandlung in mehrfacher Hinsicht. Der gesetzlich nicht definierte Krankheitsbegriff w i r d u m die Jahrhundertwende von der Rechtsprechung definiert als „regelwidriger Körper- oder Geisteszustand, der ärztlicher Behandlung bedarf". Die Notwendigkeit der ärztlichen Behandlung wurde anerkannt (durch Rechtsprechung) zunächst zur Heilung und zur Abwehr einer Verschlimmerung der Krankheit, später zur Abstellung von Beschwerden oder Schmerzen und sodann, wenn eine Regelwidrigkeit behandelbar und die Behandlung sinnvoll ist. Ärztliche Behandlung diente also früher der Abwehr von Krankheit, heute dem Hinarbeiten auf Gesundheit. Der gesetzliche Leistungskatalog der Krankenversicherung erweiterte sich über die ursprüngliche Krankenhilfe hinaus erheblich. Es kamen hinzu 1920 die Familienhilfe (Mutterschaft), 1923 vorbeugende Heilmaßnahmen (Kuren), 1971 Früherkennungsmaßnahmen (Anspruch), 102 Walter Bogs, Entwicklungstendenzen i m neueren Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, i n : Sozialpolitik. Ziele u n d Wege, hrsg. von A l f r e d Christmann u. a., K ö l n 1974, S. 319.
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1974 Haushaltshilfe, 1975 sonstige Hilfen (bei Sterilisation und Schwangerschaftsabbruch). Dabei ist Abgrenzung von Krankheit und Gesundheit zunehmend problematisch geworden. Je tiefer die Krankenversicherung i n das Feld der Prävention vorstößt, um so unmittelbarer ist sie m i t dem gesundheitsrelevanten Verhalten der Versicherten konfrontiert. Zum Problem ist auch das Angebot medizinischer Leistungen geworden. Es gab eine enorme quantitative Ausweitung. Die Arztdichte (Ärzte je 10.000 Einwohner) stieg zwischen 1876 und 1976 von 3,2 auf 19,8, die Krankenhausdichte (Krankenhausbetten je 10.000 Einwohner) zwischen 1886 und 1976 von 26 auf 150. Parallel dazu verlief die Einbeziehung aller Ärzte i n die Kassenzulassung. Die Entwicklung i n Stichworten: 1883
Kassen stellen einzelne Ärzte als Bezirksärzte an.
1913
Berliner Abkommen: auf 1.350 Versicherte ist mindestens 1 Arzt zuzulassen.
1931 Die Verhältniszahl w i r d gesenkt auf 1 : 600. 1955
Die Verhältniszahl w i r d gesenkt auf 1 : 500.
1960
Urteil des BVerfG: Jeder niedergelassene Arzt ist zuzulassen.
Jüngere Prognosen sagen eine Verdoppelung der Ärzte i n den nächsten Jahrzehnten voraus. Dies läßt Konsequenzen für die Zulassung und/oder die ärztliche Einkommenspolitik unausweichlich erscheinen. Dies gilt u m so mehr als der Glaube an die Determiniertheit der erforderlichen medizinischen Leistungen erschüttert ist. Die Versechsfachung der Arzt- und Bettendichte bei gleichzeitig stark erhöhter Arbeitsproduktivität je A r z t und Behandlungsintensität je Patient hat nicht dazu geführt, daß Ärzte arbeitslos oder nur unterbeschäftigt sind. Das liegt i m wesentlichen daran, daß A r t und Umfang medizinischer Leistungen weitgehend durch die Anbieter solcher Leistungen bestimmt werden. Das Vertrauen des Gesetzgebers von 1883 — und vieler nachfolgender Juristen-Generationen bis h i n zur Gegenwart — i n die Objektivierbarkeit der notwendigen medizinischen Behandlung ist erschüttert — oder sollte es sein, Einen beeindruckenden Hinweis auf die Variabilität des Anbieterverhaltens hat die Diskussion u m die sogenannte Kostenexplosion des Gesundheitswesens seit 1974 geliefert. Diese Variabilität i n Verbindung m i t der rasch weitersteigenden Arztdichte w i r d wahrscheinlich Folgen haben für A r t und Inhalt von Abstimmungsgesprächen à la Konzertierte A k t i o n i m Gesundheitswesen sowie die Maßstäbe und Methoden der Einkommensbemessung für Gesundheitsberufe.
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Vergleicht man die Ausgangssituation m i t der heutigen Situation, so läßt sich sagen: Der Begriff Krankheit erscheint nicht als Vorgegebenheit, sondern ist zum Problem und Diskussionsgegenstand geworden. Die ständige Ausdehnung seines Inhalts hat zur Anerkennung eines Bedürfnisses nach Gesunderhaltung geführt, ohne jedoch die permanenten definitorischen Schwierigkeiten zu lösen. Der neue Begriff und die Hinwendung der Versicherungsträger zu Maßnahmen der Gesundheitssicherung w i r f t — neben vielen technisch-organisatorischen Fragen — eine Grundsatzfrage neu auf, nämlich: Welche Anforderungen soll und kann eine leistungsverpflichtete Gemeinschaft an das gesundheitsrelevante Verhalten des Leistungsberechtigten stellen? Auch das Angebot an medizinischen Leistungen erscheint nicht länger als Vorgegebenheit, sondern ist Problem. Analyse und Entscheidung sind erforderlich i n bezug auf eine Reihe von Fragen, wie die Ausbildungskapazitäten für medizinische Berufe, Zahl, A r t und räumliche Verteilung der Krankenhäuser, Produktion und Distribution von Pharmazeutika, Kriterien der Einkommensbildung für Anbieter von Gesundheitsleistungen, Steuerung von A r t und Menge der medizinischen Leistungen. Wenn sich die Krankenversicherung zur Gesundheitssicherimg gewandelt hat, von einer Gewährungsverwaltung zu einer Dienstleistungsverwaltung geworden ist, so besagt dies nicht, daß ihre Entwicklung abgeschlossen ist. Diese Bezeichnungen deuten vielmehr an, daß sie auch i m zweiten Jahrhundert ihres Bestehens Weiterentwicklungen unterliegen wird. 4. Schlußbemerkung
Expansion und Funktionswandel der Sozialversicherung während der vergangenen 100 Jahre lassen sich i m Kern, wenn auch nicht ausschließlich, als schrittweiser Abbau ursprünglicher Funktionsdefizite verstehen. Die zunehmende Quantität förderte die Einsicht i n die Interdependenz sozialpolitischer Maßnahmen m i t anderen Politikbereichen. Die Politik der sozialen Sicherung w i r k t e zunehmend stärker i n Bereiche der Wirtschafts-, Finanz- und Rechtspolitik hinein und unterlag gerade deswegen auch zunehmenden Rückwirkungen aus diesen Bereichen. Dies könnte die Zunahme instrumentaler Elemente erklären. Ferner wurde durch die zunehmende Quantität der Blick für verbleibende Defizite geschärft. Das mag eine stärkere Hinwendung zu finalen Betrachtungsweisen erklären, aber auch die ungeachtet des starken Defizitabbaus nach wie vor existenten Reformsehnsüchte. Diese werden verstärkt durch das Ziel der Chancengleichheit, das während des gesamten Zeitraumes politisch an Anerkennung gewonnen hat. Daraus 12 Sozialversicherung
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erwuchs eine Differenzierung und qualitative Verbesserung insbesondere der Sach- und Dienstleistungen, die ihrerseits zu vermehrter Einsicht i n die Verhaltensbedingtheit von Aktionen und Reaktionen der Akteure und der Betroffenen geführt hat. Damit sind gegenwärtige und zukünftige Probleme angesprochen, die zahlreich diskutiert werden. Es hat jedoch nicht den Anschein, als ob die befriedigende Lösung solcher Probleme einen grundsätzlichen Umbau des Systems der deutschen Sozialversicherung erfordert. Dieses m i t dem Namen Bismarck verbundene System hat sowohl bezüglich seiner institutionellen Grundzüge als auch bezüglich seiner rechtlichen Grundstruktur eine i m Hinblick auf die vielen, teilweise katastrophalen Wechselfälle, denen es ausgesetzt war, erstaunliche Kontinuität bewiesen. „Trotz der häufigen Änderung der Sozialversicherungsgesetze gibt es wenig öffentliche Rechtsmaterien, deren Grundformen — unbeschadet ihrer funktionalen Wandlungen — . . . so wenig tiefgreifende Veränderungen erfahren haben wie das Sozialversicherungsrecht 193 ." Die rechtliche Ausformung dieser Grundstruktur hat andererseits eine Flexibilität bewiesen, die dem System hinreichende Reagibilität verliehen, immer wieder Anpassungen und Weiterentwicklungen ermöglicht hat und wohl auch weiterhin ermöglichen wird.
193
Bogs (Anm. 129), S. 37.
Literatur Bartholomäi, Reinhart (Hrsg., u.a.): Sozialpolitik nach 1945. Festschrift f ü r Ernst Schellenberg, Bonn - Bad Godesberg 1977 Bogs, Walter: Grundfragen des Rechts der sozialen Sicherheit u n d seiner Reform, B e r l i n 1955 Bogs, Walter / Achinger, H. / Meinhold, H. / Neundörfer, L. / Schreiber, W.: Soziale Sicherung i n der Bundesrepublik Deutschland. Bericht der Sozialenquête-Kommission, Stuttgart u. a. 1966 Braun, Heinrich: Motive sozialer Hilfeleistungen, F r a n k f u r t / M a i n 1955 Grebing,
Helga: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, München 1966
Henning, Friedrich-Wilhelm: Die Industrialisierung i n Deutschland 1800 - 1914 Bd. 2) und: Das industrialisierte Deutschland 1914- 1976 (Bd. 3), 4. Aufl., Paderborn 1978 Herkner,
Heinrich: Die Arbeiterfrage, 2. Bd., 7. Aufl., B e r l i n 1921.
Hockerts, Hans Günter: Sozialpolitische Reformbestrebungen i n der frühen Bundesrepublik, Vierteljahreshefte f ü r Zeitgeschichte, 1977, S. 366 Peters, Horst: Die Geschichte der sozialen Versicherung, 3. Aufl., Augustin 1978
Sankt
Preller, L u d w i g : Sozialpolitik i n der Weimarer Republik, Düsseldorf 1978 (Nachdruck) Richter, M a x (Hrsg.): Die Sozialreform. Dokumente u n d (11 Bände), Bad Godesberg 1955 - 1970
Stellungnahmen
Rosin, Heinrich: Das Recht der Arbeiterversicherung, B e r l i n 1893 Rothfels, Hans: Theodor L o h m a n n u n d die K a m p f jähre der Sozialpolitik, B e r l i n 1927 Schmoller,
staatlichen
Gustav: Die soziale Frage, München/Leipzig 1918
Syrup-Neuloh:
100 Jahre staatliche Sozialpolitik 1839 - 1939, Stuttgart 1957
Tennstedt, Florian: Quellen zur Geschichte der Sozialversicherung, Zeitschrift f ü r Sozialreform 1975, S. 225, 358 u. 422 Vogel, Walter: Bismarcks Arbeiterversicherung, Braunschweig 1951 Zacher, Hans F. (Hrsg.): Bedingungen f ü r die Entstehung u n d E n t w i c k l u n g von Sozialversicherung, B e r l i n 1979
Landesbericht Frankreich Von Yves Saint-Jours
Die Übersetzung aus dem Französischen besorgte Frau Christine Plänk, Konferenzdolmetscherin / München
Inhaltsübersicht
Erster Abschnitt: Grandzüge und Eigenarten der Sozialgesetzgebung in Frankreich A . Die ursprüngliche Zurückhaltung des Staates auf sozialem Gebiet
7
187
B. Die subventionierte Förderung der P r i v a t i n i t i a t i v e
8
188
C. Die progressive Schaffung von gesetzlichen Pflichten
9
189
10
190
12
192
12
192
1. Arbeitsdauer u n d Arbeitsbedingungen
13
193
2. V i e l zu niedrige Löhne — die Unsicherheit der Löhne
13
193
3. Ungesunde u n d teure Wohnungen
14
194
14
194
15
195
D. Die gegenwärtige Generalisierung der Sécurité Sociale
Zweiter Abschnitt: Die historische Entwicklung A. Einleitung: Die soziale Lage M i t t e des X I X . Jahrhunderts I. Das Elend der Arbeiterklasse
I I . Die Suche nach einem Ausweg 1. Die Gesellenvereine 2. Die „sociétés de secours et de résistance"
16
196
3. Das Problem des sozialen Engagements des Staates
16
196
I I I . Ideenströmungen
17
197
1. Der liberale Gedanke
17
197
2. Der sozialistische Gedanke
18
198
B. V o n der freien Willensentscheidung zur gesetzlichen Pflicht auf sozialem Gebiet (1850 - 1930) 19
199
I. Politischer Hintergrund 1. Die Zweite Republik (1848 - 1852)
20
200
20
200
2. Das Zweite Kaiserreich (1852 - 1870)
20
200
3. Die Pariser Kommune
21
201
4. Die D r i t t e Republik (ab 1870)
22
202
184
Inhaltsübersicht I I . Die P r i v a t i n i t i a t i v e n
4 23
203
1. Die Vereine auf Gegenseitigkeit
23
203
2. Die Vorsorgeinstitutionen der Arbeitgeber
24
204
3. Die Privatversicherungen
26
206
4. Der Beitrag der christlichen Soziallehre
27
207
28
208
I I I . Die H a l t u n g des Staates 1. Die Unterstützung der P r i v a t i n i t i a t i v e n
28
208
a) Die legislative Unterstützung
28
208
b) Die finanzielle Unterstützung
29
209
2. Die Schaffung gesetzlicher Pflichten
29
209
a) Die Pflicht des Staates
30
210
b) Die Pflichten der Arbeitgeber
31
211
c) Die Pflichten der Arbeitnehmer
31
211
32
212
I V . Die v o r dem Ersten W e l t k r i e g erzielten Ergebnisse 1. Die öffentliche Fürsorge
33
213
a) H i l f e f ü r Alte, Körperbehinderte u n d unheilbar K r a n k e 34
214
b) Kinderfürsorge
34
214
c) Die A u s w i r k u n g e n der Fürsorgegesetze
35
215
35
215
a) Der Mißerfolg der nationalen Versicherungskasse f ü r Arbeitsunfälle 35
215
2. Entschädigung bei Arbeitsunfällen
b) Marathonsitzungen i m Parlament
36
216
c) Das Vorgehen der Juristen aa) Die Vertragstheorie bb) Die objektive Theorie
36 36 36
216 216 216
d) Der Kompromiß i m Gesetz v o m 9. A p r i l 1898
38
218
e) Die weitere E n t w i c k l u n g
39
219
40
220
a) Zuerkennung eines liberalen Status
40
220
b) Die Eroberung der Mittelschichten
40
220
c) Die Trennung der „ M u t u a l i t é " v o n der Gewerkschaftsbewegung 42
222
3. Die „ M u t u a l i t é "
4. Die Arbeiter- u n d Bauernrenten
42
222
a) Die Unzulänglichkeiten der Betriebskassen
43
223
b) Die Errichtung eines Rentenpflichtsystems
43
223
c) Die Zurückweisung des Systems durch die Allgemeinheit 44
224
Inhaltsübersicht 5. Familienbeihilfen
45
225
6. Die Nachkriegsdebatte über die Sozialversicherung
45
225 226
a) Der soziale u n d politische K o n t e x t
46
b) Der berufsständische Widerstand
46
226
c) Ausschluß der Arbeitslosenversicherung
47
227
C. V o n der Einführung der Sozialversicherung bis zur Generalisier u n g der Sécurité Sociale (von 1930 bis heute) 48
228
I. Die ursprüngliche Gesetzgebung der Sozialversicherung 1. Anwendungsbereich
49
229
49
229
2. Die administrative Organisation
50
230
3. Die Finanzierung
50
230
4. Die Ärztehonorare
50
230
5. Die Gesetzgebung f ü r Familienbeihilfen
51
231
I I . Der französische Plan der „Sécurité Sociale"
51
231
1. Die allgemeinen Ideen
52
232
2. Der politische Kompromiß
53
233
3. Die Reaktionen i n den verschiedenen Berufskategorien . . 54
234
a) Die Selbständigen
54
234
b) Die leitenden Angestellten
54
234
c) Die Aufrechterhaltung der erzielten Vorteile
55
235
4. Der Widerstand der Arbeitgeberschaft
55
235
5. Das W e r k des Gesetzgebers
52
236
I I I . E n t w i c k l u n g der Sécurité Sociale unter der I V . Republik . . 58
238
1. Die Kehrseite des allgemeinen Systems f ü r Arbeitnehmer 58
238
a) Der Mißerfolg der Einheitskasse
58
b) Vormundschaft durch den Staat
60
240
c) Der Rückgang der Sozialleistungen
60
240
62
242
63
243
65
245
2. Überleben der Sondersysteme 3. E n t w i c k l u n g der autonomen u n d komplementären steme I V . Die Optionen der V. Republik Sociale
hinsichtlich der
Sy-
Sécurité
238
1. Stärkung der öffentlichen V e r w a l t u n g i n der Sécurité Sociale 66
246
a) Modifizierung der Strukturen des allgemeinen Systems 67
247
b) Einführung des Tarifvertragswesens
248
68
186
Inhaltsübersicht 2. Ausdehnung des obligatorischen Sozialschutzes
68
248
a) Die Kranken-/Mutterschaftsversicherung f ü r selbständig Erwerbstätige 69
249
b) Erweiterung des Schutzes bei Arbeitsunfällen
70
250
c) Die Diversifizierung der Familienleistungen
71
251
d) Weiterverfolgung der Generalisierung
72
252
3. Die finanziellen Möglichkeiten
72
252
a) Das Prinzip der finanziellen Nichtbeteiligung des Staates 73
253
b) Ausgleich zwischen den Systemen
73
253
c) Abgleiten der Beitragsumverteilung von den U n t e r nehmen auf die Haushalte 74
254
d) Verlangsamung des Anstiegs der Gesundheitsausgaben 74
254
4. Aufschwung der Zusatzinstitutionen
76
256
a) Zusatzrenten
76
256
b) Arbeitslosenversicherung
76
256
c) Sozialhilfe
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257
d) Soziale A k t i o n
78
258
e) M u t u a l i t é
79
259
f) Die vertraglichen sozialen Garantien
79
259
5. Freiräume der Versicherungsgesellschaften
80
260
82
262
82
262
83
263
84
264
84
264
I I . Die Gefahr des Auseinanderbrechens der Sécurité Sociale 85
265
Dritter Abschnitt: Schlußfolgerungen Kritische Betrachtung A. Feststellung der Situation I. Der Staat als V e r w a l t u n g I I . Eine zersplitterte Sécurité Sociale B. Die Krise I. Die A u s w i r k u n g e n der Wirtschaftskrise
C. Die Perspektiven
Kurze bibliographische Hinweise
86
266
88
268
Erster
Abschnitt
Grundzüge und Eigenarten der Sozialgesetzgebung in Frankreich I n Frankreich ist die Entwicklung der Sozialgesetzgebung durch vier Merkmale gekennzeichnet, anhand derer sich die wichtigsten Phasen charakterisieren lassen: — die ursprüngliche Zurückhaltung des Staates i m sozialen Bereich, — die Förderung der Privatinitiative durch Subventionen, — die progressive Schaffung gesetzlicher Pflichten, — die gegenwärtige Generalisierung der Sécurité Sociale. Diese historische Entwicklung verlief nicht linear, sie führte i m X I X . Jahrhundert zu blutigen Aufständen, bevor sie dann Gegenstand großer politischer Debatten wurde, mit Fortschritten, aber auch Rückschlägen, u m erst spät neue Schritte nach vorne zu tun. A. Die ursprüngliche Zurückhaltung des Staates auf sozialem Gebiet Bis zum Ende des X I X . Jahrhunderts schuf der Staat keine Pflichten auf sozialem Gebiet, sondern vertraute dem Prinzip der freien Willensentscheidung des Individuums, selbst eine auf dem Eigentumsrecht und der Spartätigkeit gegründete Sicherheit zu erreichen. Dies war die logische Weiterführung der Ideologie des Naturrechts, das die französische Revolution von 1789 und die Kodifizierung des Bürgerlichen Rechts durch Napoleon I. inspiriert hatte. Von den etwa 2.300 A r t i k e l n des Code Civil befassen sich über 1.700 mit dem Recht auf Eigentum in seinen verschiedensten Anwendungen, kaum 500 A r t i k e l betreffen das Personenrecht, und das Prinzip des freien Willens umfaßt die gesamte Theorie der Pflichten. N u n ging die Entwicklung der industriellen Revolution nach dahin, breiten Schichten der Bevölkerung jegliches Eigentum über die Produktionsmittel wegzunehmen und sie setzliches Elend zu stürzen. A b 1791 hatte das Gesetz Le
nach und Recht auf in ein entChapelier 1
ι Das Gesetz Le Chapelier v o m 14. - 1 7 . J u n i 1791 folgte auf das Dekret d'Allarde v o m 2. - 1 7 . März 1791, welches das Prinzip der Freiheit der A r b e i t i m Gegensatz zu den Ständen aufgestellt hatte.
188
Landesbericht Frankreich
die alten Stände, die ein Hindernis für die Entwicklung der Produktivkräfte der Nation geworden waren, abgeschafft und den Arbeitern und Gesellen untersagt, sich zusammenzuschließen, u m Regelungen hinsichtlich ihrer sogenannten gemeinsamen Interessen zu schaffen; somit w u r den die Arbeiter gegenüber den Arbeitgebern als Eigentümern an den Produktionsmitteln i n ein ungleiches Verhältnis gesetzt. A r t i k e l 1781 des Code Civil, der erst 18682 abgeschafft wurde, bestimmte unter Mißachtung des Prinzips der Gleichheit der Bürger, das an anderer Stelle proklamiert worden war, daß i m Falle von Streitigkeiten über die Lohnzahlung „dem Meister auf sein Wort zu glauben w a r " . I n diesem Zusammenhang hatte die Arbeiterklasse keine andere Möglichkeit zur Bestätigung ihrer Identität, als sich gegen diese Existenzbedingungen zu erheben, wie dies der Aufstand der Lyoner Seidenweber i m Jahre 1831, die Junitage 1848 und die Pariser Kommune von 1871 bezeugen, u m nur die bekanntesten Ereignisse zu nennen. Bis auf wenige Ausnahmen hat sich die französische Bourgeoisie geweigert, die soziale Frage anders als durch blutige Unterdrückung zu behandeln. Erst nach der Pariser Kommune w i r d sich ein Teil der Bourgeoisie (vor allem christlicher Inspiration) über die Notwendigkeit bewußt, einige soziale Reformen durchzuführen. N u r so schien es möglich, die Arbeiterklasse, die trotz allem eine politische K r a f t geworden war, zu lenken und zu beherrschen, ohne sie regelmäßig auszubluten. Der politische Kompromiß gewinnt folglich die Oberhand gegenüber der Politik des Säbelrasselns. B. Die subventionierte Förderung der Privatinitiative Die innerhalb der Nation isolierte Arbeiterklasse hat dennoch im Verlauf des X I X . Jahrhunderts ihre eigenen Formen des Widerstands gegen ihre brutale Ausbeutung und auch Formen der menschlichen Solidarität, die „sociétés de secours et de résistance", entwickelt. Diese mehr oder weniger klandestinen Gesellschaften sind durch die politische Macht bekämpft worden, die jedoch ihre Aktivitäten nicht verringern konnte und sich vor allem ab dem Zweiten Kaiserreich bemühte, diese Gesellschaften als Gegenleistung für finanzielle Hilfe politisch zu kontrollieren. Der Beginn der Entwicklung leichteren Zugangs zu sozialer Vorsorge, die „Caisse nationale de retraite garantie par l'État" (1850) und die „Caisse nationale d'assurance contre les accidents du travail" (1868) hatten aber nicht den erwarteten Erfolg. Nach und nach mußte der Staat finanzielle Hilfe zur Privatinitiative leisten. Parallel dazu verlor die freie Willensentscheidung durch die 2
Gesetz v o m 2. August 1868.
Grundzüge der Sozialgesetzgebung i n Frankreich
189
„liberté subsidiée" auf sozialem Gebiet an Boden. Nach dem Vorbild des Staates hat sich die Unternehmerschaft ebenfalls auf die Schaffung und manchmal auch die Finanzierung von Betriebsrenten h i n orientiert, um die Arbeitskräfte zu stabilisieren und dem Einfluß der Arbeitergewerkschaft entgegenzuwirken, die seit der Abschaffung des Koalitionsdelikts i m Jahre 1864 toleriert und seit 1884 gesetzlich insoweit anerkannt waren, als sie die Verteidigung der beruflichen Interessen zur Aufgabe hatten. M i t Ausnahme des Gesetzes von 1893 über die kostenlose medizinische Hilfe und der Gesetzgebung von 1898 über die Entschädigung bei Arbeitsunfällen, die nur bei der Haftung den Begriff des Berufsrisikos an die Stelle des Verschuldens setzte, u m den Arbeitgebern eine systematische, aber pauschale Entschädigung aufzuerlegen, ging das X I X . Jahrhundert zu Ende, ohne daß der Staat wirkliche gesetzliche Pflichten auf sozialem Gebiet geschaffen hatte. Das Gesetz von 1898 über das Statut der Mutualité vertraute ganz dem Prinzip der freien W i l lensentscheidung des Individuums, so daß die Mitgliedschaft bei einer „société mutualiste" rein fakultativ blieb. Die Erfahrung m i t der Sozialversicherung, die von Bismarck in den Jahren 1880 - 1890 i n Deutschland eingeführt worden war, wurde natürlich auch i n Frankreich verfolgt, aber doch m i t ziemlichem Abstand, und zwar aus zwei wesentlichen Gründen: — einerseits hatte das Ende der Pariser Kommune es ermöglicht, die Arbeiterklasse für einige Jahre von der politischen Szene fernzuhalten, und dies ließ somit der französischen Bourgeoisie bis Ende des X I X . Jahrhunderts eine gewisse Ellbogenfreiheit; die sozialistische Strömung i n Frankreich, die 1871 auseinanderbrach und beim Wiederaufblühen geteilt war, sollte sich erst 1905 wieder vereinigen; — andererseits die Bitterkeit der französischen Niederlage i m Krieg von 1870 -1871, die i m allgemeinen die Erfahrungen von jenseits des Rheins wenig attraktiv machte. C. Die progressive Schaffung von gesetzlichen Pflichten Die Gesetzgebung über die Arbeitsunfälle brachte die Arbeitgeber dazu, sich bei privaten Versicherungsgesellschaften zu versichern, die ab diesem Zeitpunkt einen beträchtlichen Aufschwung erfuhren. Dieses Phänomen verbreitete die Idee der Versicherungen i n einen Teil der Bevölkerung, der bis dahin prinzipiell gegen diese Idee war. Die von den Arbeitgebern begangenen Mißbräuche bei den Betriebsrenten — die Arbeiter verloren ihre erworbenen Rechte i m Falle ihres
190
Landesbericht
rane
10
Weggehens oder des Konkurses des Unternehmens — zwangen die Regierung, verschiedentlich einzugreifen und 1910 ein Pflichtsystem für Arbeiter- und Bauernrenten zu errichten. Dies war die erste gesetzliche Verpflichtung, die die Finanzierung einer sozialen Institution direkt zu Lasten der Arbeitgeber und Arbeitnehmer vorsah, und zwar außerhalb der Fürsorgegesetze, die nur Pflichten hinsichtlich der Gebietskörperschaften und vor allem der Gemeinden geschaffen hatten. Die Arbeiter- und Bauernrenten stießen jedoch auf die Gegnerschaft sowohl der Arbeitgeber als auch der Arbeitnehmer, und zwar aus verschiedensten Gründen. Diese Renten beruhten auf dem System der Kapitalisierung und wurden vor allem durch den Währungsverfall untergraben und deshalb schließlich von der Bevölkerung abgelehnt. Nach dem Krieg von 1914 - 1918 stellte sich m i t der Rückkehr von Elsaß und Lothringen, wo das deutsche Sozialversicherungssystem eingeführt war, das Problem der Ausweitung der Sozialversicherungen auf das gesamte Territorium. Diese Ausweitung wurde jedoch erst am 1. J u l i 1930 endgültig erreicht. Das französische System w a r stark beeinflußt vom Bismarckschen System und betraf nur die Arbeiterklasse. Für die leitenden Angestellten, die über M i t t e l verfügten, die einen bestimmten Plafond überschritten, blieb die Mitgliedschaft freiwillig; dies zeigt, wie stark die Sozialversicherung in der öffentlichen Meinung noch als Fürsorgemaßnahme angesehen war. Die Gesetzgebung über die Entschädigung bei Arbeitsunfällen blieb außerhalb der Sozialversicherung, da es sich um ein Gesetz über Haftung und nicht über Pflichtversicherung handelte. 1932 wurde ein Gesetz geschaffen, das die Familienbeihilfen auf alle Arbeitnehmer ausdehnte. Diese Familienbeihilfen hatten sich seit Ende des X I X . Jahrhunderts auf Anregung der Arbeitgeber und unter dem Einfluß der Theorie des „juste salaire", die von der Kirche entwickelt worden war, i m Gegensatz zur marxistischen Theorie entwickelt. Aber zu dem Zeitpunkt, zu dem das französische System der Sozialversicherung errichtet wurde, kam es zur Wirtschaftskrise, wodurch über die Arbeiterklasse hinaus neue Bevölkerungsschichten i n Not gerieten. D. Die gegenwärtige Generalisierung der Sécurité Sociale Nach dem zweiten Weltkrieg begann, auf der Basis von Überlegungen über die Auswirkungen der Wirtschaftskrise von 1929 - 1930, die durch den Krieg noch verschlimmert wurde, die Phase der Generalisierung der Sécurité Sociale für die gesamte Bevölkerung. E i n französischer Plan dafür war vom Conseil National de la Résistance skizziert
11
Grundzüge der Sozialgesetzgebung i n Frankreich
191
worden, dessen allgemeine Ideen mehr oder weniger vom Bericht Lord Beveridges beeinflußt waren und darauf abzielten, allen Bürgern Existenzmittel für die Fälle zu gewährleisten, i n denen sie unfähig sind, sich diese M i t t e l selbst zu beschaffen. Seine Anwendung mußte jedoch die Realitäten der französischen Gesellschaft und insbesondere der sozialen Kräfte berücksichtigen, die nach der nationalen Erhebung des franz. Widerstands gegen den Faschismus sich auf die Positionen ihrer Klasse und manchmal sogar auf die ihres Berufsstandes zurückgezogen hatten. Durch die Weigerung der nicht-lohnabhängig beschäftigten Bevölkerung, die der Idee der Fürsorge genauso zurückhaltend gegenüberstand wie der der Solidarität, von einem allgemeinen System der Sécurité Sociale umfaßt zu werden, ist der französische Plan zerfallen; um den wesentlichen K e r n des allgemeinen Systems der lohnabhängig Beschäftigten blieb Platz für eine Vielzahl von speziellen, autonomen und komplementären Systemen. Man muß bis zum Jahrzehnt 1960 - 1970 warten, bis sich endgültig, neben dem allgemeinen System für Arbeitnehmer i n Handel und Industrie, zwei andere große autonome Systeme bilden: das der Landwirte und landwirtschaftlichen Arbeiter und das der nicht-landwirtschaftlichen Selbständigen, d. h. Handwerker, Industrielle, Kaufleute und freie Berufe. Trotz der Existenz dieser drei großen Systeme werden ca. 2 °/o der Bevölkerung davon noch nicht erfaßt. Das Gesetz vom Jahre 1974s schrieb aufs neue die Generalisierung der Sécurité Sociale bei K r a n k heit, Mutterschaft, A l t e r und Familienleistungen i n der Pluralität der existierenden Systeme vor, aber die Anwendung dieser Generalisierung behielt gegen den Willen des Gesetzgebers einen fakultativen Charakter. Sie ermöglichte natürlich die Mitgliedschaft i n einem System der Sécurité Sociale von Arbeitnehmern i m Ausland, Mitgliedern der katholischen Geistlichkeit und anderen Kategorien ausgeschlossener Personen wie ζ. B. Konkubinen, Prostituierten, Häftlingen etc. . . . , aber sie erreichte ihr dreifach gesetztes Ziel nicht: den sozialen Schutz aller französischen Staatsbürger, die Harmonisierung der Leistungen und den finanziellen Ausgleich zwischen den verschiedenen Systemen, basierend auf der Entwicklung der demographischen Verhältnisse eines jeden Systems und der Beitragskapazität der Betroffenen. Der französische Plan von 1945 - 1946 über die Vereinheitlichung der Sécurité Sociale und ihre Ausweitung auf die gesamte Bevölkerung i n sozialer Gleichheit w i r d ersetzt durch einen Plan über die Generalisierung i n der Diversität und der sozialen Ungleichheit. 8 Gesetz Nr. 74 - 1094 v o m 24. Dezember 1974 über den allen französischen Staatsbürgern gemeinsamen sozialen Schutz.
Zweiter
Abschnitt
Die historische Entwicklung A. Einleitung: Die soziale Lage Mitte des X I X . Jahrhunderts I n Frankreich war das X I X . Jahrhundert, das ideologisch m i t der Revolution von 1789 unter dem Einfluß des Naturrechts begann, gekennzeichnet vom Individualismus und seinen Folgen: dem Recht auf Eigentum, der freien Willensentscheidung und dem Sparen, u m die materielle Sicherheit des Individuums zu gewährleisten. Die soziale Frage stellte sich i m Verlauf der Industrialisierung immer mehr und führte zu einer blutigen Unterdrückung der Arbeiteraufstände durch die siegreiche Bourgeoisie, bevor sie dann am Ende des Jahrhunderts zu einer bescheidenen Sozialpolitik m i t der gesetzlichen Anerkennung der Arbeitergewerkschaften i m Jahre 1884, der Auferlegung eines Statuts der „mutualité" und der Verabschiedung einer speziellen Gesetzgebung zur Entschädigung bei Arbeitsunfällen i m Jahre 1898 führte. Der brutale Zusammenstoß zweier gegnerischer sozialer Klassen erklärt zugleich die revolutionäre Tendenz, die noch immer i m Herzen der französischen Arbeiterklasse besteht, und die späte Einführung der Sozialversicherung i m Jahre 1930 als Pflichtschutzsystem der Arbeitnehmer, bevor sie dann nach und nach (ab 1945 - 1946) für die gesamte Bevölkerung unter dem Begriff der sozialen Sicherheit (sécurité sociale) eingeführt wurde. U m die Entwicklung der Sozialversicherung zu begreifen, ist es notwendig, vorher die soziale Lage i n der Mitte des X I X . Jahrhunderts zu betrachten, eine Zeit, als der Ruf nach einer Intervention des Staates entstand. Diese Situation kann durch die drei wichtigsten Komponenten dargestellt werden: das Elend der Arbeiterschaft, die daraus resultierende Suche nach einem Ausweg und die Entstehung neuer Ideen. I . Das Elend der Arbeiterklasse
Es ist unmöglich, i n nur wenigen Zeilen eine genaue Darstellung davon zu vermitteln, was die Arbeiterschaft unter den gegebenen Bedingungen zu Anfang der industriellen Revolution erleiden mußte. Nach Villermé, der eine offizielle Untersuchung 4 Ende der 30er Jahre
Historische E n t w i c k l u n g
13
193
des X I X . Jahrhunderts durchführte, waren die wesentlichen Faktoren des Elends Arbeitsdauer und Arbeitsbedingungen, die viel zu niedrigen Löhne und die ungesunden Wohnungen und Arbeitstätten. 1. Arbeitsdauer
und
Arbeitsbedingungen
I n den Manufakturen und Webereien lag die Arbeitsdauer bei etwa 15 Stunden oder oft noch mehr pro Tag, unterbrochen nur von ein oder zwei Stunden für die Mahlzeiten. Zu diesen 15 Stunden kam noch die Zeit für den Weg derjenigen Arbeiter hinzu, die weit entfernt von ihren Arbeitsplätzen wohnten. Dies führte zu einer Entpersonalisierung des Individuums und zu einem Anstieg des Alkoholismus. Die Arbeiter arbeiteten i n ungesunden Hallen, i n schlechter Luft, es gab weder Arbeitshygiene noch Arbeitsorganisation. Villermé erzählt, daß er i n Nîmes i n einer Seidenweberei m i t 4 Öfen eine alte bucklige Frau und drei junge Mädchen arbeiten sah, zwei davon waren mißgestaltet, die alle als Motor dienten, um die Haspel zu drehen. Zur Arbeit der Einschußspuler und der Spulenträger, die für Kinder reserviert war, w e i l es Aufsichtsarbeit über Maschinen war, aber eine stehende Tätigkeit von 16-18 Stunden pro Tag i n einem geschlossenen Raum bedeutete, ohne Platz oder Haltung wechseln zu können, bemerkt Villermé folgendes: „Es ist keine Akkordarbeit, sondern Tortur, und zwar für Kinder i m A l t e r von 6 - 8 Jahren, die schlecht gekleidet und ernährt sind, die ab 5 U h r morgens schon den langen Weg zurücklegen müssen, der sie vom Arbeitsplatz trennt, und am Abend kommt dann wiederum der Nachhauseweg hinzu. Dies führt zu einer übermäßig hohen Kindersterblichkeit." 2. Viel zu niedrige Löhne — die Unsicherheit der Löhne Die unzureichenden Löhne ermöglichten es einem Arbeiter nicht, seine Familie zu ernähren: Frauen und Kinder waren gezwungen, i n der Fabrik zu arbeiten, um zum Lebensunterhalt beizutragen. Nach Villermé mußten sich die Arbeiter m i t dem strikt Notwendigen begnügen, d. h. von drei oder vier Sous (frz. Kupfermünze) für Brot und drei oder vier Sous für Kartoffeln pro Tag leben. Die Unterernährung der Arbeiterfamilien führte zu Rachitis und früher Sterblichkeit. Achille Pénot, der statistische Forschungsarbeiten über den Unterschied der Sterblichkeit i n den begüterten und den armen Klassen i n Mülhausen durchführte, stellte fest, daß die Lebenserwartung bei der Geburt i m Jahre 1827 bei ca. 29 Jahren für Kinder von Kaufleuten oder begüterten Leuten lag und nur bei 2 Jahren für die Kinder i n der 4 Villermé, Tableau de l'état physique et moral des ouvriers employés dans les manufactures de soie, coton et laine, Paris - Renouard 1840.
13 Sozialversicherung
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Landesbericht Frankreich
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Baumwollindustrie. Er stellt fest, daß das Elend so groß ist, daß „die meisten Arbeiter ihre Kinder m i t Gleichgültigkeit und manchmal sogar m i t Freude dahinsterben sehen" 5 . Die Unsicherheit der Löhne ging oft Hand i n Hand m i t der Tatsache, daß sie unzureichend waren. Die Konkurrenz unter den Arbeitern führte dazu, daß die Löhne sanken, und Arbeitslosigkeit brachte neben dem totalen Lohnverlust für diejenigen, die davon betroffen waren, völlige Erniedrigung. 3. Ungesunde und teure Wohnungen Zur Erschöpfung durch die ungesunde und endlose Arbeit und zur ständigen Unterernährung kam noch die Enge der Wohnungen ohne jeden Komfort. Villermé erzählt, daß i n L i l l e und i n der Region du Nord, die ja m i t die größten Industriezentren Frankreichs sind, fast vierhunderttausend Arbeiter „ohne Ausbildung, ohne Vorsorge, abgestumpft durch den Mißbrauch, geschwächt durch die Arbeit i n den Manufakturen, eingezwängt i n dunkle Keller oder Speicher, i n denen sie der ganzen Härte des Winters ausgesetzt sind, lebten. Viele von ihnen sind das Opfer von Erbkrankheit." Die Konzentration der Arbeiterbevölkerung um die Fabriken führte zu einer Mietspekulation, die nach E. Buret „die Mieten genauso steigen läßt wie das Elend 6 !" So verschlimmerten sich auf allen Ebenen die Existenzbedingungen der Arbeiterklasse, da die großen Manufakturen nach und nach die kleinen heimischen Werkstätten verschwinden ließen; dies führte zum Bruch aller persönlichen Beziehungen: Der Arbeitgeber verschwand hinter der Arbeitsordnung und die Ausbeutung, die sich jetzt anonym darstellte, verschärfte sich dadurch ebenfalls. Man könnte noch viele Autoren zitieren, die die Lage der Arbeiterklasse dieser Epoche untersucht haben 7 . I I . Die Suche nach einem Ausweg
Die Arbeiterklasse hat sich nie m i t ihrer Ausbeutung abgefunden. Von Anfang an hat sie versucht, i h r zu entkommen oder sie zu bekämpfen, u m ihre Existenzbedingungen zu verbessern. Ihre Geschichte 5 Achille Pénot, Discours sur quelques recherches de statistiques comparées faites à Mulhouse, Septembre 1848. Edité par l'auteur. 6 E. Buret, De la misère des classes laborieuses en Angleterre et en France, P a u l i n - Paris 1840. 7 Siehe auch die von E. Dolléans zitierten Autoren: Histoire du mouvement ouvrier, Tome I, 1830 - 1871, Paris, A . Colin 1957. M. B o u v i e r - A j a m , Histoire d u t r a v a i l depuis la Révolution, Paris, L.G.D.J. 1969 et H. Hatzfeld, D u paupérisme à la sécurité sociale, 1850 - 1940. A. Colin, Paris 1971.
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Historische Entwicklung
195
i m Laufe der ersten Hälfte des X I X . Jahrhunderts ist voll von A u f ständen, die manchmal aus Verzweiflung entstanden 8 und oft i m B l u t ertranken wie der Aufstand der Lyoner Seidenweber i m Jahre 1831, das Massaker der rue Transnonain i n Paris 1834 und der Juniaufstand 1848, u m nur die bekanntesten zu nennen. I n diesem Kampf ums Uberleben hat sie ihre eigenen Organisationsformen hervorgebracht: das Gesellentum und die „sociétés de secours et de résistance". Sie legte ihr ganzes Gewicht jedoch vergeblich auf die Waagschale, um, ungeachtet der harten Unterdrückung, zu erreichen, daß sich der Staat auf sozialem Gebiet engagiert. 1. Die Gesellenvereine Die Abschaffung der Zünfte und vor allem das Verbot des Zusammenschlusses nach der Frz. Revolution von 17899 haben die Arbeiter und die Industriellen i n ungleiche Beziehungen gestellt, ohne jedes System des sozialen Schutzes. I n einer ersten sentimentalen Reaktion hat sich die isolierte Arbeiterklasse zur Vergangenheit hingewendet m i t der Absicht, vor allem über die Gesellenvereine die alten Zünftestrukturen wieder herzustellen 10 . Die Möglichkeit, eines Tages sein eigener Chef zu werden und somit zur eigenen Unabhängigkeit zu gelangen, wurde als erste Lösung angestrebt, u m aus der Lage der Arbeiterschaft herauszukommen. Aber die Gesellenvereine, die i m X I X . Jahrhundert wieder neu gegründet wurden, waren nur eine überholte individualistische Form des Widerstandes gegen die kapitalistische Ausbeutung. Nachdem man das Scheitern dieser Anstrengungen erkannt hatte — außer was individuelle Lösungen angeht — haben die Arbeiter nach und nach das Bewußtsein erlangt, daß sie von nun an eine eigene Klasse von Individuen sind, die durch eine Interessengemeinschaft verbunden ist, und daß sie sich folglich organisieren und zusammen kämp8 Das Schlagwort der Lyoner Seidenweber „Leben beim Arbeiten oder Sterben beim Kämpfen" ist kennzeichnend f ü r diese Geisteshaltung. 9 I n diesem Zusammenhang gibt es mehrere Texte: das Dekret von Allarde v o m 2.-17. März 1791 über das Prinzip der Freiheit der Arbeit i m Gegensatz zu den Ständen des Ancien Régime, das Gesetz Le Chapelier v o m 14. - 17. J u n i 1791, das sich gegen jede Wiedererrichtung der Stände ausspricht u n d den A r b e i t e r n u n d Gesellen verbietet, Reglements f ü r ihre sogenannten gemeinsamen Interessen aufzustellen, u n d schließlich der Code pénal v o n 1810, der jegliche K o a l i t i o n oder Vereinigung v o n über 20 Personen verbietet. 10 Siehe vor allem A g r i c o l Perdiguidier, Les mémoires d'un compagnon, Genf 1854, neu herausgegeben Paris Rivière 1914. P. Moreau, De la réforme des abus d u compagnonnage à l'amélioration du sort des travailleurs, Paris, Prévôt 1843. M. Gösset, Projet tendant à régénérer le companonnage sur le tour de France soumis à tous les ouvriers, Paris, herausgegeben v o m A u t o r 1842.
1
196
Landesbericht Frankreich
1
fen müssen, um der kapitalistischen Ausbeutung Widerstand leisten zu können. 2. Die „sociétés de secours et de résistance " Die „sociétés de secours et de résistance" waren die erste spezifische Organisationsform der Arbeiterklasse. Aber sie wurden meist verfolgt, und wenn man sie i n Form von Gegenseitigkeitsvereinen tolerierte, dann unterstanden sie direkt der Kontrolle der Polizei. Die Solidarität und der Arbeiterwiderstand konnten sich nur heimlich organisieren und betätigen 11 . Diese mehr oder weniger klandestinen Gesellschaften, die je nach den politischen Umständen toleriert wurden, haben zahlreiche Aufstände begünstigt und auch eine Bewußtseinsbildung bei der Arbeiterklasse hervorgerufen. Aus ihnen gingen i n Frankreich die „mutualité" (Gegenseitigkeitsvereine) und die Gewerkschaftsbewegung hervor. 3. Das Problem des sozialen Engagements des Staates Nach der zu dieser Zeit herrschenden Auffassung konnte der Staat vor allem auf sozialem Gebiet nicht intervenieren, ohne das Prinzip der freien Willensentscheidung des Einzelnen zu verletzen. Dieses „hochheilige" Prinzip wurde vor 1850 nur verletzt durch das Gesetz vom 22. März 1841 über das Verbot der Kinderarbeit unter 8 Jahren i n den Manufakturen, um ein zu frühes Dahinscheiden der für die industrielle Entwicklung notwendigen Arbeitskraft zu vermeiden. Die Revolution von 1848 versuchte zum ersten Mal ein kohärentes soziales Programm zu verwirklichen, und zwar unter dem Einfluß der Doktrinen des utopischen Sozialismus: Die Proklamation des Rechts auf Arbeit, das m i t der Eröffnung der National-Werkstätten zur Arbeitslosenversorgung einen Anfang machte, sowie durch die Begrenzung der Arbeitszeit auf 10 Stunden für Erwachsene, die Bestätigung der Koalitionsfreiheit, die Verurteilung der Spekulation m i t der Arbeitskraft, die Abschaffung der kostenpflichtigen Arbeitsämter und die Schaffung der sogenannten Luxembourg-Kommission, eine A r t Vorläufer eines Arbeitsministeriums. Aber diese kurze Erfahrung einer sozialen Republik geht frühzeitig i m Blutbad der Juni-Tage 1848 unter und läßt durch die Rückkehr des konservativen Liberalismus das Problem der Intervention des Staats auf sozialem Gebiet ungelöst.
11
Siehe insbesondere: Louis Chevalier, Classes laborieuses et classes dangereuses à Paris pendant la première moitié d u X I X siècle — Plan, Paris 1958.
Historische Entwicklung
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I I I . Ideenströmungen Das Elend der Arbeiter läßt den liberalen Gedanken unberührt, der dies entweder dem Laster oder der Trägheit der Arbeiter zuschrieb oder dies, wenn nicht als notwendiges Übel, dann zumindest als unvermeidbares Gegenstück zur industriellen Entwicklung ansah. I n seiner historischen Freske „ L a Comédie Humaine" ignoriert Honoré de Balzac praktisch das Proletariat dieser Epoche und Eugène Süe assimiliert es i n den „Mystères de Paris" m i t den Abgründen der Gesellschaft. Nur die sozialistischen Ideen, die mehr oder weniger unsystematisiert auftauchen, neigen dazu, entweder die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit humanisieren zu wollen oder das kapitalistische System selbst i n Frage zu stellen. 1. Der liberale Gedanke Der liberale Gedanke, der eng m i t dem Prinzip der freien Willensentscheidung des Einzelnen verbunden ist, stellt sich a priori feindlich gegen jede Verpflichtung des Staates zum sozialen Schutz der IndustrieArbeiter. Er faßt die Intervention des Staates mittels der Fürsorge nur als rein moralische Pflicht auf; die Wohltätigkeit sollte Aufgabe der privaten karitativen und vor allem religiösen Institutionen bleiben. Das Dokument, das am besten den liberalen Gedanken über die sozialen Probleme Mitte des X I X . Jhd. aufzeigt, ist zweifelsohne der Bericht der „Commission de l'assistance et de prévoyance", der von Thiers 1850 erstellt wurde 1 2 . Thiers schreibt nämlich über das Engagement des Staates: „Was kann man anderes sagen, als daß das Prinzip der Verpflichtung des Staates unausweichlich diesen letzteren dazu führt, über seine Vollmachten hinauszugehen? Die Verpflichtungen hinsichtlich der Bedürftigen können nur eingehalten werden durch öffentliche Gelder oder durch die gesetzliche Pflicht für bestimmte Kategorien von Bürgern, zur Finanzierung des Systems beizutragen. Lassen w i r zuerst einmal die zweite Hypothese, die einen Angriff auf die Freiheit der Personen und das Recht auf Eigentum darstellt. Wenn der Staat selbst m i t öffentlichen Geldern seinen Verpflichtungen nachkommen w i l l , so überschreitet er seine Rechte: denn das öffentliche Vermögen ist nichts anderes als der Teil des Vermögens der Bürger, für den der Staat Verwahrer ist, um Dinge von Allgemeininteresse zu vollbringen wie die nationale Verteidigung oder die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Noch besser ausgedrückt: Dieses öffentliche Vermögen, be12
A. Thiers, Rapport fait au nom de la commission de l'assistance, i n : Discours parlementaires de M. Thiers publiés par M. Calmon — I I . partie, Tome V i l i . — Caiman Lévy, Paris 1880.
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stehend aus den Geldern anderer, ist der Beitrag der Reichen und der Armen und mehr der der A r m e n als der der Reichen aufgrund ihrer Anzahl. Und w i r wiederholen es noch einmal, es geht nicht darum, dem Staat die M i t t e l zu geben, u m mehr oder weniger zu geben; darum setzen w i r diese Grenzen nicht, sondern u m das öffentliche Vermögen zu behalten, das den Armen mehr gehört als den Reichen, um die Pflicht aller zur Arbeit zu gewährleisten und um den Lastern des Müßiggangs entgegenzuwirken; Laster, die bei den meisten leicht gefährlich und sogar schrecklich werden können. Anders ausgedrückt, der Staat, so wie i h n der Liberalismus sieht, überschreitet seine Funktion und verletzt die Fundamente der zivilisierten Gesellschaft — Recht auf Eigentum, freie Willensentscheidung, Spartätigkeit —, wenn er m i t öffentlichen Geldern eine Umverteilung der Einkommen vornimmt. 2. Der sozialistische Gedanke Der sozialisierende Gedanke, der seine utopische Phase durchmachte, hat keinen Einfluß auf die Arbeiterklasse. Die Juni-Tage 1848 haben viele Illusionen zunichte gemacht. Und doch geschieht es i n dieser Zeit, daß die drei Komponenten der post-utopischen sozialistischen Ideologie Gestalt annehmen, die dann die französische Arbeiterbewegung tief beeinflussen und die man wie folgt schematisieren kann 1 3 : — die reformistische Komponente, die unter dem Einfluß von Proudhon den Staat und die Gesellschaft durch eine Dezentralisierung der öffentlichen Hand und eine Kollaboration der sozialen Klassen reformieren w i l l , um das Schicksal der Arbeiterklasse zu verbessern; — die revolutionäre Komponente, die unter dem Einfluß von K. Marx und F. Engel 1 4 auf die Übernahme des Staates durch die Arbeiterklasse abzielt, um ihn als M i t t e l zur Diktatur des Proletariats zur Beendigung der kapitalistischen Ausbeutung zu verwenden und seine Aufhebung durch den Wegfall der sozialen Klassen möglich zu machen; — die anarchistische Komponente, die unter dem Einfluß von Bakunin die sofortige Zerstörung des Staates w i l l , weil sie den Staat als größtes Hindernis für eine soziale Emanzipation der Arbeiter ansieht. Es ist bemerkenswert, daß alle Strömungen des liberalen oder des sozialistischen Denkens auf dem sozialen Sektor sich gegenüber der 13 M i t der Näherungs- u n d Unzulänglichkeitsmarge, die jeder Schematisier u n g eigen ist. 14 1848 haben K . M a r x u n d F. Engels „Das kommunistische Manifest" veröffentlicht.
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Rolle des Staates situieren. Diese Rolle, ob aktiv oder passiv, w a r und ist nämlich der entscheidende Faktor der Entwicklung der Sozialversicherungen i n Frankreich. Zwei Zeiträume sind jedoch innerhalb dieser Entwicklung zu unterscheiden: — der erste geht von 1850 - 1930 und umfaßt den Übergang vom Prinzip der freien Willensentscheidung zu dem der gesetzlichen Pflicht auf sozialem Gebiet; — der zweite erstreckt sich von 1930 bis heute und umfaßt die Phase der Einführung der Sozialversicherung bis zur Generalisierung der „sécurité sociale". B. Von der freien Willensentscheidung zur gesetzlichen Pflicht auf sozialem Gebiet (1850 - 1930) Das liberale Denken hat quer durch die verschiedenen politischen Systeme, die diese Epoche gekennzeichnet haben, als ein i n der Essenz konservatives Verhalten gegenüber der Sozialversicherung lange deren Errichtung gebremst, selbst wenn es nach und nach einige Konzessionen machen und letzten Endes das Prinzip anerkennen mußte — hervorgerufen durch das Aufkommen der sozialistischen Ideen und der christlichen Soziallehre. Korrelativ ist das französische juristische System von der freien Willensentscheidung zum Prinzip der „liberté subsidiée" (staatl. unterstützte Selbsthilfe der Arbeiter) übergegangen, u m dann schließlich das Prinzip der gesetzlichen Pflicht anzuerkennen. Diese Zeit ist folglich vor allem gekennzeichnet durch Privatinitiativen: Vereine auf Gegenseitigkeit, Unternehmerinstitutionen, karitative Organisationen; der Staat intervenierte nur ganz vorsichtig, u m diese Initiativen zu unterstützen und auch zu kontrollieren. Man muß erst das Ende des X I X . Jahrhunderts abwarten, bis die ersten Gesetze über Fürsorge, Gegenseitigkeitsvereine, die Entschädigung bei Arbeitsunfällen und Renten verabschiedet werden. Nach einer kurzen Wiederholung des politischen Hintergrundes dieser historischen Zeit werden w i r uns damit beschäftigen, die privaten Initiativen und die Haltung des Staates herauszustellen, anschließend die Bilanz der sozialen Errungenschaften vor dem 1. Weltkrieg (1914-1918) ziehen, dann die Nachkriegsdebatte über die Sozialversicherung berühren, die am 1. J u l i 1930 eingeführt wurde.
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I. Politischer Hintergrund Während dieses Zeitraums bestanden nacheinander die Zweite Republik, das Zweite Kaiserreich, die Pariser Kommune und die I I I . Republik, die den Beginn und die Verwurzelung der demokratischen Idee i n Frankreich m i t sich brachte. 1. Die Zweite Republik (1848 - 1852) Die Revolution von 1848 entsteht nach einer langen Entwicklung aus den republikanischen Ideen und der wirtschaftlichen und moralischen Krise, die die Juli-Monarchie untergrub. Sie führte durch die Proklamation der Republik zu großen Hoffnungen auf seiten der Arbeiterschaft. Durch das starke soziale Fieber zu Anfang dieser Revolution wurden der Arbeiterklasse Konzessionen gemacht: Proklamation des Rechts auf Arbeit, Koalitionsfreiheit, Regierungskommission für die Arbeiter, die sogenannte Luxembourg-Kommission etc., aber m i t der heimlichen Hoffnung der Konservativen, die Auswirkungen sobald wie möglich zu bremsen. Dies geschieht auch während der Juni-Tage 1848. Die konservative Republik t r i t t an die Stelle der sozialen Republik. Sie hinterläßt keinerlei dauerhafte Spuren auf sozialem Gebiet, außer der Verabschiedung des Gesetzes vom 18. Juni 1850 über die Errichtung einer „caisse nationale de retraite", die durch den Staat gewährleistet wird, und über die w i r später noch sprechen werden. 2. Das Zweite Kaiserreich (1852 - 1870) Nach den Juni-Tagen 1848 hatte George Sand prophetisch gesagt: „Ich glaube nicht an die Existenz einer Republik, die damit beginnt, ihre Proletarier zu töten." Die Republik überlebte auch nicht sehr lange die Wahl des Präsidenten Louis Bonaparte, der nach dem Staatsstreich vom 2. Dez. 1851 Kaiser Napoleon I I I . wird. Das zweite Kaiserreich begann so, wie die zweite Republik geendet hatte, nämlich m i t der Verfolgung der Arbeitergesellschaften, die sich i n die Klandestinität geflüchtet hatten, der allgemeinen Einführung eines Arbeitsbuches für polizeiliche Zwecke durch das Gesetz vom 22. Juni 1854 und der Ausübung einer politischen Kontrolle über die Vereine auf Gegenseitigkeit. Während des zweiten Kaiserreichs erlebte Frankreich eine wirtschaftliche Entwicklung, die durch Steigerung der Produktivität, Erhöhung der Produktion und Sinken der Herstellungspreise und zugleich durch das Anwachsen der Arbeiterklasse, durch die Enteignung neuer Schichten der Bevölkerung an ihren eigenen Produktionsmitteln, durch eine periodisch wiederkehrende Arbeitslosigkeit und die Konzentration der
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Unternehmen gekennzeichnet war. A l l e diese Ereignisse führten zu einer Umwälzung i n der Existenz der Arbeiter und verstärkten noch ihre Unsicherheit, denn die nominale Steigerung der Löhne (falls es überhaupt zu einer Steigerung kam) führte keineswegs zu einer Steigerung der Kaufkraft. Dies zog vor allem zu Beginn der 60er Jahre bedeutende Streiks nach sich. Zu der selben Zeit suchte Napoleon III., der Schwierigkeiten m i t den politischen Kräften bekam, die ihn früher unterstützt hatten, Unterstützung i n der Arbeiterschaft, der er, der früher der Urheber des Programms zur „Ausradierung des Pauperismus" war, einige Konzessionen zuzugestehen begann, vor allem: — 1864 Abschaffung des Delikts der Koalition und folglich Toleranz der gewerkschaftlichen Aktion, — 1868 Abschaffung von A r t i k e l 1781 des Code Civil; dieser A r t i k e l bestimmte bei Streitfällen über das Arbeitsentgelt, daß dem Wort des Meisters zu glauben war. Aber das zweite Kaiserreich zerbrach i m Verlauf des deutsch-französischen Krieges von 1870, ohne daß irgendeine kaiserliche Initiative auf dem Gebiet der sozialen Vorsorge zustande kam. 3. Die Pariser
Kommune
Die Pariser Kommune, die nur kurz bestand (18. März - 28. Mai 1871), hatte schwerwiegende Folgen für Frankreich. Sie war ein Volksaufstand gegen die Kapitulation der franz. Regierung unter Präsident Thiers vor den Truppen Bismarcks, die Paris seit einigen Monaten belagerten. Angeregt durch die verschiedenen Komponenten der sozialistischen Ideologie proklamierte die Kommune ihre Absicht, nach und nach soziale Reformen durchzuführen, die die Arbeiter schon lange gefordert hatten. Sie betrafen vor allem den kostenlosen, bekenntnisfreien und umfassenden Schulunterricht, die Vereins- und Versammlungsfreiheit, die absolute Pressefreiheit, die Freiheit der Bürger und auf städtischer Ebene die Organisation des Polizeidienstes, der Armee, des Gesundheitswesens, der Statistik etc. . . . Dieses Programm untergrub die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft und führte zur Allianz Thiers, der sich nach Versailles geflüchtet hatte, m i t Bismarck; die Folge war die Liquidation der Kommune durch die Versailler Truppen unter dem wohlwollenden Auge der Belagerer, eine „blutige Metzelei". Zehntausende von Kommunarden, oder wen man dafür hielt, wurden i n den Straßenkämpfen getötet, i n Versailles
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und an der M u r des Fédérés erschossen, nach Neu-Kaledonien deportiert oder i m Camp von Satory i n t e r n i e r t . . . Die Arbeiterbewegung, die nun ohne führenden Kopf und ausgeblutet bis zum letzten war, brauchte einige Jahre, um sich wieder neu zu formieren. Parallel dazu beginnen unter den Konservativen sich einige Sozialreformer über die M i t t e l zu fragen, die zur Einschränkung der politischen K r a f t der Arbeiterklasse nötig waren, damit die französische Bourgeoisie nicht in regelmäßigen Abständen ihre Blutbäder unter den Arbeitern wiederholen mußte. Die Sozialreformer, die i m allgemeinen der sozialen Doktrin der Kirche 1 5 anhingen, erkannten, daß vor dem unvermeidlichen Aufstieg der Arbeiterklasse unter dem Druck der Industrialisierung des Landes eine Politik des Säbelrasseins früher oder später einer Politik des Kompromisses und des sozialen Friedens Platz machen mußte. 4. Die Dritte Republik (ab 1870) Nach der Pariser Kommune blieb Frankreich zutiefst zwischen Monarchisten und Republikanern geteilt. Die demokratische Idee setzte sich schließlich m i t der Konsolidierung der Republik von 1875 durch. Die politische Demokratie war vor allem reich an internen Konflikten, die die öffentliche Meinung spalteten: Krise des Boulangismus, Affäre Dreyfus, Trennung von Kirche und Staat, während die Sozialdemokratie noch nicht i n Erscheinung trat. Die Arbeitergewerkschaften und die sozialistischen Ideen kamen zwar schnell wieder auf und stärkten die Demokratie, sie waren aber geschwächt und geteilt. Die „Confédération Générale du Travail" w i r d erst 1895 errichtet und die verschiedenen sozialistischen Strömungen vereinen sich erst 1905. Die Sozialisten und die Sozialreformer haben jedoch letzten Endes, Ende des X I X . Jahrhunderts, einige soziale Reformen durchgesetzt, die den Forderungen des Volkes, den Bedürfnissen der industriellen Entwicklung und der des Handels entsprachen: öffentliche Erziehung, Beruf sge werkschaf ten, Fürsorgegesetze, Entschädigungen bei Arbeitsunfällen, Vereine auf Gegenseitigkeit, Koalitionsfreiheit, Arbeiter- und Bauernrenten . . . I n dem Augenblick also, als unter dem Einfluß von Bismarck Deutschland sein System der Sozialversicherung errichtete, um der deutschen Sozialdemokratie den Boden unter den Füßen zu entziehen, hatte Frankreich, aufgrund der Folgen der Auslöschung der Pariser Kommune, nicht dieselben politischen Sorgen. Dies erklärt zumindest zum 15
Dies w a r insbesondere der F a l l des Grafen A l b e r t de Mun.
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Teil die langsame und späte Einführung der Sozialversicherung i n Frankreich, eine Einführung, für die i m Gegensatz zu Deutschland die private Initiative und nicht der Staat die Rolle des Vorläufers spielte. I I . Die Privatinitiativen
Praktisch während des ganzen X I X . Jahrhunderts ging soziale Fürsorge und Vorsorge ausschließlich auf Privatinitiativen zurück, ob es sich nun um Vereine auf Gegenseitigkeit handelte, um Vorsorgeinstitutionen der Arbeitgeber oder u m private Versicherungen. Ebenfalls anzumerken ist — außer den traditionellen karitativen Werken der katholischen Kirche, die seit dem Mittelalter bestanden — der Beitrag der christlichen Soziallehre, die m i t der These des gerechten Lohnes der Urheber der Familienbeihilfen ist. 1. Die Vereine auf Gegenseitigkeit Die Gegenseitigkeitsvereine, hervorgegangen aus den „sociétés de secours et de résistance", wollten m i t den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln Arbeiter, die der Definition nach als einziges Gut ihre Arbeitskraft hatten, gegen die sozialen Risiken des Lebens schützen: Krankheit, Unfall, Invalidität, Arbeitslosigkeit etc. . . . , indem sie die Kosten für die Hilfsleistungen auf die Gemeinschaft ihrer Mitglieder verteilten. Trotz unbestreitbarer Vorteile: Solidaritätsdenken und kostenlose Verwaltung ohne jede Spekulation und dem tiefen Respekt vor der Willensfreiheit — die Mitgliedschaft war freiwillig — waren diese Gegenseitigkeitsvereine schon aufgrund ihres Ursprungs i n der Arbeiterschaft lange verdächtig. Zuerst stießen sich die Hilfsvereine auf Gegenseitigkeit an den Bestimmungen des A r t . 291 des Code Pénal von 1810 über das Verbot des Zusammenschlusses von mehr als 20 Personen. Diese Bestimmungen wurden übrigens durch ein Gesetz vom 18. A p r i l 1834 verschlimmert, i n dem präzisiert wurde, daß dieses Verbot auch auf Vereine zutrifft, wenn diese „ i n Sektionen aufgeteilt sind, die unter dieser Zahl liegen"; dies zwang praktisch die Hilfsgesellschaften auf Gegenseitigkeit i n die Klandestinität. Es gab aber auch Zeiten der Toleranz, je nach den politischen Umständen, und i n Paris gab es 1845 262 Gesellschaften m i t insgesamt 23.000 Mitgliedern. Die Revolution von 1848 setzte A r t . 291 des Codes pénal außer K r a f t und die Hilfsvereine auf Gegenseitigkeit waren nun von jeglichen vorausgehenden Formalitäten frei, aber nicht für lange Zeit. Das Gesetz vom 15. J u l i 1850 brachte einige Einschränkungen hinsichtlich ihrer Tätigkeit, Einschränkungen, die noch durch das Dekret vom 26. März
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1852 verstärkt wurden, i n dem zum ersten Male auf allgemeine A r t und Weise die Hilfsvereine auf Gegenseitigkeit geregelt wurden. Dieses Dekret von 1852 bestimmte insbesondere, daß — ein H i l f s verein auf Gegenseitigkeit i n jeder Gemeinde, in der die Nützlichkeit eines solchen Vereins durch den Präfekten anerkannt war, durch den Bürgermeister und den Pfarrer zu gründen sei, — der Präsident eines solchen Vereins vom Präsidenten der Republik zu ernennen ist, d. h. i n diesem Fall dem zukünftigen Kaiser, — die Satzung dem Innenminister zur Genehmigung vorzulegen ist, — die Gelder, die eine bestimmte Quote übersteigen, obligatorisch bei der „Caisse des Dépôts et Consignations" einzuzahlen sind. Diese Gesellschaften durften nur zum Zwecke der vorübergehenden Hilfe für kranke, verletzte oder invalide Mitglieder tätig werden und zu ihren Bestattungskosten beitragen. Sie hatten das Recht, einen Rentenfonds gemäß dem Dekret vom 26. A p r i l 1856 zu errichten. Als Gegenleistung für die ihnen auferlegten Pflichten erhielten sie auch einige Vorteile: kostenlose Räume zu Lasten der Gemeinden, Befreiung von den Steuer- und Registriergebühren. A m Ende des zweiten Kaiserreichs gab es 3.879 anerkannte Gesellschaften und 1.509 freie Gesellschaften m i t insgesamt 825.000 Mitgliedern. A m 27. Oktober 1870 erließ die Regierung der nationalen Verteidigung die Bestimmung, daß die Präsidenten der Hilfsvereine auf Gegenseitigkeit von nun an von den Mitgliedern gewählt werden, aber man mußte bis zum Gesetz vom 1. A p r i l 1898 warten, bis ein Statut den französischen Hilfsvereinen auf Gegenseitigkeit ihre Unabhängigkeit zugestand 16 . 2. Die Vorsorgeinstitutionen
der Arbeitgeber
I m Verlauf der zweiten Hälfte des X I X . Jahrhunderts hatten die A r beitgeber i n den großen Unternehmen Vorsorge- und Renteninstitutionen geschaffen, um: — einerseits eine gewisse Stabilität unter qualifizierten Arbeitskräften zu erreichen; die Hoffnung auf eine durch das Unternehmen garantierte Rente sollte die Arbeiter dazu verleiten, bei diesem Unternehmen zu bleiben, 16 Siehe R. Lavielle, Histoire de l a M u t u a l i t é française, Hachette 1964. T. Laurent, L a M u t u a l i t é fançaise et le monde du travail, Paris 1973.
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— andererseits, um gegebenenfalls aufgrund des Beitrags i m Falle von Krankheit oder Unfall die Arbeiter bei einem Arbeitsunfall davon abzuhalten, Haftpflicht auf der Grundlage von A r t . 1382 des Code Civil geltend zu machen. Außerdem löste diese „Garantie für die Zukunft" die sozialen Bande der Arbeiter, die i m allgemeinen aus Bauernfamilien stammten und ζ. T. noch landwirtschaftlich tätig waren, um sie für das Unternehmen besser verfügbar zu machen. Die Arbeitgeberschaft folgte dem Beispiel des Staats als Unternehmer, der durch das Gesetz vom 8. Juni 1853 das System der Renten für Beamte budgetisiert hatte. Es gab vorher autonome Rentenkassen, die vom Staat i n den verschiedenen Ministerien subventioniert wurden. Die Renten- und Vorsorgekassen der Arbeitgeber wurden zuerst i n den Unternehmen eingeführt, i n denen die Arbeiter besonders gefährdet sind wie den Bergwerken oder wo erhöhte Regelmäßigkeit der Arbeit notwendig ist wie bei der Eisenbahn. I n der Metallindustrie wurden die Mitglieder des Comité des Forges, gegründet 1888, i n zwei Institutionen umfaßt: der „Caisse syndicale d'assurances mutuelles des forges de France" gegen Arbeitsunfälle, 1891, und der „Caisse patronale de retraite des forges de France" 189417. Nach einer Untersuchimg 18 , die 1898 vom Handelsministerium durchgeführt wurde, teilten sich die Industrieunternehmen, die durch eine Arbeitgeberrentenorganisation gedeckt waren, i n zwei Kategorien auf: — einerseits die Unternehmen, deren Arbeiter von Sparbüchern bei der Nationalen Rentenkasse für das A l t e r profitierten, sei es aufgrund einer Verpflichtung i m Arbeitsvertrag oder durch eine fakultative Organisation, die durch Beiträge der Arbeiter und der Arbeitgeber finanziert war oder durch Beiträge der Arbeitgeber alleine; insgesamt waren es 72 Unternehmen, die 40.491 Arbeiter beschäftigten, und dafür gab es 25.128 Sparbücher (62% der gesamten Beschäftigtenzahl), — andererseits die Unternehmen, die eine autonome Rentenkasse hatten oder eine überbetriebliche Kasse. I n diesem Falle handelte es sich ausschließlich u m große Unternehmen; von 135 Unternehmen mit 86.000 Beschäftigten waren 74.000 an Renteninstitutionen beteiligt 1 9 . 17
Siehe F. Netter, Les retraites en France avant le X X siècle. D r o i t social 1963, S. 358. Les retraites en France au cours de la période 1895 - 1945. D r o i t social 1965, S. 448 et 514. 18 Office du Travail, Les caisses patronales de retraite des établissements industriels. Imprimerie nationale Paris 1898.
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Die Betriebsrenten brachten viele Probleme m i t sich. Ihre Höhe war i m allgemeinen abhängig vom Risiko des Unternehmens und die Betroffenen wurden oft ihrer Rechte beraubt, falls sie freiwillig gingen oder entlassen wurden. I m Falle des Konkurses des Unternehmens hatte der Arbeiter kein besonderes Recht. Die Gerichte hatten zwar in den Vorschriften der autonomen Rentenkassen, die keine Rechtspersönlichkeit hatten, d. h. wie ein einfaches offenes Konto i m Unternehmen funktionierten, die Existenz eines Vertrages festgestellt, der zwischen den Parteien rechtsgültig sei. Gegebenenfalls hatten sie das Recht, deren Erfüllung zu garantieren oder ungesetzliche Bestimmungen zu annullieren 2 0 ; aber der Gesetzgeber mußte intervenieren, um Mißbräuche zu bestrafen. Dafür bestanden zwei Gesetze: — das eine vom 27. Dezember 1890, das i m Falle von ungerechtfertigter Kündigung vorsah, daß ein Arbeiter Recht auf Schadensersatz hat unter Berücksichtigung der vorgenommenen Abzüge oder geleisteter Zahlungen für eine Altersrente; der Arbeiter konnte jedoch die von i h m geleistete Zahlungen verlieren, wenn es sich nicht u m mißbräuchliche Kündigung handelte; — das andere Gesetz vom 27. Dezember 1895 lief darauf hinaus, zugunsten der Arbeiter und Angestellten alle Beträge einklagbar zu machen, die an Vorsorgeinstitutionen gezahlt wurden, seien es nun Arbeitgeberbeiträge oder von Arbeitnehmern geleistete Zahlungen, die i m Falle des Konkurses oder Ruins des Arbeitgebers, der Schließung der Firma oder der Zession des Unternehmens, nicht entsprechend der Satzung verwendet wurden. I n diesem Zusammenhang wurde ein Vorrecht auf alle beweglichen und unbeweglichen Güter des Unternehmens geschaffen; aber dieses Geestz kam praktisch nicht zur Anwendung. U m den Widerstand der störrischen Arbeitgeber zu überwinden, mußte sich der Gesetzgeber auf die Errichtung eines Systems der obligatorischen Altersversicherung konzentrieren. 3. Die Privatversicherungen Die Privatversicherungen sind wegen der moralischen Zurückhaltung, die darauf beruhte, daß man es lange als gegen die Natur gerichtet an19
Außerdem könnten Rentenversicherungsträger i n Handels- u n d Finanzunternehmen geschaffen worden sein. Sie sind aber i n den Ergebnissen dieser Untersuchung nicht berücksichtigt. 20 Erlaß des Kassationsgerichts v o m 18. Januar 1872, zitiert von F. Netter i n seinen o. a. Untersuchungen über die Renten i n Frankreich vor dem X X . Jahrhundert.
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sah, wenn ein Individuum sich gegen die Auswirkungen seines eigenen Verschuldens versichern könne, erst spät hinzugekommen. Man sah darin ursprünglich mehr eine Quelle der Verantwortungslosigkeit und der Vervielfachung der Risiken als eine Deckung des Schadens, den man durch sich selbst oder durch andere erlitten hatte. A u f sozialem Gebiet begannen die Privatversicherungen ihre Entwicklung erst i m Verlauf der 2. Hälfte des X I X . Jahrhunderts, zusammen mit der Lebensversicherung, der Versicherung gegen die Verkehrsrisiken (Pferdewagen) und nach dem Gesetz vom 9. A p r i l 1898 gegen die Arbeitsunfälle. Nach diesem Gesetz versichern die Arbeitgeber die Arbeitnehmer bei Privatversicherungen entweder gegen die Risiken eines Arbeitsunfalles oder sich selbst gegen Haftungspflichten. Die anderen Versicherungsarten: Lebensversicherung und nicht-professionelle Unfälle fanden ihre Kundschaft i n den gutsituierten Schichten der Bevölkerung und hatten keine Auswirkung auf die Arbeiterklasse. 4. Der Beitrag der christlichen Soziallehre Die Enzyklika „Rerum novarum", 1891 veröffentlicht von Papst Leo X I I I . , hatte das Thema des „gerechten Lohnes" angesprochen, nach dem der Lohn nicht schon deshalb gerecht ist, weil er einem Vertrag entspricht, sondern nur, wenn er ausreicht, um einen braven und ehrlichen Arbeiter und die Seinen leben zu lassen. Daher die neue Idee, außer dem Lohn noch eine Familienzulage zu zahlen, wenn ein Arbeiter Kinder zu versorgen hatte. Der Sozialkatholizismus nahm diese Idee wieder auf, um sie i n die Praxis umzusetzen, und unterschied sich sowohl vom liberalen Gedanken, der i n einer solchen Familienzulage eine Vorwegnahme des Kollektivismus sah, als auch von den Arbeitertraditionen, die die Einführung einer Konkurrenz zwischen ledigen Arbeitern und Arbeitern m i t Familien fürchteten. Einige christliche Unternehmer schlugen diesen Weg ab Ende des X I X . Jahrhunderts ein, gefolgt dann von anderen, die vor allem i n den Beihilfen für Familienväter ein M i t t e l sahen, um die allgemeinen Lohnsteigerungen hinauszuzögern. Wie dem auch sei, eine neue A r t von Sozialleistung war geschaffen worden und begann nach und nach, sich zu generalisieren, unterstützt i m übrigen von demographischen Überlegungen 21 .
21 Siehe D. Ceccaldi, U.N.C.A.F., Paris 1957.
Histoire
des prestations
familiales
en
France,
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Landesbericht Frankreich I I I . Die Haltung des Staates
A u f sozialem Gebiet blieb der Staat während dieser Zeit ideologisch den Prinzipien des Liberalismus treu. Aber gegenüber dem Aufkommen der sozialistischen Ideologie mußte er i n der Praxis direkt auf die privaten Initiativen einwirken, um die politische Kontrolle zu behalten, die Mißbräuche zu begrenzen oder die Lücken zu schließen. Die Haltung des Staates war nicht starr, sondern evolutiv, und ging von der Unterstützung von Privatinitiativen bis zur Schaffung von Verpflichtungen für den Staat und den Einzelnen. 1. Die Unterstützung
von Privatinitiativen
Die Unterstützung der Privatinitiativen ist, nicht ohne Zögern, auf zwei Ebenen vor sich gegangen: auf legislativer und auf finanzieller Ebene. a) Die legislative Unterstützung Die legislative Unterstützung hat sich hauptsächlich, wie w i r schon betont haben, auf dem Gebiet der Gegenseitigkeitsvereine und dem der Renten unter Berücksichtigung der freien Willensentscheidung des Einzelnen vollzogen 22 . Der Staat schaffte keine besondere Verpflichtung, er beschränkte sich darauf, die Privatinitiative zu fördern, indem er in dieser Hinsicht Steuerbefreiungen, administrative Hilfsorganisationen etc. schuf. Die legislative Unterstützung reicht jedoch nicht aus. U m nämlich sparen zu können, d. h. auf einen sofortigen Verbrauch zugunsten eines zukünftigen Verbrauchs zu verzichten, mußte man ein Einkommen haben, das über dem strikten M i n i m u m lag. Aber es war den Arbeitern nicht möglich, etwas zu sparen. Die Löhne erlaubten ihnen m i t Mühe und Not, i m Elend zu überleben. Entgegen dem Wunsch des Gesetzgebers von 185023 zog die „Caisse nationale de retraite" mit Ausnahme der Unternehmen, die ihre Dienste in Anspruch genommen hatten, um für ihre Lohnempfänger Altersrenten zu schaffen, nur gutgestellte Kundschaft an. Man mußte also eine höhere Stufe erklimmen. 22 Benoit D'Azy, Berichterstatter des Gesetzes v o m 18. J u n i 1850 ζ. B., das die „Caisse nationale des retraites garanties par l ' É t a t " (nationale Altersrentenkasse) schuf, enthüllte m i t folgenden Worten die Motive: „Das Schicksal der armen Klassen verbessern, f ü r sie eine A r t Grand P r i x schaffen, der leicht zu holen ist, durch Einsparungen u n d Spartätigkeit dieses Gefühl der Ordnung schaffen, das aus dem Vertrauen i n die Z u k u n f t k o m m t ; dies b e t r i f f t alle Klassen, die an der Aufrechterhaltung der Sozialstruktur interessiert sind, an deren Vermögen ein jeder teil hat; das ist das Ziel dieses Gesetzes." 23 Gesetzgebende Versammlung — Sitzung v o m 10. J u n i 1850. Moniteur universel — 11. J u n i 1850.
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b) Die finanzielle Unterstützung Der Staat, immer noch m i t dem Ziel, die armen Bevölkerungsschichten zur fakultativen Versorgung anzuregen, orientierte sich nach und nach i n Richtung auf eine finanzielle Unterstützung privater Organe. Schon das oben angeführte Dekret vom 26. März 1852 sah kommunale Hilfe und Steuerbefreiung für die Hilfsvereine auf Gegenseitigkeit vor. Aber solche Hilfe und solche Befreiungen, die zwar sicherlich nützlich waren, reichten nicht aus, u m die Bedürfnisse zu befriedigen. Es stellte sich also das Problem der Wahl zwischen einem System staatlicher Subventionen oder der Schaffung einer obligatorischen Sozialversicherung nach dem Vorbild der durch Bismarck i n Deutschland getroffenen Entscheidung. Frankreich, das immer zum Prinzip der freien Willensentscheidung neigte, wählte m i t dem Gesetz vom 31. Dezember 1895, welches die freie Versorgung fördern sollte, das System der „liberté subsidiée" 24 , so wie das auch in den meisten europäischen Ländern der Fall war. Wenn das System der „liberté subsidiée" auf politischer Ebene die Möglichkeit bot, einen Unterschied zwischen den guten und schlechten Vorsorgeinstitutionen festzustellen, so brachte es doch nicht die auf sozialer Ebene erwarteten Ergebnisse. Die fakultative Vorsorge wurde nämlich vor allem durch das Kleinbürgertum praktiziert und von den einfachsten Lohnempfängern, die ja vor allem davon profitieren sollten, eben nicht. So begünstigte die Zuweisung von staatlichen Subventionen für die fakultative Vorsorge i m allgemeinen den Mittelstand, dessen Lebensstandard höher war, und das Budget diente dazu, soziale Unterschiede noch zu verstärken. U m nun die immer noch unerledigte soziale Frage zu lösen, mußte sich der Staat ab dem Ende des 19. Jh. mit der Schaffung von gesetzlichen Pflichten abfinden. 2. Die Schaffung gesetzlicher Pflichten Schließlich intervenierte der Staat auf punktuelle A r t und Weise, um neben der fakultativen Vorsorge gesetzliche Verpflichtungen zu schaffen, die zu seinen Lasten, bzw. zu denen der Arbeitgeber und der Lohnempfänger gehen.
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Léon Bourgeois, Verfechter des Solidarismus, sprach sich ebenfalls zugunsten der „liberté subsidiée" aus. 14 Sozialversicherung
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a) Die Pflicht des Staates Der Staat hat sich sehr lange bemüht, jeglicher sozialer Pflicht einschließlich der öffentlichen Fürsorge auszuweichen. Bis zum Gesetz vom 14. J u l i 1905 nämlich war die staatliche Fürsorge das Werk der Gebietskörperschaften: d. h. der Gemeinden und Departements. Die obligatorische Fürsorge betraf nur die ausgesetzten Kinder und die Geisteskranken, die von den Gemeinden übernommen wurden (Gesetz vom 5. 4. 1884 über die Organisation der gemeindlichen Rechte und Pflichten), und andererseits die bedürftigen Kranken (Gesetz über kostenlose medizinische Fürsorge vom 15. 7.1893). Das Gesetz vom 14. J u l i 1905 organisierte die obligatorische Fürsorge für die Alten über 70 Jahre, wenn sie ohne M i t t e l waren und unfähig, ihre Bedürfnisse durch Arbeit zu decken. Außer der Einweisung in ein Krankenhaus oder Heim sah das Gesetz die Möglichkeit einer Fürsorge zu Hause vor. Die finanzielle Last sollte zwischen den Gemeinden und dem Staat verteilt werden. Die Verabschiedung dieses Gesetzes führte zu einer lebhaften Kontroverse zwischen den Anhängern zweier extremer Positionen: den Liberalen einerseits, die sich jeglicher gesetzlichen Pflicht des Staates bei der Fürsorge entgegenstellten, und andererseits denjenigen, die über die traditionelle Fürsorge hinausgehen wollten, um zugunsten der Armen ein Recht zu schaffen, welches auf dem Prinzip der sozialen Solidarität basiert. Der Graf von Lanjuinais hatte i m Verlauf der parlamentarischen Debatten 25 klar und deutlich die liberale Konzeption des Staates dargelegt. „ I n einem wirklich freien Land sollte sich die Rolle des Staates bis auf wenige Dinge auf die Funktionen beschränken, für die er geschaffen wurde, d. h. den äußeren und inneren Frieden zu wahren. Der Rest betrifft i h n nicht, und ich meine insbesondere, daß alle Probleme der öffentlichen Fürsorge viel zufriedenstellender gelöst werden könnten und zugleich auf weniger kostspielige A r t , wenn ihre Lösung voll und ganz den kleinen Gebietskörperschaften überlassen bliebe, d. h. den Gemeinden und Departements und vor allem der Initiative der Verbände und des Einzelnen." Diese Konzeption des liberalen Staates war nicht mehr richtig. Die Trennung von Kirche und Staat verlangte, daß der Staat der Kirche auf ihrem traditionellen Terrain entgegentrat, indem er außerhalb der karitativen Einrichtungen ein Recht auf öffentliche Fürsorge schuf, an deren Finanzierung er sich beteiligte. 25 Abgeordnetenkammer— Sitzung v o m 15. J u n i 1903, Journal Officiel — Parlamentsdebatten v o m 16. J u n i 1903, S. 1974.
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b) Die Pflichten der Arbeitgeber Das Gesetz vom 9. A p r i l 1898 über die pauschale Entschädigung bei Arbeitsunfällen setzte den Begriff des beruflichen Risikos an die Stelle des Verschuldens des Arbeitgebers oder seiner Beauftragten. Die Arbeitgeber haben sich dieser qualitativen, wenn nicht quantitativen, Änderung ihrer Haftung gestellt, indem sie sich bei Versicherungsgesellschaften versicherten. Die Debatte über die Pflicht des Arbeitgebers beschäftigte sich vor allem m i t der Errichtung eines obligatorischen Systems von Arbeiterrenten. I m Sog des Liberalismus war die Arbeitgeberschaft dieser Idee feindlich gesonnen und zog es vor, sich an ein fakultatives System der Betriebsrenten zu halten. Sie stellte vor allem die Unmöglichkeit kleinerer Unternehmen, die Kosten einer solchen Verpflichtung zu tragen, i n den Vordergrund. Der sozialen Doktrin der Kirche gelang es jedoch, einen Teil der Unternehmerschaft zu erreichen und somit den Liberalismus, der dann eine nuancierte Position einnahm, zu schwächen. Es w i r d das Beispiel eines Unternehmers, nämlich Jean Dolfuss aus Mülhausen, zitiert, der behauptete, nicht zu verstehen, daß ein Arbeitgeber zwar seine Maschinen gegen das Risiko eines Brandes, nicht aber seine Arbeiter gegen die Risiken Krankheit, Unfall und Alter versichere. I m Jahre 1910, nach langen Debatten i m Parlament, wurden dann schließlich die Arbeiterund Bauernrenten geschaffen. Wenn dies i m folgenden auch zu vielen Enttäuschungen führte, so war doch das Prinzip eines Pflichtbeitrags durch den Arbeitgeber bei der sozialen Vorsorge endgültig anerkannt. Dieses Prinzip führte i n Wirklichkeit zu einer Trennung bei der Entlohnung der Arbeitskraft zwischen dem den Betroffenen direkt ausgezahlten Lohn und dem indirekten Lohn, der zu seinen Gunsten i n Form eines Arbeitgeberbeitrages bei einer Vorsorgeinstitution eingezahlt wurde. c) Die Pflichten der Arbeitnehmer Parallel zu seiner Opposition gegen den Arbeitgeberanteil hat sich der Liberalismus von Anfang an gegen jegliche Pflicht der Arbeiter auf dem Gebiet der sozialen Vorsorge gestellt, m i t der Begründung, daß eine solche Pflicht die Freiheit des Menschen und das Recht auf Eigent u m beeinträchtige. Wenn jeder frei sein muß, um auf seine A r t und Weise seine eigenen Güter zu verwalten und sich durch Sparen ein Vermögen zu schaffen, so kann jegliche Pflicht, einen Beitrag zu einer Vorsorgeinstitution zu leisten, die Arbeiter nur dazu verdammen, Lohnempfänger zu bleiben.
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Diese Ideologie wurde von Denys Cochin 26 , einem konservativen A b geordneten aus Paris, anläßlich der Debatten i m Parlament i m Jahre 1901 über den ersten Entwurf der obligatorischen Arbeiterrenten sehr gut zusammengefaßt: „Wenn Sie dem Arbeiter einen rechtlichen Befehl geben, um ihn zu zwingen, seine Ersparnisse i n Ihre Rentenkasse einzuzahlen, dann haben Sie i h m die Möglichkeit genommen, etliche andere Arbeitsstellen, die er vorgezogen hätte, anzunehmen. A u f dem Land kauft er ein Feld, Haus und Vieh; i n der Stadt kauft er Werkzeuge oder ein kleines Geschäft. So erhält er Zugang zur Unternehmerschaft (Sehr gut! Sehr gut! A u f der rechten Seite und i n verschiedenen anderen Reihen i m Parlament). Sie, Sie aber lassen ihn Lohnempfänger bleiben, indem Sie eine ausschließliche Verwendung seines geringen Kapitals verlangen, indes Sie ihn nämlich zwingen, eine einzige Anlegeart zu wählen. Sehen Sie, meine Herren, das Unrecht Ihres Entwurfes liegt darin, daß Sie die Bürger i n zwei Klassen einteilen, daß Sie sie in zwei Lager spalten, das der Arbeitnehmer und das der Arbeitgeber. I n W i r k lichkeit gehen diese zwei Lager ineinander über, fließen diese zwei Klassen ineinander. Sie suchen vergeblich den sparsamen Arbeitnehmer auf der Liste ihrer Pensionsempfänger; er ist Unternehmer geworden, er ist ein Bürgerlicher geworden, ohne Sie zu warnen und ohne, daß er Sie gebraucht hätte." Aber diese theoretische Opposition paßte immer schlechter in die Realität. Einerseits waren die Arbeiter aufgrund ihrer unzureichenden Löhne zum größten Teil nicht fähig, irgend etwas zu sparen. Andererseits war ihnen i n vielen Fällen seitens der Arbeitgeber die Verpflichtung auferlegt worden, Beiträge zu Betriebsrentenkassen zu bezahlen. Hinsichtlich dieses letzten Punktes wurde natürlich über den Unterschied zwischen einer vertragsgemäßen Pflicht, die vom Arbeitgeber aufgezwungen werden kann, und einer gesetzlichen Pflicht, die nicht vom Staat durchgesetzt werden kann, diskutiert. Aber der Widerspruch war so eindeutig, und der Spielraum so gering, daß die Anhänger des Liberalismus die Verabschiedung des Gesetzes vom 5. A p r i l 1910 über die Errichtung der Arbeiter- und Bauernrenten einschließlich einer A u f teilung der Beiträge auf Arbeitgeber und Arbeitnehmer akzeptieren mußten, jedoch nicht ohne den Willen, anschließend dieses Gesetz zu torpedieren, wie w i r es später noch sehen werden. I V . Die vor dem Ersten Weltkrieg erzielten Ergebnisse
Der Erste Weltkrieg w a r ein Schock, auf menschlicher Ebene wie für die Entwicklung der Ideen. 26 Abgeordnetenkammer — 2. Sitzungsperiode v o m 25. J u n i 1901, Journal Officiel — Parlamentsdebatten v o m 26. Juni, S. 1568.
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Daher ist es angebracht, die Lage i n Frankreich bei der Sozialfürsorge und der sozialen Vorsorge vor dem Ausbruch dieses Krieges zu studieren. 1. Die öffentliche Fürsorge Jahrhundertelang war die Wohltätigkeit das ausschließliche oder fast ausschließliche Werk der Kirche. Die öffentliche Macht, verkörpert durch den Herrn, den König oder den modernen Staat, hatte als einzige Pflicht die Verteidigung der Gesellschaft gegen „asoziale" Individuen und darauf ist ihre Intervention zur Unterdrückung des Vagabundentums oder der Bettelei zurückzuführen 27 . Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts sah man die öffentliche Fürsorge als ein Instrument zur Verteidigung der Gesellschaft an, sie gehörte somit auch zum Arsenal der polizeilichen Maßnahmen. Ihre Verwaltung oblag übrigens dem Innenministerium, welches auch m i t der Wahrung der Ordnung und der öffentlichen Sicherheit beauftragt war. 1889 fand i n Paris ein internationaler Kongreß der öffentlichen Fürsorge statt, i n dessen Verlauf folgende Prinzipien angenommen wurden: — Das Prinzip der Fürsorgepflicht für die Gebietskörperschaften; — das Prinzip, nach dem die Fürsorge durch das dem Betroffenen am nächsten liegende territoriale Gebiet, d. h. dem Unterstützungswohnsitz, gewährt werden muß. Der Staat leistete nur einen finanziellen Zuschuß; — das Prinzip, daß die Fürsorge, die nur mittellosen Personen gewährt wurde, die nicht arbeiten konnten, subsidiär ist gegenüber jeder anderen Form von Hilfe und vor allem der Familienhilfe. Ab 1893 wurden diese Prinzipien i n Frankreich durch die bedeutenden Fürsorgegesetze der Dritten Republik angewendet 28 . Die Krankenhäuser erhalten zum ersten M a l ihre Kosten für die den Bedürftigen gewährte Pflege zurückerstattet. Sie beginnen somit ihren Charakter als Fürsorgeeinrichtungen aufzugeben und werden Pflegeinstitutionen. 27
Die Bestimmungen des code pénal, die i m übrigen heute noch gelten, sind beispielhaft f ü r dieses repressive Vorgehen: Artikel 269: „Das Vagabundent u m ist ein Delikt." Artikel 270: „Die Vagabunden oder Landstreicher sind jene, die weder eine feste Wohnung haben noch die M i t t e l zum Lebensunterhalt u n d die normalerweise weder eine Beschäftigung noch einen Beruf ausüben. Artikel 271: „Vagabunden oder Landstreicher, die v o m Gesetz als solche erkannt wurden, werden aus diesem G r u n d m i t drei bis sechs Monaten Gefängnis bestraft." 28 Kostenlose medizinische Versorgung Das Gesetz v o m 15. J u l i 1893 über die kostenlose medizinische Versorgung „assistance médicale gratuite" (A.M.G.) w a r das erste wichtige f r a n zösische Gesetz auf dem Gebiet der Fürsorge. Nach diesem Gesetz sollte jedes Jahr i n jeder Gemeinde eine Liste der Bedürftigen erstellt werden, die kostenlos zuhause u n d i m Krankenhaus Pflege erhielten.
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Die Gemeinde ihrerseits sieht sich in ihrer Rolle als Hauptschuldner der Fürsorge bestätigt, selbst wenn die finanzielle Last ebenfalls vom Departement und vom Staat getragen wird. a) Hilfe für Alte, Körperbehinderte und unheilbar Kranke Das Gesetz vom 15. J u l i 1905 schuf zwei Formen von Fürsorgeleistungen für die Alten, Behinderten und unheilbar Kranken, ohne irgendeinen Unterschied zwischen diesen Kategorien zu machen: — entweder Unterbringung i n einem Hospiz — oder für die Bedürftigen, die nicht dafür i n Frage kommen, eine Pension, deren Höhe sich an den Lebenshaltungskosten i n der Gemeinde orientierte; dies war sehr wahrscheinlich der erste Ansatz zur Bildung des Begriffs „Existenzminimum". Dieses Gesetz hatte außerdem Sonderkommissionen m i t dem Auftrag geschaffen, über Fürsorgeanträge zu entscheiden 29 . b) Kinderfürsorge Die industrielle Revolution führte zu einem Auseinanderfallen der Familien, die i n Not und Elend lebten; dies hatte schon dazu geführt, daß der Staat direkt eingriff durch die Schaffung von Inspektoren für Fürsorgezöglinge (1871) und die Aberkennung der väterlichen Gewalt (1889), aber das Gesetz vom 27. J u n i 1904 ging noch viel weiter und schuf einen Kinderhilfsdienst auf Departementsebene, wobei die Ausgaben durch einen Beitrag der drei Gebietskörperschaften: Gemeinde, Departement und Staat gesichert waren. Dieses Gesetz brachte außerdem eine neue Regelung bezüglich der ausgesetzten Kinder und übertrug die Vormundschaft der Mündel vom Staat auf den Präfekten. I m Geiste moralischer Strenge gegenüber den asozialen Familien stand nun fest, daß der Staat nicht nur das Fehlen der Eltern zu ersetzen hatte, sondern, falls notwendig, auch das K i n d gegen diese zu verteidigen hatte. Strenge Lösungen wurden ebenfalls ins Auge gefaßt: Bruch der Familienbande und Geheimhaltung der Unterbringung. Die Kinderfürsorge ist seither neben anderen Hilfsformen immer bestehen geblieben, denn die Probleme bestehen unter anderen Umständen weiter.
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J. Barthélémy, L'effort charitable de la I I I . République, Revue de droit public 1910, S. 334. Derouin, Gory et Worms: Traité d'assistance publique. 2 volumes 1914.
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c) Die Auswirkungen der Fürsorgegesetze Diese gesamte Gesetzgebung erfuhr mangels anderer sozialer Maßnahmen, (trotz gewissen administrativen Zögerns), große Verbreitung. Das Innenministerium, das stark mit den Fragen der öffentlichen Ordnung beschäftigt war, wurde der Fürsorge zugunsten des Arbeitsministeriums enthoben, das zu Beginn des Jahrhunderts geschaffen worden war. 1906 gab es über 1.320.000 Personen, vor allem i n den Arbeitergegenden und insbesondere i n der Region du Nord 3 0 , die an solchen Hilfeleistungen teilhatten. 2. Entschädigung bei Arbeitsunfällen Die Einführung und Entwicklung der Maschinen i n der Industrie war Ursprung der Zunahme von Arbeitsunfällen, die die Unsicherheit des Arbeiterlebens noch steigerten. Die klassischen Mechanismen der Haftpflicht, basierend auf dem Begriff des Verschuldens, ermöglichten aber den Opfern von Arbeitsunfällen nur selten, eine Entschädigung für den erlittenen Schaden zu erhalten. U m eine solche Entschädigung vom Arbeitgeber zu erhalten, mußte das Opfer nämlich den dreifachen Beweis der Tatsache eines Arbeitsunfalles, des Ausmaßes des erlittenen Schadens und des Verschuldens des Arbeitgebers beim Schadensereignis erbringen. I n den meisten Fällen, selbst wenn alle juristisch erforderlichen Bedingungen vorhanden waren, war es dem Unfallgeschädigten materiell unmöglich, das hierfür notwendige Verfahren einzuleiten. Dies führte nach und nach zu einer Heerschar von Arbeitsunfallgeschädigten — ganz oder teilweise ohne Existenzgrundlage, die gemäß des damals gebräuchlichen Ausdruckes den „menschlichen A b f a l l der Industrie" darstellten —, die eine besondere juristische Behandlung erforderten. Diese Behandlung war besonders mühsam i n Gang zu bringen, denn sie stieß von vorneherein auf die klassischen Prinzipien der Haftpflicht. Hier nun die wichtigsten Etappen: a) Der Mißerfolg der nationalen Versicherungskasse für Arbeitsunfälle Ab 1868 bestand eine nationale Versicherungskasse gegen Arbeitsunfälle, um die Arbeitgeber und die Arbeiter dazu anzuregen, sich indi30 Von E. A l f andari genannte Zahlen: Aide sociale, action sociale. Dalloz, 2. Auflage, Paris 1977, S. 9.
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viduell zu versichern. Sie erzielte nicht den von ihren Förderern erhofften Erfolg bei den Arbeitgebern und auch nicht bei der Arbeiterklasse. I m allgemeinen griffen die kleinen Unternehmer nicht auf die Versicherung zurück; nur einige Großindustrielle versicherten ihre Arbeiter oder versicherten sich selbst gegen mögliche Regreßansprüche seitens ihrer Arbeiter, die Opfer eines Arbeitsunfalls waren. Dieser Mißerfolg führte zu mehreren Versuchen auf Parlaments- und Regierungsebene, die Pflichtversicherung für Arbeitsunfälle einzuführen, aber sie stießen sich an der Allmacht des konservativen Liberalismus, verkörpert durch den Senat. b) Marathonsitzungen i m Parlament Der erste Gesetzesvorschlag aus dem Jahre 1880 stammte von M a r t i n Nadaud 31 , einem ehemaligen Arbeiter, später Abgeordneter von Paris, der i n Unstimmigkeit m i t der Pariser Kommune sich damals i n sein Heimatland zurückgezogen hatte. Dieser Entwurf inspirierte sich an der deutschen Gesetzgebung von 1871, dem Reichshaftpflichtgesetz, insofern, als er bei Arbeitsunfällen eine Verschuldensvermutung zu Lasten der Arbeitgeber einführen wollte. Dieser Vorschlag wurde nicht angenommen, wurde aber von anderen Vorschlägen gefolgt, die unter dem Einfluß des deutschen Gesetzes von 1886 und der i h m vorausgehenden Debatten auf dem Prinzip des Berufsrisikos beruhten und durch die Pflichtversicherung und die Pauschalentschädigung ergänzt wurden. Diese verschiedenen Vorschläge führten i m Parlament zu endlosen Debatten. Die Pflichtversicherung jedoch konnte für das Risiko Arbeitsunfall die Hürde des Senats nicht überwinden. Der i m Jahre 1898 erzielte Kompromiß zwischen den Anhängern des Berufsrisikos und denen der traditionellen Verschuldensvoraussetzung bei der Haftung sollte a priori jegliche Idee der Pflichtversicherung ausschließen. c) Das Vorgehen der Juristen Angesichts des Problems der Opfer von Arbeitsunfällen versuchten verschiedene Juristen, darunter die namhaftesten, die Techniken der Haftpflicht an diese besondere Situation anzupassen. Dafür wurden zwei Theorien erarbeitet, jedoch auf anderen Gebieten als dem der Arbeitsunfälle: aa) Die Vertragstheorie, aufgrund derer jeglicher Arbeitsvertrag wegen seines Abhängigkeitsverhältnisses eine Sicherheitsverpflichtung zu Lasten desjenigen darstellt, der die Autorität ausübt, d. h. des Arbeitgebers. Diese Theorie implizierte eine Umkehrung der Beweislast. Wenn nämlich der Arbeitgeber auf die Sicherheit seiner Arbeiter achten muß, 31
2680.
Martin-Nadaud,
Parlamentsdebatten,
Abgeordnetenkammer
1880, Nr.
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dann kann derjenige unter ihnen, der Opfer eines Unfalls wird, von i h m Schadensersatz verlangen, außer wenn der Arbeitgeber höhere Gewalt, Zufall oder ein Verschulden des Opfers 32 nachweist. Diese Theorie führte zur Schaffung eine Verschuldensvermutung zu Lasten des Arbeitgebers. Sie wurde i n der Schweiz ab 1881 gesetzlich verankert und hatte einigen Erfolg bei den belgischen Gerichten 33 . I n Frankreich wurde sie von den Gerichten zurückgewiesen, die sich dabei auf folgende vom Appellationsgericht i n Rennes 34 zusammengefaßte Haltung zurückzogen: „ . . . A r t i k e l 1710 (Code Civil) . . . , der den Verdingungs- u n d Werkvertrag regelt, legt den Unternehmern keine andere Verpflichtung auf, als dem Arbeiter den vereinbarten Preis zu zahlen."
Die Vertragstheorie sollte sich erst sehr viel später, nämlich 1911, durch das Kassationsgericht durchsetzen, das schließlich die Existenz einer Sicherheitsverpflichtung anerkannte, wenn auch nur bei Transportverträgen 3 5 ; das Gesetz von 1898 hatte die Theorie des Berufsrisikos bei Arbeitsunfällen anerkannt. bb) Die objektive Theorie, aufgrund derer das Verschulden nicht die einzige Bedingung für die Haftung sein mußte, sondern auch auf der Verursachung des Risikos basieren konnte. Die Anhänger dieser Theorie stützten sich dabei auf A r t i k e l 1384-1 des Code Civil, der wie folgt lautet: „ M a n ist nicht nur für den Schaden verantwortlich, den man durch sein eigenes Verschulden verursacht, sondern auch für den, der durch das Verschulden von Personen entsteht, für die man haftet oder Dinge, die man in Gewahrsam hat." Bis dahin hatte man diesen Text als einen einfachen Ubergang interpretiert, der die Sonderbestimmungen der A r t i k e l 1385 und 1386 des Code C i v i l hinsichtlich der Tierhaltungshaftung und Gebäudehaftung einleitete. I n Belgien, (wo A r t i k e l 1384 wie i n Frankreich Anwendung fand), fand diese „Entdeckung" statt, derzufolge es nicht mehr den Opfern eines Arbeitsunfalles oblag, das Verschulden des Arbeitgebers zu beweisen, sondern dieser den Beweis erbringen mußte, daß er kein Verschul32 Diese Theorie fand zwei eifrige Verteidiger: I n Frankreich: Rechtsanwalt Sauzet, Responsabilité des patrons envers les ouvriers, Kritische Revue 1883, S. 596 ff. I n Belgien: Rechtsanwalt Sainctelette, Responsabilité et garantie, Brüssel 1844, S. 140, Nr. 13. 33 Siehe belgisches Kassationsgericht v o m 8. Januar 1886, Sirey 1886. 5.25, jedoch unter Anerkennung der Tatsache, daß der Arbeitsvertrag die H a f t u n g des Arbeitgebers nach sich zog, forderte diese Entscheidung, daß der A r b e i t e r den Beweis f ü r das Verschulden des Arbeitgebers erbrachte. 34 Appellationsgericht von Rennes, 20. März 1893, Dalloz, périodique 1893, 2.256. 35 U n d vor allem "Saleilles, Les accidents d u t r a v a i l et la responsabilité civile, Paris 1897, Josserand, De la responsabilité des choses inanimées, 1897.
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den hatte bei der Leitung und Überwachung von Dingen, deren Eigentümer er ist 3 6 . Diese Interpretation des Artikels 1384 m i t einer Verschuldensvermutung zu Lasten des Arbeitgebers erhielt jedoch die Zustimmung des belgischen Kassationsgerichtes erst nach einigen Jahrzehnten der Überlegung 3 7 . I n Frankreich interessierte sich der Conseil d'État für die objektive Theorie und öffnete, mittels einer Entscheidung von 189538, den Weg für die Begründung der Haftung bei Arbeitsunfällen auf dem Berufsrisiko, während das Kassationsgericht sich entgegen der öffentlichen Meinung entschlossen dagegen stellte 3 9 . Die Interpretation des Gesetzes vom 9. A p r i l 1898 sollte die juristische Debatte darüber abschließen. d) Der Kompromiß i m Gesetz vom 9. A p r i l 1898 Die Verabschiedung des Gesetzes vom 9. A p r i l 1898 über die Entschädigung von Arbeitsunfällen war das Resultat eines auf folgenden Grundlagen realisierten Kompromisses: — Aufgabe jeglicher Idee der Pflichtversicherung, die dem Prinzip des freien Willens des Individuums entgegensteht. — Einführung einer Pauschalentschädigung, basierend auf dem Berufsrisiko. — Modifikation der Pauschalentschädigung auf der Hypothese eines unentschuldbaren Verschuldens beim Risikoeintritt. 36 Siehe Schlußfolgerungen des Staatsanwalts Faidher, an die sich das Gericht von Brüssel am 31. M a i 1871 anschloß, Belgique Judiciaire 1871, Spalte 758. Diese Entscheidung umfaßte vor allem folgende zwei Begründungspunkte: „ A t t e n d u que du texte de l'article 1384 du code c i v i l i l ressort clairement que le propriétaire d'une chose même inanimée q u ' i l a sous sa garde est responsable du dommage causé par le fait de cette chose." „ A t t e n d u que si l'on se pénètre de l'esprit de cette disposition, l'on acquiert la conviction que cette responsabilité prend naissance du moment où, du seul fait de la chose, i l résulte u n préjudice; q u ' i l est, en effet, naturel et logique que le propriétaire d'une chose sur laquelle i l a le droit et le devoir de surveillance et de direction, soit légalement présumé en état de faute dès l'instant où cette chose cause u n préjudice." 37 Erst 1904 sollte sich das belgische Kassationsgericht an das v o n Staatsanwalt Faidher u n d v o m Brüsseler Gericht empfohlene System anschließen. Pasicrisie 1904. 246. 38 Conseil d'État, 21. J u n i 1895. Cames, Sammlung 509, Schlußfolgerung Romieu. Sirey 1897.3.33, Schlußfolgerungen Romieu. 39 Kassationsgericht 16. J u n i 1896. Dalloz périodique 1897.1.43, note Saleilles. Sirey 1897.1.17 A n m e r k u n g Esmein. Das Kassationsgericht anerkannte endgültig die Verschuldenshaftung des Halters einer gefährlichen Sache auf der Grundlage von A r t i k e l 1384.1 des Code C i v i l erst 1930 an der Sache Jand'heur (Chambres réunies 13. 2. 1930 et conclusion Matter, Dalloz 1930.1.64, Gazette du Palais 1930.1.393.).
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Es war übrigens die Einführung des Begriffes der „faute inexcusable" i n den Parlamentsdebatten, die 1898 die Verabschiedung des Gesetzes ermöglichte. Dieser Begriff ermöglichte es den Anhängern des Verschuldensprinzips, nicht offen zu kapitulieren, und den Anhängern des Risikoprinzips, das ihnen Wesentliche durchzusetzen. Der Kompromiß war um so leichter zu schließen, als das Konzept des unentschuldbaren Verschuldens unklar blieb. Es dauerte übrigens fast ein halbes Jahrhundert, bis die Gerichtsbarkeit das unentschuldbare Verhalten definierte als „ein Verschulden außergewöhnlicher Schwere, resultierend aus einer freiwilligen Handlung oder Unterlassung, dem Bewußtsein der Gefahr seitens des Verursachers, der Abwesenheit jeglicher Rechtfertigung, und sich vom vorsätzlichen Verschulden unterscheidend durch das Fehlen des Absichtselements" 40 . Das vorsätzliche Verschulden blieb natürlich außerhalb der Gesetzgebung für Arbeitsunfälle und gehörte weiterhin zur Haftpflicht. Dieser Kompromiß stellte damals eine beträchtliche Verbesserung des Schicksals der Arbeitsunfallgeschädigten dar. I m Unterschied zu Deutschland, das 1886 eine Gesetzgebung über das Versicherungswesen ausgearbeitet hatte, hatte man i n Frankreich nur die Haftung der A r beitgeber bei Arbeitsunfällen vorgesehen. e) Die weitere Entwicklung Der Schutz des Gesetzes von 1898, der ursprünglich auf die Arbeitnehmer in der Industrie Anwendung fand, wurde nach und nach m i t der Mechanisierung der Arbeits- und Transportmittel obligatorisch auf die Arbeiter i n der Landwirtschaft bei Unfällen durch Verwendung von motorgetriebenen Maschinen (1899), i n Handelsunternehmen jeglicher A r t (1906), in forstwirtschaftlichen Betrieben (1914) und fakultativ auf alle Unternehmen ausgedehnt, die sich daran beteiligen wollten — ungeachtet ihrer Tätigkeit. Die Arbeitgeber zögerten nicht mehr, sich bei den Versicherungsgesellschaften gegen die Folgen der Arbeitsunfälle, denen ihre Arbeiter eventuell ausgesetzt waren, zu versichern. Die Versicherungsgesellschaften, die ein Höchstmaß an Profit erzielen wollten, begannen systematisch den Charakter der Arbeitsunfälle zu bestreiten und zwangen die Opfer, den Beweis für die Kausalität zwischen Arbeit und erlittenem Unfall zu erbringen, um eine Entschädigung zu erhalten. Aufgrund der Risiken eines solchen Beweises und des offensichtlichen Mißbrauchs beschloß schließlich die Gerichtsbarkeit eine Zurechenbarkeitsvermutung zugunsten der Opfer von Arbeitsunfällen anzuerken40 Kassationsgericht, chambres réunies 15. J u l i 1941. Dalloz critique 1941.117 A n m e r k u n g A. Rouast. L a semaine j u r i d i q u e 1941.1705 A n m e r k u n g J. Mihura.
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nen 4 1 . Von nun an oblag es dem Arbeitgeber oder seiner Versicherungsgesellschaft, die den Charakter eines Arbeitsunfalles bestritt, das Fehlen der Kausalität zwischen Unfall und Arbeit zu beweisen. Diese Zurechenbarkeitsvermutung ist immer noch i n Kraft. 3. Die
„Mutualité "
Während mehrerer Jahre wollte die dritte Republik den Beschwerden der „mutualité" nicht stattgeben. Der Krieg von 1870 und die Betonung der Selbstverwaltung i n den Gemeinden von 1871 einerseits, die politische Opposition gegen die ehemaligen Hilfsvereine auf Gegenseitigkeit, die ja unter dem zweiten Kaiserreich anerkannt worden waren, andererseits, hatten jegliche Initiative zugunsten der Hilfsvereine auf Gegenseitigkeit gestoppt. Die Situation sollte sich jedoch am Ende des 19. Jh. weiterentwickeln. a) Zuerkennung eines liberalen Statuts 1881 lag dem Parlament ein erster Gesetzesvorschlag über die Hilfsvereine auf Gegenseitigkeit (sociétés mutualistes) vor, aber erst 17 Jahre später, nach zahlreichen Debatten, zog man es vor, der „mutualité" ein liberales Statut zuzuerkennen statt ein obligatorisches Sozialversicherungssystem zu errichten. Der fakultative Charakter der Hilfsvereine auf Gegenseitigkeit respektierte viel besser das Prinzip des freien W i l lens des Individuums, von dem die Dritte Republik durchdrungen war. Das Gesetz vom 3. A p r i l 1898 gab den Hilfsvereinen auf Gegenseitigkeit eine sehr große Unabhängigkeit; es ermöglichte ihnen, sich ohne vorherige Genehmigung, unter dem einzigen Vorbehalt der Mitteilung ihrer Statuten an die Behörden zu konstitutieren. Dieses Nachgeben bei der Überwachung ging nicht ohne Zögern vonstatten, aber die politische Macht war der Ansicht, daß nach den Schwierigkeiten, die sie ohnehin hatte, die mutualistische Bewegung sich viel eher dem neuen Regime näherte, wenn es sich liberaler zeigen würde. Diese Hoffnungen wurden nicht enttäuscht. Ein Gesetz vom 4. J u l i 1900 erweiterte das mutualistische Prinzip auf wirtschaftliche Risiken i n der Landwirtschaft, berufliche oder nicht berufliche Unfälle, Hagel, Feuer und Viehsterblichkeit. b) Die Eroberung der Mittelschichten A b dem Gesetz vom 1. A p r i l 1898 erfährt die „mutualité" eine beträchtliche Steigerung ihrer Mitgliederzahl: von 1.400.000 Mitgliedern i m Jahre 1890 (dies entspricht fast einer Verdoppelung gegenüber dem Ende des zweiten Kaiserreichs) steigt die Mitgliederzahl auf 1.900.000 i m 41
Kassationsgericht, Vereinigte Kammern, 7. A p r i l 1921, Sirey 1922.1.81.
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Jahre 1898, dann auf 3.750.000 i m Jahre 1905, u m 1914 5.300.000 zu erreichen. Die „mutualité" schöpfte jedoch i m wesentlichen ihre M i t glieder aus den Mittelschichten, die sich zu ihr bekannten: Kaufleute, Handwerker, Kleinbauern, Kleinunternehmer etc., so daß diese Schicht ihr wesentlicher Bestandteil wurde. A u f diese Weise etabliert, versinkt der „Mutualismus", entgegen seinen Ursprüngen als Instrument des Widerstandes und des Kampfes der Arbeiterklasse, i n die Ideologie des „paternalisme patronal" und der Klassenkollaboration. Diese Entwicklung war vorausgeplant. I m Verlauf der Parlamentsdebatten über das Gesetz von 1898 erklärte einer der eifrigsten Verteidiger des Entwurfes, Senator Lourties, daß dieses Gesetz „durch das langfristige Sparen eine neue Klasse von kleinen Kapitalisten schaffen würde und somit die Grundlagen des sozialen Friedens erweitern würde" 4 2 . Die Erklärung des Präsidenten der Republik, Émile Loubet, vom 3. Oktober 1904, an die Vertreter des Mutualismus gerichtet, feierte den Erfolg mit folgenden Worten 4 3 : „Sie realisieren die republikanische Brüderlichkeit. I n allen unseren Gesellschaften, seien sie groß oder klein, reich oder arm, sieht man, w i e P r i v i l e gierte des Lebens u n d des Wohlstands ihre Zeit, ihre Pflege, ihre finanzielle Hilfe ihren weniger glücklichen M i t b ü r g e r n angedeihen lassen, sich vereinen u n d m i t ihnen vermischen i n einer fruchtbaren u n d engen Zusammenarbeit — u n d es gibt k e i n tröstlicheres B i l d . . . "
Diese Erklärung Schloß i m übrigen, abgesehen von der unterschiedlichen Taktik, an den Gedanken Napoleons II. an 4 4 . „Die Hilfsvereine auf Gegenseitigkeit, so w i e ich sie verstehe, haben den exzellenten Vorteil, die unterschiedlichen Klassen der Gesellschaft zu v e r einen, die Eifersüchteleien, die zwischen ihnen bestehen mögen, zu beenden, zum großen T e i l das Resultat des Elends zu neutralisieren, indem der Reiche f r e i w i l l i g durch den Überfluß seines Vermögens u n d der Arbeiter durch den Ertrag seiner Ersparnisse einer I n s t i t u t i o n hilft, i n der der fleißige Arbeiter Rat u n d Unterstützung findet. M a n gibt also den verschiedenen Gemeinschaften ein Ziel, m a n versöhnt die Klassen u n d moralisiert die Individuen."
Der Triumph dieser Ideologie führte fatalerweise zur Trennung von Mutualismus und Gewerkschaftswesen.
42
Siehe Lavielle, Histoire de la mutualité, Hachette 1964, S. 55. Rede anläßlich eines Banketts der Mutualisten m i t über 20.000 Personen i n der „Galerie des Machines", Überbleibsel der Ausstellung aus dem Jahre 1900 auf dem Champs de Mars. 44 Rede von Napoleon I I I . zitiert v o n Émile Laurent, L e paupérisme et les associations de prévoyance, Paris 1865, Band I, S. 286. 43
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c) Die Trennung der „Mutualité" von der Gewerkschaftsbewegung Gegenüber dieser Entwicklung der „mutualité" haben die Arbeiter Zurückhaltung gezeigt, denn sie fühlten sich von ihr nicht mehr vertreten. Das Mißtrauen der Arbeiterklasse blieb sehr lange erhalten, wie das auch nachstehender Auszug aus dem Bericht eines mutualistischen Kongresses, der 1923 i n Lyon stattfand und i n der Zeitung „Le peuple", dem Sprachrohr der Confédération générale du travail 4 5 , publiziert wurde, bezeugt. „Der nationale Verband? Eine Ansammlung von Herren, w o h l dekoriert, die versuchen, i n den offiziellen Veranstaltungen zusätzlichen Firlefanz zu erheischen. U n d die verschiedenen Berufsverbände? Bestehend aus Einzelpersonen, die ein Wahlmandat erhalten wollen. Andererseits haben w i r i n L y o n die 900 oder 1.000 Delegierten, die bei den Diskussionen anwesend waren, überprüft. W i r sind zu folgender Feststellung gekommen: Drei Viertel von ihnen mindestens w a r e n keine „Benutzer" der „ M u t u a l i t é " . Außer den Mitgliedern der Opposition — noch nicht einmal alle — waren die Kongreßteilnehmer Unternehmer, Kaufleute, Ärzte, Rechtsanwälte . . . Wer sagt mir, was diese Personen i n Hilfsvereinen auf Gegenseitigkeit machen? Es ist besser, die Ursachen ihrer Aufopferung nicht zu suchen, aus Angst, Gründe zu finden, die m i t Altruismus nichts zu t u n haben. U n d die Verkennung der Ziele der Arbeiterklasse durch diese sozialen Bürgerlichen, die sich auf mehr als eine Seite m i t der Unternehmerschaft über die Familienbeihilfen verschwägert haben, ist groß."
Während also die dritte Republik eine Anzahl ihrer Notablen aus der „mutualité" zog, zeigten die Arbeiter eher die Tendenz, sich der gewerkschaftlichen Bewegung anzuschließen, die seit dem Gesetz vom 21. März 1884 anerkannt und vor allem innerhalb der Confédération générale du travail (C.G.T., gegründet 1895) organisiert war 4 6 . Das Mißtrauen der Arbeiterklasse verschwand keinesfalls durch die Schaffung der Betriebsräte (1945 - 46), die dadurch, daß sie Gegenseitigkeitsvereine auf betrieblicher Ebene förderten, innerhalb der „mutualité" die Entstehung einer „mutualité ouvrière" förderten. 4. Die Arbeiter-
und Bauernrenten
Wie oben schon betont, waren die Leistungen der Betriebsrentenkassen unsicher, denn sie hingen vom guten Willen des Unternehmers ab. U m diese Lücke zu schließen, mußte der Gesetzgeber 1910 ein Arbeiter- und Bauernrentenpflichtsystem einführen. Dieses System wurde nicht nur von den Arbeitgebern, sondern ebenfalls von den Arbeitnehmern kaum akzeptiert und wurde somit ein Mißerfolg. 45
Z i t i e r t von A . Rey, L a question des assurances sociales, Paris 1925, S. 344. Die christliche Gewerkschaftsbewegung hat ihren w i r k l i c h e n Aufschwung erst m i t der Schaffung der Confédération française des travailleurs chrétiens (französischer Verband f ü r christliche Arbeiter) i m Jahre 1919 genommen. 46
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a) Die Unzulänglichkeiten der Betriebskassen Nach dem Konkurs der Bergbaugesellschaft von Voulte-Bessèges i m Jahre 1883, bei dem die Arbeiter ihr Erspartes untergehen sahen (1.700.000 FF, die ihnen vom Lohn abgezogen worden waren), und zugleich dem Konkurs der Finanzgesellschaft Le Comptoir d'Escompte, wo 1.400.000 FF verschwanden, die dem Personal i m Rahmen der Beteiligung an den Gewinnen zukamen, wurde der Eingriff des Gesetzgebers zur Verbesserung der Lage notwendig. Die ersten gesetzlichen Eingriffe zielten vor allem auf die Bergwerke und die Eisenbahn ab, denn diese beiden Tätigkeitssektoren erforderten eine größere Stabilität beim Personal und eine größere Arbeitsdisziplin als andere Sektoren: — Gesetz vom 27. Dezember 1890 hinsichtlich der Übernahme der einbehaltenen Beträge und der geleisteten Zahlungen für eine Altersrente, Schadenersatz nach ungerechtfertigter Kündigung einerseits und andererseits die Verpflichtung der Eisenbahngesellschaften, die Statuten und Reglements ihrer Renten- und Hilfskassen 47 der ministeriellen Genehmigung zu unterbreiten; — Gesetz vom 29. Juni 1894 über die Renten der Bergwerkarbeiter, — Gesetz vom 27. Dezember 1895 hinsichtlich der Einklagbarkeit (zugunsten der Arbeiter und Angestellten) derjenigen Summen, die an Vorsorgeinstitutionen bezahlt wurden und die, i m Falle von Konkurs oder Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers, Schließung oder Übertragung des Unternehmens, nicht entsprechend den Statuten verwendet wurden. Diese Initiativen erwiesen sich aufgrund des Ausmaßes des Problems als unzulänglich und der Gesetzgeber mußte sich zu Beginn des 20. Jh. auf die Errichtung eines Pflichtsystems einlassen. b) Die Errichtung eines Rentenpflichtsystems Außer dem ungewissen Charakter der vorgesehenen Altersruhegelder und den Problemen der Verwaltung der Betriebskassen gab es noch einen dritten Grund, der die Errichtung eines Rentenpflichtsystems rechtfertigte: außer bei den Bergwerken und den Eisenbahnen erfaßten die Betriebskassen nur eine kleine Minderheit der Arbeiter. A b 1901 wurde ein Entwurf, der darauf abzielte, ein System der Arbeiterrenten zur Pflicht zu machen, i m Parlament diskutiert, der aber am Prinzip der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerpflichtbeiträge scheiterte, ein Prinzip, welches die Freiheit des Spar ens, wie es i n der „mutualité" vorge47 M a n mußte jedoch bis 1909 warten, bis ein Gesetz über die Altersversorgung der Eisenbahner verabschiedet wurde.
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sehen ist, nicht mehr wahrte. Die Ansicht der Gegner einer solchen Verpflichtung, die ja die freie Wahl zwischen verschiedenen Vorsorgeformen unmöglich machte, wurde vom Abgeordneten J. Drake ganz klar ausgedrückt 48 : „ I c h frage mich w i r k l i c h , m i t welchem Recht der Staat zum Arbeiter sagt: „Sie werden auf die eine oder andere Weise etwas beiseite legen oder sparen." Soll denn das Sparen nicht frei sein? B r i n g t denn i n unserem L a n d nicht jeder Arbeiter sozusagen durch seine Geburt das Recht m i t sich, was er erworben hat, so zu verwenden, w i e er w i l l — das, was er aufgrund seiner A r b e i t gespart hat? G i b t es nicht auf dem L a n d oder i n der Stadt f ü r jeden Arbeiter eine besondere F o r m des Sparens, die i h n mehr oder weniger anzieht? A u f dem L a n d versucht er ein Stück L a n d oder ein Haus zu kaufen; i n der Stadt bemüht er sich zu sparen, u m sich ein Arbeitskapital zu schaffen, das es i h m dann zu einem bestimmten Moment ermöglicht, K l e i n u n t e r nehmer oder K l e i n k a u f m a n n zu werden?"
Die gewerkschaftliche Bewegung ihrerseits verweigerte sich jeglicher Anerkennung des Prinzips eines Arbeiterbeitrages und zog die Finanzierung des Rentensystems über die Steuern vor. Das Gesetz über die Arbeiter- und Bauernrenten wurde erst am 5. A p r i l 1910 verabschiedet. Es beruhte auf dem Prinzip der Kapitalisierung und dem des doppelten Beitrags, d. h. des Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeitrags, was es besonders anfällig machte. c) Die Zurückweisung des Systems durch die Allgemeinheit Das Gesetz von 1910 über die Arbeiter- und Bauernrenten hat nicht den erwarteten Erfolg erfahren, denn: Einerseits stieß es auf starken Widerstand i m Arbeitermilieu wegen der Formalität einer Beitragskarte, die mehr oder weniger an das ehemalige Arbeitsbuch für polizeiliche Zwecke erinnerte, und auf die Feindseligkeit mancher Unternehmer, die wenig bereit waren, Beiträge von den Löhnen abzuführen. Die Gerichtsbarkeit Schloß daraus, daß die Arbeitgeber die Beiträge nicht einbehalten konnten, wenn die Jahreskarte nicht vorgelegt wurde, und sie somit jeglicher strafrechtlichen Haftung entbunden waren 4 9 . Andererseits wurde das durch Gesetz anerkannte System der Kapitalisierung aufgrund des Währungsverfalls zunichte gemacht; die i n Goldfrancs eingezahlten Beiträge wurden i n der Form der Pensionen zu entwertetem Geld und spätere Gesetze mußten dann regelmäßig die i m Rahmen der Arbeiter- und Bauernrenten gezahlten Altersbeihilfen anheben. 48 Abgeordnetenkammer: Sitzung v o m 10. J u n i 1901. Journal Officiel. Parlamentsdebatten v o m 11. J u n i 1901. 49 Die Z a h l der Beitragszahler stieg v o n 2.281.000 i m Jahre 1911 auf 3.437.000 i m Jahre 1913, u m 1920 auf 1.798.000 u n d 1922 auf 1.728.000 zu fallen.
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5. Familienbeihilfen Die Familienbeihilfen waren, wie w i r schon betonten, ursprünglich ein Beitrag der christlichen Soziallehre. Sie gehen auf die Idee einer Familienzulage zurück. Diese Idee lag ursprünglich am Schnittpunkt von zwei Themenkreisen: der der Familie, die gegen die Gefahren des Individualismus zu schützen war, denn ohne stabile Familie gibt es keine ausgeglichene Gesellschaft, und der des gerechten Lohnes, wie in der Enzyklika rerum no varum i m Jahre 1891 definiert. Weder das eine noch das andere dieser Themen war sozialistisches Gedankengut, noch gehörte es zu der Arbeitertradition, die darin ein Element der Spaltung zwischen den Arbeitern sah. Die christlichen Unternehmer und diejenigen, die ihnen auf diesem Weg folgten, schufen untereinander Ausgleichskassen, um ihre finanziellen Lasten auszugleichen und das Risiko der Diskriminierung zwischen den Arbeitnehmern auszuschalten. Die von den Ausgleichskassen erbrachten Leistungen behielten trotzdem alle den Charakter von Arbeitgeberleistungen, die darauf abzielten, den Arbeiterfamilien zu helfen und die Arbeitsmoral zu heben, aber auch darauf, die Arbeiter zu kontrollieren. Die Erbringung dieser Leistungen für kleine Kinder unterlag gegebenenfalls der Bedingung, daß die älteren Kinder i m Unternehmen oder Industriekonsortium arbeiteten. Uneheliche Kinder waren davon i m allgemeinen ausgeschlossen. A r t i k e l 2 der Statuten der Ausgleichskasse von Rouen bestimmte zum Beispiel folgendes 50 : „Der Arbeitnehmer hat k e i n gesetzliches Recht auf die Beihilfe; sie k a n n i h m i n dem Falle entzogen werden, wo nachgewiesen w i r d , daß er sie m i ß braucht u n d seine K i n d e r nicht die übliche Pflege erfahren. Der Ausschluß k a n n jedoch n u r m i t Zustimmung des Unternehmers ausgesprochen werden."
Die Ausgleichskassen waren i n der Tat Beauftragte der Arbeitgeber, die nur die Verwaltung übernahmen; sie gaben aber der Familienzulage, die nicht mehr direkt von den Arbeitgebern ausbezahlt wurde, den Charakter von Familienbeihilfen. 6. Die Nachkriegsdebatte
über die Sozialversicherung
Kriege wie auch Wirtschaftskrisen haben umwälzende Auswirkungen auf Vieles, was erreicht wurde, und sensibilisieren auch das Problembewußtsein für soziale Bedürfnisse. Nach dem ersten Weltkrieg gibt es einige Faktoren, die für die Einführung von Teilen eines Sozial50 R. Talmy, Histoire d u mouvement f a m i l i a l en France 1896 - 1939, C.A.F., 1962, Band I I , S. 124.
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Versicherungssystems i n Frankreich nach Bismarckschem Muster sprechen, vor allem gegen die Risiken Krankheit und Alter. Die Debatte sollte aber mehr als ein Jahrzehnt dauern, bevor 1920 das Gesetz über die Sozialversicherung verabschiedet wurde. Wegen des Widerstands, auf den es stieß, mußte das Gesetz neu bearbeitet werden, um dann erst ab dem 1. J u l i 1930 Anwendung zu finden. a) Der soziale und politische Kontext Unter den Faktoren, die für eine Einführung der Sozialversicherung sprachen, kann man einerseits die schwache Auswirkung der Hilfsvereine auf Gegenseitigkeit auf die Arbeiterklasse und den Mißerfolg des Gesetzes von 1910 über die Bauern- und Arbeiterrenten, die sehr niedrig waren, und die ständig abnehmende Zahl der Beitragspflichtigen nach dem K r i e g 5 1 nennen und andererseits die Rückkehr von Elsaß-Lothringen, deren Arbeiter weiterhin vom deutschen System, das beibehalten blieb, profitierten und die besser gegen die sozialen Risiken geschützt waren als diejenigen i m übrigen Frankreich. Die unerbittlichen Anhänger des radikalen Liberalismus sahen in der Sozialversicherung die wesentliche Ursache der Niederlage Deutschlands 52 , andere jedoch zögerten nicht, die gegenteilige Ansicht kundzutun: die Sozialgesetze waren eines der Elemente, welches auf dem Höhepunkt der revolutionären Unruhen nach dem Krieg (1918-1919) Deutschland vor dem Spartakismus, d. h. vor dem bolschewistischen Kommunismus rettete 5 3 . Die verschiedenen Gesetzesentwürfe, die hierzu eingebracht wurden, stießen auf unterschiedlichen Widerstand, manchmal politischer, i m allgemeinen jedoch berufsständischer A r t . b) Der berufsständische Widerstand Außer der politischen Opposition, der revolutionären Fraktion der Gewerkschaftsbewegung 54 , die in der Einführung der Sozialversicherung die Errichtung eines Systems zur Integration der Arbeiterklasse i n das kapitalistische System sah, war die Opposition verschiedener 51 Die Z a h l der Beitragszahler stieg von 2.281.000 i m Jahre 1911 auf 3.437.000 i m Jahre 1913, u m 1920 auf 1.798.000 u n d 1922 auf 1.728.000 zu fallen. 52 Dem Arzt, Dr. Abramovitch, verdankt man die Formel „Deutschland hat den K r i e g verloren, w e i l es durch die Sozialversicherung sein Nervensystem beschädigt h a t " (Abramovitch schreibt übrigens diese Formel einem Schweizer Kollegen zu). Revue médico-sociale, J u l i - August 1929. 53 Paul Pic, L e nouveau projet de l o i sur les assurances sociales, Revue politique et parlementaire, a v r i l 1922, S. 174. 54 V o r allem die Confédération générale du t r a v a i l unitaire (C.G.T.U.) bezeichnete manchmal das Gesetz über die Sozialversicherung als faschistisches Gesetz.
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Lobbys (Landwirtschaft, Mutualisten, Arbeitergewerkschaften, Unternehmer und Ärzteschaft) vor allem berufsständischer Art. Die gewerkschaftliche Bewegung, zumindest i n ihrer mehrheitlichen Tendenz, stellt sich wie 1910 schon gegen das Prinzip eines Beitrags seitens der Arbeiter, interessiert sich aber für das Problem der Organisation der Sozialversicherungskassen, die man paritätisch wünscht, und spricht sich gegen die Kapitalisierung zugunsten des Verteilungssystems aus, u m die negativen Auswirkungen des Währungsverfalls zu umgehen. Die Anhänger der Gegenseitigkeitsvereine, die schon langjährige Erfahrung mit der sozialen Versorgung haben, möchten, daß ihnen die Verwaltung der Sozialversicherung zur Konsolidierung ihrer Position übertragen wird. Die Arbeiterschaft möchte die Kontrolle der Renten- und Krankenkassen, die sie geschaffen hat, nicht aufgeben und so wenig finanzielle Lasten wie möglich tragen. Die Landwirte sind für geringere Beitragssätze i m Vergleich zum Handel und zur Industrie. Die Ärzteschaft schließlich klammert sich an die freie Medizin und weist jegliche Idee der Verbeamtung der Ärzte durch die Sozialversicherung zurück 55 . Konzessionen mußten den einen wie den anderen zugestanden werden, um das System der Sozialversicherung für die Allgemeinheit akzeptabel zu machen — ein System, welches natürlich auf die Risiken wie Krankheit, Mutterschaft, Invalidität, Alter und Tod beschränkt war. Die Entschädigung bei Arbeitsunfällen sollte i n der Tat weiterhin durch das Gesetz vom 9. A p r i l 1898 und die Familienbeihilfen durch Arbeitgeberinitiativen geregelt werden. c) Ausschluß der Arbeitslosenversicherung 1925 ging es um die Gründung einer Arbeitslosenversicherung, um zu vermeiden, daß arbeitslose Arbeiter, deren Beiträge nicht mehr bezahlt wurden, ihre Rechte bei der Alters- und der Krankenversicherung verlieren. Aber dieser Entwurf wurde heftigst bekämpft und geriet in Vergessenheit. Rechtsanwalt Colson hatte die Argumente von Jacques Rueff 5 6 dagegen aufgegriffen: „Heutzutage erkennt i n England, wenn schon nicht offiziell, dann zumindest i n privaten Gesprächen, jeder, daß die Arbeitslosenversicherung die wirkliche Ursache der Krise, der beträchtlichen Verringerung der Exporte u n d der Schwierigkeiten auf dem B i n n e n m a r k t ist."
Wenn dieser Autor auch nicht bestritt, daß die Hilfe für Arbeitslose i n manchen Fällen notwendig war, so meinte er doch ,daß „es wesentlich 55 Z u diesem Z e i t p u n k t drang die gewerkschaftliche Bewegung i n die Ärzteschaft zur Verteidigung der freien Medizin ein. 56 J. Rueff, „Les variations du chômage en Angleterre, Revue politique et parlementaire, Décembre 1925. Siehe auch: L'assurance-chômage: cause d u chômage permanent, Revue d'économie politique, 1931.
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sei, i m Interesse der Arbeiter selbst, wie auch i n dem der Industrie und der öffentlichen Finanzen, daß diese Hilfe niemals ein Recht darstelle, welches die Faulheit fördern könnte oder die Weigerung, wirtschaftliche Bedingungen hinzunehmen, an die sich alle anzupassen haben; deshalb muß man unbedingt vermeiden, dafür den Namen Versicherung zu gebrauchen" 57 . Diese starke Opposition gegen die Arbeitslosenversicherung blieb i n Frankreich bis zur Unterzeichnung des nationalen Kollektivvertrags vom 31. Dezember 1958 erhalten, in dem außerhalb der Sozialversicherung eine Arbeitslosenversicherung geschaffen wurde. Eine ersichtliche Änderung besteht i n dem Ziel, i n einer Periode der Vollbeschäftigung eine Arbeitslosenreserve zu behalten, um einen Druck nach unten auf die Löhne ausüben zu können. Wie dem auch sei, mit der Verabschiedung des Gesetzes über die Sozialversicherung war ein entscheidender Schritt getan: die Substitution der freien Willensentscheidung bei der sozialen Vorsorge durch eine gesetzliche Verpflichtung.
C. V o n der Einführung der Sozialversicherung bis zur Generalisierung der Sécurité Sociale (von 1930 bis heute)
Die Einführung der obligatorischen Sozialversicherung i n Frankreich geschah i m Vergleich zu Deutschland relativ spät. Und i n dem Augenblick, i n dem sie i n K r a f t trat, untergrub die Wirtschaftskrise von 1929 - 1930 schon das Prinzip, indem sie über die Arbeiterklasse hinaus neue soziale Schichten in Unsicherheit und Not stieß; eine Situation, die durch den Krieg von 1939 -1945 noch verstärkt wurde. Während der nationalsozialistischen Besetzung fand der Beveridge-Bericht ein positives Echo unter den politischen Kräften des französischen Widerstandes, sowohl i m Innern (Programme du Conseil National de la Résistance) als auch i m Ausland (das „freie Frankreich", das sich i n London um General de Gaulle scharte). Der französische Plan der Sécurité Sociale, der nach der Befreiung unter der IV. Republik in Angriff genommen wurde, inspirierte sich an den Ideen von Beveridge, ohne ganz mit der Vergangenheit zu brechen, indem das ehemalige System i n eine neue Organisationsform m i t neuen Perspektiven eingebaut wurde, u m den sozialen Schutz gegen die Risiken des Lebens auf die gesamte französische Bevölkerung auszudehnen. Aber nach dem nationalen Widerstand gegen den Faschismus haben sich die sozialen Kräfte schnell auf die 57 C. Colson, L'assurance contre le chômage, Revue politique et parlementaire, A v r i l 1926, S. 5.
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Klassenpositionen zurückgezogen, die manchmal sogar sehr berufsständisch ausgerichtet waren, und der Plan der Sécurité Sociale stieß auf viel Widerstand und wurde nicht voll und ganz von der arbeitenden Bevölkerung angenommen. Die V. Republik mußte nun wohl oder übel m i t der „Sécurité Sociale" rechnen, die von der Unternehmerschaft nur ungern akzeptiert wurde, aber unerläßlich geworden war, um eine Beschleunigung der Industrialisierung i m Lande und die Realisierung großer Produktionseinheiten zu ermöglichen. Neben dem allgemeinen System für Arbeitnehmer i n Handel und Industrie, welches das Pilotsystem der Sécurité Sociale darstellt, erschienen i m Laufe der Jahre unter dem Anreiz der wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen verschiedene autonome oder komplementäre Systeme, die der Politik der Generalisierung der „Sécurité Sociale" neuen Aufschwung verliehen. I n diesem zweiten Teil werden w i r nach und nach die ursprüngliche Gesetzgebung der Sozialversicherung, den französischen Plan der Sécurité Sociale, die Entwicklung der Sécurité Sociale unter der IV. Republik und die Optionen der V. Republik auf dem Gebiet der Sécurité Sociale untersuchen. I . Die ursprüngliche Gesetzgebung der Sozialversicherung
Die Sozialversicherung nach dem Bismarckschen System trug wesentlich zur Sicherheit der Arbeitskräfte aus der Arbeiterklasse bei. Wenn sie jedoch die Entschädigung für Arbeitsunfälle nicht umfaßte, die ja weiterhin i n den Haftungsbereich der Arbeitgeber fiel, so bestand sie doch zusammen m i t einem System der Familienbeihilfen, das seit 1932 zur Pflicht gemacht wurde 5 8 . 1. Anwendungsbereich Der Schutz durch die Sozialversicherung erstreckte sich obligatorisch nur auf die Arbeitnehmer i n Industrie und Handel, deren Löhne unter einem festgelegten Satz lagen, also einer Versicherungspflichtgrenze, die eine Schwelle für die Arbeiter markierte. Die Führungskräfte behielten somit die Möglichkeit, diesen gegen die Risiken Krankheit, Mutterschutz, Invalidität, Alter oder Tod vorgesehenen Schutz, je nach ihrem persönlichen Interesse, anzunehmen oder zurückzuweisen. Bei den Renten sah das Gesetz ab 60 Jahren und nach 30 Jahren Versicherung eine Pension vor, die 40 °/o des durchschnittlichen Arbeitsentgelts, auf der Grundlage der Pflichtbeiträge, die nach dem Alter von 16 J. 58 Außerhalb des allgemeinen Systems der Sozialversicherungen gab es weiterhin eigene Systeme f ü r Bergleute, Seeleute etc.
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geleistet wurden, betrug; dieses Gesetz beruhte auf einem gemischten System von Kapitalisierung und Umlage. 2. Die administrative
Organisation
Die Sozialversicherten hatten die Wahl der Versicherungsträger, welche die ganze Breite der sozialen Risiken so, wie sie in der Gesetzgebung über die Sozialversicherung verankert waren, verwalteten. Eine Kasse auf Departementsebene, die durch die Regierung eingesetzt wurde, umfaßte jene, die sie ausdrücklich auswählten oder, ganz i m Gegenteil, diejenigen, die keine besonderen Präferenzen hatten. Diese Wahlmöglichkeit, die jedem Sozialversicherten zugestanden wurde, sollte jedoch zum Aufblühen von Institutionen m i t gewerkschaftlichem, unternehmerischem, mutualistischem bzw. religiösem Etikett führen und somit zu einer extremen Dispersion der Anstrengungen. Es gab 727 Sozialversicherungskassen. Die „mutualité" hatte 176 und leitete 86 Kassen auf Departementsebene. 3. Die Finanzierung Die Finanzierung der Sozialversicherung wurde durch einen Beitrag gewährleistet, der 8 % des Lohnes entsprach und gleich aufgeteilt wurde: 4 °/o zu Lasten des Arbeitgebers und 4 °/o zu Lasten des Arbeitnehmers. Dieser Beitrag wurde i m Einzugsverfahren einbehalten und direkt vom Arbeitgeber an die betreffende Institution gezahlt. U m i n den Genuß von Leistungen zu kommen, mußten die Versicherten gegebenenfalls den Nachweis für die Bezahlung der Beiträge durch den Arbeitgeber erbringen. Eine etwas unbequeme Lage für die Arbeitnehmer, die in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Arbeitgeber stehen. 4. Die Ärztehonorare Aufgrund der Weigerung der Ärzteschaft — aus Angst, i n das Getriebe der Arbeitnehmerschaft gerissen zu werden — i n ihren Beziehungen mit den Sozialversicherten die Bezahlung ihrer Honorare durch die Sozialversicherungsträger zu akzeptieren, wurde ein Kompromiß erzielt. Den Ärzten blieb es freigestellt, Sozialversicherte zu behandeln oder nicht, aber wenn sie solche akzeptierten, dann bedeutete dies die Verpflichtung, die Höchstsätze zu akzeptieren, die von den Sozialversicherungsträgern festgelegt worden waren, u m die Erstattung an die Sozialversicherten auf der Grundlage wirklich praktizierter Tarife zu ermöglichen. Dieses System verschlechterte sich rasch durch die Weigerung der Kassen, die Höchstsätze anzuheben. Die Ärzte setzten sich nämlich auf-
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grund der Erhöhung der Lebenshaltungskosten darüber hinweg, und die Sozialversicherten waren die Benachteiligten. 5. Die Gesetzgebung für
Familienbeihilfen
Die Familienbeihilfen hatten sich nach dem 1. Weltkrieg nach und nach durch die von den Arbeitgebern errichteten Ausgleichskassen entwickelt; es stellte sich somit das Problem, deren Nutzen auf alle Arbeitnehmer auszudehnen, um die entstandenen Disparitäten zu beenden. Dies war Ziel des Gesetzes vom 2. März 1932, das parallel zu den Sozialversicherungen ein obligatorisches System für Familienbeihilfen schuf. Später behaupteten die Familienbeihilfen, die als Familienzulage geschaffen worden waren, ihre Autonomie gegenüber dem Arbeitsentgelt unter folgendem Aspekt: — Ihre Ausweitung aus demographischen Gründen ab 1939 auf Selbständige, was dazu führte, daß bei Erwerb des Leistungsanspruchs die Bedingung der beruflichen Tätigkeit an die Stelle der Tätigkeit als Arbeitnehmer trat; — bzw. ihre Aufrechterhaltung i m Falle von Verdienstausfall aufgrund von Arbeitsunfällen, Krankheit, Tod, Arbeitslosigkeit oder Mutterschaftsurlaub. Die Parallelität der Schutzsysteme: Arbeitsunfälle, Sozialversicherung und Familienbeihilfen, die Vielfalt der Institutionen, die das selbe Ziel hatten und die Entgleisung der Ärztehonorare, das alles waren Argumente, die auf technischer Ebene auf eine Vereinheitlichung des Sozialversicherungssystems hinwiesen. Der französische Plan der „Sécurité Sociale" sollte sich nach dem 2. Weltkrieg i n dieser Richtung entwickeln. I I . Der französische Plan der „Sécurité Sociale"
Der Conseil National de la Résistance entwickelte i n seinem W i r t schafts- und Sozialprogramm die Idee „eines umfassenden Plans der Sécurité Sociale m i t dem Ziel, allen Bürgern die Existenzmittel zu garantieren i n all den Fällen, i n denen sie nicht fähig sind, sie durch Arbeit zu beschaffen. Die Verwaltung sollte seitens der Vertreter der Leistungsberechtigten und seitens des Staates gewährleistet werden." Die Grundlagen des französischen Plans der Sécurité Sociale waren somit geschaffen. Nach der Befreiung oblag es der politischen Macht, ihn anzuwenden. Pierre Laroque, der die Haupttriebfeder war, hatte i n
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der Realisierung dieses Plans der Sécurité Sociale das Ergebnis dreier verschiedener Politiken gesehen 59 : — einer Wirtschaftspolitik, die von der Sorge um die Vollbeschäftigung bestimmt ist; — einer Gesundheitspolitik, die Krankheit dadurch bekämpft, indem man bei der Verhütung ansetzt und erst anschließend behandelt und zwar unter den bestmöglichen Bedingungen; einer Politik, die ihre natürliche Ergänzung in der technischen Ausstattung fand, die es erlaubte, Arbeitsunfälle ebenso wie Berufkrankheiten zu verhindern; — einer Politik der Einkommens-Umverteilung mit dem Ziel, die Verteilung, die aus dem blinden Spiel der wirtschaftlichen Mechanismen resultierte, zu modifizieren, u m die Ressourcen eines jeden und seiner Familie an seine Bedürfnisse anzupassen unter Berücksichtigung aller Umstände, die die Entwicklung dieser Ressourcen beeinträchtigen können. Dieses Programm gab der Sécurité Sociale ihre grundlegende Einheit, aber die soziale und wirtschaftliche Situation erlaubte nur eine langfristige Realisierung. Wäre es infolgedessen nicht besser, sich an das zu halten, was möglich und notwendig ist, vor allem eben die Errichtung einer Institution, die fähig ist, nach und nach dieses Programm zu verwirklichen? Dies war der Mittelpunkt der politischen Debatten, der die französische Sécurité Sociale tiefgreifend kennzeichnen sollte 60 . 1. Die allgemeinen Ideen Die allgemeinen Ideen des französischen Plans zur Sécurité Sociale kann man wie folgt schematisieren: — Garantie, für die gesamte Bevölkerung, gegen die sozialen Risiken des Lebens und Garantie des Lebensminimums für jeden durch die nationale Solidarität, was notwendigerweise eine Einkommensumverteilung implizierte; — Vereinheitlichung, innerhalb einer allgemeinen Institution der Sécurité Sociale, der Vielzahl der professionellen Kassen und Systeme der Sozialversicherung, um die Realisierung einer Gleichheit der Belastung und der sozialen Leistungen auf nationaler Ebene zu ermöglichen; 59 Pierre Laroque, De l'assurance sociale à la sécurité sociale: l'expérience française, Revue internationale du travail, 1948, Nr. 6, S. 624 - 645. 60 Siehe besonders Henry C. Galant, Histoire politique de la sécurité sociale française 1945 - 1952. Cahiers de la Fondation Nationale des sciences politiques. A . Colin 1955.
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— Übertragung der Verwaltung einer vereinheitlichten Sécurité Sociale an die Vertreter der Leistungsberechtigten und des Staates. I n dem Maße, in dem diese Ideen besondere Interessen oder Erreichtes verletzen konnten, haben sich die verschiedenen Oppositionen herausgebildet und damit einen politischen Kompromiß erreicht, der zur Zerstückelung der Sécurité Sociale führte. 2. Der politische
Kompromiß
Zuerst polarisierte sich der ideologische Konflikt auf politischer und gewerkschaftlicher Ebene, wo sich zwei entscheidende Tendenzen bekämpften: — die eine für die Vereinheitlichung und Zentralisierung der „Sécurité Sociale", um die Sicherheit des Einzelnen auf der Gesamtheit der Bürger zu begründen: Kommunistische Partei Frankreichs (KPF), Sozialistische Partei (P. S.) und die Confédération Générale du Travail (C.G.T.); — die andere für das Prinzip der Autonomie der Institutionen der Sécurité Sociale und ihre direkte Verwaltung durch die Vertreter der Sozialversicherten, die ihrer Meinung nach am besten geeignet waren, die besonderen Interessen ihrer Mandanten zu verteidigen: Mouvement Républicain Populaire (M.R.P.), Confédération française des travailleurs chrétiens (C.F.T.C.), Anhänger des Mutualismus und Selbständige. I n Wirklichkeit hatte jede der ins Auge gefaßten Lösungen ihre Vorund Nachteile: die erste das Risiko einer schnellen Entwicklung i n Richtung auf einen öffentlichen Dienst und die Beherrschung der Sécurité Sociale durch den Staat, aber den Vorteil, das Prinzip einer nationalen Solidarität zwischen den Einzelnen institutionalisieren zu können, und die zweite den Vorteil einer Verwaltung nahe am Leistungsempfänger, aber den Nachteil, soziale Ungleichheit zwischen den Individuen aufrechtzuerhalten, je nach den wirtschaftlichen Störungen zwischen den sozio-professionellen Gruppen. Dieser Konflikt war schon sehr alt und kam immer wieder ans Tageslicht zwischen der sozialistischen Ideologie und den sentimentalen, manchmal opportunistischen A n hängern der individualistischen Prinzipien; dieser Konflikt wurde durch einen politischen Kompromiß beendet, der heute noch die französische Sécurité Sociale kennzeichnet: die Vereinheitlichung der Beiträge und Leistungen auf nationaler Ebene für das allgemeine System der A r beitnehmer und die autonome Verwaltung durch Regional- und Ortskassen. Dieser Kompromiß erwies sich, wie die Erfahrung zeigte, als
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lebensfähig, denn der Staat, der vom unvermeidlichen finanziellen Ungleichgewicht zwischen den verschiedenen autonomen Kassen profitierte, intervenierte sehr rasch, um einen finanziellen Lastenausgleich auf nationaler Ebene zu schaffen und allmählich seine Aufsicht auf alle Institutionen der Sécurité Sociale auszudehnen. 3. Die Reaktionen in den verschiedenen Berufskategorien Sobald das Prinzip der Autonomie der Verwaltung anerkannt war, haben verschiedene berufsständische Verbände versucht, davon zu profitieren, entweder u m von einer obligatorischen Mitgliedschaft entbunden zu werden und nach ihrem Gutdünken ihre eigenen autonomen Institutionen zu schaffen oder u m zusätzliche oder spezifische Institutionen zu schaffen, u m sich höhere soziale Garantien zu verschaffen oder um die erzielten Vorteile zu behalten. a) Die Selbständigen Die Selbständigen waren allergisch und aufgrund des Wettbewerbsdenkens, das sie jeglicher Idee der Solidarität entgegenbringen, grundsätzlich dagegen. Sie haben sich geweigert, dem allgemeinen System der Sécurité Sociale anzugehören. Sie haben jedoch den Nutzen der Familienbeihilfen akzeptiert und ab 1948 auch die Schaffung autonomer Altersversicherungen, die mehr oder weniger nach sozio-professionellen Zweigen getrennt waren, sie haben jedoch auf die Krankheit-Mutterschafts-Versicherung und die Entschädigung bei Berufsunfällen ausdrücklich verzichtet. Damals dachten sie, ausreichende M i t t e l zur Verfügung zu haben, u m einzeln m i t diesen Risiken fertig zu werden. Die Entwicklung der Medizin und der Kosten für Krankenpflege einerseits, ihre Verarmung aufgrund der Konzentration der Produktionsmittel und des Handels andererseits, sollte ihre Hoffnungen schnell enttäuschen. b) Die leitenden Angestellten Die leitenden Angestellten, die 1928 - 1930 i n der Mehrheit gegen die Sozialversicherung waren, weil sie jegliche Idee der Hilfe mißachteten, hatten aufgrund ihrer Erfahrungen ihre Haltung total revidiert. Sie sahen sich durch das allgemeine System der Sécurité Sociale i n ihren Rechten verletzt, weil die Errichtung eines Plafonds für die beitragspflichtigen Löhne es ihnen nicht erlaubte, in Korrelation m i t der Höhe ihres Einkommens i n den Genuß von Altersrenten zu kommen; sie fordern somit ein zusätzliches Rentensystem. Die öffentliche Hand hatte sie angeregt, sich damit an ihre Arbeitgeber zu wenden. Nach einem mächtigen Streik erreichten sie durch die Unterzeichnung eines nationalen Kollektiv-Vertrages vom 14. März 1947 die Schaffung eines zu-
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sätzlichen Rentensystems für leitende Angestellte, daß außerhalb des allgemeinen Systems der Sécurité Sociale liegt. Die zusätzlichen Rentensysteme wurden später auch für die anderen Arbeitnehmer allgemein eingeführt als Gegenleistung für die Verschlechterung der Altersversicherung. c) Die Aufrechterhaltung der erzielten Vorteile Die Kategorien von Arbeitnehmern, die schon i n den Genuß höherer sozialer Vorteile kamen oder davon profitierten, sollten aufgrund der Kombination des allgemeinen Systems der Sécurité Sociale und ihrer satzungsmäßigen oder mutualistischen Garantien ebenfalls die Möglichkeit erhalten, besondere Systeme innerhalb des allgemeinen Systems 61 zu schaffen oder beizubehalten. Die Sondersysteme, die früher viel günstiger als die allgemeinen Systeme waren, müssen nun mit der K u m u lierung der Leistungen des allgemeinen Systems und den Bestimmungen der Kollektiv-Verträge i m sozialen Bereich für die anderen Arbeitnehmer verglichen werden. Die Unterschiede werden immer geringer Diese unterschiedlichen Haltungen haben schnell zur Aufsplitterung des französischen Plans der Sécurité Sociale geführt, der praktisch auf das allgemeine System der Arbeitnehmer reduziert war, ein System, das dann schnell der Mittelpunkt unternehmerischer Feindseligkeiten wurde. 4. Der Widerstand der Arbeitgeberschaft Bei der Befreiung hatte sich die Unternehmerschaft, geschwächt dadurch, daß sie in ihrer Mehrheit m i t den Besatzungsmächten kollaboriert hatte, nicht gegen die Errichtung der Gesetzgebung der Sécurité Sociale wehren können. Man erinnert sich noch oft an die Worte General de Gaulles, als er nach seiner Rückkehr nach Frankreich die erste Abordnung der Unternehmerschaft empfing: „Meine Herren, von Ihnen habe ich keinen i n London getroffen." Aber ab 1947, aufgrund des Ausschlusses der kommunistischen Minister aus der Regierung und des Umsturzes der politischen Bündnisse, der daraus resultierte, weitete die Unternehmerschaft ihren Einfluß auf die Regierung aus und erreichte schon zu Beginn der 50er Jahre einen Verfall des allgemeinen Systems: Blockierung der Beitragsbemessungsgrenze und folglich der Sachleistungen, Erstattung der Arztkosten zu einem lächerlichchen Satz mangels Erneuerung der Verträge m i t der Ärzteschaft, Zögern der Arbeitgeber bei der Beitragszahlung, Laxheit bei der Einforderung von Unternehmerschulden. 81 Es gibt gegenwärtig ca. 30 Sondersysteme: Beamte, EdF-GdF, SNCF, RATP, Notariatsgehilfen, Rheinschiffer, etc.
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Nach dem de Gaulle der Macht den Rücken gekehrt hatte, hatte er i m März 1948 i n seiner Rede von Compiègne den Schwerpunkt auf die Notwendigkeit gelegt, „die Sozialausgaben effektiv und dauerhaft zu reduzieren, indem insbesondere eine Reform der Sozialversicherung i n A n griff genommen werden sollte." So konzentrierte er alle Hoffnungen der Gegner der Sécurité Sociale auf seine Rückkehr in das öffentliche Leben. Die V. Republik kam jedoch zu spät, um eine Institution grundlegend in Frage stellen zu können, die an einem Punkt angelangt war, an dem es keine Umkehr mehr gab. I n der Zwischenzeit hatte nämlich die Entwicklung i n der Medizin, die i n der Sécurité Sociale eine entscheidende finanzielle Stütze gefunden hatte, auch unter der früher zurückhaltenden Bevölkerung den Wunsch nach sozialem Schutz bei Krankheit erweckt, u m leichter i n den Genuß einer Behandlung zu kommen, deren Kosten um so höher sind, je wirksamer sie ist. 5. Das Werk des Gesetzgebers Durch einen ideologischen Konflikt, der sich auf politischer Ebene langfristig zu halten schien, traf die Regierung mittels Verordnungen rechtliche Regelungen; dies ist eine Technik, die für schnelle Reformen besser geeignet ist als die klassischen parlamentarischen Methoden. Eine Verordnung vom 4. Oktober 1945 stellt wie folgt die Grundlagen des neuen Systems der Sécurité Sociale dar: „Es w i r d eine Organisation der Sécurité Sociale geschaffen, u m die A r b e i ter u n d ihre Familien gegen Risiken aller A r t , die ihre Erwerbsfähigkeit v e r ringern oder beenden könnten, zu schützen, u m die Kosten des Mutterschutzes u n d die Lasten, die die Familie zu tragen hat, zu decken."
Dieses System sollte zuerst einmal den Schutz der Arbeitnehmer in der Industrie und i m Handel gegen die von den Sozialversicherungen festgelegten Risiken gewährleisten 62 , für die eine zweite Verordnung vom 19. Oktober 1945 erlassen wurde, i n der ebenfalls eine progressive Ausweitung auf andere Kategorien von Arbeitern vorgesehen war. Ihre Funktion sollte durch ein Netz von Kassen der Sécurité Sociale garantiert werden, die allgemein zuständig waren und deren Verwaltung den mutualistischen Prinzipien, d. h. der Verwaltung der Sozialversicherten durch ihre Vertreter, einen großen Raum zuerkannten. Das Gesetz vom 22. Mai 1946, über die Generalisierung der Sécurité Sociale sah die Pflicht-Mitgliedschaft eines jeden Franzosen, der auf dem nationalen Territorium wohnte, in den Sozialversicherungen vor. Dieses Prinzip war Gegenstand von Durchführungsbestimmungen nach Konsultation der für die betroffenen sozialen Gruppen repräsentati62
D. h. die Risiken Krankheit, Mutterschaft, Invalidität, A l t e r u n d Tod.
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ven Organisationen, und die Durchsetzung dieser Maßnahme wurde mit der Erholung der wirtschaftlichen Lage gekoppelt. Aber ohne das Gesetz vom 13. September 1946 abzuwarten, wurde für den 1. Januar 1947 der Beginn der Anwendung der Altersversicherung, die sich auf die ganze erwerbsfähige Bevölkerung ausdehnte, festgelegt. Z u m anderen kam durch das Gesetz vom 22. August 1946 über die Familienleistungen praktisch die ganze Bevölkerung i n deren Genuß, vor allem aufgrund ihres geburtenfreundlichen Charakters: Progressiver Satz für Familienbeihilfen, Alleinverdienerbeihilfe, damit die Mutter zu Hause bleiben kann, Schwangerschafts- und Mutterschaftsbeihilfe. Das Gesetz vom 30. Oktober 1946 über die Verhütung und Entschädigung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten hatte das Gesetz vom 9. A p r i l 1898 ersetzt, welches die Haftung der Arbeitgeber auf dem beruflichen Risiko begründete, und zwar durch ein Versicherungssystem für A r beitnehmer in Industrie und Handel, dessen Verwaltung dem allgemeinen System der Sozialversicherung anvertraut wurde 6 3 . I n Anwendung der Verordnung vom 4. Oktober 1945 hatte das allgemeine System der Sécurité Sociale folgende Aufgabe: — Gewährleistung des Schutzes der selbständig Erwerbstätigen, was Handel hinsichtlich der Familienlasten und gegen die von den Sozialversicherungen gedeckten Risiken, d. h. Krankheit, Mutterschaft, Invalidität, Alter und Tod, sowie gegen die beruflichen Risiken: A r beitsunfälle und Berufskrankheiten. — Gewährleistung des Schutzes der selbständig Erwerbstätigen, was die Sozialabgaben betrifft, aber auch hinsichtlich der von der Sozialversicherung für die Lohnempfänger gedeckten Risiken, wenn die durch das o. a. Gesetz vom 22. Mai 1946 vorgezeichneten Perspektiven ihre Anwendung finden können. Die administrative Vereinheitlichung war jedoch nicht verwirklicht, denn A r t . 17 der Verordnung vom 4. Oktober 1945 sah i n der Tat folgendes vor: — das vorläufige Weiterbestehen weniger Sondersysteme, bis sie durch das allgemeine System absorbiert werden, — das definitive Weiterbestehen eines landwirtschaftlichen Systems aufgrund der Besonderheiten des landwirtschaftlichen Sektors. Die Sécurité Sociale wurde zu Beginn der IV. Republik von zwei großen Systemen repräsentiert: dem allgemeinen System, welches die 63
I m Gegensatz dazu w i r d das Gesetz v o m 9. A p r i l 1898 w e i t e r h i n auf die Arbeitnehmer i n der Landwirtschaft bis zur Intervention des Gesetzes v o m 25. Oktober 1972 angewendet.
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ganze erwerbstätige, nicht landwirtschaftliche Bevölkerung umfassen sollte, und einem der Landwirtschaft eigenen System. Die Entwicklung verlief dann später anders. I I I . Entwicklung der Sécurité Sociale unter der I V . Republik
Die Weigerung der Landwirtschaft, dem allgemeinen System beizutreten, erfaßte schnell die selbständigen Erwerbstätigen: Kaufleute, Industrielle, Handwerker und Mitglieder der freien Berufe befürchteten, Beiträge zahlen zu müssen, die evtl. zur Finanzierung der für die A r beitnehmer angebotenen Leistungen dienen würden. Das allgemeine System umfaßte also nur die Arbeitnehmer i n Industrie und Handel, unter Berücksichtigung der Sondersysteme. Infolgedessen diente das landwirtschaftliche System, wenn nicht als Orientierungspunkt, so doch zumindest als Präzedenzfall für die Schaffung eines Netzes autonomer oder zusätzlicher Systeme am Rande des allgemeinen Systems. 1. Die Kehrseite des allgemeinen Systems für
Arbeitnehmer
Obgleich das allgemeine System nur die Arbeitnehmer i n Industrie und Handel umfaßte, so war es doch das Kernstück des französischen Systems der Sécurité Sociale. Aber trotz einer gewissen Expansionskraft dank der Tatsache, daß manche sozialen Gruppen bei gewissen Leistungen davon profitierten, und zwar vor allem die Studenten 64 , die Berufssoldaten 65 , die freien Schriftsteller 66 , die Invaliden, Kriegerwitwen und -waisen 6 7 , kannte das allgemeine System unter der IV. Republik schwerwiegende Nachteile. a) Der Mißerf olg der Einheitskasse Die Verordnung vom 4. Oktober 1945 hatte das Prinzip der Kassen aufgestellt, die für einen bestimmten Bezirk m i t der Verwaltung der drei Zweige des allgemeinen Systems beauftragt waren: die Sozialversicherung, die Arbeitsunfallversicherung und die Familienbeihilfen. Dieses Prinzip entsprach dem der Einheit der Versicherung auf der Grundlage eines einheitlichen Beitrags der Arbeitnehmer 6 8 zur Deckung der 64
Gesetz v o m 23. Sept. 1948. Gesetz v o m 17. A p r i l 1949. 66 Gesetz v o m 21. A p r i l 1949. 67 Gesetz v o m 29. A p r i l 1954. 68 Es gibt n u r Beiträge zu Lasten der Arbeitnehmer bei der Sozialversicherung. Die Arbeitgeber alleine tragen die Beiträge f ü r Arbeitsunfälle; diese gehören w e i t e r h i n zu ihrem finanziellen Verantwortungsbereich sowie auch die Familienbeihilfen aufgrund ihres Ursprungs als Lohnzulage. 65
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verschiedenen sozialen Risiken. Es stieß auf den Widerstand der autonomen Strömungen, die die Errichtung einer Einheitskasse befürchteten, was die Entwicklung des allgemeinen Systems zu einem öffentlichen Dienst begünstigen würde. Die Autonomie der Kassen für Familienbeihilfen gegenüber den Kassen der Sécurité Sociale wurde vorläufig durch das Gesetz vom 22. A u gust 1946, welches sich i m allgemeinen auf die Familienbeihilfen bezog, und endgültig durch das Gesetz vom 21. Februar 1949 beibehalten. Diese Autonomie konnte dadurch erklärt werden, daß i m Unterschied zu den Kassen der Sécurité Sociale die Kassen für Familienbeihilfen Leistungen zugleich für Arbeitnehmer und selbständige Erwerbstätige zu erbringen hatten. Aber dann stellten sich die Strukturen des allgemeinen Systems wie folgt dar: — Kassen für Familienbeihilfen, beauftragt m i t der Verwaltung der Familienleistungen für Arbeitnehmer und selbständige Erwerbstätige. — Ortskassen der Sécurité Sociale, beauftragt m i t der getrennten Verwaltung der Sozialversicherung und der Risiken aus Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten für Arbeitnehmer. — Regionalkassen der Sécurité Sociale, beauftragt mit der Verwaltung der m i t den Ortskassen ihres Bezirkes gemeinsamen Abteilungen, d. h. i m wesentlichen Organisation der Verhütung von Arbeitsunfällen, Festsetzung der Beiträge und Gewährleistung der Auszahlung der Pensionen und Renten. Diese verschiedenen Kassen waren autonom und wurden gemäß den mutualistischen Prinzipien von einem Verwaltungsrat geleitet, der aus Geschäftsführern bestand, von denen 3/4 die Versicherten und 1/4 die Arbeitgeber vertreten 6 9 . Die Geschäftsführer wurden von ihresgleichen gewählt. Die gewählten Geschäftsführer wiederum wählten qualifizierte Personen (Vertreter des Personals der Kassen und der Ärzteschaft), um alle von der Verwaltung betroffenen Personengruppen am Verwaltungsrat teilnehmen zu lassen. Aber die Autonomie der verschiedenen Kassen überschritt den Bereich der Verwaltung nicht, denn die Initiative hinsichtlich der Beiträge und Leistungen der Sécurité Sociale kam von der Regierung.
69 I n den Kassen f ü r Familienbeihilfen w a r die Zusammensetzung der Verwaltungsräte notwendigerweise unterschiedlich: 50°/o Geschäftsführer als Vertreter der Arbeitnehmer, 25 °/o Geschäftsführer von der Arbeitgeberseite, 25 °/o Geschäftsführer seitens der selbständig Erwerbstätigen.
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b) Vormundschaft durch den Staat Der Staat hatte zwar die Gesetzgebungskompetenz zu Reglementierungen auf dem Gebiet der Sécurité Sociale, war aber durch die den autonomen Kassen anvertraute Verwaltung und die Gestaltung der Kassen als juristische Personen des Privatrechts beschränkt 70 und nützte somit die finanziellen Schwierigkeiten, die hie und da aufgrund einer regional ungünstigen wirtschaftlichen oder demographischen Konjunktur entstanden waren, u m — einerseits eine nationale Kasse der Sécurité Sociale in Form einer öffentlichen Verwaltungseinrichtung zu schaffen, die den finanziellen Ausgleich zwischen den verschiedenen autonomen Kassen zu gewährleisten hatte, — andererseits die Kontrolle der Verwaltung der autonomen Kassen in eine a priori Kontrolle umzuwandeln, die ursprünglich eine a posteriori Kontrolle sein und vom Ministerium für die Sécurité Sociale ausgeführt werden sollte, um somit die Kassen unter seine Aufsicht zu stellen, wie wenn es sich um natürliche Personen, die juristisch nicht geschäftsfähig waren, handle 7 1 . Die Ausübung einer immer stärkeren Aufsicht führte nach und nach den Staat dazu, eine zum allgemeinen System parallele Verwaltung auszuüben. Dieses Phänomen blieb nicht isoliert, sondern betraf dann anschließend mehr oder weniger stark die Systeme der Sécurité Sociale. c) Der Rückgang der Sozialleistungen Die Verordnung vom 19. Oktober 1945 hatte das Rückerstattungsprinzip i n Höhe von 80 ϋ /ο der Arzt- und damit verbundenen Kosten geschaffen. Dieses Prinzip wurde nicht i n Frage gestellt, stieß aber auf Schwierigkeiten, die ihm jede Substanz nahmen. U m nämlich nicht i n den alten Fehler einer Krankenkassengebührenordnung für Ärztehonorare gegenüber den Sozialversicherten zu verfallen, wurde ein flexibleres System ins Auge gefaßt: i n jedem Departement Abschluß eines Vertrages zwischen der regionalen Kasse der Sécurité Sociale und den repräsentativen Ärztesyndikaten mit Festlegung der Ärztehonorare auf der Basis einer nationalen Nomenklatur medizinischer Tätigkeit. Die tariflich vereinbarten Preise, die somit festgelegt sind und regelmäßig i n Abhängigkeit von der Entwicklung der Lebenshaltungskosten 70 Die Kassen der Sécurité Sociale werden nämlich als private I n s t i t u t i o nen m i t einem öffentlichen A u f t r a g angesehen, u n d zwar seit dem Erlaß des Staatsrates v o m 13. M a i 1938, Dalloz 1939.3.65, A n m e r k u n g Pepy. 71 Siehe vor allem: J. Moitrier, L a tutelle sur les organismes de sécurité sociale. D r o i t social 1973, S. 186. H. Délabré et M. Lombardot, Réflexions sur la tutelle administrative. Revue française des affaires sociales 1971, No. I.
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revidiert werden, sollten die Erstattung der Arztkosten durch die Sécurité Sociale ermöglichen, unter Vorbehalt erlaubter Überschreitungen aufgrund der Berühmtheit eines Arztes, der Vermögenslage des Versicherten oder besonderen Umständen. Bei Fehlen eines solchen Tarifvertragsabschlusses auf Departementsebene erstattete die Sécurité Sociale die Arztkosten nur auf der Basis eines Amtstarifs zu einem lächerlichen Satz, u m indirekt Druck auf die Ärzteschaft auszuüben, den Abschluß von solchen Verträgen zu akzeptieren. Dieses System funktionierte äußerst schlecht, denn außer i n einigen besonders benachteiligten ländlichen Gebieten wurden die unterzeichneten Verträge auf Departementsebene nicht erneuert und die Sozialversicherten erhielten i n der überwiegenden Mehrheit nur etwa 20% der Arztkosten anstatt der 80 % zurückerstattet. Außerdem führte die Feindseligkeit der Unternehmerschaft zur Verlangsamung der Entwicklung des Plafonds der beitragspflichtigen Löhne und daraus resultierte eine Stagnation der Sachleistungen: Tagegelder für die Zeiten vorübergehender Arbeitsunfähigkeit, Alters- und Invaliditätspensionen. Diese Situation sollte die Arbeitnehmer gemäß dem Muster der leitenden Angestellten dazu bringen, die Schaffung von zusätzlichen Rentensystemen außerhalb der Sécurité Sociale zu akzeptieren. Das Gesetz vom 26. J u l i 1956 schuf sogar einen nationalen Solidaritätsfonds (FNS), finanziert durch Steuereinnahmen und bestimmt zur Zahlung von zusätzlichen Beihilfen an ältere Personen oder Invalide, damit sie genügend M i t t e l zum Überleben hätten. I m übrigen wurde der Grundlohn zur Berechnung der Familienleistungen 1946 gegenüber dem durchschnittlichen Lohn eines Hilfsarbeiters i n der Pariser Metallindustrie festgelegt. Die i n Prozentsätzen festgelegten Leistungen des Grundlohnes waren somit automatisch an die Entwicklung der Löhne indexiert. Aber ab 1947 hat ein Gesetz diese Indexierung 7 2 durch die Entscheidung abgeschafft, daß der Bezugslohn auf dem Verordnungswege festgelegt w i r d ; dies geschah aufgrund der finanziellen Schwierigkeiten, die sich aus dem schnelleren als vorgesehenen Wachstum der Ausgaben für die Krankenversicherung gegenüber den Löhnen ergaben und der Entwicklung der Löhne, die damals viel schneller stiegen als die Preise. Seither verschlechterte sich der Grundlohn ständig und somit auch die Familienleistungen, die von 21,8% des Sozialproduktes i m Jahre 1948 auf 9 % i m Jahre 1972 fielen 73.
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Gesetz v o m 25. J u n i 1947. Siehe Evelyne Sullerot, L a démographie en France: b i l a n et perspectives. Rapport au Conseil Economique et Social. L a documentation française 1978. 73
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1948 jedoch, als Gegenstück zur Wiedereinführung der freien Mieten i n Neubauten 74 , u m die Investition i m Wohnungsbau zu begünstigen, wurde eine Wohnungsbeihilfe geschaffen, die zu Lasten der Kasse für Familienbeihilfen ging, um den ärmsten unter den Beihilfeberechtigten die Möglichkeit zu geben, besser zu wohnen und zugleich die teuren Mieten besser aufbringen zu können. Die Geburtenpolitik ging also Hand i n Hand m i t einer Politik der Erhöhung des Lebensstandards. Manche sahen jedoch i n den Wohnungsbeihilfen einen Mechanismus des Mitteltransfers von den Kassen für Familienbeihilfen auf den Immobilienbesitz über die Beihilfeberechtigten. 2. Überleben der Sondersysteme Das Dekret vom 8. Juni 1946 nannte die Sondersysteme, deren Autonomie aufrechterhalten wurde 7 5 , sah aber ihre Umwandlung i n komplementäre Systeme vor, um den Betroffenen die früher erzielten Vorteile, die viel günstiger als die aus dem allgemeinen System waren, zu erhalten. Diese Umwandlung fand nicht statt, bis auf einige wenige Ausnahmen, und die Sondersysteme, die nicht von o. a. Dekret betroffen sind, wurden deshalb aufrechterhalten 76 . Unter diesen verschiedenen Sondersystemen findet man eine große Vielfalt. Die einen sind umfassende Sondersysteme und decken auf autonome A r t und Weise alle sozialen Risiken, die anderen sind teilweise Sondersysteme, die nur „satzungsgemäße" Risiken decken. Ihre Begünstigten gehören hinsichtlich der Deckung anderer Risiken dem allgemeinen System an. Ohne in die Details der günstigeren Leistungen gegenüber dem allgemeinen System einzusteigen, kann man trotzdem folgende Vorteile nennen: — kostenlose Behandlung, gewährleistet durch manche Sondersysteme, jedoch unter der Voraussetzung, daß die Behandlung von zugelassenen praktischen Ärzten erbracht wird.
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Gesetz v o m 1. September 1948, das ebenfalls die Mieten i n alten Gebäuden regelt. 75 Es handelte sich i n A n w e n d u n g des A r t i k e l s 17 der Verordnung v o m 4. Oktober 1945 u m Sondersysteme, die v o r allem folgendes Personal betrafen: Beamte, Arbeiter i m Staatsdienst, Angestellte der Gemeinden u n d Departements, Seeleute, Bergleute, Angestellte der S.N.C.F., der E.G.F., der Compagnie Générale des Eaux, der Banque de France, der Oper, der K o m i schen Oper u n d der Comédie Française. 76 Sowie die Sondersysteme der Notariatsgehilfen, des Crédit Foncier, der Handelskammer von Paris etc.
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— Aufrechterhaltung der vollständigen oder teilweisen Lohnfortzahlung i m Falle von Krankheit oder Unfall während der Zeiten der durch die Personalstatuten festgelegten Erwerbsunfähigkeit. — Das Recht auf Rente m i t vorgesehenem Beginn i m Alter von 65 Jahren i m allgemeinen System liegt bei den Sondersystemen zwischen 50 und 60 Jahren. Diese besonderen Vorteile, die i m allgemeinen satzungsgemäßer A r t sind, betreffen i m Prinzip das Personal i m öffentlichen Dienst und wurden mehr oder weniger auf den privaten Sektor außerhalb des allgemeinen Systems ausgedehnt und zwar auf dem Wege der Kollektivverträge oder Sozialtarifverträge. I m Laufe der Jahre führte das zu einern Anstieg der komplementären Systeme und zu einer korrelativen Erosion der privilegierten Position der Sondersysteme. 3, Entwicklung
der autonomen und komplementären
Systeme
Der Mißerfolg der Entwürfe für eine allgemeine Altersversicherung führte zum Gesetz vom 17. Januar 1948, welches für die verschiedenen Kategorien von selbständig Erwerbstätigen, die in vier autonome Organisationen eingeteilt wurden, eine eigene Altersversicherung schuf: — Berufe i n Industrie und Handel, — Berufe i m Handwerke, — freie Berufe, — landwirtschaftliche Berufe. Diese Lösung befriedigte die Mitglieder dieser Berufe, die nicht i n das allgemeine System der Arbeitnehmer integriert werden wollten, aber zugleich resultierte daraus die Schaffung von autonomen Altersversicherungssystemen und eine Verstärkung der Autonomie des landwirtschaftlichen Systems, das folgende Aufgaben verwaltete: — die Familienbeihilfen von Arbeitnehmern oder Landwirten, — die Sozialversicherung der landwirtschaftlichen Arbeitnehmer in Anpassung an die des allgemeinen Systems der Arbeitnehmer i n Industrie und Handel, — und die Altersversicherung der Landwirte. I m übrigen hatte die Verordnung vom 19. Oktober 1945 den Beitritt aller Arbeitnehmer ohne Unterschied der Höhe ihrer Entlohnung zum allgemeinen System vorgesehen. Diese Bestimmung führte zu starker Beunruhigung bei den Ingenieuren und leitenden Angestellten, die bei der Rente die früher durch Vertrag erzielten Vorteile beibehalten wollten und für die die Pflichtmitgliedschaft bei der Sécurité Sociale auf1*
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grund des Beitragsplafonds hinsichtlich des Betrages der Altersrente keinen Ausgleich schuf. Daraus entstanden verschiedene Probleme, u. a. ein Streik der leitenden Angestellten, was zur Unterzeichnung des Kollektivvertrages für Renten und Versorgung der leitenden Angestellten vom 14. März 1947 führte; zugleich wurde eine komplementäre Renteninstitution außerhalb des allgemeinen Systems geschaffen, die bei der „Association Générale des Institutions de Retraite des Cadres" (AGIRC) zusammengefaßt wurde. Der von den leitenden Angestellten erzielte Erfolg entging den anderen Arbeitnehmern nicht, die während der 50er Jahre über die Verlangsamung der Anhebung des Beitragsplafonds der Sécurité Sociale und die damit verbundene Verschlechterung der Altersrenten beunruhigt waren. Ein günstiges K l i m a für die Ausweitung der komplementären Renten sollte sich sehr schnell für das Aufsichtspersonal auswirken, dann für die Arbeiter und die Angestellten. Es kam zu folgenden Entwicklungen: — 1953 Schaffung der „Institution de retraite des chefs d'ateliers et assimilés de l'industrie des métaux" (I.R.C.A.C.I.M.), — 1955 ein Firmentarifvertrag bei der „Régie nationale des usines Renault" m i t der Schaffung eines komplementären Rentensystems für das Personal, ein Vertrag, der i n anderen Unternehmen der Metallindustrie und darüber hinaus großes Echo fand, — 1957 Schaffung (unter Anregung des Conseil National du Patronat Français) der „Union National des Institutions de Retraite des Salariés" (U.N.I.R.S.); um den Abschluß von Kollektivverträgen und Firmentarifverträgen bei komplementären Renten zu erleichtern. Hinter den komplementären Renteninstitutionen, die paritätisch von den Vertretern der Arbeitgeber und Arbeitnehmer verwaltet wurden, profilierten sich» angezogen durch die Finanzmittel, m i t denen gewinnbringend gearbeitet werden konnte, die Versicherungsgesellschaften, die bereit waren, Dienstleistungen zu erbringen und sich den M a r k t aufzuteilen 7 7 . Der Traum der Autoren des französischen Plans der Sécurité Sociale, ein einheitliches System für alle Bürger zu schaffen, war endgültig zerronnen, denn neben dem allgemeinen System als Kernstück der Sécurité Sociale wurde einer Vielzahl von autonomen oder komplementären Son77 Ursprünglich waren nämlich die meisten Geschäftssitze der Institutionen f ü r komplementäre Renten i n den Büros der Versicherungsgesellschaften, die ihre „Schirmherren" waren.
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derinstitutionen Platz gelassen. Diese Entwicklung sollte sich unter der 5. Republik noch verstärken. I V . Die Optionen der V. Republik hinsichtlich der Sécurité Sociale
Die 5. Republik w i r d sich sehr schnell der Verwurzelung der Sécurité Sociale i n der Gesellschaft bewußt und muß wohl oder übel m i t ihr rechnen. I m Rahmen der Errichtung neuer Institutionen brachte nämlich eine Verordnung eine empfindliche Verringerung der Leistungen der Sécurité Sociale ab dem 1. Januar 1959 m i t sich: Erhöhung der Selbstbeteiligung auf FF 3.000,— pro Halbjahr und Abschaffung der Erstattung von Thermalkuren 7 8 . Diese Maßnahmen trafen besonders die älteren Personen und die ärmsten Familien hart, denn die Rückerstattung war für sie zum Uberleben unerläßlich. Die geringe Beliebtheit der Selbstbeteiligung sollte ab dem 1. J u l i 1959 zu ihrer Aufhebung führen. Die Rückerstattung von Kurkosten wurde ebenfalls teilweise wieder eingeführt. Während des Frühlings 1959 wurde so das Schicksal der Sécurité Sociale von der öffentlichen Meinung bestimmt 7 9 . Nach einer wohlfundierten Regel jedoch ist es so, daß dann, wenn es sich als unmöglich erweist, eine fest verankerte Institution von vorne anzugreifen, die politische Macht sich bemüht, diese Institution umzukehren, um sie für eigene Zwecke zu nutzen. Das Schicksal der Sécurité Sociale konnte sich dieser Regel nicht entziehen. A b 1960 kommt es also zu einer Umkehr der Situation: Beträchtliche Erhöhung bei der Erstattung der Arzthonorare, Indexierung des Plafonds des allgemeinen Lohnindex, allmähliche Ausweitung der Krankenversicherung auf Landwirte und Selbständige. Parallel zu dieser Erweiterung der Sécurité Sociale verstärkt der Staat seine Aufsicht über die Verwaltungsorgane und verstärkt innerhalb des allgemeinen Systems die Repräsentation der Unternehmer zum Nachteil der Lohnempfänger. Das Konzept der Solidarität w i r d zugunsten des Versicherungskonzepts aufgegeben, welches in der Bezeichnung selbst der Kassen des allgemeinen Systems beinhaltet ist. Seit 1974 geht es wiederum u m die Frage der allgemeinen Einführung des sozialen Schutzes bei Krankheit, Mutterschaft, Alter und Familienleistungen für alle Franzosen i n der Pluralität der existierenden Systeme der Sécurité Sociale. Aber diese allgemeine Einführung hat, entgegen dem Wunsch des Gesetzgebers, einen fakultativen Charakter behalten. Sie hat zwar die Mitgliedschaft i n einem System der Sécurité Sociale des letzten Teils des ausgeschlossenen Personenkreises ermöglicht: französische Arbeitnehmer i m Ausland, Lebensgefährtinnen, 78
Verordnung Nr. 58-1374 v o m 30. Dezember 1958. Die Gewerkschaften hatten es nicht versäumt, die öffentliche Meinung i n dieser Hinsicht zu mobilisieren. 79
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Mitglieder der katholischen Geistlichkeit, Schulabgänger auf der Suche nach der ersten Stelle, Häftlinge, Prostituierte etc., hat jedoch nicht das gesetzte dreifache Ziel erreicht: den Schutz aller Franzosen, Harmonisierung der Leistungen zwischen den verschiedenen Systemen und Finanzausgleich i n Abhängigkeit von der Entwicklung des demographischen Verhältnisses eines jeden Systems und der Beitragsfähigkeit der Betroffenen. I m französischen Plan von 1945 bis 1946 w i r d die Generalisierung der Sécurité Sociale für die gesamte Bevölkerung in sozialer Einheit und Gleichheit de facto durch einen Plan der Generalisierung i n der sozialen Diversität und Ungleichheit ersetzt. 2. Stärkung der öffentlichen Verwaltung in der Sécurité Sociale Sehr schnell verstärkte die V. Republik ihre Aufsicht über die Exekutive der Kassen der Sécurité Sociale. Die Reform vom 12. Mai 1960, auf dem Wege der Verordnung in einem Bereich realisiert, der ζ. T. auch den Gesetzgeber betraf 8 0 , hat die Ernennungsbedingungen der Direktoren der Kassen modifiziert, die von nun an der Zustimmung des für die Sécurité Sociale zuständigen Ministers unterlag, und ihre Befugnisse zum Nachteil derer des Verwaltungsrates ausgeweitet sowie die Bildung und Förderung des Direktionspersonals geregelt. I m Jahre 1967, unter dem Vorwand finanzieller Schwierigkeiten i m allgemeinen System — zum Großteil aufgrund von finanziellen Manipulationen 8 1 —, strengte die Regierung eine neue Reform an, um, unter dem Deckmantel der Realisierung eines finanziellen Gleichgewichts der Risiken, die öffentliche Verwaltung des allgemeinen Systems zu stärken; man hielt sich dabei an einen vom C.N.P.F. 82 erstellten Bericht. Diese auf dem Wege einer Verordnung 8 3 realisierte Reform hat aufgrund ihrer geringen Popularität 8 4 i m Rahmen der von der Regierung gegebenen Vollmacht 8 5 die Strukturen des allgemeinen Systems der 80 Gemäß A r t i k e l 34 der Verfassung von 1958 gehören nämlich die G r u n d prinzipien der Sécurité Sociale i n die ausschließliche Kompetenz der Legislative. 81 Diese Manipulationen bestehen darin, der Sécurité Sociale ungerechtfertigte Lasten aufzuerlegen, u m den Staatshaushalt zu entlasten — siehe i n dieser Hinsicht den Bericht Grégoire (veröffentlicht 1976). 82 Dieser Bericht ist besser bekannt unter dem Namen Pichetti. 88 Verordnungen Nr. 67-706 bis 709 v o m 21. August 1967, ratifiziert durch das Gesetz Nr. 68-698 v o m 31. J u l i 1968. Diese Ratifizierung hätte normalerweise innerhalb einer Frist von 6 Monaten zustande kommen müssen. 84 Die Reform der Strukturen ging H a n d i n H a n d m i t einer Verringerung der Leistungen u n d einer Beitragserhöhung. 85 Gesetz v o m 22. J u n i 1967.
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Sécurité Sociale unter dem Vorwand der Risikotrennung und der Einführung des Tarifvertragswesens tiefgehend verändert. a) Modifizierung der Strukturen des allgemeinen Systems Die Risikotrennung bestand darin: — I n finanzieller und buchhalterischer Hinsicht die Altersversicherung von der Kranken-, Mutterschafts-, Invaliditäts- und Todesfallversicherung, die früher unter dem Begriff Sozialversicherungen verschmolzen waren, zu trennen 8 6 . — U m der Risikotrennung eine strukturelle Basis zu geben, die Caisse Nationale de la Sécurité Sociale i n drei nationale Kassen aufzugliedern: (1) Die nationale Kasse für Krankenversicherung, die einerseits die Kranken-, Mutterschafts-, Invaliditäts- und Todesfallversicherung und andererseits das Risiko der Arbeitsunfälle getrennt verwaltet, unter Beihilfe der Orts- und Regionalkassen, die ihr Etikett als Sécurité Sociale m i t dem der Krankenversicherung vertauscht haben, (2) die nationale Kasse für Altersversicherung, die das Risiko „ A l t e r " unter direkter M i t w i r k u n g der regionalen Kasse für Altersversicherung von Elsaß-Lothringen 87 und durch Delegieren an die regionalen Krankenversicherungen verwaltet, (3) die nationale Kasse für Familienbeihilfen, die die Leistungen für Familien unter M i t w i r k u n g der Familienbeihilfekassen verwaltet, — Ein den drei nationalen Kassen gemeinsames Liquiditätsorgan zu schaffen: „l'Agence centrale des organismes de sécurité sociale" (A.C.O.S.S.) über den „Unions de Recouvrement des cotisations de sécurité sociale et d'allocations familiales" (U.R.S.S.A.F.), — Anstelle der „Fédération Nationale des Organismes de Sécurité Sociale" (F.N.O.S.S.) und der „Union Nationale des Caisses d'Allocations familiales" (U.N.C.A.F.) eine „Union des Caisses nationales de sécurité sociale" (U.C.A.N.S.S.) zu setzen, u m die Verwaltung der gemeinsamen Interessen sicherzustellen. Die A.C.O.S.S. und die drei anderen nationalen Kassen erhielten den Charakter einer juristischen Person einer öffentlichen Verwaltungseinrichtung, was den öffentlich-rechtlichen Charakter des allgemeinen Systems verstärkte, während die anderen Kassen unter ihrer hierarchi86 Die finanzielle V e r w a l t u n g des Risikos der Arbeitsunfälle u n d der F a m i lienleistungen w a r schon von der Sozialversicherung getrennt. 87 Die Existenz dieser Regionalkasse geht auf das i n den drei Departements Oberrhein, Niederrhein u n d Mosel existierende besondere System zurück.
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sehen Autorität weiterhin natürliche Personen des Privatrechts blieben. Diese Situation schuf ein immenses juristisches Durcheinander, mußten doch zur Ausübung der Aufsicht durch den m i t der Sécurité Sociale beauftragten Minister die hierarchisierten Beziehungen zwischen den nationalen Kassen und den anderen übereinandergereiht wurden. b) Einführung des Tarifvertragswesens Das Tarifvertragswesen schuf die M i t t e l zur Eliminierung der mehrheitlichen Vertretung der Sozialversicherten i n den Verwaltungsräten der Kassen der Sécurité Sociale zugunsten eines vorherrschenden Einflusses des Conseil National du Patronat Français 88 . Seit dieser Reform bestehen die Verwaltungsräte paritätisch aus 18 Mitgliedern 8 9 , 9 davon sind Vertreter der gewerkschaftlichen Organisationen der Arbeitnehmer, 9 Vertreter der Berufsorganisationen der Unternehmer und manchmal der Selbständigen. Während der CNPF das Monopol der unternehmerischen Vertretung hat, besteht die Vertretung der Arbeitnehmer gemäß folgendem Verteilerschlüssel: C.G.T. 3 Sitze, C.F.D.T. 2 Sitze, C.G.T.-F.O. 2 Sitze, C.F.T.C. 1 Sitz, C.G.C. 1 Sitz 9 0 . Die Geschäftsführer werden nicht mehr von ihresgleichen gewählt, sondern von den repräsentativsten gewerkschaftlichen Organisationen vorgeschlagen. Sie werden vom Minister für Sécurité Sociale auf 4 Jahre ernannt und können entlassen werden, wenn sie die erforderlichen Bedingungen nicht mehr erfüllen. Außerdem sitzen i n den Verwaltungsräten i m allgemeinen qualifizierte Personen als Vertreter der Familienverbände, des Mutualismus, der Ärzteschaft und des paramedizinischen Bereichs als Berater. Die Vertretung des Personals wurde dagegen vollständig abgeschafft. 2. Ausdehnung des obligatorischen Sozialschutzes Die wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen aufgrund der beschleunigten Industrialisierung des Landes und der Konzentration der Produktionsmittel i n der Industrie und i m Handel, die daraus resultiert, führte zur Eliminierung von Familienbetrieben auf dem Land, Schaffung großer Produktionseinheiten und großer Verkaufsflächen i n der Stadt; dies veranlaßte die Regierung dazu, den Sozialschutz für die Mittelschichten zu ergänzen, um diese Veränderungen für die poten88 Dieser Einfluß w i r d i m allgemeinen durch das Bündnis des CNPF m i t der einen oder anderen der reformistischen Gewerkschaften ausgeübt. 89 Diese Z a h l w i r d manchmal verdoppelt, je nach der Bedeutung der Kassen der Sécurité Sociale. 90 Außer i n Elsaß u n d Lothringen, w o das Verhältnis zwischen C.F.D.T. u n d C.G.T. umgekehrt ist.
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tiellen Opfer erträglich zu machen und um sich auf ein neues System des obligatorischen Schutzes für die gesamte Bevölkerung hinzubewegen. a) Die Kranken-/Mutterschaftsversicherung für selbständig Erwerbstätige Zwei bedeutende Gesetze haben die Kranken-/Mutterschaftsversicherung auf selbständig Erwerbstätige ausgedehnt: (a) Das Gesetz vom 21. Januar 1961, welches die Kranken-, Mutterschaf ts- und Invaliditätsversicherung für Landwirte (A.M.E.X.A.) schuf. Die Nutznießer dieses Gesetzes, d. h. die Leiter von landwirtschaftlichen Betrieben oder Unternehmen, Familienarbeitskräfte 9 1 oder Betriebsteilhaber, die Anspruchsberechtigten einer landwirtschaftlichen Altersrente, die Ehepartner und Kinder, die zu unterhalten sind, etc., müssen danach Mitglied einer Institution ihrer Wahl werden entweder bei — der landwirtschaftlichen Sozialversicherungskasse, — einer Kasse für landwirtschaftliche Versicherung auf Gegenseitigkeit (Mutualité 1900) oder einem Hilfsverein auf Gegenseitigkeit — oder jeglichem anderen besonders hierfür ermächtigten Versicherungsorgan. Die Krankenversicherung betrifft nur die Krankheit als solche, unter Ausschluß der Unfälle i m Privatleben, die wie die Berufsunfälle zu einer anderen Pflichtversicherung für die Landwirte gehören. Die Mutterschaftsversicherung garantiert dieselben Leistungen wie für Arbeitnehmer unter Ausschluß der Ruhetagegelder. Es wurde jedoch 1977 ein Fonds für Mutterschaftsurlaub von Landwirtsfrauen geschaffen, u m die teilweise Deckung der Kosten für einen Ersatz der durch Mutterschaft verhinderten Frau an den ständig anfallenden A r beiten zu ermöglichen 92 . (b) Das Gesetz vom 12. Juli 1966, welches den Rahmen der Kranken-/ Mutter schaftsversicherung der industriellen, kommerziellen, handwerklichen und freien Berufe schuf. Dieses Gesetz stieß damals auf vehemente Proteste seitens der Betroffenen. Es mußte mehrmals verändert werden 9 3 , u m die finanziellen 91 Die Familienarbeitskräfte verstehen sich als Vorfahren, Nachkommen, Brüder, Schwestern u n d verschwägerte Personen i m selben Grad w i e der Unternehmens- oder Betriebschef oder sein Ehepartner, über 16 Jahre alt, wohnhaft auf dem Betriebs- oder Unternehmensgelände, die dort als selbständig Erwerbstätige t ä t i g sind. 02 A r t i k e l 1106-4-1 des Landwirtschaftsgesetzes.
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Verpflichtungen zu erleichtern und um die Leistungen an denen des allgemeinen Systems für Arbeitnehmer auszurichten. Diese Anpassung ist außer geringfügigen Risiken praktisch verwirklicht 9 4 . Die Selbständigen, nicht in der Landwirtschaft Beschäftigten, kommen jedoch nicht i n den Genuß einer Pflichtversicherung bei Berufsunfällen, was eine schwerwiegende Lücke darstellt. b) Erweiterung des Schutzes bei Arbeitsunfällen Einerseits führte die Mechanisierung der Landwirtschaft den Gesetzgeber dazu, den Schutz der Arbeitnehmer und Landwirte gegen landwirtschaftliche Unfälle zu verbessern. I n dieser Hinsicht wurden zwei Gesetze geschaffen: (a) Das Gesetz vom 26. Dezember 1966, welches durch die Erweiterung der A.M.E.X.A. die Versicherung der Landwirte gegen Unfälle jeglicher Art zur Pflicht machte. Diese Versicherung war bis damals i m Rahmen der gegenseitigen wirtschaftlichen Unterstützung i n der Landwirtschaft fakultativer A r t . Die Landwirte werden von nun an verpflichtet, bei einem Verwaltungsorgan der A.M.E.X.A. entweder durch Vertrag oder durch Beitritt, je nach A r t des Organs, eine Versicherung für sich selbst und die anderen Personen, die i n ihrem Betrieb arbeiten, abzuschließen: Familienhilfen, Teilhaber, Ehepartner etc., um die Betroffenen gegen Unfälle des privaten Lebens, Berufsunfälle und Berufskrankheiten zu schützen. (b) Das Gesetz vom 25. Oktober 1972, das die Gesetzgebung über Arbeitsunfälle im allgemeinen System auf landwirtschaftliche Arbeitnehmer ausgedehnt hat. Bis zum ersten Januar 1973 war die Entschädigung bei Arbeitsunfällen von landwirtschaftlichen Arbeitnehmern auf den Prinzipien des Gesetzes vom 9. A p r i l 1898 begründet. Die Gesetzgebung des allgemeinen Systems w i r d nun voll und ganz auf landwirtschaftliche Arbeitnehmer angewendet, unter Vorbehalt einiger besonderer Bestimmungen: Besondere Liste der Berufskrankheiten, die anerkannt sind, und eigene Regeln bei der Unfall-Verhütung. Andererseits hat das Gesetz vom 6. Dezember 1976 die Verhütung von nicht landwirtschaftlichen Arbeitsunfällen 9 5 verstärkt. Diese Vorkehrung besteht vor allem in: 93 V o r allem durch die Verordnung v o m 27. September 1967 u n d die Gesetze v o m 6. Januar 1970 u n d v o m 27. Dezember 1973. 94 Dekret v o m 26. J u l i 1977. 95 Y. Saint-Jours, Prévention et responsabilité en matière d'accidents du travail (commentaire de la loi d u 6 décembre 1976), Dalloz 1977, chron. p. 185.
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— Der Verpflichtung des Arbeitgebers, eine praktische und geeignete Ausbildung für die Sicherheit seiner Arbeitnehmer zu organisieren. — Der Einführung von Sicherheitsvorschriften für die Arbeitsbedingungen und Arbeitsmittel. — Der Ausweitung der strafrechtlichen Haftung wegen persönlichen Verschuldens auf dem Gebiet der Hygiene und Sicherheit und die eventuelle Auferlegung eines Unternehmenssicherheitsplanes 96 . — Quasi integrale Entschädigung des Opfers eines Arbeitsunfalles aufgrund einer „faute inexcusable" des Arbeitgebers oder seines Vertreters i n der Unternehmensleitung einschließlich der Entschädigung für dadurch entstandene Existenzprobleme. Wenn die durch dieses Gesetz ins Auge gefaßten Maßnahmen zur Anwendung gelangen, können sie die Verhütung von Arbeitsunfällen beträchtlich verbessern. c) Die Diversifizierung der Familienleistungen Die V. Republik hat durch die besonderen Familienleistungen zugunsten der Waisen, der Behinderten, alleinstehender Mütter oder Väter etwas Neues geschaffen. Aber diese neuen Leistungen, wie auch die Familienzulage, die durch die Alleinverdienerbeihilfe ersetzt wurde, sind i m allgemeinen den Bedingungen für Familieneinkommen unterworfen, deren Schwelle i n Abhängigkeit von den verfügbaren Krediten und nicht aufgrund der wirklichen Bedürfnisse festgelegt ist, was natürlich die Zahl der wirklich Begünstigten einschränkt. Parallel zu dieser Diversifizierung haben der regelmäßige Verlust an Kaufkraft und die Forderung nach entsprechenden Einkommensbedingungen die Familienleistungen auf den Rang von Hilfsmaßnahmen abgleiten lassen, die ungeeignet sind, irgendeines der gegenwärtigen Probleme zu lösen, ob es sich um soziale Ungerechtigkeit handelt oder u m den Geburtenrückgang i m Zusammenhang m i t der Wirtschaftskrise 97 . Es sollte jedoch festgehalten werden, daß seit dem 1. Januar 1978 jegliche Bedingung beruflicher A k t i v i t ä t zum Erwerb des Anspruchs auf Familienleistungen aufgegeben wurde: dies stellte den endgültigen Bruch dieser Institution m i t ihrem Ursprung als Familienzulage dar. Nicole Catala et J. C. Soyer, L a loi du 6 décembre 1976 relative au développement de la prévention des accidents d u travail. L a Semaine Juridique 1977, doct. S. 2868. 98 Siehe T r i b u n a l Correctionnel de Nevers, 24 janvier 1978, note Y. SaintJours relatif à Pimposition d'un p l a n de sécurité à l'entreprise. D r o i t social 1979, S. 49. 97 Die Z a h l der Geburten, die 1972 bei 875.000 lag, n a h m m i t Beginn der Wirtschaftskrise 1973/74 ab, u m dann 1975 unter 750.000 zu liegen.
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d) Weiterverfolgung der Generalisierung Das Gesetz vom 24. Dezember 197498 hatte ein System des gemeinsamen Schutzes für alle Franzosen spätestens zum 1. Januar 1978 i n den drei Zweigen: Kranken-, Mutterschafts-, Altersversicherung und Familienleistungen vorgesehen. Aber dieses Prinzip hat sich m i t dem Erscheinen der Durchführungsbestimmungen nach und nach abgeschwächt, um dann auf eine noch unvollständige, die soziale Ungerechtigkeit verfestigende Generalisierung sowohl hinsichtlich der Rechte auf Leistungen als auch der Umverteilung der Soziallasten hinauszulaufen. Außer der Pflichtmitgliedschaft i m allgemeinen System der Sécurité Sociale mancher Personen, die bis dahin von jeglichem sozialen Schutz ausgeschlossen waren wie z.B. Schulabgänger, die ihre erste Stelle suchen, Häftlinge etc. und einige Maßnahmen, u m den überlebenden Ehepartner 99 , die eheähnlich lebenden Personen etc. besser zu schützen, hat die gegenwärtige allgemeine Einführung vor allem zum Schutze der Arbeitnehmer i m Ausland geführt, und zwar durch die Möglichkeit einer persönlichen Versicherung, die entgegen jeder Erwartung fakultativ bleibt, und außerdem durch ein Sondersystem zugunsten der katholischen Geistlichkeit, die bis dahin der Sécurité Sociale zurückhaltend gegenübergestanden hatte. Das neueste Gesetz zur Generalisierung der Sécurité Sociale stellte zwar einen neuen Schritt nach vorne dar, erreichte jedoch nicht wirklich sein Ziel und so ist zu befürchten, daß aufgrund der gegenwärtigen Krise die nicht entschädigten Arbeitslosen i n die fakultativ gebliebene persönliche Versicherung zurückgestoßen werden und mangels der M i t t e l zur Beitragszahlung ein neues Bataillon sozial Ausgeschlossener bilden 1 0 0 . 3. Die finanziellen
Möglichkeiten
Die geringe Stabilität des finanziellen Gleichgewichts ist i m allgemeinen das Lösegeld, das man für den Dynamismus der sozialen Institutionen bezahlt. Die Sécurité Sociale ist ebenfalls von dieser Regel betroffen. Das dominierende Prinzip besteht jedoch auf sozialem Gebiet darin, Vorsorgesysteme durch ihre Leistungsberechtigten finanzieren zu lassen. Dieses Prinzip ist jedoch auf der Ebene der politischen Macht mehr oder weniger durch die Anwendung von Finanztechniken gekennzeichnet, die, je nach den augenblicklichen sozialen Kräften, entweder sozial benachteiligten Kategorien helfen sollen oder, i m Gegensatz dazu, auf 98 Gesetz Nr. 74-1094 v o m 24. Dezember 1974, welches ebenfalls die E r richtung eines Ausgleichs zwischen obligatorischen Grundsystemen der Sécurité sociale betrifft. Siehe auch Gesetz Nr. 75-574 v o m 4. J u l i 1975 über die allgemeine Einführung des Sécurité Sociale. 99 Gesetz Nr. 77-768 v o m 12. J u l i 1977. 100 E i n Gesetzesentwurf geht i n diese Richtung.
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Bevölkerungsschichten, die nicht zum besten gestellt sind, das Hauptgewicht der Finanzlast abwälzen. Vier wichtige Entscheidungen wurden, so scheint es, von den Politikern getroffen: a) Das Prinzip der finanziellen Nichtbeteiligung des Staates Außer bei Z i v i l - und Militärpensionen für Staatsbeamte 101 w i r d nie auf das Budget zurückgegriffen, u m die Verwaltung eines Systems der Sécurité Sociale zu tragen. Die einzigen Formen des staatlichen Eingriffs bestehen in: — der Schaffung einiger steuerähnlicher Abgaben, entweder um den Nebenhaushalt der landwirtschaftlichen Sozialleistungen (B.A.P.S.A.) zu finanzieren oder u m zur Finanzierung autonomer Kranken-, Mutterschafts- und Altersversicherungssysteme von selbständig Erwerbstätigen (Solidaritätssonderabgabe zu Lasten von großen Einkaufszentren) beizutragen und der Zusatzabgabe auf die Versicherungsprämien von Motorfahrzeugen (um einen Teil der Kosten, die der Sécurité Sociale durch Verkehrsunfälle entstehen, abzugleichen), — der Gewährung von Subventionen, u m i m allgemeinen das finanzielle Gleichgewicht besonders defizitärer Systeme aufgrund ihrer demographischen Strukturen oder der geringen Beitragskapazität ihrer Mitglieder auszugleichen. Hier handelt es sich jedoch nur u m Ausnahmen. I n der Regel w i l l der Staat sich von seiner finanziellen Verantwortung auf sozialem Gebiet entbinden und sie auf die Institution der Sécurité Sociale übertragen, indem er den Finanzausgleich zwischen den Systemen zur Pflicht macht. Sobald sich aber eine parafiskale Abgabe als gewinnbringend herausstellt, so wie das der Fall bei der Auto-Steuermarke war, die den nationalen Solidaritätsfonds speisen sollte, wurde sie zugunsten des Staatshaushalts umgeleitet. b) Ausgleich zwischen den Systemen Der damals punktuelle Ausgleich zwischen den Systemen wurde inzwischen gesetzlich zur Pflicht gemacht 102 . Er neigt dazu, dem allgemeinen System der Arbeitnehmer, auf der Grundlage der finanziellen Solidarität, das Defizit der Sondersysteme einerseits und der autonomen Systeme der selbständig Erwerbstätigen andererseits, aufzubürden. 101 Die Renten für Staatsbeamtete werden seit dem Gesetz v o m 9. J u n i 1853 budgetisiert. 102 Gesetz No. 74-1094 v o m 24. Dezember 1974 u n d décret d'application Nr. 75-773 v o m 21. August 1975.
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Ohne i n die technischen Details zu gehen 103 , kann man doch feststellen, daß der Finanzausgleich: (a) dazu führt, das Ungleichgewicht der demographischen Verhältnisse von einem System zum anderen zu legen, das wegen der wirtschaftlichen Veränderungen, die die französische Gesellschaft erfahren hat, entstanden ist. Manche Sondersysteme der Bergwerke, Eisenbahn etc. und autonome Systeme, Sozialversicherung auf Gegenseitigkeit i n der Landwirtschaft und bei den Selbständigen, entbehren immer mehr ihrer aktiven Substanz aufgrund der Verschlechterung des wirtschaftlichen Sektors oder der Industrialisierung der Landwirtschaft und der daraus folgenden Landflucht oder auch durch die Verschlechterung i m Kleinhandel und Handwerk. (b) das Problem der realen Beitragskapazität der selbständig Erwerbstätigen, deren Beiträge auf der Basis von fiktiven Einkommen bestimmt werden, mildert (Kataster- oder Steuereinnahmen, die i m allgemeinen weit unter den realen Berufseinkommen liegen), während die Arbeitnehmer auf der Grundlage ihrer realen Einkommen, die vom Arbeitgeber angegeben werden, Beiträge leisten müssen. Unter diesen Umständen löst der Pflichtausgleich nicht die vom einen zum anderen System herrschenden Unterschiede; er verschiebt sie nur, indem er das Gewicht der Finanzlast von der nationalen Solidarität, normalerweise vom Staatshaushalt, auf das allgemeine System abwälzt. c) Abgleiten der Beitragsumverteilung von den Unternehmen auf die Haushalte Die Beitragsumverteilung von den Unternehmen auf die Haushalte hat zum Ziel, die Produktionskosten zu bremsen, um die französischen Unternehmen auf den internationalen Märkten wettbewerbsfähiger zu machen; somit w i r d den Haushalten ein proportional wachsender Teil der direkt von den Löhnen abgezogenen Beiträgen zufallen. A m 1. A u gust 1979 ζ. B. wurde der Arbeitnehmeranteil einseitig um 1 % für alle Löhne erhöht 1 0 4 . A m 1. Januar 1980 belief er sich auf 10,20%, d.h. 4,70 % innerhalb des Limits der Beitragsgrenze und 5,50 % auf die Gesamtheit der Löhne bezogen gegenüber 6 % des ursprünglich von der Sécurité Sociale festgelegten Höchstlohnes. d) Verlangsamung des Anstiegs der Gesundheitsausgaben Die Ausgaben auf dem Gesundheitssektor neigen wie i n allen industrialisierten Ländern dazu, schneller als das Bruttosozialprodukt zu 103 Siehe hierzu: J. F. Chadelat, L a compensation, D r o i t social, numéro spécial 1978, S. 85. 104 Décrets No. 79-650 à 653 v o m 30. J u l i 1979.
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steigen. Daher hat der Staat die Schlußfolgerung gezogen, daß es notwendig ist, den Verbrauch an Gesundheitskosten zu bremsen. Drei Ziele, die w i r nur kurz anschneiden wollen, sind vor allem ins Auge gefaßt worden: (a) Die Ärzteschaft, gaben darstellt.
die den wichtigsten
Teil an den Gesundheitsaus-
Sie bleibt der Ausübung der freien Medizin tief verbunden und auch der Vergütung nach Einzelleistung. Ein System der nationalen Konvention ist seit 1971 eingeführt worden, u m zugleich auf nationaler Ebene die Arzthonorare i n Übereinstimmung m i t der Sécurité Sociale zu vereinbaren und u m die Ärzte dazu zu bringen, mittels Selbstkontrolle Selbstdisziplin bei ärztlichen Verschreibungen zu akzeptieren. Der Mechanismus der nationalen „Konvention" hält sich bis auf einige Varianten — individuell möglicher Austritt, Recht auf evtl. Überschreiten der Tarife, medizinisch-soziale Kommissionen — an die ehemaligen auf Departementsebene bestehenden Konventionen. Dieses Instrument, das man i n den verschiedensten paramedizinischen Berufen wiederfindet, w i r d durch die Einführung eines Numerus Clausus für das Medizinstudium ergänzt. (b) Die Unterbringung im Krankenhaus ist für die Sécurité Sociale sehr teuer, bleibt aber für gute Behandlung und auch für den Fortschritt der medizinischen Wissenschaften unerläßlich. Abhilfe w i r d dadurch gesucht, daß man die Verwaltungskosten zu reduzieren und die Kranken zu Hause unterzubringen versucht. Aber die Möglichkeiten sind äußerst beschränkt, wenn man den auf dem Gebiet des Gesundheitswesens i m Laufe der letzten Jahrzehnte realisierten Fortschritt nicht i n Frage stellen w i l l . (c) Der exzessive Verbrauch von Arzneimitteln, der zu einem guten Teil auf schlechte Gewohnheiten durch den Einfluß der Werbung und auf den Einfluß eines von der Sécurité Sociale finanziell gestützten Marktes zurückzuführen ist. Mancher fragt sich übrigens i n einer solchen Situation, ob es nicht eher angebracht wäre, die pharmazeutische Industrie zu verstaatlichen, statt die Rückerstattung mancher speziellen Leistungen an die Sozialversicherung zu verringern oder abzuschaffen, wie es gegenwärtig der Fall ist.
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4. Aufschwung
der Zusatzinstitutionen
Außerhalb der Sécurité Sociale haben die Zusatzinstitutionen während der letzten zwei Jahrzehnte einen beträchtlichen Aufschwung erfahren, manche unter ihnen sind aus einer Konvention hervorgegangen und haben legislative Anerkennung erfahren. a) Zusatzrenten Ein allgemeines Tarif-Abkommen vom 8. Dezember 1961 zielte darauf ab, die Zusatzrenten auf die Gesamtheit der Arbeitnehmer i n nicht leitenden Positionen auszudehnen. Z u diesem Zwecke war der Verband für Zusatzrentensysteme (A.R.C.C.O.) geschaffen worden, der die Koordinierung und den Finanzausgleich zwischen den verschiedenen Institutionen zur Aufgabe hatte. N u r einige Berufe blieben davon ausgenommen und rechtfertigten somit die Intervention durch das Gesetz vom 29. Dezember 1972, wodurch der Beitritt aller, auch der ehemaligen Arbeitnehmer zu einem Zusatzrentensystem zur Pflicht gemacht wurde. b) Arbeitslosenversicherung Die Tatsache, daß Arbeitslosigkeit von der Sécurité Sociale ausgeschlossen war, führte zu einem nationalen überberuflichen Abkommen vom 31. Dez. 1958 zwischen dem C.N.P.F. und verschiedenen Gewerkschaftsverbänden der Arbeitnehmer 1 0 5 , um durch ein Beitrags- und Leistungssystem proportional zu den Löhnen die Arbeiter gegen das Risiko des unfreiwilligen Verlustes ihres Arbeitsplatzes zu schützen. Dieses Abkommen schuf eine Arbeitslosenversicherung, die von paritätischen Institutionen verwaltet wurde: die „Association pour remploi dans l'industrie et le commerce" (A.S.S.E.D.I.C.), auf nationaler Ebene vertreten durch die „Union nationale pour l'emploi dans l'industrie et le commerce" (U.N.E.D.I.C.). Es hatte zu Zeiten der Vollbeschäftigung zumindest auch das Ziel, die Bildung einer Arbeitskräftereserve zu unterstützen, um den Unternehmern einen Druck auf die Löhne nach unten zu ermöglichen. Aber der Anstieg der Arbeitslosigkeit i n den siebziger Jahren führte zu verschiedenen Modifikationen an dieser Arbeitslosenversicherung: — die Verordnung vom 13. J u l i 1967 führte eine bessere Abstimmung zwischen den zwei Systemen der staatlichen Hilfe und der Arbeitslosenversicherung ein, indem durch ein Abkommen zwischen dem Staat lind der U.N.E.D.I.C. ein einziges Auszahlungsorgan geschaffen wurde: i n diesem Fall die A.S.S.E.D.I.C. 106 , 105
bei.
Die C.G.T., die dieses A b k o m m e n nicht unterzeichnete, trat später doch
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— das Abkommen vom 27. März 1972 führte i m Rahmen der Arbeitslosenversicherung eine Einkommensgarantie für Arbeitnehmer ein, die das 60. Lebensjahr schon überschritten hatten; sie belief sich auf 70 °/o ihres Arbeitsentgelts 1 0 7 , das Abkommen vom 14. Oktober 1974 garantierte während eines Jahres den aus strukturellen oder konjunkturellen Gründen Entlassenen Leistungen, die 90 Hubinger, VersRdsch 1949, S. 296 ff., insbes. 300 ff. StProtNR, 5. GP, S. 1641 (Abg. Kostroun u. Genoss.); zuvor schon A n trag Raab u. Genoss, aus 1946, 1. GP, S. 147, auf Einführung einer Altersu n d Invaliditätsversorgung der selbständigen Gewerbetreibenden; Sandgruber, i n : Soziale Sicherheit i m Nachziehverfahren, S. 161 ff., 162. 762 Z u m „Unternehmerkrankenversicherungsgesetz" vgl. StProtNR, 6. GP, S. 1073 ff. u. Beil. Nr. 200, sowie StProtBR, 6. GP, S. 1077 ff.; zum Gesetz aus 1953 vgl. StProtNR, 7. GP, S. 519 ff. u n d Beil. Nr. 134, sowie Sandgruber, S. 163. 761
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4. Sonstiges Von den zahlreichen sonstigen sozialversicherungsrechtlichen Gesetzen, die zwischen 1945 und 1955 ergingen, seien noch erwähnt: Das Opferfürsorgegesetz vom 4. J u l i 1947, BGBl. Nr. 183, das die Versorgung der Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung regelte, das Gesetz vom 8. J u l i 1948, BGBl. Nr. 177, über die Regelung der sozialversicherungsrechtlichen Verhältnisse aus Anlaß der Aufnahme i n ein öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis, sowie das Gesetz vom 14. J u l i 1949, BGBl. Nr. 196, betreffend einige Bestimmungen über die Sozialversicherung der Bediensteten der dem öffentlichen Verkehr dienenden Eisenbahnen. Das Sozialversicherungs-Uberleitungsgesetz wurde achtmal novelliert, im Jahr 1953 (BGBl. Nr. 99) als „SV-ÜG 1953" wiederverlautbart und i n der Folge neuerdings dreimal novelliert. Als ein erster Schritt zur Neuregelung des Sozialversicherungsrechtes ist das Gesetz vom 3. A p r i l 1952, BGBl. Nr. 86, anzusehen, das bereits zur Ära des ASVG hinüberleitet. Dieses (1.) Sozialversicherungsneuregelungsgesetz enthielt Vorschriften über die Wartezeit, die Erwerbung und Anrechnung von Versicherungszeiten i n der Rentenversicherung sowie über die Versicherung der i n der Land- und Forstwirtschaft unständig Beschäftigten. I V . Das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz (ASVG) vom 9. September 1955
1. Werdegang Schon bald nach Verabschiedung des Sozialversicherungs-Überleitungsgesetzes (vgl. II) legte das Sozialministerium den Entwurf eines Allgemeinen Krankenversicherungsgesetzes vor 7 6 3 , zu dem der am 1. Jänner 1948 errichtete Hauptverband der Sozialversicherungsträger ein umfangreiches Gutachten abgab; gleichzeitig verfolgte dieser aber weiterreichende Ziele: Schon 1949 wurde eine Expertenkommission eingesetzt, die das gesamte Gesetzesmaterial sichten und so die Grundlage für eine Kodifikation des Sozialversicherungsrechts schaffen sollte. Schon bald brach sich die Uberzeugung Bahn, daß die vom Sozialministerium ursprünglich geplante schrittweise Ersetzung des deutschen Reichsrechts durch österreichische Teil-Neuregelungen zu zeitraubend sein würde; es wurde daher auch der Mitte 1952 fertiggestellte Entwurf eines 2. Sozialversicherungs-Neuregelungsgesetzes, der die Teilgebiete: 763 Z u m folgenden vgl. Reinhold Melas / Hans Gabler / Friedrich Steinbach / Othmar Rodler / Ernst Bakule, Das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz (ASVG), SozSi 1955, S. 297 ff.: jetzt auch Friedrich Steinbach, Unfallversicherung, S. 144 ff. — Vgl. ferner die StProtNR, 7. GP, S. 3589 ff., 3668.
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Versichertenkreis, Beitragswesen und Verfahren unterziehen wollte, nicht zum Gesetz erhoben.
einer Neuregelung
Vielmehr ging die weitere Entwicklung von dem 1953 und 1954 nach und nach durch den Hauptverband fertiggestellten Entwurf eines Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes aus, der dem 1954 ausgearbeiteten und dem Begutachtungsverfahren unterzogenen Referentenentwurf des Sozialministeriums zugrundegelegt wurde. Da die anläßlich der Begutachtung geäußerten Stellungnahmen auf keinen gemeinsamen Nenner zu bringen waren, wurde die Einigung auf der Grundlage von Parteienverhandlungen der Koalitionsparteien unter Beiziehung von Experten des Sozialministeriums, des Hauptverbandes und der Interessenvertretungen versucht. Die dominierenden Persönlichkeiten dieser vom 24. Jänner bis 6. September 1955 abgehaltenen Parteienverhandlungen waren Bundeskanzler Julius Raab (Vorsitzender) und Reinhard Karnitz (Finanzminister) von Seiten der österreichischen Volkspartei sowie K a r l Maisei (Sozialminister) und Johann Böhm (Präsident des Gewerkschaftsbundes) von seiten der Sozialistischen Partei. Schon am 9. September 1955, also bloß 3 Tage nach A b schluß dieser überaus intensiv geführten Verhandlungen, erfolgte die Verabschiedung des ASVG i n einer Sondersitzung des Parlaments. 2. Hauptanliegen
und Charakteristika
I m folgenden soll kurz auf die Hauptanliegen und wesentlichen Charakteristika dieses insgesamt 546 §§ umfassenden und i n zehn Teile gegliederten Gesetzeswerkes eingegangen werden: a) Zusammenfassung des Sozialversicherungsrechts unter Anpassung an die österreichischen Verhältnisse Der augenfälligste Fortschritt, den das ASVG für den „Bereich der Allgemeinen Sozialversicherung" (s. gleich i m folgenden) brachte, war die Überwindung der Rechtszersplitterung und der hieraus resultierenden Rechtsunsicherheit. Wie arg dieser Zustand war, w i r d anhand des § 1, Abs. 1 des Sozialversicherungs-Überleitungsgesetzes deutlich: Man kapitulierte schon damals vor der Aufgabe einer A u f zählung aller „als vorläufiges österreichisches Recht" i n Geltung verbliebenen reichsrechtlichen Vorschriften des Sozialversicherungsrechts; dementsprechend verzichtete auch § 543, Abs. 1 auf eine detaillierte Aufzählung der bis dahin i n Geltung gestandenen sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften, vielmehr wurden „alle dem ASVG widersprechenden Bestimmungen" außer K r a f t gesetzt; darüber hinaus wurden noch 16 Sozialversicherungsgesetze der 2. Republik ausdrücklich außer K r a f t gesetzt.
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Von großer Bedeutung für die Übersichtlichkeit ist ferner die Zusammenfassung der für alle Versicherungszweige gemeinsamen Bestimmungen i n einem „Allgemeinen (1.) Teil" (§§ 1 - 115). I n weit größerem Maße als das „1. Buch" der Reichsversicherungsordnung (RVO) überschreitet dieser „Allgemeine Teil" die Funktion einer bloß formalen Zusammenfassung und bildet vielmehr die gesetzliche Verankerung eines „Allgemeinen Sozialversicherungsrechts", dessen Hauptelemente die traditionelle Identität der Versichertenkreise i n allen Versicherungszweigen, der Einsatz der Krankenversicherungsträger als organisatorische Grundlage der gesamten Sozialversicherung, der einheitliche Beitragseinzug durch diese, die allen Versicherungszweigen gemeinsamen Schiedsgerichte u. a. bilden. b) Sachliche und personelle Geltung; die Organisation der Sozialversicherung Die „allgemeine Sozialversicherung" (§ 1) umfaßt die Kranken-, Unfall« und Pensionsversicherung m i t Ausnahme der „Sonderversicherungen", zu denen insbes. die Krankenversicherung der Bundesangestellten, die (damalige) Meisterkrankenversicherung und die Notarversicherung zählen (§ 2). Die Arbeitslosenversicherung wurde durch das ASVG — i n Abweichung von den Prinzipien des GSVG 1935 (vgl. oben B/5, V I I I ) — nicht in das System der „allgemeinen Sozialversicherung" einbezogen. Hinsichtlich des personellen Geltungsbereichs ist zu bemerken, daß an dem Kreis der Pflichtversicherten keine wesentlichen Veränderungen vorgenommen wurden; hinsichtlich der sog. „Selbstversicherung" erfolgten zwei wichtige Änderungen, nämlich einerseits der Wegfall der Selbstversicherung i n der Pensionsversicherung und andererseits bedeutsame (und politisch stark umstrittene) Erleichterungen der Selbstversicherung i n der Krankenversicherung für selbständige Landwirte und sonstige selbständig Erwerbstätige (§ 18) 764 . Die durch das Sozialversicherungs-Uberleitungsgesetz normierte Organisation der Sozialversicherungsträger blieb durch das ASVG gänzlich unberührt, jedoch wurden teilweise neue Bezeichnungen eingeführt (Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten bzw. Arbeiter, Versicherungsanstalt des österreichischen Bergbaues).
764 Nach der bisherigen Rechtslage stand die Möglichkeit der Selbstversicherung n u r denjenigen selbständig Erwerbstätigen offen, die höchstens zwei versicherungspflichtige Personen beschäftigten. Vgl. SozSi 1955, S. 312.
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c) Zusammenfassung des Leistungssystems i n der Alters-, Invaliden- und Hinterbliebenenversicherung zu einer Pensionsversicherung unter Annäherung des Leistungsumfanges an das Pensionsrecht der öffentlichen Bediensteten; Reform der Rentenbemessung Das i m ASVG geregelte und am 1. Jänner 1956 in K r a f t getretene Pensionsrecht der Arbeiter und Angestellten stellte eine von den bisherigen Grundsätzen der Rentenberechnung und beispielsweise auch vom deutschen Recht wesentlich abweichende Neuschöpfung dar 7 6 5 : Während das bisherige System von dem — freilich durch zahlreiche Modifikationen (Ersatzzeiten-Anrechnung u. a.) abgeschwächten — Prinzip der Äquivalenz von Beiträgen und Leistungen ausging, strebt das neue System i n Anlehnung an das Pensionsrecht der öffentlichen Bediensteten nach Herstellung der Äquivalenz: letzter Lohn-Alterspension 7 6 6 . Demgemäß trat an die Stelle des bisherigen „Durchrechnungsprinzips" (Bestimmung der zu den Grundbeträgen hinzukommenden Steigerungsbeträge nach dem Ausmaß der tatsächlich eingezahlten Beiträge) das System der „BemessungsgrundlageDie letztere orientiert sich entweder nach dem der Pensionierung unmittelbar vorausgehenden Einkommen (durchschnittliche Beitragsgrundlage der letzten fünf Versicherungsjähre vor dem Kalenderjahr, i n das der Stichtag fällt; § 238 ASVG) oder nach dem zur Zeit des Höhepunkts der biologischen Schaffungskraft, sohin bis zur Vollendung des 45. Lebensjahres, erzielten Durchschnittseinkommen 767 . Von der für den Versicherten i m Einzelfall günstigeren der beiden Bemessungsgrundlagen werden der einheitlich m i t 30 °/o bestimmte Grundbetrag sowie der Steigerungsbetrag berechnet; hinsichtlich des letzteren ist die Progression der Steigerungsbetragssätze m i t fortschreitender Versicherungsdauer bemerkenswert, durch die den Versicherten eine möglichst späte Leistungsinanspruchnahme nahegelegt werden soll. Was die Anspruchsvoraussetzungen betrifft, so verlangt das ASVG (dem i n seiner ursprünglichen Fassung nur der „allgemeine Versicherungsfall" des § 23 bekannt war) bei Männern die Vollendung des 65., bei Frauen die Vollendung des 60. Lebensjahres, außerdem die Erfüllung der Wartezeit, Dritteldeckung und — i n Abweichung von der bis765 SozSi 1955, S. 331 ff.; Teschner, i n System 2.4.4.; Tomandl, Grundriß, insbes. Nr. 171. 760 Die Bezeichnung „Pension" t r a t allerdings erst durch die 9. A S V G Novelie an die Stelle der „Rente" (vgl. unten vor A n m . 773). 767 I n der noch zu besprechenden Selbständigen-Pensionsversicherung (vgl. unten B/7, V I I u n d V I I I ) bildet an Stelle der „ B 45" die „ B 55" die A l t e r native zur allgemeinen Bemessungsgrundlage; ferner ist die Bemessungszeit bei beiden Bemessungsgrundlagen i n der Selbständigenversicherung stets 10 Jahre (vgl. jetzt §§ 122 f. GSVG; 113 f. BSVG).
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herigen Rechtslage — das Nichtbestehen eines versicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisses 768 . Als wichtigste Neuerung des Anwartschaftsrechts ist wohl die nunmehr eingeräumte Möglichkeit anzusehen, auch nach Vollendung des Anfallsalters noch freiwillige Versicherungsbeiträge m i t anspruchsbegründender bzw. -steigernder Wirkung zu entrichten; für Anspruchsberechtigte, deren Pensionen wegen kurzer Versicherungsdauer oder sehr niedriger Bemessungsgrundlage nicht einmal das konventionelle Existenzminimum erreichen, wurde die sog. Ausgleichszulage (§§ 292 ff. ASVG) eingeführt 7 6 9 . Während die Vorschriften bezüglich der Altersversicherung für A r beiter und Angestellte gänzlich übereinstimmten (vgl. § 270 ASVG), blieb bei der Invaliditätsversicherung der grundsätzliche Unterschied zwischen dem Invaliditätsbegriff der Arbeiter und dem Berufsunfähigkeitsbegriff der Angestellten (§ 273) bestehen, nur das Maß der verringerten Arbeitsfähigkeit („weniger als die Hälfte") wurde der traditionellen Regelung der Angestelltenversicherung angepaßt (vgl. die §§ 255, Abs. 1 sowie 273 ASVG). I m Gegensatz zu der weitgehenden Ubereinstimmung zwischen A n gestelltenpensions- und Arbeiter-(renten-)versicherung weist die „knappschaftliche (Renten-)Pensionsversicherung" zahlreiche Sonderregelungen auf (vgl. die §§ 275 ff.), auf die hier i m einzelnen nicht eingegangen werden kann. Z u der Renten-(Pensions-)Versicherung als Kernstück der Reform trat noch eine Fülle von Einzelverbesserungen, aus der hier nur noch die Einführung der „Wahlarzthilfe" herausgegriffen werden soll, die es den Versicherten ermöglicht, auch Nichtvertragsärz/te i n Anspruch zu nehmen und hiefür Kostenersatz von den Krankenversicherungsträgern zu erlangen (vgl. § 131, Abs. 1 ASVG), sowie die Einbeziehung leitender Angestellter i n die Krankenversicherung (i. S. des Solidaritätsgedankens) 770 . 708 Vgl. § 94 ASVG, sowie §§ 60 f. GSVG; 56 f. BSVG. Eingehende Erörter u n g durch Teschner i m System 2.4.9.3. C. 769 §§ 292 ff. A S V G ; 149 ff. GSVG; 140 ff. BSVG. Z u Wesen u n d Berechnungsweise der Ausgleichszulage vgl. bereits oben A V I 3. Vgl. hiezu insbes. A n t o n Windhab, Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter — ein Beispiel f ü r den sozialen Wandel, SozSi 1977, S. 525 ff., der insbes. zur Ausgleichszulage interessante Zahlen anführt: So bezog M i t t e 1977 etwa jeder vierte Arbeiterpensionist eine Ausgleichszulage; deren A n t e i l an der gesamten Pensionslast der Pensionsversicherung der Arbeiter betrug damals 7,87 °/o. — I n der gesamten Pensionsversicherung betrug der A n t e i l der Pensionen m i t Ausgleichszulagen Ende 1978 23,3 °/o bei sinkender Tendenz; die Höhe der Ausgleichszulagen betrug durchschnittlich ca. S 1.000,—, deren A n t e i l an den Gesamtausgaben der Pensionsversicherung ca. 6,2 °/o (Sozialbericht 1978, S. 89, 108). 770 Y g i hiezu u n d noch zu weiteren Einzelverbesserungen: Festschrift „50 Jahre M i n i s t e r i u m für soziale V e r w a l t u n g 1918 - 1968", S. 40.
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d) Verfahrensrechtliche Neuerungen Hinsichtlich der Verfahrensvorschriften knüpfte das ASVG i m wesentlichen an die Regelungen des SV-ÜG an; jedoch wurden bestimmte Vorschriften des inzwischen erlassenen Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes (AVG) aus 1950, BGBl. Nr. 172, sowohl für Verwaltungs- als auch i n Leistungssachen für anwendbar erklärt (§ 357 ASVG). Umfangreichere Änderungen waren i m Bereich des Leistungsstreitverfahrens erforderlich, nachdem der Verfassungsgerichtshof m i t Erkenntnis vom 15. J u n i 1953, G 3/53, den i n § 111 SV-ÜG vorgesehenen Rechtszug von den Schiedsgerichten der Sozialversicherung an den Verwaltungsgerichtshof m i t der Begründung, daß es sich bei den ersteren u m „echte Gerichte" handle, für verfassungswidrig erklärt hatte. Um nun einerseits zum Ausdruck zu bringen, daß die Schiedsgerichte nicht als Berufungsinstanz der Sozialversicherungsträger fungieren und andererseits die allseits für notwendig gehaltene Überprüfung schiedsgerichtlicher Entscheidungen weiterhin zu ermöglichen, wurde die folgende Lösung (§§ 383 ff. ASVG) gewählt: Die Einleitung des Verfahrens vor den Schiedsgerichten erfolgt durch Klage (§ 383); der Bescheid des Versicherungsträgers t r i t t bei rechtzeitiger Klageeinbringung außer K r a f t (§ 384); das Schiedsgericht hat über den erhobenen Anspruch m i t Urteil zu entscheiden (§ 391); gegen das Urteil ist unter den Voraussetzungen des § 400 ASVG die Berufung an das Oberlandesgericht Wien als zweiter (und oberster) Instanz i m Leistungsstreitverfahren zulässig 771 . V. Die Novellen zum A S V G
Seit seiner Erlassung i m Jahre 1955 ist das ASVG durch 34 ausdrücklich als solche bezeichnete Novellen geändert bzw. ergänzt worden; weitere Änderungen bzw. Ergänzungen erfolgten durch anders bezeichnete Gesetze, als deren wichtigstes das Pensionsanpassungsgesetz (PAG), BGBl. Nr. 96/1965, anzusehen ist. Während ein Teil dieser Novellen lediglich die Anpassung der i m Gesetz angeführten Geldbeträge an die jeweiligen Einkommens- und Preisverhältnisse bezweckte, enthalten andere wichtige Neuregelungen bzw. gelegentlich sogar Systemkorrekturen. I m folgenden soll auf die wichtigsten Neuerungen i n überwiegend schlagwortartiger Form kurz eingegangen werden 7 7 2 : 771 Z u m ASVG-Verfahrensrecht vgl. insbes. Oberndorfer i m System 6, zum Leistungsstreitverfahren i m besonderen 6.4. (s. auch die kritischen A u s führungen zur sog. „sukzessiven Zuständigkeit" unter 6.1.1.!). Vgl. auch die — n u r zum T e i l überholte — umfangreiche Auseinandersetzung m i t den verfassungsrechtlichen Problemen des österr. Sozialversicherungsrechts: Otto Ladislav / Robert W a l t e r / K a r l Marschall / V i k t o r Heller, i n : Verhandlungen des 1. österr. Juristentags, I, 4. T e i l : Sozialversicherungsrecht u n d Bundesverfassung, 1961.
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(1) Umgestaltung des Ausgleichszulagenrechtes Fürsorgerecht; obligatorische Rezeptgebühr. (3) Vorzeitige
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durch Lösung vom
Altersrente bei Arbeitslosigkeit.
(4) Einführung der Krankenschein-(Zahnbehandlungsschein-)Gebühr; Festsetzung eines Pauschbetrages zur Abgeltung von Ersatzansprüchen zwischen der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt und den Gebietsund Betriebskrankenkassen sowie der Versicherungsanstalt des österreichischen Bergbaues. (6) Wegfall der Krankenschein-(Zahnbehandlungsschein-)Gebühr. (8) Einführung eines Ausgleichs fonds der Krankenversicherungsträger; Lösung des Altrentenproblems; vorzeitige Altersrente bei langer Versicherungsdauer; Zusatzrente für Schwerversehrte. (9) Aufnahme der Rehabilitation i n den Leistungskatalog der Unfallsowie der Pensions Versicherung; Neufassung des Invaliditätsbegriffs durch dessen Anpassung an den Berufsunfähigkeitsbegriff der Angestellten für Arbeiter i n erlernten und angelernten Berufen; Verbindlichkeit der vom Hauptverband der Sozialversicherungsträger erlassenen Mustersatzungen; Ersetzung des Ausdrucks „Rente (Rentner)" durch den Ausdruck „Pension (Pensionist)". Durch das Pensionsanpassungsgesetz (PAG) vom 28. A p r i l 1965, BGBl. Nr. 96, wurde das Pensionsrecht des ASVG und des GSPVG (vgl. unten VII) einer grundlegenden Änderung unterzogen 773 (vgl. die §§ 108 e 108 i ASVG; 32 a, e, f GSPVG; sowie — seit 1969 — §§ 24 - 26 B-PVG): Unter der Herrschaft des traditionellen Systems statischer Pensionsbemessung mußte den sich ständig ändernden Einkommens- und Preisverhältnissen durch sog. „ad hoc-Anpassungen" Rechnung getragen werden, die i n hohem Maße von politischen Zufälligkeiten abhängig waren und auf längere Sicht eine Benachteiligung der „Altrentner" als unvermeidlich erscheinen ließen. Durch das PAG wurde nunmehr die alljährliche Anpassung der Renten aus der Unfallversicherung und der Pensionen aus der Pensionsversicherung an das jeweilige Lohnniveau vorgesehen, und zwar teils i m Sinne einer Automatik und teils i m Sinne einer Dynamik. 772
I m folgenden die Erscheinungsjahre u n d BGBl.-Zahlen der i m T e x t erwähnten Novellen: (1.) 1956/Nr. 266; (3.) 1957/Nr. 294; (4.) 1958/Nr. 293; (6.) 1960/Nr. 87; (8.) 1960/Nr. 294; (9.) 1961/Nr. 13 ex 1962; (18.) 1966/Nr. 168; (19.) 1967/Nr. 67; (21.) 1967/Nr. 6 ex 1968; (23.) 1968/Nr. 17 ex 1969; (29.) 1972/ Nr. 31 ex 1973; (32.) 1976/Nr. 704; (33.) 1978/Nr. 684. — I n s t r u k t i v e r Überblick über den Großteil der Novellengesetzgebung bei Egon Schäfer, SozSi 1975, S. 621 ff. 773 K a r l Fürböck, SozSi 1975, S. 314 ff.
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Die automatische Anpassung kommt bei der erstmaligen Ermittlung von Leistungen der Pensions- bzw. Unfallversicherung dadurch zur Anwendung, daß die für die Bildung der Bemessungsgrundlage maßgeblichen Beitragsgrundlagen einer automatischen Anpassung m i t der Richtzahl 7 7 4 unterworfen sind. Für die Anpassung bereits angefallener Versehrtenrenten oder Pensionen gilt das Prinzip der (bloß) dynamischen Anpassung: Der vom „Beirat für die Renten- und Pensionsanpassung" (§ 108 e ASVG) vorzuschlagende und vom Sozialminister durch Verordnung festzusetzende „Anpassungsfaktor" ist zwar grundsätzlich der Richtzahl gleichzusetzen, jedoch ist ein Abweichen in Rücksicht auf die volkswirtschaftliche Lage sowie auf eine allfällige (erhebliche) Änderung der „Belastungsquote" zulässig 775 . (18/19) Aufhebung der bisherigen Regelung der Höchstdauer der Pflege i n öffentlichen Krankenanstalten; die Krankenbehandlung ist gem. § 144, Abs. 1 A S V G nunmehr zu gewähren, „wenn und solange es die A r t der Krankheit erfordert." (21) Einführung der Vollversicherungspflicht der i n beruflicher Ausbildung stehenden Personen; Verlängerung des satzungsmäßigen Krankengeldanspruchs auf 78 Wochen; Umwandlung des Versichertensterbegeldes i n eine gesetzliche Mindestleistung. (23) Neuregelung der freiwilligen Weiterversicherung; Streichung des Versicherungsfalls der Eheschließung und somit des Ausstattungsbeitrages; Übergang zur demonstrativen Aufzählung der Unfallverhütungsmaßnahmen. (29) Einführung der Gesundenuntersuchungen als Pflichtaufgabe der Krankenversicherungen (wirksam ab 1. Jänner 1974); Zuschlag zur Alterspension und Einführung der Bonifikation bei Aufschub der Alterspension (Übernahme aus dem GSPVG); Eingliederung der Landwirtschaftskrankenkassen i n die Gebietskrankenkassen; Auflösung der „Land- und Forstwirtschaftlichen Sozialversicherungsanstalt"; Ubertragung der Unfall- bzw. Pensionsversicherung der land- und forstwirtschaftlichen Arbeiter an die Pensionsversicherungsanstalt der A r beiter bzw. an die Allgemeine Unfallversicherungsanstalt; Übertragung der Unfallversicherung der selbständig erwerbstätigen Landwirte an die m i t 1. Januar 1974 neu geschaffene „Sozialversicherungsanstalt der Bauern" (s. unten VIII).
774 E r k l ä r u n g bei Tomandl, Grundriß, Nr. 199; u n d dems. i m System 0.6. ; s. auch oben A V I 3 a. E. u n d unten C I I I 3 a. E. 775 Näheres bei Tomandl i m System 0.6.4.
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(32) 776 Einführung der gesetzlichen Unfallversicherung für Schüler und Studenten; Neuregelung der Rehabilitation; Öffnung der freiwilligen Versicherung i n der Krankenversicherung; Möglichkeit des „Einkaufs" von Versicherungszeiten; einheitlicher Unfall Versicherungsbeitrag für Arbeiter und Angestellte; einheitlicher Beitragssatz i n der Pensions Versicherung der Arbeiter und Angestellten; Regelung betreffend die Liquiditätsreserve i n der Pensionsversicherung. Das nahezu alle Sozialversicherungsgesetze novellierende Sozialversicherungs-Änderungsgesetz vom 29. Dezember 1977, BGBl. Nr. 19 2 7 7 7 , bezweckte einerseits die Entlastung des Bundeshaushalts, zum anderen einen Ausgleich zugunsten der strukturell benachteiligten Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter. Z u diesen Zwecken wurde ein Zusatzbeitrag i n der Pensionsversicherung eingeführt, der gemeinsam m i t Überweisungen der Arbeitslosenversicherung dem neu errichteten Ausgleichsfonds der Pensionsversicherungsträger zufließt 778 . Ferner wurde für Zwecke der Spitalsfinanzierung die Höchstbeitragsgrundlage in der Krankenversicherung auf drei Viertel der Höchstbeitragsgrundlage der Pensionsversicherung angehoben. Die i m Rahmen des „Sozialrechts-Änderungsgesetzes" vom 16. Dezember 1978, BGBl. Nr. 684, das gleichzeitig auch die 1. Novelle zu den am 1. Jänner 1979 i n K r a f t getretenen neuen Gesetzen (GSVG, BSVG) darstellte, ergangene 33. ASVG-Novelle 7 7 9 sah u. a. eine begünstigte Weiter- und Selbstversicherung i n der Pensions versiehe rung für Zeiten der Kindererziehung sowie den nachträglichen Einkauf solcher Zeiten vor und ferner weitere finanzielle Maßnahmen zugunsten der Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter.
776
Alois Dragaschnig u. a., SozSi 1977, S. 2 ff. Ders., SozSi 1978, S. 53 ff. 778 Vgl. Tomandl i m System 0.5.3. 779 Walter Uhlenhut u.a., SozSi 1979, S. 4 f f . ; Egon Schäfer, VersRdsch 1979, S. 52 ff. — Die seit Abschluß des Manuskripts erschienene 34. A S V G Novelle v. 4. 12. 1979, B G B l . Nr. 530, brachte insbes. die Ausdehnung des U n fallversicherungsschutzes auf Wege, die zwecks Befriedigung lebenswichtiger Bedürfnisse (Mittagessen etc.) zurückgelegt werden (§ 175, Abs. 2, Z. 7 ASVG) ; Einführung der Mehrfachversicherung i n der Pensionsversicherung für Selbständige; Erhöhung des Zusatzbeitrages i n der Pensionsversicherung v o n 2 auf 3°/o (§ 51a ASVG); zusätzliche Überweisungen an den Ausgleichsfonds der Pensionsversicherungsträger (§ 447 g ASVG). A u f die m i t 1.1.1981 i n K r a f t getretene 35. ASVG-Novelle v. 15.12.1980, BGBl. Nr. 585, sei bloß verwiesen. 777
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V I . Die Weiterentwicklung der Sozialversicherung der Staats-(Bundes-)bediensteten sowie der Notare 7 8 0
Das m i t BGBl. Nr. 94/1937 wiederverlautbarte Gesetz vom 13. J u l i 1920, StGBl. Nr. 311, betreffend die Krankenversicherung der Staatsbediensteten (Näheres oben B/5, I I 2) wurde durch das Sozialversicherungs-Überleitungsgesetz (vgl. B/7, II) 1947, § 1, Abs. 2, wieder i n Kraft gesetzt. Vor allem seit Inkrafttreten des ASVG erwiesen sich die veralteten Vorschriften dieses Gesetzes jedoch als unzulänglich; zahlreiche Verbesserungen der Krankenversicherung mußten daher auf dem Umweg über ASVG-Novellen erfolgen 781 . Eine Unfallversicherung der öffentlich Bediensteten existierte überhaupt nicht. Bei Dienstunfähigkeit infolge eines Dienstunfalles sahen die einschlägigen Vorschriften des Beamtendienstrechts die Hinzurechnung einer Dienstzeit von zehn Jahren für die Bemessung des Ruhegenusses vor. Für weiterhin aktive Beamte w a r keine finanzielle Entschädigung vorgesehen. Die ärztliche Behandlung usw. hatte auch hinsichtlich der Folgen eines Dienstunfalles die Krankenversicherung der Bundesangestellten zu gewähren. Anläßlich der zwischen den vier Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes und den Dienstgebern (Bund und Ländern) geführten Verhandlungen über das Pensionsgesetz (PG) 1965, BGBl. Nr. 340, wurde von den ersteren u. a. die Forderung nach Einführung einer „den Grundsätzen des ASVG entsprechenden Unfallversicherung" erhoben. Nach längeren Kompetenzstreitigkeiten zwischen Bundeskanzleramt und Sozialministerium wurde schließlich das Beamten-Kranken- und Unfallversicherungsgesetz (B-KUVG) vom 31. Mai 1967, BGBl. Nr. 200, m i t Wirksamkeitsbeginn am 1. J u l i 1967 verabschiedet. Es enthält einerseits eine an den Standard des ASVG angepaßte Regelung der Kranken- sowie erstmals eine Regelung der Unfallversicherung der öffentlich Bediensteten, die allerdings keine Höchstbeitrags- und daher auch keine Höchstbemessungsgrundlage, sowie keine Eltern- und Geschwisterrenten kennt 7 8 2 . Auch erfolgt die Rentenanpassung nicht gemäß der Regelung des PAG (s. oben V), sondern i. S. der Automatik des Pensionsgesetzes von 1965. Dem B - K U V G kommt insoweit für die gesamte österreichische Sozialversicherung große Bedeutung zu, als durch dieses Gesetz die letzte große Berufsgruppe i n den Kreis der Unfallversicherten einbezogen wurde. 780
Vgl. H e l l m u t Teschner / Hermann Schneider (Hrsg.), Beamten-Krankenu n d Unfallversicherungsgesetz, 1968 (mit Nachträgen); K u r t Wagner (Hrsg.), Das Notarversicherungsgesetz, 1961; ders., Das österr. Notarversicherungsrecht, 1969. 781 Vgl. Franz Skolnik / A l f r e d Kudrnac / Rudolf Olbrich, Sozialversicherungsrecht, I I . Teil/2, 1966, S. 607 f. 782 Näheres bei Tomandl, Grundriß, Nr. 99.
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Seit seiner Erlassung wurde das B - K U V G mehrfach novelliert, zuletzt durch die i n zeitlichem und sachlichem Zusammenhang m i t dem „Sozialrechts-Änderungsgesetz" 1978 stehende 7. Novelle 7 8 3 . Träger sowohl der Kranken- als auch der Unfallversicherung der öffentlich Bediensteten ist die „Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter (BVA)" i n Wien. Das m i t BGBl. Nr. 2/1938 wiederverlautbarte Notarversicherungsgesetz 1926 (B/5, IV) wurde durch das Sozialversicherungs-Uberleitungsgesetz 1947, § 1, Abs. 3, wieder i n K r a f t gesetzt 784 , jedoch m i t Ausnahme der — nur die Notariatskandidaten betreffenden — Bestimmungen über die Kranken- und Arbeitslosenversicherung. Träger der beiden im Aufgabenbereich der Notarversicherung verbliebenen Sparten, nämlich der Unfall- und Pensionsversicherung der Notare und Notariatskandidaten, wurde gem. § 2, Abs. 1, Z. 7 S V - Ü G die „Versicherungsanstalt des österreichischen Notariats" in Wien. Durch mehrere ab 1951 ergangene Novellen 7 8 5 sowie durch die Sonderbestimmungen des ASVG (§§ 494 - 499) wurde das Sozialversicherungsrecht der Notare i n der Folge weitergebildet. Durch das Gesetz vom 3. Februar 1972 über die „Pensionsversicherung für das Notariat/ Notarversicherungsgesetz 1972 (NVG)", BGBl. Nr. 66, erfolgte eine Neuregelung der Pensions- sowie der i n diese integrierten Unfallversicherung, die freilich auf den „rudimentären Ersatz" einer Erhöhung des Steigerungsbetrages der Berufsunfähigkeitsrente reduziert ist 7 8 6 . Bemerkenswert ist der (im Einklang mit der bisherigen Rechtslage) konzipierte Berufsunfähigkeitsbegriff des N V G (§ 2, Z. 12), der durch den Ausschluß jeder Verweisungsmöglichkeit charakterisiert ist und die Notarversicherung sohin als eine „absolute Berufsversicherung" i n Erscheinung treten läßt 7 8 7 . V I I . Die Weiterentwicklung der Sozialversicherung der gewerblich und freiberuflich Selbständigen
Nachdem die nur bei Bedürftigkeit gewährten Unterstützungen durch den „Handelskammer-Altersunterstützungsfonds" (vgl. oben III) von Anfang an als Provisorium angesehen worden waren 7 8 8 , setzte i m Zu783 Vgl. Egon Schäfer, SozSi 1979, S. 62. Z u m 1.1.1981 i. d. F. der 9. Novelle, BGBl. Nr. 589. 784 Hiezu u n d zum folgenden K u r t Wagner, Das Notarversicherungsgesetz, 1961, S. 3 ff. 785 Ebenda, S. 63 ff. 786 Teschner i m System 2.4.4.2.4. 787 Ebenda, 2.4.2. B. 788 Vgl. Sandgruber, i n : Soziale Sicherheit i m Nachziehverfahren, S. 163 ff.; M a r t i n Spitzauer, Z u m zwanzigjährigen Bestand des GSPVG, SozSi 1978, S. 401 ff.
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sammenhang mit der Erlassung des ASVG eine verstärkte Initiative zur Einführung einer auf dem Versicherungsprinzip beruhenden Altersversorgung der Selbständigen ein, wobei zunächst eine gemeinsame Regelung der Pensionsversicherung aller Selbständigen in einem i m Februar 1956 vom Sozialministerium vorgelegten Entwurf angestrebt wurde. Obwohl sich die Interessenvertretungen der Selbständigen i n ihren Stellungnahmen größtenteils ablehnend äußerten, betraute die Bundesregierung am 25. Juni 1957 ein Ministerkomitee m i t der Ausarbeitung einer Regierungsvorlage; schon bald darauf fiel die Entscheidung, für die Selbständigen der gewerblichen Wirtschaft einerseits und jene der Land- und Forstwirtschaft andererseits spezielle Gesetze vorzusehen; den freien Berufen wurde die Möglichkeit, sich der künftigen Pensionsversicherung freiwillig zu unterwerfen, offengelassen. Nachdem das Hauptproblem des neuen Gesetzes, nämlich die Beitragsaufbringung, in der Weise gelöst worden war, daß die öffentliche Hand aus der Gewerbesteuer die Hälfte der Beiträge zu entrichten hat, wurde das „Gewerbliche Selbständigen-Pensionsversicherungsgesetz (GSPVG)" vom 18. Dezember 1957, m i t Wirksamkeitsbeginn am 1. Jänner (Beitragsrecht) bzw. 1. J u l i 1958 (Leistungsrecht) verabschiedet. Von den freien Berufen hatten sich die Wirtschaftstreuhänder, Dentisten und Journalisten für die Einbeziehung in den Kreis der nach dem GSPVG Pensionsversicherten entschieden, obwohl sie gemäß § 18, Abs. 1, lit. b die gesamte Beitragslast allein zu tragen hatten — eine Ungleichheit, die durch das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 26. März 1960, G 10/59, später beseitigt wurde. Wenngleich durch das GSPVG der entscheidende Schritt zur Pensionsversicherung der gewerblich Selbständigen bzw. der Angehörigen der freien Berufe getan wurde, konnte das Gesetz i n seiner ursprünglichen Fassung in folgenden Punkten noch nicht ganz befriedigen: die Rentenhöhe war ursprünglich selbst bei den neu angefallenen Renten sehr gering; eine den Bedürfnissen der Anspruchsberechtigten einigermaßen Rechnung tragende Rentenhöhe wurde eigentlich erst durch das Pensionsanpassungsgesetz 1965 (vgl. oben V) ermöglicht. Insgesamt stieg die durchschnittliche Direktpension, i n Indexzahlen ausgedrückt, von 100 i m Jahre 1959 bzw. 157 i m Jahre 1965 auf 667 i m Jahr 1977. Dieser Leistungszuwachs ist um so bemerkenswerter, als die Zahl der Versicherten in der gewerblichen Pensions-(bzw. Sozial-)Versicherung ständig sinkt (1959: 220.000; Ende 1977: 177.000)789. Unbefriedigend war ursprünglich auch der Umstand, daß die Erlangung der Erwerbsunfähigkeitsrente infolge strenger Fassung des Be789
Spitzauer, Z u m zwanzigjährigen Bestand, S. 404.
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griffs der Erwerbsunfähigkeit bzw. durch Aufrechterhaltung der Bedürftigkeitsklausel i n diesem Bereich sehr erschwert war. Erst 1964 bzw. 1970 wurde die Bedürftigkeitsklausel gestrichen bzw. für Versicherte, die das 55. Lebensjahr vollendet hatten und deren persönliche Arbeitsleistung zur Aufrechterhaltung des Betriebes notwendig war (also für Inhaber von kleinen Betrieben), die Verweisung auf andere Berufe i. S. der Angestelltenversicherung stark eingeschränkt; abgesehen von diesem Fall sind die Voraussetzungen der Erwerbsunfähigkeit allerdings nach wie vor strenger als jene der Berufsunfähigkeit bzw. der Invalidität (selbst der ungelernten Arbeiter) nach ASVG 7 9 0 . Weitere inzwischen in den Hintergrund getretene bzw. gelöste Probleme des GSPVG waren die sog. „Übergangsrenten" sowie die für die Selbständigen besonders wichtigen „Wanderversicherungen", die erst i n jüngster Zeit (1979) einer befriedigenden Regelung zugeführt w u r den 7 9 1 . Die Krankenversicherung der gewerblich Selbständigen (Meisterkrankenversicherung) erfuhr durch das „Gewerbliche Selbständigen-Krankenversicherungsgesetz (GSKVG)" vom 14. J u l i 1966, BGBl. Nr. 167, eine Neuregelung, die zwar an dem Prinzip der freiwilligen gremienweisen Unterwerfung unter die Kranken-Versicherungspflicht durch Mehrheitsbeschluß festhielt, aber die gesetzliche Verpflichtung zur Durchführung solcher Abstimmungen binnen Jahresfrist normierte 7 9 2 . Zumal sich i n den beiden westlichen Bundesländern, Tirol und Vorarlberg, bei den i m Frühjahr 1967 durchgeführten Wahlen die Mehrheit der noch nicht der Krankenversicherungspflicht unterliegenden Gewerbetreibenden gegen deren Einführung aussprach, brachte die ganze A k t i o n nicht den gewünschten Erfolg einer Verdoppelung der Versichertenzahlen. Diese stiegen insgesamt lediglich von 256.000 auf 310.000. Durch das „Gewerbliche Selbständigen-Krankenversicherungsgesetz" vom 13. J u l i 1971, BGBl. Nr. 287 (GSKVG 1971) wurde das gleichnamige Gesetz aus 1966 abgelöst. Neben zahlreichen Leistungsverbesserungen sah das GSKVG 1971 vor allem die (mit 1. Jänner 1974 realisierte) Fusionierung der Versicherungsträger des GSKVG und des GSPVG zur „Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft" (mit einer Hauptstelle i n Wien und 9 Landesstellen) vor. Nachdem auch die durch das GSKVG 1971 neuerlich angeordneten Urabstimmungen 790
Teschner i m System 2.4.2.4. Spitzauer, Z u m zwanzigjährigen Bestand, S. 402. 792 Sandgruber, i n : Soziale Sicherheit . . . , S. 164 f., der m i t Recht anführt, daß durch das G S K V G k e i n entscheidender Fortschritt gegenüber dem Meisterkrankenversicherungsgesetz (B/5, V I I ) erzielt wurde. 791
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nicht das erwünschte Ergebnis brachten, beschritt der Gesetzgeber m i t der 5. Novelle zum GSKVG den Weg einer gesetzlichen Unterwerfung aller Gewerbetreibenden und Pensionisten unter die Kranken-Pflichtversicherung (Gesetz vom 29. 12. 1976) 793 . Einen weiteren Markstein erreichte die Entwicklung der Sozialversicherung der gewerblich Selbständigen m i t dem Gesetz vom 11. Oktober 1978, BGBl. Nr. 560, über „die Sozialversicherung der i n der gewerblichen Wirtschaft selbständig Erwerbstätigen" (Gewerbliches Sozialversicherungsgesetz-GSVG) 794 , das i m wesentlichen eine Zusammenfassung der Bestimmungen des GSKVG und des GSPVG darstellt (derzeit i. d. F. der 1. Novelle vom 16. Dezember 1978, BGBl. Nr. 684) 795 . Z u den schon von Anfang an der Pensionsversicherungspflicht des GSPVG unterworfenen Gruppen freiberuflich Selbständiger (s. oben) kamen schon bald (1958) 796 die freiberuflich tätigen bildenden Künstler sowie 1964 die Tierärzte und 1978 die geschäftsführenden Gesellschafter von GesmbH's hinzu. Durch das Gesetz über die „Sozialversicherung freiberuflich selbständig Erwerbstätiger" vom 30. November 1978, BGBl. Nr. 624 797 , besteht nunmehr die Möglichkeit, auch Ärzte, Hechtsanwälte, Apotheker, Ingenieure u. a. der Versicherungspflicht, und zwar auch der Kranken- und Unfallversicherungspflicht, zu unterwerfen, und zwar auf Antrag der jeweiligen gesetzlichen Berufsvertretung durch Verordnung des Sozialministers (vgl. hiezu die sich auf Ärzte, Apotheker und Patentanwälte beziehende VO vom 23. Dezember 1978, BGBl. Nr. 662). Träger der Kranken- und Pensionsversicherung der freiberuflich Selbständigen ist die „Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft", Unfallversicherungsträger (wie auch für die gewerblich Selbständigen) die „Allgemeine Unfallversicherungsanstalt".
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BGBl. N r . 706, insbes. § 2, Abs. 1. Vgl. H e l l m u t Teschner (Hrsg.), Gewerbliches Sozialversicherungsgesetz ( G S V G ) . . . samt Bundesgesetz über die Sozialversicherung freiberuflich selbständig Erwerbstätiger, 1979 (mit Nachtrag 1980). 795 Vgl. SozSi 1979, S. 21 ff. Z u m 1.1.1981 i. d. F. der 3. Novelle, BGBl. Nr. 586. 796 Bundesgesetz v. 10. 7. 1958, B G B l . Nr. 157, über die Sozialversicherung der bildenden Künstler („Künstler-SVG"). Z u m 1.1.1981 i. d. F. der 3. Novelle, BGBl. Nr. 587. 797 Die Gesetzesausgabe s. oben A n m . 794; ferner Elisabeth Kainzbauer, Bundesgesetz über die Sozialversicherung freiberuflich selbständig Erwerbstätiger, SozSi 1979, S. 23 ff. 794
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Historische Entwicklung V I I I . Die Weiterentwicklung der Bauern-Sozialversicherung 79
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Noch zur Zeit der Verabschiedung des ASVG (1955) mangelte es den Bauern, d.h. den Betriebsführern landwirtschaftlicher Betriebe sowie deren Angehörigen, weitgehend an sozialversicherungsrechtlichem Schutz. Dieser erstreckte sich zu jener Zeit lediglich auf die gesetzliche Unfallversicherung, nachdem die Landesregierungen von Wien, Niederösterreich und Burgenland schon 1929 von der Möglichkeit einer Erstreckung der für die Land- und Forstarbeiter durch das „Landarbeiterversicherungsgesetz" vom 18. J u l i 1928 (Näheres s. unter B/5, V) normierten Unfallversicherungspflicht auf selbständige Landwirte und deren A n gehörige Gebrauch gemacht hatten und später durch das „6. Gesetz über Änderungen i n der Unfallversicherung" vom 9. März 1942, DRGB1. I, S. 107, i.S. der Neufassung des § 537, Ζ. 1 RVO (mit Wirkung vom 1. Januar 1942) auch die Landwirte des restlichen Österreich (damals „Ostmark") für unfallversicherungspflichtig erklärt worden waren 7 9 9 . I n der Kranken- und Invaliditätsversicherung bestand hingegen keine Versicherungspflicht der selbständigen Landwirte und ihrer Angehörigen, sofern diese nicht i n einem eigentlichen Arbeitsverhältnis zum Betriebsführer standen 800 . Immerhin aber bestand in der Krankenversicherung die Möglichkeit der freiwilligen Versicherung, von der vor allem nach dem 2. Weltkrieg in zunehmendem Maße Gebrauch gemacht wurde, was auf eine steigende Popularität des Versicherungsgedankens i n den Kreisen der Bauernschaft schließen ließ. 1965 war etwa ein Fünftel aller bäuerlichen Betriebsführer freiwillig krankenversichert 801 . Schon bald nach Beendigung des 2. Weltkrieges wurde das seit den Regierungsvorlagen von 1908 und 1911 (B/4, V) nicht mehr weiterverfolgte Projekt einer Einbeziehimg der Selbständigen der Land- und Forstwirtschaft i n die gesetzliche Altersversicherung wieder aufgegriffen 8 0 2 : Nach dem Scheitern des Planes des Abgeordneten Pius Fink i m Jahre 1948 wurde 1950 ein entsprechender Gesetzesentwurf von der Kärntner Landwirtschaftskammer vorgelegt, i m A p r i l 1954 entwickelte die Niederösterreichische Landwirtschaftskammer das Konzept einer als 798 Ernst Bruckmüller, i n : Soziale Sicherheit . . . , S. 96 ff.; K a r l Fürböck / H e l l m u t Teschner, Die Sozialversicherung der Bauern, 1970 (mit Nachträgen, insbes. T e x t des BSVG); guter Überblick über die E n t w i c k l u n g der Bauernkrankenversicherung i n SozSi 1975, S. 556; ferner Kainzbauer, SozSi 1979, S. 18. 799 Steinbach, Unfallversicherung, S. 139. — Seit I n k r a f t t r e t e n des A S V G w a r die Unfallversicherung der Bauern als (Teil-)Pflichtversicherung i n § 8, Abs. 1, Z. 3 lit. b geregelt; jetzt § 3 BSVG. 800 Vgl. Bruckmüller, i n : Soziale S i c h e r h e i t . . . , S. 93. 801 V o n den ca. 250.000 Betriebsführern etwa 45.000; Tabellen bei Bruckmüller, S. 94, 103. 802 Ebenda, S. 99 f.
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Ergänzung zum Ausgedinge bestimmten Altersversicherung; Ende 1955 wurde die Regierung i n einem Entschließungsantrag zur Einbringung einer Gesetzesvorlage aufgefordert. Da der vom Sozialministerium ausgearbeitete Gesetzentwurf bei den landwirtschaftlichen Interessenvertretungen jedoch keine Zustimmung finden konnte, brachten diese i m Wege eines Initiativantrages von ÖVP-Abgeordneten i m Parlament selbst einen Vorschlag ein, der von Juni bis November 1957 durch ein Ministerkomitee beraten und dem m i t 1. Januar bzw. 1. J u l i 1958 i n Kraft getretenen „Landwirtschaftlichen Zuschußrentenversicherungsgesetz (LZVG)" vom 18. Dezember 1957, BGBl. Nr. 293, zugrundegelegt wurde. Versicherungsträger wurde die „Landwirtschaftliche ZuschußrentenVersicherungsanstalt (LZVA) ". Der Kreis der Versicherungspflichtigen umfaßte neben den Betriebsführern auch deren Kinder (einschließlich Wahl- und Stiefkindern) und Schwiegerkinder bei hauptberuflicher und ständiger Beschäftigung im land- bzw. forstwirtschaftlichen Betrieb. Wie schon die Bezeichnung zum Ausdruck bringt, handelte es sich nicht um eine vollwertige Pensionsversicherung, sondern bloß um Zuschußleistungen (in Bargeld) zu dem hauptsächlich in Naturalleistungen bestehenden bäuerlichen Ausgedinge. Wie die Materialien zum L Z V G 8 0 3 erkennen lassen, beruhte dieses Gesetz seiner Grundkonzeption nach auf den folgenden drei Voraussetzungen: a) konstante Berufsverhältnisse i n der Land- und Forstwirtschaft, b) Sicherstellung der Wohnung und der vollen Verpflegung durch das Ausgedinge, c) Fehlen einer (sonstigen) Altersversorgung für die mitarbeitenden Kinder. Wiewohl das L Z V G gegenüber dem früheren Zustand, wie die mehr als 150.000 von der L Z V A geleisteten Renten beweisen, einen wesentlichen Fortschritt bedeutete, konnte es doch bald den sozialpolitischen Ansprüchen nicht mehr gerecht werden, da die dem Gesetz zugrundegelegten Voraussetzungen in zunehmendem Maße neuen Gegebenheiten weichen mußten: Vor allem die schon oben (B/7, I) besprochene Abwanderung der bäuerlichen Bevölkerung in den sekundären und tertiären Beschäftigungssektor ließ die Annahme „konstanter Berufsverhältnisse" i n zunehmendem Maße als ungerechtfertigt erscheinen; dieser Umstand sowie auch die immer stärker werdende Spezialisierung in der Landwirtschaft brachten das traditionelle Ausgedingssystem ins Wanken; in einem Teil der Fälle, nämlich bei Pächtern bzw. bei Bauern, die keinen Übernehmer finden konnten, fiel das als Basisversorgung gedachte Ausgedinge überhaupt weg. 803 StProtNR, 8. GP, Beil. Nr. 344; s. auch die Regierungsvorlage zum B - P V G , StProtNR, 11. GP, Beil. Nr. 1411, sowie bei Fürböck / Teschner, Sozialversicherung der Bauern I I : B - P V G , S. 1 ff.
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Dazu kam noch, daß sich infolge der ungünstigen strukturellen Entwicklung die Belastungsquote der Zuschußrentenversicherung innerhalb des Zeitraums von 1959 bis 1967 verdoppelte und diese i n eine schwere finanzielle Krise geriet, wodurch eine Anpassung der ohnedies bescheidenen Zuschußrenten an die allgemeine Einkommensentwicklung etwa i m Sinne des PAG 1965 (s. oben B/7, V) als ausgeschlossen erscheinen mußte. Zwar wurden noch i m Juni 1967 von der Präsidentenkonferenz der Landwirtschaftskammern dem Sozialministerium Vorschläge zur Reform des Zuschußrentensystems unterbreitet 8 0 4 , schon bald darauf entschloß man sich aber zur Einführung einer vollwertigen Pensionsversicherung i. S. des GSPVG (s. VII) ; nachdem innerhalb der Österreichischen Volkspartei i n der Zeit von J u l i 1968 bis J u l i 1969 ein Konzept erarbeitet und dieses der Regierungsvorlage zugrundegelegt wurde, wurde das „Bauern-Pensionsversicherungsgesetz (B-PVG)" am 12. Dezember 1969, BGBl. Nr. 28/1970, verabschiedet; das Leistungsrecht des B - P V G trat am 1. Jänner 1971 i n Kraft. Das dem System des ASVG und des GSPVG nachgebildete B - P V G regelte die Pflichtversicherung land- und forstwirtschaftlicher Betriebsführer und ihrer mitarbeitenden Angehörigen für die Versicherungsfälle des Alters, der Erwerbsunfähigkeit und des Todes. Für die Höhe des Beitrags war die nach Maßgabe des steuerlichen Einheitswerts erfolgende Einstufung i n die (insgesamt 20) Versicherungsklassen maßgebend; nach den Versicherungsklassen bzw. den ihnen zugeordneten Meßwerten richtete sich auch die Leistungsbemessung. I n Anlehnung an das ASVG und GSPVG waren dem B - P V G auch bereits Ausgleichszulagen bekannt, allerdings m i t der erheblichen Einschränkung, daß bei der Ermittlung des Gesamteinkommens ohne Rücksicht auf deren tatsächlichen Empfang die i n der Land- und Forstwirtschaft üblichen Ausgedingsleistungen bei der Ermittlung des Gesamteinkommens hinzugerechnet werden („fiktives Ausgedinge"); wichtig ist ferner, daß das Pensionsanpassungsgesetz auch i m Bereich des B - P V G zur Anwendung gebracht wurde. Nach dem Vorbild des GSPVG wurde der Bund zur Leistung von Beiträgen aus den Erträgen einer speziellen Abgabe sowie zur Ausfallshaftung verpflichtet. Versicherungsträger wurde als Nachfolgerin der L Z V A die „Pensionsversicherungsanstalt der Bauern (PVAB)", die durch die mit der 29. ASVGNovelle (vgl. oben V) in Zusammenhang stehende 2. B-PVG-Novelle, BGBl. Nr. 33/1973, seit 1. Januar 1974 mit der „Österreichischen Bauernkrankenkasse (ÖBKK)" zur „Sozialversicherungsanstalt der Bauern 804
Bruckmüller, i n : Soziale S i c h e r h e i t . . . , S. 102.
44 S o z i a l v e r s i c h e r u n g
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(SVAB)" vereinigt wurde; gleichzeitig wurde der SVAB auch die Unfallversicherung der Bauern übertragen. Die spätere Novellengesetzgebung zum B - P V G war durch eine weitere Annäherung an die Regelungen und das Leistungsniveau des ASVG und des GSPVG gekennzeichnet: So wurden insbes. durch die 5. Novelle, BGBl. Nr. 709/1976, die Niveauunterschiede zum GSPVG sowohl auf dem Leistungs- als auch auf dem Beitragssektor aufgehoben, die ersten insbes. durch die Einführung der vorzeitigen Alterspension bei langer Versicherungsdauer, einer zweiten Bemessungsgrundlage zum 55. Lebensjahr („B 55") sowie des Zuschlages zur Alterspension. Schließlich wurden die alten Zuschußrenten i n Übergangspensionen umgewandelt und ihre etappenweise Neubemessung nach den Grundsätzen des B-PVG vorgesehen 805 . Erste Ansätze für eine Kranken-Pflichtversicherung der Bauern lagen i n der i m L Z V G zwar vorgesehenen, aber aus finanziellen Gründen nicht realisierten Krankenversicherung der Zuschußrentner. Ein am 17. Februar 1960 i m Nationalrat eingebrachter Initiativantrag sowie eine ebenfalls i m Jahre 1960 von den bäuerlichen Interessenvertretungen abgehaltene Tagung über die besorgniserregenden Gesundheitsverhältnisse der bäuerlichen Bevölkerung ließen die Notwendigkeit einer Kranken-Pflichtversicherung der Bauern neuerlich zutage treten 8 0 6 . I m Frühjahr 1961 legte das Sozialministerium den Entwurf eines Bauern-Krankenversicherungsgesetzes vor, der i n Rücksicht auf die Stellungnahmen der bäuerlichen Interessenvertretungen umgearbeitet, am 15. Dezember 1963 dem Ministerrat vorgelegt und hierauf neuerlich dem Begutachtungsverfahren unterzogen wurde. Nachdem i n der Regierungsvorlage die vier zentralen Forderungen 807 der Bauernschaft: a) Subsidiarität 8 0 8 gegenüber anderen Versicherungen, b) föderalistische Verwaltung, c) Beteiligung des Bundes an der Finanzierung und d) weitgehende Mitversicherung von Angehörigen Berücksichtigung gefunden hatten, wurde das „Bauern-Krankenversicherungsgesetz (B-KVG)", BGBl. Nr. 219, am 7. J u l i 1965 verabschiedet (Wirksamkeitsbeginn des Leistungsrechts: 1. A p r i l 1966). Als Versicherungsträger wurde die „Krankenversicherungsanstalt der Bauern" vorgesehen, deren Bezeich805 Fürböck / Teschner, Sozialversicherung der Bauern, I I , S. 6 f. 806
Bruckmüller, i n : Soziale S i c h e r h e i t . . . , S. 100 ff. SozSi 1975, S. 556. 808 Diese hat bzw. hatte eine Ausnahme von der Pflichtversicherung i n der K r a n k e n - und/oder Pensionsversicherung zur Folge, w e n n aufgrund anderer Pflichtversicherungen bereits entsprechender Versicherungsschutz bestand; vgl. § 5 BSVG; ähnlich die §§ 4 f. GSVG. Jetzt aber: E i n f ü h r u n g der M e h r fach-Pensionsversicherung f ü r Selbständige durch die 34. ASVG-Novelle (vgl. oben A n m . 779). 807
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nung aber schon durch die 1. Novelle, BGBl. Nr. 256/1967, auf „Österreichische Bauernkrankenkasse (ÖBKK)" geändert wurde. Den Wünschen der Bauernschaft entsprechend wurde die Ö B K K ebenso wie die P V A B und die seit 1. Januar 1974 an deren Stelle getretene SVAB nach einem föderalistischen Konzept (weitgehende Autonomie der „Landesstellen") errichtet. Weitere Charakteristika der Bauern-Krankenversicherung waren bzw. sind „die grundsätzliche 20prozentige Beteiligung an den Kosten der Leistungen und das fast gänzliche Fehlen von Geldleistungen" 8 0 9 (Ausnahme: Bestattungskostenbeitrag). Auch die Novellengesetzgebung zum B - K V G war durch die Tendenz einer größtmöglichen Annäherung an die Bestimmungen des ASVG und die gewerbliche Sozialversicherung (hier: GSKVG) gekennzeichnet. Wenig günstig gestaltete sich die finanzielle Entwicklung der bäuerlichen Krankenversicherung; während die Beitragseinnahmen infolge der sinkenden Versichertenzahlen zeitweise stagnierten, stieg der A u f wand in den Jahren 1967 bis 1975 u m 120 Prozent 8 1 0 ! Ähnlich wie das gewerbliche Sozialversicherungsrecht wurde auch das bäuerliche erst vor kurzem — durch Zusammenfassung der Bestimmungen des B - K V G und des B - P V G sowie durch Aufnahme von Verweisen auf das (insbes. hinsichtlich allgemeiner Vorschriften bzw. hinsichtlich der Unfallversicherung relevanten) ASVG — zu einem Gesetz, nämlich dem Gesetz vom 11. Oktober 1978, BGBl. Nr. 559, über die Sozialversicherung der i n der Land- und Forstwirtschaft selbständig Erwerbstätigen (Bauern-Sozialversicherungsgesetz — BSVG) zusammengefaßt, wobei gleichzeitig auch i n der Krankenversicherung vom System der Versicherungsklassen abgegangen und somit das gesamte bäuerliche Sozialversicherungsrecht auch i m Beitragsrecht dem GSVG angeglichen erscheint. Derzeit befindet sich das BSVG in der Fassung der i m Rahmen des „Sozialrechts-Änderungsgesetzes" ergangenen 1. Novelle, BGBl. Nr. 684/1978 811.
809 SozSi 1975, S. 556; vgl. jetzt § 80, Abs. 2; 86, Abs. 3 BSVG; bezüglich Geldleistungen i n der Bauernkrankenversicherung vgl. die §§ 88, 93, 99 BSVG. 810 SozSi 1975, S. 556; diese Aufwandsteigerung dürfte sich allerdings durchaus i m Rahmen der Kostenentwicklung i n der gesamten Krankenversicher u n g halten; vgl. hiezu A l f r e d Radner, SozSi 1979, S. 107 ff. 811 Vgl. hiezu Kainzbauer, SozSi 1979, S. 18. Z u m 1.1.1981 i. d. F. der 3. N o velle, BGBl. Nr. 587.
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C. Schluß I . Die Ausgangssituation zu Beginn der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts unter Einbeziehung des Vergleiches zu anderen europäischen Staaten (insbes. zum Deutschen Reich)
1. Die politische und ideologische Situation der Donaumonarchie (zisleithanische Reichshälfte) I m Kreise der Staaten, die i m Rahmen dieses Sammelbandes Berücksichtigung finden, nimmt Österreich hinsichtlich seiner territorial-politischen Struktur eine Sonderstellung ein: Österreich, dessen offizielle Bezeichnung zur Zeit der Erlassung der Sozialversicherungs-Stammgesetze „die i m Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder" lautete, war i n ethnischer Hinsicht ein Vielvölkerstaat; i n dessen — i m wesentlichen durch die Dezemberverfassung von 1867 fixierter — verfassungsrechtlicher Struktur überwogen jedoch die zentralistischen Elemente. Soweit die Verfassung föderalistische Züge aufwies, handelte es sich um politische „Anteilsrechte" der historisch gewachsenen „Kronländer", deren Grenzen jene der nationalen Siedlungsgebiete vielfach kreuzten (insbes. in den böhmischen Ländern, Galizien usw.) 8 1 2 . Solange das liberale Element i m Zentralparlament, dem sog. „Reichsrat" m i t seinen beiden Häusern (Herrenhaus, Abgeordnetenhaus) dominierte, w a r der eben skizzierte Gegensatz zwischen ethnischer und verfassungsrechtlicher Struktur nur latent vorhanden; seit den Reichsratswahlen von 1879 trat er hingegen i n immer stärkerem Maße hervor (B/1,1 8). Für die Sozialgesetzgebung i m allgemeinen und die Sozialversicherungsgesetzgebung i m besonderen ergaben sich hieraus zunächst keine spürbaren Nachteile, i m Gegenteil: Es zählt zu den großen Leistungen der Regierung Taaffe (1879 - 1893), daß es ihr gelang, die Sozialpolitik als die große gemeinsame Aufgabe der in der zisleithanischen Reichs812 Vgl. Bernatzik, Verfassungsgesetze, S. 887 (Tabelle über den A n t e i l der Nationalitäten i n der gesamten zisleithanischen Reichshälfte); S. 880 (Anteil der Nationalitäten i n den gemischtsprachigen Kronländern); Hugo Hantsch, Die Nationalitätenfrage i m alten Österreich, 1953. s. auch die sehr w e r t vollen Ausführungen Matis' über sozialökonomische Faktoren i m Nationalitätenkonflikt, Österreichs Wirtschaft, S. 383 ff. s. hiezu auch meine A r b e i t über „rechtliche Aspekte der Industrialisierung i n der österreichisch-ungarischen Monarchie 1873 - 1918" ( w i r d i n Zagreb/Jugoslawien erscheinen).
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halite vereinigten Länder herauszustellen und so ein wirksames Gegengewicht zu den — das Regime Taaffe mittragenden — nationalistischen Tendenzen zu schaffen. M i t Ausnahme der Auseinandersetzung um die Krankenversicherung der Land- und Forstarbeiter (B/3, V) traten die nationalen Gegensätze anläßlich der Gesetzwerdung der Sozialversicherungs-Stammgesetze weitgehend i n den Hintergrund. Dies ist u m so bemerkenswerter, als zahlreiche andere wichtige sozialpolitische Initiativen zugunsten von Gruppen, die der Regierung Taaffe politisch näher standen als die Arbeiter, nämlich insbes. gesetzgeberische Maßnahmen auf dem agrarischen Sektor (Reichs-Anerbengesetz u. a.), an den eigenständigen Vorstellungen der Landtage scheiterten oder erst m i t großer Verspätung Gesetz wurden. Erst nach 1890 und vor allem seit der Entlassung Taaffes (1893) nahmen die nationalen Gegensätze derart überhand, daß alle Bereiche der Gesetzgebung i n Mitleidenschaft gezogen wurden; daraus erklärt sich das zeitweise gänzliche Versiegen des Flusses sozialpolitischer Gesetze i n den Jahren 1893 - 1900 (B/4,1). Erst i n der Ä r a Körber (1900 - 1905) traten wieder etwas ruhigere Verhältnisse ein; auch in Körbers großem Reformplan spielte die Sozialpolitik eine wichtige Rolle als integratives Element des Vielvölkerstaates, wenngleich der Verwaltungsreform durch Körber eindeutig die Priorität eingeräumt wurde. Seit den ersten auf dem Prinzip des allgemeinen und gleichen Wahlrechts durchgeführten Wahlen von 1907 trat die Sozialpolitik und i m besonderen die Sozialversicherung (die nunmehr den Rahmen der Arbeiterversicherung sprengte) ganz in den Vordergrund parlamentarischer und sonstiger politischer Aktivitäten. Parlamentarier und sonstige Fachleute aller i n der zisleithanischen Reichshälfte vereinigten Nationen arbeiteten bis unmittelbar vor Ausbruch des 1. Weltkrieges an der Fertigstellung eines umfassenden Gesetzeswerkes der Sozialversicherung, das insgesamt 10 Millionen Personen (hievon 4 Millionen Selbständige) i n die Unfall-, Kranken- und Pensionsversicherung einbezogen hätte (B/4, V). Seit dem Zerfall der Donaumonarchie i m Oktober 1918 ist Österreich kein Vielvölkerstaat mehr, sondern ein Bundesstaat (mit einzelnen nationalen Minderheiten). Aufgrund der — allerdings erst 1925 i n Kraft getretenen — kompetenzrechtlichen Bestimmungen des Bundes-Verfassungsgesetzes vom 1. Oktober 1920 ist das „Sozialversicherungswesen" i n Gesetzgebung und Vollziehung Bundessache (Art. 10, Abs. 1, Z. 11). Auch hinsichtlich der politischen Strukturen weist Österreich sowohl i n der Ausgangssituation von 1880 als auch i n der späteren Entwicklung bemerkenswerte Besonderheiten auf, die für die Sozialversicherungsgesetzgebung von nicht unerheblicher Bedeutung waren: Von 1860/61 bis 1879 war der Liberalismus i n Österreich die dominierende politische Kraft, wenn man von dem Intermezzo „Hohenwart-
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Schäffle" von 1871 absieht (B/1, I 6 bis 8). Wenngleich der österreichische Liberalismus jenen in Preußen und i m Deutschen Reich zeitweise (so insbes. i n den letzten Jahren vor dem „Börsenkrach" von 1873) an Intensität des Freiheitsstrebens noch übertraf, so w i r d man doch der Feststellung Hans Rosenbergs 813 zustimmen müssen, daß dessen soziale Verankerung weit schwächer war als beispielsweise in Preußen. Dies zeigte sich dann 1879, als geringe Verschiebungen der Mandatsverhältnisse i n Verbindung mit der Rückkehr der Tschechen in den Reichsrat die liberale Herrschaft ins Wanken und bald darauf zum Sturz brachten. Früher und intensiver als anderswo erfolgte i n Österreich die Niederlage des politischen und (wenn auch in eingeschränktem Maße) w i r t schaftlichen Liberalismus; an seine Stelle trat ein aus recht heterogenen Kräften zusammengesetztes Bündnis föderalistisch bzw. konservativ orientierter Kräfte, der sog. „Eiserne Ring". I n das vom Liberalismus der Spätzeit hinterlassene ideologische Vakuum stieß der Sozialgedanke als nationales wie ideologisches Einigungsmoment nach (B/1,1 8 u. 9). Unangebracht wäre es freilich, wollte man dem österreichischen L i beralismus jedes sozialpolitische Engagement absprechen: Sowohl die Entwürfe einer neuen Gewerbeordnung (sehr weitgehende Unternehmerhaftpflicht!) als auch die Reformpläne bezüglich des Berggesetzes weisen sehr deutlich auf die Bereitschaft hin, die sozialen Verhältnisse zugunsten der sozial Schwächeren zu verbessern; man war offenbar auch dazu bereit, hiefür wirtschaftliche Opfer zu bringen. Die Gründe, derentwegen der politische Liberalismus der Spätphase i n der Durchführung sozialer Reformen scheiterte, liegen einerseits in der zunehmenden politischen Uneinigkeit des liberalen Lagers und andererseits i n der mangelnden Bereitschaft der meisten seiner Vertreter, dem Wirken des Freiheitsprinzips, auch dort, wo seine übertriebene Handhabung als schädlich erkannt wurde, mit Zwang zu begegnen (B/1,1 8). Nichtsdestoweniger haben die österreichischen Liberalen jedenfalls i n der Frage der Pflichtversicherung eine flexiblere Haltung eingenommen als beispielsweise die „Freisinnigen" des Deutschen Reichstags. Wenngleich der Antrag von 1882, der u. a. die Einführung der Unfallund Krankenversicherungspflicht für die Arbeiter (B/3, II) verlangte, von der Furcht, durch sozialpolitische Vorlagen der Regierung politisch „überrollt" zu werden, zumindest mitbestimmt gewesen sein dürfte, so steht die sich hierin äußernde grundsätzlich positive Einstellung der österreichischen Liberalen zur Anwendung des „Versicherungszwanges" i m Interesse sozial gefährdeter Gruppen doch in deutlichem Gegensatz 813 Große Depression u n d Bismarckzeit, S. 227 ff., 239; vgl. dessen tiefschürfende Analyse auch zum Text i m folgenden!
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zu der insoweit abwehrenden Haltung liberaler Gruppierungen i n anderen europäischen Ländern (B/3, III). Was nun den ideologischen Hintergrund der Taaffeschen Arbeiterversicherungsgesetzgebung betrifft, so muß von vornherein darauf hingewiesen werden, daß dieser, wenn man überhaupt das „Negative" hervorkehren w i l l , i n viel größerem Maße von Abwehrtendenzen gegenüber dem Liberalismus denn gegenüber der Sozialdemokratie geprägt ist. Dieser Unterschied gegenüber der Bismarckschen Sozialgesetzgebung ist einerseits i n dem Umstand begründet, daß die österreichische Sozialdemokratie sich zu Beginn der achtziger Jahre noch nicht zu einer einheitlichen politischen Gruppe formiert hatte und überdies infolge des Kurienwahlrechts (mit Zensus) über keine parlamentarische Vertretung verfügte, zum anderen i n der primär antiliberalen und erst i n zweiter Linie anti-sozialdemokratischen Ausrichtung der Lehren der christlichen Sozialreformer (B/1,1 9). Daß diese für die Taaffesche Regierungspolitik zweifellos i n vielen Punkten richtungsweisend waren, kann keinem Zweifel unterliegen, zumal führende Vertreter der christlichen Sozialreform (Liechtenstein, Belcredi u. a.) dem Reichsrat angehörten und i n dem zuständigen (Gewerbe-)Ausschuß über die Regierungsvorlagen zu befinden hatten. Die Zielsetzungen dieser christlichen Sozialreformer waren sozial-revolutionär in einem so umfassenden Sinne, daß der Sozialversicherungsgesetzgebung als M i t t e l zur Behebung sozialer Schäden zwangsläufig nur eine sekundäre Rolle zufallen konnte. Als eigentliche Aufgabe der Sozialgesetzgebung wurde die Wiederherstellung jenes wirtschaftlichen und sozialen Gleichgewichts angesehen, das — zumindest nach den, nicht immer m i t der historischen Realität konformen, Vorstellungen der christlichen Sozialreformer — bestanden hatte, bevor der Liberalismus durch die Niederreißung der meisten sozialen und wirtschaftlichen Schranken dem Freiheitsdogma zum Sieg verholfen hatte. Als primäre Aufgabe der Wirtschafts- und Sozialpolit i k w i r d demnach die Wieder- oder Neuerrichtung von wirtschaftlichen und sozialen Schranken der Privatautonomie angesehen; nicht umsonst bilden daher Wuchergesetzgebung (1881), Einführung des Befähigungsnachweises i m Gewerberecht (1883) und vor allem Maßnahmen des Arbeiterschutzes (1885) den Anfang der Taaffeschen Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung (B/3,1 u. II). Die Sozialversicherung kam aus dieser Sicht erst i n zweiter Linie i n Betracht und bildete m i t den Maßnahmen des Arbeiterschutzes eine programmatische Einheit. I n dieser Grundhaltung unterscheidet sich die Taaffesche Gesetzgebung von der Bismarckschen ganz grundlegend:
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Während Bismarck an dem „liberalen" Konzept des Arbeitsvertrages, das von der freien Verfügung des Arbeiters über seine Arbeitskraft ausgeht, festhielt und Beschränkungen dieser Verfügungsfreiheit grundsätzlich ablehnte, ist die Beschränkung der Privatautonomie, jedenfalls i m Zusammenhang m i t dem industriellen Arbeitsvertrag, das Primärziel der österreichischen Schutzgesetzgebung zugunsten der Arbeiterschaft 814 . Die Sozialversicherungsgesetzgebung erhält dadurch i n Österreich auch einen anderen sozialethischen Stellenwert als bei Bismarck: Während dessen Sozialversicherungsgesetze von K r i t i k e r n wohl nicht ganz zu Unrecht als eine A r t Gegengabe für den weithin fehlenden Arbeiterschutz angesehen wurden, bildeten die österreichischen Gesetze bloß flankierende Maßnahmen zum Arbeiterschutz. Diesem m. E. sozialpolitisch fortschrittlichen „österreichischen Konzept" der Sozialversicherungsgesetzgebung waren aber freilich Charakterzüge immanent, die i n dem Bismarckschen eine geringere Rolle spielten: I n Rücksicht auf die „antiliberale" Grundtendenz der Gesetzgebung wurde die anfängliche Beschränkung des Versichertenkreises auf die industriellen Arbeiter im Grunde als sachgerecht empfunden, da man i n dem großindustriellen Maschinenbetrieb das soziale Hauptübel erblickte und ähnlichen sozialen Verhältnissen i m (nicht maschinellen) landwirtschaftlichen bzw. gewerblichen Betrieb weniger kritisch gegenüberstand (B/3, IV). I n Verbindung m i t den zahlreichen finanziellen und technischen Schwierigkeiten, die eine Einbeziehung der land- und forstwirtschaftlichen Arbeiter sowie der kleingewerblichen Hilfskräfte mit sich gebracht hätte (insbes. Belastung der ohnehin in wirtschaftlichen Schwierigkeiten befindlichen Landwirte und Kleingewerbetreibenden), war auch diese Grundhaltung der Regierung Taaffe und der späteren Regierungen m. E. dafür maßgeblich, daß die Erweiterung des Versichertenkreises viel langsamer vor sich ging als i m Deutschen Reich. Aus einem ähnlichen Blickwinkel dürfte auch die naheliegende Frage zu beurteilen sein, weshalb die A l ters- und Invaliditätsversicherung der Arbeiter von der Regierung Taaffe nicht m i t der Vehemenz i n Angriff genommen wurde wie von Bismarck: Neben den weitaus größeren finanziellen und technischen Schwierigkeiten, die m i t der Alters- und Invaliditätsversicherung i m 814 V o r allem i m H i n b l i c k auf den i m vorliegenden Werk beabsichtigten Vergleich der Bismarckschen Sozialgesetzgebung m i t jener i n anderen europäischen Staaten erscheint diese unterschiedliche sozialpolitische Schwerpunktsetzung besonders bemerkenswert; i n politischer Hinsicht ist hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Regierung u n d (sozialdemokratischer) A r beiterschaft k e i n wesentlicher Unterschied zwischen dem Deutschen Reich u n d Österreich feststellbar, da die deutsche Ausnahmegesetzgebung durch Taaffe i n Österreich m i t ebenso geringem Erfolg kopiert wurde. Näheres oben A n m . 236 bzw. 250; ferner über die Charakteristika der österr. Sozialp o l i t i k der Taaffe-Ära s. Rosenberg, S. 227 ff., insbes. auch S. 236 ff. über die Ausklammerung der bei Bauern u n d Kleingewerbetreibenden Beschäftigten.
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Vergleich zur Unfall- und Krankenversicherung verbunden sind, war wohl auch hier der Gedanke maßgeblich, daß zumindest der Versicherungsfall des Alters nicht i n jenen sozialen Risikenbereich gehört, der durch die industrielle Entwicklung bzw. die liberale Politik entscheidend negativ beeinflußt worden war. Auch was die beteiligten Personen betrifft, ergibt sich ein erheblicher Unterschied zwischen der Sozialversicherungsgesetzgebung des Deutschen Reichs und Österreichs: Während in Deutschland Bismarck sowohl i n ideologischer als auch politischer Hinsicht als Zentralfigur dieser Gesetzgebung ganz i n den Vordergrund trat, wirkte Taaffe mehr i m Hintergrund, als Koordinator der Regierungstätigkeit sowie als Vermittler des politisch höchst bedeutsamen Kontaktes der Regierung zum Monarchen. Darüber hinaus war Taaffe, ohne ein großer Ideologe zu sein, ein ehrlicher Anhänger der Sozialreform, die er m i t großem Geschick mit den Erfordernissen der Tagespolitik zu vereinen wußte; daneben kommt aber eine über das bloß Redaktionelle weit hinausgehende Bedeutung dem Mitarbeiter Taaffes bzw. des zuständigen Ressortleiters (Prazâk), Emil Steinbach, zu. A u f die i m Hauptteil (B/3, I) recht eingehend dargestellten sozialpolitischen Thesen Steinbachs sei hier nochmals verwiesen: ihren Niederschlag fanden diese insbes. i n organisatorischen Details der österreichischen Arbeiterversicherung (s. hiezu unten I I 5). Was die Haltung der österreichischen Sozialdemokratie zu den A r beiterversicherungsgesetzen von 1887 - 89 betrifft, so muß zunächst nochmals auf die spezielle politische Situation der österreichischen Arbeiterschaft zum damaligen Zeitpunkt hingewiesen werden (B/1, I 6). I m Gegensatz zum Deutschen Reich war die Arbeiterschaft infolge des K u rienwahlrechts und des Zensus i m Parlament (Reichsrat) nicht vertreten; ferner war die österreichische Sozialdemokratie bis zum Einigungsparteitag von 1888/89 (Hainfeld) i n zwei Gruppen (Gemäßigte, Radikale) gespalten. Aus A r t i k e l n der vom späteren Parteiführer Viktor Adler redigierten Zeitschrift „Gleichheit" sowie aus den späteren Beschlüssen des Hainfelder Parteitags läßt sich aber trotz des Fehlens „offizieller" parlamentarischer Stellungnahmen folgende Grundhaltung erkennen: Die Arbeiterschutzgesetzgebung der Regierung Taaffe wurde, jedenfalls von der großen Mehrheit der Sozialdemokraten, zwar i n vielen Einzelpunkten für unzureichend angesehen und hinsichtlich ihrer Handhabung durch die zuständigen Behörden kritisiert, aber ihrer Tendenz nach begrüßt. Eher ablehnend war die Haltung der sozialdemokratischen Arbeiterschaft hingegen zunächst gegenüber den Arbeiter-Versicherungsgesetzen, wobei allerdings auffällt, daß sich die K r i t i k nur zum geringeren Teil gegen den Inhalt dieser Gesetze (insbes. Leistungshöhe), zum größeren jedoch gegen die von der Arbeiterschaft für maßgeblich
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angesehenen politischen Motive („Almosen" für „Arbeiterkrüppel"; Verlagerung der Gemeindefürsorgelast auf die Arbeiter; Versuch der politischen „Bekehrung" der Arbeiter etc.) wendet (B/3, I I I , IV). Schon bald, nachdem die sozialdemokratische Arbeiterschaft erstmals Abgeordnete i n den Reichsrat entsenden konnte (1897), zeichnete sich ein bemerkenswerter Wandel in Richtung auf eine entschiedene Bejahung des Gedankens der Sozialversicherung in Verbindung m i t der Forderung auf Schaffung der Alters- und Invaliditätsversicherung, ab. A u f dieser Linie liegt denn auch die Unterstützungszusage, die Viktor Adler dem Körberschen Programm gegenüber abgab; weniger positiv stand die Sozialdemokratie zunächst der Forderung nach Ausdehnung der Unselbständigenversicherung auf eine auch die Selbständigen umfassende „Sozialversicherung" gegenüber, doch hat sie in diesem Punkt ihre Haltung später geändert (B/4,1). 2. Die sozio-ökonomische Situation der Donaumonarchie; die vorhandenen Einrichtungen der sozialen Fürsorge bzw. des Rechtsschutzes; Selbsthilfeorganisationen der Arbeiter I m Gegensatz zu den übrigen i n den Länderberichten behandelten Ländern zählte Österreich zur Zeit der Entstehung der Sozialversicherungsgesetze noch nicht zu den führenden Industrienationen Europas. I n dem — relativ kleinen — Teil des Staatgebietes, auf das sich die industrielle Produktion konzentrierte (böhmische Länder, südliches Niederösterreich, Rheintal in Vorarlberg), waren jedoch soziale Verhältnisse gegeben, die denjenigen der führenden Industriestaaten durchaus zur Seite gestellt werden können. Was die wirtschaftliche und soziale Situation der industriellen Arbeiterschaft betrifft, so muß für Österreich vor allem auf die besonders negativen Auswirkungen des großen „Börsenkrachs" von 1873 hingewiesen werden. Der zunehmende Lohndruck auf der einen und die ständigen Preissteigerungen auf der anderen Seite verschärften die wirtschaftliche und soziale Lage der Arbeiterschaft zusehends; auch die Wohn- und Gesundheitsverhältnisse erreichten zu Ende der siebziger bzw. Beginn der achtziger Jahre einen bis dahin unerreichten Tiefpunkt (B/1, I I 6 - 8). Demgegenüber mangelte es weitgehend an einem Schutz gegenüber sozialen Risiken. Hinsichtlich des Risikos der Arbeitsunfälle bzw. Berufskrankheiten waren die Arbeitnehmer m i t minimalen Ausnahmen (zu den Bruderladen s. gleich unten) auf das zivilrechtliche Instrumentarium der Schadenersatzklage wegen schuldhafter Schädigung durch den Arbeitgeber bzw. die von ihm beauftragten Personen verwiesen. Die Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen scheiterte meist an den Schwie-
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rigkeiten des Verschuldensbeweises (1296 ABGB!). Hauptsächlich in Rücksicht auf diesen Umstand wurde 1869 durch das Eisenbahnhaftpflichtgesetz die Gefährdungshaftung der Eisenbahnunternehmen eingeführt; für bei Eisenbahnunfällen zu Schaden gekommene Fahrgäste sowie Bahnbedienstete wurde hiedurch die Aussicht der erfolgreichen Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen ganz erheblich erhöht (B/1, I I I 1). Eine ähnliche Rechtslage wurde für das Deutsche Reich 1871 durch das Reichshaftpflichtgesetz (§ 1) geschaffen; hinsichtlich der Bergwerke, Steinbrüche, Gräbereien und Fabriken war keine Gefährdungshaftung, sondern lediglich die Haftung des Unternehmers für „culpa i n eligendo vel inspiciendo" hinsichtlich seines Personals vorgesehen (§ 2), eine Regelung, die kaum über die in Österreich gegebene Rechtslage hinausging (B/1, I I I 1). Ähnlich wie i m Deutschen Reich wurden auch i n Österreich — noch i n der „liberalen Ä r a " — zahlreiche Versuche zur Einführung einer allgemeinen Unternehmerhaftpflicht i. S. der Eisenbahnhaftpflicht unternommen; Bismarck stoppte jedoch 1880 Versuche dieser A r t , und bald darauf wurde auch i n Österreich von diesem Projekt abgegangen. Der Grund für diese Entscheidung lag vor allem i n den mit der Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen gegen den Dienstgeber verbundenen negativen Auswirkungen auf das soziale Klima in den Industriebetrieben (B/3, III). Auch für den österreichischen Gesetzgeber (B/3, IV), der den zum 2. deutschen Gesetzentwurf gegebenen Erläuterungen teilweise sogar wörtlich folgt, war dies der Hauptgrund für die Einführung der gesetzlichen Unfallversicherung, die sich somit als eine A r t „Ablöse" der projektierten bzw. bei den Eisenbahnbediensteten sogar bereits existenten Unternehmerhaftpflicht darstellt — eine historische Verknüpfung, die freilich i m Laufe der späteren Entwicklung immer mehr in den Hintergrund getreten ist (Näheres unter III). A u f dem Gebiet der Krankenversicherung bestanden zur Zeit der Erlassung der Arbeiterversicherungsgesetze einerseits auf der Grundlage der Gewerbeordnung Betriebs- und genossenschaftliche Krankenkassen, andererseits die auf der Rechtsgrundlage des Vereinsgesetzes beruhenden Vereinskrankenkassen (B/2, I I u. III). Alle drei Typen von bestehenden Kassen wurden nach deutschem Vorbild i n das System der Kranken-Pflichtversicherung integriert, wobei allerdings die Vereinskrankenkassen den Bestimmungen des Vereinspatents 1852 entsprechen mußten, wenn die Kassenzugehörigkeit der Versicherungspflicht Genüge tun sollte. Durch das Krankenversicherungsgesetz von 1888 (B/3, V) wurde damit die schon bisher (seit ca. 1882) von der Regie-
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rung eingenommene restriktive Haltung gegenüber den Vereinskassen zwar leicht abgeschwächt, aber i m Grunde bestätigt. Sicherlich hat hiefür auch das Mißtrauen gegen Arbeitervereine i m besonderen eine Rolle gespielt; die schärfere Kontrolle gegenüber dem gesamten Versicherungswesen ist aber auch schlechthin Ausdruck der auf Ausbau staatlicher Kontrollmöglichkeiten gerichteten antiliberalen Tendenzen der Regierung Taaffe. Erst mit dem Gesetz über die „registrierten Hilfskassen", das von dem bedeutenden spätliberalen Sozialpolitiker Baernreither hauptsächlich nach englischem Vorbild konzipiert wurde, bekamen die Vereinskrankenkassen eine ihren Bedürfnissen weit besser entsprechende Rechtsgrundlage. Da die Vereinskrankenkassen bisheriger Prägung aber weiterbestehen konnten, wurde durch die Arbeiter von dem Hilfskassengesetz nur geringer Gebrauch gemacht; erst die 1897 ins Leben gerufene Institution der „Meisterkrankenkassen" bediente sich in größerem Umfang dieser Rechtsform (B/3, VI). Während auf dem Sektor der Krankenversicherung schon vor der Gesetzgebung der achtziger Jahre i n Österreich ebenso wie beispielsweise i m Deutschen Reich zahlreiche Ansätze vorhanden waren, beschränkten sich diese bei der Alters- und Invaliditätsversicherung (wenn man von den Staatsbeamten absieht) auf die Bruderladen der Bergleute (B/2, I), deren Leistungen allerdings sehr unterschiedlich und insgesamt recht niedrig waren. Für die Regierung Taaffe war es überaus schwierig, die bestehenden Bruderladen i n einer den anderen A r beiterversicherungsgesetzen angemessenen Form zu reformieren und gleichzeitig die — den übrigen Arbeitern wie bisher verwehrte — A l ters« und Invaliditätsversorgung zu erhalten bzw. diese ebenfalls zu verbessern (B/3, VII). Vor allem auf den zähen Widerstand des ressortzuständigen Ministers Falkenhayn ist es zurückzuführen, daß die Reform der Bruderladen nicht zu den sozialen Ruhmestaten der Regierung Taaffe zählt. Erst durch die 1914 ff. erfolgten Verbesserungen des Leistungsschemas der Bruderladen zogen diese hinsichtlich der Unfallversicherung m i t den übrigen Arbeitern gleich. I I . Individuelle und richtungweisende Charakterzüge des österreichischen Sozialversicherungsrechts
1. Der Kreis der Versicherten Ebenso wie i m Deutschen Reich bildeten die industriellen Arbeiter auch in Österreich die Kerngruppe der i n der Unfall- sowie i n der Krankenversicherung Versicherungspflichtigen (B/3, I I I - V ) . Zweifellos war für diese „Pionierrolle" der industriellen Arbeiter auch i n Öster-
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Schlußbemerkungen
reich der historische Zusammenhang zwischen der (projektierten) Unternehmerhaftpflicht und der an deren Stelle tretenden Unfallversicherung rein äußerlich maßgebend. Daneben spielten aber auch ideologische und praktische Gesichtspunkte, auf die teilweise oben schon hingewiesen wurde, eine Rolle. Schon bei den Beratungen zum österreichischen A r beiterunfallgesetz wurden die Gruppen angesprochen, deren Einbeziehung in den Unfallversicherungsschutz als wünschenswert angesehen wurde: Es waren dies zunächst die Eisenbahnbediensteten (das fahrende Personal), deren Einbeziehung lediglich wegen des ungeklärten Verhältnisses der Unfallversicherung zur Unternehmerhaftpflicht zunächst unterblieben war. Unter maßgeblicher M i t w i r k u n g des großen österreichischen Zivilprozeß-Reformers Franz K l e i n wurde schließlich eine für die Eisenbahnbediensteten überaus günstige Lösung gefunden; ferner wurden durch das österreichische Ausdehnungsgesetz von 1894 auch die Arbeiter des Transportgewerbes u. a. i n die Unfall-Pflichtversicherung einbezogen (B/4, I I 1). I m Gegensatz zu der (im Einklang m i t dem deutschen Vorbild) vorgenommenen Beschränkung der Unfallversicherungspflicht auf die Angehörigen besonders gefährlicher (insbes. maschineller) Betriebe knüpfte das Krankenversicherungsgesetz (ebenfalls i n Übereinstimmung mit dem deutschen Gesetz) einfach an die Beschäftigung i n einem gewerblichen Betrieb etc. an, wodurch der Kreis der Krankenversicherungspflichtigen (mit geringen Ausnahmen) von vornherein erheblich größer war als jener der Unfallversicherungspflichtigen. Auch die Selb ständig env er Sicherung setzte bei der Krankenversicherung an, und zwar durch die Gewerbeordnungsnovelle von 1897, die bereits die Möglichkeit der Begründung der Versicherungspflicht durch Mehrheitsbeschluß vorsah (B/4, I I I 2). Bahnbrechend war sodann das Angestellten-Pensionsv er Sicherung sgesetz (B/4, IV), durch das, früher als i n Deutschland, die Angestellten als spezielle Gruppe herausgehoben und als solche als erste Gruppe nach den Bergleuten (bzw. Beamten) eine Altersversorgung erhielten. Trotz der Schwierigkeit der Abgrenzung der Angestellten gegenüber anderen unselbständigen Arbeitnehmern hat sich der vom österreichischen Gesetzgeber 1906 eingeschlagene Weg als (auch für die deutsche Gesetzgebung) zukunftsweisend herausgestellt. Kurz darauf wurde durch die Regierungsvorlage von 1908 ein sozialpolitisches Programm vorgelegt (B/4, V), dessen Realisierung die österreichische Sozialversicherung vermutlich zur fortschrittlichsten der Welt gemacht hätte: Auf dem Gebiet der Unselbständigenversicherung war nämlich die Einbeziehung aller Unselbständigen unter weitgehender Übereinstimmung des Versichertenkreises i n den drei Versiehe-
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rungssparten vorgesehen und darüber hinaus die — insbes. von den Christlichsozialen geforderte — Einbeziehung der Selbständigen, wenn auch m i t deutlich geringerem Leistungsniveau i n der Altersversicherung. Dieses Programm konnte infolge des Kriegsausbruchs nicht mehr realisiert werden. Die Idee der Selbständigenversicherung wurde für lange Zeit völlig zurückgestellt; der Gedanke einer möglichst umfassenden und die Identität der Versichertenkreise herstellenden Regelung der Versicherungspflicht der Unselbständigen wurde durch das Arbeiter-Versicherungsgesetz von 1927 wieder aufgegriffen, jedoch erst 1935 durch das GSVG in rechtswirksamer Weise einer gesetzlichen Regelung zugrunde gelegt (B/5, VIII). Seitdem gehört der Gedanke der Identität des Versichertenkreises in allen drei Versicherungssparten zu den tragenden Systemgrundsätzen des österreichischen Rechts, wobei allerdings die Alters- und Invalidenversicherung der Arbeiter bis 1939 (RVO!) unrealisiert blieb. Seit 1921/25 waren übrigens auch die land- und forstwirtschaftlichen Arbeiter kranken- und seit 1929 (auch außerhalb von Maschinenbetrieben) unfallversicherungspflichtig (die Vorschriften über die Alters- und Invaliditätsversicherung traten, wie bei den industriellen Arbeitern, nicht in Kraft). Seit 1935 ist die Integration der Bergarbeiter i n die Unselbständigenversicherung vollständig durchgeführt. Was die gewerblich Selbständigen betrifft, wo waren diese zum Teil i n den Meisterkrankenkassen kranken-pflichtversichert; eine lückenlose Kranken-Pflichtversicherung besteht jedoch erst seit der 5. GSKVG-Novelle von 1976 (B/7, VII). I n der Unfallversicherung war schon seit 1894 ein freiwilliger Beitritt der Unternehmer gefährlicher Betriebe möglich, eine gesetzliche Pflichtversicherung besteht hingegen erst seit dem ASVG von 1955. Nach ersten teilweise auf dem Fürsorgeprinzip beruhenden Ansätzen (1954) wurde durch das GSPVG von 1957 für die gewerblich Selbständigen auch die Pensions-Pflichtversicherung eingeführt (B/7, VII). Schon 1958 machten die freiberuflich tätigen bildenden Künstler, 1964 die Tierärzte von der Möglichkeit Gebrauch, sich der Pensions-Versicherungspflicht zu unterwerfen; seit 1978 ist die von entsprechenden Anträgen der einzelnen Berufsvertretungen abhängige Einbeziehung freiberuflich Selbständiger in alle drei Versicherungssparten durch ein eigenes Gesetz geregelt. Was die Bauern betrifft, so waren diese i n den östlichen Bundesländern (Wien, Niederösterreich und Burgenland) seit 1929, in den übrigen erst seit 1942 unfall-pflichtversichert; darüber hinaus bestand die Möglichkeit freiwilligen Beitritts zur Krankenversicherung, von der bis 1965 ein Fünftel aller bäuerlichen Betriebsführer Gebrauch machte.
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Schlußbemerkungen
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Seit 1965/66 sind alle österreichischen Bauern kranken-pflichtversichert. Erste Ansätze zu einer Pensionsversicherung brachte das Zuschußrentenversicherungsgesetz von 1957, eine vollwertige Pensionsversicherung der Bauern besteht jedoch erst seit 1970/71 (B/7, VIII). Z u den bahnbrechenden Leistungen der österreichischen Sozialversicherungsgesetzgebung zählt die Schaffung einer Krankenpflichtversicherung der Staats-(Bundes-)beamten i m Jahre 1920 (Ära Hanusch), die 1967 durch die Unfallpflichtversicherung noch ergänzt wurde; i n Rücksicht auf deren dienstrechtliche Stellung besteht kein Bedürfnis nach einer sozialversicherungsrechtlichen Regelung der Altersversorgung der Beamten (B/5, I I 2). Schließlich sei noch auf die seit 1926 bestehende Notarversicherung hingewiesen (Details unter B/5, IV). 2. Die Technik der Gesetzgebung A m Beginn der Entwicklung stehen die drei Arbeiter-Versicherungsgesetze, nämlich das Arbeiterkrankenversicherungs-, Arbeiterunfallversicherungs- und das Bruderladengesetz. Als nächster „Programmpunkt" war die Schaffung eines Arbeiterinvaliditätsversicherungsgesetzes vorgesehen: schon Ende des 19. Jahrhunderts sind aber auch Bestrebungen zur Ausweitung des Versichertenkreises über die Arbeiterschaft hinaus spürbar: erste Ansätze solcher Erweiterungen waren die i n der Gewerbeordnung geregelten Meisterkrankenkassen. Als nächstes folgte zu Beginn dieses Jahrhunderts das Körbersche Programm einer umfassenden Regelung der gesamten Unselbständigerer Sicherung (B/4, V ; realisiert wurde aber bloß das Angesteiltenpensionsversicherungsgesetz); die drei Regierungsvorlagen von 1908 ff. (B/4, V) gingen sodann i n Weiterführung des Körberschen Programms zum Projekt einer alle Selbständigen und Unselbständigen umfassenden „Sozialversicherung" (auch i n terminologischem Gegensatz zur bloßen „Arbeiterversicherung") über, i n der alle drei Versicherungssparten (Kranken-, Unfall- und Invaliditätsbzw. Altersversicherung) vereinigt gewesen wären. Nachdem dieses anspruchsvolle Projekt vor Beginn des 1. Weltkrieges nicht mehr realisiert worden war, reduzierte das Ministerium Mataja i n seinen „Leitsätzen" vom J u l i 1918 sein Reformprogramm i m wesentlichen wieder auf den vom Körberschen Programm 1904 gesteckten Rahmen, d. h. auf die Regelung der Unselbständigenversicherung (Arbeiter und Angestellte, sowie Land- und Forstarbeiter) in allen drei Versicherungssparten, allenfalls unter Einbeziehung einer künftigen Arbeitslosenversicherung. Infolge der schwierigen wirtschaftlichen Situation konnte die Entwicklung der Sozialversicherung i n den ersten Jahren der Republik nur durch punktuelle Verbesserungen und Neuerungen vorangetrie-
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ben werden, so insbes. durch das Arbeitslosenversicherungsgesetz von 1920, das aus dem gleichen Jahr stammende Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Staatsbediensteten sowie durch zahlreiche Anpassungsgesetze und Gesetze betreffend organisatorische Reformen (insbes. Kassenorganisation). Schließlich wurde der alte Plan eines Arbeiterinvaliditätsversicherungsgesetzes von Hanusch wieder aufgegriffen; dieser war jedoch ebenso wenig von Erfolg gekrönt wie das Ende 1921 als Regierungsvorlage eingebrachte Projekt einer Alters-, Invaliditätsund Hinterbliebenenversicherung aller Unselbständigen (also der Arbeiter und Angestellten). Fortan richteten sich die Bestrebungen der Gesetzgebung auf die Schaffung von Gesetzen, i n denen für den jeweiligen Berufsstand alle Versicherungssparten unter Einschluß der Arbeitslosenversicherung geregelt waren; das Ergebnis dieser Bemühungen waren das Angestelltenversicherungsgesetz von 1926, das Arbeiterversicherungsgesetz von 1927 und das Land- und Forstarbeiterversicherungsgesetz von 1928. Rechnet man das schon 1920 ergangene Beamtenkrankenversicherungsgesetz hinzu, so lag demnach 1928 eine umfassende, wenn auch auf einzelne Gesetze aufgeteilte Regelung des gesamten Sozialversicherungsrechts (einschließlich der Arbeitslosenversicherung) vor; die Selbständigen waren i n diese Gesetze überhaupt nicht oder nur am Rande (durch die Eröffnung der Möglichkeit freiwilliger Versicherung etc.) einbezogen. Wiewohl sich knapp nach Abschluß dieser Gesetzgebungswelle eine Verbesserung der Wirtschaftslage abzeichnete (1929), blieb der Großteil der Bestimmungen der neuen Arbeiterversicherungsgesetze infolge der „Wohlstandsklausel" suspendiert. Das GSVG 1935 bildete i m wesentlichen eine Zusammenfassung der eben genannten Gesetze; es war also — i n diametralem Gegensatz zum nunmehr i n Geltung stehenden GSVG 1978 — eine Kodifikation der Unselbständigen-Sozialversicherung (der Arbeiter, Angestellten und Bergarbeiter) unter Einschluß der Arbeitslosenversicherung, jedoch unter Ausklammerung der land- und forstwirtschaftlichen Arbeiter. M i t dem GSVG von 1935 hatte die österreichische Gesetzgebung demnach jedenfalls in gesetzgebungstechnischer Hinsicht fast einen höheren Stand erreicht als die zeitgenössische deutsche, i n der das Sozialversicherungsrecht i m wesentlichen auf vier Gesetze, nämlich die RVO, das Angestelltem^rsicherungs-, das Reichsknappschaftsgesetz und das Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) aufgeteilt war; i n Gestalt dieser vier Gesetze wurde denn auch 1938 das deutsche Sozialversicherungsrecht für Österreich i n Geltung gesetzt (B/6, I). Sieht man von der 1949 neugeregelten Arbeitslosenversicherung bzw. der Wiedereinführung der österreichischen Sozialversicherung der Beamten und Notare ab, so blieb die deutsche Gesetzgebung bis zum Inkrafttreten des ASVG (1956) bestimmend. Das ASVG stellt
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i n der Hauptsache eine Regelung der Unselbständigenversicherung (also Arbeiter, Angestellte, Bergleute) für alle Versicherungssparten m i t Ausnahme der Arbeitslosenversicherung dar (B/7, IV). I n der Selbständigenv er Sicherung kam es zunächst nur zu Teüregelungen (GSPVG, GSKVG, B-PVG, B-KVG), nunmehr bestehen aber für die gewerblich Selbständigen i m GSVG 1978 und für die Bauern i m BSVG 1978 Regelungen, die i m wesentlichen dem Modell des ASVG nachgebildet sind (B/7, V I I - VIII). Schon i m Abschnitt „ A " wurde erwähnt, daß i n Kreisen österreichischer Fachleute die Zusammenfassung des ASVG, GSVG und BSVG zu einem einzigen, umfassenden Gesetz als Endziel der bisherigen Konzentrationsbestrebungen gilt; damit würde, freilich unter weitgehend geänderten materiellen Voraussetzungen, der kühne österreichische Reformplan von 1908 ff. eine späte Realisierung erfahren. 3. Die gedeckten sozialen Risiken; die Leistungen Als Versicherungsfälle i n der Krankenversicherung waren dem Stammgesetz die folgenden vier bekannt: Krankheit, Berufsunfähigkeit infolge Krankheit (ursprünglich allerdings nicht als selbständiger Versicherungsfall aufgefaßt!), Mutterschaft und Tod. Auch nach der geltenden Rechtslage kommt diesen vier Versicherungsfällen zentrale Bedeutung zu; hinzugekommen sind seit der 29. ASVG-Novelle (B/7, V) der Versicherungsfall der Gesundheitsbedrohung (Vorsorgeuntersuchungen, Jugendlichenuntersuchungen etc.) sowie seit dem Entgeltfortzahlungsgesetz 1974 der Versicherungsfall der Entgeltfortzahlung. Als (Sach-)Leistung für den Versicherungsfall der Krankheit sah das Stammgesetz vom Krankheitsbeginn an freie ärztliche Behandlung einschließlich Beistellung der Heilmittel etc. vor, wobei die gesetzliche Mindestdauer m i t zwanzig, die Obergrenze statutenmäßiger Erweiterung m i t 52 Wochen festgesetzt war. Durch die Novelle von 1917 wurde die gesetzliche Mindestdauer der Krankenunterstützung auf 26 Wochen ausgedehnt, die Höchstgrenze für die statutarische Mehrleistung blieb zunächst ein Jahr, wurde jedoch später auf eineinhalb Jahre erhöht. Das GSVG 1935 normierte (in § 149) für Anspruchsberechtigte, die vor der Erkrankung mehr als 30 Wochen versichert waren, eine obligatorische Krankenhilfe (umfaßte Krankenpflege und Krankengeld: § 148) von 52 Wochen. Diese Regelung war weit großzügiger als jene des damaligen deutschen Rechts, demzufolge (§ 183, Abs. 1 RVO) die Regelleistung m i t 26 Wochen Höchstdauer begrenzt war und die Ausdehnung auf ein Jahr nur als Mehrleistung der Krankenkassen i n Betracht kam (§ 187, Abs. 1 RVO), wobei jedoch die Zustimmung zu einer solchen Mehrleistung durch das Oberversicherungsamt nur erfolgen durfte, wenn der höchste bei der betreffenden Krankenkasse satzungsmäßig festgesetzte Beitragssatz 5 v. H. des Grundlohns (bei Arbeitern, 4 v. H. 4
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bei Angestellten) nicht überstieg. Bei Einführung des deutschen Sozialversicherungsrechts wurde die letztgenannte Beschränkung zwar nicht übernommen (§ 5 der Verordnung über die Einführung der Sozialversicherung i m Lande Österreich; vgl. B/6,1), wohl aber das Grundschema, also 26 Wochen Höchstdauer als Regelleistung, darüber bis zu 52 Wochen statutarische Mehrleistung. Diese Regelung fand auch noch i n die Urfassung des ASVG Eingang. Erst durch die 19. Novelle zum ASVG (1967: B/7, V) wurde für Krankenbehandlung (sowie Anstaltspflege) die zeitliche Begrenzung für den Normalfall gänzlich gestrichen (§ 134, Abs. 1 ASVG); eine Begrenzung (auf eine Höchstdauer von 26 Wochen) ist nur mehr für den Fall vorgesehen, daß der Versicherungsfall erst nach dem Ende der Versicherung eingetreten ist (§ 134, Abs. 3 ASVG). Zur Krankenbehandlung ist ferner zu bemerken, daß erstmals i n der österreichischen Entwicklung das B - K V G 1920 (B/5, I I 2) das Recht der „freien Arztwahl" normierte, ansonsten wurde das Sprengelarztsystem generell m i t der Einführung des deutschen Sozialversicherungsrechts überwunden, durch das ASVG erfolgte dann der Ubergang zum sog. „Wahlarztprinzip" (mit Kostenersatz für Inanspruchnahme eines NichtVertragsarztes). Der Krankengeldanspruch stand nach dem Stammgesetz (§ 6, Abs. 2, Z. 2) zwar nur bei mehr als dreitägiger Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit zu, jedoch bei Vorliegen dieser Voraussetzung vom Tage der Erkrankung an; seit dem GSVG 1935 (§ 151) gebührt das Krankengeld erst vom vierten Tag an (sofern der Erkrankungsfall während der versicherungspflichtigen Beschäftigung eingetreten ist). Die geltende Regelung des ASVG und des GSVG, das den Krankengeldanspruch jedoch nur i m Rahmen der Zusatz Versicherung gewährt, stimmen hiemit überein; die gesetzliche Mindestdauer ist nach beiden Gesetzen m i t 26, die obere Grenze statutarischer Erstreckung seit der 21. ASVG-Novelle (1967) auf 78 Wochen, nach dem GSVG auf 52 Wochen festgelegt. Als Höhe des Krankengeldes war nach dem Stammgesetz einheitlich für alle Versicherten 60 v. H. des i m jeweiligen Gerichtsbezirk „üblichen Taglohns" bestimmt; wiewohl in den Reformdebatten des späten 19. Jahrhunderts das Lohnklassensystem nur von einer Minderheit der Experten empfohlen worden war, war dieses i m Körberschen Programm aus 1904 (B/4, V) bereits vorgesehen; in das Gesetz fand dieses System jedoch erst durch die 2. KVG-Novelle aus 1917 Eingang; auch das GSVG 1935 hielt an dem System der Lohnklassen zum Zwecke der Bemessung der Versicherungsleistungen i n der Krankenversicherung fest (§§ 146, 151, Abs. 6), wiewohl dieses Gesetz die Beiträge nach Hundertsätzen der Beitragsgrundlage bemaß. Die RVO überließ es der Satzung, den Grundlohn „nach dem w i r k lichen Arbeitsverdienste" oder nach Lohnstufen vorzunehmen (§ 180,
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Schlußbemerkungen
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Abs. 2). Nach dem 2. Weltkrieg erfolgte die Bemessung des Krankengeldes nach den vom Bundesministerium für soziale Verwaltung publizierten Lohnstufentabellen. Seit dem ASVG w i r d das Krankengeld nach der Bemessungsgrundlage berechnet; es beträgt — seit Inkrafttreten des ASVG unverändert — vom 4. bis 42. Tag der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit 50 v. H., vom 43. Tag an 60 v. H. der Bemessungsgrundlage. Statutarische Mehrleistungen bis zu 75 v. H. der Bemessungsgrundlage (nach ASVG) bzw. 80 v. H. der täglichen Beitragsgrundlage (nach GSVG) sind zulässig. Die Einbeziehung von Familienangehörigen i n den Krankenversicherungsschutz war als statutarische Mehrleistung seit der 2. KVG-Novelle aus 1917 vorgesehen (sog. Familienversicherung). Erst seit der Einführung der reichsrechtlichen Vorschriften zählt die sog. Familienhilfe (Familienkrankenpflege, Familienwochenhilfe) m i t Ausnahme des Familiensterbegeldes zu den Pflichtleistungen der Krankenkassen. Was den Versicherungsfall der Mutterschaft betrifft, so gewährte schon das Stammgesetz neben der Sachleistung eine Geldleistung i n Höhe des Krankengeldes „auf die Dauer von mindestens vier Wochen nach der Niederkunft". Durch die 2. KVG-Novelle von 1917 wurde der Wöchnerinnenschutz ganz erheblich verbessert: Schwangeren bzw. Wöchnerinnen stand nunmehr, sofern sie sich der Lohnarbeit enthielten, eine „Geldunterstützung" i n Höhe des Krankengeldes durch 6 Wochen vor und 6 Wochen nach ihrer Niederkunft zu (sog. Mutterhilfe). Darüber hinaus wurden an Wöchnerinnen, die ihre Kinder selbst stillten, Stillprämien i n Höhe des halben Krankengeldes für die Dauer von maximal 12 Wochen nach ihrer Niederkunft zusätzlich gewährt. Ähnlich war die Regelung nach der ursprünglichen Fassung des ASVG; i n Abweichung von den eben geschilderten Bestimmungen über die Stillprämien sah das ASVG jedoch einerseits eine Verlängerung des Wochengeldes für stillende Mütter von 6 auf 8 Wochen nach der Niederkunft vor; andererseits wurde das „Stillgeld" nach festen Sätzen bemessen. Nach der derzeit geltenden Regelung gebührt das „Wochengeld" jedenfalls für die letzten acht Wochen vor der voraussichtlichen Entbindung, für den Tag der Entbindung und für die ersten acht Wochen nach der Entbindung. Außerdem bestehen Sonderregelungen (insbes. Ausdehnung auf 12 Wochen) für Früh- und Mehrlingsgeburten, bei medizinisch indizierten Beschäftigungs verboten usw 8 1 5 . Anspruchsauslösendes Ereignis i n der Unfallversicherung w a r schon nach dem Stammgesetz von 1887 der Arbeitsunfall, der jedoch i n Rücksicht auf den damaligen Charakter der Unfallversicherung als „betriebsbezogener" Pflichtversicherung „Betriebsunfall" hieß. Schon früh 815
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Näheres bei Binder i m System 2.2.6.4.1.
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wurde durch die Judikatur der Schiedsgerichte der „Wegunfall" den Betriebsunfällen gleichgestellt; erstmals taucht diese Gleichstellung i n der Gesetzgebung i m Entwurf von 1896 auf (B/4, I I 3); Gegenstand einer gesetzlichen Regelung wurde sie aber erst durch die Notverordnung vom 7. A p r i l 1914 betreffend die Unfallversicherung der Bergarbeiter und bald darauf auch für alle übrigen Unfallversicherten durch die 3. UVG-Novelle von 1917 (B/4, I I 4). Seitdem ist die Rechtsprechung und, m i t gewissen Verzögerungen, auch die Gesetzgebung ständig um die weitere Ausdehnung des Unfall Versicherungsschutzes bezüglich des Wegunfalls bemüht, so zuletzt durch die Einbeziehung der Unfälle, die sich auf einem Weg von der Arbeits- oder Ausbildungsstätte ereignen, wenn der Weg zur Befriedigung „lebenswichtiger persönlicher Bedürfnisse" getätigt w i r d (34. ASVG-Novelle). Die Berufskrankheiten waren nach dem Stammgesetz als anspruchsauslösende Ereignisse noch nicht anerkannt; dieser Schritt wurde vielmehr erst durch das — freilich i n diesem Bereich nicht i n K r a f t getretene — Arbeiter-Versicherungsgesetz 1927 bzw. durch die 17. UVGNovelle aus 1928 (B/5, I I I 1) vollzogen. Was die Leistungen der Unfallversicherung betrifft, so fällt an dem Leistungskatalog des Stammgesetzes von 1887 sofort das Fehlen jeglicher Sachleistungs-Verpflichtung ins Auge. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts (Ära Badeni) wurde erstmals eine Bestimmung i n einen Reformvorschlag aufgenommen, derzufolge die Unfallversicherungsträger zur Übernahme des Unfallheilverfahrens zumindest berechtigt sein sollten; Gesetz wurde eine Bestimmung dieses Inhalts erstmals 1914 anläßlich der gesetzlichen Neuregelung der Unfallversicherung der Bergarbeiter, 1917 dann für die gesamte Unfallversicherung. Als gesetzliche Pflichtaufgabe wurde die Unfallheilbehandlung den Unfallversicherungsträgern jedoch erst durch die RVO, sohin ab 1939, auferlegt. Gleichzeitig wurde die Unfallverhütung zu einer Primäraufgabe der Unfallversicherung aufgewertet; schon bei den Beratungen zum Unfallversicherungsgesetz waren Vorschläge i n diese Richtung gemacht worden (B/3, I V 6). Besondere Bedeutung kommt unter den Sachleistungen auch den Maßnahmen der Rehabilitation zu, die i m wesentlichen ebenfalls auf die RVO, nämlich auf die sog. „Berufsfürsorge" zurückgehen (§§ 558, 558 f.). Die Berufsfürsorge umfaßte einerseits die „berufliche Ausbildung zur Wiedergewinnung oder Erhöhung der Erwerbsfähigkeit" und andererseits „Hilfe zur Erlangung einer Arbeitsstelle"; das ASVG knüpfte i m wesentlichen an diese Bestimmungen der RVO an, die Bedeutung der Rehabilitation ist aber i n der Zwischenzeit seit Inkrafttreten des ASVG noch weiter i n den Vordergrund gerückt worden, so
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vor allem durch die 9. ASVG-Novelle aus 1962 (gesetzliche Verankerung der Rehabilitation i n dem neugeschaffenen § 172, Abs. 2 ASVG). Demgegenüber kannte das Stammgesetz nur Geldleistungen: die Versehrtenrente sowie, i m Falle des Todes des Versicherten, Beerdigungskostenersatz, Witwen-, Witwer-, Waisen- und Elternrenten. Anspruchsvoraussetzung war ursprünglich eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von über 5 °/o; seit der 12. Novelle zum U V G 1923 (B/5, I I I 1) wurde bei Minderung der Erwerbsfähigkeit um nicht mehr als ein Sechstel die Möglichkeit einvernehmlicher Ablösung der Rente geschaffen; durch das GSVG 1935 (§ 178) wurde eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens einem Sechstel bzw. einem Drittel (bei Berufskrankheiten) zur Anspruchsvoraussetzung. Nach der derzeitigen Regelung muß die durch den Arbeitsunfall verursachte Schädigung für einen Zeitraum von mindestens drei Monaten zu einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 20 °/o führen (bei Berufskrankheiten sowie bei Schülern und Studenten: 50 °/o). Die Karenzzeit betrug nach dem Stammgesetz nur 5 Wochen, heute, i n Rücksicht auf die korrespondierenden Bestimmungen auf dem Gebiet der Krankenversicherung, i n der Regel 26 Wochen. I m wesentlichen unverändert geblieben ist die rechnerische Grundlage der Rentenbestimmung (das 300- bzw. 360fache des Tagesarbeitsverdienstes; der täglichen Höchstbeitragsgrundlage). Die Vollrente betrug nach der Fassung des Stammgesetzes bloß 60 °/o, derzeit (seit 1917) jedoch 66 2/3 °/o des Jahresarbeitsverdienstes (der Bemessungsgrundlage), wobei allerdings durch die Schwerversehrtenzusatzrente ein Prozentsatz von 80 °/o erreicht werden kann. Die Idee des sog. Hilflosenzuschusses tauchte zwar bereits erstmals 1896 auf, wurde jedoch erst durch die 3. UVG-Novelle gesetzliche Pflichtleistung i n der Unfall- sowie seit 1920 auch i n der (Angestellten-) Pensionsversicherung; seit der 5. ASVG-Novelle (1959) w i r d der H i l f losenzuschuß auch zu Hinterbliebenenrenten gewährt. Hinsichtlich der Hinterbliebenenrenten sind zwar einzelne Details verändert worden, i m wesentlichen werden diese jedoch nach den gleichen Grundsätzen gewährt wie nach dem Stammgesetz; dies gilt insbes. auch für die W i t werrente. Das Höchstausmaß aller Hinterbliebenenrenten durfte nach dem Stammgesetz 50 °/o des Jahresarbeitsverdienstes nicht übersteigen, nunmehr 80 °/o der Bemessungsgrundlage. Ferner gibt es nach geltendem Recht auch Eltern- und Geschwisterrenten, jedoch bloß im Ausmaß von einmal 20 °/o. Die Bergarbeiter waren i n Österreich lange Zeit die einzige Gruppe, denen eine Invalidenrente aus einer Pflichtversicherung zustand, wobei noch zu bemerken ist, daß die Leistungsverbesserungen i n den anderen Versicherungssparten zur Folge hatten, daß die Invaliditätsrenten der
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Bergarbeiter-Invaliditätsversicherung durch das Bruderladengesetz 1889 i m allgemeinen wesentlich weniger erhöht wurden, als dies nach der damaligen Situation für eine ausreichende Versorgung invalider Bergarbeiter notwendig gewesen wäre (B/2,1 und B/3, VII). Als zweite Gruppe erhielten i n Österreich die Angestellten 1906/07 eine Ρ ensionsv er Sicherung (B/4, IV); die Angestelltenpensionsversicherung war zwar ursprünglich sehr bescheiden, wurde aber später insbes. durch die 1. Novelle aus 1914 sowie durch das Angestelltenpensionsversicherungsgesetz aus 1926/27 (B/5, I I I 2) und spätere Gesetze auf einen sowohl leistungs- als auch beitragsmäßig so hohen Stand gebracht, daß anläßlich der Einführung der deutschen Angestelltenversicherung 1938/39 durch höhere Einstufungen einem Niveauverlust vorgebeugt werden mußte. Hingegen zählte es zu den großen Versäumnissen der österreichischen Sozialversicherungsgesetzgebung, daß die Alters- und Invaliditätsversicherung der Arbeiter nicht verwirklicht werden konnte, wiewohl Bestrebungen i n diese Richtung schon zur Zeit der Beschlußfassung der Stammgesetze von 1887 und 1888 feststellbar sind. Bemerkenswerte Projekte einer Arbeiterinvaliditätsversicherung waren i m Körberschen Programm von 1904 enthalten; kurz darauf wurde i m Rahmen der Regierungsvorlage von 1908 (B/4, V) der Plan einer umfassenden Invaliditäts· und Altersversicherung der Unselbständigen und Selbständigen vorgelegt; sowohl das Körbersche Programm als auch das — durch die späteren Regierungsvorlagen etwas modifizierte — Projekt der Regierungsvorlage von 1908 waren wohl zu k ü h n und weitreichend, um rasch realisiert werden zu können; knapp vor der endgültigen Verabschiedung durch den Reichsrat kam es zum Ausbruch des 1. Weltkrieges, i n dessen Anfangs jähren (bis 1917) keine Neueinberufung des Reichsrates erfolgte (B/4, I). I m Arbeiterversicherungsgesetz aus 1927 (B/5, I I I 3) wurde die Invalidenversicherung der Arbeiter erstmals Gegenstand einer gesetzlichen Regelung, deren Wirksamkeit jedoch von der Erfüllung der sog. Wohlstandsklausel abhängig gemacht; eine Parallelsituation war für die land- und forstwirtschaftlichen Arbeiter seit dem Landarbeiterversicherungsgesetz von 1928 (B/5, V) gegeben. Trotz späterer Erleichterung der Voraussetzungen wurde diese Situation auch durch das GSVG 1935 beibehalten. I n der Zeit vor 1938 waren die industriellen ebenso wie die Land- und Forstarbeiter demnach auf sog. Altersfürsorgerenten verwiesen. Die Hoffnung, bei Besserung der Wirtschaftslage freigewordene Mittel der Arbeitslosenversicherung zur Finanzierung der Arbeiterinvalidenversicherung einsetzen zu können, erfüllte sich nicht. Es war vielmehr so, daß für die Arbeitslosen das Anfallsalter für die Altersfürsorge (für damalige Begriffe) sehr niedrig (60. Lebensjahr) gehalten
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werden mußte, wodurch ein Übergang zum Versicherungsprinzip von vornherein ausgeschlossen war. Der enge wirtschaftliche Zusammenhang zwischen dem Arbeitslosenproblem und der Invalidenversicherung der Arbeiter wurde vollends deutlich, als deren Einführung 1938 durch die deutsche Gesetzgebung erfolgte: I n Anbetracht des schlagartigen Rückgangs der Arbeitslosigkeit bedurfte die Finanzierung der Arbeiterversicherung nur relativ geringer Anstrengungen der deutschen Reichsregierung, wobei freilich auch i n Betracht gezogen werden muß, daß das durchschnittliche Leistungsniveau der den industriellen Arbeitern gewährten Invalidenrenten nicht wesentlich über jenem der bisherigen Altersfürsorgerenten lag (größer waren die Unterschiede bei den land- und forstwirtschaftlichen Arbeitern). Während der Kriegszeit kamen dann allerdings erhebliche Leistungsverbesserungen gerade auf dem Gebiet der Rentenversicherung hinzu. A n der Geltung der deutschen Rentenversicherung wurde i m wesentlichen bis zum Inkrafttreten des ASVG festgehalten; dieses Gesetz stellte die Rentenbemessung der Unselbständigen auf eine gänzlich neue Grundlage, indem es an die Stelle des bisherigen „Durchrechnungsprinzips" das System einer an den letzten Einkünften orientierten Bemessungsgrundlage treten ließ (Näheres unter B/7, IV). Neben der gewöhnlichen, auf das Ende der Aktivitätsphase abstellenden Bemessungsgrundlage kennt das ASVG auch die „Bemessungsgrundlage nach Vollendung des 45. Lebensjahres" (§ 239), um der Rente (seit der 9. Novelle: „Pension") die allenfalls höheren Bezüge zugrundelegen zu können, die der Versicherte i n der Zeit seiner höchsten biologischen Schaffenskraft erzielte; analog dazu sah schon das GSPVG und sieht jetzt das GSVG (§ 123) für selbständige Gewerbetreibende eine „Bemessungsgrundlage nach Vollendung des 55. Lebensjahres" vor; ebenso das BSVG (§114) für die Bauern. Eine wichtige Ergänzung erfuhr das Renten-(Pensionsversicherungs-) recht ferner durch die — vom sozialen Standpunkt außerordentlich wichtige — Einführung von Ausgleichszulagen durch das ASVG. Es handelt sich hiebei u m Fürsorgeleistungen an solche Personen, deren Einkommen nicht einmal den (das Existenzminimum indizierenden) Richtsatz erreichen; diese Einrichtung wurde auch i n die Selbständigenversicherung (s. gleich unten) übernommen, bei den Bauern allerdings m i t der — politisch umstrittenen — Einschränkung durch Berücksichtigung eines sog. „fiktiven Ausgedinges" bei der Berechnung der (sonstigen) Einkünfte. Ansätze zu einer Pensionsversicherung der Selbständigen sind i n Österreich erstmals i n der Regierungsvorlage von 1908 gegeben, i n der die Einführung einer, wenn auch recht bescheidenen, Altersrente für Gewerbetreibende und Bauern vorgesehen war (B/4, V); Initiator dieses Projekts war das christlichsoziale Mitglied der Regie-
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rung Beck, Albert Geßmann. Nach dem Scheitern der Regierungsvorlagen von 1908 ff., das nicht zuletzt i n den (für die damaligen Verhältnisse) allzu umfassenden Zielsetzungen begründet ist, trat der Gedanke einer Altersversorgung der Selbständigen für lange Zeit politisch i n den Hintergrund; erst i m „Meisterkrankenversicherungs-Gesetz" aus 1935 war durch die neu eingeräumte Möglichkeit der Erweiterung des Versicherungszwanges auf die Invaliditäts-, Alters- und Hinterbliebenenversicherung ein bescheidener Ansatz zur Ausbildung einer Altersversorgung i m gewerblichen Bereich (auf Pflichtversicherungsbasis) gegeben, dessen Weiterentwicklung aber infolge der politischen Ereignisse nicht mehr erfolgen konnte (B/5, VII). Schon bald nach Ende des Zweiten Weltkrieges setzten die ersten Bestrebungen zur Einführung der Altersversicherung der Selbständigen ein; sowohl bei den gewerblich Selbständigen (mit dem Gesetz über die Altersunterstützung der Kammern der gewerblichen Wirtschaft 1953) als auch bei den Bauern (mit dem „Zuschußrenten-Versicherungsgesetz" (1957) wurde zunächst eine Vorstufe (mit niedrigen Versicherungsleistungen und teilweisem Fürsorgecharakter der Versorgung) eingeschoben, danach erst kam es zur Ausbildung einer „vollwertigen" Pensionsversicherung, und zwar durch das GSPVG 1957 (B/7, VII) sowie durch das B-PVG 1969 (B/7, VIII). Die gewerblich Selbständigen verfügen demnach i n Österreich seit 1. J u l i 1958, die Bauern seit 1. Januar 1971 (Inkrafttreten des Leistungsrechts der beiden genannten Gesetze) über eine „vollwertige" Pensionsversicherung, wobei die Entwicklung seit Inkrafttreten des GSPVG bzw. B - P V G durch das Bestreben gekennzeichnet ist, eine weitgehende Annäherung an das Pensionsrecht der Unselbständigen (des ASVG) herbeizuführen. Ein wichtiges Element des österreichischen Pensionsversicherungsrechts stellt die durch Gesetz aus 1965 (PAG) geregelte und auf die Pensionen des ASVG, GSVG und BSVG Anwendung findende „Pensionsanpassung dar; sowohl die für die Neubemessung von Pensionen zur Anwendung kommende „automatische" als auch die „dynamische" Anpassung der bereits angefallenen Pensionen (vgl. A IV, B/6, V) bewirken, daß die Angleichung der Pensionen an die jeweiligen w i r t schaftlichen Verhältnisse unabhängig von politischen Imponderabilien erfolgen kann. 4. Die Finanzierung Bei den Beratungen zu den deutschen Arbeiterversicherungsgesetzen (B/3, III) spielte die Frage des Staatszuschusses eine ganz entscheidende Rolle; dies war i n Österreich anläßlich der Vorarbeiten bzw. parlamentarischen Behandlung des Unfall- bzw. Krankenversicherungsgesetzes aus zwei Gründen nicht der Fall: Zum einen vertrat die Regierung
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Schlußbemerkungen
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selbst den Standpunkt, dem Staat eine zusätzliche Belastung i n Rücksicht auf den Zustand des Staatshaushaltes nicht zumuten zu können (vgl. B/1, I I 6 und 7), zum anderen wurde der finanziellen Staatshilfe von der Regierung Taaffe nicht jener überragende ideologische Stellenwert eingeräumt, wie dies bei Bismarck der F a l l w a r (vgl. oben C I 1). Sogar der für die Finanzierung der Ausgaben des ersten Jahres vorgesehene Staatsvorschuß wurde auf Wunsch des damaligen Finanzministers Dunajewski nicht durch die Normierung einer entsprechenden gesetzlichen Verpflichtung verankert. Die Finanzierung der Unfall- und Krankenversicherung erfolgte demnach i n Einklang m i t der von den betreffenden deutschen Gesetzen letztlich gewählten Lösung i n Österreich von Anfang an ausschließlich aus Beiträgen; auch eine Garantiehaftung des Staates, wie sie das deutsche Unfallversicherungsgesetz i n Form der Reichsgarantie für die Leistungsfähigkeit der Berufsgenossenschaften vorgesehen hatte, ist den österreichischen Stammgesetzen unbekannt. Was die Beiträge i n der Unfallversicherung betrifft, so normierte das Stammgesetz eine Aufteilung der Beitragslast zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern i m Verhältnis von 9 : 1 , wobei allerdings viele Arbeitgeber i n praxi auf den Abzug des Arbeitnehmerbeitrages verzichteten. M i t dem — i n einigen Vorentwürfen zum Unfallversicherungsgesetz sogar höher bemessenen — Arbeitnehmeranteil bezweckte man eine Steigerung des Verantwortungs- sowie auch des Sicherheitsbewußtseins der Arbeitnehmer. Der Regierung (insbes. auch Steinbach) war dieser Gedanke so wichtig, daß man der Anregung des Herrenhauses, wenigstens die schlechter verdienenden Arbeiter der Verpflichtung zur Zahlung eines Beitragsanteils zu entheben, nicht Folge leistete (B/3, IV). Auch das Ausdehnungsgesetz von 1894 (B/4, I I 1) hielt i m allgemeinen an dieser Aufteilung der Beitragslast fest, nur das — auch ansonsten (insbes. hinsichtlich der Rentenhöhe) — privilegierte fahrende Bahnpersonal wurde von der Beitragszahlungsverpflichtung ausgenommen. I n die Notverordnung über die Unfallversicherung der Bergarbeiter aus 1914 wurde die BeitragszahlungsVerpflichtung der Arbeitnehmer nicht mehr aufgenommen; die generelle Streichung erfolgte zugunsten aller übrigen Unfallversicherten durch die 3. UVGNovelle aus 1917 (B/4, I I 4). Der Arbeitgeberbeitrag zur Unfallversicherung war ursprünglich nicht einheitlich für alle Unternehmen festgesetzt, sondern — entsprechend dem ursprünglichen Charakter der Unfallversicherung als Pflichtversicherung der Arbeitnehmer besonders gefährlicher Betriebe — nach Gefahrenklassen gestaffelt. Die i m Anschluß an das Stammgesetz erlassene Verordnung sah X I I Gefahrenklassen (Gefahrenprozente 5-100) vor, zu denen später noch 2 Unterklassen (A: 1 und 2 Prozent; B: 3 und 4 Prozent) hinzutraten.
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Durch die Unselbständigenversicherungsgesetze der Jahre 1926 - 1928 (B/5, I I I 2 und 3; B/5, V) wurde die Unfallversicherung i n einen engen systematischen Zusammenhang m i t den übrigen Versicherungszweigen gebracht. Früher als dies i m deutschen Recht der Fall war, wurde i m Zuge dieser Bestrebungen die grundsätzliche Übereinstimmung des Kreises der Versicherungspflichtigen i n den einzelnen Versicherungssparten erreicht, die wieder Voraussetzung für den i n praktischer Hinsicht äußerst vorteilhaften einheitlichen Sozialversicherungsbeitrag war, der durch die Krankenkassen für alle drei Versicherungszweige eingehoben wurde. Die Gefahrenklasseneinteilung stand dieser Entwicklung i m Wege; schon durch das (insoweit allerdings nicht i n K r a f t getretene) Arbeiterversicherungsgesetz aus 1927 (B/5, I I I 3) wurde deren Bedeutung dahin abgeschwächt, daß die Unternehmer besonders gefährlicher Betriebe zum einheitlichen Sozialversicherungsbeitrag „Gefahrenklassenzuschläge" leisten mußten (§ 80). Durch das GSVG 1935 wurde die Gefahrenklasseneinteilung endgültig beseitigt, wobei die Erläuternden Bemerkungen (zu § 175) klar erkennen lassen 816 , daß dieser Schritt ausschließlich i n den praktischen Schwierigkeiten und Kosten begründet war, die m i t der Beibehaltung des Gefahrenklassentarifs trotz Uberganges zur „subjektsbezogenen" Unfallversicherung verbunden gewesen wäre, nicht jedoch etwa darin, daß man die höhere Beitragslast gefährlicher Betriebe als rechtspolitisch nicht wünschenswert angesehen hätte. Die durch die Einführung des einheitlichen Unfallversicherungsbeitrags (im Rahmen des einheitlichen Sozialversicherungsbeitrags) bew i r k t e Umverteilung zugunsten der Unternehmer überdurchschnittlich gefährlicher Betriebe war demnach eigentlich ungewollt. Der einheitliche Sozialversicherungsbeitrag (§ 80 GSVG 1935) von 20 v. H. bzw. 12 v. H. (für die nicht i n die Arbeitslosenversicherung einbezogenen Arbeitnehmer) w a r durch die m i t der Beitragseinhebung befaßten Krankenkassen nach einem gesetzlich für Arbeiter und Angestellte unterschiedlich festgelegten Schlüssel auf die einzelnen Versicherungssparten (einschließlich der Arbeitslosenversicherung) aufzuteilen. Die Beitragslast wurde von Arbeitgebern und Arbeitnehmern je zur Hälfte getragen. Eine ähnliche Regelung war übrigens schon seit 1926/27 in der Angestelltenversicherung vorgesehen (vgl. § 107 AngVG 1926; B/5, I I I 2). I n der nationalsozialistischen Ä r a wurden die Beiträge zur Unfallversicherung durch die Berufsgenossenschaften, getrennt von den Bei616 Kerber, Die gewerbliche Sozialversicherung, S. 287; übrigens kannte schon das Angestelltenversicherungsgesetz 1926 (B/5 I I I 1) keine Gefahrenklasseneinteilung mehr; vgl. Tomandl, Das Leistungsrecht der österr. U n fallversicherung, 1977, S. 2.
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Schlußbemerkungen
trägen in den übrigen Versicherungszweigen, eingehoben. M i t der Rückkehr zur österreichischen Organisation der Unfallversicherung wurde den Krankenkassen wieder i m Sinne des früheren österreichischen Rechts die Einhebung der Unfallversicherungsbeiträge übertragen (§ 78 SV-ÜG, rückwirkend wirksam ab 10. A p r i l 1945), deren Höhe durch das Gesetz für Arbeiter und Angestellte unterschiedlich festgelegt war. Seit der 32. ASVG-Novelle (1977) besteht ein einheitlicher Unfallversicherungsbeitrag für Arbeiter und Angestellte, der derzeit (seit 1979) 1,5 v. H. der Beitragsgrundlage beträgt und nach wie vor vom Arbeitgeber allein zu tragen ist. Schon das Stammgesetz kannte i n der Unfallversicherung eine Höchstbeitragsgrundlage, die m i t 1.200 Gulden allerdings extrem hoch bemessen war. Die derzeit i n Österreich zur Anwendung kommende Höchstbeitragsgrundlage i n der Unfallversicherung ist m i t der in der Pensions- und Arbeitslosenversicherung identisch und war i n den letzten Jahren infolge der Lohnentwicklung stark i m Steigen begriffen (Verdreifachung i n den Jahren 1965 bis 1978; zuletzt Anordnung einer außerordentlichen Erhöhung durch die 32. ASVGNovelle) 8 1 7 . I n der Unfallversicherung der Bauern ist ein Betriebsbeitrag in Höhe von 1,9 °/o der Beitragsgrundlage, i n der Unfallversicherung der gewerblich bzw. freiberuflich Selbständigen ein pauschalierter Jahresbeitrag zu entrichten. Hinsichtlich der Beiträge zur Krankenversicherung sah schon das Stammgesetz eine Form der Regelung vor, die i n Österreich bis i n die jüngste Zeit beibehalten wurde (wenn man von der kurzzeitig i n Geltung gestandenen Regelung des GSVG 1935 bzw. abweichenden Regelungen i n der nationalsozialistischen Zeit absieht): Das Gesetz normierte nämlich einen Höchstrahmen (3 v. H. für die Deckung des gesetzlichen Mindesterfordernisses: § 26), innerhalb dessen die Kassen die Beitragshöhe durch Satzungsbestimmung festzusetzen berechtigt waren. Durch die 29. ASVG-Novelle (1973) erfolgte i n Österreich der Übergang zu einer gesetzlichen Regelung der Beitragssätze, die dem Satzungsrecht der Versicherungsträger keinen Spielraum mehr läßt. Es bestehen allein in der Unselbständigenversicherung drei verschiedene Beitragssätze, nämlich für Angestellte (5 v. H.) einerseits und für Arbeiter (bei gleichzeitiger Leistung des EFZG-Beitrages: 6,3 v. H.; ansonsten: 7,5 v. H.) andererseits. Die Beitragslast war zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ursprünglich i m Verhältnis 1 : 2 aufgeteilt. Nachdem das GSVG für den einheitlichen Sozialversicherungsbeitrag Hälfteteilung vorgesehen hatte, wurde 1938/39 die damals i n Deutschland (Altreich) noch nicht i n K r a f t gesetzte Regelung des „Aufbaugesetzes", die Hälfteteilung der Beitragslast vorsah, i n Österreich (Ostmark) eingeführt; seit817
Vgl. Dragaschnig u. a., SozSi 1977, S. 2 ff.; K r e j c i i m System 1.2.4.
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dem tragen Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Beiträge zur Krankenversicherung je zur Hälfte. Die Höchstbeitragsgrundlage betrug nach den Stammgesetzen i n der Krankenversicherung ca. die Hälfte der Höchstbeitragsgrundlage i n der Unfallversicherung. Derzeit ist die erstere um 25 °/o niedriger als die letztere. Was die Ρ ensions-(Renten-)v er Sicherung angeht, so konnte sich — infolge des Fehlens eines Arbeiter-Invalidenversicherungsgesetzes — die Frage nach der Finanzierung nur i m Zusammenhang m i t der 1889 neu geregelten Altersversorgung der Bruderladen stellen. Da deren finanzielle Lage eine äußerst ungünstige war, schlug der liberale Abgeordnete Baernreither vor, notleidende Bruderladen, statt diese aufzulösen (wie dies die Regierungsvorlage als ultima ratio vorgesehen hatte), durch Staatszuschüsse zu sanieren. Bedauerlicherweise blieb diesem Vorschlag die Unterstützung des Parlaments versagt; die Verweigerung des Staatszuschusses hatte einerseits zur Folge, daß die Bergarbeiter i n den anderen Versicherungszweigen (Unfall-, Krankenversicherung) leistungsmäßig gegenüber den industriellen Arbeitern (bis 1914) benachteiligt waren, zum anderen mußte die Sanierung der Bruderladen teilweise durch die Aufnahme von Darlehen erfolgen, zu deren Rückzahlung Arbeitgeber und Arbeitnehmer Beiträge zu leisten hatten; auch bewegte sich die Höhe der Renten nur unwesentlich über dem gesetzlichen Minimum. I m Gegensatz zu dieser starr ablehnenden Haltung der Regierung i n den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde i n den späteren zahlreichen Vorschlägen zur Einführung einer Alters- und Invaliditätsversicherung der Arbeiter i n der Regel mehr oder weniger deutlich auf die Notwendigkeit staatlicher finanzieller Beteiligung hingewiesen. I n sehr weitgehender Form sah das Körbersche Programm von 1904 die Finanzierung der Alters- und Invaliditätsversicherung aus Staatsbeiträgen vor; auch i n den Regierungsvorlagen von 1908 ff. war eine staatliche Mitfinanzierung vorgesehen, die i n der Zahlung einheitlicher Zuschüsse an die Rentenempfänger i n Höhe von 90 Κ bestanden hätte. Hingegen mußte die 1906 ins Leben gerufene Pensionsversicherung der Angestellten ohne staatliche Finanzierungshilfe auskommen. Eine neue Ära des Finanzierungswesens i n der Sozialversicherung brach an, als durch die Inflation der frühen zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts Beiträge und Deckungskapitalien einem rapiden Wertverfall ausgesetzt waren. U m die Erbringung der Versicherungsleistungen einigermaßen zu gewährleisten, mußte der Staat mehrfach durch Vorschußleistungen einspringen, die jedoch i m Wege eines Umlageverfahrens von Dienstgebern und Dienstnehmern wieder eingefordert wurden. Der erste Fall einer eigentlichen Staatsfinanzierung begeg-
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Schlußbemerkungen
net in Österreich bei der von November 1918 bis Mai 1920 allein aus Staatsmitteln finanzierten Arbeitslosenunterstützung (vgl. B/5, I und I I 3). Durch das i m März 1920 erlassene Arbeitslosenversicherungsgesetz wurde die staatliche Finanzierung auf ein Drittel des Aufwandes reduziert; durch spätere Gesetze wurde der Staatsanteil noch weiter zu Lasten des Arbeitgeber- bzw. Arbeitnehmerbeitrages vermindert. Während die Pensionsversicherung der Angestellten auch aufgrund der Neuregelung von 1926/27 (B/5, I I I 2) ausschließlich aus Beiträgen finanziert wurde, war allen Beteiligten klar, daß die geplante Einführung der Alters- und Invalidenversicherung der Arbeiter (sowie der land- und forstwirtschaftlichen Arbeiter) ohne einen Staatszuschuß nicht möglich sein werde. Unterschiedliche Auffassungen herrschten nur hinsichtlich des Ausmaßes der Heranziehung allgemeiner Steuermittel (vgl. hiezu etwa den Antrag Hanusch vom Dezember 1920: B/5, I I 4). Das Arbeiterversicherungsgesetz aus 1927 (B/5, I I I 3; vgl. auch B/5, V) wählte schließlich den Kompromiß einer Finanzierung durch Beiträge unter gleichzeitiger Normierung eines i n absoluten Größen (pro flüssiger Rente) festgesetzten „Zuschusses aus öffentlichen Mitteln" (§ 119). Auch die als Surrogat für die nicht realisierten Altersrenten tatsächlich gewährten Altersfürsorgerenten wurden teilweise aus öffentlichen M i t teln finanziert. Gem. § 270 des Arbeiterversicherungsgesetzes waren die Kosten der Altersfürsorge vorschußweise vom Bund zu bestreiten, der jedoch nur ein Sechstel der Beitragslast endgültig zu tragen hatte; die Hälfte war nämlich aus Beiträgen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, ein Drittel von dem Land zu tragen, i n dem der Rentner seinen Wohnsitz hat. Die relativ ausführliche Schilderung dieser Regelung erscheint dadurch gerechtfertigt, daß hier erstmals i n Österreich i m Kernbereich der Sozialversicherung (zu dem die Arbeitslosenversicherung nicht zählt) eine Finanzierung aus öffentlichen M i t t e l n i n großem Umfang erfolgte. Auf ähnlichen Grundsätzen beruhte die Deckung des Aufwandes der Altersfürsorge (und der m i t i h r vereinigten Arbeitslosenfürsorge) nach dem GSVG 1935 (§ 100); auch die Provisionsversicherung der Bergarbeiter wurde teilweise aus öffentlichen Mitteln (§ 99, Abs. 3) sowie durch den schon 1925 errichteten, durch Auflagen auf eingeführte Kohle etc. gespeisten Bergbaufürsorgefonds finanziert (vgl. B/5, VI). Gleichzeitig m i t der Einführung der Alters- und Invaliditätsversicherung der Arbeiter wurde durch die nationalsozialistische Gesetzgebung (vgl. B/6, I und II) das teils in der RVO, teils in späteren deutschen Gesetzen (Aufbaugesetz aus 1934, Ausbaugesetz aus 1937) geregelte System staatlicher Unterstützung der Rentenversicherung übernommen. Dieses bestand 1. i n der Beistellung der für die Grundbeträge (§§ 1268, Abs. 2; 1272, Abs. 1 RVO) erforderlichen Mittel; 2. i n einem jährlichen Reichsbetrag von 204 Mill. RM, der anläßlich des „Anschlusses" u m weitere
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16 M i l l , erhöht wurde (§ 25 der VO über die Einführung der Sozialversicherung i m Lande Österreich), 3. i n Beiträgen zu den Steigerungsbeträgen und schließlich 4. i n der durch das „Ausbaugesetz" neu eingeführten Reichsgarantie. Auch für die Altersfürsorgerenten nach bisherigem Recht wurde die Finanzierung eines Teilbetrages aus Reichsmitteln vorgesehen (§ 23 der VO). I m Jahre 1945 mußte der Bund den Versicherungsträgern Vorschüsse und Kredite als Starthilfe gewähren. Diese wurden durch das SV-ÜG 1947 (§ 85; vgl. B/7, II) zu „nicht rückzahlbaren Zuschüssen" erklärt. Darüber hinaus verpflichtete das SV-ÜG den Staat zur Leistung von Vorschüssen in der Invaliden-, Angestelltenpensions- und knappschaftlichen Rentenversicherung, ohne eine endgültige Regelung betreffend die Höhe des Staatsbeitrages vorzusehen. Erst 1949 wurde der Bundesbeitrag erstmals i n Form fester Prozentsätze des Pensionsaufwandes festgelegt 818 , und zwar i n der Größenordnung von 25 v. H. (1949 - 51), 30 v. H. (1951 - 1953), 25 v. H. (1954) und 20 v. H. (1955), wobei in den beiden letztgenannten Jahren überdies eine Ausfallshaftung des Bundes vorgesehen wurde. Seit 1956 trat das heute noch geltende Finanzierungsprinzip des ASVG i n Kraft, wonach der Bund einen Beitrag i n der Höhe jenes Betrages zu leisten hat, u m den 110 % (seit 1971: 101,5%, seit 1978: 100,5 %) der Ausgaben für Renten (Pensionen) die Einnahmen übersteigen. Die vorübergehend wiedereingeführte Verpflichtung des Bundes zur Leistung fixer Zuschüsse besteht seit 1969 nicht mehr. Wie bereits i n Abschnitt A (unter VII) ausgeführt wurde, kommt zu dieser Ausfallshaftung auch eine Verpflichtung des Bundes zum Ersatz versicherungsfremder Leistungen (insbes. der Ausgleichszulagen) hinzu. Die Aufteilung der Beitragslast erfolgte nach dem Angestellten-Pensionsversicherungsgesetz aus 1906 für die niedrigen Gehaltsklassen i m Verhältnis 2 : 1 , für die höheren galt Hälfteteilung. Das AngestelltenVersicherungsgesetz aus 1926 erhob die Hälfteteilung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zur ausschließlich geltenden Regelung, normierte aber zum Ausgleich zugunsten des Arbeitnehmers eine Belastungsgrenze von 15 % „seiner Geldbezüge". Auch gegenwärtig tragen Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Beitragslast i n der Unselbständigen-Pensionsversicherung je zur Hälfte, wenn man von dem seit 1978 erhobenen Zusatzbeitrag absieht (derzeitiger Anteil der Dienstnehmer: 1 % ; der Dienstgeber: 2,6 %). I n der Selbständigen-Pensionsversicherung t r i t t an die Stelle des Arbeitgeberbeitrages die Partnerleistung des Bundes in Form einer Beitragsverdoppelung (Näheres oben A VII). 818 Vgl. K a r l Muhr, Bundesbudget u n d gesetzliche Pensionsversicherung, SozSi 1979, S. 204 ff.; vgl. auch oben A V I I .
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Schlußbemerkungen
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Bis einschließlich 1977 stiegen die Bundesbeiträge zur Pensionsversicherung sowohl absolut als auch i n Relation zu den übrigen Einnahmen permanent an; unter Ausklammerung der Ersätze für versicherungsfremde Leistungen sowie der Rücklagen erreichten die Bundesbeiträge i n der gesamten Pensionsversicherung 1977 den Rekord-Prozentsatz von 29,49 °/o; durch das Sozialversicherungs-Änderungsgesetz von 1977 wurde ein Bündel von Maßnahmen ergriffen, m i t deren Hilfe es 1978 gelang, den Prozentsatz auf ca. 22 °/o zu senken 819 . 5. Die Organisation Die Organisation der österreichischen Sozialversicherungsträger weist vor allem i m Bereich der Unfallversicherung erhebliche Abweichungen gegenüber der i n vielen anderen Punkten vorbildlichen deutschen (Bismarckschen) Arbeiterversicherungsgesetzgebung auf: Als dominierendes Organisationsprinzip wurde durch das Stammgesetz von 1887 (§ 9) das Territorialprinzip verankert, demzufolge „ i n der Regel" für jedes der Kronländer der zisleithanischen Reichshälfte eine Unfallversicherungsanstalt zu errichten war. Da der Minister des Inneren jedoch von der i h m eingeräumten Ermächtigung, mehrere Kronländer zu einem Sprengel zusammenzuziehen, in zahlreichen Fällen Gebrauch machte, wurden nur insgesamt sieben territoriale Unfallversicherungsanstalten errichtet (Prag, Wien, Salzburg, Graz, Brünn, Lemberg und Triest). Dem genossenschaftlichen Prinzip wurde nur insoweit Rechnung getragen, als (gem. § 58 UVG) die Möglichkeit, Zusammenschlüssen versicherungspflichtiger (nicht unbedingt derselben Branche angehörender) Betriebe die Bewilligung zur Errichtung von Unfall Versicherungsanstalten zu erteilen, ausdrücklich anerkannt war; i n praxi wurde freilich nur i n einem Fall von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht (Unfallversicherungsanstalt der österreichischen Eisenbahnen i n Wien; jetzt als Versicherungsanstalt der österreichischen Eisenbahnen Versicherungsträger i n allen drei Versicherungssparten). Worin lagen nun die Gründe für diese bemerkenswerte Abweichung der österreichischen Organisation der Unfallversicherungsträger gegenüber dem deutschen Vorbild? 819 Vgl. Dragaschnig, SozSi 1978, S. 53 ff.; ferner bereits oben A V I I . Durch die 34. ASVG-Novelle (vgl. oben Anm. 779) w u r d e n zusätzliche Überweisungen an den Ausgleichsfonds der Pensionsversicherungsträger (§ 447 g ASVG) aus den M i t t e l n der U n f a l l - u n d Krankenversicherung sowie der Rücklagen f ü r Jugendlichen- u n d Gesundenuntersuchungen i m Ausmaß von über 1,1 Mrd. S vorgesehen; ferner wurde der Bundesbeitrag zum Ausgleichsfonds der Krankenversicherungsträger (§ 447 a ASVG) sistiert. — Vgl. jetzt insbes. die v o m (Wiener) I n s t i t u t f. angewandte Sozial- und Wirtschaftsforschung hrsg. Studie „Finanzierungsprobleme der österreichischen Sozialversicherung", 1979.
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Zunächst darf nicht übersehen werden, daß die ethnische Struktur der zisleithanischen Reichshälfte (Vielvölkerstaat; s. oben C I) für die Regelung der Organisationsfrage völlig andere Voraussetzungen schuf als diese i m Deutschen Reich gegeben waren: Eine berufsgenossenschaftliche Organisation, derzufolge branchenverwandte Betriebe aller Kronländer i n einer Anstalt zusammengefaßt worden wären, hätte allein schon i n sprachlicher Hinsicht große Schwierigkeiten m i t sich gebracht. Darüber hinaus war von Bedeutung, daß die Regierung Taaffe zu einem beträchtlichen Teil von föderalistisch orientierten politischen Kräften getragen wurde; eine Anknüpfung der Organisation an die Kronlandseinteilung lag dieser Regierung daher nahe, während die „zentralistisch" ausgerichteten Liberalen dem berufsgenossenschaftlichen Prinzip den Vorzug geben wollten. Hinsichtlich der inneren Organisation der territorialen Unfallversicherungsträger ist hervorzuheben, daß vor allem auf Vorschlag Steinbachs (vgl. B/3, I) trotz prinzipieller Anerkennung des Selbstverwaltungsprinzips der Bürokratie über das staatliche Aufsichtsrecht hinaus starker Einfluß auf die Verwaltung der Unfallversicherungsanstalten eingeräumt wurde, nämlich insbes. durch das dem Minister des Inneren eingeräumte Recht, ein Drittel der Vorstandsmitglieder „nach Einvernehmung des betreffenden Landesausschusses" zu ernennen (§12 UVG). Ein Blick auf die personelle Zusammensetzung der Vorstände zeigt, daß zu den vom Minister ernannten Personen insbes. Fachleute des Privatversicherungswesens, sonstige hervorragende Vertreter des Wirtschaftslebens und — nicht zuletzt — höhere Beamte aus der Wirtschaftsverwaltung bzw. der jeweiligen Statthalterei zählten 8 2 0 . Der Rest der Vorstandsmitglieder der Unfallversicherungsanstalten wurde je zur Hälfte von den Betriebsunternehmern und den Versicherten gewählt, wobei in beiden Fällen dem berufsgenossenschaftlichen Prinzip, freilich i n weit schwächerer Form als i n Deutschland, durch die Aufgliederung des Wählerkreises i n insgesamt 6 nach Branchenzugehörig keit eingeteilte „Wahlkategorien" Rechnung getragen w u r de 8 2 1 . Auch die für die Beitragshöhe maßgebliche Einstufung der Betriebe i n Gefahrenklassen bedeutete eine gewisse Konzession an das berufsgenossenschaftliche Prinzip. I m Gegensatz zur Unfallversicherung ist i n der Krankenversicherung i n organisatorischer Hinsicht weitgehende Übereinstimmung mit dem deutschen Recht feststellbar: Auch das österreichische Recht knüpfte an die bestehenden Kasseneinrichtungen (Betriebs-, Genossenschaftsund Vereinskassen) an und schuf i n Ergänzung dazu die — den deut820 Einen guten Einblick verschafft der „Kalender f ü r österr. A r b e i t e r - V e r sicherung", hrsg. v. M a x M a n d l u n d Zdenko Anderle, 1. Jg., 1895, S. 20. 821 Ebenda.
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Schlußbemerkungen
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sehen Ortskrankenkassen entsprechenden — Bezirkskrankenkassen; bis zum Ende des ersten Weltkrieges war das B i l d der Kassenorganisation i n Österreich durch eine ähnliche Vielfalt gekennzeichnet, wie sie i m Deutschen Reich bestand bzw. heute i n der Bundesrepublik Deutschland noch immer besteht; so betrug die Zahl aller Krankenkassen um 1900 auf dem Gebiet der zisleithanischen Reichshälfte ca. 3.000. Erst nach dem Ende des 1. Weltkrieges setzte (in der Ära Hanusch) der starke Konzentrationsprozeß ein, der aus Ersparnisgründen auch i m späteren Verlauf der Ersten Republik fortgesetzt wurde (vgl. B/5; I I 1; I I I 4; VIII). Eine zusätzliche Vereinfachung erfolgte i n der nationalsozialistischen Ä r a durch die Zusammenlegung der Angestellten- m i t den Arbeiter-(Gebiets-)krankenkassen. Was die Invaliditäts- bzw. Altersversicherungsträger betrifft, so kommen i n der Zeit der Entstehung der Stammgesetze nur die Bruderladen i n Betracht; gegenüber den Bruderladen des Berggesetzes von 1854 ergab sich i n organisatorischer Hinsicht nur insofern ein Unterschied, als für Renten- bzw. Krankenversicherung getrennte Abteilungen bestehen mußten, um die gesetzlich vorgeschriebene getrennte Verrechnung der beiden Versicherungssparten zu gewährleisten; für die Unfallversicherung der Bergarbeiter wurde erst 1914/15 als selbständiger Versicherungsträger die „Unfallversicherungsanstalt der Bergarbeiter" geschaffen, schon 1919 wurden deren Funktionen (für den bei Österreich verbliebenen Teil Zisleithaniens) den territorialen Unfallversicherungsanstalten übertragen (B/4, I I 4). I n den zwanziger Jahren gelangte die Organisation der Sozialversicherungsträger unter den Einfluß des sozialständischen Prinzips (vgl. bereits oben B/5, I I I 2 sowie C I I 1). Nachdem schon 1920/21 eine „ K r a n kenversicherungsanstalt der Staats-(Bundes-)Bediensteten" ins Leben gerufen worden war, folgte 1926 die „Versicherungsanstalt des Notariats"; für die Angestelltenversicherung wurden 1926 eine „Hauptanstalt für Angestelltenversicherung" sowie drei Angestellten-Sonderversicherungsanstalten eingerichtet und zusätzlich Versicherungskassen für Angestellte i n den Bundesländern außer Wien (B/5, I I I 2); Sozialversicherungsträger der gewerblich-industriellen Arbeiter waren aufgrund des Arbeiterversicherungsgesetzes 1927 (B/5, I I I 3) die Arbeiterversicherungsanstalt und die Gebiets-, Betriebs-, Genossenschafts- und Vereinskassen; Sozialversicherungsträger der land- und forstwirtschaftlichen Arbeiter (sowie der freiwillig krankenversicherten bzw. durch Verordnung der Unfallversicherungspflicht unterworfenen selbständigen Landwirte) waren aufgrund des Landarbeiterversicherungsgesetzes aus 1928 (B/5, V) die fünf Landarbeiterversicherungsanstalten und die Landwirtschaftskrankenkassen. Das GSVG 1935 hielt an dieser Organisationsstruktur i m wesentlichen fest. 46 S o z i a l v e r s i c h e r u n g
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Das auch für die heutige Organisation der österreichischen Sozialversicherungsträger (A IV) noch immer grundlegende SV-ÜG 1947 knüpfte i m wesentlichen an die alte österreichische Organisation an; neugeschaffen wurde — als Versicherungsträger für Arbeiter und Angestellte — die auf einen Versicherungszweig spezialisierte Allgemeine Unfallversicherungsanstalt; ferner blieb die Verbindung zwischen Arbeiter- und Angestelltenversicherung auch i n den Gebiets-(bisher: Orts-)krankenkassen aufrecht. Sieht man von der Unfallversicherung der gewerblich Selbständigen ab (Versicherungsträger: Allgemeine Unfall Versicherungsanstalt), so setzte sich i n der Entwicklung der Selbständigenversicherung der Aspekt „versicherte Personengruppe" gegenüber jenem des versicherten Risikos durch: Dementsprechend ist für die Kranken- und Pensionsversicherung der gewerblich (sowie der freiberuflich) Selbständigen die „Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft", für alle drei Versicherungszweige der Bauern-SozialVersicherung die „Sozialversicherungsanstalt der Bauern" Versicherungsträger. Eine Korrektur i. S. der Verstärkung der Gliederung nach Versicherungszweigen hat lediglich insoweit stattgefunden, als durch die 29. ASVG-Novelle (mit W i r kung vom 1. Januar 1974) die Landwirtschaftskrankenkassen (bislang i m Rahmen der Pflichtversicherung für die i n der Land- und Forstwirtschaft unselbständig Tätigen) den Gebietskrankenkassen einverleibt und die Aufgaben der Land- und Forstwirtschaftlichen Sozialversicherungsanstalt, soweit es sich um unselbständig Erwerbstätige handelte, einerseits der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt, andererseits der Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter übertragen wurden. Eine Deutung 822 dieser Entwicklung im Sinne des einen oder des anderen Gliederungsprinzips fällt schwer; zweifellos ist i m Bereich der Unselbständigenversicherung schon seit den dreißiger Jahren ein starker Annäherungsprozeß zwischen den beteiligten Gruppen (industriellgewerbliche Arbeiter; land- und forstwirtschaftliche Arbeiter; Angestellte) feststellbar, wenn man von der traditionellen Trennung der Pensionsversicherung der Arbeiter von jener der Angestellten absieht. Demnach w i r d man für diesen Bereich — wenn man die Pensionsversicherung ausklammert — von einer Dominanz der Gliederung nach Versicherungszweigen sprechen können. Anders ist die Situation, wie schon gesagt wurde, i m Bereich der Selbständigenversicherung, in dem der Gesichtspunkt der versicherten Personengruppe dominiert.
822 Vgl. die Darstellung der bestehenden Organisationsstrukturen bei K o r i nek i m System 4.1.2.; s. auch Rudolf Strasser / K u r t Hillinger, Soziale Sicherung, 1971, S. 30 ( K r i t i k an der „Systemlosigkeit" des österr. „Systems" der sozialen Sicherheit).
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Schlußbemerkungen
723
Diese Gegensätzlichkeit ist zwar einerseits zweifellos durch den Umstand bedingt, daß die Entwicklung der Selbständigen-Sozialversicherung „ i m Nachziehverfahren" erfolgen mußte, andererseits hängt sie m i t organisatorischen und sonstigen Besonderheiten der Versicherungsträger der Selbständigenversicherung (stärkere föderalistische Struktur, keine „gemischten" Vertretungen i n den Gremien; abweichende Finanzierungsgrundsätze, insbes. i n Hinblick auf die „Partnerleistung" des Bundes; Abweichungen i m Leistungskatalog gegenüber den Unselbständigen) zusammen, denen teilweise von den beteiligten Gruppen beträchtlicher politischer Stellenwert beigemessen wird. Was den Charakter der Sozialversicherungsträger als Selbstverwaltungskörper betrifft, so w i r d man diesen schon den durch die Stammgesetze der achtziger Jahre geschaffenen bzw. reorganisierten (Bruderladen) Versicherungsträgern zweifellos zubilligen müssen, wenngleich i n Hinblick auf das Ernennungsrecht des Innen- (später: Sozial-)Ministers bei den Unfallversicherungsträgern sowie durch die relativ starke Stellung der Betriebsunternehmer bei den Betriebskrankenkassen und Bruderladen gewisse Vorbehalte angebracht erscheinen. Aus einem anderen Blickwinkel w i r d man der Charakterisierung der ursprünglichen Sozial-(Arbeiter-)Versicherungsträger als Selbstverwaltungskörper sogar noch m i t größerer Unbefangenheit zustimmen können als der gegenwärtigen; und zwar einerseits wegen der „unmittelbaren" (nicht durch Interessenvertretungen erfolgenden) Organbestellung und andererseits wegen des sehr weitgehenden Satzungsrechts, das im Laufe der Entwicklung (freilich meist aus sozialpolitisch begrüßenswerten Motiven) immer mehr durch gesetzliche Regelungen eingeengt wurde. Das durch die Stammgesetze vorgegebene Schema der Selbstverwaltung blieb i m wesentlichen bis 1934 erhalten, wenn man von Details absieht (insbes. Änderung des Kräfteverhältnisses zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern i n den Krankenkassen von 2 : 1 auf 4 : 1 i n den Gremien der Krankenkassen durch das Krankenkassenorganisationsgesetz). Die Zeit nach 1934 (GSVG 1935 u. a.) stand i m Zeichen einer starken Einschränkung des Selbstverwaltungsprinzips; von 1938 bis 1945 w a r dieses durch das „Führerprinzip" gänzlich verdrängt (B/5, V I I I ; B/6, III). Anläßlich der Wiederherstellung der Selbstverwaltung durch das SV-ÜG 1947 (B/7, II) wurde teils (Gebietskrankenkassen u. a.) an die Regelungen aus der Zeit vor 1934 angeknüpft, teils (nämlich bei den Landwirtschaftskrankenkassen sowie bei den Rentenversicherungsträgern) wurde der Einfluß der Versicherten zusätzlich verstärkt 8 2 3 . I n den seit 823 v g l § 19 S V - Ü G bei Linseder, Das Sozialversicherungs-Überleitungsgesetz, 1948, S. 56 f. 46*
Landesbericht Österreich
280
den fünfziger Jahren ins Leben gerufenen Trägern der SelbständigenSozialversicherung wurden bzw. werden die Organe ausschließlich aus dem Kreis der Versicherten bestellt. Seit dem GSVG 1935 erfolgte die Bestellung der „Versicherungsvertreter" durch die öffentlich-rechtlichen Interessenvertretungen. Das SVÜ G 1947 hielt, nunmehr unter demokratischen Vorzeichen, an dem Modell der abgeleiteten Selbstverwaltung fest (B/7, II). Auch für Österreich t r i f f t aus der Sicht der historischen Entwicklung demnach das Wort Wannagats 8 2 4 zu, daß die Sozialversicherung eine der ältesten Formen der Sozialpartnerschaft darstellt; diesem Umstand kommt wegen des späten Zeitpunktes, zu dem der Großteil der Arbeitnehmer i n Österreich das Recht parlamentarischer Vertretung erlangte, gesteigerte Bedeutung zu. I I I . Entwicklungstendenzen und Zukunftsperspektiven
2. Unfallversicherung a) Ebenso wie i m Deutschen Reich kommt i n Österreich dem (Arbeiter-)Unfallversicherungsgesetz die Rolle des eigentlichen Bahnbrechers der Idee der Sozialversicherung zu: Die Einführung der „sozialen" Unfallversicherung w a r i n der historischen Situation der frühen achtziger Jahre ideologisch untrennbar verbunden m i t der Aufgabe der individualistisch-privatrechtlichen Lösungsvariante der Unternehmerhaftpflicht. Die i n Österreich über weite Strecken wörtlich übernommene Begründung der Unfallversicherungsgesetz-Vorlage läßt die künftige Vermeidung langwieriger, das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern belastender Schadenersatzprozesse als wichtigstes sozialpolitisches Ziel dieser Gesetzgebung erkennen, zu dessen Erreichung beide Teile Opfer bringen mußten: Die Arbeitgeber hatten die Beitragslast zum allergrößten Teil, seit 1914/17 sogar zur Gänze zu tragen; die Arbeitnehmer mußten den Ausschluß der Unternehmerhaftung i n Kauf nehmen, der ihnen — abgesehen vom Fall des Vorsatzes (in neuerer Zeit auch fahrlässige Schädigung bei Teilnahme am öffentlichen Verkehr) — die Geltendmachung zivilrechtlicher Schadenersatzansprüche (einschließlich des Schmerzensgeldanspruchs) verwehrte. b) Seit den Tagen des Stammgesetzes hat die Unfallversicherung einen grundlegenden Wandel 825 durchgemacht, und zwar i n dreierlei Hinsicht: 824
Die Selbstverwaltung i n der Sozialversicherung, i n : Verhandlungen des deutschen Sozialgerichtsverbandes, S. 9 ff. s. auch Gerhard Weißenberg, SozSi 1973, S. 117 u n d K o r i n e k i m System 4.1.3. C.
28
Schlußbemerkungen
aa) hinsichtlich des anspruchauslösenden Ereignisses: Schon früh wurde der Begriff des „Betriebsunfalles" durch die Judikatur insbes. durch die Gleichbehandlung der Wegunfälle m i t den eigentlichen Betriebsunfällen erheblich erweitert. Dieser Erweiterungsprozeß wurde später auf gesetzlicher Grundlage weitergeführt und ist heute noch i m Gange. Der (heute so bezeichnete) Arbeitsunfall löste sich demnach begrifflich immer mehr von der seinerzeitigen Verbindung m i t der Betriebsgefahr des Unternehmens; der Gedanke der „Ablösung" der Unternehmerhaftpflicht durch die soziale Unfallversicherung trägt demnach einen immer geringer werdenden Teil der Fälle. Als zusätzliche Erweiterungen bieten sich die Einbeziehung von Unfällen i m Haushalt sowie bei Sport und Freizeitbeschäftigung an. bb) hinsichtlich des personellen Umfangs der Versicherung: I m Zuge des Wandels von der „Betriebs-" zur „Personenversicherung" wurde zunächst der Kreis der Unfall-Pflichtversicherten auf jenen der Kranken-Pflichtversicherten ausgedehnt, dann wurden auch Gruppen einbezogen, bei denen eine Anknüpfung an ein bestehendes Beschäftigungsverhältnis überhaupt nicht in Betracht kommt (etwa: Lebensretter, Helfer i n Unglücksfällen, Schüler und Studenten); die Einbeziehung weiterer Gruppen (nicht erwerbstätiger Hausfrauen u. a.) ist derzeit Gegenstand politischer Zielsetzung bzw. fachmännischer Anregungen. cc) hinsichtlich der Aufgaben der Unfallversicherung: wiewohl die Ausgaben für Renten ca. die Hälfte der Gesamtausgaben der Unfallversicherungsträger ausmachen, sind Unfallverhütung sowie Heilbehandlung und andere Sachleistungen stark i n den Vordergrund getreten. Auch i n dieser Hinsicht ist die Unfallversicherung ihrer ursprünglichen Zweckbestimmung der Haftpfüchtablöse weitgehend entwachsen. c) I n Anbetracht dieses Wandels stellt sich die Frage, ob und inwieweit die historische Verbindung zwischen der Ablöse der Unternehmerhaftpflicht und der Unfallversicherung als systemtragender Gedanke noch tauglich ist, und dies i n zweierlei Hinsicht: einerseits i n Rücksicht auf weitere, die Konnexität m i t konkreten Beschäftigungsverhältnissen zusätzlich lockernde Ausdehnungsprojekte; andererseits i m Hinblick auf Bestrebungen, hinsichtlich des nicht durch Versicherungsleistungen gedeckten Schadens (insbes. Schmerzensgeld) die Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen doch wieder zuzulassen. 825 Tomandl, Das Leistungsrecht der österr. Unfallversicherung, 1977, insbes. S. 1 - 6 ; Steinbach, Unfallversicherung, insbes. S. 158 ff.; zahlreiche Beiträge (insbes. Gottfried Winkler, Wolfgang Gitter, Theodor Tomandl) i n der von Tomandl hrsg. P u b l i k a t i o n „Sozialversicherung: Grenzen der Leistungspflicht", 1975; für Deutschland allgemein zur E n t w i c k l u n g der Sozialversicher u n g Walter Bogs, Grundfragen des Rechts der sozialen Sicherheit u n d seiner Reform, 1955, S. 35 ff.; zuletzt Eike v. Hippel, Grundfragen der sozialen Sicherheit ( = Recht u n d Staat 492/493), 1979.
Landesbericht Österreich
28
I n Einklang m i t Friedrich Steinbach 826 ist m. E. die Tendenz zu noch weiterer personeller und sachlicher Ausdehnung der Unfallversicherung sehr zu begrüßen; Steinbach fordert jedoch m i t Recht, daß insbes. die Einbeziehung privater Lebensbereiche i m Wege einer Eigenversicherung w i r d erfolgen müssen. Vermutlich läuft dies, wenn nicht Beitragsleistungen aus öffentlichen M i t t e l n i n Betracht kommen (wie etwa bei den Schülern und Studenten) auf den schon 1918 von der Wiener Arbeiter-Unfallversicherungsanstalt gemachten Vorschlag hinaus, Nichtbetriebsunfälle auf Kosten der Versicherten i n den Versicherungsschutz einzubeziehen 827 . Das letzte Ziel dieser Gesetzgebung war ja die Vermeidung bzw. der Abbau sozialer Spannungen, insbes. durch Vermeidung von Prozessen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Gerade der Streit um die Abgrenzung zwischen Arbeits- und sonstigen Unfällen ist, wenngleich nicht der Arbeitgeber, sondern der Versicherungsträger dem Versicherten als Gegner gegenübertritt, ebenso unerfreulich wie allfällige Haftpflichtprozesse es wären. Die Egalisierung dieses Gegensatzes wäre daher zweifellos als sozialer Fortschritt zu werten. Aus ähnlichen Gesichtspunkten ist — i n Ubereinstimmung m i t Steinbach — auch die teilweise (etwa hinsichtlich des Schmerzensgeldes) oder vollständige Aufhebung des Haftungsausschlusses abzulehnen; der — grundsätzlich zweifellos berechtigte — Wunsch nach Gewährung von Schmerzensgeld könnte durch pauschalierte Zuschläge o. ä. abgegolten werden. Ähnliche Probleme ergeben sich i m Zusammenhang m i t dem Hilflosenzuschuß. Die Überbetonung der abstrakten Beurteilung (nach dem klinischen Erscheinungsbild) gegenüber einer auf die konkreten sozialen Verhältnisse abstellenden Betrachtungsweise dürfte auch m i t dem Fehlen von Abstufungsmöglichkeiten zusammenhängen, die eine flexiblere Handhabung ermöglichen: Wünschenswert wäre eine Abstufung des Hilflosenzuschusses nach dem Grad der Hilflosigkeit 828 ; die bisherige starre Verknüpfung m i t der Rentenhöhe sollte (in Weiterführung der durch die 32. ASVG-Novelle eingeschlagenen Richtung) aufgehoben und sowohl hinsichtlich der Prüfung der Anspruchsvoraussetzung als auch der Höhe des (abgestuften) Hilflosenzuschusses nach dem Prinzip einer „differenzierten" Abstraktion vorgenommen werden 8 2 9 . 826
Ebenda. Steinbach, Unfallversicherung, S. 95; s. auch oben B/5, I I I 1 (bei A n m . 642). Eingehende Erörterung der i m Text angesprochenen Probleme jetzt bei Tomandl, „Arbeitswelt u n d Sozialstaat" (s. die Literaturzusammenstellung am Ende des Beitrags), S. 417 ff. 828 Schäfer, SozSi 1975, S. 625. 829 Tomandl i m System 2.3.3. (bei A n m . 26). — Seit der 32. ASVG-Novelle (1976, BGBl. Nr. 704; oben bei A n m . 776) w i r d durch die etappenweise Erhöh u n g des unteren Grenzbetrags versucht, dem Ziel eines von der Pensionshöhe unabhängigen Hilflosenzuschusses näherzukommen. 827
283
Schlußbemerkungen
727
Auch bei der Beurteilung des Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit wäre es angebracht, unter prinzipieller Beibehaltung des Prinzips der abstrakten Schadensberechnung, die konkrete Erwerbssituation des Verletzten vor dem Unfall mitzuberücksichtigen 830 . 2. Krankenversicherung Die schon unter C I I geschilderte Entwicklung der Krankenversicherung ist, ähnlich wie i n der Bundesrepublik Deutschland und den übrigen in den Länderberichten behandelten Staaten. Zunächst durch eine zunehmende Verlagerung des Schwerpunktes von den Geld- zu den Sachleistungen gekennzeichnet, wobei i n den letzten Jahren die Leistungen an Krankenanstalten überproportional gestiegen sind (A VI); und es ist m i t einem weiteren Ansteigen zu rechnen, da Leistungsverminderungen hier kaum i n Betracht kommen und Einsparungen durch Rationalisierung nur i n geringem Maße möglich sind; immerhin wurde hinsichtlich der Kostenentwicklung auf dem Heilmittelsektor vor etwa zwei Jahren zumindest eine Abschwächung des Aufwärtstrends bzw. sogar ein (vorübergehender) Rückgang der Kosten erreicht. Ferner ist auch i n Österreich die Entwicklung durch ein Vordringen des Finalprinzips gegenüber dem Kausalprinzip gekennzeichnet. Wie Binder 8 3 1 ausführt, äußert sich das Vorherrschen des Finalitätsprinzips i n der Krankenversicherung i n der weitgehenden Irrelevanz der Ursache der Gesundheitsstörung für die Leistungspfiicht des Krankenversicherungsträgers (Einbeziehung der durch Ereignisse i n der Privatsphäre, durch Unfälle, Berufskrankheiten etc. herbeigeführten Gesundheitsstörungen). Eine Ausnahme bilden insbes. die Verwirkungsfälle des § 88 ASVG (etwa: „schuldhafte Beteiligung an einem Raufhandel", „Trunkenheit") sowie die Nichtgewährung des Krankengeldanspruchs bei Arbeitsunfähigkeit infolge eines körperlichen Gebrechens u. ä. I m Verhältnis zu diesen wenigen „Relikten" des Kausalprinzips hat das Finalprinzip vor allem i n neuester Zeit eine starke zusätzliche Aufwertung durch die Einbeziehung der Präventivmedizin i n den A u f gabenbereich der Krankenversicherung erfahren (Jugendlichenuntersuchungen, Gesundenuntersuchungen etc.); auch die „Maßnahmen zur Festigung der Gesundheit" (Unterbringung i n Erholungs- und Genesungsheimen etc.) nehmen an Bedeutung zu, es handelt sich hiebei aber derzeit noch um freiwillige Leistungen der Krankenversicherungsträger. 830
Tomandl i m System 2.3.3. (bei A n m . 12). I m System 2.1.1.; vgl. ferner die von Tomandl hrsg. Publikation „ V o n der Krankenversicherung zur sozialen Vorsorge", 1972; für Deutschland Bogs, Grundfragen, insbes. S. 59 ff.; zum Vordringen des Finalprinzips ferner H i p pel, Grundfragen, S. 65 ff.; ferner (insbes. zur Krankenversicherung) Zöllner i n diesem Sammelwerk, S. 159, 162 f. 831
728
Landesbericht Österreich
284
I n Rücksicht auf den ständig wachsenden A n t e i l der Sachleistungen und die starke Anhebung der Höchstbeitragsgrundlagen kommt i m Bereich der Krankenversicherung auch dem Gesichtspunkt der Umverteilung i. S. eines sozialen Ausgleichs zwischen A r m und Reich steigende Bedeutung zu; dies jedenfalls i m Bereich des ASVG, das nur i n sehr geringem Maße Kostenbeteiligung kennt. Auch die Finanzierungsfrage erhielt i n der Krankenversicherung durch den rapide steigenden A n t e i l der Leistungen an Krankenanstalten ein ganz spezifisches Gepräge: Es handelt sich hiebei zu einem erheblichen Teil um ein Problem der Spitalfinanzierung 832 , von dessen Bewältigung bzw. Nichtbewältigung die finanzielle Lage der Kassen abhängig ist. Eine noch immer sehr brauchbare Zusammenstellung zahlreicher Expertenmeinungen zu Entwicklungstendenzen und Reformgesichtspunkten i n der Krankenversicherung enthält der 1972 erschienene Band „Von der Krankenversicherung zur sozialen Vorsorge" 8 3 3 , auf den hier anstelle weiterer Detailausführungen verwiesen sei. 3. Pensionsversicherung A u f dem Gebiete der Pensionsversicherung stand i n den letzten Jahren die Finanzierungsfrage ganz i m Vordergrund; um eine Entlastung des Staatsbudgets zu erreichen, wurde einerseits i n verstärktem Maße auf Beitragsleistungen (in Form eines Zusatzbeitrages) zurückgegriffen, zum anderen ein sozialversicherungsinterner Ausgleichsmechanismus ins Leben gerufen. Seit der jüngsten (34.) Novelle zum ASVG fließen dem sog. Ausgleichsfonds der Pensionsversicherungsträger neben M i t teln strukturell begünstigter Pensionsversicherungsträger (derzeit die Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten) und der Arbeitslosenversicherung auch solche der Unfall- und Krankenversicherung zu. Trotz der Vordringlichkeit der Finanzierungsfrage sollte nicht außer acht gelassen werden, daß einzelne Strukturelemente der österreichischen Pensionsversicherung kritischer Überprüfung bedürfen. Dies gilt i n besonderem Maße für das österreichische Pensionsbemessungssystem (B/7, IV) sowie für die Regelung der Pensionsanpassung (zum P A G vgl. B/7, V). Was das erstere betrifft, so erheben sich Zweifel, ob das Abstellen auf eine bloß fünfjährige (bei Selbständigen zehnjährige) Bemessungszeit am Ende der Berufslaufbahn dem Prinzip der Beitragsadäquanz sowie 832 Hiezu insbes. Radner, SozSi 1979, S. 107 ff.; vgl. ferner meine vor allem auf den Sozialbericht 1978 gestützten Ausführungen oben A V I 1. 833 Vgl. A n m . 831.
28
Schlußbemerkungen
72
den sozialpolitischen Zielsetzungen des Pensionsrechts gerecht zu werden vermag. Bedenklich erscheint es vor allem, daß das österreichische Bemessungssystem intensiver als ein auf dem „Durchrechnungsprinzip" beruhendes System den Versicherten nahelegt, i n den letzten Jahren ihrer Aktivitätsphase möglichst hohe Beitragsgrundlagen zu erzielen, wodurch der ohnedies m i t mannigfachen Problemen behaftete Ubergang von der Aktivitäts- i n die Ruhestandsphase möglicherweise noch abrupter verläuft als dies ansonsten der Fall wäre 8 3 4 . Zu dem österreichischen System der Pensionsanpassung ist zunächst festzustellen, daß sich dieses insoweit zweifellos bewährt hat, als das Hauptziel — die Emanzipation der Pensionsanpassung von politischen Imponderabilien — erreicht wurde. Was hingegen das Nebeneinander von automatischer und dynamischer Anpassung (A V I ; B/7, V) betrifft, so dürften die vom Gesetzgeber nachträglich vorgenommenen Änderungen der Richtzahlberechnung wohl den Schluß zulassen, daß eine einheitliche Lösung i m Sinne der Dynamisierung den Vorzug verdient hätte 8 3 6 . Abschließend sei noch darauf verwiesen, daß der österreichische Verfassungsgerichtshof m i t Erkenntnis vom 26. 6.1980, G 6, 25, 54/79, die bestehende Regelung der Hinterbliebenenpension für Ehegatten (A V I 2; B/3, I V 6) für gleichheitswidrig erklärt, dem Gesetzgeber aber nach deutschem Vorbild (BVerfGE 39, 169) die Möglichkeit schrittweise Realisierung des verfassungskonformen Zustandes eröffnet hat 8 3 6 .
834 M i t überzeugenden Argumenten (Zurückdrängung der Spekulation, Möglichkeit zur Vereinfachung des Anwartschaftsrechts u. a.) gibt dem „Durchrechnungsprinzip" n u n auch den Vorzug: Walter Sedlak, „ A r b e i t s w e l t u n d Sozialstaat" (s. die Literaturzusammenstellung!), S. 385 ff. 835 Z u m österr. System der Bemessungsgrundlage vgl. nochmals oben den T e x t nach A n m . 765; zur Pensionsautomatik bzw. - d y n a m i k vgl. Dieter Bös / Robert Holzmann, Simulationsanalysen zur österr. Pensionsdynamik ( S B A K Wien, phil. hist. Kl., 304/3), 1976, S. 143 ff.; Tomandl i m System 0.6.4. sowie meine Ausführungen oben A V I 3 u n d B/7, V (bei A n m . 773). 836 Das Erkenntnis ist abgedruckt i n Z A S 1980, S. 220 ff.; s. hiezu die Besprechung durch Tomandl, ebenda, S. 203 ff.
Literatur I . Zur Geschichte des österreichischen Sozialversicherungsrechts Vgl. die i n A n m . 31 angeführte Literatur. I I . Zum geltenden österreichischen Sozialversicherungsrecht
A. 1. Legat, Ernst / Grabner,
Gesamtdarstellungen
Stefan, Sozialversicherungsrecht, 1963.
2. System des österreichischen Sozialversicherungsrechts, hrsg. v. Theodor Tomandl, 1. Aufl. 1978; 1. Erg.Lief. 1980. 3. Tomandl, Theodor, Grundriß des österreichischen Sozialrechts, 1. Aufl. 1974; 2. Aufl. 1980.
B. Kommentierte 1. Τ eschner, H e l l m u t / Fürböck, 1974 ff.
Gesetzesausgaben (Auswahl) K a r l , Allgemeine Sozialversicherung, 3 Bde.,
2. Dragaschnig, Alois / Schäfer, Egon / Spitaler, rung, 5. A u f l . 1974.
Hans, Die Krankenversiche-
3. Bakule, Ernst / Janda, Richard, Die Unfallversicherung nach dem ASVG, 2. A u f l . 1963. 4. Linseder, Lorenz / Teschner, Hellmut, Die Sozialversicherung der i n der gewerblichen Wirtschaft selbständig Erwerbstätigen, 2 Bde., 1968 ff. 5. Fürböck, 1970 ff.
K a r l / Teschner,
Hellmut, Die Sozialversicherung der Bauern,
6. Grabner,
Stefan / Litzlfellner,
7. Teschner, H e l l m u t / Schneider, versicherungsgesetz, 1968.
Paul, Die Bauernsozialversicherung.
1980.
Hermann, Beamtenkranken- u n d U n f a l l -
8. Wagner, K u r t , Das österreichische Notarversicherungsrecht, 1969. 9. Dirschmied,
K a r l , Arbeitslosenversicherungsrecht, 1980.
Zahlreiche wertvolle Beiträge zum österr. Sozialversicherungsrecht u n d dessen Geschichte enthält die erst nach Abschluß des Manuskripts erschienene Festschrift f ü r Gerhard Weißenberg (f) „Arbeitswelt u n d Sozialstaat". Hrsg. v. Oswin Martinek, Josef Cerny u n d Josef Weidenholzer, (Wien) 1980.
Landesbericht Schweiz
Von
Alfred Maurer
Inhaltsübersicht Erster Abschnitt: Grundzüge und Eigenarten der Bundessozialversicherung in der Schweiz I. Allgemeines 1. L a n d u n d Leute 2. Die Bundesverfassung a) Organisation u n d Bundesstaates
Gesetzgebungskompetenz
des
11
741
11
741
12
742
12
742
b) Verfassungsinitiative u n d Referendum
13
743
c) Kantonsverfassungen d) Der B u n d als sozialer Rechtsstaat
13 14
743 744
14
744
14 14
744 744
I I . Skizzierung der Bundessozialversicherung nach geltendem Recht 1. Begriffliches a) Kontroversen b) Sozialversicherung als öffentlich-rechtlich geregeltes VersicherungsVerhältnis c) Definition u n d Zweige der Bundessozialversicherung
14
744
16
746
2. K r a n k e n - u n d Unfallversicherung gemäß K U V G
16
746
17 18
747 748
3. Alters- u n d Hinterlassenenversicherung (AHV)
19
749
4. Invalidenversicherung (IV)
22
752
5. Ordnung der Ergänzungsleistungen zur A H V / I V (EL)
23
753
a) Krankenversicherung b) Unfallversicherung
6. Erwerbsersatzordnung (EO)
24
754
7. Arbeitslosenversicherung (A1V)
24
754
8. Familienzulageordnung (FLO)
25
755
9. Militärversicherung (MV)
25
755
10. Rechtspflege a) b) c) d)
Fundstellen der Gesetze Erstinstanzliche Sozialversicherungsgerichte Das V w G Eidg. Versicherungsgericht (EVG)
26
756
26 26 26 26
756 756 756 756
734
4
Inhaltsübersicht Zweiter Abschnitt: Entstehung und Entwicklung der Sozialversicherung im schweizerischen Bundesstaat
A . Von der Gründung des Bundesstaates bis zum Ende des Ersten Weltkrieges (1848 - 1918)
28
758
28
758
28
758
28
758
3. Die Bundesverfassung v o m 29. M a i 1874
29
759
4. Der noch heute geltende A r t i k e l 34
29
759
30
760
I. Die Bundesverfassungen von 1848 u n d 1874 1. Die Bundesverfassung v o m 12. September 1848 2. Ursprünglich Bundes
keine
sozialpolitische
Kompetenz
des
I I . Die Zeit von 1875 - 1890 1. Industrialisierung u n d Industriearbeiter
30
760
a) Beginn der Industrialisierung
30
760
b) Soziale Situation der Industriearbeiter
31
761
c) Entstehung schweizerischer Wirtschafts verbände . .
32
762
d) Keine größeren sozialen Unruhen i n der Schweiz . .
32
762
e) F a b r i k - u n d Fabrikhaftpflichtgesetzgebung — K a n tonale Sozialgesetze — Arbeiterselbsthilfe u n d andere private Unterstützungseinrichtungen
32
762
2. Das Fabriksgesetz von 1877
35
765
a) Der Liberalismus
35
765
b) Kantonale Arbeiterschutzgesetzgebungen
36
766
c) Der aa) bb) cc)
36 38 38
766 768 768
38 38
768 768
39
769
Erlaß des Fabriksgesetzes von 1877 A r t i k e l 1 Abs. 2 u n d das „Fabrikverzeichnis" . . Die Prophylaxe A r t i k e l 5 Abs. 2 b: Kausalhaftung bei Betriebsunfällen dd) A r t i k e l 5 Abs. 2 d: Berufskrankheiten
3. Die Fabrikhaftpflichtgesetze von 1881 u n d 1887 a) Das Bundesgesetz betreffend die Haftpflicht Fabrikbetrieb v o m 25. J u n i 1881
aus
39
769
b) Das Bundesgesetz betreffend die Ausdehnung der Haftpflicht u n d die Ergänzung des Bundesgesetzes v o m 25. J u n i 1881 v o m 26. A p r i l 1887
40
770
c) Ablösung der Fabrikhaftpflichtgesetze KUVG
42
772
42
772
durch das
4. Die schweizerische Privatversicherung a) Brandversicherung als erste öffentliche rung
Versiche-
42
772
b) Mißerfolg der ersten Lebensversicherungen
42
772
c) Entstehung der Privatversicherungswirtschaft
43
773
Inhaltsübersicht d) Statistischer Vergleich
43
773
e) Schrittmacherrolle der Privatversicherung
43
773
f) Mängel des frühen Versicherungswesens
43
773
g) Versicherungsaufsicht durch Bundesgesetz von 1885 u n d das Versicherungsvertragsgesetz von 1908 h) Haftpflichtgesetze u n d Privatversicherung
44 44
774 774
44
774
45
775
i)
Privatversicherungsgesellschaften cherungsträger?
als
Sozialversi-
5. Bismarcks Sozialversicherungsgesetzgebung a) Die Kaiserliche Botschaft v o m 17. November 1881 . .
46
776
b) W i r k u n g e n der drei Bismarckschen Stammgesetze . aa) Das Obligatorium bb) Beiträge u n d Staatszuschuß cc) Lohnbezogene Beiträge dd) System mehrfacher Trägerschaft ee) Unfallversicherung statt Unternehmerhaftpflicht
47 47 48 48 49
777 777 778 778 779
49
779
6. Die erste Bundeskompetenz zur Gesetzgebung über die Sozialversicherung
50
780
a) Forrers Denkschrift von 1889
50
780
b) Die Botschaft v o m 28. November 1889
50
780
c) A r t i k e l 34 bis B V
51
781
52
782
52
782
I I I . Die Zeit von 1891 bis 1918 1. Die Lex Forrer a) Volksabstimmung v o m 20. M a i 1900
52
782
b) Die i n der Lex Forrer vorgesehenen Regelungen ..
53
783
c) Militärversicherung
53
783
54
784
54
784
2. Das Bundesgesetz über die K r a n k e n - u n d U n f a l l v e r sicherung v o m 13. J u n i 1911 (KUVG) a) E n t w u r f zum K U V G von 1906 b) Volksabstimmung über das K U V G v o m 4. Februar 1912
56
786
c) Errichtung des Bundesamts f ü r Sozialversicherung
56
786
d) Schaffung der S U V A
56
786
e) Das Ergänzungsgesetz zum K U V G von 1915
57
787
f) Konsequenzen f ü r die Privatversicherung g) Erste Verwendung der Bezeichnung „Sozialversicherung"
57
787
57
787
3. Weitere bedeutsame Gesetze jener Epoche
57
787
a) Kodifikation des Privatrechts
57
787
b) Arbeiterschutzgesetzgebung
58
788
7 3 I n h a l t s ü b e r s i c h t
6
Β. Die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen (1919 - 1939) I. Allgemeines
58
788
58
788
1. Der Erste Weltkrieg
58
788
2. A u s w i r k u n g e n auf die Schweiz
59
789
3. Folgen des Landesstreiks
59
789
4. Erwachen des sozialpolitischen Verständnisses
60
790
5. Von der Konfrontation zur Kooperation
60
790
6. Die Weltwirtschaftskrise
61
791
61
791
1. Arbeitslosenfürsorge
61
791
2. Trotz Bundesgesetz v o m 17. Oktober 1924: keine befriedigende Ordnung der Arbeitslosenversicherung . . .
62
792
63
793
63
793
64
794
65
795
65
795
65
795
65
795
66
796
I I I . Arbeitslosenversicherung
67
797
I V . Familienzulageordnung
68
798
68
798
I I . Bundesmittel f ü r die Arbeitslosen
I I I . Alters-, Hinterlassenen- u n d Invalidenversicherung 1. Volksabstimmung über A r t i k e l 34 quater B V 6. Dezember 1925
vom
2. Scheitern der „ L e x Schulthess"; Verstärkung der A l ters· u n d Hinterlassenenfürsorge C. Der Zweite W e l t k r i e g (1939 - 1945) I. Vollmachtenbeschluß I I . L o h n - u n d Verdienstersatzordnung 1. Militärische Weltkrieges
Notunterstützung
während
des
Ersten
2. Die Neuregelung v o m 20. Dezember 1939 u n d weitere Beschlüsse während des Zweiten Weltkrieges
D. E n t w i c k l u n g der Sozialversicherung seit dem Zweiten Weltkrieg I. Wirtschafts- u n d Sozialpolitik 1. Wirtschaftliche Blüte seit 1945
68
798
2. Statistisches
68
798
3. Das Problem der Überfremdung
69
799
4. Stürmische E n t w i c k l u n g der Sozialversicherung
69
799
5. Überführung von Vollmachtenbeschlüssen ins ordentliche Recht
70
800
I I . Alters- u n d Hinterlassenenversicherung
70
800
1. Das Bundesgesetz v o m 20. Dezember 1946
70
800
2. Ausbau der A H V
71
801
3. Statistisches
72
802
7
Inhaltsübersicht
737
4. Das „Drei-Säulen-Prinzip" des neu gefaßten A r t . 34 quater B V
72
802
5. Die AHV-Revisionen
73
803
a) 1. A H V - R e v i s i o n
73
803
b) 2. A H V - R e v i s i o n
73
803
c) 3. A H V - R e v i s i o n
74
804
d) 4. A H V - R e v i s i o n
74
804
e) Anpassungsrevision
74
804
f) 5. A H V - R e v i s i o n
75
805
g) 6. A H V - R e v i s i o n
75
805
h) 7. A H V - R e v i s i o n
76
806
i)
77
807
78
808
8. A H V - R e v i s i o n
k) Rezessionsbedingte Bundesbeschlüsse 1) 9. A H V - R e v i s i o n
78
808
m) 10. A H V - R e v i s i o n i n Vorbereitung
80
810
n) A u s w i r k u n g e n der AHV-Revisionen auf andere Gesetze
80
810
80
810
80
810
2. Das M V G v o m 20. September 1949
81
811
3. Leistungsanpassungen durch Teilrevisionen des M V G
81
811
4. Vorarbeiten f ü r ein neues M V G
81
811
I I I . Militärversicherung 1. Teilrevision des M V G durch Bundesratsbeschluß v o m 27. A p r i l 1945
I V . Arbeitslosenversicherung
82
812
1. Gesetzgebungsbefugnis des Bundes
82
812
2. Bundesgesetz v o m 22. J u n i 1951
82
812
3. Obligatorische Arbeitslosenversicherung gem. Bundesbeschluß v o m 8. Oktober 1976 („Übergangsordnung")
82
812
83
813
1. A r t i k e l 34 quinquies B V
83
813
2. Das Bundesgesetz v o m 20. J u n i 1952
83
813
3. Keine umfassende Regelung des Bundes
83
813
V I . Erwerbsersatzordnung
84
814
V I I . Invalidenversicherung
84
814
1. Entstehung des I V G
84
814
2. Änderungen des I V G
85
815
3. Der neue A r t i k e l 34 quater B V u n d die I V
86
816
V. Familienzulageordnung
47 S o z i a l v e r s i c h e r u n g
7 3 I n h a l t s ü b e r s i c h t V I I I . Krankenversicherung
8 86
816
1. Grundlegende Revision v o m 13. März 1964
86
816
2. Neuordnung der Rechtspflege
87
817
3. „Flimsermodell"
88
818
4. Das doppelte Nein v o m 8. Dezember 1974
88
818
I X . Ordnung der Ergänzungsleistungen zur A H V / I V
89
819
1. Das Bundesgesetz v o m 19. März 1965
89
819
2. Kantonale Regelungen
90
820
3. Leistungsanpassungen
90
820
90
820
X . Z w e i wichtige Gesetzesvorlagen bei der Bundesversammlung 1. Revision der obligatorischen Unfallversicherung (UVG)
90
820
a) Bisherige „kleine Revisionen"
90
820
b) Totalrevision
90
820
2. Berufliche Alters-, Hinterlassenen- u n d Invalidenvorsorge (BVG)
91
821
a) Geltende Regelung
91
821
b) E n t w u r f zum B V G vor der Bundesversammlung . .
91
821
93
823
Dritter Abschnitt: Schlußbemerkungen I. Allgemeines I I . Gesetzesreferendum u n d Verfassungsinitiative
93
823
1. Das fakultative Referendum
93
823
2. Die Verfassungsinitiative
95
825
96
826
1. Trägerschaft
96
826
2. Kreis der Versicherten
97
827
I I I . Bunte Vielfalt i n der Sozialversicherung
3. Finanzierung
98
828
4. Leistungsrecht
99
829
99
829
I V . Rechtliche Entwicklungstendenzen 1. H i n w e n d u n g v o m privaten z u m öffentlichen Recht ..
99
829
100
830
V. Unerledigte Gesetzgebungsaufträge der Bundesverfassung 101
831
Literatur
832
2. Probleme der Koordination
102
Abkürzungen und Zitierweise a.a.O. AHV AHVG A1V A1VG Art. AS BB1. bes. BG Botschaft BRD BV Diss. eidg. EL ELG EO EOG EVG FLG Fr. Jh. IV IVG IVV KUVG Mill. Mrd. MV MVG MO n. F. OG OR SJK SR 47»
am angegebenen O r t Alters- u n d Hinterlassenenversicherung = B G über die A H V = Arbeitslosenversicherung = B G über die A1V = Artikel = Amtliche Sammlung der Bundesgesetze (sie w i r d ab 1874 als Neue Folge, n. F., bezeichnet) = Bundesblatt = besonders Bundesgesetz = Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung — (zum E n t w u r f eines B G usw.) = Bundesrepublik Deutschland Bundesverfassung = = Dissertation = eidgenössisch = Ergänzungsleistungen B G über Ergänzungsleistungen zur A H V u n d I V = = Erwerbsersatzordnung = B G über die Erwerbsersatzordnung f ü r W e h r - u n d Z i v i l schutzpflichtige = Eidg. Versicherungsgericht, Luzern = B G über die Familienzulagen f ü r landwirtschaftliche A r beitnehmer u n d Kleinbauern = Franken = Jahrhundert = Eidg. Invalidenversicherung = B G über die I V = VO über die I V = B G über die K r a n k e n - u n d Unfallversicherung = Millionen = Milliarden = Militärversicherung = B G über die M V = B G über die Militärorganisation = neue Folge (s. unter AS) = B G über die Organisation der Bundesrechtspflege B G über das Obligationenrecht = = Schweizerische juristische Kartothek, Genf = Systematische Sammlung des Bundesrechts =
=
74 SUVA
svz szs
Landesbericht Schweiz = = =
u. a. m. UVG(E) v. a.
=
VO
=
VSSR V w G (oder auch V w V G )
ΖΑΚ ZGB ζ. Z.
=
=
=
= = = =
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt, Luzern Schweizerische Versicherungs-Zeitschrift, Bern Schweizerische Zeitschrift für Sozialversicherung, Bern u n d andere (s) mehr E n t w u r f zu einem B G über die Unfallversicherung vor allem Verordnung Vierteljahresschrift f ü r Sozialrecht, B e r l i n B G über das Verwaltungsverfahren Zeitschrift für Ausgleichskassen, Bern Schweizerisches Zivilgesetzbuch zur Zeit
Erster
Abschnitt
Α. Grundzüge und Eigenarten der Bundessozialversicherung in der Schweiz I . Allgemeines
1. Land und Leute Die Schweiz weist eine Fläche von 41.288 k m 2 auf. Sie ist ein Industriestaat. Die landwirtschaftliche Nutzfläche nimmt nur 6,5 °/o der Gesamtfläche ein, und nur 7,2 °/o der Erwerbstätigen waren 1970 i n der Landwirtschaft beschäftigt. Die Wohnbevölkerung betrug (in M i l l . Einwohnern): am 1.1.1979 6,29; 1950 4,7; 1910 3,7; 1880 2,8 und 1850 2,3. Der Altersindex, d. h. der A n t e i l der 60- und Mehrjährigen i n Prozenten der unter 20jährigen, lautet für: 1970 53,7; 1950 46; 1930 32,1; 1900 22,9 und 1860 21,5. Er hat sich seit der Jahrhundertwende mehr als verdoppelt. Teilt man die Wohnbevölkerung nach Sprachgruppen auf, so ergibt sich für 1970 i n Promillezahlen folgendes B i l d (in Klammern für 1880): deutsch 649 (713), französisch 181 (214), italienisch 119 (57), rätoromanisch 8 (14) und andere Sprachen 43 (2)1. Amtssprachen des Bundes sind das Deutsche, Französische und Italienische. Jede Fassung der Bundesgesetze i n diesen Amtssprachen ist gleichwertig, was namentlich bei der Auslegung wichtig ist. Nationalsprachen sind außer den erwähnten Amtssprachen auch das Rätoromanische (BV 116). Geschlossene rätoromanische Bevölkerungsgruppen weist nur der Kanton Graubünden auf, der i n sprachlicher Hinsicht besonders interessant ist. Von seiner Wohnbevölkerung (rund 170.000) sprechen etwa 58 °/o deutsch, 24 o/o romanisch und 16 °/o italienisch. Das Rätoromanische hat keine gemeinsame, d. h. einheitliche Schriftsprache, sondern es zerfällt i n verschiedene, teilweise stark voneinander abweichende Varianten, die man Idioms nennt. Der Kanton Graubünden muß seine Primarschulbücher insgesamt i n sieben verschiedenen Sprachen drucken, nämlich i n fünf Idioms und daneben deutsch und italienisch.
1
F ü r diese und weitere Zahlenangaben vgl. Statistisches Jahrbuch der Schweiz, 1979 sowie h i n t e n bei A n m . 167 - 170.
742
Landesbericht Schweiz
12
2. Die Bundesverfassung a) Die Schweiz — m i t der amtlichen Bezeichnung: Schweizerische Eidgenossenschaft; Confédération Suisse; Confederazione Svizzera — ist ein demokratischer Bundesstaat, der sich aus 23 Kantonen als Gliedstaaten zusammensetzt. Drei von ihnen unterteilen sich i n Halbkantone. Die geltende Bundesverfassung vom 29. Mai 1874 wurde durch über 80 Partialrevisionen geändert und ergänzt. Nach ihr ist der Bund zur Gesetzgebung über eine Materie nur zuständig, wenn sie i h m die Kompetenz dazu erteilt. Die übrigen Gesetzgebungskompetenzen verbleiben den Kantonen (BV 3). Die Bundesversammlung (Parlament, Legislative) besteht aus zwei Abteilungen (Kammern, Räten), nämlich dem Nationalrat, dessen Mitglieder nach dem Grundsatz der Proportionalität gewählt werden, und dem Ständerat, i n welchen jeder Kanton zwei bzw. jeder Halbkanton einen Abgeordneten wählt. Beide Abteilungen haben gleiche Kompetenzen. Deshalb können z. B. Bundesgesetze nur zustande kommen, wenn beide Räte zustimmen. Differenzen sind i n einem gesetzlich geregelten Differenzbereinigungsverfahren zu beheben. Kommt keine Einigung zustande, so fällt die Vorlage dahin, was nur höchst selten der Fall ist. Für bestimmte Geschäfte tagen die Abteilungen gemeinsam, u m als Vereinigte Bundesversammlung unter dem Vorsitz des Präsidenten des Nationalrates zu entscheiden. So wählt sie den Bundesrat (Landesregierung, Exekutive), der sich aus sieben Mitgliedern zusammensetzt (Amtsdauer vier Jahre), und unter diesen jährlich den Bundespräsidenten, der aber nicht Staatsoberhaupt, sondern lediglich Vorsitzender des Bundesrates ist. Jedes Mitglied leitet ein Departement (in andern Ländern w i r d es Ministerium genannt) und damit einen Teil der Bundesverwaltung. Das Departement des Innern ist beispielsweise für die meisten Zweige der Sozialversicherung zuständig. Eine seiner Abteilungen, nämlich das Bundesamt für Sozialversicherung, übt die Aufsicht über sie aus, bereitet Entwürfe zu neuen Sozialversicherungsgesetzen oder Gesetzesänderungen vor und ist i n bestimmten Fragen Beschwerdeinstanz. — Die Vereinigte Bundesversammlung wählt auch das Bundesgericht i n Lausanne sowie das Eidg. Versicherungsgericht i n Luzern. Dieses ist seiner Funktion nach das Bundessozialversicherungsgericht, da es i m Gebiete der Bundessozialversicherung die oberste richterliche Instanz darstellt. Während es ursprünglich vom Bundesgericht vollständig getrennt war, hat der Gesetzgeber es durch eine Novelle vom 20. Dezember 1968 zum B G über die Organisation der Bundesrechtspflege i n eine organisatorisch selbständige Abteilung des Bundesgerichts umgewandelt, die ihren Sitz weiterhin i n Luzern hat; ihre Bundesrichter werden von der Bundesversammlung separat gewählt (vgl. hinten II, 10, d).
13
Grundzüge der Sozialversicherung i n der Schweiz
743
b) Die Bundesverfassung kann jederzeit ganz oder teilweise revidiert werden. Eine Totalrevision — die erste seit 1874 — ist i n die Wege geleitet, i h r Schicksal scheint jedoch ungewiß. Lediglich zur Partialrevision sollen einige Hinweise folgen. Sie kann sowohl durch Volksanregung (Verfassungsinitiative, Volksbegehren) als auch auf Vorschlag der Bundesversammlung i n Gang kommen. Die Volksanregung erfordert zur Zeit die Unterschriften von mindestens 100.000 Stimmberechtigten 2 . Die Änderung der Verfassung ist rechtlich nur möglich, wenn sie von der Mehrheit der an der Volksabstimmung teilnehmenden Bürger (Volksmehr) und überdies von der Mehrheit der Kantone (Ständemehr) angenommen wird. Meistens beschließt die Bundesversammlung darüber, ob sie dem Volk die Annahme oder die Verwerfung eines Volksbegehrens empfiehlt. Nicht selten stellt sie einem Volksbegehren einen eigenen Vorschlag gegenüber. Das Volk hat dann über Volksbegehren und Gegenvorschlag der Bundesversammlung abzustimmen. Bundesgesetze und bestimmte weitere Erlasse, denen National- und Ständerat zugestimmt haben, unterliegen dem fakultativen Referendum. Sie sind dem Volk zur Annahme oder Verwerfung vorzulegen, wenn dies zur Zeit von 50.000 Stimmberechtigten verlangt wird. Bei der Abstimmung entscheidet das Volksmehr allein, das Ständemehr ist unbeachtlich. Die Gesetzesinitiative ist i n der Bundesverfassung nicht vorgesehen. Dies hat öfters dazu geführt, daß Stimmbürger Regelungsinhalte, die eigentlich i n ein Gesetz gehören, durch Verfassungsinitiative vorgeschlagen haben, weil eben, wie erwähnt, die Gesetzesinitiative fehlt. Sowohl Verfassungsinitiative als auch Referendum haben bei der Entstehung und Entwicklung der Bundessozialversicherung große Bedeutung gehabt. Darauf w i r d noch zurückzukommen sein. c) Jeder Kanton bzw. Halbkanton hat als Gliedstaat seine eigene Verfassung, die man Kantonsverfassung nennt, ferner ein Parlament, das meistens Kantonsrat oder Großer Rat heißt, eine Regierung m i t Verwaltung und endlich eigene Gerichte. Für die Gesetzgebung ist vielfach das obligatorische, sonst das fakultative Referendum vorgesehen. Das Bundesgericht kann prüfen, ob kantonale Erlasse gegen Bundesrecht verstoßen (Bundesrecht bricht kantonales Recht). B V 113 2 Den Frauen sind die politischen Rechte (das Frauenstimmrecht) auf Bundesebene erst i n der Volksabstimmung v o m 7. Februar 1971 durch eine entsprechende Ergänzung der Bundesverfassung eingeräumt worden. Das Frauenstimmrecht ist beinahe i n allen, aber doch nicht i n allen Kantonen ebenfalls v e r w i r k l i c h t . I m K a n t o n Graubünden zählt man überdies noch r u n d 60 Gemeinden, i n welchen es noch nicht eingeführt worden ist. Dort könnte eine Schweizerin nicht M i t g l i e d des Gemeindevorstandes, aber ζ. B. M i t g l i e d des Bundesrates oder des Bundesgerichts werden. Vgl. Maurer, SZS 1979, S. 188.
74
Landesbericht Schweiz
14
Abs. 3 versagt dem Bundesgericht jedoch die Kompetenz, „die von der Bundesversammlung erlassenen Gesetze und allgemeinverbindlichen Beschlüsse sowie die von ihr genehmigten Staatsverträge" auf ihre Verfassungsmäßigkeit h i n zu untersuchen und allenfalls als nicht anwendbar zu erklären oder gar zu kassieren. d) Man kann den Bund i m Hinblick auf die moderne Staatsrechtslehre als Rechtsstaat bezeichnen, der in demokratischer und sozialer Hinsicht stark ausgebaut ist. A n sich herrscht gemäß B V 31 Abs. 1 der Grundsatz der Handels- und Gewerbefreiheit, d. h. der freien Marktwirtschaft; der Bund kann ihn jedoch einschränken, wenn die i n B V 31 bis Abs. 2 - 5 umschriebenen Voraussetzungen erfüllt sind. Eine ausdrückliche Sozialstaatsklausel, etwa entsprechend Art. 20 i n Verbindung m i t A r t . 28 des deutschen Grundgesetzes, fehlt i n der Bundesverfassung. Die Meinungen darüber, ob sie heute gleichwohl zu deren Leitgrundsätzen gehöre, gehen auseinander 3 . Immerhin darf man den Bund wohl unbedenklich als sozialen und demokratischen Rechtsstaat charakterisieren 4 . I I . Skizzierung der Bundessozialversicherung nach geltendem Recht
1. Begriffliches a) W i l l man eine Geschichte der Bundessozialversicherung schreiben, so empfiehlt es sich, zuerst einmal deren Begriff zu klären. Er ist nämlich kontrovers, und zwar vor allem i n folgenden Fragen: Kann ein Sicherungssystem der Sozialversicherung zugeordnet werden, wenn es ausschließlich durch öffentliche M i t t e l finanziert wird, wie ζ. B. bei der Militärversicherung? Sind Versicherungsverhältnisse, die durch privatrechtlichen Versicherungsvertrag geregelt werden — besonders wenn er unter das Versicherungsvertragsgesetz fällt — von der Sozialversicherung auszunehmen? Sollen ihr nur Versicherungsverhältnisse zugerechnet werden, die i n die Zuständigkeit der Sozialversicherungsgerichte fallen 5 ? b) I n den letzten Jahren hat sich die Auffassung gefestigt, daß nur öffentlich-rechtlich geregelte Versicherungsverhältnisse zur Sozialversicherung gehören. Der Bund hat ihr Rechnung getragen, indem er durch die bereits erwähnte Novelle vom 20. Dezember 1968 zum OG das 3 Dafür Peter Saladin, Grundrechte i m Wandel, 2. Aufl., S. 241; dagegen Peter Gysi, Die sozialpolitische Begrenzung der Handels- u n d Gewerbefreiheit i n ihrer Bedeutung f ü r den schweizerischen Rechtsstaat, Zürcher Dissertation, 1977, S. 112 u n d 121. Vgl. f ü r das deutsche Recht ζ. B. Wannagat, L e h r buch, S. 171 ff. 4 Näheres zu diesem Begriff bei Gysi, A n m . 3, S. 35 ff. u n d 61 f. 5 Maurer, Sozialversicherungsrecht nach A n m . 87.
15
Grundzüge der Sozialversicherung i n der Schweiz
74
Sozialversicherungsrecht als Verwaltungsrecht und damit als öffentliches Recht deutete: Er baute die Sozialversicherungsgerichtsbarkeit i n die Bundesverwaltungsgerichtsbarkeit ein. Es ist nicht sachgerecht, die i m Rahmen der Privatversicherung entwickelten Versicherungsbegriffe unbesehen i n der öffentlichen Versicherung zu verwenden 6 . Dies gilt namentlich für die Finanzierung. I n der Privatversicherung stehen mehrere Versicherungsgesellschaften miteinander i m Wettbewerb; sie müssen für ihre Leistungen einen Preis, nämlich die Prämie, festsetzen und von den Versicherungsnehmern verlangen, da sie j a marktwirtschaftlich organisiert und tätig sind. Die öffentliche Hand kann dagegen Versicherungsverhältnisse auch auf andere A r t finanzieren, nämlich ganz oder teilweise durch Steuern. Deshalb scheint es zutreffend, auch dann von öffentlicher Versicherung zu sprechen, wenn Versicherungsverhältnisse ausschließlich oder doch teilweise durch Beiträge der öffentlichen Hand finanziert werden. Versicherungsverhältnisse sind bereits gegeben, wenn bestimmte Punkte geregelt sind: Kreis der versicherten Personen; versicherte Risiken; Versicherungsleistungen. Nicht erforderlich ist somit für die Annahme des öffentlich-rechtlichen Versicherungsverhältnisses, daß auch Beiträge der interessierten Personen vorgeschrieben sind, da es sich bei der A r t der Finanzierung lediglich u m eine Modalität handelt 7 . Als Sozialversicherung soll jedoch eine öffentliche Versicherung nur anerkannt werden, wenn sie sog. soziale Risiken deckt. Deren Liste ist durch verschiedene internationale Abkommen, ζ. B. durch das Ubereinkommen Nr. 102 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 28. Juni 1952 aufgestellt worden und dürfte heute kaum mehr umstritten sein. Endlich liegt Sozialversicherung nur vor, wenn der Gesetzgeber dies dadurch zum Ausdruck bringt, daß er einen Zweig der Sozialversicherungsgerichtsbarkeit zuweist. M i t diesem mehr formalen Merkmal läßt sich die Sozialversicherung deutlich von zahlreichen verwandten Institutionen wie den auf privatrechtlichem Versicherungsvertrag 8 Es gibt ungezählte Definitionen des Versicherungsbegriffes; bis heute hat sich keine von ihnen allgemeine Anerkennung zu verschaffen vermocht. Auch besteht k e i n „Oberbegriff" der Versicherung, der i n gleicher Weise f ü r die P r i v a t - u n d f ü r die Sozialversicherung gilt. Vgl. Maurer, Sozialversicherungsrecht bei A n m . 92 u n d Privatversicherungsrecht, S. 115 m i t L i t e r a t u r h i n weisen. 7 Somit k a n n die öffentliche Versicherung m i t u n d ohne Beitragspflicht ausgestaltet sein. „Beitragsfreie öffentliche Versicherungen" werden i n der B R D traditionsgemäß dem Begriff der Versorgung zugewiesen. Dieser hat i n der schweizerischen L i t e r a t u r n u r einen schwachen W i d e r h a l l gefunden u n d er wurde i n der Rechtsprechung k a u m verwendet. Er scheint n u n auch i n der B R D allmählich durch andere Begriffe verdrängt zu werden. Vgl. Maurer, Sozialversicherungsrecht bei A n m . 59 u n d 57 a. — Ausdrücklich betont sei hier, daß der Begriff der Sozialversicherung f ü r jedes L a n d besonders u n d i m m e r n u r f ü r einen bestimmten Z e i t p u n k t zu umschreiben ist.
74
16
Landesbericht Schweiz
beruhenden obligatorischen Unfall-, Kranken- und Haftpflichtversicherungen usw. abgrenzen. c) Das Bundessozialversicherungsrecht kann gegenwärtig als jener Bereich des Bundesrechts umschrieben werden, „welcher die ganze Bevölkerung oder einzelne ihrer Schichten durch Versicherungsverhältnisse, die öffentlich-rechtlich ausgestaltet sind und der Sozialversicherungsgerichtsbarkeit unterliegen, gegen soziale Risiken zu sichern bestimmt ist" 8 . Nach Maßgabe dieser Definition sind folgende Zweige der Bundessozialversicherung zuzurechnen: a) Krankenversicherung gemäß K U V G ; b) obligatorische Unfallversicherung gemäß K U V G ; c) A H V ; d) I V ; e) Ordnung der Ergänzungsleistungen zur A H V / I V ; f) Erwerbsersatzordnung; g) Arbeitslosenversicherung; h) Ordnung der Familienzulagen für landwirtschaftliche Arbeitnehmer und Kleinbauern; i) M i l i tärversicherung. M i t dieser Aufzählung ist auch das Rechtsgebiet, also der Gegenstand, festgelegt, dessen Entstehungsgeschichte hier nachgezeichnet werden soll. I n den folgenden Ziffern sind die soeben genannten Zweige der Bundessozialversicherung nach geltendem Recht m i t einigen wenigen Strichen zu skizzieren. A m gegebenen Ort werden bereits auch laufende oder geplante Revisionen erwähnt. 2. Kranken-
und Unfallversicherung
gemäß KUVG
Das BG über die Kranken- und Unfallversicherung vom 13. Juni 1911 (KUVG) ist das älteste noch geltende Sozialversicherungsgesetz. Es regelt die beiden Versicherungszweige getrennt, da diese völlig verschieden konzipiert sind. Ein erster Versuch zur Regelung mißlang dem Gesetzgeber: Die sog. „ L e x Forrer" wurde i n der Volksabstimmung vom 20. M a i 1900 verworfen. Die Gegner hatten ein Bundesobligatorium i n der Krankenversicherung abgelehnt. Das Obligatorium beider Zweige w a r auf Arbeitnehmer beschränkt, weshalb die Vorlage deutlich klassenspezifische Züge trug 9 .
8 Maurer, Sozialversicherungsrecht v o r A n m . 126 a. — Auch der Begriff des Sozialrechts oder — w o h l synonym — der Sozialgesetzgebung ist i n der Schweiz umstritten. Das Sozialversicherungsrecht dürfte der engere u n d das Sozialrecht der weitere v o n zwei konzentrischen Kreisen sein. Als Gebiete, welche dem Sozialrecht neben der Sozialversicherung zugehören, werden ζ. B. genannt: Arbeitsrecht; soziale Gewerbe- u n d Bauernhilfe; Maßnahmen zur Beschäftigungspolitik u n d Mieterschutz; Fürsorge. Vgl. Näheres bei Maurer, A n m . 6, § 1, I I I , bes. Ζ. 1 u n d 2, m i t Literaturhinweisen. I n der vorliegenden A r b e i t werden diese Rechtsgebiete n u r erwähnt, soweit sie das geschichtliche Verständnis des Sozialversicherungsrechts erleichtern u n d allenfalls dessen A b r u n d u n g dienen. 9 Vgl. hinten bei A n m . 116.
17
Grundzüge der Sozialversicherung i n der Schweiz
74
a) Krankenversicherung 10 Hinsichtlich der Krankenversicherung ist das K U V G weitgehend ein Subventions- oder Förderungsgesetz. Eine Krankenkasse, die Subventionen des Bundes begehrt, kann sich beim Bundesrat um die Anerkennung bewerben. Er spricht diese aus, wenn sich die Kasse darüber ausweist, daß sie sämtliche i m K U V G und i n den Ausführungserlassen umschriebenen Mindestanforderungen erfüllt. M i t der Anerkennung ist sie automatisch dem K U V G und den Ausführungserlassen unterstellt. I n dieser Spezialgesetzgebung sind die verschiedensten Bereiche der Krankenversicherung mehr oder weniger einläßlich geregelt, ζ. B. der Kreis der Versicherten, das Arzt- und Spitalrecht, das Leistungsrecht, die Freizügigkeit und die Rechtspflege. Immerhin verbleibt den Kassen eine weitgespannte Autonomie: zahlreiche Fragen dürfen sie i n ihren Statuten und Reglementen ordnen. Sowohl öffentliche Krankenkassen, d.h. solche von Kantonen oder Gemeinden, als auch private Kassen können die Anerkennung erlangen, die letzteren jedoch nur, wenn sie i n die privatrechtlichen Formen eines Vereins, einer Genossenschaft oder einer Stiftung gekleidet sind. Auch sie besitzen seit der Revision des K U V G vom 13. März 1964 hoheitliche Gewalt: Sie haben — wie die öffentliche Verwaltung selbst — die Befugnis, durch einseitige Verfügung Rechte und Pflichten i m konkreten Fall zu bestimmen; die Verfügung erwächst wie ein Gerichtsurteil in formelle Rechtskraft, wenn sie nicht gerichtlich aufgehoben wird. Das K U V G ermächtigt nur die Kantone, nicht aber den Bund, die Krankenversicherung für die ganze Bevölkerung oder für einzelne ihrer Teile obligatorisch zu erklären. Die Kantone können diese Kompetenz auf die Gemeinden übertragen. Die beschriebene Regelung hat zu einer kunterbunten Ordnung geführt: I n einzelnen Kantonen besteht keinerlei Obligatorium, i n anderen fällt beinahe die ganze Bevölkerung darunter, und dazwischen liegen zahlreiche Kantone m i t einem Teilobligatorium, das meistens Personen m i t geringem Einkommen erfaßt. Obwohl nur etwa 25 °/o der schweizerischen Bevölkerung unter ein Obligatorium fallen, waren 1976 rund 94 % von ihr bei einer Krankenkasse versichert. Grundsätzlich ist die Krankenversicherung eine Individualversicherung. Daneben räumt das K U V G seit der Revision von 1964 auch die Möglichkeit zu einer Kollektivversicherung ein: es kann ζ. B. ein Arbeitgeber sein Personal kollektiv gegen Krankheit versichern.
10 Bigler-Eggenberger, Soziale Sicherung, S. 142; Maurer, Grundriß, S. 3 ff.; Pfluger, K a r t o t h e k ; Saxer, Die soziale Sicherheit, S. 116 ff.; SJK, K a r t e n Krankenversicherung.
74
Landesbericht Schweiz
18
Die Krankenkassen haben das Krankheitsrisiko zu versichern. Es steht ihnen frei, daneben auch eine Unfallversicherung m i t begrenzten Leistungen — ohne Rentenversicherung für Tod und Invalidität — zu betreiben. Der Krankheit gleichgestellt ist die Mutterschaft, da i n der Schweiz noch keine besondere Mutterschaftsversicherung eingeführt worden ist. Das K U V G bestimmt die Mindestleistungen. Die Kassen müssen Leistungen für Krankenpflege oder ein Krankengeld versichern. Sie pflegen durch ihre Statuten und Reglemente i n mancher Hinsicht über die Pflichtleistungen hinaus gegen Mehrprämien zusätzliche Leistungen zu gewähren. Die Krankenversicherung w i r d i n erster Linie durch die Beiträge der Versicherten und darüber hinaus durch Zuschüsse der öffentlichen Hand, vorab des Bundes, finanziert. Streitigkeiten zwischen Versicherten und den Krankenkassen werden seit der Revision von 1964 zur Hauptsache erstinstanzlich durch die kantonalen Versicherungsgerichte und zweitinstanzlich durch das Eidg. Versicherungsgericht entschieden. Seit der bereits erwähnten, einschneidenden Revision des K U V G vom 13. März 1964 sind mehrere Versuche zum Aus- und Umbau der Krankenversicherung gescheitert. Gegenwärtig arbeitet das Eidg. Departement des Innern an Verbesserungen innerhalb des geltenden Systems. I m November 1978 hat es zu diesem Zweck einen „Bericht und Entw u r f " zur „Teilrevision der Krankenversicherung" veröffentlicht. I m Jahre 1960 gab es noch mehr als 1.000 anerkannte Krankenkassen, 1977 nur noch 548. Dieser Schrumpfungsprozeß — vorwiegend kleine Kassen fallen i h m zum Opfer — kann wohl darauf zurückgeführt werden, daß das Krankenkassenwesen komplizierter und die Finanzierung immer schwieriger wird. b) Unfallversicherung 11 Für die Durchführung der Unfallversicherung sieht das K U V G einen einzigen Versicherungsträger, nämlich die SUVA, vor. Sie hat eine weitgehende Selbstverwaltung durch die beteiligten Arbeitgeber und Arbeitnehmer, einen eigenen Verwaltungsrat und das Recht der Persönlichkeit. Zahlreiche A r t e n von Betrieben, ζ. B. Fabriken, Transportanstalten usw., müssen i h r unterstellt sein. Arbeitnehmer solcher Betriebe sind automatisch gegen Betriebs- und Nichtbetriebsunfälle sowie für bestimmte Arten von beruflichen Erkrankungen versichert. Es han11 Maurer, Recht u n d Praxis; derselbe, Grundriß, S. 56 ff.; Saxer, Die soziale Sicherheit, S. 147; SJK, K a r t e n Unfallversicherung.
19
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Grundzüge der Sozialversicherung i n der Schweiz
delt sich u m ein „Klassengesetz", da nur Arbeitnehmer erfaßt sind 1 2 . Das K U V G regelt die Leistungen — sie sind gut ausgebaut: Krankenpflege, Krankengeld, Invaliden- und Hinterlassenenrenten usw. — abschließend, schreibt also nicht nur Minimalleistungen vor wie für die Krankenversicherung. Die Finanzierung erfolgt durch Prämien. Diese werden für die Betriebsunfälle von den Arbeitgebern und für die Nichtbetriebsunfälle von den Arbeitnehmern, d. h. von den Versicherten, getragen. Die öffentliche Hand gewährt keine Zuschüsse. Für die Beurteilung von Streitigkeiten aus der Versicherung sind i n erster Instanz vorwiegend die kantonalen Versicherungsgerichte zuständig, deren Entscheidungen an das Eidg. Versicherungsgericht weitergezogen werden können. Das K U V G ist hinsichtlich der Unfallversicherung zwar öfters, aber nie grundlegend geändert worden. Gegenwärtig liegt eine Vorlage für eine Totalrevision zur Beratung bei der Bundesversammlung. Einer der Hauptpunkte ist die Ausdehnung der obligatorischen Versicherung auf sämtliche Arbeitnehmer, da bis dahin nur etwa zwei Drittel unter die Pflichtversicherimg fielen. Die Vorlage sieht überdies vor, daß die Kranken« und die Unfallversicherung fortan i n zwei separaten Gesetzen geordnet werden. Private Versicherungsgesellschaften und Krankenkassen sollen ermächtigt werden, i m Rahmen des erweiterten Obligatoriums als Versicherungsträger zu wirken. 3. Alters- und Hinterlassenenv er Sicherung (AHV)
1S
Ein von den eidgenössischen Räten am 17. Juni 1931 angenommenes BG über die A H V , die „Lex Schulthess", ist i n der Volksabstimmung vom 6. Dezember 1931 verworfen worden. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg kam das heute noch geltende B G über die A H V vom 20. Dezember 1946 zustande: Die Stimmberechtigten nahmen es i n der Abstimmung vom 6. J u l i 1947 m i t überwältigender Mehrheit an. Es trat am 1. Januar 1948 i n Kraft. Seither ist es durch neun numerierte und mehrere nichtnumerierte Revisionen geändert worden. Lediglich einmal wurde das Referendum ergriffen, nämlich gegen die 9. AHV-Revision: Das Volk stimmte ihr am 26. Februar 1978 zu. Die A H V — das größte Sozialwerk der Schweiz — w i r d i n erster Linie von den mehr als hundert Ausgleichskassen durchgeführt, die 12 Die A r t . 115-119, die eine freiwillige Versicherung vorsehen, sind nie i n K r a f t gesetzt worden. Es können sich daher auch die Inhaber versicherter Betriebe nicht f r e i w i l l i g bei der S U V A versichern: Maurer, Recht u n d Praxis, S. 22 u n d S. 59; unzutreffend Bigler-Eggenberger, Soziale Sicherung, S. 160. 13 Bigler-Eggenberger, Soziale Sicherung, S. 100; Maurer, Grundriß, S. 109ff.; derselbe, Alterssicherung der Frau, SZS 1979, S. 187 ff.; Saxer, Die soziale Sicherheit, S. 23 ff.; SJK, K a r t e n A H V .
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während des Zweiten Weltkrieges i m Hinblick auf die Lohn- und Verdienstersatzordnung für Wehrmänner errichtet worden sind. Es bestehen gegen 80 Verbandsausgleichskassen, d. h. Kassen, die von Berufsverbänden der Arbeitgeber und Selbständigerwerbenden gegründet worden sind, ferner 26 Ausgleichskassen der Kantone und zwei Ausgleichskassen des Bundes. Ausgleichskassen sind öffentlich-rechtliche Anstalten. Sie haben Beiträge der Arbeitgeber und der Versicherten einzuziehen sowie die Leistungen zu entrichten. Der Zentralen Ausgleichsstelle i n Genf obliegen der Rechnungsausgleich zwischen den Ausgleichskassen und die Führung des Zentralregisters der Versicherten und Rentner. Der endgültige finanzielle Ausgleich geschieht durch den m i t eigener Rechtspersönlichkeit ausgestatteten Ausgleichsfonds der A H V . Er stellt zudem eine kollektive Sicherheitsreserve, den Schwankungsfonds der A H V , dar. Diese w i r d grundsätzlich nach dem Umlageverfahren finanziert. Die A H V ist eine Volksversicherung, die die ganze Wohnbevölkerung einschließt. Schweizer i m Ausland können ihr freiwillig beitreten. Die A H V gewährt Renten — i n bestimmten Fällen Abfindungen — bei Tod des Versicherten an Witwe und Waisen sowie dann, wenn die Versicherten ein bestimmtes Alter erreichen. Versicherte „Risiken" sind somit Tod des Versicherten und Erreichen eines bestimmten Alters. Das Leistungssystem ist ziemlich kompliziert. Dazu einige Hinweise. Ordentliche Renten werden entrichtet, wenn mindestens während eines vollen Jahres Beiträge bezahlt worden sind. Andernfalls kommen nur außerordentliche Renten i n Betracht. Sie setzen i n der Regel Bedürftigkeit voraus. Ihre Bedeutung ist heute nicht mehr groß. Die ordentlichen Renten sind entweder Voll- oder Teilrenten. Vollrenten sind zu gewähren, wenn die Versicherten ihre Beitragspflicht seit dem 20. A l tersjahr bzw. seit Einführung der A H V i m Jahre 1948 erfüllt haben. Bei fehlenden Beitrags]ahren, die man Beitragslücken nennt, sind lediglich Teilrenten zu entrichten. Sie werden nach einer vereinfachten pro-rata-temporis-Methode berechnet. Die Grundlage unseres Rentensystems bilden die einfachen Altersrenten (ordentliche Vollrenten). Alleinstehende Frauen bekommen sie, wenn sie das 62., und Männer, wenn sie das 65. Altersjahr zurückgelegt haben. Die Höchstrente ist zur Zeit doppelt so hoch wie die Mindestrente (ab 1.1.1980: 1.100 Fr./550 Fr. monatlich). Maßgebend für die Rentenhöhe ist das durchschnittliche Jahreseinkommen, auf welchem während der Dauer der Beitragspflicht Beiträge bezahlt worden sind. So erreichte ζ. B. i m Jahre 1979 die Höchstrente bereits, wer seine Beiträge auf einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von rund 16.500 Fr. bezahlt hatte. Neben der einfachen Altersrente gibt es die Ehepaar-Altersrente. Anspruch auf sie
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Grundzüge der Sozialversicherung i n der Schweiz
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besteht, sobald der Ehemann das 65. Altersjahr und seine Frau das 62. Altersjahr vollendet hat oder zur Hälfte invalid ist. Die EhepaarAltersrente beträgt 150 °/o der einfachen Altersrente. Die Ehefrau kann verlangen, daß ihr die Hälfte direkt ausbezahlt wird. Ist sie schon 55, aber noch nicht 62 Jahre alt, kann i h r Mann neben seiner einfachen Altersrente eine Zusatzrente beanspruchen. Altersrentner, die noch minderjährige Kinder haben, bekommen unter bestimmten Voraussetzungen zusätzlich zu ihren Altersrenten Kinderrenten. A n hilflose Altersrentner ist eine monatliche Hilflosenentschädigung zu bezahlen. Altersrentner haben schließlich Anspruch auf Hilfsmittel, sofern sie solcher für die Fortbewegung, für die Herstellung des Kontaktes m i t der Umwelt usw. bedürfen. Auch die Hinterlassenenrenten werden auf der Grundlage der einfachen Altersrente bemessen. So beträgt die Witwenrente 80 °/o, die einfache Waisenrente 40 °/o und die Vollwaisenrente 60 °/o der maßgeblichen einfachen Altersrente. Kinderlose Witwen können nur unter bestimmten Voraussetzungen Renten, andernfalls lediglich eine Abfindung verlangen, die zur Zeit i m Maximum etwas über 50.000 Fr. beträgt. Bei der Berechnung der Ehepaar-Altersrente oder einer Hinterlassenenrente ist zwar auf das durchschnittliche Jahreseinkommen des Ehemannes abzustellen; zur Erhöhung des Jahresdurchschnittes w i r d aber ein allfälliges Erwerbseinkommen der Ehefrau, auf welchem vor oder während der Ehe Beiträge entrichtet worden sind, dem Einkommen des Ehemannes hinzugezählt. — Die Renten sind seit 1. Januar 1979 teilweise dynamisiert. Sie werden an die Entwicklung der Preise, also in der Regel an die Teuerung und darüber hinaus teilweise an die Entwicklung der Löhne angepaßt (Bindung an einen Mischindex). Die A H V w i r d durch Beiträge der Arbeitgeber und der Versicherten, durch Zuschüsse des Bundes und der Kantone und endlich durch die Erträgnisse des Ausgleichsfonds finanziert. Die Beiträge der Unselbständigerwerbenden, d. h. der Lohnbezüger, werden i n Prozenten des ausbezahlten Lohnes festgesetzt und je zur Hälfte vom Arbeitgeber und und Arbeitnehmer getragen 14 . Für die Selbständigerwerbenden und die Nichterwerbstätigen gilt eine besondere Beitragsregelung. Erwerbstätige Altersrentner haben seit dem 1. Januar 1979 unter bestimmten Voraussetzungen ebenfalls Beiträge zu bezahlen. Die ordentlichen Ren14 Die Beitragssätze f ü r Arbeitgeber u n d Arbeitnehmer zusammen sind zur Zeit (1. 9.1979) w i e folgt festgelegt (in K l a m m e r n jene f ü r Selbständigerwerbende) : A H V 8,4% (7,8%) IV 1,0% (1,0%) EO 0,6% (0,6%)
Zusammen
10,0 %
(9,4%)
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ten werden unabhängig davon entrichtet, ob der Rentner noch verdient oder nicht und ob er bedürftig sei oder nicht. Eine Eigentümlichkeit des schweizerischen Beitragssystems mag hier noch hervorgehoben werden: Das Erwerbseinkommen ist ohne obere Begrenzung der Beitragspflicht unterworfen, somit auch auf Einkommensteilen, welche die Rentenhöhe nicht mehr beeinflussen. Man nennt Beiträge auf ihnen — etwas vereinfacht ausgedrückt — Solidaritätsbeiträge zugunsten der Versicherten m i t geringerem Einkommen. Dieses System hat es ermöglicht, einerseits die Renten relativ hoch anzusetzen und andererseits die Beitragssätze eher tief zu halten. Versicherungsstreitigkeiten aus der A H V werden erstinstanzlich durch kantonale Rekursbehörden — es sind dies Gerichte — und i n oberer Instanz vom EVG beurteilt. Die zehnte AHV-Revision ist bereits i n Vorbereitung. Sie w i r d sich u. a. m i t der Stellung der Frau i n der A H V sowie m i t der flexiblen Altersgrenze befassen. 4. Invalidenversicherung
(IV)
15
M i t dem B G über die Invalidenversicherung vom 19. Juni 1959, in K r a f t seit 1. Januar 1960, ist die letzte große Lücke i m System der sozialen Sicherung geschlossen worden. Die I V ist organisatorisch und strukturell eng m i t der A H V verbunden. Sie w i r d durch die Organe der A H V durchgeführt. Als besondere Organe weist sie die I V - K o m missionen und die Regionalstellen auf. Die IV-Kommissionen haben vor allem die Eingliederungsfähigkeit des Versicherten abzuklären, nötigenfalls einen Gesamtplan für die Eingliederung zu erstellen, die Durchführung der Eingliederungsmaßnahmen zu überwachen sowie die Invalidität und die Hilflosigkeit zu bemessen. Verfügungen haben freilich nicht sie, sondern die zuständige Ausgleichskasse zu erlassen. Die Regionalstelle ist ein Fachorgan, das auf Anordnung der IV-Kommission i m Hinblick auf die Eingliederung tätig w i r d und den Kontakt m i t dem Invaliden pflegt. Der Kreis der Versicherten ist i n der I V identisch m i t jenem der A H V . Versichertes Risiko ist die Invalidität. Sie w i r d bei Erwerbstätigen als Erwerbsunfähigkeit und bei Nichterwerbstätigen — Hausfrauen usw. — als Arbeitsunfähigkeit verstanden, indem „die Unmöglichkeit, sich i m bisherigen Aufgabenbereich zu betätigen, der Erwerbsunfähigkeit gleichgestellt" ist (IVG 5 Abs. 1).
15 Bigler-Eggenberger, Soziale Sicherung, S. 119; Maurer, Grundriß, S. 150 ff.; Saxer, Die soziale Sicherheit, S. 64 ff.; SJK, K a r t e n Invalidenversicherung.
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Grundzüge der Sozialversicherung i n der Schweiz
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Die I V erbringt zwei Gruppen von Leistungen: einerseits Maßnahmen für die Eingliederung der Invaliden ins Erwerbsleben und andererseits Renten, denen auch die Hilflosenentschädigungen zuzurechnen sind. Dabei gilt der Fundamentalsatz, daß die Eingliederung den Vorrang vor der Rente hat. Nur wenn die Eingliederung nicht oder doch nicht genügend zum Ziele führt oder von vornherein aussichtslos erscheint, sind Renten zu gewähren. Die Eingliederungsmaßnahmen werden i n fünf Kategorien eingeteilt: medizinische Maßnahmen 1 6 ; Maßnahmen beruflicher A r t (ζ. B. Umschulung und Arbeitsvermittlung) ; Maßnahmen für die Sonderschulung und die Betreuung hilfloser Minderjähriger; Abgabe von Hilfsmitteln; Ausrichtung von Taggeldern während der Zeit der Eingliederung. Anspruch auf eine Rente besteht nur bei qualifizierter Invalidität, nämlich auf eine halbe Rente, wenn die Invalidität mindestens 50 °/o beträgt — i n sogenannten Härtefällen schon bei einem Drittel —, und auf eine ganze Rente, wenn der Versicherte mindestens zu zwei Dritteln invalid ist. Die Invalidenrenten entsprechen den Altersrenten, d. h. die einfache Invalidenrente der einfachen Altersrente und die Ehepaar-Invalidenrente der Ehepaar-Altersrente. Für jüngere Invalide w i r d ein Zuschlag gewährt. Ebenfalls sind unter bestimmten Voraussetzungen Zusatzrenten für die Ehefrau und Kinderrenten sowie bei Hilflosigkeit des Invaliden Hilflosenentschädigungen zu entrichten. Die Finanzierung der I V erfolgt — m i t geringfügigen Abweichungen — nach den gleichen Grundsätzen wie jene der A H V . Auch für die Rechtspflege gelten die Bestimmungen des A H V G sinngemäß. 5. Ordnung der Ergänzungsleistungen
zur AHV UV (EL) 17
A m 1. Januar 1966 ist das BG über Ergänzungsleistungen zur A H V / I V vom 19. März 1965 i n K r a f t getreten. Nach ihm gewährt der Bund den Kantonen Subventionen, wenn sie jenen AHV/IV-Rentnern, die bestimmte Einkommens- und Vermögensgrenzen nicht erreichen, Ergänzungsleistungen entrichten. M i t diesen Bedürftigkeitsrenten soll sichergestellt werden, daß den Rentnern durch die AHV/IV-Renten und Ergänzungsleistungen zusammen ein existenzsicherndes Einkommen zufließt. Die Institution verliert rasch an Bedeutung, da wenigstens die ordentlichen Vollrenten seit der 8. AHV-Revision meistens existenzsichernd sind. M i t dieser Revision wurden die Renten i n zwei Stufen, nämlich ab 1. Januar 1973 bzw. 1975, mehr als verdoppelt. 16 Nach I V G 13 haben minderjährige Versicherte Anspruch auf die zur Behandlung von Geburtsgebrechen notwendigen medizinischen Maßnahmen. I n der V O v o m 20. Oktober 1971 werden die Geburtsgebrechen bezeichnet, f ü r welche solche Maßnahmen gewährt werden können. 17 Maurer, Grundriß, S. 149 f.; Saxer, Die soziale Sicherheit, S. 90 ff.; SJK, Karte Alters- u n d Hinterlassenenfürsorge.
48 S o z i a l v e r s i c h e r u n g
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6. Erwerbsersatzordnung
24
(EO) 18
Das B G über die Erwerbsersatzordnung für Wehr- und Zivilschutzpflichtige, in der Fassung vom 3. Oktober 1975, räumt Männern und Frauen, die ihren M i l i t ä r - oder Zivilschutzdienst leisten, einen A n spruch auf bestimmte Entschädigungen ein, ζ. B. Haushaltungsentschädigungen für Verheiratete, Entschädigung für Alleinstehende, ferner Kinderzulagen und selbst Entschädigungen an Nichterwerbstätige wie etwa Studenten. Die Leistungen werden durch Beiträge finanziert, die grundsätzlich von den i n der A H V Beitragspflichtigen erhoben werden. Die öffentliche Hand gewährt keine Zuschüsse. Die Durchführung der EO obliegt zur Hauptsache den Organen der A H V . Auch sind die Bestimmungen des A H V G betreffend die Rechtspflege sinngemäß anwendbar. 7. Arbeitslosenversicherung
(AlV)
19
Das B G über die Arbeitslosenversicherung vom 22. Juni 1951 hat weitgehend die Regelung übernommen, die sich bereits i m bundesrätlichen Vollmachtenbeschluß vom 14. J u l i 1942 vorfindet. Es erwies sich bei Einbruch der Rezession i m Jahre 1975 besonders deshalb als unzureichend, weil es kein Bundesobligatorium vorsah. A m 13. Juni 1976 haben Volk und Stände den neuen B V 34 novies angenommen: Darin w i r d die Arbeitslosenversicherung von Bundes wegen für Arbeitnehmer obligatorisch erklärt. Angesichts der ungewissen wirtschaftlichen Entwicklung hat die Bundesversammlung durch Bundesbeschluß vom 8. Oktober 1976 über die Einführung der obligatorischen Arbeitslosenversicherung die sog. Übergangsordnung beschlossen, die auf fünf Jahre begrenzt ist und spätestens am 1. A p r i l 1982 ausläuft, da bis dahin ein neues Gesetz über die Arbeitslosenversicherung vorliegen soll. Eine bundesrätliche Verordnung regelt die Einzelheiten. Nach der Übergangsordnung sind die bestehenden, anerkannten Arbeitslosenversicherungskassen weiterhin zuständig, die Leistungen an die Arbeitslosen auszurichten. Hingegen haben nunmehr die AHV-Ausgleichskassen die Beiträge einzuziehen, die von den Arbeitgebern und Arbeitnehmern geschuldet werden (zur Zeit, d.h. 1.1.1980: 0,8%). Maßgebend ist der Lohn i m Sinne der AHV-Gesetzgebung; i m Gegensatz zu dieser w i r d er aber nur bis zum Höchstbetrag von 46.800 Fr. jährlich der Beitragspflicht unterworfen. Das erwähnte B G ist teilweise weiterhin anwendbar, so ζ. B. i m Bereiche der Leistungen, i n Verfahrensfragen, hinsichtlich der Arbeitsvermittlung durch die kantonalen Arbeitsämter usw. 20 . 18 Saxer, Die soziale Sicherheit, S. 219 ff.; SJK, K a r t e n Erwerbsersatzordnung. 19 Holzer, K o m m e n t a r ; Saxer, Die soziale Sicherheit, S. 208 ff.; SJK, E r satzkarte Arbeitslosenversicherung; Tschudi, Sozialversicherungsrevisionen, SZS 1977, S. 184 ff.
25
Grundzüge der Sozialversicherung i n der Schweiz
8. Familienzulageordnung
755
(FLO) 21
M i t dem BG über die Familienzulagen für landwirtschaftliche Arbeitnehmer und Kleinbauern — so lautet der heute geltende Titel — vom 20. Juni 1952, das letztmals am 14. Dezember 1973 geändert worden ist, wurde die Ordnung weitgehend übernommen, die der Bundesrat während des Krieges durch Vollmachtenbeschluß geschaffen hat. Eine Ausdehnung ist immerhin insoweit erfolgt, als durch Gesetzesrevision vom 16. März 1962 zusätzlich zu den Bergbauern die selbständigen Kleinbauern des Unterlandes i n die Regelung eingeschlossen worden sind. Gewährt werden Haushalts- und Kinderzulagen. Es hat sich gezeigt, daß kein dringendes Bedürfnis nach einem Bundesgesetz besteht, welches ζ. B. sämtliche Arbeitnehmer, also nicht nur jene i m Gebiete der Landwirtschaft, einer eidgenössischen Familienzulagenordnung unterstellen würde; denn sämtliche Kantone haben i n der Zeit von 1943 bis 1963 bereits Kinderzulagen-Gesetze erlassen. Die FLO w i r d teilweise durch Beiträge der Arbeitnehmer und Arbeitgeber, teilweise durch Subventionen finanziert und durch die kantonalen AHV-Ausgleichskassen durchgeführt 22 . 9. Militärv er Sicherung (MV)
23
Das BG über die Militärversicherung vom 20. September 1949 ist zwar verschiedentlich geändert worden, es gilt grundsätzlich aber nach wie vor. Es deckt Personen, die M i l i t ä r - und Zivilschutzdienst leisten, gegen Unfall und Krankheit, i n bestimmten Ausnahmefällen lediglich gegen Unfall. Die Leistungen sind ähnlich jenen i n der obligatorischen Unfallversicherung, also stark ausgebaut. Der Bund finanziert die M i l i t ä r versicherung vollständig aus öffentlichen Mitteln, und zwar nach dem Umlageverfahren. Das Bundesamt für Militärversicherung ist für die Durchführung zuständig. Es sind von 1972 - 1976 verschiedene Anstrengungen unternommen worden, das Gesetz vollständig zu revidieren. A l l e i n der Gedanke einer Total- oder auch nur einer Teilrevision w i r d einstweilen nicht weiterverfolgt 2 4 .
20
Weiteres zu dieser komplizierten Regelung SJK, Ersatzkarte Nr. 1147. Saxer, Die soziale Sicherheit, S. 195 ff.; Schaeppi, Kinderzulagen, S. 37 ff. u n d 45 ff.; Vasella, SZS 1971, S. 127; Tschudi, SZS 1977, S. 191 f. 22 Vgl. auch Maurer, Sozialversicherungsrecht bei A n m . 169 u n d 181 f. 23 Saxer, Die soziale Sicherheit, S. 231 ff.; Jean Bassegoda, 75 Jahre M i l i t ä r versicherung, Bern 1976; Schatz, K o m m e n t a r ; SJK, K a r t e n Militärversicherung. 24 Maurer, Sozialversicherungsrecht bei A n m . 179 u n d 538 a. 21
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10. Rechtspflege
26
25
a) Die Regelung der Rechtspflege ist stark zersplittert und schwer überschaubar. Bestimmungen finden sich vornehmlich i n den Sozialversicherungsgesetzen selbst, ferner i m BG über das Verwaltungsverfahren vom 20. Dezember 1968 (VwG oder VwVG), i m BG über die Organisation der Bundesrechtspflege i n der Fassung vom 20. Dezember 1968 (OG) sowie i n kantonalen Erlassen, m i t denen Rechtspflegeinstanzen und das Verfahren vor ihnen festgelegt werden. I m folgenden sollen lediglich wenige Einzelheiten genannt werden. b) Die verschiedenen Sozialversicherungsgesetze bestimmen, daß die Kantone als erstinstanzliches Gericht ζ. B. je ein Versicherungsgericht — für die Unfall-, Kranken- und Militärversicherung — und je eine Rekurskommission — für die A H V und die ihr angegliederten Zweige wie EL, EO, FLO usw. — zu errichten haben, wobei sie befugt sind, die Rechtsprechung i n einem einzigen Gericht zusammenzufassen, wie dies einzelne Kantone denn auch getan haben. Der Bund selbst hat lediglich ein erstinstanzliches Gericht geschaffen, nämlich die Eidg. Rekursbehörde für i m Ausland wohnende Personen gemäß A H V G 84 II. Die Sozialversicherungsgesetze schreiben den Kantonen i n verschiedenen Punkten vor, wie sie ihr Verfahrensrecht für die kantonalen Sozialversicherungsgerichte auszugestalten haben, um eine weitgehend einheitliche Verwirklichung des Sozialversicherungsrechts zu gewährleisten. Die Sozialversicherungsgerichte sind Organe der Verwaltungsgerichtsbarkeit, da sie Streitigkeiten aus Bundesverwaltungsgesetzen, nämlich aus den Sozialversicherungsgesetzen, zu beurteilen haben. c) Das V w G regelt einmal das Verfügungs- oder Verwaltungsverfahren, nämlich das Entstehen und den Erlaß von Verfügungen — diese werden i n der BRD meistens als Verwaltungsakte bezeichnet — und sodann das Beschwerdeverfahren, d. h. die Anfechtung solcher Verfügungen bei übergeordneten Verwaltungsstellen. A l l e i n das V w G gilt nicht für alle Sozialversicherungsträger, die zu verfügen haben. Überdies hebt es Verfahrensbestimmungen i n Sozialversicherungsgesetzen auf, soweit sie i h m widersprechen. N u r wenige seiner Bestimmungen sind auf die kantonalen Versicherungsgerichte anwendbar. Das V w G kompliziert daher für die Sozialversicherung das Verfahrensrecht i n mehrfacher Hinsicht. d) Entscheidungen der erstinstanzlichen Sozialversicherungsgerichte können i n der Regel an das Eidg. Versicherungsgericht (EVG) i n Luzern weitergezogen werden. Dieses ist aufgrund des K U V G vom 13. Juni 1911 als selbständiges Gericht, also neben dem Bundesgericht i n Lausanne, 25
Maurer, Sozialversicherungsrecht, §§ 22 - 25 m i t Literaturhinweisen.
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Grundzüge der Sozialversicherung i n der Schweiz
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geschaffen worden. Das Verfahren wurde durch einen Bundesbeschluß geregelt. Die mehrfach erwähnte Novelle zum OG vom 20. Dezember 1968 bezeichnet das EVG nunmehr „als organisatorisch selbständige Sozialversicherungsabteilung des Bundesgerichts", m i t Sitz i n Luzern, und integriert es zur Hauptsache i n die Bundesverwaltungsgerichtsbarkeit. Das EVG besteht zur Zeit aus 7 vollamtlichen Bundesrichtern 26 und 9 nebenamtlichen Ersatzrichtern sowie aus insgesamt 13 Gerichtsschreibern und Sekretären, welche die Urteile zu verfassen haben 27 . Z u seiner Kognitionsbefugnis gehört die Prüfung, ob Bundesrecht verletzt ist (revisio i n iure); soweit es sich jedoch um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen handelt, darf das EVG den Sachverhalt und die Angemessenheit frei überprüfen.
26
I h r e Z a h l soll demnächst auf 9 erhöht werden. I m Gegensatz zu den obersten Gerichten i n der B R D redigieren die schweizerischen Bundesrichter die Urteile nicht selbst. Die A n z a h l der Gerichtsschreiber u n d Sekretäre soll demnächst auf insgesamt 23 erhöht w e r den. Der Bundesrat hat der Bundesversammlung bereits eine entsprechende Botschaft zugeleitet. 27
Zweiter
Abschnitt
Entstehung und Entwicklung der Sozialversicherung im schweizerischen Bundesstaat A. Von der Gründung des Bundesstaates bis zum Ende des Ersten Weltkrieges (1848 - 1918) I. Die Bundesverfassungen von 1848 und 1874 28
1. Die Bundesverfassung
vom 12. September 1848
Nach dem Zusammenbruch des napoleonischen Kaiserreichs trat die Schweiz aus dem französischen Protektoratsverhältnis heraus. Die Kantone einigten sich auf den Bundesvertrag vom 7. August 1815, der einen Staatenbund begründete. Die Tagsatzung sollte die wenigen gemeinsamen Geschäfte führen. Von der zweiten Pariser Friedenskonferenz vom 20. November 1815 wurde die immerwährende Neutralität der Schweiz ausdrücklich anerkannt. Die französische Julirevolution von 1830 löste hier eine starke liberale Bewegung aus. Die liberalen Parteien erreichten i n der Mehrzahl der Kantone eine Verbesserung der demokratischen Rechte und strebten eine Verstärkung der Bundesgewalt an. Vorwiegend konfessionelle Streitigkeiten gaben den sieben katholischen Kantonen Veranlassung, 1845 einen „Sonderbund" zu schließen. Die Tagsatzung erzwang i m „Sonderbundskrieg" die Auflösung des „Sonderbundes" durch eidgenössische Truppen unter dem Kommando von General Dufour. Anschließend konnte die Bundesreform ungestört durchgeführt werden. A m 12. September 1848 nahmen die Kantone eine Bundesverfassung an, welche die Schweiz vom Staatenbund i n einen Bundesstaat verwandelte. 2. Ursprünglich
keine sozialpolitische Kompetenz des Bundes
Das Zweikammersystem, das dem amerikanischen Vorbild entsprach, war auf den Ausgleich zwischen zentralistischen und föderalistischen Strömungen angelegt. Die neue Verfassung gewährte jedoch dem Bund eher bescheidene Kompetenzen. Immerhin ermöglichte sie i h m die Beseitigung der Binnenzölle sowie der Weg- und Brückengelder, die Ver28 Vgl. zur geschichtlichen E n t w i c k l u n g z. B. Aubert, Traité I, S. 17 ff. u n d 34 ff.; Fleiner / Giacometti, Bundesstaatsrecht, S. 4 ff.
29
Entwicklungsprozeß der Sozialversicherung i m Bundesstaat
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einheitlichung von Maß und Gewicht und der Post. Damit waren wichtige Voraussetzungen für eine gedeihliche wirtschaftliche Entwicklung geschaffen. A u f sozialpolitischem Gebiet bekam der Bund keinerlei Kompetenzen, auch nicht solche zur Gesetzgebung über das Zivilrecht. 3. Die Bundesverfassung
vom 29. Mai 1874
Die heute so benannte Freisinnig-Demokratische Partei, die den Liberalismus vertrat, beherrschte während Jahrzehnten den Nationalrat wie den Bundesrat. Ihre Mehrheit ging erst 1919 verloren, als für den Nationalrat das Proportionalwahlverfahren eingeführt wurde. Sie strebte schon bald nach der Gründung des Bundesstaates eine Verstärkung der Zentralgewalt und die Vereinheitlichung ζ. B. des Zivilrechts an. Obschon ein erster Versuch, die Bundesverfassung von 1848 einer Totalrevision zu unterziehen, i n der Volksabstimmung von 1872 scheiterte, setzten die Bundesbehörden ihre Revisionsarbeit fort. Ein neuer Verfassungsentwurf m i t weniger zentralistischen Tendenzen wurde vom Volk am 19. A p r i l 1874 angenommen und von der Bundesversammlung als neue Bundesverfassung am 29. M a i 1874 i n K r a f t gesetzt. Z u einer weiteren Totalrevision ist es seither nicht mehr gekommen. 4. Der noch heute geltende Artikel
34
Unter den Neuerungen, welche die Bundesverfassung von 1874 brachte, seien einige wenige hervorgehoben 29 : das fakultative Gesetzesreferendum 30 ; Verankerung des Grundsatzes der Handels- und Gewerbefreiheit, der vorher bereits i n zahlreiche kantonale Verfassungen Eingang gefunden hatte; Bundeskompetenz auf dem Gebiete des Obligationenrechts, unter Einschluß des Handels- und Wechselrechts 31 , womit der Bund auch zum Erlaß haftpflichtrechtlicher Gesetze zuständig war usw. Von größter Bedeutung für die künftige Entwicklung der Sozialgesetzgebung ist der noch heute geltende A r t . 34, dessen Abs. 1 wie folgt lautet 3 2 : „Der B u n d ist befugt, einheitliche Bestimmungen über die Verwendung von K i n d e r n i n den Fabriken u n d über die Dauer der A r b e i t erwachsener Personen i n denselben aufzustellen. Ebenso ist er berechtigt, Vorschriften zum Schutze der Arbeiter gegen einen die Gesundheit u n d Sicherheit gefährdenden Gewerbebetrieb zu erlassen." 29
Zusammenstellung bei Aubert, Traité I, S. 48 ff. Das Volksinitiativrecht auf Partialrevision w u r d e erst 1891 eingeführt. 31 Die Kompetenz zur Gesetzgebung i n den übrigen Gebieten des Zivilrechts u n d des Strafrechts erhielt der B u n d erst i n der Volksabstimmung v o m 13. November 1898 durch Ä n d e r u n g des bisherigen A r t . 64 u n d Aufnahme eines neuen A r t . 64 bis B V . 32 Vgl. zur Entstehungsgeschichte Benöhr, Crise et législation sociale, S. 12 ff.; Burckhardt, Kommentar, S. 280 f.; Landmann, Arbeiterschutzgesetzgebung, S. X X V I ff. u. a. m. 30
7
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Abs. 2 unterstellte sodann den Geschäftsbetrieb (von Auswanderungsagenturen) und von „Privatunternehmungen i m Gebiete des Versicherungswesens . . . der Aufsicht und Gesetzgebung des Bundes". Wohl dient Abs. 1 i n erster Linie dem Schutz der menschlichen Gesundheit vor Gefahren und ist damit polizeilicher Natur; er enthält aber bereits die Wurzel, aus welcher später die moderne Sozialversicherung hervorgegangen ist. Für die weitere Entwicklung war auch das private Versicherungswesen wichtig; Abs. 2 hat die Grundlage für dessen gesundes Wachstum geschaffen. I I . Die Zeit von 1875 - 1890
1. Industrialisierung
und Industriearbeiter
33
a) Schon u m 1800 wurde die i n England erfundene Spinnmaschine i n der Schweiz eingeführt. Diese verdankt ihren industriellen Aufschwung i n der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts vor allem der Textilindustrie, zu der man die Baumwoll-, Seiden- und Stickereiindustrie zu zählen pflegt 34 . Weitere Wirtschaftszweige, die sich wegen der rasch fortschreitenden Mechanisierung stark entwickelten, waren die Uhrenindustrie und — i n der zweiten Hälfte des Jahrhunderts — die Maschinenindustrie sowie später die chemische Industrie. Gegen Ende des Jahrhunderts nahm auch der Export beträchtlich zu. Der gesamte Außenhandel (Ausfuhr und Einfuhr zusammen) stieg i n der Zeit von 1888 - 1913 von rund 1.500 M i l l , auf 3.300 M i l l . Franken. 1888 waren i n Industrie und Handwerk etwa 600.000, 1910 811.000 Personen tätig 3 5 . Die Industrialisierung entzog namentlich der Landwirtschaft zahlreiche Arbeitskräfte. Sie ließ eine neue Schicht der Bevölkerung entstehen, nämlich die Industriearbeiterschaft 36 , zu der man i n der Schweiz sowohl die Fabrikarbeiter als auch die Heimarbeiter rechnete.
33 Z u r umfangreichen L i t e r a t u r lediglich folgende Hinweise: Benöhr, A n m . 32, S. 2 ff.; Jean-François Bergier, Naissance et croissance de la Suisse i n dustrielle, Bern 1974; W a l t e r Bodmer, Schweizerische Industriegeschichte, Die E n t w i c k l u n g der schweizerischen Textilwirtschaft i m Rahmen der übrigen Industrien u n d Wirtschaftszweige, Zürich 1960; Heinz Dällenbach, Kantone, B u n d u n d Fabrikgesetzgebung (1853 - 1877), Berner Diss., Zürich 1961; Grobéty, L a Suisse; Gruner, Arbeiter i n der Schweiz; Hauser, Wirtschafts- u n d Sozialgeschichte; E m i l Hobi, Die E n t w i c k l u n g der Fabrikgesetzgebung i m K a n t o n Glarus, Berner Diss. 1920; Maurer, Sozialversicherungsrecht, § 5, I I ; W i l l i a m E. Rappard, L a révolution industrielle et les origines de la protection légale d u t r a v a i l en Suisse, Bern 1914. 34 Gruner, A n m . 33, S. 52; Hauser, A n m . 33, S. 199 ff. 35 Hauser, A n m . 33, S. 194. 36 Gruner, A n m . 33, S. 51. Er schätzt ihre Z a h l f ü r 1880 auf 279.000 (S. 81) bei einer Gesamtbevölkerung von 2,8 M i l l .
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Gegen Ende des Jahrhunderts weitete sich auch das Baugewerbe aus, was vor allem auf die Industrialisierung, den Eisenbahn- und den Straßenbau zurückzuführen ist. Der Eisenbahnbau stieß i n der Schweiz auf erhebliche Schwierigkeiten, da die Kontrolle der Bahnen erst durch das Eisenbahngesetz von 1872 dem Bund übertragen wurde. Ende 1880 erreichte das Eisenbahnnetz eine Länge von 2.440 km, u m 1950 dagegen rund 5.700 km. 1882 konnte die Gotthardbahn dem Betrieb übergeben werden 3 7 . Diese Nordsüdverbindung w a r und ist schon deshalb von überragender Bedeutung, weil die Schweiz über keine nennenswerten eigenen Rohstoffe — außer über Wasser — verfügt, sie also aus dem Ausland importieren muß. Dies gilt auch für die Kohle. Die Schweiz hat daher frühzeitig damit begonnen, das Wasser für die Stromerzeugung zu verwenden. Bereits u m 1886 wurden die ersten Elektrizitätswerke eröffnet. b) Die Industrie w a r krisenanfällig. So konnten zollschützlerische Maßnahmen der umliegenden Staaten innerhalb kürzester Zeit ganze Erwerbszweige lahmlegen 38 . Auch gingen zahlreiche Unternehmungen, die i m Gründungsfieber i n den letzten Dezennien des 19. Jahrhunderts ohne genügende finanzielle und fachliche Fundierung entstanden waren, wieder ein. Die Gefahr der Arbeitslosigkeit war latent stets vorhanden. Die Löhne der Arbeiter waren bescheiden. Immerhin stiegen sie allmählich an, da viele Unternehmungen wirtschaftlich erstarkten. Hauser 39 hat versucht, die Entwicklung der durchschnittlichen Reallöhne für die Zeit von 1830 - 1955 für bestimmte Jahre tabellarisch festzuhalten. Zugleich errechnete er, wie lange ein Arbeiter arbeiten mußte, um je ein Pfund Brot, Rindfleisch und Butter kaufen zu können. Die Zahlen seien hier — i n Stunden und Minuten — für die Jahre 1860, 1880 und 1955 wiedergegeben. Brot: 2,00; 1,05; 0,07; Rindfleisch: 4,30, 3,00, 1,07; Butter: 6,18; 5,316; 1,44. Somit ist der Reallohn i m Verlaufe von rund hundert Jahren stark angestiegen. Er war aber für die Jahre 1860 und 1880 noch äußerst bescheiden. Dies erklärt, daß nicht nur Männer, sondern auch Frauen und sogar Kinder Industriearbeit verrichteten; der gesamte Familienlohn w a r erforderlich, u m der Familie ein ausreichendes Einkommen zu sichern 40 . Schwer erträglich waren die immer wieder zu verzeichnenden Teuerungen, die ζ. B. infolge von Mißernten i n der Schweiz oder i m benachbarten Ausland auftraten. Die Preise für wichtige Lebensmittel wie Brot konnten sich dann innert 37 38 39 40
Hauser, A n m . 33, S. 291 ff. Ebenda, S. 329. Ebenda, S. 323. Näheres bei Gruner, A n m . 33, S. 113.
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kürzester Zeit verdoppeln oder gar verdreifachen, um später wieder zu sinken. Die Löhne folgten der Teuerung nicht, so daß durch diese große Not verursacht wurde 4 1 . c) Die Gewerkschaften kamen i n der Schweiz, i m Gegensatz etwa zu England, erst ziemlich spät auf. Wohl findet man i n verschiedenen, industriell entwickelten Kantonen oder Städten schon i n der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Ansätze oder Vorläufer. Zur vollen Ausbildung gelangten die Gewerkschaften der verschiedenen Wirtschaftszweige i n der zweiten Hälfte. Der schweizerische Gewerkschaftsbund wurde 1880 gegründet. I h m schlossen sich zuerst lediglich 12 Sektionen m i t insgesamt 133 Mitgliedern an. Heute zählt er gegen eine halbe M i l lion Mitglieder 4 2 . I m gleichen Jahr wurde, völlig unabhängig von ihm, die Sozialdemokratische Partei der Schweiz gegründet. I n verschiedenen Kantonen waren schon früher sozialdemokratische Parteien entstanden. Der Zusammenschluß i n einer schweizerischen Partei war vorher verschiedentlich an ideologischen und programmatischen Auseinandersetzungen gescheitert. Es spielten hierbei die Ideen von M a r x / Engels eine nicht unwesentliche Rolle; sie trugen aber wohl eher zur Spaltung als zur Einigung der Arbeiterschaft bei 4 3 . I n den achtziger Jahren fristete die Sozialdemokratische Partei ein Schattendasein. A n ihrer Stelle verstand sich damals der Grütliverein als eigentlicher Interessenvertreter der Arbeiterschaft 44 . Daneben hatten auch die Freisinnige und die Konservative Partei i m Parlament ihre „linken" Flügel, die Sozialpolitik betrieben. Schon vor der Arbeiterschaft hatten sich Handel und Industrie auf Bundesebene organisiert. Der Schweizerische Handels- und Industrieverein (Vorort) wurde am 12. März 1870 gegründet 4 5 . Die Arbeitgeberverbände sind erst nach den Gewerkschaften entstanden, nämlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Sie haben sich 1908 i n einem Spit zen verb and vereinigt 4 6 . 41 Während des deutsch/französischen Krieges v o n 1870/71 sind die Preise einzelner Lebensmittel i n der Schweiz innerhalb weniger Wochen aufs D r e i fache, ja Fünffache gestiegen; Hauser, A n m . 33, S. 328. 42 Gruner, A n m . 33, S. 877; er schildert i n verschiedenen Abschnitten die E n t w i c k l u n g des Gewerkschaftswesens i m 19. Jh. — Hauser, A n m . 33, S. 349 f.; der Christlichsoziale Gewerkschaftsbund der Schweiz w u r d e 1907 gegründet. 43 Gruner, A n m . 33, S. 769. Er bezeichnet auf S. 790 K a r l Moor u n d Otto L a n g als eigentliche Väter des schweizerischen Marxismus (Kommunismus). I n einem sozialdemokratischen Programm von 1878 wurde z. B. die Abschaffung v o n Privateigentum u n d Erbrecht postuliert (S. 775). 44 Ebenda, S. 796, 802 u n d passim. 45 Bernhard Wehrli, Aus der Geschichte des schweizerischen Handels- u n d Industrie-Vereins, Zürich 1970, S. 27. E r weist auf S. 24 darauf hin, daß i n der Bundesverwaltung 1863 nicht einmal ein besonderer Beamter f ü r H a n delsangelegenheiten vorhanden war.
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d) Die Industrialisierung hat i m letzten Jahrhundert, jedenfalls seit der Gründung des Bundesstaates, nicht zu größeren sozialen Unruhen geführt. Dabei war sie i n der Aufbauphase für die Arbeiterschaft hart: lange Arbeitszeiten; geringer Lohn; Gefahr der Arbeitslosigkeit; kein Teuerungsausgleich. Zahlreichen Fabrikanten gelang es, großen Reichtum anzuhäufen, und nicht wenige von ihnen mochten die Belegschaften nicht nur patriarchalisch, wie dies jener Zeit entsprach, sondern gar despotisch behandelt haben. Es ist daher eigentlich erstaunlich, daß es i n den Fabriken nur wenige Streiks gab 47 . e) I n der Zeit von 1875 - 1890 hat der Bund lediglich Gesetze erlassen, m i t denen er die Fabrikarbeiterschaft gegen die wirtschaftlichen Folgen von Betriebsunfällen und Berufskrankheiten zu sichern versuchte, nämlich das Fabrikgesetz von 1877 und die Fabrikhaftpflichtgesetze von 1881 und 1887. Für andere soziale Risiken wie Arbeitslosigkeit, Alter, Invalidität und Krankheit gab es keine Bundesgesetze. Kantonale Gesetze und auch Regelungen von Gemeinden bildeten Ausnahmen. Erwähnt sei als Beispiel die Stadt Luzern. Sie verwandelte 1876 eine i n den früheren Jahrzehnten vom Stadtrat und von den Handwerksmeistern verwaltete Krankenpflegeanstalt i n eine allgemeine städtische Arbeiterkrankenkasse, der alle Arbeiter aufgrund eines Obligatoriums beitreten mußten 4 8 . Zahlreich waren private Einrichtungen, die Unterstützungen gewährten, wenn Mitglieder ζ. B. wegen Krankheit i n Not gerieten. Sie beruhten auf dem Gedanken der Gemeinnützigkeit. Ein leuchtendes Beispiel war die Stadt Basel. Alle gemeinnützigen Stiftungen und Vereine zusammen besaßen hier u m 1880 ein Vermögen von 22 M i l l . Franken, das jährlich Zinsen von rund 4 M i l l . Franken abwarf und damit annähernd die Höhe der Staatseinnahmen erreichte 49 . I m gleichen Jahr war i n der Schweiz durchschnittlich von 13,6 Einwohnern einer Mitglied eines Hilfsvereins, welcher i n akuten oder chronischen Notlagen nach dem Grundsatz der Gegenseitigkeit Hilfe gewährte 50 . Arbeiter griffen auch zur Selbsthilfe, indem sie Hilfskassen gründeten. I m Jahre 1880 gab es bereits 1.085 solcher Kassen, von denen die meisten Leistungen bei Krankheit gewährten, einige daneben oder aus46 Hauser, A n m . 33, S. 350. Vgl. Näheres über Arbeitgeber i m letzten Jh. bei Gruner, A n m . 33, S. 954. 47 Über die Typologie des Arbeitgebers sowie die Streiks vgl. Gruner, A n m . 33, S. 959, 920 u n d 925 (mit Tabellen über Streiks). 48 Ebenda, S. 253; Gruner erwähnt, daß i m K a n t o n Zürich bereits 1844 ein gesetzlich geregeltes beschränktes Beitrittsobligatorium eingeführt wurde u n d schildert überdies die 1881 gescheiterten Bestrebungen i n Basel, eine f ü r alle Arbeitnehmer obligatorische Krankenversicherung zu schaffen. 49 Ebenda, S. 1001. w Ebenda, S. 1003.
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schließlich auch für andere Risiken wie Invalidität, Tod, A l t e r usw. Unterstützung- und Krankenkassen dieser A r t entwickelten sich allmählich zu Gewerkschaften 51 . Weit verbreitet waren die Fabrikkassen, die zur Hauptsache Leistungen bei Krankheit der Arbeiter gewährten. 1880 soll es 350 - 400 Fabrikkassen m i t rund 45.000 versicherten Arbeitern gegeben haben; dies sind etwa 50 °/o aller Arbeiter, welche i n den dem Fabrikgesetz unterstellten Betrieben beschäftigt waren 5 2 . Schon ziemlich früh entstanden Arbeitslosenversicherungskassen. Die Arbeiter begannen hier m i t der Selbsthilfe. Die Typographen gründeten 1884 die erste private schweizerische Arbeitslosenversicherungskasse. Die ersten öffentlichen Arbeitslosenversicherungskassen i n Europa errichteten die Städte Bern 1893 und St. Gallen 189453. Die organisierte Altersversorgung entwickelte sich ziemlich spät. Bescheidene Anfänge sind vielleicht für die siebziger Jahre zu vermerken, indem Großfirmen wie die Firma Sulzer m i t der Schweizerischen Rentenanstalt eine Kollektivversicherung für das Personal abschlossen54. Später wurden Pensionskassen für die Beamten geschaffen, 1888 jene des Kantons Basel-Stadt, dem 1893/99 der Kanton Genf und 1907 die Bundesbahnen für i h r Personal folgten. Eine allgemeine Altersfürsorge für die ganze Bevölkerung, jedoch ohne Obligatorium, bauten die Kantone Neuenburg 1898 und Waadt 1907 auf 5 5 . Obwohl Hilfskassen der verschiedensten A r t bestanden, konnten Einwohner überall und immer wieder i n Not geraten. Wohl waren die Verwandten i n gewissem Rahmen zur Unterstützung verpflichtet, aber auch diese Hilfe mußte oft versagen. Letztes „Auffangnetz" war die Heimatgemeinde. Es war etwa seit dem 16. Jahrhundert ihre Aufgabe, die i n Not geratenen Bürger zu unterstützen 56 . Doch die „Armengenössigen" wurden meistens m i t Herablassung behandelt. Lange herrschte die ur51
Ebenda, S. 1004, 1005 u n d 1008. Ebenda, S. 1018; die älteste Fabrikkrankenkasse sei 1827 v o m EbauchesUnternehmen ins Leben gerufen worden (S. 1016) — insgesamt gab es 1903 i n der Schweiz 2.006 Krankenkassen auf Gegenseitigkeit; Furrer, Entstehung u n d Entwicklung, S. 54. 53 Maurer, Sozialversicherungsrecht, A n m . 157. Gruner, A n m . 33, S. 256 n i m m t an, daß die Arbeitslosigkeit i n der Schweiz vielerorts nicht eine so schreckliche Geisel w i e i m Ausland dargestellt habe, w e i l der schweizerische Arbeiter, w e n n er ländlichen Wohnsitz gehabt habe, i n Notzeiten von einem Subsidiäreinkommen aus der Landwirtschaft leben konnte. Tatsächlich verfügten zahlreiche Arbeiter über kleine Äcker u n d hielten vorwiegend K l e i n vieh w i e Ziegen u n d Schweine. 54 Gruner, A n m . 33, S. 1015. 55 Maurer, bei A n m . 158. 5 l e i e r u n s r e c h t , 5 . 52
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alte Meinung vor, A r m u t sei selbstverschuldet, oder gar, sie sei eine Strafe Gottes wegen schlechten Lebenswandels 57 . Massenarmut, der sog. Pauperismus, hat es w o h l i n allen Jahrhunderten gegeben. Sie w i r d für die Mitte des vergangenen Jahrhunderts für verschiedene Länder — ζ. B. England, Holland, Belgien — auf 20 °/o der Bevölkerung geschätzt. Seither dürfte sie jedenfalls i n der Schweiz ziemlich stark zurückgegangen sein; für das Jahr 1870 hat eine Enquête ergeben, daß 4,6 °/o der Bevölkerung Armenunterstützung bezogen 58 . Zahlreiche Gemeinden hatten große Armenlasten zu tragen, unter ihnen viele von geringer Finanzkraft. Arme Gemeinden konnten nur bescheidene Unterstützungen gewähren. Sie mußten froh sein, wenn sich Industrie ansiedelte, denn dadurch wurden meistens Steuerquellen erschlossen. Es ist nicht bekannt, welche Bevölkerungsschicht etwa gegen Ende des letzten Jahrhunderts i n einem längerfristigen Durchschnitt den höchsten Prozentsatz an Armen aufwies 59 . 2. Das Fabrikgesetz von 187760 a) Der Liberalismus, der sich verfassungsmäßig ζ. B. i n der Handelsund Gewerbefreiheit ausprägte, brachte den privaten Unternehmergeist zu voller Entfaltung, dem die Schweiz weitgehend die Industrialisierung und den Bau der Eisenbahnen verdankt. Sein Postulat, daß sich der Staat nicht i n die Wirtschaft einmischen solle — laissez faire et laissez aller — 6 1 , hatte auch soziale Mißstände entstehen lassen, namentlich die teilweise rücksichtslose Ausbeutung der Arbeitskraft von Männern, Frauen und Kindern i n den Fabriken. Überdies bildeten Maschinen, die keine ausreichenden Schutzvorrichtungen aufwiesen, und die durch die langen Arbeitszeiten verursachte Übermüdung eine beträchtliche Quelle für Unfälle. Frauen- und Kinderarbeit war i n früheren Jahrhunderten weitverbreitet. Sie wurde auch i m 19. Jahrhundert i n Fabriken fortgeführt und sogar ausgedehnt. Selbst Pestalozzi vertrat i n seinen Frühschriften noch 57
Hauser, A n m . 33, S. 188 u n d 330. Einläßlich zum Pauperismus Gruner, Anm. 33, S. 16 ff. u n d S. 28, bes. Anm. 37. 59 Die jüngste E n t w i c k l u n g verläuft i n der Schweiz dahin, daß das Heimatprinzip immer mehr durch das Wohnortsprinzip verdrängt w i r d , indem die Wohnortsgemeinde die A r m e n zu unterstützen hat. M a n spricht auch i m m e r weniger von Armenunterstützung, da heute der Ausdruck der Fürsorge oder Sozialhilfe verwendet w i r d . Vgl. Näheres bei Maurer, A n m . 53, S. 59 ff. 00 Vgl. die i n A n m . 33 vermerkte L i t e r a t u r u n d ferner: Landmann, A r b e i terschutzgesetzgebung, S. X X X ff.; Victor Schiwoff, Die Beschränkung der Arbeitszeit durch die kantonale Gesetzgebung u n d durch das erste eidgenössische Fabrikgesetz v o n 1877, Berner Diss. (rer. pol.), 1952. 61 Vgl. die geraffte Zusammenfassung der wichtigeren von A d a m S m i t h entwickelten Ideen ζ. B. bei Hauser, A n m . 33, S. 192. 58
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die Meinung, daß man die Kinder vom sechsten Jahre an i n der Industrie verwenden könne, da man sie an die Arbeit gewöhnen müsse; immerhin dürften sie nicht überanstrengt werden und der Schulunterricht habe den Vorrang. A l l e i n i n den ersten Dezennien des letzten Jahrhunderts entstanden schwerste Mißstände. Kinder mußten 13 bis 15 Stunden am Tag arbeiten, und zwar unter Bedingungen, die gravierende gesundheitliche Schädigungen bewirkten 6 2 . 1868 arbeiteten i n der Schweiz 9.505 Kinder i n total 664 Fabriken. 9.017 Kinder waren 12- bis löjährig, 436 10- bis l l j ä h r i g und 52 unter lOjährig 6 3 . b) Verschiedene Kantone sind dem Bund i n der Arbeiterschutzgesetzgebung vorausgegangen. So hatte der Kanton Zürich bereits 1815 gesetzlich bestimmt, daß Kinder erst vom 10. Altersjahr an i n die Fabriken eintreten und höchstens 12 bis 14 Stunden arbeiten dürften. Bemerkenswert ist sodann der Kanton Glarus, dessen Gesetze durch die Landsgemeinde beschlossen werden mußten. Seine Bevölkerung arbeitete 1860 zu rund einem Drittel i n den Fabriken, besonders in der Baumwollspinnerei und i n der Zeugdruckerei 64 . Nachdem er schon i n früheren Jahren Arbeiterschutzgesetze erlassen hatte, gelang i h m m i t dem kantonalen Fabrikgesetz von 1866 eine eigentliche Pioniertat: Dies war wohl das erste Gesetz auf dem Kontinent, m i t welchem die Arbeitszeit für Erwachsene auf höchstens zwölf Stunden pro Tag reduziert wurde. 1872 ging der Kanton noch einen Schritt weiter und führte den Elfstundentag ein 6 5 . Diese beiden Gesetze dienten dem Bund i n dieser und i n manch anderer Hinsicht als Vorbild für sein Fabrikgesetz. c) M i t erstaunlicher Geschwindigkeit haben die Bundesbehörden, i n Vollzug von A r t . 34, der i n der Bundesverfassung vom 29. 5.1874 aufgenommen worden war, das Fabrikgesetz erlassen. Nach sorgfältiger Vorbereitung durch eine Expertenkommission und Einholung zahlreicher Vernehmlassungen konnte der Bundesrat am 2. November 1875 den Entwurf zum neuen Gesetz und am 6. Dezember 1875 die Botschaft an die Bundesversammlung zum Entwurf verabschieden 66 . Schon am 23. März 1877 nahm die Bundesversammlung den i n nur wenigen Punkten geänderten Entwurf und damit das „Bundesgesetz betreffend die 62
Ebenda, S. 331 ff. Gruner, A n m . 33, S. 114. 84 Dällenbach, A n m . 33, S. 72 m i t Angaben über Frauen- u n d K i n d e r arbeit; Grobéty, L a Suisse, S. 53 ff. 65 Dällenbach, A n m . 33, S. 89 f. beschreibt kurz den Verlauf der bewegten Landsgemeinde v o m 29. September 1872; Grobéty, A n m . 64, S. 88 ff. 66 BB1. 1875 I V , S. 573 u n d 921; vgl. den T e x t zu B V 34 vorne bei A n m . 32. Die Botschaft ist auch heute noch i n mancher Hinsicht bemerkenswert, da sie die damalige Zeit widerspiegelt, Prognosen f ü r die Z u k u n f t wagt u n d ausländische Gesetzgebungen, so deutsche, französische u n d englische darstellt. 63
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Arbeit i n den Fabriken" 6 7 an. Es hat i n Literatur und Judikatur seinen festen Platz m i t der Kurzbezeichnung „Fabrikgesetz 1877" gefunden. Da das Referendum ergriffen wurde, kam es zur Volksabstimmung vom 21. Oktober 1877. Das Gesetz wurde nach einem heftig geführten Kampf nur knapp m i t 181.204 Ja gegen 170.857 Nein angenommen 68 . Gegner waren vornehmlich die Industrien und ihre Organisationen, da sie glaubten, gegenüber der Konkurrenz i m Ausland benachteiligt zu werden; befürwortet wurde das Gesetz von den Arbeitnehmern und ihren Organisationen. A l l e i n auf beiden Seiten gab es doch bedeutende Ausnahmen. So traten i n der Bundesversammlung mehrere weitblickende Fabrikanten m i t Entschiedenheit ζ. B. für die Arbeitszeitverkürzungen ein, da m i t diesen die Leistungsfähigkeit der Arbeiter gehoben werde; andererseits stimmten zahlreiche Arbeiter i n der Volksabstimmung gegen die Vorlage, denn sie befürchteten Lohnkürzungen, die dann tatsächlich ausblieben 69 . Das Gesetz legt den elfstündigen Arbeitstag für Erwachsene und das Verbot für Nachtarbeit samt Bestimmungen über Ausnahmen fest. Es verschafft den schwangeren Frauen und Wöchnerinnen eine Schonzeit von je 8 Wochen vor und nach der Niederkunft. Das Mindestalter für Kinderarbeit bestimmt es auf 14 Jahre und begrenzt die Arbeitszeit der 14- bis 16jährigen einschließlich Schul- und Religionsstunden auf 11 Stunden täglich. Auch sonst greift es i n den Arbeitsvertrag ein, indem es ζ. B. zugunsten der Arbeitnehmer Vorschriften über den Modus der Lohnzahlung und die Auflösung des Vertragsverhältnisses erläßt. Wichtig ist sodann, daß das Gesetz ständig angestellte eidgenössische Fabrikinspektoren vorsieht, die über seine Einhaltung i n den Fabriken zu wachen haben. Diesen Fabrikinspektoren verdankt die Arbeiterschaft namentlich hinsichtlich Fabrikhygiene und Unfallverhütung außerordentlich viel 7 0 . Das Fabrikgesetz enthält eine Reihe von Regelungen, welche die spätere Gesetzgebung des Bundes zur Sozialversicherung der Arbeiterschaft nachhaltig beeinflußten. Einige von ihnen seien i m folgenden hervorgehoben:
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AS (n. F.) 3, S. 241. Gruner, A n m . 33, S. 248; er w i e zahlreiche andere der i n A n m . 33 u n d 60 genannten Autoren zeichnen die interessante Entstehungsgeschichte nach; vgl. noch bes. Grobéty, A n m . 64, S. 169 ff. 69 Vgl. ζ. B. Benöhr, A n m . 32, S. 14 ff. u n d Gruner, A n m . 33, S. 237 ff. 70 E r w ä h n t sei vor allem Dr. med. F r i d o l i n Schuler aus Glarus. Er stellte sich als Fabrikinspektor zur Verfügung u n d zeichnete sich später auch durch seine Publikationen über Arbeitsschutz u n d Krankenversicherung aus; vgl. ζ. B. „Erinnerungen eines Siebzigjährigen", Frauenfeld 1903 u n d „Die obligatorische Krankenversicherung i n der Schweiz", Zürich 1891. 08
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aa) Das Gesetz bringt eine Definition des Begriffes der Fabrik, die dann freilich durch bundesrätliche Verordnungen präzisiert werden mußte 7 1 . Es bestimmt sodann i n A r t . 1 Abs. 2, daß i n Zweifelsfällen der Bundesrat zu entscheiden habe, ob eine industrielle Anstalt eine Fabrik sei und somit unter das Gesetz falle. Der Bundesrat hatte überdies ein Verzeichnis der Fabriken zu erstellen und nachzuführen. Die i m Verzeichnis aufgeführten Fabriken waren später automatisch der obligatorischen Unfallversicherung gemäß K U V G vom 13. Juni 1911 unterstellt. bb) Es finden sich auch schon Vorschriften zur Verhütung von Unfällen und Krankheiten i m Gesetz. Diese sog. Prophylaxe w i r d später i m K U V G zu einem maßgebenden Bestandteil der obligatorischen Unfallversicherung. cc) Das Fabrikgesetz führt i n A r t . 5 Abs. 2 lit. b — provisorisch, bis zum Erlaß der Haftpflichtgesetze — bereits die Kausalhaftung für Betriebsunfälle ein 7 2 . Der Fabrikant haftet somit auch dann, wenn ihn oder sein Personal kein Verschulden am Unfall des Arbeiters trifft. Immerhin kann er sich von der Haftpflicht befreien, wenn er ζ. B. höhere Gewalt nachweist. Bei Mitverschulden des Verunfallten w i r d die Ersatzpflicht reduziert. M i t der Kausalhaftung für Betriebsunfälle hat der Gesetzgeber ein System festgelegt, das rund 50 Jahre lang Gültigkeit behielt. dd) Nach lit. d des gleichen Artikels hat der Bundesrat „überdies diejenigen Industrien zu bezeichnen, die erwiesenermaßen und ausschließlich bestimmte gefährliche Krankheiten erzeugen, auf welche die Haftpflicht auszudehnen ist". M i t seinem Beschluß vom 19. Dezember 1887 hat der Bundesrat lit. d konkretisiert, indem er eine Liste von gefährlichen Stoffen aufstellte, die „bestimmte gefährliche Krankheiten erzeugen" 73 . Damit w i r d bereits die Regelung, wie sie das K U V G i n der obligatorischen Unfallversicherung hinsichtlich der Berufskrankheiten später einführt, vorgeformt. M i t dem Fabrikgesetz von 1877 hat der Bund erstmals und erfolgreich als Gesetzgeber i n die Sozialpolitik eingegriffen. Freilich erfaßte er i n der Anfangsphase nur eine kleine Minderheit der arbeitenden Bevölkerung — 1888 unterstanden dem Fabrikgesetz rund 160.000 Arbeiter — 7 4 , da namentlich die großen Gruppen der Heimarbeiter, des Gewerbes 71 Der Begriff wurde verschiedentlich erweitert, so daß i m m e r neue Betriebe darunterfielen; Benöhr, A n m . 32, S. 38. 72 Der Bundesrat beleuchtet i n seiner Botschaft, -S. 941, die Regelung i m deutschen Reichshaftpflichtgesetz von 1871, die weniger streng als jene des Fabrikgesetzes ist. 73 AS (n. F.) 10, S. 397. Dies ist bereits die erste bundesrätliche „Giftliste". 74 Benöhr, A n m . 32, S. 21.
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usw. ausgeklammert blieben. Er zog es vor, einen eher bescheidenen Fortschritt zu verwirklichen, statt seine Vorlage durch einen allzu kühnen „ W u r f " zu gefährden 75 . 3. Die Fabrikhaftpflichtgesetze
von 1881 und 1887 76
a) Bereits m i t seiner Botschaft vom 26. November 1880 legte der Bundesrat der Bundesversammlung den Entwurf zu einem Bundesgesetz vor 7 7 , m i t welchem die Haftpflicht gemäß A r t . 5 des Fabrikgesetzes näher geregelt werden sollte. Die Bundesversammlung nahm das „Bundesgesetz betreffend die Haftpflicht aus Fabrikbetrieb" am 25. Brachmonat 1881 an. Da das Referendum nicht ergriffen wurde, konnte der Bundesrat es schon auf den 11. Weinmonat 1881 i n K r a f t setzen 78 . Das Fabrikhaftpflichtgesetz bestätigt zur Hauptsache die schon in A r t . 5 des Fabrikgesetzes umschriebene Haftpflicht. Es unterwirft i n A r t . 2 den Betreiber einer Fabrik der Kausalhaftung, läßt ihn also selbst für Zufall haften, wenn sein Arbeiter „ i n den Räumlichkeiten seiner Fabrik und durch den Betrieb derselben eine Körperverletzung oder den Tod" erleidet. Er kann sich jedoch von der Haftung befreien, wenn er beweist, daß der Unfall oder die berufliche Erkrankung ζ. B. durch höhere Gewalt oder durch ausschließliches eigenes Verschulden des Arbeiters verursacht worden ist. I n bestimmten Fällen haftet er nur teilweise, so namentlich, „wenn dem Geschädigten ein Teil der Schuld an dem Unfall (oder an der Erkrankung i m Sinne von A r t . 3) zufällt". A l l e i n dieses Gesetz verschlechtert die haftpflichtrechtliche Stellung des Arbeiters, verglichen m i t A r t . 5 des Fabrikgesetzes, ganz erheblich: I n A r t . 5 begrenzt es nämlich die Haftung, da diese „ i n den schwersten Fällen . . . weder den sechsfachen Jahresverdienst des Betreffenden noch die Summe von Fr. 6.000,— übersteigen soll" 7 9 . Dieses Maximum findet lediglich dann keine Anwendung, wenn die „Verletzung oder Tötung durch eine strafrechtlich verfolgbare Handlung von Seiten des Betriebsunternehmers herbeigeführt worden ist". Der Bundesrat legt i n seiner Botschaft dar, daß er Rücksicht auf kleinere und finanziell schwächere 75 Später befolgte der Bundesrat diese P o l i t i k der kleinen Schritte öfters; vgl. ζ. Β . BB1. 1886 I I , S. 700 betreffend Ausdehnung des Fabrikhaftpflichtgesetzes auf die Landwirtschaft: „Es ist jedenfalls nützlicher, einen geringeren Fortschritt zu sichern, als das Ganze zu gefährden . . 76 Aus der L i t e r a t u r : Landmann, Arbeiterschutzgesetzgebung, S. L I V und X C I V ; Piccard, Haftpflichtpraxis; Scherer, Die Haftpflicht des Unternehmers aufgrund des Fabrikhaftpflichtgesetzes u n d des Ausdehnungsgesetzes, Basel 1908; Zeerleder, Die Schweiz. Haftpflichtgesetzgebung, Bern 1888. 77 BB1. 1880 I V , S. 541 (Botschaft) u n d 584 (Entwurf). 78 AS (n. F.) 5, S. 562. 79 Die Botschaft f ü h r t auf S. 573 aus, daß ein Contre-maître einen Jahreslohn von nahezu Fr. 1.500,— oder einen Taglohn von Fr. 5,— beziehe.
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Fabriken nehmen müsse (S. 543-570): „Der Fabrikant, i n dessen Etablissement ein bedeutender Unfall stattgefunden und der mehrere Betroffene zu entschädigen hätte, könnte leicht i n Konkurs geraten, was für die Geschädigten und die übrigen Arbeiter nicht weniger nachteilig sein würde als für ihn. Da das Unglück des Einen i n der Regel auch das Unglück des Andern ist, so würde eben die Folge der bis zum äußersten getriebenen Haftpflicht das Unglück Beider sein." Von einer obligatorischen Haftpflichtversicherung sah der Bundesrat ab, da die Prämie für Unternehmungen, „ i n denen der Fabrikationsgewinn äußerst gering ist . . . , doch verhältnismäßig sehr hoch sein kann" (S. 571)80. Immerhin wollte er den Fabrikanten anregen, Versicherungen abzuschließen. A r t . 9, der auf seine Veranlassung i m Gesetz aufgenommen wurde, bestimmte nämlich, daß Leistungen von Unfallversicherern, Krankenkassen usw. an die Haftpflichtentschädigung anzurechnen seien, sofern der Fabrikant die Prämie mindestens zur Hälfte bezahlt habe. b) Das Bundesgesetz über das Obligationenrecht vom 14. Juni 1881 hielt für vertragliche und außervertragliche Schädigungen am Prinzip der Verschuldenshaftung fest. Nur für bestimmte Tatbestände sah es eine Kausalhaftung vor. Somit hafteten Betriebe, die nicht dem Fabrikgesetz unterworfen waren, für Unfälle ihrer Arbeiter nur, wenn sie oder ihre Hilfspersonen ein Verschulden traf. Weite Kreise empfanden es als ungerechtfertigte Privilegierung, daß Fabrikarbeiter i m Gegensatz zu andern Arbeitnehmern für Unfälle und berufliche Erkrankungen Haftpflichtansprüche auch dann besaßen, wenn ihrem Arbeitgeber kein Verschulden zur Last fiel. Der Nationalrat nahm daher am 25. März 1885 folgende Motion Klein an: „Der Bundesrat w i r d eingeladen: 1. Die Gesetze über die Haftpflicht v o m 1. J u l i 1875 und v o m 25. J u n i 1881 i m Sinne der Ausdehnung der Haftpflicht u n d zum Zwecke der Erleichterung der Geltendmachung der Entschädigungsansprüche einer Revision zu unterziehen; 2. die Frage zu untersuchen u n d darüber Bericht zu erstatten, ob nicht eine allgemeine, obligatorische Arbeiterunfallversicherung anzustreben sei."
Zu der i n Ziffer 2 umschriebenen Frage war K l e i n durch das deutsche Gesetz über die Arbeiterunfallversicherung angeregt worden, welches auf Betreiben von Bismarck 1884 erlassen worden war (vgl. hinten Ziff. 5). Schon m i t seiner Botschaft vom 7. J u n i 1886 kam der Bundesrat dem ihm erteilten Auftrag nach und legte den Entwurf zu einem Bundes80 Die Botschaft vergleicht den E n t w u r f sowohl m i t dem B G über die H a f t pflicht der Eisenbahnen v o m 1. J u l i 1875 als auch m i t ähnlichen ausländischen Gesetzen, besonders m i t den deutschen u n d englischen.
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gesetz betreffend die Ausdehnung der Haftpflicht vor 8 1 . A m 26. A p r i l 1887 verabschiedete die Bundesversammlung das „Bundesgesetz betreffend die Ausdehnung der Haftpflicht und die Ergänzung des Bundesgesetzes vom 25. Juni 1881". Da das Referendum nicht ergriffen wurde, konnte der Bundesrat es bereits auf den 1. November 1887 i n Kraft setzen. Das Gesetz nennt i n A r t . 1 jene Arten von Unternehmungen, auf welche die Haftpflichtbestimmungen des Fabrikhaftpflichtgesetzes anzuwenden sind. Es handelt sich nach Ziffer 2 um Betriebe verschiedenster A r t — ζ. B. das Baugewerbe —, „wenn die betreffenden Arbeitgeber während der Betriebszeit durchschnittlich mehr als 5 Arbeiter beschäftigen". Art. 6 verpflichtet sodann die Kantone, Bestimmungen zu erlassen, wonach bedürftigen Personen i n Haftpflichtprozessen die unentgeltliche Rechtspflege einschließlich eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes zu gewähren sei. Bemerkenswert sind sodann die A r t . 8 und 9. M i t ihnen werden die Unternehmer verpflichtet, Unfälle den zuständigen kantonalen Behörden zu melden. Wenn die Aufsichtsinstanzen feststellen, daß der Verunfallte „die i h m zustehende billige Entschädigung auf außergerichtlichem Weg nicht erhalten hat, so haben sie sofort der Kantonsregierung Bericht zu erstatten. Diese w i r d eine Untersuchung anordnen und vom Resultat den Interessenten Mitteilung machen". Die Botschaft gibt auf S. 697 f. und 703 eine eindrückliche Erklärung für diese Vorschriften: Es sei eine oft wiederkehrende Klage, daß das Gesetz vom 25. Juni 1881 „vielerorts gar keine oder nur mangelhafte Anwendung findet. . . . Die Entschädigung aus Haftpflicht findet gar nicht oder nur i n sehr geringer Weise statt, weil der Arbeiter sich m i t der gebotenen Summe begnügt, aus Furcht, seine Stelle zu verlieren, aus Mangel an Mitteln, u m auf dem Prozeßwege zu seinen Rechten zu gelangen, aus Unkenntnis, etc." Es liege wirklich viel Grund zu Klagen vor, so daß „Abhülfe dringend nötig ist". „ N u r durch die vorgeschlagene, von Amtes wegen stattfindende Aufsicht kann eine Korrektur begangener Unbilligkeiten erreicht werden . . . " (S. 704) 82 . 81
BB1. 1886 I I , S. 689 (Botschaft) u n d S. 705 (Entwurf); die Motion K l e i n ist auf S. 689 teilweise abgedruckt. Z u r Frage einer obligatorischen U n f a l l v e r sicherung f ü h r t sie u. a. noch folgendes aus: Sie sei einer bloßen Erweiterung der Haftpflicht vorzuziehen, „ w e i l sie i n extensiver w i e intensiver Richtung der größten Ausdehnung fähig ist, indem einerseits der Widerstand der k l e i nen Unternehmer wegfällt, andererseits die Einrede der höheren Gewalt gestrichen, diejenige des Selbstverschuldens auf schwere Fälle beschränkt u n d die Versicherung auf alle Unfälle jeder A r t erstreckt werden k a n n " (Zitat bei Landmann, Anm. 76, S. L V I I , Anm. 2). D a m i t hat K l e i n mögliche Regelungen aufgezeigt, die später i m K U V G v e r w i r k l i c h t worden sind. 82 Der Bundesrat wischt i n seiner Botschaft auf S. 704 auch den Versicherungsgesellschaften eins aus: Die Aufsichtsorgane hätten darüber zu wachen,
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Die Botschaft führt auf S. 694 aus, daß die Frage der obligatorischen (Unfall-)Versicherung noch lange Vorarbeiten erfordere. Man müsse sich wohl hüten, folgenschwere und m i t der Wohlfahrt des ganzen Landes verknüpfte Schritte „auf's Geratewohl zu tun". Hinzu komme, daß für die Einführung einer obligatorischen Versicherung eine Revision der Bundesverfassung unvermeidlich wäre. A u f S. 692 erwähnt die Botschaft, daß sich die Industrien i m allgemeinen „ i n einer schwierigen Krisis befinden"; es müsse gegenwärtig unbedingt vermieden werden, „ihnen mehr aufzubürden, als sie nach dem bestehenden Haftpflichtgesetz zu tragen haben". c) Das System der Kausalhaftpflicht für betriebliche Unfälle, wie es i n den beiden Gesetzen von 1881 und 1887 festgelegt worden ist, galt bis Ende März 1918; denn am 1. A p r i l 1918 trat an seine Stelle die obligatorische Unfallversicherung gemäß KUVG, die noch darzulegen sein wird. 4. Die schweizerische ΡrivatverSicherung** Die Versicherungsgesellschaften haben bei der Entstehung und Entwicklung der Sozialversicherung meistens eine nicht unbeträchtliche Rolle gespielt. Es scheint daher angezeigt, hier einige geschichtliche und andere Hinweise einzuflechten. a) Da Obdachlosigkeit i n unseren Breitengraden i m Winter nicht weniger hart als Hungersnot war, entwickelte sich die Feuerversicherung früh. Die erste öffentliche Brandversicherungsanstalt i n der Schweiz entstand 1805 i m Kanton Aargau. I h m folgten bald weitere Kantone. Es dürfte kein Zufall sein, daß auch die älteste noch existierende schweizerische private Versicherungsgesellschaft der Feuerbranche angehört (Mobiliarversicherung 1826). b) Schon i n der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts wurden i n der Schweiz Lebensversicherungsgesellschaften gegründet, sie mußten aber meistens nach kurzer Zeit liquidiert werden. Erst die nach 1850 gegründeten Gesellschaften konnten sich halten 8 4 . daß entschädigungsberechtigte Arbeiter nicht von Seiten der Betriebsunternehmer „oder der Versicherungsgesellschaften, was auch oft vorkommt, m i t lächerlich geringen Summen abgefunden werden oder gar nichts erhalten". 83 Werner Mahr, E i n f ü h r u n g i n die Versicherungswirtschaft, B e r l i n 1951; A l f r e d Manes, Allgemeine Versicherungslehre I, 5. Aufl., Leipzig u n d B e r l i n 1930; Maurer, Privatversicherungsrecht m i t zahlreichen Literaturhinweisen; derselbe, Zusammenhänge m i t der Entwicklung der Privatversicherung, S. 355, in: Bedingungen f ü r die Entstehung u n d E n t w i c k l u n g von Sozialversicherung, Band 3 der Schriftenreihe für Internationales und Vergleichendes Sozialrecht, B e r l i n 1979 (Herausgeber H. F. Zacher); diesem Aufsatz sind die hier folgenden Ausführungen teilweise entnommen. 84 Patria, Panorama eines Jahrhunderts Lebensversicherung, 1878 - 1978, S. 9 ff., Basel 1978.
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c) I n den ersten Dezennien nach der Gründung des Bundesstaates entstanden zahlreiche Gesellschaften, die zu hoher Blüte kamen und heute noch existieren. Erwähnt seien i m Sinne von Beispielen einige Gesellschaften m i t den Gründungs jähren (Kurztitel): Rentenanstalt — die größte Lebensversicherungsgesellschaft — 1857; Helvetia-Feuer 1861; Schweizerische Rückversicherungs-Gesellschaft — heute die größte RückVersicherungsgesellschaft der westlichen Welt — 1863; Basler 1864; Schweiz und Neuenburger, beide 1869; Zürich — heute der größte Direktversicherer des Kontinents — 1872 ; Winterthur 1875; Pax (Leben) 1876; Patria (Leben) 1878; National 1883; Union Suisse 1887; Vaudoise 1895. d) Nach amtlichen Erhebungen waren 1877/78 i n der Schweiz 118 Versicherungsgesellschaften konzessioniert, davon 97 ausländische, vor allem deutsche, französische und englische 85 . Erstaunlich ist, daß rund hundert Jahre später, nämlich Ende 1975, nur noch 93 Gesellschaften konzessioniert waren. e) Dieser geradezu fieberhafte Gründungsprozeß etwa ab Mitte des Jahrhunderts ist auf mehrere Ursachen zurückzuführen. Einmal sind m i t der Industrialisierung neue Versicherungsbedürfnisse entstanden. Sodann brachte der Übergang vom Agrar- zum Industriestaat eine Ausdehnung der Geldwirtschaft, ohne welche die Privatversicherung kaum denkbar ist. Von größter Tragweite für die Ausbreitung der Versicherung war endlich, daß die Gesellschaften das von Amerika übernommene Agentensystem einführten. Der Versicherungsagent w a r gleichsam der neue Hausierer, der für die Versicherung von Haus zu Haus ging, u m Abschlüsse zu tätigen. Sein Interesse wurde dadurch entscheidend geweckt, daß man ihm ab Beginn der siebziger Jahre erhebliche Abschlußkommissionen ausbezahlte. Die Agenten haben den Gedanken der Versicherung bei der Bevölkerung bewußt gemacht; auch bei den Politikern. Dadurch haben sie indirekt mitgeholfen, den Boden auch für die Einführung von Sozialversicherungen zu ebnen. f) Das rasche Wachstum des Versicherungsgewerbes hat i m letzten Jahrhundert auch seine Schattenseiten gehabt. Es standen nicht genügend kompetente Fachleute zur Verfügung, so daß diese oder jene Gesellschaft i n Konkurs fiel oder jedenfalls aufgelöst werden mußte. Die Ausdehnung des Agentennetzes brachte es m i t sich, daß man oft auch charakterlich ungeeignete Leute verwendete, die vor dem A b schluß des Vertrages allerlei versprachen, was dann i m Versicherungsfall nicht gehalten wurde. I n der Schweiz — w i e auch i n Deutschland und i n anderen Ländern — w a r der Ruf der Privatassekuranz nicht 85 BB1. 1885 I, S. 120; Maurer, Privatversicherungsrecht, S. 39, A n m . 30 (es sollte hier heißen: 1878).
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immer und überall der beste 86 . Nicht zu übersehen ist, daß die finanzielle Basis — freie und ungebundene Reserven usw. — bei einem so schnellen Wachstum nicht durchwegs stark sein konnte. g) Die Schweiz hat die privaten Versicherungsgesellschaften schon durch Bundesgesetz vom 25. Juni 1885 einer materiellen, wirksamen Aufsicht des Bundes unterstellt 8 7 . Dadurch wurde eine beachtliche Disziplinierung i m Versicherungsgewerbe erreicht. Die Aufsichtsbehörden haben vor allem darüber zu wachen, daß die Gesellschaften solvent bleiben und überdies nicht ungerechtfertigt hohe Prämien verlangen. Dadurch schufen sie eine der wichtigsten Voraussetzungen, unter der sich die schweizerische Privatassekuranz zu einem der bedeutendsten „Versicherungsexportländer" der Welt entwickeln konnte. Der Versicherungsvertrag wurde durch das BG über den Versicherungsvertrag vom 2. A p r i l 1908 (VVG), das auch heute noch gilt, für die ganze Schweiz einheitlich geregelt. h) Die Haftpflichtgesetze von 1881 und 1887 haben zahlreichen Versicherungsgesellschaften zu einem starken Aufschwung verholfen. Diese bildeten die Arbeiterversicherung zu einem besonderen Geschäftszweig aus. Sie entwickelten die Kollektivunfallversicherung, m i t welcher die Arbeiter eines Betriebes gegen Unfall gedeckt waren, und verbanden sie m i t der Haftpflichtversicherung. Entschädigungen aus der Unfallversicherung waren auf die Haftpflichtansprüche anzurechnen. Die Unfallversicherung erlaubte eine rasche Schadensregulierung, da die Leistungen „genormt" waren, weshalb über die Haftpflicht meistens gar nicht mehr diskutiert werden mußte. Die Versicherungsgesellschaften machten i n der Schweiz aufgrund der Haftpflichtgesetze hinsichtlich der Arbeiterversicherung einen Lernprozeß durch, der es ihnen erlaubte, auch i n zahlreichen anderen Staaten die Arbeiterversicherung zu betreiben 88 , auch wenn dort die Gesetze teilweise anders ausgestaltet waren. Sie sind dadurch — aus geschäftlichem Antrieb — i n eine A u f gabe hineingewachsen, die bereits einen deutlichen sozialpolitischen Kern enthielt. i) Beim späteren A u f - und Ausbau der Sozialversicherung sah sich der Bund öfters m i t der Frage konfrontiert, ob er private Versiche86 Vgl. ζ. B. die vorne i n A n m . 82 zitierte Bemerkung i n einer bundesrätlichen Botschaft. 87 Deutschland folgte erst anfangs dieses Jahrhunderts m i t einem Versicherungsaufsichtsgesetz. Heute g i l t i n der Schweiz das B G betreffend die A u f sicht über die privaten Versicherungseinrichtungen (Versicherungsaufsichtsgesetz, V A G ) v o m 23. J u n i 1978, welches das Gesetz von 1885 ablöste. Z u r verfassungsmäßigen Grundlage vgl. vorne nach A n m . 32. 88 Vgl. die bemerkenswerten Ausführungen dazu bei Andreas von Sprecher, 75 Jahre „Zürich", Aus der Werkstatt der „Zürich" 1872 - 1947, S. 25 ff.
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rungsgesellschaften als Sozialversicherungsträger einsetzen solle oder könne. Diese Frage hat er ζ. B. bei der Einführung der obligatorischen Arbeitnehmerversicherung durch das K U V G verneint, indem er hier einer staatlichen Monopolanstalt den Vorzug gab. I n den letzten Jahrzehnten wurden technische und rechtstechnische Lösungen erkannt, die allmählich eine andere Haltung erlaubten. So ist es heute unbestritten, daß einem Privatrechtssubjekt hoheitliche Gewalt ähnlich der öffentlichen Verwaltung selbst eingeräumt werden darf. Dies ist auch Versicherungsgesellschaften gegenüber möglich, weshalb sie aufgrund besonderer gesetzlicher Regelung als Träger öffentlich-rechtlicher Versicherungsverhältnisse herangezogen werden können 8 9 . Es ist rechtstechnisch ferner möglich, sie für die Durchführung obligatorischer Versicherungen zu verwenden. Freilich ist es dann — aus politischer Sicht — unerläßlich, ihre Gewinne und ebenso die Verwaltungskosten eng zu begrenzen. Überdies muß der Gesetzgeber Finanzierungssysteme festlegen und gewisse andere Maßnahmen ergreifen, die verhindern, daß Versicherte, Versicherungsnehmer usw. zu Schaden kommen, wenn sich eine Versicherungsgesellschaft auflöst, da bei ihr die Voraussetzungen der Perennität — anders als bei den vom Staate getragenen oder garantierten Versicherern — nicht erfüllt sind 9 0 . Letztlich w i r d es aber immer eine politische Frage sein, ob private Versicherungsgesellschaften zur Lösung sozialpolitischer Aufgaben heranzuziehen seien oder nicht. 5. Bismarcks
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Bismarck hat durch seine Sozialversicherungsgesetzgebung jene der Schweiz i n mancher Hinsicht und nachhaltig beeinflußt. Sein Werk soll daher etwas eingehender dargestellt werden. Es ist tunlich, bereits hier auf Lösungen hinzuweisen, welche i n ihm vorgezeichnet waren und dann — teilweise m i t starker zeitlicher Verzögerung — i n der Schweiz ebenfalls verwirklicht wurden 9 2 .
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Maurer, Sozialversicherungsrecht § 10, I I , 2. M i t diesen u n d ähnlichen Fragen hat sich der B u n d zur Zeit zu befassen, da er entscheiden muß, ob er private Versicherungsgesellschaften als V e r sicherungsträger i n der obligatorischen Arbeitnehmer-Unfallversicherung u n d ferner f ü r die zweite Säule — Personalvorsorgeeinrichtungen — zulassen w i l l . Näheres bei Maurer i n dem unter A n m . 83 erwähnten Aufsatz. 91 Vgl. Maurer, Sozialversicherungsrecht § 5, I I I — m i t L i t e r a t u r h i n w e i sen —, welchem die hier folgenden Ausführungen weitgehend entnommen sind; derselbe einläßlich i n dem i n A n m . 83 genannten Aufsatz. 92 F ü r verschiedene Elemente läßt es sich nicht oder doch nicht ohne u n verhältnismäßigen A u f w a n d an Quellenstudium beurteilen, ob der Anstoß für ihre gesetzliche Verankerung von Deutschland k a m oder ob später i n der Schweiz „zufällig" die gleiche Lösung gefunden worden ist. 90
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a) Nach dem Sieg der Deutschen über Frankreich i m Kriege 1870/71 wurde das neue Deutsche Reich gegründet. Der am 18. Januar 1871 i n Versailles zum Kaiser proklamierte Wilhelm I. ernannte Otto von Bismarck, den früheren preußischen Ministerpräsidenten, zum Kanzler. Schon am 7. Juni 1871 erließ der Reichstag das Reichshaftpflichtgesetz, dem u. a. auch die Fabriken für betriebliche Unfälle der Arbeiter unterstellt waren. A l l e i n es knüpfte die Haftpflicht an die Voraussetzung eines Verschuldens des Arbeitgebers oder seiner Repräsentanten; es führte also nicht die Kausalhaftung ein 9 3 . Die Rechtsstellung des Arbeiters wurde m i t diesem Gesetz nicht wesentlich verbessert. Die deutsche sozialdemokratische Partei schlug nach dem Tode von Lassalle (1864) unter der Führung von Bebel und Liebknecht eine marxistische Richtung ein. Bismarck erblickte daher in ihr eine Gefahr für das neue Kaiserreich, so daß er alle Vereine der Sozialisten und ihre Presse durch ein Ausnahmegesetz — das Sozialistengesetz — von 1878 verbot. U m die dadurch entstandenen politischen Erschütterungen durch eine schöpferische Tat aufzufangen, die „soziale Frage" wenigstens teilweise zu lösen und die Arbeiterschaft m i t dem monarchischen Staat zu versöhnen, schuf er die Sozialversicherungsgesetze: 1883 das Gesetz betreffend die Krankenversicherung, dem 1884 jenes über die Unfallversicherung und 1889 das Gesetz betreffend die Invaliditätsund Altersversicherung folgten. Sie beschränkten sich zur Hauptsache auf die Arbeiterschaft und führten erstmals das Obligatorium der Versicherung ein (Zwangsversicherung), die öffentlich-rechtlich ausgestaltet wurde. Eine Versicherung der Witwen und Waisen verstorbener Arbeiter konnte Bismarck, der 1890 durch den jungen Kaiser Wilhelm II. gestürzt wurde und von sämtlichen Ämtern zurücktrat, nicht mehr verwirklichen. Sie gelang erst 1911 i m Rahmen der Reichsversicherungsordnung. Diese faßte die Sozialversicherungsgesetze i n einem einzigen Gesetz zusammen (Kodifikation). Die Grundstrukturen, die Bismarck geschaffen hat, sind i n der BRD bis auf den heutigen Tag erhalten geblieben 9 4 . Berühmt geworden ist die Kaiserliche Botschaft vom 17. November 1881 an den Reichstag. Man pflegt sie als Magna Charta der deutschen Sozialversicherung oder der Sozialversicherung schlechthin zu bezeichnen. Sie enthält Motive und Programme für den Erlaß der Sozialversicherungsgesetze. Daraus sei lediglich der erste Satz wiedergegeben: „Schon i m Februar d. J. haben W i r unsere Überzeugung aussprechen lassen, daß die Heilung der sozialen Schäden nicht ausschließlich i m Wege der Repression sozialdemokratischer Ausschreitungen, sondern 93
Vgl. vorne A n m . 72 u n d Z. 3. Z u r Entstehung der deutschen Sozialversicherungsgesetze einläßlich Vogel, Bismarcks Arbeiterversicherung. 04
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gleichmäßig auf dem der positiven Förderung des Wohls der Arbeiter zu suchen sein werde 9 5 ." M i t seinen drei Gesetzen hat Bismarck weltweit als erster die Sozialversicherung i n einem mehr oder weniger geschlossenen System sozialer Sicherung verwirklicht. Probleme, m i t denen er sich auseinandersetzte, und Lösungen, die er gesetzlich verankerte, sind zum großen Teil auch heute noch aktuell. Einige von ihnen sollen daher, verbunden m i t Hinweisen auf die Gegenwart, kurz dargelegt werden. b) aa) Bismarck hat sich öfters zu der für i h n „grundsätzlichsten aller Einzelfragen" geäußert, ob die Versicherungsgesellschaften als Träger der neuen Sozialversicherung — namentlich der Unfallversicherung — i n irgendeiner Form zuzulassen seien. Er hat diese Frage stets dezidiert, m i t verschiedenen Begründungen, verneint. So glaubte er nicht, „daß die Versicherungsgesellschaften i m Interesse der Arbeiter auf ihre Aktien und Dividenden zu verzichten bereit seien"; „ n u r keine Private (gemeint ist: Versicherungsgesellschaft) m i t Dividende und Konkurs". Er wollte überhaupt die wichtigsten Zweige des Versicherungswesens „wegen ihrer Gemeinnützigkeit und des moralischen Interesses, das der Staat an der Verhinderung gewinnsüchtiger Ausbeutung habe, verstaatlichen" 9 6 . Auch lehnte er es ab, die Sozialversicherung auf der Grundlage der Freiwilligkeit aufzubauen, da kaum jemand behaupten könne, daß dadurch der gleiche Erfolg wie m i t einer Zwangsversicherung zu erreichen sei. Er hat sich überdies auf die Versicherung der Arbeiterschaft beschränkt, aber schon früh eine Ausdehnung auf weitere Bevölkerungsschichten i n Aussicht genommen, zumindest hinsichtlich der Alters- und Invalidenversicherung 97 . Die Schweiz hat die obligatorische Unfallversicherung gemäß K U V G weitgehend nach den erwähnten Prinzipien geregelt: öffentlich-rechtliches Versicherungsverhältnis; Beschränkung auf Arbeitnehmer; Obligatorium; staatlicher Träger; Ausschluß der privaten Versicherungsgesellschaften 98 . M i t der A H V / I V beschritt sie den gleichen Weg, m i t 95 Text ζ. B. bei Wannagat, Lehrbuch, S. 63. — Bismarck hat die Botschaft weitgehend selbst verfaßt; Vogel, A n m . 94, S. 134, A n m . 3. Die Sozialdemokraten standen der Sozialversicherungsgesetzgebung kritisch oder gar ablehnend gegenüber. So stimmten sie ζ. B. gegen das Krankenversicherungsgesetz. Sie befürworteten dagegen den Ausbau der Arbeiterschutzgesetzgebung; Vogel, S. 53 ff., 55 ff., 57. 96 Vogel (Anm. 94), S. 152 f., 138 u n d 169. M a n nannte Bismarck — trotz seiner konservativen Grundeinstellung — einen Staatssozialisten, der bis zur Sozialisierung der Produktionsmittel gehen wollte; Vogel, S. 119, 149, 154 u n d 173. 97 Ebenda, S. 176; Wannagat, A n m . 95, S. 71 f. 98 Erst m i t der laufenden Totalrevision der Unfallversicherung sollen die privaten Versicherungsgesellschaften i n gewissem Rahmen als Träger zugelassen werden; vgl. hinten nach A n m . 260.
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der Abweichung, daß sie nicht nur die Arbeitnehmer, sondern das ganze Volk i n die Versicherung einbezogen hat. Weitgehend auf der Linie von Bismarck bewegte sich die Lex Forrer hinsichtlich der Krankenversicherung. Da sie vom Volk verworfen wurde — vgl. hinten Ζ. I I I / l —, verlief die spätere Entwicklung anders: kein Bundesobligatorium; Zulassung privater Krankenkassen, so daß das Versicherungsverhältnis ursprünglich dem Grundsatz nach privatrechtlich geregelt w a r " , aber immerhin Ausschluß der privaten Versicherungsgesellschaften. I n der Krankenversicherung w i r d aber weiterhin um das Obligatorium gerungen. bb) Als Hauptquellen der Finanzierung hat Bismarck Beiträge der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer sowie Staatszuschüsse gesetzlich festgelegt. Die Versicherung für Betriebsunfälle der Arbeitnehmer ließ er allein durch die Arbeitgeber finanzieren. Dieses Prinzip hat sich in der Schweiz und i n den meisten übrigen westlichen Ländern durchgesetzt. I n der Krankenversicherung verpflichtete Bismarck die Arbeitgeber, ein Drittel der Auslagen durch Beiträge zu tragen, zwei Drittel gingen zu Lasten der versicherten Arbeitnehmer. Nach K U V G 2 I lit. c) darf den Arbeitgebern i n der Schweiz keine Beitragspflicht auferlegt werden. Diese Frage steht aber heute wieder zur Diskussion. I n der Alters- und Invalidenversicherung schöpfte Bismarck alle drei Finanzierungsquellen aus. Er wollte ursprünglich das staatliche Tabakmonopol einführen und für die ganze Bevölkerung aus dessen Erträgnissen eine beitragsfreie Alterssicherung (Staatsbürgerversorgung) aufbauen, mußte dann aber von diesem Projekt absehen 100 . Die A H V / I V w i r d i n der Schweiz ebenfalls aus allen drei Quellen finanziert. Gemäß A H V G 104 leistet dabei der Bund „seine Beiträge aus den Mitteln, die ihm aus der Belastung des Tabaks und der gebrannten Wasser zufließen". Er hat somit die Idee, den Tabak für die Finanzierung der A H V / I V einzusetzen, aufgenommen und verwirklicht. cc) Bismarck hat i n seinen Gesetzen bereits die Ordnung der lohnbezogenen Beiträge — Lohnprozente — verankert 1 0 1 . Diese Ordnung hat auch der schweizerische Gesetzgeber für verschiedene Zweige übernommen. I n der Krankenversicherung ist sie i n jüngster Zeit wiederum für einen Teilbereich vorgeschlagen worden 1 0 2 . 99 Durch die Revision des K U V G v o m 13. März 1964 ist es dann ebenfalls dem öffentlichen Recht u n d der Verwaltungsgerichtsbarkeit unterstellt w o r den; die privaten Krankenkassen — Vereine, Genossenschaften, Stiftungen — erhielten hoheitliche Gewalt. 100 wannagat, A n m . 95, S. 71 u n d Vogel, Anm. 94, S. 176. — I n der Schweiz gab es Bestrebungen, die Krankenpflegeversicherung für die ganze Bevölkerung unentgeltlich auszugestalten u n d sie durch die Einführung des Tabakmonopols zu finanzieren; vgl. hinten bei Anm. 117. 101
Wannagat, A n m . 95, S. 65, 69, 73.
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dd) Der deutsche Gesetzgeber hat sich nicht für eine Einheitsversicherung, sondern für eine Aufteilung der Sozialversicherung i n verschiedene Zweige entschieden. Überdies sollte die Versicherung nicht von einem einzigen Träger — ζ. B. von einer Reichsversicherungsanstalt —, sondern von einer Vielzahl von Trägern betrieben werden 1 0 3 . Seine Prinzipien der mehrfachen Trägerschaft und der Dezentralisation — Ausgliederung aus der eigentlichen Staatsverwaltung — hat der schweizerische Gesetzgeber weitgehend übernommen, ζ. B. i n der Krankenversicherung, der A H V / I V , und sie werden neuestens auch für die obligatorische Unfallversicherung vorgesehen. Bismarck hat den Versicherungsträgern i n hohem Maße die Selbstverwaltung durch die beteiligten Kreise, vor allem durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer i n der Krankenversicherung, gewährt. Dies ist erstaunlich; denn dadurch hat er — Feind der politischen Demokratie 1 0 4 — ein starkes demokratisches Element, gleichsam ein Recht auf Mitbestimmung, i n die Sozialversicherung eingebaut. Der schweizerische Gesetzgeber ist diesem Beispiel gefolgt, indem er verschiedenen Trägern — SUVA, Ausgleichskassen usw. — die Selbstverwaltung von vornherein eingeräumt oder sie ihnen, vor allem den Kranken- und Arbeitslosenkassen, doch belassen hat. ee) Die Sicherung der Arbeiter für Arbeitsunfälle wollte Bismarck nicht durch eine Verschärfung der Haftpflicht der Arbeitgeber — Einführung der Kausalhaftung oder doch Verschuldenshaftung m i t umgekehrter Beweislast, indem der Arbeitgeber sein Nichtverschulden zu beweisen gehabt hätte —, lösen. Er drängte von Anfang an auf Ersatz des Haftpflichtsystems durch die Schaffung einer Unfallversicherung, deren Träger auch für die Unfallverhütung zuständig sein sollte 1 0 5 . Der schweizerische Gesetzgeber hat jedoch zuerst die Fabrikhaftpflichtgesetze — m i t Kausalhaftung des Unternehmers — erlassen und ist erst später zur Einführung der obligatorischen Unfallversicherung für Arbeitnehmer geschritten, welche auch für die Unfallverhütung zuständig ist. Er hat also einen Umweg eingeschlagen, u m dann m i t zeitlicher Verzögerung zur gleichen Lösung wie Bismarck zu kommen 1 0 6 . 102
Vgl. hinten nach A n m . 253. 103 Wannagat, A n m . 95, S. 73. Neuestens schlagen Autoren wieder vor, i n der B R D sollte die gesamte Sozialversicherung als Einheitsversicherung durchgeführt werden; vgl. dazu Maurer, SZS 1977, S. 86. 104 Vogel, A n m . 94, S. 142 f. — Diese gegenpolige P o l i t i k k o m m t auch dadurch zum Ausdruck, daß der patriarchalisch eingestellte Guts- u n d F a b r i k besitzer Bismarck einerseits die Sozialisten bekämpfte u n d andererseits m i t der öffentlichen Sozialversicherung ein Stück Staatssozialismus v e r w i r k l i c h te. Er w a r i n erster L i n i e Realpolitiker u n d nicht politischer Doktrinär. 105 Ebenda, S. 33, 96. Die deutschen Sozialdemokraten traten demgegenüber längere Zeit f ü r die haftpflichtrechtliche Lösung ein; ebenda, S. 51 ff., 54 ff. 108 Vgl. hinten Z. I I I , 2.
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6. Die erste Bundeskompetenz zur Gesetzgebung über die Sozialversicherung
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a) Der Bundesrat nahm die Aufgabe, die ihm aus der Motion K l e i n 1 0 6 erwachsen war, rasch i n die Hand. Er weitete sie dahin aus, daß er nicht nur die Unfall-, sondern ebenso die Krankenversicherung i n seine Prüfung einbezog. A u f seine Veranlassung erstattete der Mathematiker Prof. K i n k e l i n i n Basel am 25. Oktober 1889 ein Gutachten zu beiden Gebieten und Nationalrat Forrer i n Winterthur eine mehr als 100 Seiten lange juristische „Denkschrift über die Einführung einer schweizerischen Unfallversicherung" vom 15. November 1889 109 . Forrer schilderte das geltende Haftpflichtsystem und die Haftpflichtpraxis, die er als A n walt i n einer größeren Anzahl von Streitfällen kennengelernt hatte (S. 856). Er übte scharfe K r i t i k , die sich etwa wie folgt zusammenfassen läßt: Die Kausalhaftung war unvollkommen, da der Betriebsinhaber ein Selbstverschulden des Arbeiters einwenden konnte, was eine Reduktion oder gänzliche Ablehnung seiner Ansprüche ermöglichte. Wenn der Betriebsinhaber keine Versicherung abgeschlossen hatte und zahlungsunfähig war, ging der Verunfallte leer aus, da ja keine Versicherungspflicht bestand. Prozesse mußte der Geschädigte gegen seinen Arbeitgeber führen. Forrer stellt daher fest, „daß das gegenwärtige Haftpflichtsystem Arbeiter und Arbeitgeber gegeneinander aufhetzt" (S. 878). Er verwendete bereits den Slogan, der dann i n der Volksabstimmung eine wesentliche Rolle gespielt hat: „Versicherung heißt die neue Parole. Haftpflicht bedeutet den Streit, Versicherung den Frieden" (S. 901). Offenbar inspiriert von Bismarck, spricht er den privaten Versicherungsgesellschaften die Eignung ab, die Arbeiterversicherung zu betreiben (S. 889 f.). I n einem besonderen Teil legt er die Grundzüge einer staatlichen schweizerischen Unfallversicherung dar. Dabei gibt er sein früheres Votum wieder: „Das Richtige sei, das deutsche System i n seinen Grundzügen zu adoptieren und unseren republikanisch-demokratischen Prinzipien gemäß umzugestalten" (S. 859 unten). b) M i t seiner Botschaft vom 28. November 1889 „betreffend Einführung des Gesetzgebungsrechts über Unfall- und Krankenversicherung" legte der Bundesrat der Bundesversammlung den Entwurf zu einem neuen A r t . 34 bis vor, durch welchen die Bundesverfassung zu ergänzen sei 1 1 0 . Er w i r f t die Frage auf, ob man die Kompetenz des Bundes nicht 107 Denkschrift, S. 13; Furrer, Entstehung u n d Entwicklung, S. 58; Oertli, Unfallversicherung, S. 463. 108 Y g i vorne A n m . 81. 109 110
Die beiden Dokumente sind abgedruckt i n BB1. 1889 IV, S. 843 u n d 855. BB1. 1889 I V , S. 825 (Botschaft) u n d S. 842 (Entwurf).
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auf die Kranken- und Unfallversicherung beschränken, sondern sie auf weitere Zweige, etwa nach deutscher Regelung auf die Invaliditätsund Altersversicherung ausdehnen solle. Er verneint aber diese Frage, da man zuerst einmal Erfahrungen m i t der Kranken- und Unfallversicherung sammeln müsse. Erst nach einem längeren Zeitraum werde man daran denken können, weitere Zweige zu prüfen und die Verfassung durch einen neuen Kompetenzartikel zu ergänzen 111 . Der Bundesrat empfiehlt dringend, den Ausdruck „Arbeiterversicherung" fallenzulassen und i h n durch den allgemeineren Ausdruck „Unfall- und Krankenversicherung" zu ersetzen (S. 840 f.). Er zitiert wörtlich Stellen aus der „Begründung" der deutschen Gesetzesvorlage betreffend die Unfallversicherung und ebenso aus den „erläuternden Bemerkungen" zum entsprechenden österreichischen Gesetzesentwurf (S. 831 f.). Überdies fügt er seiner Botschaft als Beilage I I I die Texte der deutschen und österreichischen „Gesetze der Arbeiterversicherung" an (S. 961-1014). Dieses eher ungewöhnliche Vorgehen erklärt sich teilweise dadurch, daß in jener Zeit viele Deutschschweizer große Sympathien für die benachbarten Kaiserreiche empfanden. Die Unabhängigkeit des Geistes mag gelegentlich darunter gelitten haben. Die Botschaft verwendet bereits den Ausdruck der „allgemeinen sozialen Versicherung" (S. 838), der sich später i n Sozialversicherung verwandelte 1 1 2 . c) Die Bundesversammlung änderte den bundesrätlichen Entwurf i n wesentlichen Punkten ab. Einmal wurde der Bund nicht nur als „befugt zur Gesetzgebung" erklärt, sondern er erhielt einen eigentlichen Gesetzgebungsauftrag 113 . Sodann strich sie den zu engen Passus, daß der Bund befugt sei, „ f ü r sämtliche Lohnarbeiter den Beitritt zu einem Krankenkassenverband verbindlich zu erklären" und sah die Befugnis zur Einführung eines umfassenden Obligatoriums vor. Den Text von A r t . 34 bis B V legte sie wie folgt fest: „Der B u n d w i r d auf dem Wege der Gesetzgebung die K r a n k e n - u n d U n fallversicherung einrichten, unter Berücksichtigung der bestehenden K r a n kenkassen. Er k a n n den B e i t r i t t allgemein oder für einzelne Bevölkerungskreise obligatorisch erklären."
111 Auch heute w i r d die Frage wieder diskutiert, ob dem B u n d die Kompetenz zur Gesetzgebung über die Sozialversicherung u n d sozialen Grundrechte durch eine Generalklausel oder n u r für bestimmte einzelne Zweige oder Grundrechte, d. h. nach der Enumerationsmethode, gewährt werden solle; vgl. Maurer, Sozialversicherungsrecht, A n m . 40. — Der Bundesrat behielt m i t seiner Prognose recht: Es dauerte noch lange Zeit, nämlich r u n d 35 Jahre, bis der B u n d den verfassungsmäßigen A u f t r a g bekam, die Alters- u n d Invalidenversicherung einzuführen. 112 Vgl. hinten bei A n m . 134. 113 Vgl. zur Unterscheidung von Kompetenz u n d A u f t r a g zur Gesetzgebung Maurer, Sozialversicherungsrecht bei A n m . 238 a.
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Der neue A r t i k e l wurde i n der Volksabstimmung vom 26. Oktober 1890 m i t großem Mehr, nämlich m i t 283.228 Ja gegen 92.200 Nein und von 18 ganzen und 5 halben Kantonen angenommen 114 . Damit hat der Bund erstmals Kompetenz und Auftrag zum Erlaß von Sozialversicherungsgesetzen erhalten. A r t . 34 bis B V gilt auch heute noch unverändert 1 1 5 . I I I . Die Zeit von 1891 - 1918
1. Die Lex Forrer
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a) Der Bundesrat nahm sofort nach der Volksabstimmung die Vorbereitungen für die neuen Gesetze auf. Er ließ 1891 eine Abordnung nach Deutschland und Österreich reisen, u m dort die Kranken- und die Unfallversicherung zu studieren. Nationalrat Forrer beauftragte er, die Gesetzesvorlage auszuarbeiten. Forrer mußte dann freilich seine Arbeiten unterbrechen, da der Arbeiterbund unter der Leitung seines Sekretärs Hermann Greulich eine Verfassungsinitiative i n die Wege leitete. M i t ihr sollte eine Bestimmung i n der Bundesverfassung aufgenommen werden, wonach die ganze Bevölkerung Anspruch auf unentgeltliche Krankenpflege habe 1 1 7 . Die Finanzierung hätte durch die Einführung des staatlichen Tabakmonopols zu erfolgen. A l l e i n das Volksbegehren erreichte die vorgeschriebene Unterschriftenzahl nicht. Forrer konnte 1893 seinen ersten Entwurf vorlegen. Eine Expertenkommission überarbeitete ihn. Der Bundesrat unterbreitete der Bundesversammlung m i t seiner Botschaft vom 21. Januar 1896 die Entwürfe zu je einem Bundesgesetz über die Kranken- und die Unfallversicherung 118 . Die Bundesversammlung gestaltete die Entwürfe inhaltlich und formal ziemlich stark um. Sie faßte sie i n einem einzigen Gesetz zusammen, dem sie überdies i n einem dritten Titel die Militärversicherung anfügte. Die Vorlage, die insgesamt 400 A r t i k e l zählte, verabschiedete sie am 5. Oktober 1899 119 .
114
BB1. 1896 I, S. 190; Furrer, A n m . 107, S. 59, A n m . 27. E i n Volksbegehren u n d ein Gegenvorschlag der Bundesversammlung auf Ersetzung des bisherigen durch einen neuen A r t . 34bis w u r d e n i n der Volksabstimmung v o m 8. Dezember 1974 verworfen; vgl. hinten v o r A n m . 253. 116 Denkschrift, S. 14; Furrer, A n m . 107, S. 59; Maurer, Hecht u n d Praxis, S. 3. 117 D a m i t wurde bereits die Idee vorweggenommen, die später i m englischen Beveridgeplan eine zentrale Rolle gespielt hat; vgl. Maurer, Sozialversicherungsrecht, A n m . 57. 118 BB1. 1896 I, S. 189 ff. (Botschaft m i t entstehungsgeschichtlichen Angaben) und S. 465 (Gesetzesentwürfe) sowie 1906 V I , S. 229 („Historischer Überblick"). 119 BB1. 1899 I V , S. 853. 115
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A l l e i n eine kleine Gruppe von Journalisten i n Bern u n d ein Ostschweizer Textilindustrieller ergriffen das Referendum. Obschon sich alle Parteien für die Annahme der Vorlage einsetzten, wurde sie i n der Volksabstimmung vom 20. M a i 1900 m i t großer Mehrheit verworfen: 341.914 Nein standen bloß 148.035 Ja gegenüber. Der Gesetzesredaktor Forrer w a r tief enttäuscht, legte sein Mandat als Nationalrat nieder und gab seine A d v o k a t u r auf, u m sich einer anderen Tätigkeit zuzuwenden. Schon zwei Jahre später wurde er dann freilich i n den Bundesrat gewählt, so daß er auch an der neuen Vorlage über die Krankenund Unfallversicherung mitarbeiten konnte 1 2 0 . b) Die vom V o l k verworfene Lex Forrer hatte ein Obligatorium sow o h l für die Kranken- als auch f ü r die Unfallversicherung vorgesehen. I h m wären alle unselbständigerwerbenden Personen vom 14. Lebensjahr an unterstanden, sofern i h r Jahreslohn 5.000 Fr. nicht überstiegen hätte. Gegen das Obligatorium i n der Krankenversicherung, das teilweise durch öffentliche, von den Kantonen zu errichtende Krankenkassen durchzuführen gewesen wäre, hatte sich die stärkste Opposition gebildet. Besonders die bestehenden Krankenkassen fürchteten u m ihre künftige Entwicklung. Die Vorlage bedeute den „ A n f a n g des Staatssozialismus" und sie sei zu „zentralistisch". Dies waren die Hauptargumente 1 2 1 . K a u m angefochten w a r die Errichtung einer staatlichen U n fallversicherungsanstalt u n d die Militärversicherung. c) Da, w i e gerade erwähnt, der T i t e l betreffend die Militärversicherung praktisch unbestritten geblieben war, machte die Bundesversammlung aus i h m ein selbständiges Gesetz und verabschiedete es bereits am 28. J u n i 1901 122 , so daß es am 1. Januar 1902 i n K r a f t treten konnte. Hier sollen einige Angaben zur bisherigen und späteren Entwicklung der Militärversicherung eingeschoben werden. Schon ein Bundesgesetz vom 7. August 1852 verpflichtete den Bund, den i m Militärdienst verunglückten Personen oder ihren Angehörigen gewisse Leistungen zu gewähren. A n seine Stelle trat, nachdem die neue Bundesverfassung angenommen worden war, das Bundesgesetz vom 13. November 1874 über Militärpensionen und Entschädigungen. Es stellte Krankheiten den Unfällen gleich. Da m a n allgemein die L e i stungen als ungenügend empfand, Schloß der B u n d 1887 m i t der „Zürich" Versicherungs-Gesellschaft eine private „ C o l l e c t i v - M i l i t ä r - U n f all Versicherung" ab. Wehrmänner konnten sich bei i h r gegen Entrich120
Denkschrift, S. 14. Furrer, A n m . 52, S. 61. 122 BB1. 1900 I I I , S. 367, AS (n. F.) 18, S. 803, 849 u n d 940 sowie Bassegoda, Militärversicherung, S. 11. 121
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tung einer Prämie freiwillig versichern lassen. Die Bundesversammlung ermächtigte dann am 24. Januar 1893 den Bundesrat, die Prämien der „Zürich" für sämtliche Wehrmänner zu Lasten der Bundeskasse zu nehmen, was er durch Bundesratsbeschluß vom 15. Januar 1895 auch tat. M i t Botschaft vom 28. Juni 1898 legte der Bundesrat dann der Bundesversammlung den Entwurf zu einem neuen Militärversicherungsgesetz vor, der von ihr i n die Lex Forrer eingebaut w u r d e 1 2 3 und — wie bereits erwähnt — schließlich aus dieser als separates Bundesgesetz vom 28. J u n i 1901 hervorgegangen ist. Es vermochte aber aus verschiedenen Gründen, ζ. B. wegen ungenügender Leistungen, nicht zu befriedigen. Deshalb beschloß die Bundesversammlung i m ersten Kriegsjahr das neue Bundesgesetz über die Militärversicherung vom 23. Dezember 1914. Der Bundesrat hat jedoch dieses Gesetz nie als Ganzes, sondern nur einzelne seiner A r t i k e l i n K r a f t gesetzt, nämlich i m Hinblick auf den Aktivdienst der Armee während des Ersten Weltkrieges. Das Nebeneinander von zwei Gesetzen, die i n verschiedenen Punkten ergänzt wurden und zu denen noch einige Verordnungen kamen, komplizierten das Militärversicherungsrecht äußerst, so daß es gelegentlich als „Geheimwissenschaft" bezeichnet wurde 1 2 4 . Das Bundesgesetz über die Militärversicherung vom 28. Juni 1901 ist das erste Gesetz, m i t welchem der Bund ein Gebiet regelte, das nach heutiger Anschauung zur Bundessozialversicherung gehört. Diese letztere Bezeichnung verwendete man damals freilich noch nicht 1 2 5 . 2. Das Bundesgesetz über die Krankenund Unfallversicherung vom 13. Juni 1911 (KUVG) a) Nachdem das Volk die Lex Forrer so wuchtig verworfen hatte, bestand eine gewisse Ratlosigkeit über das weitere Vorgehen. Der Schweizerische Juristenverein nahm an seiner Jahresversammlung vom 23./24. September 1901 eine Resolution an, m i t welcher er den Ausbau 123 Weiteres zur Geschichte der Militärversicherung bei Bassegoda, M i l i t ä r versicherung, S. 7 ff.; Piccard, SZS 1965, S. 233 ff.; die i n A n m . 83 erwähnte Schrift 75 Jahre „Zürich", S. 39, hält folgendes fest: „Wenn auch die äußere Staffage kriegerisch anmutet, so waren es doch recht idyllische Zustände der guten alten Zeit, i n die uns die ehemalige Unfallversicherung f ü r die Schweizerische Armee hineinversetzt. A u f G r u n d einer Vereinbarung m i t dem Eidg. Militärdepartement traten alle Wehrmänner, v o m H e r r n Oberst m i t dem Hahnenfederbusch auf dem Kopf bis zum letzten Trainsoldaten i n der Lederhose, w e n n sie zum Dienst einrückten, unter den Versicherungsschutz der „Zürich". Wer nicht versichert sein wollte, mußte dies beim ersten A p p e l l melden." — Dieser private Versicherungsvertrag soll übrigens der I n s t i t u t i o n den Namen „Militärversicherung" gegeben haben, der i n allen späteren Gesetzen verwendet w u r d e ; vgl. Schatz, Kommentar, S. 19. 124 Maurer, Sozialversicherungsrecht, A n m . 162. 125 v g l vorne bei den A n m . 8, 23 u n d 112 sowie hinten bei A n m . 134.
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der Haftpflichtgesetzgebung empfahl. I h r seien weitere Betriebe zu unterstellen, überdies müßten die Entschädigungen verbessert und die Arbeitgeber verpflichtet werden, eine Haftpflichtversicherung abzuschließen. Der schweizerische Arbeiterbund reichte eine Petition ähnlichen Inhalts ein. Der Bundesrat erhielt aber auch zahlreiche Eingaben von Einzelpersonen und Personengruppen, m i t denen er eingeladen wurde, eine neue Vorlage über die Kranken- und Unfallversicherung auszuarbeiten. Für diesen Weg entschloß er sich denn auch. Er beauftragte einen Juristen, Dr. E. Cérésole, m i t der Ausarbeitung eines Gesetzentwurfs. Dieser solle für die Krankenversicherung lediglich ein Förderungs- oder Subventionierungsgesetz vorsehen, m i t welchem kein Bundesobligatorium verbunden sei. Krankenkassen könnten nur Subventionen bekommen, wenn sie bestimmte Mindestanforderungen erfüllten, ζ. B. vorgeschriebene Mindestleistungen erbrachten 126 . Gestützt auf zwei Gesetzesentwürfe von 1904 und 1905 — je einen für die Kranken- und für die Unfallversicherung —, faßte der Bundesrat am 10. Dezember 1906 Beschluß über die Botschaft zum Entwurf für ein Bundesgesetz betreffend die Kranken- und Unfallversicherung 127 . Die Botschaft führt auf S. 247 aus, daß der neue Entwurf auf dem doppelten Prinzip des Kompromisses und des etappenweisen Vorgehens beruhe. Hinsichtlich der Krankenversicherung entfernte er sich vom deutschen Vorbild, da er die Idee der Klassenversicherung — begrenzt auf die Arbeiterschaft — aufgab: Jeder Schweizer sollte grundsätzlich einer Krankenkasse beitreten dürfen. Eine vollständige und endgültige Lösung für die Krankenversicherung könne i m ersten Anlauf nicht erwartet werden, „ u m so weniger, als die unserem Lande ganz eigenen Verhältnisse, seine gegenwärtige Gesetzgebung, seine Institutionen, das Temperament unseres Volkes und seine Bedürfnisse — eine einfache Verpflanzung von anderswo Angenommenem verunmöglichen und i m Gegenteil i n fast allen Punkten eine selbständige Lösung verlangen". Freilich entschloß sich der Bundesrat trotzdem, die Unfallversicherung weitgehend nach dem deutschen Vorbild zu gestalten und für die Arbeitnehmerschaft der bereits der Haftpflichtgesetzgebung unterstellten und weiterer Betriebe eine obligatorische, staatliche Unfallversicherung einzuführen. Er schlug vor, daß diese nicht nur berufliche, sondern auch außerberufliche Unfälle der Versicherten zu decken habe. Damit wich er von allen bekannten ausländischen Gesetzgebungen ab, da sie nur 126 Das bundesrätliche Konzept, f ü r die Krankenversicherung lediglich ein Förderungsgesetz zu erlassen, w a r eine glückliche Lösung, da sie der K r a n kenversicherung zu einer k a u m je geahnten Entwicklung verhalf und zwar ohne Bundesobligatorium u n d ohne v o m Bunde vorgeschriebene staatliche Kassen. Vgl. die Angaben vorne bei A n m . 10. 127 BB1. 1906 V I , S. 229 (Botschaft) u n d S. 405 (Entwurf) m i t einer Zusammenfassung der Lex Forrer (S. 233) u n d den Geschehnissen seit der Volksabstimmung (S. 237).
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die Arbeitsunfälle i n die Arbeiterunfallversicherung einbezogen. M i t der Einführung der Unfallversicherung waren die Haftpflichtgesetze aufzuheben. Der Betriebsinhaber sollte für Arbeitsunfälle nicht mehr der Kausalhaftung, sondern nur mehr einer stark gemilderten Verschuldenshaftung unterliegen 1 2 8 . b) Die Bundesversammlung unterzog den Entwurf i n verschiedenen Punkten Änderungen. Namentlich wollte sie die Selbstverwaltung und Autonomie der neu zu errichtenden Unfallversicherungsanstalt verstärken. Sowohl die Arbeitgeber als auch die Arbeitnehmer sollten i m Verwaltungsrat vertreten sein. Sie schied auch die Betriebs- und Nichtbetriebsunfallversicherung klarer voneinander; die Arbeitgeber hatten die erstere ganz zu finanzieren, während die Prämien für letztere zu Lasten der Versicherten gingen, wobei der Bund freilich noch Zuschüsse zu leisten hatte 1 2 9 . Die Vorlage nahm sie am 13. Juni 1911 an. Da gegen sie wiederum das Referendum ergriffen wurde, fand am 4. Februar 1912 die Abstimmung statt. Das Volk stimmte der Vorlage m i t einer nur geringen Mehrheit von rund 46.000 Stimmen zu, nämlich m i t 287.565 Ja gegen 241.426 Nein. Das K U V G m i t rund 131 A r t i k e l n trennt die Kranken» und die Unfallversicherung beinahe vollständig. Es gilt grundsätzlich auch heute noch, obwohl es seither einige kleinere und größere Änderungen erfahren hat 1 3 0 . c) Der Bund mußte nun sofort ein A m t schaffen, welches die i m K U V G vorgeschriebenen Aufgaben — Aufsicht, Festsetzung von Subventionen usw. — wahrnehmen konnte. Er errichtete 1912 das Bundesamt für Sozialversicherung, das für die spätere Entwicklung verschiedener Zweige der Sozialversicherung von größter Bedeutung w a r 1 3 1 . d) Den Titel über die Krankenversicherung konnte der Bund schon auf den 1. Januar 1914 i n K r a f t setzen, da die Krankenkassen längst vorhanden waren. Für die Einführung der obligatorischen Unfallversicherung dagegen waren aufwendige Vorbereitungsarbeiten erforderlich, denn ein Versicherungsträger mußte erst errichtet werden. Dieser, 128
Vgl. weitere Einzelheiten ζ. B. bei Furrer, A n m . 52, S. 61 ff.; Denkschrift, S. 17 u n d Maurer, Recht u n d Praxis, S. 3 f. 129 Diese Zuschüsse w u r d e n durch B G v o m 5. Oktober 1967 aufgehoben; AS 1968, S. 64. 130 Vgl. die Grundzüge des K U V G vorne bei A n m . 10 u n d 11. — Die zur Zeit laufende Totalrevision der Unfallversicherung sieht vor, daß die beiden Zweige wiederum i n je einem besonderen Gesetze zu regeln seien, w i e der Bundesrat es übrigens m i t seiner Botschaft zur L e x Forrer vorgeschlagen hatte; vgl. vorne bei A n m . 118. 131 Das Bundesamt f ü r Sozialversicherung ist seit 1. Januar 1955 eine V e r waltungsabteilung des Eidg. Departementes des Innern, während es vorher dem Eidg. Volkswirtschafts département unterstellt w a r ; SJK, Ersatzkarte Nr. 1313, Krankenversicherung I, S. 7.
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nämlich die SUVA, nahm den Versicherungsbetrieb am 1. A p r i l 1918 auf. Zum gleichen Zeitpunkt trat auch das Eidg. Versicherungsgericht i n Funktion, das zur letztinstanzlichen Beurteilung von Streitigkeiten aus der obligatorischen Unfallversicherung — nicht aber aus der Krankenversicherung — geschaffen worden war. e) Dem Gesetzgeber war anscheinend entgangen, daß ungezählte Betriebe, die nunmehr unter die obligatorische Unfallversicherung fielen, durch Unfall- und Haftpflichtversicherungsverträge m i t Versicherungsgesellschaften gebunden waren. Wohl i n erster Linie aus diesem Grunde erließ er das sog. Ergänzungsgesetz zum K U V G vom 18. Juni 1915. M i t ihm stellte er den Grundsatz auf, daß die erwähnten Verträge dahinfallen, sobald ein Betrieb der Unfallversicherung unterstellt werde, und zwar ohne daß der eine oder andere Teil Entschädigungen zu leisten habe (Art. 1 I und A r t . 2 II). Das Ergänzungsgesetz regelt überdies verschiedene andere Fragen, die hier nicht zu behandeln sind 1 3 2 . f) Wegen der Einführung der staatlichen Unfallversicherung verloren mehrere private Versicherungsgesellschaften einen namhaften Teil ihres Portefeuilles 133 . A l l e i n sie überstanden diese Amputation. Zudem konnten sie sich damit trösten, daß sie durch die Arbeiterversicherung ein know how erlangt hatten, welches ihnen das geschäftliche Fortkommen i m In- und Ausland wesentlich erleichterte. g) Nachdem das K U V G i n K r a f t gesetzt war, begann sich — wie i n Deutschland — auch i n der Schweiz die Bezeichnung Sozialversicherung einzubürgern. Der Bundesrat verwendete sie bereits i n seiner Botschaft vom 21. Juni 1919 betreffend die Aufnahme eines A r t . 34quater B V (AHV/IV-Gesetzgebungskompetenz), und zwar mehrmals 1 3 4 . 3. Weitere bedeutsame Gesetze jener Epoche a) Die zwei ersten Jahrzehnte dieses Jahrhunderts waren nicht nur für die Entstehung der Sozialversicherung von großer Tragweite. A m 10. Dezember 1907 nahmen die eidgenössischen Räte einstimmig auch das Zivilgesetzbuch und am 30. März 1911, ebenfalls einstimmig, das Obligationenrecht an, das mehrere Titel, so auch das Dienstvertragsrecht 1 3 5 , des Obligationenrechts von 1881 ersetzte. Das Referendum 132
Maurer, Recht u n d Praxis, S. 48. Vgl. die i n A n m . 88 erwähnte Schrift 75 Jahre „Zürich", S. 30. 134 BB1. 1919 I V , S. 1 ff. Vgl. vorne bei A n m . 125 u n d 112. Fleiner, Bundesstaatsrecht, S. 533 hat die Bezeichnung Sozialversicherung ebenfalls schon verwendet; vgl. auch Hug, SZS 1963, S. 103. 135 Vgl. Näheres zur E n t w i c k l u n g des Arbeitsrechts bei Hug, SZS 1979, S. 170 f. — Das Dienstvertragsrecht ist durch B G v o m 25. J u n i 1971 neu geordnet worden. Seit 1. Januar 1972 gilt der zehnte T i t e l des OR, der i n den 133
Art. 319 - 362 den Arbeitsvertrag
regelt.
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wurde nicht ergriffen. Beide Gesetze traten am 1. Januar 1912 i n Kraft. Damit hatte der Bund das Privatrecht kodifiziert; die kantonalen Gesetze über das Privatrecht fielen zur Hauptsache dahin. Die Kodifikation des Privatrechts zeichnet sich durch Einheitlichkeit und Geschlossenheit aus. Allein, sie konnte an eine jahrtausendalte Rechtstradition anknüpfen. Demgegenüber entstand m i t dem Sozialversicherungsrecht ein völlig neues Recht, das der Gesetzgeber nur langsam, tastend und pragmatisch aufzubauen vermochte. Dem Sozialversicherungsrecht fehlt daher die Einheitlichkeit und Geschlossenheit des Privatrechts. Es dürfte wohl noch weitere Dezennien dauern, bis dem Gesetzgeber eine Kodifikation gelingt, die jener des Privatrechts einigermaßen vergleichbar ist 1 3 6 . b) Das Fabrikgesetz von 1877 ist durch das BG vom 18. Juni 1914 betreffend die Arbeit i n den Fabriken abgelöst worden. Dieses Gesetz verstärkte den Gesundheitsschutz, brachte eine Neuordnung der A r beits» und Ruhezeit und erweiterte den Schutz der Frauen und Jugendlichen. Der Bund hat die Arbeitsschutzgesetzgebung schrittweise weiter ausgebaut, nachdem seine Zuständigkeit durch die Partialrevisionen der Bundesverfassung von 1908 und 1947 genügend ausgedehnt worden ist. Heute gilt das Bundesgesetz vom 13. März 1964 über die Arbeit i n Industrie, Gewerbe und Handel (Arbeitsgesetz), um welches die Beteiligten jahrzehntelang gerungen haben 1 3 7 .
B. D i e Zeit zwischen den beiden Weltkriegen (1919 - 1939) I . Allgemeines
1. Der Erste Weltkrieg Der Erste Weltkrieg, der durch die Ermordung des österreichischen Thronfolgers i n Sarajewo am 28. Juni 1914 ausgelöst worden war, endete am 11. November 1918 m i t der Annahme der Waffenstillstandsbedingungen durch die Deutschen. Die Monarchien i n Deutschland und Österreich stürzten ein und wurden durch republikanische Staatsverfassungen abgelöst. Die November-Revolution i n Deutschland markierte den Ubergang vom Krieg zum Frieden. Schon ein Jahr zuvor, am 7. November 1917, hatten die Kommunisten die russische Revolution eingeleitet, die sie an die Macht brachte. I h r Führer Lenin war während des Krieges als Emigrant i n der Schweiz gewesen. Er hatte sie bereits 136 Die B R D hat sich m i t dem Sozialgesetzbuch langfristig ein solches Ziel gesetzt. Z u r Frage, ob sie es je erreichen w i r d , läßt sich heute keine Prognose stellen. Vgl. auch Zacher, SZS 1979, S. 255. 137 Weiteres bei Hug, Kommentar, S. 11 ff. u n d SZS 1979, S. 168 f.
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am 9. A p r i l 1917 verlassen, um auf abenteuerliche Weise nach Rußland zurückzukehren und dort die Revolution vorzubereiten 138 . 2. Auswirkungen
auf die Schweiz
Die Schweiz war vom Krieg verschont geblieben. Der Grundsatz der bewaffneten Neutralität hatte sich einmal mehr bewährt. Trotzdem erlebte unser Land i m November 1918 die schwersten politischen und sozialen Erschütterungen seit der Gründung des Bundesstaates i m Jahre 1848. Die Teuerung, die bei den Arbeitnehmern nur langsam oder gar nicht durch Lohnerhöhungen ausgeglichen wurde 1 5 9 , die knappe und teilweise ungerechte Verteilung der Lebensmittel sowie Arbeitslosigkeit erzeugten soziale Spannungen. Eine schwere Grippeepidemie verursachte zusätzliche Not. Die russische Revolution löste auch bei uns revolutionäre Strömungen aus. I n dieser Lage riefen die Sozialdemokratische Partei, der Schweizerische Gewerkschaftsbund und die Sozialdemokratische Nationalratsfraktion am 11. November 1918 zusammen m i t dem Oltener Aktionskomitee, das unter der Leitung von Robert Grimm stand, zu einem Generalstreik auf. Dieser sollte solange fortgesetzt werden, bis die Bundesbehörden ein aus neun Punkten bestehendes Minimalprogramm, d.h. ein Ultimatum, angenommen hätten 1 4 0 . Bundesrat und Bundesversammlung lehnten dieses Ultimatum ab und beschlossen den Einsatz von Truppen zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung. A m 13. November 1918 stellte der Bundesrat seinerseits dem Oltener Komitee ein Ultimatum, dem Streik „ m i t heute ein Ende zu machen". Der Streik wurde innerhalb einer etwas verlängerten Frist abgebrochen und damit ein eigentlicher Bürgerkrieg vermieden. Die Kraftprobe war zugunsten der Bundesbehörden und damit des Bürgerund Bauerntums entschieden 141 . Das Oltener Komitee zerfiel allmählich 1 4 2 . 3. Folgen des Landesstreiks Der Landesstreik bewirkte vorerst einmal eine weitere Verschärfung des Klassenkampfes und die Vertiefung des Grabens zwischen Arbeiterschaft sowie Bürger- und Bauerntum. Die Sozialdemokratische Partei lehnte i n der Folge ζ. B. die Landesverteidigung ab, da die Truppen maßgebenden Anteil am Zusammenbruch des Generalstreiks hatten 1 4 3 . 138 Eingehender zur Rolle v o n L e n i n i n der Schweiz u n d zu seiner Abreise Gautschi, Landesstreik, S. 43 ff. u n d 64 f. 139 Ebenda, S. 46. 140 Ebenda, S. 281. 141 Ebenda, S, 276 ff. 142 Ebenda, S. 359 ff. 143 Ebenda, S. 369.
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4. Erwachen des sozialpolitischen Verständnisses A l l e i n beim Bürgertum setzte sich die Erkenntnis durch, daß es auf sozialem Gebiet zuwenig getan und damit ebenfalls eine Ursache der Erschütterungen gesetzt habe 1 4 4 . Vielleicht aus dieser Erkenntnis heraus verwirklichten die Bundesbehörden i n den folgenden Jahren mehrere der neun Postulate, welche i m Aufruf zum Generalstreik als Minimalprogramm aufgestellt worden waren. So führten sie — durch entsprechende Gesetze — den Proporz für die Nationalratswahl und die 48Stundenwoche ein. Schon i m Sommer 1919 legte der Bundesrat der Bundesversammlung den Entwurf für die Aufnahme einer Bestimmung i n der Bundesverfassung vor, welche dem Bund die Kompetenz zur Einführung der Alters- und Hinterlassenenversicherung einräumte 1 4 5 . 1924 folgte ein Bundesgesetz über Beitragsleistungen an Arbeitslosenkassen. Der Generalstreik hat das soziale Verständnis i n der Bevölkerung langfristig wesentlich gestärkt und ist somit als eine der Wurzeln zu verstehen, die — wenn auch erst viel später — zum Auf- und Ausbau der Sozialversicherung geführt hat. 5. Von der Konfrontation
zur Kooperation
Die Bedrohungen, die sich i n den dreißiger Jahren durch das nationalsozialistische Deutschland abzeichneten, haben i n der Schweiz die Idee der Klassenversöhnung maßgebend gefördert. Aus der mißglückten Konfrontation von 1918 begann sich die Kooperation zu entwickeln, welche i m Friedensabkommen vom 19. J u l i 1937 ihren sichtbaren Ausdruck gefunden hat. Dieses Friedensabkommen wurde vom Präsidenten des Arbeitgeberverbandes Schweizerischer Maschinen- und Metallindustrieller, Ernst Düby, und Konrad I l g 1 4 6 , Präsident des Schweizerischen Metall- und Uhrenarbeiterverbandes — der größten Gewerkschaft —, unterzeichnet. Es beruhte letztlich auf Treu und Glauben i n den Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer und es hat die Idee der Sozialpartnerschaft auch i n anderen Wirtschaftszweigen nachhaltig gefördert, der Schweiz den Arbeitsfrieden während Jahrzehnten bewahrt und die soziale Lage der Arbeiterschaft erheblich verbessert. Die erwähnten Bedrohungen führten i m übrigen auch dazu, daß die Sozialdemokratische Partei 1935 wiederum für die Landesverteidigung eintrat und dieser Haltung während des Zweiten Weltkrieges treu blieb 1 4 7 . 144
Ebenda, S. 371 f. Der Bundesrat hatte schon 1889 ins Auge gefaßt, eine Alters- u n d H i n terlassenenversicherung einzuführen, er konnte sich aber noch nicht auf einen Zeitplan festlegen; vgl. vorne bei A n m . 111. Es darf aber doch w o h l angenommen werden, daß der Generalstreik die Vorarbeiten des Bundes f ü r die Schaffung einer verfassungsrechtlichen Grundlage beschleunigt hat. 146 Er hatte dem Oltener Aktionskomitee angehört. 145
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6. Die Weltwirtschaftskrise Auch die Schweiz wurde zwischen den beiden Weltkriegen durch wirtschaftliche Krisen geschüttelt. So zählte sie 1922 durchschnittlich 67.000 gänzlich Arbeitslose 146 . Die Weltwirtschaftskrise, die am 29. Oktober 1929 m i t dem Sturz der Kurse an den Börsen von New York eingeleitet wurde, erreichte i n der Schweiz 1936 ihren Höhepunkt, als die Zahl der Arbeitslosen bis auf 120.000 anstieg. Die Bundesbehörden waren durch diese Entwicklung stark i n Anspruch genommen. Zudem hatten sie sich i n jener gefahrvollen Zeit m i t der wirtschaftlichen Kriegsvorsorge sowie m i t der Stärkung der militärischen und geistigen Landesverteidigung zu befassen. Die Zwischenkriegszeit war daher für den Ausbau der Sozialversicherung ungünstig, wie gleich zu zeigen sein wird149. I I . Bundesmittel für die Arbeitslosen
1. Arbeitslosenfürsorge Schon während des Krieges schuf der Bund durch zahlreiche Erlasse — Bundesbeschlüsse und Bundesratsbeschlüsse — die ArbeitslosenFürsorge. Er gewährte namentlich Kantonen und Gemeinden Beiträge, damit sie Unterstützungen an Arbeitslose entrichten konnten. So errichtete der Bundesrat durch Beschluß vom 24. März 1917 einen „Fonds für Arbeitslosenfürsorge", den er aus der Kriegsgewinnsteuer speiste 150 . Überdies leistete er an die Arbeitslosenkassen auch nach dem Kriege Beiträge. I m Jahre 1923 gab es 60 subventionsberechtigte Kassen, davon 18 öffentliche — von Kantonen und Gemeinden errichtete —, 4 paritätische und 38 Verbandskassen 151 .
147 Gautschi, A n m . 138, S. 71 ff. u n d 384, A n m . 5. — Mitglieder des Oltener Aktionskomitees stiegen später zu den höchsten Ehren des Staates auf: Ernst Nobs wurde 1943 erster sozialdemokratischer Bundesrat u n d Robert G r i m m präsidierte 1946 die Vereinigte Bundesversammlung; Gautschi, S. 378, A n m . 58. 148 BB1. 1924 I I , S. 538 u n d 520; Ende A p r i l 1923 gab es noch 35.512 gänzlich u n d 17.767 teilweise Arbeitslose. 149 Maurer, Sozialversicherungsrecht, S. 97. 150 Zusammenstellung zahlreicher Erlasse bei Furrer, Entstehung u n d E n t wicklung, S. 125 ff.; der A u t o r schildert auf S. 122 f. frühere, erfolglose Bemühungen, durch Bundesgesetz die Arbeitslosenversicherung einzuführen. 151 BB1. 1924 I I , S. 538. Der B u n d bezahlte von 1917 bis 1923 an die A r beitslosenfürsorge 143 M i l l . Franken, an Arbeitslosenkassen dagegen n u r 7,6 M i l l . Franken. Daraus läßt sich w o h l schließen, daß die Arbeitslosenkassen i n jener Zeit noch keine allzugroße Bedeutung hatten. Vgl. Saxer, Soziale Sicherheit, S. 208, m i t einer Tabelle auf S. 210 über die E n t w i c k l u n g der A r beitslosenversicherung von 1924 bis 1975; 1936 gab es 204 (Höchstzahl) u n d 1975 noch 131 Kassen.
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2. Trotz Bundesgesetz vom 17. Oktober 1924: keine befriedigende Ordnung der Arbeitslosenversicherung I m Jahre 1923 ging die Arbeitslosigkeit allmählich zurück. Der Bund entschloß sich daher, die Arbeitslosenfürsorge abzubauen und die Subventionen an die Arbeitslosenkassen neu zu ordnen. Er erließ zu diesem Zweck das BG über die Beitragsleistung an die Arbeitslosenversicherung vom 17. Oktober 1924 152 . Darin stellte er die Bedingungen auf, welche eine Kasse erfüllen mußte, um Bundesbeiträge beanspruchen zu können. So hatte die Kasse Beiträge (Prämien) der Mitglieder zu erheben, womit der Charakter als Versicherung unterstrichen werden sollte. Es handelte sich u m ein Subventions- oder Förderungsgesetz, das ähnliche Züge wie das K U V G hinsichtlich der Krankenversicherung trug. Freilich verwendeten erst spätere Verordnungen den Ausdruck „Anerkennung": Die VO V I vom 19. Januar 1937 153 regelte die „Anerkennung der Kassen" i n einem besonderen Abschnitt: Eine Kasse, die Bundesbeiträge wünschte, mußte den Bund zuerst um die „Anerkennung" nachsuchen. Da die Kantone grundsätzlich zuständig blieben, die Arbeitslosenversicherung nach ihrem Gutfinden auszugestalten, ζ. B. für A r beitnehmer ein Voll- oder Teilobligatorium einzuführen, zeichnete sich dieser Versicherungszweig weiterhin durch größte Mannigfaltigkeit aus. Als die Arbeitslosigkeit schon um das Jahr 1930 wieder zunahm — betroffen waren ζ. B. die Uhrenindustrie, die Stickerei usw. —, genügte das erwähnte Gesetz nicht mehr. Der Bund erließ verschiedene Bundesbeschlüsse, u m neben der Versicherung wieder die Fürsorge auszubauen, ζ. B. 1931 „über die Krisenhilfe für Arbeitslose", die „Krisenunterstützung für Arbeitslose", 1939 „Fürsorge für ältere Arbeitslose". Es ging bei diesen Beschlüssen darum, Arbeitslose zu unterstützen, die gegenüber Arbeitslosenkassen keinen Anspruch auf Versicherungsleistungen hatten, sei es, daß sie gar nicht versichert waren, sei es, daß die bundesrechtlich vorgeschriebene Bezugsdauer von 90 Tagen abgelaufen war („ausgesteuerte" Arbeitslose). Das Nebeneinander von Bundeserlassen und kantonalen Erlassen, die sowohl die Versicherung als auch die Fürsorge regelten, und zwar auf vielfältige A r t , führte zu einer beinahe unerträglichen Rechtszersplitterung, die bis i n den Zweiten Weltkrieg hinein andauerte. Dem Bund ist es nicht geglückt, zwischen den beiden Weltkriegen eine befriedigende Ordnung der Arbeitslosenversicherung zu verwirklichen.
152 153
A S 41, S. 235. AS 53, S. 45.
Entwicklungsprozeß der Sozialversicherung i m B u n d e s s t a a t 7 9 3 I I I . Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung
1. Volksabstimmung über Artikel 34 quater BV vom 6. Dezember 1925 M i t seiner Botschaft vom 21. J u n i 1919 „betreffend Einführung des Gesetzgebungsrechts über die Invaliditäts-, Alters- und Hinterlassenenversicherung und betreffend die Beschaffung der für die Sozialversicherung erforderlichen Bundesmittel" 1 5 4 unterbreitete der Bundesrat der Bundesversammlung den Antrag, die Bundesverfassung durch mehrere Zusätze zu ergänzen. A r t . 34 quater sollte dem Bund die Kompetenz zur Einführung der Invaliditäts-, Alters- und Hinterbliebenenversicherung einräumen und die A r t . 4Iter und quater befaßten sich m i t der Finanzierung der Versicherungswerke. Die Botschaft zählt nicht weniger als 210 Seiten und sie enthält zudem einen Anhang von 12 Seiten. Sie schildert den Stand der Gesetzgebung über diese Materie zahlreicher fremder Staaten sowie der Kantone, skizziert bereits Lösungen für die künftige schweizerische Gesetzgebung usw. I n einer Ergänzungsbotschaft äußerte sich der Bundesrat eingehend über die Erhebung einer Erbschaftssteuer 155 . Die Bundesversammlung änderte die Entwürfe i n mehreren Punkten ab. Von einer Erbschafts- und Schenkungssteuer des Bundes wollte sie nichts wissen, da diese den Kantonen vorbehalten sein sollte; ebenso strich sie die beantragte Biersteuer. Art. 34 quater, dem sie zustimmte, verpflichtete den Bund, die Altersund Hinterlassenenversicherung einzuführen, und ermächtigte ihn, nachher auch die Invalidenversicherung zu errichten. Die finanziellen Leistungen des Bundes und der Kantone durften sich nicht auf mehr als die Hälfte des Gesamtbedarfs der Versicherung belaufen. Für den Rest waren also Beiträge zu erheben, womit der Charakter der Versicherung unterstrichen wurde. Die Reineinnahmen einer künftigen fiskalischen Belastung des Tabaks und gebrannter Wasser waren für die Alters- und Hinterlassenenversicherung reserviert. Gleichzeitig gewährte ein neuer A r t . 41ter dem Bund die Befugnis, „den rohen und den verarbeiteten Tabak zu besteuern". Das Volk nahm die Verfassungsvorlage m i t der Abstimmung vom 6. Dezember 1925 m i t dem starken Mehr von 410.988 Ja gegen 217.483 Nein an 1 5 6 .
154 BB1. 1919 IV, S. 1 - 2 1 0 (Botschaft), S. 211 f. (Entwurf) u n d S. 213-224 (Anhang). 155 BB1. 1920 I I I , S. 706. 156 BB1. 1925 I I , S. 679 (Text der Vorlage), 1926 I, S. 1 und 1946 I I , S. 365.
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2. Scheitern der „Lex Schulthess"; Verstärkung der Alters- und Hinterlassenenfürsorge M i t seiner Botschaft vom 29. August 1929 legte der Bundesrat der Bundesversammlung den Entwurf für ein Bundesgesetz über die A l ters« und Hinterlassenenversicherung vor, der von der Bundesversammlung m i t einigen Änderungen am 17. Juni 1931 beinahe einstimmig angenommen wurde 1 5 7 . Der Entwurf sah eine das ganze Volk umfassende obligatorische Versicherung vor. Er verpflichtete jeden Kanton, eine besondere Versicherungskasse zu errichten. Männer hatten jährlich feste Beiträge von 18 Franken und Frauen von 12 Franken zu entrichten; die Beiträge waren also nicht nach sozialen Gesichtspunkten — Höhe des Einkommens oder des Vermögens — abgestuft. Arbeitgeber hatten pro Arbeitnehmer 15 Franken zu bezahlen. Die Altersrente — 200 Franken jährlich — sollte ab A l t e r 66 gewährt werden. Daneben waren Witwenrenten von 150 Franken jährlich und Waisenrenten von 50 Franken jährlich pro K i n d vorgesehen. Gegen die Gesetzesvorlage wurde das Referendum ergriffen. Das Volk hat sie am 6. Dezember 1931 m i t 510.695 Nein gegen 338.838 Ja verworfen 1 5 8 . Diese nach dem zuständigen Mitglied des Bundesrates benannte „Lex Schulthess" kann — aus heutiger Sicht — kaum als glückliche Lösung bezeichnet werden, die Beiträge waren, wie bereits erwähnt, nicht nach sozialen Gesichtspunkten abgestuft, und überdies dürften die Renten auch für die damaligen Verhältnisse zu gering gewesen sein. Den Ausschlag für die Verwerfung gab wahrscheinlich ein anderer Umstand: Die Bevölkerung hatte i n der sich rasch ausbreitenden Wirtschaftskrise mehrheitlich Angst, ein Experiment m i t neuen Abgaben zu wagen. Nach der Verwerfung der Vorlage verstärkte der Bund die Altersund Hinterlassenenfürsorge, indem er der privaten Stiftung für das Alter und später auch jener für die Jugend sowie den Kantonen Bundesbeiträge gewährte 1 5 9 . Damit vermochte er jedoch den Alten, Hinterlassenen und Invaliden keine genügende finanzielle Sicherung zu bieten. Die heute geltende Ordnung glückte ihm erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Somit ist die gesetzliche Regelung der A H V i m ersten Anlauf ebenso gescheitert wie jene der Kranken- und Unfallversicherung.
157
BB1. 1931 I, S. 1000 (Abstimmungsvorlage). BB1. 1946 I I , S. 366 u n d 1932 I, S. 1 m i t leicht unterschiedlichen Zahlenangaben. 159 Furrer, A n m . 150, S. 108; BB1. 1946 I I , S. 366; Heft 2 der vom Bundesamt f ü r Sozialversicherung herausgegebenen Berichte: Die Alters- u n d H i n t e r lassenenversicherung u n d -fürsorge i n der Schweiz bis Ende 1943, Bern 1944. 158
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C. Der Zweite Weltkrieg (1939 - 1945) I. Vollmachtenbeschluß Der Bundesrat erhielt von der Bundesversammlung durch Bundesbeschluß vom 30. August 1939 außerordentliche Vollmachten für die Ergreifung von Maßnahmen zum Schutze des Landes und zur Aufrechterhaltung der Neutralität 1 6 0 . Seine Vollmachten nutzte er nicht nur i n wirtschaftlicher und militärischer, sondern auch i n sozialpolitischer Hinsicht; denn er faßte mehrere Beschlüsse, welche die Grundlage für die beinahe stürmische Entwicklung der Sozialversicherung i n der Zeit nach dem Kriege bildeten. Regelungen, die er traf, konnten noch während des Krieges praktisch erprobt und — soweit sie sich bewährten — später i n die ordentliche Gesetzgebung überführt werden. Das Erlebnis gemeinsamer Bedrohung und des Aktivdienstes i n der Milizarmee haben die verschiedenen Schichten der Bevölkerung einander nähergerückt und i h r gegenseitiges Verständnis beträchtlich gestärkt 1 6 1 . Die sozialpolitischen Maßnahmen, die der Bundesrat gestützt auf seine Vollmachten angeordnet hat, halfen entscheidend mit, die Schweiz während des Krieges und i n den i h m folgenden Jahren vor Erschütterungen zu bewahren, wie sie i m November 1918 aufgetreten sind.
I I . Lohn- und Verdienstersatzordnung
1. Militärische Notunterstützung des Ersten Weltkrieges
während
Wehrmänner bezogen i m Ersten Weltkrieg während ihrer langen Ablösungsdienste i n der Regel keinen Lohn und nur einen geringfügigen Sold, weshalb sie und ihre Familien i n Not geraten konnten. Nach OR 335 (rev. OR 324 a) war der Arbeitgeber nur verpflichtet, den Lohn bei Militärdienst für eine verhältnismäßig kurze Zeit weiterhin auszurichten, da er für länger dauernde Dienste dazu meistens gar nicht über die M i t t e l verfügt hätte. Wenn Wehrmänner Angehörige zu unterstützen hatten, konnten sie bei der zuständigen Gemeinde „militärische 160 Sowohl Ständerat als auch Nationalrat stimmten dem Vollmachtenbeschluß ohne Gegenstimme zu. Dabei waren die Sozialdemokraten damals noch nicht i m Bundesrat vertreten (vgl. vorne Anm. 147). I m m e r h i n enthielten sich je zwei Sozialdemokraten u n d Kommunisten der Stimme. Näheres bei Georg Kreis, Die Einführung des Vollmachtenregimes vor 40 Jahren, Neue Zürcher Zeitung 1979, Nr. 201, S. 35, m i t Hinweisen zur kontroversen Frage, ob der Vollmachtenbeschluß verfassungs gemäß gewesen sei. — Eine von jeder K a m mer der Bundesversammlung bestellte permanente Vollmachtenkommission hatte darüber zu wachen, daß der Bundesrat von seinen Vollmachten keinen unerwünschten Gebrauch machte. 161 Maurer, Sozialversicherungsrecht, S. 98 f.
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Notunterstützung" verlangen, die durch die Militärorganisation von 1907 eingeführt worden w a r 1 6 2 . Sie empfanden diese Notunterstützung beinahe als Armenunterstützung, was unbefriedigend war, da ja die Notlage durch den obligatorischen Militärdienst verursacht wurde. Das geschilderte System mußte daher zu Beginn des Zweiten Weltkrieges durch ein anderes, tauglicheres ersetzt werden, nämlich durch die Lohnund Verdienstersatzordnung. 2. Die Neuregelung vom 20. Dezember 1939 und weitere Beschlüsse während des Zweiten Weltkrieges Schon am 20. Dezember 1939 erließ der Bundesrat gestützt auf seine Vollmachten den „Beschluß über eine provisorische Regelung der Lohnausfallentschädigung an aktivdiensttuende Arbeitnehmer", konnte aber diese Lohnersatzordnung (LEO) erst auf den 1. Februar 1940 wirksam werden lassen. Sie läßt sich, stark vereinfacht, wie folgt skizzieren: Jeder Betrieb hatte bei der Lohnzahlung 2 °/o abzuziehen und selbst einen gleich hohen Betrag zu leisten. Aus diesen Beiträgen entrichtete er den dienstleistenden Wehrmännern seines Betriebes eine Entschädigung. Diese w a r durch die LEO näher geregelt und nach den Familienlasten abgestuft. Der Arbeitgeber führte einen „Ausgleich" herbei, indem er Beiträge und Entschädigungen miteinander verrechnete und nur per Saldo m i t den Ausgleichskassen abrechnete. Von diesen konnte er die erforderlichen Beträge beziehen, wenn auf seiner, der ersten Ausgleichsstufe, die Entschädigungen die Beiträge überwogen, und umgekehrt mußte er einen allfälligen Aktivsaldo abliefern. Die Ausgleichskassen, denen zahlreiche Betriebe angeschlossen waren, führten den Ausgleich auf der zweiten Stufe durch. Einen Überschuß hatten sie dem gesamtschweizerischen zentralen Ausgleichsfonds abzuliefern und von ihm konnten sie bei einem allfälligen Passivsaldo die fehlenden Beträge verlangen. Somit vollzog sich der endgültige Ausgleich beim zentralen Ausgleichsfonds auf der dritten Stufe. A l l e i n dieser und die Ausgleichskassen mußten zuerst geschaffen werden. Berufsverbände von Arbeitgebern errichteten für ihre Mitglieder die Verbandsausgleichskassen. Überdies hatte jeder Kanton eine kantonale Ausgleichskasse zu organisieren, welche Arbeitgeber erfaßte, die keiner Verbandsausgleichskasse angeschlossen waren. Die Ausgleichskasse w a r eine juristische Person des öffentlichen Rechts, wobei i h r diese Eigenschaft m i t der Erteilung der Betriebsbewilligung, gleichsam m i t der Anerkennung durch die zuständige Verwaltungsstelle des Bundes, zukam. Den zentralen Ausgleichsfonds errichtete der Bund selbst. Dieses System konnte, da eine große Kooperationsbereitschaft zwischen den Sozialpartnern unter sich 162 Furrer, A n m . 150, S. 84 f.; Tschudi, SZS 1965, S. 90 fi.
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und m i t den Bundesbehörden vorhanden war, i n kürzester Zeit aufgebaut werden, so daß es die ihr zugedachte Aufgabe voll erfüllte. Der Bundesrat erließ während des Krieges weitere Beschlüsse, so daß schließlich vier Systeme entstanden: Lohnersatzordnung für Unselbständigerwerbende; je eine Verdienstersatzordnung für das Gewerbe und die Landwirtschaft; Studienausfallordnung für Studenten 1 6 3 . Die geschilderte Ordnung bedeutet einen entscheidenden Durchbruch i n der Entwicklung der schweizerischen Sozialversicherung. Dies gilt einmal für die neu entstandenen Versicherungsträger, die Ausgleichskassen, da sie nach dem Kriege bei der Durchführung der A H V , I V und weiterer Zweige verwendet werden konnten. Sodann bewährte sich die Beitragsordnung, indem alle erwerbstätigen Personen von ihrem Erwerb — Lohn der Arbeitnehmer und Verdienst der Selbständigerwerbenden — ohne obere Begrenzung bestimmte Prozente als Beiträge zu entrichten hatten 1 6 4 . I I I . Arbeitslosenversicherung
A m 14. J u l i 1942 vereinheitlichte der Bundesrat durch Vollmachtenbeschluß die Arbeitslosenversicherung weitgehend. Wohl behielt er das System der Subventionierung von Arbeitslosenkassen bei; er ordnete jedoch die Versicherungsfähigkeit und die Anspruchsberechtigung. Überdies errichtete er einen Kassenausgleichsfonds, um stärker belasteten Kassen Ausgleichszuschläge gewähren zu können (Risikoausgleich) i e 5 . M i t dem gleichen Beschluß legte er auch die Arbeitslosenfürsorge (Nothilfe) i n ihren Grundzügen fest. Über sie faßte er am 23. Dezember 1942 einen weiteren Beschluß, m i t dem die Einzelheiten geregelt wurden. Den zuerst genannten Beschluß änderte er noch dreimal. Dieser blieb i n Kraft, bis er durch das BG vom 1. Januar 1952 über die Arbeitslosenversicherung ins ordentliche Recht übergeführt werden konnte.
163 Näheres zur Entstehungsgeschichte bei Furrer, Anm. 150, S. 88; Peter Saxer, Die AHV-Ausgleichskassen als neue Organisationsform der schweizerischen Sozialversicherung, Berner Diss. 1953, S. 94 ff. 164 Saxer, Soziale Sicherheit, S. 219. Die lohnbezogene Prämie w a r schon durch das K U V G f ü r die obligatorische Unfallversicherung eingeführt w o r den. Der prämienpflichtige L o h n ist hier aber nach oben begrenzt. Zudem w i r d n u r ein T e i l der erwerbstätigen Bevölkerung durch die obligatorische Unfallversicherung erfaßt. les Bigler-Eggenberger, Soziale Sicherung, S. 93; Maurer, A n m . 53, S. 100; Furrer, Anm. 52, S. 129 f.
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I V . Familienzulageordnung
Landwirtschaftliche Arbeitnehmer und Bergbauern gehören zu den sozial schwächeren Schichten unserer Bevölkerung. Ihre Bedeutung für die Lebensmittelversorgung des Landes sprang während des Krieges in die Augen. Da Gefahr bestand, daß sie ihren Beruf aufgaben, u m i n Industrie oder Gewerbe bessere Verdienstmöglichkeiten zu suchen, faßte der Bundesrat, gestützt auf seine Vollmachten, am 9. Juni 1944 den Beschluß, landwirtschaftlichen Arbeitnehmern und Bergbauern finanzielle Beihilfen, nämlich Haushaltungs- und Kinderzulagen zu gewähren. Die Durchführung übertrug er den Ausgleichskassen der Kantone. Damit hat er erstmals für einen Zweig der Wirtschaft eine bundesrechtliche Familienzulageordnung aufgestellt 1 6 6 .
D. Entwicklung der Sozialversicherung seit dem Zweiten Weltkrieg (ab Mai 1945) I . Wirtschafts- und Sozialpolitik
1. Wirtschaftliche
Blüte seit 1945
Nach dem Zweiten Weltkrieg trat die erwartete Arbeitslosigkeit nicht ein. Vielmehr erlebte die Schweiz seit 1945 eine bisher nie gekannte wirtschaftliche Hochblüte, die erst m i t dem Einbruch der Rezession von 1974/75 abflaute. Da der Produktionsapparat zeitweise überlastet war, stellten sich Erscheinungen der Überhitzung ein, so daß ζ. B. ein sozial und ökonomisch gefährliches Übel, nämlich die Teuerung, bisweilen stark zunahm. 2. Statistisches Einige Zahlen sollen die Entwicklung veranschaulichen. Der Preisindex stieg i n der Zeit von 1948 - 1978 von 100 auf 235,5 167 . Die Teuerung erreichte 1974 ihren Höhepunkt und betrug i n diesem Jahr 9,8 °/o. Noch wesentlich stärker nahmen die Löhne zu. Der Zuwachs i n der Zeit von 1948 - 1978 betrug nominal 769 °/o und real 1 6 8 , bezogen auf die Konsumentenpreise von 1948, 269 °/o. Für die Löhne, auf denen AHV-Beiträge erhoben werden, verwendet man den AHV-Lohnindex. N i m m t man ihn für 1948 m i t 100 an, so betrug er Ende 1977 557,4 169 . Das Bruttosozial186
Saxer, Soziale Sicherheit, S. 196 ff.; Schaeppi, Kinderzulagen, S. 37 ff. Vgl. auch Müller, A H V , S. 149. 168 Die meisten der hier genannten Zahlen hat m i r H e r r Dr. R. Ehlers von der Schweizerischen Kreditanstalt i n Zürich mitgeteilt. Dafür möchte ich i h m auch an dieser Stelle danken. 169 Müller, A H V , S. 149. — Heute dürfte ζ. B. die schweizerische Arbeiterschaft eines der höchsten Lohnniveaus aller Länder aufweisen. 167
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Produkt belief sich 1948 auf 19,22 Mrd. Franken und 1978 auf 156,9 Mrd. Franken. Rechnet man es zu Preisen von 1970, so lauten die Zahlen von 1948 auf 36.055 Mrd. und für 1978 auf 100.075 Mrd. Franken. Es resultiert eine reale Zunahme von 178 °/o. Die Zahl der gänzlich A r beitslosen erreichte ihr M a x i m u m 1976 m i t durchschnittlich 20.703 (1948: 2.971), verglichen m i t rund 120.000 1936. 3. Das Problem der Überfremdung Während verschiedener Phasen der konjunkturellen Uberhitzung bestand ein großer Mangel an Arbeitskräften. Er wurde weitgehend durch ausländische Gastarbeiter ausgeglichen. Dadurch nahm der Anteil der ausländischen Bevölkerung i n der Schweiz stark zu. Er betrug Ende 1950 bei einer Gesamtbevölkerung von 4.714 M i l l . 285.446 und Ende 1975 bei einer Gesamtbevölkerung von 6.333 M i l l . 1.043 M i l l . Seither ging er leicht zurück (Ende 1978 898.000 oder 14,4 °/o). Die ständige Zunahme des ausländischen Bevölkerungsanteils ließ vielfache Probleme entstehen, so auch solche psychologischer Natur. Es kam eine Verfassungsinitiative zustande, m i t welcher ein drastischer Abbau des Bestandes ausländischer Gastarbeiter verlangt wurde. Diese „Überfremdungsi n i t i a t i v e " 1 7 0 wurde i n der Volksabstimmung vom 7. Juni 1970 nur knapp verworfen. Die Bundesbehörden ergriffen i n der Folge Maßnahmen, um den ausländischen Anteil an der Bevölkerung allmählich herabzusetzen. Die hohe Zahl ausländischer Gastarbeiter bewirkte i m übrigen, daß die Schweiz m i t zahlreichen Staaten Sozialversicherungsabkommen abschloß, u m m i t diesen die dringendsten sozialversicherungsrechtlichen Probleme der Gastarbeiter zu lösen. 4. Stürmische Entwicklung
der Sozialversicherung
Die Sozialversicherung hat sich seit dem Zweiten Weltkrieg geradezu ungestüm entwickelt. M i t Ausnahme des KUVG, das noch vor dem Ersten Weltkrieg erlassen worden ist, sind alle heute noch geltenden, bedeutenderen Sozialversicherungsgesetze nach 1945 entstanden. Von den Ursachen, die eine solche Entwicklung zu begünstigen vermochten, seien einige genannt: Die Schweiz wies, verglichen m i t andern westeuropäischen Industriestaaten, hinsichtlich der Sozialversicherung einen augenfälligen Rückstand auf, so daß ein Nachholbedarf zu befriedigen war; der günstige wirtschaftliche Verlauf öffnete sozialpolitischen Diskussionen und Entscheidungen einen breiten Spielraum und verminderte zugleich bei der Bevölkerung die Furcht vor Experimenten; der 170 M a n nannte sie nach ihrem geistigen Urheber auch „ Schwarzenbach I n i t i a t i v e " . — Es ist durchaus nicht n u r ein schweizerisches Phänomen, daß eine übermäßige Überfremdung i n einem V o l k Abwehrmechanismen auslösen kann.
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Zweite Weltkrieg hatte, wie mehrfach erwähnt wurde, das gegenseitige soziale Verständnis der Bevölkerungsschichten füreinander mächtig gestärkt; unter den politischen Parteien konnte ein weitgehender Konsens darüber erzielt werden, daß und wie die Sozialversicherung auszubauen sei; schließlich darf auch einmal hervorgehoben werden, daß die zuständigen Ämter der Bundesverwaltung — so das Bundesamt für Sozialversicherung — bei Vorbereitung und Vollzug von Gesetzen und Verordnungen einen bemerkenswerten Einsatz zeigten 171 . 5. Überführung von Vollmachtenbeschlüssen ins ordentliche Recht Die Bundesbehörden mußten, u m die bundesrätlichen Vollmachtenbeschlüsse i n die ordentliche Gesetzgebung überführen zu können, zuvor i n mehrfacher Hinsicht die verfassungsrechtliche Grundlage schaffen. A u f die neuen Bestimmungen der Bundesverfassung ist am gegebenen Ort hinzuweisen. Für die nun folgende Darstellung w i r d die Reihenfolge der Versicherungszweige i n der Regel nach dem Zeitpunkt bestimmt, i n welchem das betreffende Bundesgesetz erlassen oder wesentlich geändert wurde. I I . Alters- und Hinterlassenenversicherung 172
1. Das Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 Nach der Verwerfung der „Lex Schulthess" stagnierten vorerst die Bemühungen um die Schaffung der A H V . M i t Ausnahme einer Motion Saxer i m Nationalrat von 1938 datieren die meisten parlamentarischen und außerparlamentarischen Vorstöße — es gab deren viele — aus der Zeit nach der Einführung der Lohn- und Verdienstersatzordnung, da dieses Sozialwerk den Weg aufzeigte, auf welchem die A H V befriedigend und ohne allzu große Schwierigkeiten verwirklicht werden konnte 1 7 3 . A m 25. J u l i 1942 kam auch eine Verfassungsinitiative zustande. Überdies reichten mehrere Kantone Standesinitiativen ein, m i t denen die Errichtung der A H V verlangt wurde. Jene der Kantone Bern und Aargau veranlaßten den Bundesrat, bei der Bundesversammlung zu beantragen, er sei zu beauftragen, einen entsprechenden Gesetzentw u r f vorzulegen. Dieser Antrag wurde von beiden Räten einstimmig 171 Von den Bundesräten, die als Vorsteher der zuständigen Departemente den A u f - u n d Ausbau der Sozialversicherung entscheidend gefördert haben, seien genannt: Bundesrat Dr. W. Stampfli (im A m t von 1940 bis 1947) u n d Bundesrat Prof. Dr. H. P. Tschudi (im A m t von 1959 bis 1973). 172 Vgl. bereits vorne bei Anm. 13 sowie besonders eingehend zur Geschichte Jakob Graf, Ζ Α Κ 1979, S. 291, 386 u n d 459. 173 I n BB1. 1946 I I , S. 366 ff. werden die verschiedenen Vorstöße zusammengestellt, ebenfalls i n Heft 3 der vorne i n A n m . 159 erwähnten Berichte.
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zum Beschluß erhoben 174 . Das Eidg. Volkswirtschaftsdepartement setzte am 11. M a i 1944 eine Expertenkommission ein, welche unter der Leitung von Dr. Arnold Saxer, früherer Nationalrat und nunmehr Direktor des Bundesamtes für Sozialversicherung, die für die Einführung der A H V erforderlichen Abklärungen vorzunehmen und Vorschläge auszuarbeiten hatte. Die Expertenkommission schloß ihre Arbeiten m i t einem umfassenden Bericht vom 16. März 1945 ab. Ihre Vorschläge waren wegleitend für die Ausgestaltung des Gesetzesentwurfes. A m 24. Mai 1946 leitete der Bundesrat der Bundesversammlung Botschaft und Entwurf zu einem Bundesgesetz über die A H V zu 1 7 5 . Eine besondere Botschaft vom 29. M a i 1946 erläuterte die „Finanzierung der A H V m i t öffentlichen Mitteln" und verband sie m i t entsprechenden Gesetzesentwürfen 1 7 6 . Die Räte haben die beiden Vorlagen zur Hauptsache miteinander verschmolzen und dem Bundesgesetz über die A H V nach erstaunlich kurzer Zeit, nämlich schon am 20. Dezember 1946, zugestimmt. Dies war nur möglich, da Organisation und Beitragsordnung auf den bereits erprobten Lösungen der Lohn- und Verdienstersatzordnung aufgebaut werden konnten. Gegen das Gesetz wurde das Referendum ergriffen. Die Aktivbürger — die Frauen besaßen das Stimmrecht noch nicht — nahmen es i n der Abstimmung vom 6. J u l i 1947 m i t 862.036 Ja gegen 215.496 Nein an. M i t einem so großen Mehr hat der Souverän seit der Gründung des Bundesstaates i m Jahre 1848 noch nie eine Vorlage angenommen 177 . Das Gesetz trat am 1. Januar 1948 i n K r a f t 1 7 8 . 2. Ausbau der AHV I m Gegensatz zur gescheiterten „Lex Schulthess" beruht das geltende A H V G auf einer „elastischen" Beitragsordnung; denn es werden nicht betraglich fixierte, sondern „lohnbezogene" Beiträge erhoben, die überdies durch die Solidarität der finanziell stärkeren Volksschichten charakterisiert sind. Da die A H V zudem nach dem Umlage verfahren, das m i t einem Schwankungsfonds verbunden ist, finanziert wird, konnte sie ohne große Schwierigkeiten weiter ausgebaut werden. Die w i r t schaftliche Prosperität l u d dazu ein. I n der Zeit vom 1. Januar 1948 bis Ende 1979 kamen nicht weniger als neun Verfassungsinitiativen zustande, die die A H V zum Gegenstand hatten. Das Volk hatte freilich nur über wenige von ihnen abzustimmen, da die Initianten die meisten 174
BB1. 1946 I I , S. 369. Ebenda, S. 365 ff. (Botschaft) u n d S. 555 (Gesetzesentwurf). 176 Ebenda, S. 589 - 694. 177 Saxer, Soziale Sicherheit, S. 24. Weiteres zur Entstehungsgeschichte bei Furrer, A n m . 52, S. 109 ff.; Granacher, SZS 1958, S. 240 ff.; Greiner, SZS 1958, S. 58 ff.; Müller, A H V , S. 53 ff. u. a. m. 178 Näheres zur S t r u k t u r der A H V vorne bei A n m . 13. — SR 831.10. 175
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zurückzogen; ihren Begehren ist nämlich i n der Regel durch Änderungen der Gesetzgebung oder — i n einem Fall — durch einen Gegenvorschlag der Bundesversammlung ausreichend Rechnung getragen worden. Das A H V G selbst hat bisher neun numerierte und drei nichtnumerierte Revisionen erfahren. Lediglich gegen die 9. AHV-Revision wurde das Referendum ergriffen. Das Volk stimmte der Vorlage am 26. Februar 1978 zu. Mehr als 200 parlamentarische Vorstöße in den eidgenössischen Räten befaßten sich ebenfalls m i t der A H V ; die meisten von ihnen bezwecken ihren schrittweisen Ausbau 1 7 9 . 3. Statistisches Einige Zahlen mögen die Entwicklung der A H V bis Ende 1979 etwas beleuchten 180 : Ursprünglich betrug die Mindestrente (einfache Altersrente) 480 Fr. und die Höchstrente 1.500 Fr. jährlich. Ende 1979 beliefen sich die entsprechenden Renten auf 6.300 Fr. und 12.600 Fr. Die M i n destrenten sind somit rund 13mal und die Höchstrenten rund 8,4mal größer geworden. Da die Höchstrenten weniger stark als die Mindestrenten angehoben wurden, scheint die Entwicklung zur Einheitsrente h i n zu verlaufen, wie sie i n der „Lex Schulthess" vorgesehen war. Die Preise sind i n der gleichen Zeit etwa um das 2,4fache angestiegen. Die Renten haben also kaufkraftmäßig um ein Mehrfaches zugenommen. Das Erwerbseinkommen, auf welchem die AHV-Beiträge erhoben werden, dürfte i n der gleichen Zeit etwa 5,5mal gewachsen sein 1 8 1 . Die Beitragssätze für Arbeitgeber und Arbeitnehmer beliefen sich für die A H V allein anfänglich auf 4 °/o und Ende 1979 auf 8,4 °/o des maßgebenden Lohnes, jene für Selbständigerwerbende auf 4 °/o bzw. 7,8 °/o. 4. Das „Drei-Säulen-Prinzip" des neu gefaßten Art. 34 quater BV I n der Abstimmung vom 3. Dezember 1972 hat das Volk den bisher geltenden durch einen neuen A r t . 34 quater B V ersetzt 182 . Er ist nicht 179
173. 180
Maurer, Sozialversicherungsrecht, S. 102 m i t Literaturhinweisen i n A n m .
Ebenda, S. 103. Vgl. vorne bei A n m . 169. 182 v g l . vorne bei A n m . 156. A m gleichen Tag lehnte das V o l k eine V e r fassungsinitiative der Partei der A r b e i t „ F ü r eine wirkliche Volkspension" v o m 2. Dezember 1969 ab u n d nahm den Gegenvorschlag der Bundesversammlung an, der die heute geltende Regelung der B V brachte. Der Gegenvorschlag enthielt Elemente, die i n zwei anderen Verfassungsinitiativen enthalten waren, nämlich jener der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz u n d des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes v o m 18. März 1970 u n d der weiteren I n i t i a t i v e eines überparteilichen Komitees f ü r zeitgemäße AltersVorsorge v o m 13. A p r i l 1970. Diese beiden I n i t i a t i v e n w u r d e n 1974 zurückgezogen. Vgl. Müller, A H V , S. 116 u n d 165. 181
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nur Kompetenzartikel, sondern legt bestimmte Richtlinien fest, wie die Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge künftig auszugestalten sei. So verankert er faktisch das Drei-Säulen-Prinzip: die erste Säule, nämlich die staatliche A H V und die IV, soll den Existenzbedarf decken; die zweite Säule, d. h. die berufliche Vorsorge — Personalvorsorgeeinrichtungen, Pensionskassen usw. — hat zusammen m i t der ersten Säule allen Arbeitnehmern die Fortsetzung der gewohnten Lebenshaltung i n angemessener Weise zu ermöglichen; die dritte Säule ist die Selbstvorsorge des Bürgers, die der Bund zusammen m i t den Kantonen insbesondere durch Maßnahmen der Fiskal- und Eigentumspolitik zu fördern hat 1 8 3 . Zur zweiten Säule liegt ein Gesetzesentwurf vor den eidgenössischen Räten 1 8 4 ; für die dritte Säule sind dagegen noch kaum Vorbereitungen getroffen. Das Ziel der existenzsichernden Rente hat der Bund m i t der tief einschneidenden 8. AHV-Revision weitgehend erreicht. M i t ihr wurde die Rente i n zwei Stufen mehr als verdoppelt. Sie ist zum 1. Oktober 1973 i n K r a f t getreten. 5. Die AHV-Revisionen Zu den AHV-Revisionen 1 8 5 sollen hier einige Hinweise folgen: a) M i t der 1. AHV-Revision vom 21. Dezember 1950, i n K r a f t seit 1. Januar 1951 186 , strebten die Bundesbehörden die Milderung von Härtefällen an. Sie erweiterten den Kreis der Personen, die Anspruch auf eine Übergangsrente hatten. Daneben verbesserten sie die degressive Beitragsskala für Selbständigerwerbende leicht, indem sie die Einkommensgrenze nach oben verschoben 187 . b) Die Lohn- und Preisentwicklung verlief anders, als man dies 1947 vorausgeschätzt hatte. Daraus entstand i m AHV-Fonds, verglichen m i t den ursprünglichen Prognosen, ein Überschuß. Die 2. AHV-Revision 183
Maurer, A n m . 179, S. 131, A n m . 244 a. Etwa 80 *Vo der Arbeitnehmer dürften, w e n n auch f ü r sehr unterschiedliche Leistungen, bei einer Personalvorsorgeeinrichtung versichert sein. iss D e r Ausdruck A H V - R e v i s i o n bedeutet, daß gesetzliche Bestimmungen zur A H V ( A H V G usw.) geändert, eingefügt oder aufgehoben worden sind. Es handelt sich also u m Änderungen durch ein Bundesgesetz, die i n der Regel auch Änderungen auf der Verordnungsstufe notwendig machen. 184
186
BB1. 1950 I I , S. 185; AS 1951, S. 391. Müller, A H V , S. 67 äußert den Verdacht, das Parlament habe m i t dieser Revision „lediglich eine A l i b i - Ü b u n g i m Hinblick auf das W a h l j a h r 1951 durchgeführt". — Die degressive oder sinkende Beitragsskala besteht darin, daß die Beitragssätze f ü r Selbständigerwerbende, die eine bestimmte E i n kommensgrenze nicht erreichen, nach unten gestaffelt sind. Die E i n k o m mensgrenze w a r Ende 1979 auf 25.200 Fr. angesetzt. Der Selbständigerwerbende, der dieses Einkommen erzielte, mußte nicht den vollen Beitrag v o n 7,8^/o sondern 7,4°/o bezahlen u n d jener, der z.B. 4.200 Fr. verdiente, mußte n u r 4,2 •% als Beitrag entrichten. 187
51*
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vom 30. September 1953, i n K r a f t ab 1. Januar 1954 188 , brachte daher Rentenerhöhungen. Sowohl die ordentlichen Mindest- und Höchstrenten als auch die Übergangsrenten wurden hinaufgesetzt. Der Beitrag der Nichterwerbstätigen von bisher 1 - 5 0 Franken wurde neu auf 12 - 600 Franken festgesetzt. Die Beitragspflicht der über 65jährigen Erwerbstätigen hob der Gesetzgeber vollständig auf 1 8 9 . c) Nach der ursprünglichen Regelung konnten die Angehörigen der Übergangsgeneration, d. h. die vor dem 1. J u l i 1883 geborenen Personen, nur dann eine Übergangsrente beanspruchen, wenn sie bestimmte Einkommensgrenzen nicht erreichten (Bedarfsrenten). Sie hatten ja noch keine Beiträge geleistet. Die 3. AHV-Revision vom 22. Dezember 1955, i n K r a f t seit 1. Januar 1956 190 , hob diese Einkommensgrenzen auf, so daß fortan die Übergangsrenten ohne Rücksicht auf die Bedürftigkeit entrichtet wurden 1 9 1 . d) Vielfache und teilweise weittragende Änderungen brachte die 4. AHV-Revision vom 21. Dezember 1956, i n K r a f t seit 1. Januar 1957: die ordentlichen Renten wurden unter Verwendung einer neuen Rentenformel erhöht, ebenso die Teilrenten durch doppelte Anrechnung der Beitrags jähre 1 9 2 . Das Rentenalter der Frau i m Hinblick auf die einfache Altersrente reduzierte der Gesetzgeber vom 65. auf das vollendete 63. Alters jähr. Die Witwenrente setzte er einheitlich auf 80 °/o der einfachen Altersrente fest, während sie bisher je nach Verwitwungsalter 60 bis 90 °/o betragen hatte. Auch die Ansätze für die Waisenrenten erhöhte er. Die sinkende Beitragsskala verbesserte er ein weiteres Mal zugunsten der Selbständigerwerbenden. e) I m Zusammenhang m i t der Einführung der I V — vgl. hinten V I I . — erfuhr das A H V G am 19. Juni 1959 eine nichtnumerierte Revision, wobei die Änderungen zugleich m i t dem I V G am 1. Januar 1960 i n K r a f t traten 1 9 3 . Man sprach von einer Anpassungsrevision (Anpassung an die IV). Die wichtigste Änderung bestand i n der Einführung der Pro-rata-temporis-Regelung bezüglich der Teilrenten. Bei unvollständiger Beitragsdauer entstand kein Anspruch mehr auf eine Vollrente, sondern nur noch auf eine Teilrente. Dies war für die ausländi188
BB1. 1953 I I , S. 81; A S 1954, S. 211. Die 9. A H V - R e v i s i o n hat sie i n modifizierter Form wieder eingeführt. — Vgl. weitere Einzelheiten bei Müller, A H V , S. 71 ff. ; neue Mindestrente 720 Fr. u n d neue Höchstrente 1.700 Fr. jährlich. 190 BB1. 1955 I I , S. 1088; AS 1956, S. 651. 191 Müller, A H V , S. 75; Granacher, SZS 1957, S. 69. 192 BB1. 1956 I, S. 1429; AS 1957, S. 262. Die Mindestrente betrug neu 900 Fr. u n d die Höchstrente 1.850 Fr. jährlich. SZS 1957, S. 77 u n d S. 278 sowie 1959, S. 310. 193 BB1. 1958 I I , S. 1137; AS 1959, S. 854. 189
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sehen Versicherten besonders bedeutsam, da sie die größte Gruppe m i t unvollständiger Beitragsdauer darstellen. Die Übergangsrenten wurden in außerordentliche Renten umbenannt 1 9 4 . f) Die 5. AHV-Revision vom 23. März 1961, i n K r a f t ab 1. Januar 1962, brachte durchschnittliche nominelle Rentenerhöhungen von 28 29 o/o und eine Beitragsentlastung für Selbständigerwerbende m i t bescheidenem Einkommen durch Änderung der degressiven Beitragsskala. Sie regelte ferner die Beiträge der öffentlichen Hand ab 1958 neu und schrieb überdies vor, daß die Rentenverhältnisse und die Finanzlage der A H V alle fünf Jahre zu überprüfen seien 195 . Diese Revision wurde teilweise durch Volksbegehren der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz vom 22. Dezember 1958 und eines Überparteilichen Komitees für höhere AHV-Renten vom 22. Mai 1959 ausgelöst. Beide Volksbegehren sind 1961 zurückgezogen worden 1 9 6 , da die 5. AHV-Revision ihre Postulate weitgehend erfüllt hat. g) Zahlreiche Änderungen waren m i t der 6. AHV-Revision verbunden, die das BG vom 19. Dezember 1963, i n K r a f t ab 1. Januar 1964, einführte 1 9 7 . Davon seien einige erwähnt: A l t - und Neurenten wurden mindestens u m ein Drittel erhöht. Das Rentenalter für Frauen sank von 63 auf 62 Jahre. Die Altersrentner erhielten fortan Zusatzrenten für die 45 - 60jährigen Ehefrauen, die 40 °/o der einfachen Altersrente betrugen, und für minderjährige oder i n Ausbildung begriffene K i n der. Die sinkende Beitragsskala wurde zugunsten der Selbständigerwerbenden m i t geringerem Einkommen ein weiteres Mal durch Erhöhung der Einkommensgrenzen geändert. Der Beitragssatz von 4 °/o blieb unverändert. Hingegen erhöhte der Gesetzgeber den Beitrag der öffentlichen Hand erheblich. Die erwarteten Mehrausgaben übertrafen jene aller bisherigen Revisionen zusammen. Verfassungsinitiativen des Schweizerischen Komitees der Vereinigung der Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenrentner vom 7. J u n i 1962 und des Schweizerischen Beobachters vom 12. J u l i 1962 hatten die Revision ausgelöst. Sie wurden 1965 zurückgezogen 198 .
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Müller, A H V , S. 80; Salathé, SZS 1960, S. 223. BB1. 1961 I, S. 213; AS 1941, S. 491; Müller, A H V , S. 80 ff.; Achermann, SZS 1962, S. 297. 196 Müller, A H V , S. 80 u n d 165. 197 BB1. 1963 I I , S. 517; A S 1964, S. 285; Müller, A H V , S. 87 ff.; Achermann, SZS 1964, S. 297 ff. — Die Botschaft umschreibt erstmals das DreiSäulen-Prinzip: Müller, S. 87. 198 Müller, A H V , S. 87 u n d 165. 195
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Ein BG vom 6. Oktober 1966, i n K r a f t gesetzt auf den 1. Januar 1967, erhöhte die Renten zum Ausgleich der Teuerung linear um 10 °/o. Es handelt sich um eine nichtnumerierte AHV-Revision 1 9 9 . h) A m 25. August 1966 reichte der Christlichnationale Gewerkschaftsbund eine Verfassungsinitiative ein. M i t i h r forderte er u. a. eine Erhöhung der Renten u m ein Drittel sowie die jährliche Anpassung der Renten an die Teuerung (Indexierung) und an die reale Einkommensentwicklung (Dynamisierung). Damit gab er den Anstoß für die 7. A H V Revision vom 4. Oktober 1968, i n K r a f t seit 1. Januar 196920. Durch sie wurden rund 80 Gesetzes- und Verordnungsartikel zur A H V betroffen. Von den zahlreichen Änderungen seien folgende genannt: Die Neurenten wurden, verglichen m i t der 6. AHV-Revision, u m 50 - 60 °/o und die Altrenten um ein Drittel erhöht. Erstmals unterschied der Gesetzgeber damit zwischen A l t - und Neurenten. Die Mindest- und Höchstrenten setzte er nunmehr bei den Altrenten auf 200/320 Fr. und bei den Neurenten auf 200/400 Fr. monatlich fest. Er führte das Institut der aufgeschobenen Altersrente ein, das keine große Bedeutung erlangte. Auch jene hilflosen Alten bekamen eine Hilflosenentschädigung, welche vor Erreichen des Rentenalters keine solche der I V bezogen hatten. Das Verhältnis zwischen Renten und Preisen sollte künftig spätestens alle drei Jahre und jenes zwischen Renten und Erwerbseinkommen alle sechs Jahre untersucht werden. Erstmals erhöhte der Gesetzgeber die Beitragssätze, und zwar von 4 auf 5,2 °/o. Den Selbständigerwerbenden gewährte er einen bescheidenen Beitragsrabatt von 0,6 °/o, so daß sie nicht 5,2 °/o, sondern 4,6 °/o zu entrichten hatten. Überdies milderte er die sinkende Beitragsskala. Die Beiträge der Nichterwerbstätigen erhöhte er stark — sie wurden mehr als verdreifacht — und betrugen nunmehr zwischen 40 und 2.000 Fr. jährlich. Die Beiträge der öffentlichen Hand regelte er neu. Er traf schließlich eine Maßnahme, die der besseren Koordination zwischen den einzelnen Zweigen diente: Betriebsunfallrenten der SUVA und Renten der Militärversicherung waren zu kürzen, soweit sie zusammen m i t den AHV-Renten den entgangenen mutmaßlichen Jahresverdienst überstiegen 201 . 199 AS 1967, S. 19; Gfeller, SZS 1968, S. 60; Büchi, SZS 1967, S. 227; Müller, A H V , S. 93. 200 BB1. 1968 I, S. 602; AS 1969, S. 111; Gfeller, SZS 1970, S. 37 ff.; Müller, A H V , S. 103 ff. 201 Durch eine Gesetzesänderung v o m 27. September 1973, i n K r a f t ab 1. Januar 1974, wurde eine entsprechende Regelung auch f ü r die Renten aus Nichtbetriebsunfällen getroffen. BB1. 1973 I I , S. 571. — Die Botschaft befaßte sich erstmals auch m i t Vorschlägen, die Nationalrat Dr. A . C. Brunner zur U m s t r u k t u r i e r u n g des Rentensystems vorbrachte. Weitere Vorschläge machte er i n den folgenden Jahren u n d bereicherte damit die Diskussion über die A H V . Freilich hat der Gesetzgeber sie zur Hauptsache abgelehnt. Zahlreiche Hinweise bei Müller, A H V , S. 94, 98 ff. usw.
Entwicklungsprozeß der Sozialversicherung i m B u n d e s s t a a t 8 0 7
M i t einem B G vom 24. September 1970, i n K r a f t ab 1. Januar 1971, wurden die AHV-Renten linear u m 10 °/o erhöht. Es handelt sich nicht um eine numerierte Revision 2 0 2 . i) M i t der Annahme des neuen A r t . 34quater B V hatte das Volk den Weg für die künftige Ausgestaltung der A H V vorgezeichnet: Die Renten sollten den Existenzbedarf decken, während sie früher nur die Basis bildeten, auf der zusätzliche Leistungen aufgestockt werden mußten, bis die Existenzsicherung erreicht war. M i t der 8. AHV-Revision vom 30. Juni 1972, teilweise i n K r a f t gesetzt zum 1. Januar 1973 203 , erreichten die Bundesbehörden das neue Ziel weitgehend. Der Ausbau erfolgte in zwei Etappen. A b 1. Januar 1973 betrug die einfache Altersrente mindestens 400 (bisher 220) und höchstens 800 (bisher 440) Fr. monatlich. Die zweite Erhöhung trat auf den 1. Januar 1975 i n Kraft. Sie w a r auf 25 % angesetzt, so daß die Mindestrente 500 und die Höchstrente 1.000 Fr. monatlich ausmachte. Die Altrenten wurden den Neurenten angepaßt 204 . Die massive Erhöhung der Renten ließ es ratsam erscheinen, die Relation einzelner Rentenarten zu der einfachen Altersrente anzupassen. Die Ehepaar-Altersrente betrug nunmehr 150 °/o (bisher 160 °/o) und die Zusatzrente für die Ehefrau 35 °/o (bisher 40 °/o) der einfachen Altersrente. Die Ansätze für Witwen-, Kinder- und Waisenrenten blieben unverändert. Die versicherungsrechtliche Stellung der Frau wurde durch die 8. AHV-Revision verbessert. So kann die Frau seither jederzeit ohne Angabe von Gründen verlangen, daß die Hälfte der Ehepaar-Altersrente ihr selbst ausgerichtet wird. Die Stellung der Witwe und der geschiedenen Frau erfuhr i n einzelnen Punkten ebenfalls Verbesserungen 2 0 5 . Die Änderungen auf dem Leistungssektor machten eine Anpassung der Beitragssätze unumgänglich. Die Beiträge für Arbeitnehmer (je zur Hälfte vom Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu tragen) wurden von bisher 5,2 °/o auf 7,8 °/o und jene für Selbständigerwerbende von 4,6 °/o auf 6,8 °/o des Erwerbseinkommens erhöht. Die sinkende Beitragsskala für Selbständigerwerbende m i t kleineren Einkommen erhielt ermäßigte 202
AS 1971, S. 27; Maeschi, SZS 1971, S. 268. BB1. 1971 I I , S. 1057; AS 1972, S. 2483; Müller, A H V , S. 118 ff.; Maeschi, SZS 1973, S. 188 ff. 204 Diese zweite Erhöhung hat ein B G über die Ä n d e r u n g zum A H V G v o m 28. J u n i 1974 teilweise abweichend von der 8. A H V - R e v i s i o n geregelt. Es gewährte den Rentnern i m Sinne einer Sofortmaßnahme überdies eine V e r doppelung der i m September 1974 fälligen Rente, u m dadurch die Teuerung abzugleichen. Müller, SZS 1976, S. 41. 205 Vgl. zur heutigen Regelung Maurer, SZS 1979, S. 200 ff. 203
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Beitragssätze 206 . Die Beiträge der Nichterwerbstätigen wurden beinahe verdoppelt; das neue M i n i m u m betrug 89 Franken und das neue Maxim u m 9.000 Franken jährlich. Die öffentliche Hand sollte durch ihre Beiträge bereits ab 1978, statt erst ab 1985, ein Viertel der A H V finanzieren. Der Ausgleichsfonds durfte nach der neuen Regelung eine Jahresausgabe nicht unterschreiten. k) M i t 1974 ging die wirtschaftliche Hochkonjunktur zu Ende und die Rezession setzte ein. Der Bund mußte zu einer stark defizitären Budgetpolitik übergehen. Er erließ 1975 - 1977 dringliche und nichtdringliche Bundesbeschlüsse, m i t welchen er für diese Zeitspanne verschiedene Maßnahmen ergriff. So reduzierte er den Beitrag des Bundes an die A H V , mußte aber andererseits die Renten an die eingetretene Teuerung anpassen u. a. m. Einzelheiten aus den verschiedenen, wenig übersichtlichen Erlassen sollen hier nicht dargelegt werden 2 0 7 ; erwähnt sei nur, daß die einfachen Altersrenten zum Ausgleich der Teuerung um rund 5 °/o erhöht wurden: die Mindestrenten betrugen ab Januar 1977 525 Fr. und die Höchstrenten 1.050 Fr. i m Monat 2 0 8 . A m 10. A p r i l 1975 reichten Progressive Organisationen der Schweiz (POCH/PSA) ein Volksbegehren auf Herabsetzung des Rentenalters für Männer von 65 auf 60 und für Frauen von 62 auf 58 Jahre ein. Es wurde i n der Volksabstimmung vom 26. Februar 1978 m i t starkem Mehr verworfen 2 0 9 . Die Stimmbürger waren sich bewußt, daß die V e r w i r k lichung dieser Postulate beträchtliche Beitragserhöhungen zur Folge haben würde. 1) Bedeutsame Änderungen brachte die 9. AHV-Revision vom 24. Juni 1977, stufenweise i n K r a f t gesetzt ab 1. Januar 1979 210 . Sie diente nicht einem erneuten Ausbau der Leistungen, sondern einer längerfristigen Konsolidierung des Sozialwerkes. Zudem regelte sie i n verschiedenen Bereichen zahlreiche Einzelheiten. Da das Referendum ergriffen wurde, kam es am 26. Februar 1978 zur Abstimmung. Das Volk stimmte der Vorlage m i t großem Mehr zu 2 1 1 . Von den Änderungen seien folgende erwähnt 2 1 2 : Nach A r t . 33ter I A H V G hat fortan der Bundesrat Auftrag und Kompetenz, die „ordent206 F ü r Unselbständigerwerbende erhöhte der B u n d die Beiträge 1973 auf 7,8 °/o u n d zum 1. J u l i 1975 auf den heute geltenden Satz von 8,4 % sowie f ü r Selbständigerwerbende zuerst auf 7,3% u n d durch die 9. A H V - R e v i s i o n auf den heutigen Satz von 7,8 % . 207 Vgl. die Berichte von Büchi u n d M ü l l e r i n SZS 1975, S. 135 ff., 1976, S. 40 ff., S. 265 f., 1977, S. 220 ff., 1978, S. 194 ff. u n d 282 ff. 208 Müller, SZS 1977, S. 220. 209 Müller, SZS 1978, S. 282 f.: 1.451.220 Nein gegen 377.017 Ja. 210 BB1. 1976 I I I , S. 1; AS 1978, S. 391. 211 1.192.144 Ja standen 625.566 Nein gegenüber. Büchi, SZS 1978, S. 284.
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Entwicklungsprozeß der Sozialversicherung i m B u n d e s s t a a t 8 0 9
liehen Renten i n der Regel alle zwei Jahre zum Beginn des Kalenderjahres der Lohn- und Preisentwicklung" anzupassen, indem er den Rentenindex neu festsetzt. Dieser „ist das arithmetische M i t t e l des vom Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit ermittelten Lohnindexes und des Landesindexes der Konsumentenpreise" (Abs. 2). „Der Bundesrat kann die ordentlichen Renten früher anpassen, wenn der Landesindex der Konsumentenpreise innerhalb eines Jahres um mehr als 8 °/o angestiegen ist; er kann sie später anpassen, wenn dieser Index innerhalb von zwei Jahren u m weniger als 5 % angestiegen ist" (Abs. 4). I n zwei Anhängen, die sich i n den Übergangsbestimmungen zur 9. A H V Revision finden, werden die Rentenanpassungen für die A H V und die I V geregelt. Somit sind die Renten teilweise dynamisiert worden, indem sie durch den Renten- oder Mischindex auch der Lohnentwicklung angepaßt werden. Man spricht von einer „prozentualen D y n a m i k " 2 1 3 . Der Bundesrat hat durch VO vom 17. September 1979 erstmals eine Rentenanpassung nach der neuen Regelung vorgenommen und die einfache Altersrente auf 1. Januar 1980 auf mindestens 550 Fr. und die Höchstrente auf 1.100 Fr. monatlich festgesetzt 214 . Die 9. AHV-Revision ordnet den Beitrag des Bundes neu. Sie führt überdies eine beschränkte Beitragspflicht der Altersrentner ein, die erwerbstätig sind 2 1 5 . Immerhin sieht sie einen Freibetrag von monatlich 750 Fr. vor. Die Beiträge der Nichterwerbstätigen verdoppelt sie. Das Grenzalter für eine Zusatzrente der Ehefrau w i r d von 45 auf 55 Jahre hinaufgesetzt. Die Zusatzrente beträgt nur noch 30 °/o (bisher 35 °/o) der einfachen Altersrente. Die Ehepaar-Altersrente w i r d künftig erst ausgerichtet, wenn die Ehefrau das 62. Altersjahr erfüllt hat (bisher 60). Die A H V gibt auch Hilfsmittel an invalide Altersrentner ab. Sie w i r d überdies Beiträge zur Förderung der Altershilfe gewähren. Bereits ab 1. Januar 1975 leistet sie Baubeiträge an Altersheime. Bei Erlaß des A H V G war — wohl versehentlich — keine Regelung für den Fall getroffen worden, daß durch das gleiche Ereignis sowohl AHV-Renten — ζ. B. der Witwe und der Kinder — als auch Ersatzansprüche gegen haftpflichtige Dritte ausgelöst werden. Die Geschädigten konnten daher diese Ansprüche kumulieren, was seit der Erhöhung der Renten durch die 8. AHV-Revision bisweilen starke Überentschädigungen zur Folge hatte. Die 9. AHV-Revision führte nun für 212 Weiteres bei Büchi, SZS 1977, S. 268 ff.; Müller, SZS 1978, S. 195 ff. u n d Müller, A H V , S. 122. 213 Maurer, Sozialversicherungsrecht, S. 319 f. — Der Misch- oder Rentenindex wurde f ü r den Z e i t p u n k t auf 100 angesetzt, i n welchem der Landesindex der Konsumentenpreise den Stand v o n 175,5 Punkten erreicht hatte. 214 AS 1979, S. 1365. Einzelheiten bei Büchi, SZS 1979, S. 281. 215 Eine solche Beitragspflicht wurde durch die 2. A H V - R e v i s i o n aufgehoben; vgl. vorne bei A n m . 189.
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die A H V und zugleich für die I V das Regreßrecht ein: Haftpflichtansprüche gehen teilweise auf die A H V / I V über, wenn und soweit diese den Schaden i m Sinne des Haftpflichtrechts durch ihre Leistungen ausgleicht 2 1 6 . Die 9. AHV-Revision räumte dem Bundesrat schließlich die Kompetenz ein, zur Verhinderung ungerechtfertigter Leistungskumulationen die nötigen Vorschriften zu erlassen und das Verhältnis zu andern Sozialversicherungszweigen zu ordnen 2 1 7 . Damit schaffte sie eine Grundlage für die Verbesserung der Koordination oder Harmonisation innerhalb der Sozialversicherung. m) Bereits haben die Vorarbeiten für die 10. AHV-Revision eingesetzt. I m Mittelpunkt sollen dabei Postulate der Frauen stehen, von denen folgende erwähnt seien: flexible Altersgrenze für die Altersrenten; Aufhebung des Instituts der Ehepaar-Altersrenten und Verselbständigung des Rentenanspruchs der Ehefrau; Überprüfung des Rentenalters der Ehefrau, das zu überdenken ist, wenn die flexible Altersgrenze nicht eingeführt wird. Auch die Altersrenten der geschiedenen Frauen sollten neu geregelt werden 2 1 8 . n) Beinahe jede AHV-Revision hat Änderungen i n andern Zweigen der Sozialversicherung m i t sich gebracht. A m stärksten berührt wurde i n der Regel die IV, da sie eng m i t der A H V verbunden ist. I I I . Militärversicherung 1 ^ 19
1. Teilrevision
des MVG durch Bundesratsbeschluß vom 27. April 1945
Verschiedene Bemühungen des Bundes, ein neues Militärversicherungsgesetz zu erlassen, blieben zwischen den beiden Weltkriegen ohne Erfolg. So galten denn während des Zweiten Weltkrieges immer noch das Bundesgesetz von 1901 und einige Bestimmungen des Bundesgesetzes von 1914 nebeneinander. Der Bundesrat machte jedoch von seinen Vollmachten Gebrauch und ergänzte das bestehende Recht. I m September 1944 legte der Chef des Eidg. Militärdepartementes den Entwurf zu einem neuen Gesetz vor, der von einer Expertenkommission überarbeitet wurde. Sie k a m zum Ergebnis, daß eine Totalrevision des M V G 216 Näheres zum schwierigen Regreß- oder Subrogationsrecht i n der Sozialversicherung bei Maurer, A n m . 213, § 20; derselbe, K u m u l a t i o n u n d Subrogation, S. 45 ff. 217 Müller, SZS 1978, S. 197; Maurer, A n m . 213, § 21. 218 Büchi, SZS 1979, S. 281; Maurer, SZS 1979, S. 207. 219 Vgl. vorne bei A n m . 23 u n d 124. Näheres zur Geschichte bei Furrer, Entstehung u n d Entwicklung, S. 28 ff. u n d Bassegoda, Militärversicherung, S. 11 ff.
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innert nützlicher Frist nicht möglich sei, weshalb zuerst nur die dringlichsten Postulate verwirklicht werden sollten. Diesem Vorschlag folgte der Bundesrat und faßte, gestützt auf seine Vollmachten, den Bundesratsbeschluß vom 27. A p r i l 1945 betreffend Teilrevision des MVG. 2. Das MVG vom 20. September 1949 I m Auftrage des Eidg. Militärdepartementes arbeitete Bundesrichter Dr. Arnold kurz nach dem Kriege einen weiteren Gesetzesentwurf aus. Der Bundesrat ließ diesen m i t Botschaft vom 22. September 1947 der Bundesversammlung zugehen, welche am 20. September 1949 das heute noch geltende M V G verabschiedete. Da das Referendum nicht ergriffen wurde, konnte es zum 1. Januar 1950 i n K r a f t gesetzt werden 2 2 0 . 3. Leistungsanpassungen
durch Teilrevisionen
des MVG
Das M V G ist seither durch fünf Teilrevisionen geändert worden 2 2 1 . Diese dienten vorwiegend dazu, die Leistungen an die eingetretene Teuerung anzupassen. Besonders erwähnt sei die Revision vom 19. Dezember 1963. M i t ihr hat der Bund das haftpflichtrechtliche Institut der Genugtuung i m M V G und damit i n der Sozialversicherung eingeführt (Art. 40bis). Das M V G ist einige Male auch durch andere Bundesgesetze berührt worden. So hat A r t . 48 des Zivilschutzgesetzes vom 23. März 1962 bestimmt, daß die i m Zivilschutz Dienst leistenden Personen bei der M V versichert sind. 4. Vorarbeiten
für ein neues MVG
I n die Zeit von 1972 bis 1976 fallen Vorarbeiten für ein neues Gesetz. Zuerst hat die Abteilung — heute: Bundesamt — für Militärversicherung einen Vorentwurf verfaßt. Sodann hat eine Expertenkommission dem Eidg. Militärdepartement 1976 ihren Schlußbericht abgeliefert 222 . Seither ist nun aber der Gedanke an eine Total- oder auch nur eine Teilrevision des Gesetzes aufgegeben worden 2 2 3 .
220
BB1. 1947 I I I , S. 97; AS 1949, S. 1697; SR 833.1. Bassegoda, A n m . 219, S. 13 zählt sie auf. 222 Verfasser ist Prof. Dr. E. Fischli. Maurer, A n m . 213, S. 104.
221
223
Büchi, SZS 1976, S. 195 u n d 1977, S. 282.
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I V . Arbeitslosenversicherung 224
1. Gesetzgebungsbefugnis
des Bundes
A m 6. J u l i 1947 nahm das Volk die neuen Wirtschaftsartikel der Bundesverfassung und zugleich A r t . 34ter an. Dieser räumte dem Bund die Gesetzgebungsbefugnis auf dem Gebiete der Arbeitslosenversicherung und Arbeitslosenfürsorge ein, freilich m i t starken Einschränkungen, indem ζ. B. die Kantone allein weiterhin kompetent waren, öffentliche Arbeitslosenkassen zu errichten und ein Obligatorium einzuführen. 2. Bundesgesetz vom 22. Juni 1951 Der Bund setzte, nachdem er die neue Kompetenz besaß, nacheinander verschiedene Expertenkommissionen ein, welche Entwürfe für ein Arbeitslosenversicherungsgesetz ausarbeiteten. Dabei konnten sie auf dem bundesrätlichen Vollmachtenbeschluß vom 14. J u l i 1942 aufbauen, da er sich weitgehend bewährt hatte. M i t seiner Botschaft vom 16. August 1950 leitete der Bundesrat der Bundesversammlung seinen Entwurf zu einem neuen Gesetz zu. Diese verabschiedete ihn am 22. Juni 1951. Da die Referendumsfrist nicht benutzt wurde, konnte das Gesetz am 1. Januar 1952 i n K r a f t treten 2 2 5 . Die Arbeitslosenversicherung spielte i n den beiden folgenden Jahrzehnten wegen der Hochkonj u n k t u r freilich keine große Rolle. I n den Jahren 1971 und 1972 erreichte ihre Beanspruchung den tiefsten Stand, da sie nur je 1.000 Versicherten Taggelder entrichtete 2 2 6 . 3. Obligatorische Arbeitslosenversicherung gem. Bundesbeschluß vom 8. Oktober 1976 („Übergangsordnung") A l l e i n die gesetzliche Regelung erwies sich beim Einbruch der Rezession i m Jahre 1975 als ungenügend. Die Bundesversammlung ergriff daher durch dringlichen Bundesbeschluß zahlreiche Maßnahmen. A m 13. Juni 1976 nahm das Volk einen neuen A r t . 34novies B V über die Arbeitslosenversicherung an, der die einschlägigen Bestimmungen des bisherigen A r t . 34ter ersetzte. Er erklärt die Arbeitslosenversicherung von Bundes wegen für alle Arbeitnehmer obligatorisch. Die Bundesversammlung hat m i t Bundesbeschluß vom 8. Oktober 1976 die Einführung der obligatorischen Arbeitslosenversicherung für alle Arbeitnehmer durch die sog. Ubergangsordnung beschlossen, die auf fünf Jahre befristet ist 2 2 7 . 224
Vgl. bereits vorne bei A n m . 19, Β I I u n d C I I I . BB1. 1950 I I , S. 525; A S 1951, S. 1163; SR 837.1. Weiteres zur Geschichte bei Holzer, Kommentar, S. 17 ff. u n d Furrer, A n m . 52, S. 130 ff. 226 Saxer, Soziale Sicherheit, S. 210 (Tabelle). 225
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V. Familienzulageordnung 22 ^
1. Artikel
34 quinquies BV
A m 13. Mai 1942 reichte das Aktionskomitee „ F ü r die Familie" eine Verfassungsinitiative ein, wonach dem Bund die Befugnis für die Gesetzgebung über den Familienschutz eingeräumt werden sollte. Die Initiative veranlaßte die Bundesversammlung, einen Gegenentwurf auszuarbeiten. Dieser wurde i n der Volksabstimmung vom 26. November 1945 als A r t . 34 quinquies B V angenommen. Gemäß Abs. 2 kann der Bund Familienausgleichskassen errichten und den Beitritt allgemein oder für einzelne Bevölkerungskreise obligatorisch erklären. Er ist som i t kompetent, Kinder- und Familienzulageordnungen einzuführen. Die Initiative wurde zurückgezogen. 2. Das Bundesgesetz vom 20. Juni 1952 Der Bund hat den bundesrätlichen Vollmachtenbeschluß vom 9. Juni 1944 betreffend die Familienzulageordnung für die Landwirtschaft nach dem Kriege ins ordentliche Recht überführt, nämlich zunächst einmal m i t den Bundesbeschlüssen vom 20. Juni 1947 und vom 22. J u n i 1949. A u f diese Weise gewann er Zeit für den Erlaß des auch heute noch geltenden BG vom 20. J u n i 1952, das freilich seither verschiedene kleine Revisionen erfahren hat 2 2 9 . 3. Keine umfassende Regelung des Bundes Der Bundesrat beauftragte am 16. August 1957 eine Expertenkommission m i t der Prüfung der Frage, ob eine bundesrechtliche Ordnimg der Familienzulagen zu schaffen sei. Die Kommission befürwortete i n ihrem Bericht vom 27. Februar 1959 den Erlaß eines allgemeinen „Bundesgesetzes über die obligatorische Ausrichtung von Kinderzulagen an Arbeitnehmer". Allein diese Anregung stieß weitherum auf Ablehnung. Das Eidg. Departement des Innern griff den Gedanken später wieder auf und holte am 11. November 1968 die Stellungnahme der Kantone und Spitzenverbände ein. Die Vernehmlassungen ergaben, daß kein Bedürfnis nach einem solchen Bundesgesetz bestehe, da die kantonalen Ordnungen ausreichten. Somit blieb es dabei, daß der Bund nur für einen kleinen Teil der Bevölkerung, nämlich für landwirtschaftliche Arbeitnehmer und Kleinbauern, Familien- und Kinderzulagen zu ent227 y g i vorne bei A n m . 19; SR 837.100. Das zuständige Departement hat bereits den E n t w u r f f ü r ein neues Arbeitslosenversicherungsgesetz ausgearbeitet u n d das Vernehmlassungsverfahren eingeleitet. 228 229
Vgl. bereits vorne bei A n m . 21 u n d C I V . Vgl. vorne bei A n m . 21 u n d 166. — SR 836.1.
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L a n d e s b e r i c t Schweiz
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richten hat. Besondere Regelungen bestehen für die Bundesbeamten, die aber dem Beamtenrecht zuzuzählen sind 2 3 0 . V I . Erwerbsersatzordnung 231
Bei der Revision der Wirtschaftsartikel der Bundesverfassung — angenommen i n der Volksabstimmung vom 6. J u l i 1947 — ist auch A r t . 34ter neu gefaßt worden. Er räumt dem Bund u. a. die Kompetenz ein, Vorschriften über den Ersatz des Lohn- und Verdienstausfalles infolge Militärdienstes zu erlassen. Damit war der Bund befugt, die während des Krieges durch verschiedene bundesrätliche Vollmachtenbeschlüsse geregelte Materie i n die ordentliche Gesetzgebung überzuführen. M i t dem B G über die Erwerbsausfallentschädigung an Wehrpflichtige (Erwerbsersatzordnung, EOG) vom 25. September 1952 232 faßte er die vier Entschädigungssysteme zu einem einheitlichen Entschädigungssystem zusammen 233 . Das Gesetz wurde durch mehrere Revisionen den veränderten wirtschaftlichen Verhältnissen angepaßt. A r t . 22 bis BV, angenommen i n der Volksabstimmung vom 24. M a i 1959, übertrug dem Bund sodann die Befugnis zur Gesetzgebung über den Zivilschutz (Zivilschutzartikel). A m 23. März 1962 stimmten die eidg. Räte dem BG über den Zivilschutz zu (Zivilschutzgesetz) 234 . Es gewährt den Zivilschutzpflichtigen Anspruch auf Erwerbsausfallentschädigung. Das EOG erhielt erst durch die Revision vom 18. Dezember 1968 einen entsprechend geänderten Namen. Dieser wurde durch die Revision vom 3. Oktober 1975 ein weiteres M a l geändert; der Titel lautet nunmehr „ B G über die Erwerbsersatzordnung für Wehr- und Zivilschutzpflichtige" 2 3 5 . V I I . Invalidenversicherung 236
1. Entstehung des IVG Nach der ursprünglichen Fassung von A r t . 34quater B V war der Bund zwar verpflichtet, die Alters- und Hinterlassenenversicherung einzurichten, hingegen war er lediglich befugt — also nicht verpflichtet —, „auf einen späteren Zeitpunkt auch die Invalidenversicherung einzu230 Vgl. Saxer, Soziale Sicherheit, S. 195 ff.; Tschudi, SZS 1977, S. 191 f.; Maurer, A n m . 213, S. 105; Vasella, SZS 1971, S. 127 ff. 231 v g i # vorne bei A n m . 18 u n d C I I . 232
BB1. 1951 I I I , S. 297; A S 1952, S. 1021; SR 834.1. 233 v g l . vorne bei A n m . 163. 234 Kurztitel, eingeführt durch B G v o m 7. Oktober 1977, AS 1978, S. 50; SR 520.1. 235 Gfeller, SZS 1970, S. 46; Müller, SZS 1976, S. 295; Saxer, Soziale Sicherheit, S. 222. 23β y g i vorne bei A n m . 15.
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Entwicklungsprozeß der Sozialversicherung i m B u n d e s s t a a t 8 1 5
führen". Nachdem sich die A H V eingespielt hatte, konnte der Bundesrat die Vorarbeiten für die Invalidenversicherung an die Hand nehmen. A m 13. September 1955 bestellte er eine Expertenkommission, die ihren Bericht unter dem Datum des 30. November 1956 ablieferte. Er diente dem Bundesrat als Grundlage für seinen Gesetzesentwurf, den er der Bundesversammlung m i t Botschaft vom 24. Oktober 1958 unterbreitete 2 3 7 . Die Bundesversammlung verabschiedete auch diese Vorlage erstaunlich speditiv, nämlich am 19. Juni 1959 als BG über die Invalidenversicherung. Die enge Verbindung der I V m i t der A H V hinsichtlich Organisation, Finanzierung und Renten erleichterte die gesetzgeberischen Arbeiten entscheidend. Das Referendum wurde nicht ergriffen. Das Gesetz konnte daher bereits auf den 1. Januar 1960 i n K r a f t gesetzt werden 2 3 8 . Freilich mußte der Bundesrat zuvor, nämlich am 13. Oktober 1959, einen Beschluß über die Einführung der I V erlassen, der i n erster Linie bezweckte, die Organe bereitzustellen, welche für die Durchführung der I V noch fehlten, nämlich die IV-Kommissionen und die I V Regionalstellen. Die eigentlichen Vollzugsvorschriften aber fehlten und mußten noch ausgearbeitet werden. Dies geschah — was aus heutiger Sicht eher verwunderlich erscheint — erst nach Inkrafttreten des Gesetzes, nämlich am 17. Januar 1961: Die VO des Bundesrates über die I V regelt i n 117 A r t i k e l n die weitschichtige Materie 2 3 9 . A r t . 85 I V G hat für Personen, die am 1. Januar 1960 bereits invalid waren, eine recht glückliche Lösung getroffen; sie wurden als „nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen anspruchsberechtigt" versichert. „Dabei w i r d angenommen, die Invalidität sei i m Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Gesetzes eingetreten". Hätte der Gesetzgeber Leistungen nur für die nach dem erwähnten Datum invalid gewordenen Personen vorgesehen, so wäre die I V während Jahrzehnten nie voll wirksam geworden. So sind denn den IV-Kommissionen 1960 schon 91.523 Anmeldungen zugegangen, 1961 nur noch 48.453. I m übrigen zeigte sich, daß es i n der Schweiz viel mehr Invalide gab, als die Behörden bei der Ausarbeitung des Gesetzes angenommen hatten 2 4 0 . 2. Änderungen
des IVG
Die Änderungen der AHV-Gesetzgebung w i r k t e n sich regelmäßig auch auf die I V aus, so daß ζ. B. deren Renten i m Verlaufe der Zeit stark erhöht wurden. A l l e i n die IV-Gesetzgebung hat daneben auch 237
BB1. 1958 I I , S. 1137; AS 1959, S. 827; SR 831.20. Granacher, SZS 1960, S. 64 f. u n d Salathé, SZS 1960, S. 224 f. 239 AS 1961, S. 29; SR 831.201; Granacher, SZS 1961, S. 71 f.; Achermann, SZS 1962, S. 298. 240 Graf, SZS 1962, S. 161, 165 m i t zahlreichen Hinweisen über die E i n f ü h r u n g der I V . 238
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L a n d e s b e r i i t Schweiz
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eine größere selbständige Revision erfahren. Eine vom Eidg. Departement des Innern i m Herbst 1964 eingesetzte Expertenkommission hatte Fragen zu prüfen, die sich i m Hinblick auf eine Revision stellten. I h r Bericht wurde i m September 1966 veröffentlicht. Der Bundesrat übernahm i n seiner Botschaft vom 27. Februar 1967 an die Bundesversammlung und i n seinem Gesetzesentwurf die meisten Vorschläge. Das Gesetz konnte am 5. Oktober 1967 verabschiedet und zum 1. Januar 1968 i n K r a f t gesetzt werden 2 4 1 . Die Revision beschlug beinahe alle Sachgebiete der IV, ohne freilich deren Struktur anzutasten. Sie führte zu einer Änderung von rund 100 A r t i k e l n des I V G und der I W 2 4 2 . 3. Der neue Artikel
34 quater BV und die IV
A r t . 34 quater BV, der i n der Volksabstimmung vom 3. Dezember 1972 angenommen worden ist 2 4 3 , bildet nunmehr sowohl für die Alters- und Hinterlassenen- als auch für die Invalidenvorsorge die verfassungsrechtliche Grundlage. Das m i t i h m festgelegte Drei-Säulen-Prinzip gilt somit auch für die IV. Ausdrücklich erwähnt sei sein Abs. 7: „Der Bund fördert die Eingliederung Invalider . . . " Damit hat der Eingliederungsgedanke auch i n der Bundesverfassung seinen Niederschlag gefunden 244 . V I I I . Krankenversicherung 24 ^
1. Grundlegende Revision vom 13. März 1964 Seit dem Inkrafttreten des K U V G versuchte das zuständige Departement des Bundesrates verschiedentlich, den die Krankenversicherung betreffenden ersten Titel zu revidieren. Revisionsentwürfe von 1921 und 1954, die auf seine Veranlassung ausgearbeitet worden waren, scheiterten 2 4 6 . Nachdem die I V eingeführt war, nahm das Eidg. Departement des Innern seine Bemühungen wieder auf, verfaßte Grundsätze für die Revision der Krankenversicherung und stellte sie mit einem erläuternden Bericht vom 25. M a i 1960 den Kantonen und Verbänden zur Vernehmlassung zu 2 4 7 . Hierauf konnte der Bundesrat der Bundesversamm241
S. 213. 242
BB1. 1967 I, S. 653; AS 1968, S. 29; Büchi, SZS 1967, S. 231 u n d 1966,
Büchi, SZS 1968, S. 278 u n d Gfeller, SZS 1969, S. 42. — Das I V G ist auch später i n einzelnen wenigen Punkten, losgelöst von einer A H V - R e v i sion, geändert worden, ζ. B. durch B G v o m 9. Oktober 1970 (AS 1971, S. 54). Auch die I W hat verschiedene kleinere Änderungen erfahren u n d ebenso die V O über Geburtsgebrechen. Überblick bei Büchi, SZS 1974, S. 144. 243 Vgl. vorne bei A n m . 182. 244 Die hinten unter Ζ. I X skizzierte Ordnung der Ergänzungsleistungen gilt sowohl f ü r die A H V als auch f ü r die I V . 245 Vgl. bereits vorne bei A n m . 10 u n d A I I I 2. 246 Achermann, SZS 1966, S. 54. 247 Granacher, SZS 1961, S. 73 u n d SZS 1960, S. 65 (Entstehungsgeschichte).
87
Entwicklungsprozeß der Sozialversicherung i m Bundesstaat
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lung m i t seiner Botschaft vom 5. Juni 1961 den Entwurf eines B G betreffend die Änderung des ersten Titels des K U V G vorlegen. Darin hatte er das sogenannte Arztrecht, das die Dreiecksbeziehungen zwischen Krankenkassen, Versicherten und Ärzten umfaßt, ausgeklammert, da es die Vorlage nach seiner Auffassung zu sehr gefährdet hätte. A l l e i n der Ständerat wünschte Vorschläge zu dessen Regelung. Dem Eidg. Departement des Innern gelang es, durch Verhandlungen m i t Vertretern der Ärzteschaft und den Krankenkassen eine Kompromißlösung zu finden, die dann aber später von der Schweizerischen Ärztekammer abgelehnt wurde. Der Bundesrat unterbreitete der Bundesversammlung m i t seiner Ergänzungsbotschaft vom 16. November 1962 248 einen Entw u r f für die Neuordnung des Arztrechts, der vom Parlament noch i n einigen Punkten geändert wurde. Das Änderungsgesetz konnte am 13. März 1964 verabschiedet werden. Die Klippe des Referendums hat es unangefochten passiert. M i t i h m ist das K U V G erstmals seit seinem Erlaß i m Jahre 1911 hinsichtlich der Krankenversicherung einer tiefgreifenden Revision unterzogen worden. Zahlreiche Vollzugserlasse waren ebenfalls zu ändern. Die Krankenkassen mußten ihre Statuten und Reglements bis spätestens am 1. Januar 1966 dem neuen Recht anpassen. Erst zu diesem Zeitpunkt gelangte das Änderungsgesetz zu voller Wirksamkeit, obwohl es zur Hauptsache bereits am 1. Januar 1965 in K r a f t getreten w a r 2 4 9 . 2. Neuordnung der Rechtspflege Die Novelle hat besonders für die Versicherten zahlreiche Verbesserungen gebracht, die sich ζ. B. auf die Freizügigkeit, die gesetzlichen Mindestleistungen, das komplizierte Arztrecht 2 5 0 , die Beiträge der öffentlichen Hand usw. beziehen. Von größter Tragweite ist die Neuordnung der Rechtspflege. A n die Stelle der bisherigen Rechtszersplitterung, die m i t einer bedenklichen Rechtsunsicherheit verbunden war, trat eine weitgehende Vereinheitlichung durch Bundesrecht. So sind Streitigkeiten zwischen Versicherten und Krankenkassen nunmehr i n erster Instanz durch die kantonalen Versicherungsgerichte und i n zweiter, oberster Instanz durch das Eidg. Versicherungsgericht zu entscheiden. Die anerkannten Krankenkassen haben die Kompetenz zum Erlaß von Verfügungen und damit — von Bundes wegen — hoheitliche Gew a l t erhalten, ähnlich der öffentlichen Verwaltung 2 5 1 . 248 Botschaft v o m 5. J u n i 1961 u n d Ergänzungsbotschaft v o m 16. November 1962 i n BB1. 1961, S. 264 u n d 1962, S. 646. Büchi, SZS 1963, S. 151 f. u n d Granacher, SZS 1962, S. 222 f. 249 A S 1964, S. 965; Achermann, SZS 1966, S. 53 ff. 250 Vgl. ζ. B. Maurer, Grundriß, S. 40 ff. 251 Maurer, Sozialversicherungsrecht, S. 106 f.
52 S o z i a l v e r s i c h e r u n g
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3. „Flimsermodell" I n den der Revision von 1964 folgenden Jahren wurde durch zahlreiche parlamentarische Vorstöße eine weitere grundlegende Änderung des K U V G verlangt. Das Eidg. Departement des Innern beauftragte daher eine große Expertenkommission — sie umfaßte 55 Mitglieder — damit, Vorschläge für eine Neuordnung der Krankenversicherung auszuarbeiten. Sie erstattete am 11. Februar 1972 einen einläßlichen schriftlichen Bericht. Ihre Vorschläge sind unter dem Namen „Flimsermodell" bekanntgeworden, da sie die meisten ihrer Sitzungen am K u r o r t Flims abgehalten hatte. Sie wollte ein Bundesobligatorium für Teilbereiche einführen, so namentlich für die Spitalversicherung und die Krankengeldversicherung. Dieses „Flimsermodell" regte zahlreiche Bevölkerungsgruppen an, eigene Modelle — insgesamt gegen ein Dutzend — auszuarbeiten 252 . 4. Das doppelte Nein vom 8. Dezember 1974 Noch bevor der erwähnte Kommissionsbericht vorlag, nämlich am 31. März 1970, reichte die Sozialdemokratische Partei der Schweiz eine Verfassungsinitiative „ f ü r eine soziale Krankenversicherung" ein, m i t welcher sie einen neuen A r t . 34bis forderte. Dieser enthielt ein weitreichendes Programm zur Neuordnung der Krankenversicherung, das ebenfalls i n mehrfacher Hinsicht ein Bundesobligatorium vorsah. Die Bundesversammlung hat i n der Folge einem Gegenvorschlag für die Neufassung von A r t . 34bis zugestimmt und darin wesentliche Punkte sowohl des „Flimsermodells" als auch des gerade erwähnten Volksbegehrens übernommen. A l l e i n das Volk hat i n der Abstimmung vom 8. Dezember 1974 ein doppeltes Nein ausgesprochen und damit sowohl das Volksbegehren als auch den Gegenvorschlag abgelehnt. Es wünschte jedenfalls i n der Krankenpflege Versicherung kein Bundesobligatorium. Auch eine neue Expertenkommission drang m i t ihrem Bericht vom 5. J u l i 1977 nicht durch 2 5 3 . Sie wollte als zusätzliche Finanzierungsquelle für die Krankenpflegeversicherung die Erhebung eines Lohnprozentes einführen. Gegen diese entstand eine große Opposition. Das Eidg. Departement des Innern ließ das Postulat daher fallen. Unter dem Titel „Teilrevision Krankenversicherung" veröffentlichte es den „Bericht und Vorentwurf 1978". Es strebt nunmehr „keine systematische Neugestaltung der Krankenversicherung an, sondern beschränkt sich auf Verbesserungen i m heutigen System, und zwar i m Bereich der versicherten Personen, der Leistungen, der Kostendämpfung und der Finanzierung". 252
Maurer, Grundriß, S. 53 ff. ; derselbe, Sozialversicherungsrecht, S. 107. Büchi, SZS 1977, S. 276 u n d 1978, S. 290; Tschudi, SZS 1977, S. 186 ff.; Maurer, Sozialversicherungsrecht, S. 107. 253
Entwicklungsprozeß der Sozialversicherung i m B u n d e s s t a a t 8 1 9
Es ist vorgesehen, daß der Bundesrat i m Jahre 1981 der Bundesversammlung Botschaft und Entwurf zu einer Teilrevision des K U V G vorlegen w i r d 2 5 4 . I X . Ordnung der Ergänzungsleistungen zur A H V / I V 2 5 5
1. Das Bundesgesetz vom 19. März 1965 Nach der ursprünglichen Konzeption sollte die A H V / I V lediglich eine Basisversicherung sein. Z u ihren Renten müßten danach weitere Leistungen hinzukommen, damit der Rentner über das zum Leben notwendige Einkommen verfüge. Zu denken war an die betriebliche Vorsorge, also an Pensionskassen usw. A l l e i n es war auch nach der Einführung der A H V / I V völlig ungewiß, wann ein entsprechendes Bundesgesetz vorliegen würde. Daher drängte sich eine Lösung auf, die sich ziemlich rasch verwirklichen ließ. Sie bot sich m i t der Idee der Ergänzungsleistungen an. Solche sollte bekommen, wer trotz AHV/IV-Renten noch „bedürftig" war. Das BG über Ergänzungsleistungen zur A H V / I V vom 19. März 1965 256 wurde als Subventionsgesetz erlassen: Der Bund gewährt den Kantonen Beiträge, wenn sie den AHV/IV-Rentnern, die bestimmte Einkommens- und Vermögensgrenzen nicht erreichen, Ergänzungsleistungen entrichten. Der grundsätzliche Unterschied zwischen ordentlichen AHV/IV-Renten und diesen Ergänzungsleistungen besteht also darin, daß diese i m Gegensatz zu jenen an den Nachweis des Bedürfnisses gebunden sind. Sie nähern sich damit stark dem Gedanken der Fürsorge, von der sie sich noch dadurch unterscheiden, daß sie „genormt", gesetzlich so fixiert sind, daß ihre Höhe i m einzelnen Fall bestimmbar ist. Es ist nicht daran zu zweifeln, daß die Ergänzungsleistungen einem großen sozialen Bedürfnis entsprochen und sich für ungezählte Menschen als Wohltat erwiesen haben; allein ihr Stachel, der Nachweis der Bedürftigkeit, hat viele Leistungsempfänger geschmerzt und zahlreiche Berechtigte davon abgehalten, Leistungen zu beanspruchen, die ihnen an sich zugestanden wären. Seitdem die ordentlichen Vollrenten den Existenzbedarf decken, ist die Bedeutung der Ergänzungsleistungen stark zurückgegangen. Immerhin leben i n der Schweiz doch noch zahlreiche Personen, die keine Voll-, sondern nur Teilrenten beziehen. Sie sind nach wie vor oft auf Ergänzungsleistungen angewiesen 257 . 254
Büchi, SZS 1979, S. 292 stellt die Revisionspunkte zusammen. Vgl. bereits vorne bei A n m . 17. 256 BB1. 1964 I I , S. 681 (Botschaft v o m 21. September 1964); A S 1965, S. 537; SR 831.30. 257 Maurer, SZS 1979, S. 194 f.: n u r ungefähr 15 Vo aller Altersrentner beziehen zur Zeit noch Ergänzungsleistungen. — Sämtliche Kantone haben das 255
5*
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2. Kantonale
Regelungen
Mehrere Kantone gewähren — von einer Ermächtigung des BG über Ergänzungsleistungen Gebrauch machend — zusätzlich zu den Ergänzungsleistungen Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenbeihilfen i n verschiedenen Formen, u m das Los bedürftiger Rentner zu erleichtern. 3.
Leistungsanpassungen
Die gesetzlichen Bestimmungen zur Festlegung des Existenzbedarfs — ζ. B. die Einkommensgrenzen — mußten öfters geändert und namentlich der Teuerung angepaßt werden 2 5 8 . Wenn der Bund die A H V / I V Renten über die Teuerung hinaus erhöhte, konnte dies zur Folge haben, daß die Ergänzungsleistungen gekürzt werden mußten, was die Leistungsempfänger bisweilen m i t Bitterkeit erfüllte 2 5 9 . X . Zwei wichtige Gesetzesvorlagen bei der Bundesversammlung
2. Revision der obligatorischen
Unfallversicherung
(UVG)
2Q0
a) Hinsichtlich der Unfallversicherung ist das K U V G mehrmals durch „kleine Revisionen" geändert worden, die sich auf wenige Bestimmungen beschränkten, die Strukturen jedoch nicht modifizierten. Sie dienten ζ. B. dazu, die Leistungen durch Erhöhung des versicherten Lohnes an die eingetretene Teuerung anzupassen. Das Bundesgesetz über Teuerungszulagen an Rentner der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt und des militärischen und zivilen Arbeitsdienstes vom 20. Dezember 1962 verpflichtet die SUVA, ihren Rentnern „nach Maßgabe dieses Gesetzes" Teuerungszulagen — zu bereits festgesetzten Renten — auszurichten 261 . b) Das Eidg. Departement des Innern beauftragte 1967 eine Expertenkommission, Vorschläge für eine Revision der Unfallversicherung auszuarbeiten. Sie hat ihren Bericht am 14. September 1973 abgeliefert. M i t Botschaft vom 18. August 1976 legte der Bundesrat der Bundesversammlung den Entwurf zu einem neuen Unfallversicherungsgesetz 262 vor. Er schlug — gestützt auf den erwähnten Bericht — eine System der Ergänzungsleistungen übernommen. Gfeller, SZS 1968, S. 61 u n d Saxer, Soziale Sicherheit, S. 90 ff. 258 Vgl. ζ. B. das B G betreffend Ä n d e r u n g des E L G v o m 9. Oktober 1970 (AS 1971, S. 32) u n d dazu Maeschi, SZS 1971, S. 271 u n d Büchi, SZS 1971, S.137. 259 Büchi, SZS 1970, S. 138 f. u n d —- über die jüngste Anpassung — SZS 1979, S. 291 f. 260 Vgl. vorne bei A n m . 11 u n d bei A n m . 130. 261 A S 1963, S. 272; SR 832.25; Maurer, Sozialversicherungsrecht, S. 318. 262 BB1. 1976 I I I , S. 141.
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Entwicklungsprozeß der Sozialversicherung i m B u n d e s s t a a t 8 2 1
Totalrevision vor, wobei die Kranken- und die Unfallversicherung je i n einem besonderen Gesetz zu regeln seien 263 . Die Unfallversicherung soll nunmehr für alle Arbeitnehmer obligatorisch erklärt werden. Das bisherige Monopol der SUVA w i r d durch das Prinzip der Vielfach-Trägerschaft ersetzt, indem künftig auch private Versicherungsgesellschaften und Krankenkassen Träger werden können. I m Leistungsbereich w i r d eine verbesserte Koordination m i t andern Versicherungszweigen, namentlich m i t der A H V / I V angestrebt. Der Nationalrat stimmte der Vorlage m i t einigen unbedeutenden Änderungen i m März 1979 zu. Die Kommission des Ständerates hat ihre Beratungen aufgenommen, aber noch nicht abgeschlossen. Der Ständerat w i r d sich erst i m Verlaufe des Jahres 1980 m i t der Vorlage befassen können. Das neue Gesetz dürfte, wenn es zustande kommt, frühestens zum 1. Januar 1982 i n K r a f t treten können. 2. Berufliche Alters-, HinterlassenenInvalidenvorsorge (BVG)
und
a) I m Rahmen des Drei-Säulen-Prinzips 2 6 4 soll die berufliche Vorsorge — Personalvorsorgeeinrichtungen — als zweite Säule zusammen m i t der ersten Säule, der staatlichen A H V / I V , allen Arbeitnehmern i m Hinblick auf die Risiken Alter, Invalidität und Tod die Fortsetzung der gewohnten Lebenshaltung in angemessener Weise ermöglichen. I n der Schweiz gibt es mehr als 16.000 private Personalvorsorgeeinrichtungen, die meistens i n die Rechtsform von Stiftungen gekleidet sind. Z u ihnen kommen noch die Personalvorsorgeeinrichtungen des öffentlichen Rechts für Beamte und Angestellte des Gemeinwesens. A l l e diese Einrichtungen zusammen verfügen über ein Vermögen von mehr als 30 Milliarden Franken 2 6 5 . Wohl hat der Bund einige wenige Bestimmungen zur Personalvorsorge erlassen, so ζ. B. die A r t . 331 - 331 c, A r t . 339 d OR i n der Fassung vom 25. Juni 1971 (Revision des Arbeitsvertragsrechts) und A r t . 89bis ZGB, der die Personalvorsorgestiftungen als besonderen Stiftungstypus ausgestaltet 266 . A l l e i n diese Ordnung erfüllt die gesetzgeberischen Aufträge nicht, welche A r t . 34quater i n den Abs. 3 und 4 B V dem Bund überbindet. b) Eine Expertenkommission, die vom Eidg. Departement des Innern ernannt worden war, hat i n ihrem Bericht vom 16. J u l i 1970 die Ein263 Eingehend Seiler, SZS 1977, S. 6 ff.; Maurer, SVZ 1977, S. 162 ff.; Berenstein, Semaine judiciaire 1979, S. 122; Büchi, SZS 1977, S. 280, 1978, S. 293 u n d 1979, S. 296. 264 Vgl. vorne bei A n m . 182 - 184. 265 Maurer, SZS 1979, S. 190 u n d 1978, S. 77. 266 Maurer, Privatversicherungsrecht, S. 351 f. m i t Literaturhinweisen.
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führung eines Bundesobligatoriums für die berufliche Vorsorge zugunsten der Arbeitnehmer vorgeschlagen. Anfang 1972 bestellte die A H V / IV-Kommission einen Ausschuß für die berufliche Vorsorge. Er legte bereits am 25. September 1972 den „Bericht und Grundsätze i m H i n blick auf das Bundesgesetz" und Ende 1974 einen Vorentwurf zu einem solchen samt einem Kurzbericht vor. Der Bundesrat hat diesen Vorentwurf i n seinem eigenen Entwurf zur Hauptsache übernommen, den er zusammen m i t der Botschaft zum Bundesgesetz über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge vom 19. Dezember 1975 (BVG) der Bundesversammlung zugeleitet hat 2 6 7 . Der Nationalrat stimmte der Vorlage i n der Herbstsession 1977 zu. Seither befaßt sich die Kommission des Ständerates m i t ihr. Sie sucht nach Lösungen, die vom bundesrätlichen bzw. national rätlichen Projekt grundlegend abweichen und weniger perfektionistisch sind. Es läßt sich zur Zeit nicht voraussagen, wann der Ständerat die Vorlage behandeln und was dabei herauskommen wird. Zudem weisen Anzeichen darauf hin, daß das Referendum ergriffen wird. Das Schicksal des B V G ist heute ungewiß.
267
BB1. 1976 I, S. 149; Frischknecht, SZS 1976, S. 73 ff.; Büchi, SZS 1976, S. 163 f., 1977, S. 269, 1978, S. 284 m i t entstehungsgeschichtlichen Hinweisen u n d 1979, S. 282 f.; Maurer, Sozialversicherungsrecht, S. 108 f.
Dritter
Abschnitt
Schlußbemerkungen Nachdem i n den beiden ersten Abschnitten die Bundessozialversicherung gemäß geltendem Recht und ihre Entstehungsgeschichte gezeichnet worden ist, sollen hier einige Einzelaspekte herausgestellt werden. I. Allgemeines
Der Bund hat die Sozialversicherung nicht auf der Grundlage eines Gesamtplanes aufgebaut. Vielmehr ist er pragmatisch vorgegangen, indem er durch Einzelgesetze, gleichsam i n kleinen Schritten, jene Teilbereiche ordnete, für welche der gerade herrschende Zeitgeist günstige Voraussetzungen erwarten ließ. Der Auf- und Ausbau der Sozialversicherung ist ein eindrückliches Beispiel dafür, daß der Bund Sozialpolitik nicht nach Doktrinen gestalten kann, sondern t u n muß, was der praktisch-politische Verstand i n einer bestimmten Lage als möglich und machbar erscheinen läßt. Dieser Charakterzug schweizerischer Politik läßt sich hinreichend erklären durch die sogleich zu beleuchtenden verfassungsrechtlichen Institutionen, nämlich durch I I . Gesetzesreferendum und Verfassungsinitiative
Ihre juristischen Strukturen wurden bereits skizziert (vgl. vorne 1. Abschnitt, I, 2, b) und ihre Wirkungsweise i m jeweiligen rechtsgeschichtlichen Zusammenhang aufgezeigt. Hier seien nochmals einige wichtige Gesichtspunkte ins Licht gestellt. 1. Das fakultative
Referendum
Das fakultative Referendum hat die Entstehung und Entwicklung der Sozialversicherung stark gebremst und sie zudem teilweise i n andere Bahnen gelenkt als dies von den Behörden „programmiert" war. Dies läßt sich i n gleicher Weise für die Volksabstimmungen von 1900 und 1931 sagen, m i t denen einerseits die „Lex Forrer", welche die Kranken- und Unfallversicherung beinahe perfektionistisch regeln wollte, und andererseits die „Lex Schulthess", m i t der eine Alters- und Hinterlassenenversicherung eingeführt werden sollte, ver-
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L a n d e s b e r i c t Schweiz
worfen wurden. Das die Kranken- und die Unfallversicherung ordnende K U V G wurde erst i n der Volksabstimmung vom 4. Februar 1912, also 12 Jahre nach jener über die „Lex Forrer" angenommen. Die zweite Vorlage über die A H V fand sogar erst rund 16 Jahre nach der Volksabstimmung über die „Lex Schulthess", nämlich am 6. J u l i 1947, die Zustimmung des Volkes. Hinsichtlich der Krankenversicherung wies dabei die durch das K U V G zustande gekommene Regelung eine völlig andere Lösung auf, als die „Lex Forrer" sie angestrebt hatte. A n die Stelle einer umfassenden gesetzlichen Ordnung der Krankenversicherung trat lediglich ein Subventions- oder Förderungsgesetz, das überdies auf ein Bundesobligatorium verzichtet. Bis heute sind alle A n strengungen gescheitert, ein solches Bundesobligatorium einzuführen, während es i n andern Zweigen der Sozialversicherung wie ζ. B. in der Unfallversicherung sowie i n der A H V / I V verwirklicht wurde. Auch die A H V weist nach dem geltenden Gesetz i n wichtigen Gebieten, ζ. B. hinsichtlich der Finanzierung, der Leistungen und der Trägerschaft grundlegend andere Lösungen auf, als die „Lex Schulthess" sie vorgesehen hatte. Das Referendum w i r f t seine Schatten voraus. Es macht sich bereits bemerkbar, wenn Expertenkommissionen oder das zuständige Departement des Bundesrates einen gesetzlichen Erlaß vorbereiten. Schon i n Expertenkommissionen zeigt es sich häufig, ob bestimmte Vorschläge i n den interessierten Kreisen oppositionelle Strömungen auslösen oder nicht. Dies t r i f f t besonders eindrücklich dann zu, wenn das zuständige Departement seine Lösungsvorschläge zu einer neuen Gesetzesvorlage den interessierten Kreisen zur Vernehmlassung, also zur Stellungnahme, zustellt. Ein anschauliches B i l d vermag die Schrift „Bericht und Vorentwurf, November 1978" des Eidg. Departement des Innern zur dornenvollen Teilrevision der Krankenversicherung zu vermitteln. Sie schildert auf S. 2 die Vorschläge einer Expertenkommission und auf S. 3 f. die teilweise ungünstigen Reaktionen i m Vernehmlassungsverfahren auf diese Vorschläge. A u f den S. 8 ff. w i r d dann dargelegt, welche Schlüsse das Departement aus diesen Reaktionen zieht. So weist dieses — wohl als deutliche Anspielung auf das Referendum — auf S. 8 darauf hin, daß die Revisionsvorlage durch ein Bundesobligatorium der Krankenpflegeversicherung „politisch stark belastet würde"; und auf S. 9 verzichtet es auf eine teilweise Finanzierung der Krankenpflegeversicherung durch Lohnprozente, denn ein solcher Vorschlag hatte i m Vernehmlassungsverfahren „ n u r vereinzelt Zustimmung gefunden" (S. 4) 2 6 8 . 268 Der Bericht erwähnt auf S. 3, daß das Eidg. Departement des Innern 95 Stellen eingeladen hat, zum Bericht der Expertenkommission Bemerkungen u n d Anregungen einzureichen. Rund die Hälfte dieser Stellen hat von der Einladung Gebrauch gemacht.
Schlußbemerkungen
825
Vor allem i m Bereiche der Sozialversicherung läßt das fakultative Referendum unsere Demokratie zur eigentlichen Konsensdemokratie werden; es ist für die Bundesbehörden beinahe unerläßlich, die Zustimmung der wichtigsten interessierten Volksgruppen zu haben, wenn einschneidendere Neuerungen verwirklicht werden sollen 2 6 9 . 2. Die Verfassungsinitiative Die Verfassungsinitiative hat für die Sozialversicherung erst nach dem Zweiten Weltkrieg Bedeutung erlangt. So sind ζ. B. i n der Zeit vom 2. Dezember 1969 bis 13. A p r i l 1970, also innert einem Jahr, nicht weniger als drei Volksbegehren eingereicht worden, die einen weiteren Ausbau der Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge zum Ziele hatten. Sie haben Bundesrat und Bundesversammlung veranlaßt, einen Gegenvorschlag auf Verfassungsebene auszuarbeiten, der zusammen m i t der zuerst eingereichten Verfassungsinitiative dem Volk am 3. Dezember 1972 zur Abstimmung unterbreitet wurde. Das Volk hat ihn angenommen und die Initiative verworfen. Die drei Verfassungsinitiativen haben Bundesrat und Bundesversammlung dazu bewogen, den erwähnten Ausbau beträchtlich zu beschleunigen. Darüber hinaus übten sie weitgehend die Funktion der fehlenden Gesetzesinitiative aus; jede von ihnen enthielt ein ganzes Programm für die künftige Ausgestaltung der genannten Gebiete, das den Gesetzgeber festlegen sollte. Dies hat auch die Verfassungsinitiative vom 31. März 1970 bezweckt, die einen neuen A r t . 34bis B V über die Kranken- und die Mutterschaftsversicherung zum Gegenstand hatte. Auch sie legte ein Programm fest, um den Gesetzgeber i n der Ausgestaltung dieser Zweige zu binden. Sie wollte den Gesetzgeber überdies veranlassen, die bereits laufenden Revisionsarbeiten zu beschleunigen. A l l e i n sie wurde dann, zusammen m i t einem Gegenvorschlag der Bundesversammlung, i n der Volksabstimmung vom 8. Dezember 1974 verworfen. Die Verfassungsinitiative hat sich hinsichtlich der Sozialversicherung i n neuerer Zeit gleichsam als Motor erwiesen, der die Bundesbehörden zum Handeln zwang. Soweit sie ein Programm für den Gesetzgeber aufstellte, bewirkte sie i n einem gewissen Rahmen, daß sich die Bevölkerung i m Vorfeld der Abstimmung die Meinung zu diesem Programm bilden konnte. Da die zuletzt genannte Initiative zur Kranken- und Unfallversicherung verworfen wurde, läßt sich m i t einiger Wahrscheinlichkeit voraussagen, daß die angefochtenen Programmpunkte — ζ. B. ein Bundesobligatorium für die Krankenpflegeversicherung — während längerer Zeit nicht verwirklicht werden dürften 2 7 0 . 269
S. 167.
Maurer, Probleme der schweizerischen Sozialversicherung, VSSR 1973,
826
L a n d e s b e r i c t Schweiz I I I . Bunte Vielfalt in der Sozialversicherung 271
Die bunte Mannigfaltigkeit, die unsere Sozialversicherung charakterisiert, läßt sich bereits aus den bisherigen Hinweisen verstehen. Einige Einzelheiten mögen sie veranschaulichen. 1. Trägerschaft Schon die Trägerschaft läßt i n verschiedener Hinsicht ein Vielerlei erkennen 2 7 2 . Erwähnt sei zuerst der Unterschied zwischen Mono- und Mehrfachträgerschaft. Die SUVA besitzt i n ihrem Bereich das Monopol, das andere Träger an der Durchführung der obligatorischen Unfallversicherung ausschließt. Gleich ist es m i t dem Bundesamt für Militärversicherung. Das andere Extrem findet sich i n der Krankenversicherung. Hier herrscht das Prinzip der Mehrfachträgerschaft, wobei zahlreiche Krankenkassen wenigstens teilweise miteinander i n Konkurrenz stehen, so daß sie i n den gleichen Bevölkerungskreisen um Mitglieder und den Abschluß von Kollektivverträgen werben. Dies gilt ähnlich auch für die Arbeitslosenkassen. Dazwischen stehen die Ausgleichskassen. Man w i r d auch sie unter dem Begriff der Mehrfachträgerschaft einzureihen haben; allein sie stehen nicht miteinander i n Konkurrenz, sondern jede von ihnen hat bestimmte Zuständigkeiten 2 7 3 . Auch die juristischen Formen der Versicherungsträger sind vielfältig. Zahlreiche Träger sind öffentliche Anstalten, wobei es rechtsfähige und nichtrechtsfähige gibt. Z u jenen gehören ζ. B. die SUVA sowie die Ausgleichskassen, nichtrechtsfähige Anstalten sind hingegen mehrere öffentliche Krankenkassen und ebenso Arbeitslosenkassen, die i n die kommunale oder kantonale Verwaltung eingebaut sind. Auch öffentliche Körperschaften sind zu erwähnen, da Krankenkassen oft als solche ausgestaltet sind, also öffentliche Krankenkassen, die auf Mitgliedschaft beruhen. Zahlreiche Kranken- und Arbeitslosenkassen sind Subjekte des Privatrechts, nämlich Vereine, Genossenschaften oder Stiftungen. Man pflegt sie die privaten Kranken- und Arbeitslosenkassen zu nennen, die von den öffentlichen unterschieden werden. W i l l man das Begriffspaar der unmittelbaren und mittelbaren Staatsverwaltung 2 7 4 verwenden, so ist augenfällig, daß die meisten Träger der 270 Maurer, Sozialversicherungsrecht, S. 109 f. u n d — zur verfassungsrechtlichen Unterscheidung von Gesetzgebungskompetenz u n d Gesetzgebungsauftrag, verbunden m i t einem Programm — S. 126 ff. 271 Vgl. dazu besonders auch Gysin, Mannigfaltigkeit u n d Koordination i n der Sozialversicherung, SZS 1958, S. 1 ff. 272 Näheres zum Organisationsrecht bei Maurer, Sozialversicherungsrecht, S. 242 ff. 273 Ebenda, S. 245. 274 Ebenda, S. 239 ff.
Schlußbemerkungen
827
mittelbaren Staatsverwaltung zugerechnet werden müssen: Sie sind aus der eigentlichen Bundesverwaltung ausgegliederte Verwaltungseinheiten. Davon gibt es nur wenige Ausnahmen, ζ. B. das Bundesamt für Militärversicherung sowie die beiden Ausgleichskassen des Bundes. Die Sozialversicherung ist i n der Schweiz das augenfälligste Beispiel der mittelbaren Staatsverwaltung. Es wäre m i t der föderalistischen Struktur unseres Landes kaum vereinbar, wenn für die gesamte Sozialversicherung ein einziger, hierarchisch gegliederter Verwaltungsapparat, die „Einheitsversicherung", geschaffen würde. Daß eine solche gesamthaft „billiger" wäre, d. h. m i t geringeren Verwaltungskosten auskommen würde, als dies beim heutigen System zutrifft, ist nicht beweisbar. Der Einheitsträgerschaft steht vor allem die schweizerische Tradition entgegen, Neuerungen auf bereits Gewachsenem aufzubauen. Für die Krankenversicherung schreibt schon A r t . 34bis Abs. 1 B V vor, daß der Gesetzgeber bestehende Krankenkassen zu berücksichtigen habe. Der Gesetzgeber hat auch bei der Organisation der Arbeitslosenversicherung Rücksicht auf die vorhandenen privaten und öffentlichen Arbeitslosenkassen genommen. Für die Durchführung der A H V / I V ist ebenfalls auf die bereits bestehenden, während des Zweiten Weltkrieges errichteten Ausgleichskassen gegriffen worden. Der Bund nimmt i n Aussicht, für die Ordnung der zweiten Säule an die vorhandenen Personalvorsorgeeinrichtungen privater Unternehmer und der öffentlichen Hand anzuknüpfen. Ebenfalls ist vorgesehen, für das erweiterte Obligatorium der Arbeitnehmerunfallversicherung Krankenkassen und selbst private Versicherungsgesellschaften als Träger zuzulassen. 2. Kreis der Versicherten Der Kreis der versicherten Personen ist i n den einzelnen Zweigen unterschiedlich gezogen. Das gilt einmal für das Nebeneinander von freiwilliger und obligatorischer Versicherung 275 . Als Beispiele seien erwähnt: Das älteste noch geltende Sozialversicherungsgesetz, das KUVG, schreibt von Bundes wegen für die Krankenversicherung kein Obligatorium vor, die Kantone dürfen aber für die ganze Bevölkerung oder für einzelne Klassen ein solches anordnen. Die Unfallversicherung ist für bestimmte Gruppen von Arbeitnehmern von Bundes wegen obligatorisch. Daneben hat das K U V G zwei freiwillige Unfallversicherungen für weitere Personengruppen vorgesehen, wobei eine davon einer Haftpflichtversicherung stark angenähert ist. Diese freiwilligen Versicherungen sind jedoch nie verwirklicht worden. Die A H V / I V ist grundsätzlich für die ganze Bevölkerung obligatorisch; für i m Ausland woh275
Näheres ebenda, S. 264 ff.
828
L a n d e s b e r i c t Schweiz
8
nende Schweizer beruht sie dagegen auf Freiwilligkeit. Die Arbeitslosenversicherung ist nach der geltenden Übergangsordnung für Arbeitnehmer grundsätzlich obligatorisch. Nach dem neuen A r t . 34 novies BV hat der Bund daneben um eine freiwillige Versicherung der Selbständigerwerbenden besorgt zu sein. Die Sozialversicherung kennt sowohl die Klassen- als auch die Volksversicherung 276 . Die A H V / I V ist als eine die ganze Bevölkerung umspannende Volksversicherung ausgestaltet. Das K U V G öffnet die Krankenversicherung wenigstens dem Grundsatze nach ebenfalls der ganzen Bevölkerung, während das gleiche Gesetz die Unfallversicherung als Arbeitnehmer- und damit als Klassenversicherung errichtet hat. Die Arbeitslosenversicherung ist i n ihrer heutigen Form ebenfalls Klassenversicherung, die sich auf Arbeitnehmer beschränkt, später aber auch, wie bereits erwähnt, Selbständigerwerbenden offenstehen soll. Die Familienzulagenordnung wurde zwar als Klassenversicherung errichtet; sie umfaßt jedoch neben landwirtschaftlichen Arbeitnehmern auch Kleinbauern und somit Selbständigerwerbende. 3. Finanzierung Auf dem Gebiete der Finanzierung läßt sich ebenfalls eine große Vielfalt feststellen. Dies gilt bereits für die Finanzierungssysteme 277. Das reine Umlageverfahren ist für die Militärversicherung vorgeschrieben. Eine Variante des Kapitaldeckungsverfahrens, nämlich das Rentendekkungsverfahren, auch Rentenwertumlageverfahren genannt, hat das K U V G schon bei seinem Erlaß für die obligatorische Unfallversicherung angeordnet. Daneben herrscht das Umlageverfahren m i t Schwankungsfonds bei den meisten übrigen Zweigen, namentlich i n der A H V / I V und i n der Krankenversicherung, vor. Die M i t t e l werden i n der Unfallversicherung durch Prämien allein, i n der Militärversicherung nur durch Steuern aufgebracht. I n der A H V / IV, i n der Krankenversicherung und anderen Zweigen dagegen gelten gemischte Systeme, indem die Finanzierung sowohl durch Prämien (Beiträge) als auch durch öffentliche M i t t e l (Steuern), d. h. durch Beiträge der öffentlichen Hand 276, erfolgt. Die Beiträge der öffentlichen Hand werden dabei von Zweig zu Zwei abweichend bestimmt. Die Beiträge oder — synonym — die Prämien werden nach den verschiedensten Gesichtspunkten festgesetzt. Das K U V G hat für die SUVA nach deutschem Vorbild von Anfang an die lohnbezogene Prämie vor276 277 278
Ebenda, S. 263. Ebenda, S. 357 ff. Ebenda, S. 354 ff. u n d 363 ff.
829
Schlußbemerkungen
geschrieben, während i n der Krankenversicherung ursprünglich die Individualprämie allein vorkam und erst später, m i t der gesetzlichen Einführung der Kollektivversicherung, durch die lohnbezogene Prämie ergänzt wurde. Diese letztere hat sich dann i n den meisten übrigen Zweigen, i n welchen überhaupt Beiträge erhoben werden, für den Normalfall durchgesetzt. I n der A H V / I V mußten daneben für die Nichterwerbstätigen andere Bestimmungsgrößen, u. a. auch das Vermögen, berücksichtigt werden. Das Äquivalenzprinzip, d.h. das versicherungstechnische Gleichgewicht zwischen Prämien einerseits sowie Risiko und Versicherungsleistungen andererseits, w i r d teils stark, ζ. B. i n der obligatorischen Betriebsunfallversicherung, teils nur schwach oder gar nicht, ζ. B. i n der A H V / I V , berücksichtigt. Erst durch die Einführung der A H V / I V wurde das Solidaritätsprinzip weit i n den Vordergrund gerückt. Das den Beiträgen zugrunde gelegte Erwerbseinkommen w i r d hier nach oben nicht begrenzt, so daß Personen m i t höherem Einkommen ihre Beiträge zugunsten von Personen m i t geringerem Einkommen bezahlen. Soweit dies zutrifft, handelt es sich nicht mehr um einen Beitrag i m versicherungsrechtlichen Sinn, sondern u m eine öffentliche Abgabe (sog. Gemengsteuer) 279 . Auch hinsichtlich des Beitragsschuldners bestehen bedeutende Unterschiede, die hier nicht weiter aufgezählt werden 2 8 0 . 4. Leistungsrecht 281
Das Leistungsrecht zeichnet sich ebenfalls durch einen Reichtum an Variationen aus. Es gelten die verschiedensten Prinzipien bei seiner gesetzlichen oder statutarischen Ausgestaltung. I n mehreren Zweigen sind die Leistungen seit dem Zweiten Weltkrieg stark ausgebaut, also ζ. B. die AHV/IV-Renten weit über die Teuerung hinaus erhöht worden. Namentlich auch i n der Krankenversicherung ist ein beträchtlicher Ausbau der Leistungen zu verzeichnen, der ζ. B. aufgrund der Revision des K U V G vom 13. 3.1964 und dann auch durch die Kassen selbst, ohne gesetzlichen Zwang, erfolgte. I V . Rechtliche Entwicklungstendenzen
1. Hinwendung
vom privaten zum öffentlichen
Recht
Das K U V G kannte zur Zeit seines Erlasses nebeneinander öffentlichund privatrechtliche Versicherungsverhältnisse: öffentlich-rechtlich geregelt waren die Versicherungsverhältnisse i n der obligatorischen Un279 Ebenda, S. 378. — Volkswirtschaftlich dient der Solidaritätsbeitrag der vertikalen Umverteilung von Einkommen. 280 Ebenda, S. 373. 281
Näheres ebenda, S. 292 ff.
830
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fallversicherung und i n der Krankenversicherung für die öffentlichen Krankenkassen, privatrechtlich jene für die privaten Krankenkassen. I n der Arbeitslosenversicherung bestanden ursprünglich ähnlich der Krankenversicherung ebenfalls beide Lösungen nebeneinander. Das BG über die Arbeitslosenversicherung vom 22. Juni 1951 leitete i n dieser Hinsicht eine neue Entwicklung ein. Es räumte den privaten Arbeitslosenkassen die Kompetenz ein, i m konkreten Einzelfall Verfügungen zu erlassen und damit Rechte ebenso wie Pflichten der Versicherten und Beitragspflichtigen einseitig und verbindlich festzulegen. Solche Verfügungen konnten formelle Rechtskraft erlangen. M i t dieser Regelung hat der Bund Privatrechtssubjekten — Vereinen und Genossenschaften — hoheitliche Gewalt eingeräumt. Er hat diese Entwicklung mit der Revision des K U V G vom 13. März 1964 fortgesetzt, indem er den privaten Krankenkassen ebenfalls die Kompetenz zum Erlaß von Verfügungen und damit hoheitliche Gewalt verlieh. Die gleiche Tendenz verfolgt er m i t der laufenden Revision des K U V G hinsichtlich der Unfallversicherung, indem er auch privaten Versicherungsgesellschaften, die als Träger zugelassen werden, hoheitliche Gewalt gewähren w i l l . I n den übrigen Zweigen wurde das Versicherungsverhältnis von A n fang an öffentlich-rechtlich konzipiert. Diese Hinwendung vom privaten zum öffentlichen Recht schlug sich auch i n der Rechtspflege nieder. Für die Beurteilung von Streitigkeiten aus privatrechtlich geregelten Versicherungsverhältnissen waren ursprünglich die Zivilgerichte zuständig. M i t der Umwandlung i n das öffentliche Recht ordnete der Gesetzgeber auch die Rechtspflege neu, indem Verwaltungsgerichte — kantonale Versicherungsgerichte, Rekurskommissionen usw. — an die Stelle der Zivilgerichte traten. Diese Entwicklung fand ihre Krönung dadurch, daß als oberstes Gericht für die ganze Sozialversicherung das Eidgenössische Versicherungsgericht eingesetzt wurde und — m i t der Novelle zum Bundesgesetz über die Organisation der Bundesrechtspflege vom 20. Dezember 1968 — die Sozialversicherungsgerichtsbarkeit i n die Verwaltungsgerichtsbarkeit eingebaut wurde. Die schweizerische Sozialversicherung ist geradezu ein Musterbeispiel für die Belehnung von Privatrechtssubjekten m i t hoheitlicher Gewalt und für die Umwandlung von privatrechtlichen i n öffentlich-rechtliche Institutionen. 2. Probleme der Koordination Die pragmatische Regelung der Sozialversicherung durch Einzelgesetze hat i m Lauf der Zeit Mängel der Koordination, der Harmonisierung, immer deutlicher i n Erscheinung treten lassen. Solche Mängel ließen sich vornehmlich i m Leistungsrecht, teilweise aber auch i m Bei-
101
Schlußbemerkungen
831
tragsrecht und i m Verhältnis zum Haftpflichtrecht erkennen. Gleiche Fragen waren i n verschiedenen Zweigen unterschiedlich oder auch gar nicht geregelt. Dies gilt ζ. B. für die Institute der Verjährung, Verwirkung, Rückforderung nichtgeschuldeter Zahlungen, Fristen, dann für das Zusammenspiel mehrfacher Leistungen usw. Es dürfte nunmehr der Zeitpunkt gekommen sein, i n welchem der Gesetzgeber diesen Problemen vermehrte Aufmerksamkeit schenkt, indem er ζ. B. Parallelbestimmungen besser miteinander i n Einklang bringt oder einen A l l gemeinen Teil schafft, Versicherungslücken schließt usw. V. Unerledigte Gesetzgebungsaufträge der Bundesverfassung
Die Bundesverfassung enthält i m Hinblick auf die Sozialversicherung neben Kompetenzartikeln auch eigentliche Aufträge an den Bundesgesetzgeber 282 . Noch nicht erfüllt hat dieser den Auftrag, die berufliche Vorsorge i m Sinne von A r t . 34 quater B V durch Bundesgesetz zu regeln (zweite Säule). Immerhin liegt eine Vorlage zur Zeit vor der Bundesversammlung zur Behandlung. Für die dritte Säule — Selbstvorsorge —, die Abs. 6 des gleichen Artikels vorschreibt, hat der Bundesrat noch keinen Gesetzesentwurf vorbereitet. Überdies verpflichtet A r t . 34 quinquies Abs. 4 B V den Bund, „auf dem Wege der Gesetzgebung die Mutterschaftsversicherung" einzurichten. Ein entsprechender Gesetzesentwurf liegt noch nicht vor. Das K U V G enthält zwar einzelne Bestimmungen zur Mutterschaft, sie genügen aber dem Verfassungsauftrag nicht.
282
Vgl. dazu ebenda, S. 126 f.
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Anhang
Inhaltsübersicht Α. Namenverzeichnis (Auswahl)
837
Β. Systematisches Stichwortverzeichnis
838
I. Begriffe, Institutionen, Prinzipien I I . Systeme
838 842
I I I . Risiken
845
IV. Gesicherte Personengruppen
847
V. Leistungen
852
1. Dienst- u n d Sachleistungen
852
2. Geldleistungen
852
a) Einmalige Leistungen b) Laufende Geldleistungen
852 853
aa) Kurzfristige Leistungen bb) Mittelfristige Leistungen
853 853
cc) Langfristige Leistungen (Renten)
854
3. Komplexleistungen
855
4. Sonstige Leistungen
855
V I . Organisation
856
V I I . Finanzierung
861
V I I I . Vorläufer I X . Historische Faktoren
865 866
Α. Namenverzeichnis (Auswahl) Adenauer 143 ff., 151 Adler 520 f., 557, 571, 590, 594, 596, 697 A r n o l d 811 Baare 85 Baernreither 514, 551 ff., 568 f., 573 ff., 581 ff., 591 ff., 622 B a k u n i n 198 Bebel 66, 69, 776 Bentham 292 Beveridge 191, 228, 275 f., 299, 316, 326, 328, 340, 348 ff., 366, 382 ff., 399 ff., 411 ff., 423 ff., 427, 442, 782 (FN 117) B ilmski, von 518, 567, 582 ff. Bismarck, von s. Β I X (Bismarcksche Sozialpolitik) Blackley 324, 334 Booth 304 f., 310, 312, 324, 340, 357 Brunner 806 (FN 201) Chamberlain 320, 326 Churchill 318, 334, 341 Engels 62, 198, 307, 762 Falkenhayn, v o n 516, 536 f., 545 f., 578 ff., 610 Forrer 19, 21, 25, 778, 780, 782 ff. de Gaulle 228, 235 f. George, Henry 308 G r i m m 789, 791 (FN 147) Hanusch 627 ff., 704, 717 Hirsch (-Duncker) 66 Hohenwart 482 ff., 693 H y n d m a n 308 K a a n 504, 545, 578 f. K a i z l 568 f., 572 Ketteier 72, 489 f. Keynes 349 Körber, von 591 f., 596, 606, 608 ff., 617, 621 ff., 637, 643, 693, 695, 698, 710, 726 Laroque 231 Lasalle 66, 70 f., 512, 776 Lenin 788 f. Leo X I I I 207
Liebknecht 66, 776 Liechtenstein, Alois von 490 ff., 518 f., 546, 695 L l e w e l l y n S m i t h 340 f. L l o y d George 316, 334 ff., 349, 352, 386 Maine 336 Malthus 289, 304 M a r x 198, 307 ff., 762 M i l l , J. S. 292, 307, 309 Nadaud 216 Napoleon I I I . 70, 200 f., 261 Oberwinder 478, 484, 496 Pino 516, 536 f. Prazâk 515 f., 523, 533, 537 ff., 578, 588, 609, 697 Proudhon 198 Rathbone 350 Rowntree 305, 310, 351, 357 Rueff 27 Sand, George 200 Saxer 800 f. Schäffle 72, 84, 482 ff., 694 Schmoller 72, 84 Schreiber, W i l f r i e d 144 Schulthess 34, 794, 800 Shaw, Bernard 308 Smith, A d a m 288, 292, 302 Stampili 800 (FN 171) Steinbach 493, 515, 518 ff., 523 f., 533 ff., 562, 578 f., 588 ff., 610, 697, 720, 726 Stumm-Halberg, von 85 Taaffe, von 481 1, 504, 509, 514 ff., 533 ff., 578, 588 ff., 597, 602, 610, 692 ff., 700, 713 Thiers 197, 201 Tschudi 800 (FN 171) Vogelsang, K a r l von 491 f., 506 (FN 173), 519, 527 Webb, Beatrice 331, 338 Webb, Sydney 308, 331, 338 Wagner, A d o l p h 72, 84 Wagner, W i l h e l m 81 (FN 50)
79 f., 82, 89, 91 f., 98, 123, 128, 252 f. 150 f.
— Arbeitgeber-/Arbeitnehmerbeiträge
Einkommensumverteilung s. a. Umverteilung
Einkommensgarantie
\
747, 779, 786 i
461, 695, 728
55, 154
829
Österreich
\ Schweiz
211 ff.
232, 264
j
442 335, 412, 417 463 ff. j
198,257,265,267
FN 279
453,463
753, 803, 819
454, 456, 640 f.,
779, 827
284,409 f., 412 ff. 502 f., 509 ff., 745, 778, 786, 526, 529 f., 566, 796 f., 801, 809 686
223 f., 227, 238, 284, 319, 333, 464, 502 f., 745, 786, 792, 335 f., 338, 341, 510 f., 557, 565 f. 796 f., 801, 809 346, 352 ff., 367, 411, 412 ff., 420, 430, 433, 442
492
418,420
764 f. 351, 358 f., 432 f.
Großbritannien j
91, 100, 106, 120, 232 f., 237 ff., 283, 348, 397, 135 f. 244 f., 252 f., 261, 399, 411, 423 f. 674 f. 263
55, 96, 143, 170 ff.
Einheit der Sozialversicherung
— Pflichtbeitrag 80 f., FN 50, 82, s. a. Pflichtversicherung 123
Beitragsprinzip
20, 90
Autonomieprinzip s. a. Selbstverwaltung
197 f.
233 f., 239 422
55, 77, 79, 123, 148, 160
Ausgleich, sozialer
26, 258 f.
Frankreich
245 294,305 f., 330 ff.
62
Deutschland
Armut
Action sociale
'taltituti'onenPrinzipien
Β. Systematisches Stichwortverzeichnis
Systematisches Stichwortverzeichnis
52, 116, 130, 159 f.
75 ff., 114, 122 f., 125 f.
Fürsorge
j
278
j
294
ΐ
j 777, 785
798
463, 711 819 I
! i
753, 803, 807,
469 f., 634
764 f., 819 f.
763
602, FN 674, 749 f., 777, 649, 680, 687 785, 827
|
1
Minimalleistung
Kostenerstattungsprinzip
Karitative Hilfe
Juste Salaire
170
96
75 f.
260
199,203
190, 207
263
!
352, 368, 421 f.
240 f., 259
156, 159
716
298 f., 432 460 f. 749, 807
674, 676
763
Harmonisierung der Systeme 91, 106, 111, 114, 24, 232 f., 237 ff., 238 f., 348, 355, 456, 638, 640 f., 804, 806, 810, der sozialen Sicherheit 120, 135, 147, 244,246,252,261, 366, 397, 423 f. 644, 653, 672, 814, 821, 830 f.
ι
j 685, 695
282, 333, 339 f., 377, 399, 401
190 f., 197, 199, ! 210 ff., 257 f., ί 265
218
23, 192, 198 f., 23, 354 ! 208 f., 218, 223 f., 228, 262
251 219
Freiwillige Versicherung
Gegenseitigkeit s. a. Mutualité
j
125 f., 148, 150 214, 232, 241, 276, 281, 296, 170, 174 265 349, 354, 402, 433, 442
158
Familieneinkommen ! 97, 147 Faute inexcusable j s. a. Unternehmerhaftpflicht | Freie Willensentscheidung 82
Existenzminimum
Europäische Sozialpolitik, Harmonisierung der
Systematisches Stichwortverzeichnis
Institutionen,
Prinzipien
Großbritannien
j
i
Solidarität
Sozialstaat
80, 83
|
Österreich
262 f.
291 f., 293 f., 348 ff., 434 ff., 440 f.
340, 352 f., 425
1
Schweiz
698 ff.
î 811 763 f., 803, ! 821,831 I ! 829 I
|
I
j 490, 692 ff. 744, 780 f., 831
677
810 27 ff., 745 f.
23, 303, 325, 335, 483 f., 512, 582 ! 354,367,419
191, 203,210, 232 ff., 241, 245, 253
23, 199, 208
15 ff., 76, 85, 87, ; 92,112,126, i 136 f., 168
j I I
151
191, 236, 245, 294, 322 f., 353, 248 f., 252 356, 418 f., 443
j
16,52,87 f., 96 f., 110, 125 f., 170 ff.
Selbstvorsorge
;
!
Schutz, sozialer
462, 540
15 f., 27 ff., 79, 27 ff., 226, 230, 27 ff., 317 ff., 27 ff., 698 ff. 123 232, 236, 242, 246 334 ff., 339, 348 ff., 353, 360, 411, 419 f., 431, 437
208, 210
220 ff., 236, 239
Frankreich
20 f., 52,80 f., 82, 190, 192, 199, 281, 283 ff., 320, 454 f., 483 f., j 31, 749, 754, 84 ff., 88, 91 ff., 206, 211 f., 216 ff., 324 f., 330, 336, 500, 508 ff., 527, ! 763, FN 48, 98, 107, 110, 116, 222 ff., 228, 234, 341, 377, 431, 536, 563 ff., I 770, FN 81, 130, 150,155, 159 236, 249 f., 252, 433 584 f., 617, 689 ! 777 f., 781, 262 I 783, 785, 794, 812, 818,821 f., I 827 ! 81, 92 187 f., 199, 203, 298 ff., 332 512 ff. | 763 f., 803
Deutschland
Risiko, soziales
Regress
Privatinitiative
Pflichtversicherung
Mutualité
L
Systematisches Stichwortverzeichnis
52
;
Vorsorge, soziale
Wohnsitz
j '
s. Pflichtversicherung Versorgungsausgleich
I
:
;
:
173 f.
166
213
j
ι
j
!
1
1
!
466, 728
FN 279
27 f., 768 ff., 779 f., 785
j
24 f., 36 ff., ι 746, 823, ! 826 ff., 829 f.
|
454
334, 337 f.
!
453
;
:
FN 59
!
j!
803, 821
25 f., 38 ff., 323 f., | 25 f., 38 ff., 453 ! 25 f., 38 ff., i 335 f., 341, 346, j 744 ff., 792 f., ! 351, 362, 367, ! 829 ; 409, 418, 433 ι ;
! ! I 201, 203 ff., 209, I ! 211,213,228, I ! 250 f., 262
1
1
j
27 f., 469 f., 498 f., 529 f., 533 ff., 724 f.
Versicherungspflicht
20, 25 f., 38 ff., 25 f., 38 ff. 79 ff., 123, 175
27 f., 277, 317 ff. ! 413, 418 I
I
27 f., 215 ff. !
Versicherung
368
1
27 f., 77 ff.
213
33, 187, 192, 198, 33, 299, 325, 335, 205, 208, 211 f., 419, 433 221, 223
!
75
Unternehmerhaftpflicht
I I
! ;
51, 55, 153, 167 198,230,232,242, 294, 336, 350 f., 254, 261, 264 354 f., 433,436 ff. !
!
17, 24 f., 34, 24 f., 36 ff., 190, ! 24 f., 36 ff., i 24 f., 36 ff., 36 ff., 83 ff., 97 f., 220, 225 f., 227, 281 ff., 319 f., ! 453 ff. i 170 ff. 229, 232 f., 236, 334 ff., 392 ff., j I 263 f. 402,411,420
Umverteilung I s. a. Einkommensumverteilung
Subsidiaritätsprinzip
Sparen
Sozialversicherungssystem s. a. Selbständige (II)
Systematisches Stichwortverzeichnis
147 f.
Frankreich
Großbritannien
Österreich
Invaliditätsversicherung s. a. Unfallversicherung
99 f.
Schweiz
:
!
f.,
284 f., 361 f., 368, : 401, 443
!
244, 259 f.
| 280 f., 282,350 f., I 615, 630, 707 225, 231, 237, 362, 365, 405 f. 241 f., 247, 251
189, 205 f., 211 f., 223
191, 207, 213,
161,173
;
!
247 ff.
333
!
!
i
583, 618, 621 f., ! 752 f., 793 f., I 637, 644 f., 649, ! 804 f., 814 ff. 677, 710 f.
746, 749, 793 f., 800 ff.
! ! 764, 791, 794, 820
746, 755, 798, ! 813
746, 754, 795 ff., 810 f., 814
803, 819, 821 f., 831
34, 206, 208, ' 33 f., 280,324 ff., 462 f., 618, | 34, 746, 749, 234 f., 237, 243, ! 347, 383 ff., 399 , 621 ff., 637, ! 793 f., 800 ff. 247, 252 f. ! 710 ff. j I 35, 114, 122 ff., 36, 227 f., 252, 35, 277 f., 281 f., j 35, 454, 629 ff., 36, 746, 754, 1 156 f. 256 f. 300, 336, 339 f f ! 633 ff. 791,812 346, 369 ff., 398, j 410 f.
Deutschland
: Fürsorge 76 f., 99, 114, 190 f., 197, 199, : 276, 280, 296 ff., 630 f., 633 f., 646, 122, 126, 148 . 210, 213 ff., ! 329 ff., 334, 650 ! 257 ff., 265 ; 356 ff. 1 ! I Hinterbliebenen(ver)sicherung 108 f., 116, 171 : 247,260 348, 386 ff. ; 583,637,676
Firmentarifvertrag s. a. Betriebliche Sozialleistungen
Familienlastenausgleich
Erwerbsersatz
Betriebliche Sozialleistungen
Ι
34, 55, 104, 148 f.
Arbeitslosigkeit, Leistungen bei
Altersversicherung
II. Systeme
Systematisches Stichwortverzeichnis
j
!
j
j
|
Rentenversicherung der
— Arbeiter
— Beamten
— Bergleute
I
— Unfall
— Angestellten
j
j
j
— Leben
79,173
|
!
j
79
78
79, 130
i
! ι
I
! !
I !
207
53, 82, 114, 117, 119 f.
205
ί
234 f., 241
|
j
418
FN 58, 254
!
j
592 ff., 640
! 577 ff., 584, 610, ΐ 650 !
!
i 772 783, 787 593, 616 ff.
;
748
;
748 ff., 827 f.
772
, 745,764, 772 ff., 783
460,615,707
456, 632 f., 682 f. : 764
160, 163 ff.
381 ff.
301,319,321
53,93 ff., 98, 160, 211 f., 222 ff., 163 ff. 262 ff.
:
260
234,249,252,260 j 189, 192, 196, 220 ff., 230, 235, i : 259
206 f., 260 f.
94,112,116
53, 93 ff., 110 f., ! 116 f., 119, 160, ! 163 ff., 171
!
ι
I
157 29, 88 f., 92 ff., j 31 f., 234, 240 ff., ; 30 f., 279, 281, 29, 459 f., 562 ff., 746 ff., 763 f., 98 f., 107, 116, ! 245, 247, 249 ff., j 336, 337 ff., 347, 573 ff., 611 ff. 780 ff., 784 ff., 129 f., 152 f., ! 260 ! 351, 377 f., 399, 632 f., 644 f., 648, i 816 ff. 159 f., 162 f., I i 410 f. 682, 685 175 ff. ; I
— Brand
Privatversicherung
Mutualité
Mutterschaftsversicherung
Konkursausfallgeld Krankheits(ver)sicherung
Bergleute
Knappschaftsversicherung s. Rentenversicherung der
Systematisches Stichwortverzeichnis
Unfallversicherung s. a. Invaliditätsversicherung
Todesfallversicherung s. Hinterbliebenen(ver)Sicherung
Sozialhilfe s. Fürsorge
— Seeleute — Selbständigen s. a. Landwirte
— Notare, Notariatsgehilfen
— Militärdienstleistenden
— Landwirte
— freien Berufe s. Selbständige
— Betriebe s. Betriebliche Sozialleistungen
II. Systeme
j
'
!
:
Frankreich
!
FN 61, 76
237, 262 ff.
j ;
!
! i
! I
!
j !
: 280
;
410
I
î
j
;
!
ì ;
I
\ Schweiz
746
i
456, 647, 683 828
746, 755, 782 f.
Österreich
! 454 ff., 712 ! I ' .
I
689 ff.
Großbritannien
!
i i
229 f., 250, 260 284, 319 ff., 461 f., 533 ff., ! 746, 748 f., 392 ff., 402, 411, 601 ff., 609 ff., , FN 81, 772, 418 638 f., 644 f., ! 780 ff., 784 ff., ι 682 f. ; 820 f. ; I ! !
! FN 58, 61 254, 263 f. I ι
j
!
211 f., 222 ff.,
;
1
! 85 ff., 93 ff., 98, ! 107,116,130, ; 151 f., 160 j
:
I 53 93, 130, 150
|
;
!
Deutschland
53, 148 ff.
\
84 Systematisches Stichwortverzeichnis
Risiken
Haftung
Feuer
s. Arbeitsunfall
Berufsunfall
78 f.
!
! I
I !
277, 393 f.
189 f., 207,216 ff.. 317 ff., 392, 418 : 229, 262
220
189, 211, 216 ff., : 237
! 402
533 ff., 724 f.
642,683
232,237,250 277 f., 288, 556,639,645, : 317 ff., 392 ff., ; 708
455
j
j
768 ff., 780. ! 785 f.
772
I
763,768
!
107,116,152
379, 406
1
Berufsrisiko
;
j
:
I
214, 257
Berufskrankheit
174
610, 707 f.
j
394
Behinderung
I
— Wegeunfall
116
j
— Minderung der Erwerbsfähigkeit
j
Arbeitsunfall
35 f., 791 !
27 f., 55, 78, 93, ! 27 f., 205 f., 27 f., 277, 283, ; 27 f., 461, 533 ff., j 27 f., 748, 755, 130 215 ff., 227, 229, 288, 317 ff., 356, 605 f., 608, 707 f. ! 763, 769, 783, ! 231, 237, 250, 260, 392 ff., 402 785 I FN 116 | 55, 118, 135 ! 283, 395, 406 461, 605 f., 709 753 I i
j 351,97,114,117,! 35 f., 193, 203, 35 f., 277 ff., 300, 35 f., 634 ff., 679 ! ! 1 147 227 f., 231, 256 f., 330, 339 ff., 346, ! ; 264, 267 369 ff., 398, 403
; ι ; : ; 32 ff., 55, 93, i 32 ff., 191, 206, i 32 ff., 280, 285, 32 ff., 462 f., 32 ff., 750, 752, 111 f., 116, 147, j 208,211,214, j 326, 327 ff., 347, 621, 642 f., 764, 794, 804 f., 160, 166, 172 226 f., 229, 234, j 383 ff., 386 ff. 645 f., 671 809 f., 821 ; 237, 245, 264, 267 j
Arbeitslosigkeit
Alter s. a. Ruhestand
III.
Systematisches Stichwortverzeichnis
:
Ruhestand s. a. Alter
j
j
!
Pflegebedarf
149
94,112,116,160
257
Mutterschaft
Kurzarbeit
Kündigung des Arbeitsverhältnisses
j
|
!
:
j '
283, 384 ff. j
279
705,707
679, 685, 709
191, 227, 229, 231J 283 f., 356, 381 ff. ! 234,237,245,249, | 252, 260, 266 f. j
!
206, 223
;
j
379, 390, 396 463, 642, 677, j 679, 683, 685, ! 705 : i 461, 605 ff., 608, ' 752
I
!
748
: 37, 157 j 190, 206 j 29 ff., 54, 93, 99, j 29 ff., 191, 194, 29 ff., 279, 284, 29 ff., 459 f., 705 j 29 ff., 748, ! 126,156,160, i 203 ff., 211,213 f., 288, 299, 330 ff., ! FN 16, 755, i 174 ff. ι 226 f., 229, 231, 337, 377 ff., 403 763, 784 ; 236 f., 242 f., 245. I 249, 260, 266 f. i |
93,146,149
! I j 243
!
Konkurs, Lohnausfall in Krankheit s. a. Berufskrankheit
I
111, 117, 146
:
Schweiz
— Erwerbsunfähigkeit
1
Österreich
I
Großbritannien
203 f., 227, 229, 279, 283 ff., 288, 463, 605 ff., 621, j 751 f., 764, 237 378 f., 395 f., 403, 645, 650, 677, 685 ! 814 f., 821 I 406 ! !
Frankreich
— Berufsunfähigkeit
55,99,109,111, 126, 135, 146, • 174 I
220
Deutschland
1
!
Invalidität
Hagel
III. Risiken
8 46 Systematisches Stichwortverzeichnis
55,93,111,160, !
Arbeitslose
116 1
:
j
203, 243, 250, 253, 260
ι
!
i
; 276, 280 ff., 296, ! 631
!
219
! ;
!
;
; 383 f.
ι
!
821 748, 785
'
:
754,791,812
j
!
! 216 ff., 642, 677, 1 710
|
;
:
I 454 ff. 749, 777 f., 783, 827 f.
| 639 |
633 ff. ι i 320 f., 398, 400 f., 1 401 ! : I ι ^
277 f., 289 ff.,
!
806
! 281, 360, 365, : 387, 441
! 52, 92 f., 107, 206, 223, 229, ! 399 110 f., 116 f., 159, ! 234, 243 f., FN 170 f. ! 106, 259 f., 263 j
166
122 ff., 156 f. 227 f., 256
!
;
237,251
251, 267 f.
j
!
I 705,709 750,764,769, I 299 f., 356,386 ff., ! 397, 419
'
51 f., 98 f., 104, 229, 236 ff., 246, I 397 ff. 170 256 ι
210,257
Arbeitgeber s. a. Selbständige, Unternehmer
Angestellte
Alte
Alleinverdiener
Alleinerzieher
Allgemeines
IV. Gesicherte Personengruppen '
;
1081,111,116, ; 227,229,231,237, ! 283 ff., 288, ! 147 I 260 '
Unfall s. a. Arbeitsunfall
Tod
Schwangerschaft s. Mutterschaft
Systematisches Stichwortverzeichnis
I
Erwerbslose i Familie(nangehörige) • s. a. Ehegatten, Hinterbliebenen, Kinder, Witwen
Eisenbahn, Beschäftigte der
Ehegatten s. a. Familie, Hausfrauen
Dienstboten
107
j
Bergleute
98
:
!
Blinde
;
!
I
'
;
!
!
!
!
I
ι
;
!
Frankreich
;
j
!
122 f. 92, 97 f., 104, 147, 159 !
! !
j
225, 257
223, 254
;
223, FN 58, FN j i 75
I 112, 130, 166 249 f., 252
117,120
j
ι
399
542, 563, 602 f., 673, 701 752,754 746, 755, 798,
750 f., 805, 809
,
Schweiz
764,820
' 278, 282, 284, 615, 623, 642, ! 350 f., 365, 400, 648 f., 687, 689, 813 403, 405 f., 439 707
j
j
!
;
i
I
764, 814, 821
609
Österreich
! 279, 359, 365, 455 ! 406 f. i 536, 541 f., 545, : 554, 563, 577 f., 584 f., 610, 710
614, 646 ! 283 f, 384,400 f., j j 405 f.
279
214, 251, 257
456, 632 f., 682 f.
j
!
Großbritannien j
276 f., 279, 296, 330 ff., 358 f., ! 400 f.
i
205, FN 75, 253, 398 f., 401 FN 106, 263
210
j
i
;
52, 137, 161, 166, 174
98, 156
;
Deutschland
129
125 f.
Behinderte
Beamte
Bauarbeiter
Artisten
Arme
/V. Gesicherte Personengruppen
Systematisches Stichwortverzeichnis
54 S o z i a l v e r s i c h e r u n g
'
j
j !
j
52
Freiwillig Versicherte
Geistliche
Gelegenheitsarbeiter Häftlinge
Handwerker
Hausfrauen
Kinder
Invalide
Hinterbliebene
!
!
; ;
ι
j
147 f., 160
55,99, 109, 146
238 249, 257
126, 166
1081,111,116,
i
264
i
I ;
I
399
I
1
279,366,369,401, ! 439 f. i
;
| '
279 f., 365, 405 f.
359, 369, 379
j
!
643
I
I
622, 709
461 1,557,583,
;
455
i
;
751, FN 16,
583, 621 f., 650 i 751,783
369, 386 ff., 397 j
238,251 1 277, 280 ff., 348, i
;
!
685, 687
602, 649, 680,
671
!
j
j
805
750,794
i
I
750, 828
i 750,752,8041, 807,810
752
549, 563, 568 f., ί 572, 607, 611, 614, 621, 641, 647 f., 710 I 283,285,3831, 400,403,411, 419 282, 399, 401
191, 221, 243,
191, 246, 252
130, 150, 171
137
I !
191, 246, 252
!
92 f., 130, 159 f. j
116,166
98, 161
137 f., 150 f.
93, 107, 130 130
!
Frauen
Hausgewerbetreibende Hebammen
j
;
Forstarbeiter
Flüchtlinge
Systematisches Stichwortverzeichnis 849
116
171
!
191, 243, 245,
FN 61, 76 :
238, 253,263
191, 245, 252
!
I ! ! i I
:
L
Österreich
640 453, 725
702 f.
j 785 ι
l
j Schweiz
456, 647, 683
:
754 f., 783, 795 ff., 810 f.
755, 797 f., 813
1 543,549,563, ! 755,798,813 < 568 f., 572, 607, 611, 614, 621, 641, 647 f., 680, : 710
680, 689 ff.,
283, 398 f.
686
609 | i ; 460, 612 f., 747 f., FN 16, 359, 396, 400 f. | 632 f. ;
Großbritannien
399 278, 280, 398 f., 411
191,219,243, 250, 260, 263
249, 260
|
276, 279, 296,
Frankreich
i 210, 214
!
I
!
98,107,161,171 !
95, 104
130, 148 ff., 159,
l
j
Deutschland
Lehrer Militärdienstleistende 112, 126, 138 s. a. Zivildienstleistende i Notare, Notariatsgehilfen j I öffentlicher Dienst, Beschäfj tigte des j s. Beamte j
Lebensretter
Lebensgefährten
Landwirte
Landarbeiter
Künstler
52
ί
Kranke
Kriegsteilnehmer s. Militärdienstleistende
j
Kraftfahrer
IV. Gesicherte Personengruppen
Systematisches Stichwortverzeichnis
j
Transportarbeiter
Wehrdienstleistende s. Militärdienstleistende
Wandergewerbetreibende
Waisen I s. Hinterbliebene
107
Unternehmer 93 s. Selbständige, Landwirte, Handwerker
;
j
:
160
52, 170
Selbständige s. a. Handwerker, Landwirte, Unternehmer
Studenten
98
160
Seeleute
Schüler, Schulabgänger
Saisonarbeiter Schriftsteller s. a. Künstler
126, 130, 159
;
j
!
j
;
i
I
j
ί 221
!
238,263
j
i
!
'
;
|
j
!
;
! 753
:
453,681
:
1
!
j
:
j
i
797, 828
!
j 797
455 f., 597, 623, 665, 672, 683 ff., ! 702 f., 712
602, 615
601
!
543, 563, 615 :
453, 681
356, 374, 400 f. ;
!
642
191, 234, 237, 283, 356, 400, i 243, 245, 249 f., 414 : 260, 263 f.
FN 58, FN 75, ! 263
280
370, 411
,
279, 285, 365
374, 384, 400
191, 246
246, 252
ί
j
Ι
j I 238
j
Prostituierte
Rentenempfänger
j
Pflegepersonen
Systematisches Stichwortverzeichnis
i
j
!
258
!
1
.
— Hinterbliebene
— Lebensgefährten
Abfindungen an
Leistungen
Geldleistungen
a) Einmalige
2.
109
! ' 54 f., 93 f., 99, 189, FN 28, 242, ! 279, 281, 330, 1 119, 127, 130, 152, j 255,257 337 f., 377 f. 160, 173, 175 f. j
; ,
;
;
.
Medizinische Hilfe
159, 173, 175
202
j
i
;
i
117, 173
,
Großbritannien
455,461,557,709 j
Frankreich
389,397,440
Deutschland
ί
Früherkennung von Krankheiten
Erziehung
Allgemeines
1
•
166
1. Dienst- und Sachleistungen
V. Leistungen
Zivildienstleistende
Witwer
Witwen s. Hinterbliebene
IV. Gesicherte Personengruppen j
1
•
i
:
j
j
;
640
583, 622
459 f., 564, 608, 633,638,645, 677,680,705, 708, 727 f.
j 459, 680, 705, ' 727
1
Österreich
ί 754 f., 814
ι
|
!
748 f., 753, FN 16
750 f.
j
!
; FN 16 I
:
j
j Schweiz
!
Systematisches Stichwortverzeichnis
117
;
j
1
!
— Krankengeld
— Lohnausfall, Leistungen bei j
:
— Haushaltshilfe
!
156, 160, 172 175 j
j
54, 93, 104, 119, i
160,173,176
:
259
241, 243
249
' j j
,
381
! 677
583, 709
i
1 j
!
!
! 1
I
618, 634
j
;
!
1
680, 705 ff. '
;
!
!
i
!
;
\
!
j
754 f., 798
754, 791 f.
:
j
748 f., 753 754
460 f., 564, 583, j
j 278, 282 f., 284, : 340, 371 ff.
405
:
583, 638
564, 583, 633
419
281, 284, 379 ff.
|
j '
i
!
j
390, 410
j
l
;
j
!
162
260
213, 235, 240, 245, 255
j
283, 391, 405,
b) Laufende Geldleistungen
i
Zuschüsse
ι
j
204
|
aa) Kurzfristige Leistungen — Konkursausfallgeld j 157 — Kündigung, Leistungen bei ί 223, 259 ungerechtfertigter | bb) Mittelfristige Leistungen ! | — Arbeitslosengeld/Arbeits! 122, 124 f., 156 ! 256 f. losenhilf e j — Betriebshilfe 149, 160, 173 I 249
1
108, 155
|
Sterbegeld
Kostenerstattung
Erstattung von Beiträgen
Bestattungskosten
— Witwen s. Hinterbliebene
— Unfallverletzte
\