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German Pages 135 [140] Year 1981
MAX-PLANCK-INSTITUT FÜR AUSLÄNDISCHES U N D INTERNATIONALES SOZIALRECHT
Ein Jahrhundert Sozialversicherung in Deutschland
Schriftenreihe für Internationales und Vergleichendes Sozialrecht Herausgegeben von H a n s F. Z a c h e r , München
Band 6a
Ein Jahrhundert Sozialversicherung in Deutschland
Von Detlev Zöllner
D U N C K E R
&
H I J M B L O T
/
B E R L I N
Beitrag aus Band 6 der Schriftenreihe für Internationales und Vergleichendes Sozialrecht „ E i n Jahrhundert Sozialversicherung i n Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Österreich und der Schweiz", herausgegeben von Peter A. Köhler und Hans F. Zacher
Alle Rechte vorbehalten © 1981 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1981 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3 428 04882 2 (Gesamtausgabe) ISBN 3 428 04920 9 (Bd. 6 a)
Vorwort Die nachfolgende Darstellung w i r d vorgelegt aus Anlaß der 100. Wiederkehr der Kaiserlichen Botschaft an den Deutschen Reichstag vom 17. November 1881. I n dieser Botschaft kündigte die Reichsregierung an, daß sie neben der bereits i m Entwurf vorliegenden Unfallversicherung auch eine Krankenversicherung sowie eine Invalidenversicherung einzuführen gedenke. Ungeachtet späteren Inkrafttretens der entsprechenden Gesetze, und obwohl der zusammenfassende Begriff für die drei Sicherungszweige erst nachträglich entstand, kann man den 17. November 1881 als Geburtstag der deutschen Sozialversicherung ansehen. Sie erblickte an diesem Tage sachlich als neue Konzeption und politisch als neue Intention das Licht der Welt. Ungeachtet des äußeren Anlasses ist diese Arbeit nicht als Geburtstags-Festschrift angelegt. Sie steht i n einem weiteren Rahmen, der nicht primär berichtend und zelebrierend, sondern i n erster Linie fragend und forschend angelegt war. Das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Sozialrecht hat i m Jahre 1978 ein internationales und interdisziplinäres Colloquium über „Bedingungen für die Entstehung und Entwicklung von Sozialversicherung" veranstaltet. Dabei w u r den neben Gelehrten verschiedener Wissensgebiete auch Personen zusammengeführt, die es übernommen hatten, für fünf europäische Länder nationale Berichte über die Entwicklung der Sozialversicherung seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts zu erstellen. Die Abstimmung der Autoren hatte zum Ziel, die verschiedenen Landesberichte unter weitgehend ähnlichen Fragestellungen zu erarbeiten. Damit sollte ihre Eignung als Vorarbeit für ein wissenschaftliches Colloquium i m November 1981 über die besonderen Aufgaben und die Wirkungsweise der Sozialversicherung i m Rahmen von sozialer Sicherheit und Sozialpolit i k sichergestellt werden. Insofern ist diese Arbeit Teil eines Ganzen, das zusammen mit gleichartig angelegten Arbeiten über Großbritannien (Ogus), Frankreich (Saint-Jours), Österreich (Hofmeister) und der Schweiz (Maurer) vorgelegt wird. Da andererseits auch und gerade für einen komparativ-abstrahierenden Vergleich die Entwicklung und vor allem die Entwicklungsbedindungen von Sozialversicherung i m nationalen Kontext verständlich und kohärent dargestellt werden müssen, haben Herausgeber und Verlag entschieden, diese Arbeit fur den daran interessierten Leser auch sepa-
rat vorzulegen. Die erwähnte Ziel- und Fragestellung wie auch der vorgegebene Umfang möge den Leser davor bewahren, ein Nachschlagewerk oder auch nur annähernd hinreichende Kompilation zu suchen; ebensowenig ist neues historisches Material zu erwarten. Der Versuch bestand darin, aus der Fülle des Tatsachenmaterials unter vorwiegend sozialpolitischer Fragestellung selektierend darzubieten, was dem Verständnis des Geschehens — vielleicht auch stellenweise des Geschehenden — förderlich sein kann. Nicht zuletzt möchte diese Schrift dem an Sozialpolitik interessierten, m i t der Fülle des Stoffs konfrontierten Studenten den Einstieg i n dieses faszinierende Wissensgebiet erleichtern. Detlev
Zöllner
Dieses Buch hat eine doppelte Paginierung. Die inneren Seitenzahlen gelten für dieses Buch, die äußeren Seitenzahlen f ü r den Gesamtband.
Inhaltsübersicht
Α. Einleitung: Grundzüge und Eigenarten der Sozialgesetzgebung in Deutschland 1. Sozialausgaben u n d Umfang der Sicherung
7
51
2. Sicherungsinstitutionen
9
53
10
54
13
57
13
57
3. Leistungen u n d Finanzierung
B. Historische Entwicklung I. Die Ausgangslage (1850 - 1880) 1. ökonomische u n d soziale Veränderungen a) Bevölkerungszunahme u n d Urbanisierung
13
57
b) Zunehmende Lohnabhängigkeit
14
58
c) Industrialisierung
15
59
d) Einkommens- u n d Lebenslage der Arbeitnehmer aa) Verbesserung der Beschäftigungslage bb) Konstante Realeinkommen cc) Problem der Einkommenssicherung dd) Räumliche Konzentration u n d Bewußtseinslage der Industriearbeiterschaft
17 17 17 19
61 61 61 63
19
63
20
64
2. Das politische Kräftefeld a) Reichsgründung, A d e l u n d B ü r g e r t u m
20
64
b) Die Arbeiterbewegung
21
65
c) Bismarck u n d die Arbeiterfrage aa) Motive u n d Aktionsbereitschaft bb) Der Einfluß v o n Sozialreformern
24 24 28
68 68 72
d) Zusammenhänge m i t der Reichspolitik
29
73
3. Formen sozialer Sicherung
31
75
a) Fürsorge
31
75
b) Arbeitgeberverpflichtung
33
77
c) Versicherung aa) Hilfskassen bb) Knappschaftskassen
35 36 38
79 80 82
48
4
Inhaltsübersicht
I I . Die erste Gesetzgebung 1. Entscheidungsprozesse
39
83
39
83
a) Die Durchsetzung der Versicherungspflicht
40
84
b) Organisation u n d Finanzierung
42
86
c) Die Grundlagen der weiteren E n t w i c k l u n g
47
91
48
92
2. Das materielle Recht a) Personenkreis der Versicherten
48
92
b) Leistungen
49
93
c) Finanzierung
50
94
d) Organisation
51
95
3. Das sozialpolitische Ergebnis
52
96
4. Erste Weiterentwicklungen (1883 - 1900)
53
97
a) Kreis der versicherten Personen
53
97
b) Leistungen
55
99
c) Finanzierung
55
99
56
100
I I I . Die E n t w i c k l u n g seit der Jahrhundertwende 1. Ausbau u n d Kodifikation (1900 - 1914)
56
100
a) Fortgang der sozio-ökonomischen U m s t r u k t u r i e r u n g
56
100
b) Das politische Kräftefeld
57
101
c) Konsolidierung der Sozialversicherung
59
103
d) Die Reichs Versicherungsordnung aa) Gang der Kodifikation bb) Neuerungen
62 62 63
106 106 107
e) Hinterbliebenensicherung
64
108
f) Angestelltenversicherung
66
110
2. Der Erste W e l t k r i e g
67
111
3. Die Weimarer Republik (1919 - 1932)
68
112
a) Rahmenbedingungen
68
112
b) Die aa) bb) cc) dd) ee) ff)
71 72 72 73 73 74 75
115 116 116 117 117 118 119
E n t w i c k l u n g der klassischen Zweige Personenkreis Geldleistungen Sach- u n d Dienstleistungen Finanzierung A u s w i r k u n g e n der Deflationspolitik Organisation
c) Normierung des Kassenarztrechts
76
120
d) E i n f ü h r u n g der Arbeitslosenversicherung
78
122
e) Ansätze zu Sozialhilfe u n d sozialer Entschädigung
81
125
5
Inhaltsübersicht
49
4. Die Zeit des Nationalsozialismus (1933 - 1945) a) Rahmenbedingungen
83
127
83
127
d) Beseitigung der Selbstverwaltung, politische u n d rassische Verfolgung
84
128
c) Die Rechtsentwicklung
85
129
88
132
5. Die Bundesrepublik Deutschland a) Rahmenbedingungen
88
132
b) Die E n t w i c k l u n g bis zum Grundgesetz (1945 - 1949)
90
134
c) Grundlegungen der Bundesgesetzgebung (bis 1955) aa) Sozialversicherung i m Grundgesetz bb) Der erste Deutsche Bundestag cc) „Errichtungsgesetze" dd) Kassenarztrecht ee) Selbstverwaltung ff) W ü r d i g u n g
92 92 93 94 95 95 96
136 136 137 138 139 139 140
97 97 101
141 141 145
103 103 104 104 106 106 107 107 108
147 147 148 148 150 150 151 151 152
f) ökonomisierung u n d Anpassung (1966 - 1969)
109
153
g) Weiterentwicklungen 1970 - 1975
113
157
h) Konsolidierung u n d Kostendämpfung ab 1975 aa) Krankenversicherung bb) Rentenversicherung cc) Sonstige Entwicklungen
117 118 119 122
161 162 163 166
1. Z u r Entstehung
124
168
2. Z u r Expansion
126
170
3. Z u m Funktionswandel
129
173
4. Schlußbemerkung
133
177
135
179
d) Die Rentenreform von 1957 aa) Reformdiskussion u n d Willensbildung bb) I n h a l t der Neuregelungen e) Weiterentwicklungen u n d Auslaufen der (bis 1965) aa) Kindergeld bb) Sozialhilfe cc) Altershilfe f ü r L a n d w i r t e dd) Handwerkerversicherungsgesetz ee) Fremdrenten ff) Andere Prioritäten gg) Unfallversicherungsneuregelungsgesetz hh) Reform der Krankenversicherung
Sozialreform
C. Schluß: Aspekte der Erklärung
Literatur 4 Sozialversicherung
Α. Einleitung: Grundzüge und Eigenarten der Sozialgesetzgebung in Deutsehland 1. Sozialausgaben und Umfang der Sicherung
Der Hauptteil dieser Arbeit stellt die Entstehung und Entwicklung eines Systems der sozialen Sicherung dar, das weltweit als umfassend und funktionsfähig eingeschätzt wird. I n merkwürdigem Kontrast zu dieser Erfahrung steht eine andere: die Schwierigkeit, einem wenig informierten Interessenten das deutsche System verständlich zu machen. Institutionelle Vielfalt, sektorspezifische Sonderheiten und eine Vielzahl von Rechtsquellen geben oft Anlaß zu Irritierungen. Die vom deutschen System der sozialen Sicherung bewirkten monetären Umsätze sind enorm. Die Summe aller aufgrund gesetzlicher Vorschriften erbrachten Leistungen zum Zwecke des Einkommensersatzes oder der Vermeidung zusätzlicher Belastungen i m Falle bestimmter sozialer Tatbestände entspricht fast einem Drittel des Bruttosozialprodukts. M i t dieser Sozialleistungsquote steht die Bundesrepublik Deutschland international i n der Spitzengruppe. Die Sozialleistungen werden vor allem für folgende Tatbestände erbracht (in v. H. aller Sozialausgaben, 1975): Alter und Hinterbliebene 36,2, Gesundheit 31,7, Familie 16,1, Beschäftigung 6,2^ Diese funktionale Gliederung der Sozialleistungen sieht davon ab, welche Institutionen diese Leistungen erbringen, welche Rechtsvorschriften ihnen zugrunde liegen und wie sie finanziert werden. Als ersten Grundzug der Sozialgesetzgebung in Deutschland kann man also herausstellen, daß sie i n vergleichsweise großem Ausmaß monetäre Umverteilung bewirkt; als Eigenart mag dabei i m internationalen Vergleich erscheinen, daß die Ausgaben für die Alterssicherung dominieren 2 . Der hohe monetäre Aufwand für die Tatbestände A l t e r und Gesundheit sollte vermuten lassen, daß alle Bürger des Landes gegen diese Grundrisiken gesichert sind. I m Grundzug t r i f f t dies zu. Konstitutiv Hinweis: Anmerkungen ohne Fundstellennachweis beziehen sich auf das Literaturverzeichnis Seite 179. 1 Sozialbericht 1976, hrsg. v o m Bundesminister f ü r A r b e i t u n d Sozialordnung, Bonn 1976, S. 105. Zitate aus anderen Sozialberichten (seit 1970, vorerst bis 1980) beziehen sich auf die Veröffentlichung des B M A . 2 Detlev Zöllner, Alterssicherungssysteme i m internationalen Vergleich, Schriftenreihe des Deutschen Sozialgerichtsverbandes Bd. X V I I , 1978, S. 146. 4*
52
Landesbericht Deutschland
für die Sozialversicherung ist die auf Gesetz beruhende Versicherungspflicht oder die durch Gesetz eingeräumte Möglichkeit der freiwilligen Versicherung. Grundsätzlich sind alle Arbeitnehmer pflichtversichert i n der Rentenversicherung und der Unfallversicherung; i n der Krankenversicherung besteht für Angestellte eine Versicherungspflichtgrenze. Von den selbständig Erwerbstätigen sind mehr als zwei Drittel entweder i n der Sozialversicherung für Arbeitnehmer oder i n eigenständigen Einrichtungen versichert. Der gegen Krankheitsfolgen gesicherte Anteil der Erwerbstätigen betrug i m Jahre 1973 93,7 v. H., der für den Fall des Alters gesicherte i m gleichen Jahr 86,8 v. H A Zu den Eigenarten der deutschen Sozialversicherung gehört jedoch, daß auch heute nach hundertjähriger Entwicklung noch nicht die gesamte Bevölkerung gegen die Grundrisiken versichert ist. I m Gegensatz zu Ländern, die hinsichtlich der Abgrenzung des gesicherten Personenkreises das Wohnsitzprinzip zugrunde legten, ist i n Deutschland bis heute das Prinzip der Schutzbedürftigkeit gültig geblieben. Technisches M i t t e l der Anwendung dieses Prinzips ist die Abgrenzung der Versicherungspflicht horizontal nach einzeln definierten Personengruppen und vertikal nach der Einkommenshöhe. Eine Fülle von Literatur, Rechtsprechung und Rechtsetzung diente der jeweils als richtig empfundenen Abgrenzung des gesicherten Personenkreises. Das Ergebnis zahlloser punktueller gesetzgeberischer Schritte unter allmählicher Akzentverschiebung von der Frage der Sicherungsbedürftigkeit zur Sicherungsfähigkeit kommt demjenigen in Ländern m i t Wohnsitzprinzip recht nahe. Doch es gibt weiterhin Lücken, die als historisches Erbe der Anwendung des Schutzbedürftigkeitsprinzips anzusehen sind. Die schrittweise Auffüllung dieser Lücken ist weiterhin Diskussionsgegenstand, wie ζ. B. die soziale Sicherung der nichterwerbstätigen Ehefrau, der Künstler, der Behinderten. Während hinsichtlich der Versicherungspflicht i n der Sozialversicherung noch spezifische Begrenzungen bestehen, gilt für andere Leistungsbereiche das Wohnsitzprinzip. Die Sozialhilfe gewährt i m Falle unzureichenden Einkommens Hilfe zum Lebensunterhalt oder Hilfe i n besonderen Lebenslagen an alle Personen, die sich i m Gebiet der Bundesrepublik aufhalten. Das gleiche gilt bei Erfüllung der erforderlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Kindergeld und Ausbildungsförderung. Ebenso stehen Leistungen der sozialen Entschädigung bei Vorliegen der entsprechenden Schädigungsursachen allen Wohnbürgern zu. 3 Sozialbericht 1972, S. 2. K r a n k h e i t : gesetzliche Krankenversicherung, Anspruch auf Beihilfe oder Heilfürsorge, ohne private Krankenversicherung. A l t e r : gesetzliche Rentenversicherungen (ohne latent Versicherte), Altershilfe f ü r Landwirte, Beamtenversorgung, ohne betriebliche Altersversorgung.
Grundzüge der Sozialgesetzgebung i n Deutschland
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2. Sicherungsinstitutionell
Grundzug und Eigenart zugleich des deutschen Systems ist dessen institutionelle Vielfalt. Die Träger der klassischen Zweige der Sozialversicherung — Rentenversicherung, Krankenversicherung, Unfallversicherung — erbringen knapp zwei Drittel aller direkten Leistungen. Sie sind nach der Zahl der betreuten Personen, dem monetären A u f wand und der Zahl der Beschäftigten das Kernstück des Systems. Daneben stehen weitere Einrichtungen, die man der Versicherung zuordnen kann: die Arbeitslosenversicherung, die Altershilfe für Landwirte, berufsständische Versorgungswerke. Entschädigungsleistungen für Kriegsbeschädigte, Vertriebene und Verfolgte werden von besonderen staatlichen Behörden, Leistungen der Sozialhilfe von kommunalen Behörden erbracht. Die Sozialversicherungsträger i n der Bundesrepublik Deutschland sind nicht staatliche Behörden, sondern organisatorisch und finanziell selbständige öffentlich-rechtliche Körperschaften. Diese Eigenart ist historisch bedingt, ebenso wie ihre Untergliederung nach verschiedenen Kriterien. Es gibt rd. 1.400 Krankenkassen, 54 gewerbliche und 19 landwirtschaftliche Berufsgenossenschaften als Träger der Unfallversicherung und 21 Träger der Rentenversicherung. Dies widerspiegelt die Gliederung der Sozialversicherungsträger nach Sicherungszweigen. Weiter gibt es eine Gliederung nach Wirtschaftszweigen: die Berufsgenossenschaften, die nach Wirtschaftszweigen abgegrenzt sind, Sondereinrichtungen für Landwirtschaft, Bergbau und Seeschiffahrt, Innungskrankenkassen für das Handwerk. Hinzu kommt eine Gliederung nach der sozialen Stellung der Versicherten i m Erwerbsleben: Rentenversicherung der Arbeiter und Rentenversicherung der Angestellten, Ersatzkassen für Angestellte, Alterskassen und Krankenkassen für Selbständige i n der Landwirtschaft. Neben den allgemeinen Ortskrankenkassen gibt es eine große Zahl von Betriebskrankenkassen. Schließlich sind die Sozialversicherungsträger regional untergliedert: die Ortskrankenkassen, die Landesversicherungsanstalten, teilweise die gewerblichen Berufsgenossenschaften, die Träger der landwirtschaftlichen Sozialversicherung. Dieses kaum systematisierbare institutionelle Geflecht hat historische Ursachen, auf die später einzugehen sein wird. Es hat von seiner Entstehung an bis heute immer wieder K r i t i k ausgelöst und dennoch ein hohes Maß an Kontinuität bewiesen. Die Frage nach den dafür ursächlichen Gründen w i r d später wieder aufgenommen. Bei den Sozialversicherungsträgern gibt es seit ihrer Entstehung eine Selbstverwaltung, mittels derer die Versicherten und ihre Arbeitgeber an der Willensbildung des Versicherungsträgers mitwirken. Die von diesen Gruppen gewählten ehrenamtlichen Vertreter bilden Organe —
54
Landesbericht Deutschland
Vertreterversammlung und Vorstand —, die die Satzung des Versicherungsträgers und dessen Haushalt beschließen, den Geschäftsführer wählen und i m Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen den Gang der Verwaltung festlegen. Die Organe sind i m allgemeinen m i t der gleichen Zahl von Versicherten- und Arbeitgebervertretern besetzt, doch gibt es auch hier wieder — meist historisch bedingte — Ausnahmen: Bei der Bundesknappschaft (Bergbau) besteht eine Zweidrittelmehrheit der Versicherten, bei den Ersatzkassen gibt es allein Versichertenvertreter; bei den landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften haben die Arbeitnehmer wie die Arbeitgeber ein Drittel der Sitze, ein weiteres Drittel stellen die Selbständigen, die keine fremden Arbeitskräfte beschäftigen. 3. Leistungen und Finanzierung
Die Sozialleistungen werden i n der Bundesrepublik Deutschland zu etwa 40 v. H. aus staatlichen M i t t e l n und zu etwa 60 v. H. aus Beiträgen finanziert. Die Sozialversicherung allein finanziert sich ganz überwiegend aus Beiträgen; lediglich zu den Aufwendungen der Rentenversicherung gewährt der Bund Zuschüsse, die bei der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten etwa 15 v. H. der Ausgaben entsprechen. Der Grundzug besteht also i n einem hohen Anteil der Beiträge an der Gesamtfinanzierung. Entsprechend hoch sind die von Versicherten und ihren Arbeitgebern je zur Hälfte zu tragenden Beiträge. Von dem Arbeitsentgelt (bis zur Beitragsbemessungsgrenze) sind zu entrichten 18,5 v. H. für die Rentenversicherung, 11,3 v. H. (im Durchschnitt) für die Krankenversicherung und 3 v. H. für die Arbeitslosenversicherung, zusammen also fast ein Drittel des Entgelts. Der hohe Finanzbedarf ist bedingt durch ein gut ausgebautes Leistungssystem. I m Falle der Krankheit erhalten der Versicherte und seine leistungsberechtigten Familienangehörigen diejenigen ärztlichen Leistungen, die zur Heilung oder Linderung nach dem jeweiligen Stande der Heilkunde zweckmäßig und ausreichend sind; dazu gehört auch die Überweisung an Fachärzte und Krankenhäuser sowie die Verordnung von Arzneien. Der Versicherte hat die freie Wahl unter den zugelassenen Kassenärzten. Diese letzteren sind zu Kassenärztlichen Vereinigungen zusammengeschlossen, die die kassenärztliche Versorgung sicherzustellen haben und Vertragspartner der Krankenkassen für die ärztliche Honorierung sind. Es bestehen also zwischen dem einzelnen Arzt und dem Patienten keinerlei finanzielle oder sonstige Rechtsbeziehungen. Die wirtschaftliche Sicherung i m Krankheitsfalle ist gewährleistet durch einen Anspruch auf Weiterzahlung des Arbeitsentgelts gegen den Arbeitgeber für die Dauer von 6 Wochen. Danach erhält der Versicherte vom Krankenversicherungsträger ein Krankengeld i n Höhe von 80 v. H. seines Arbeitsentgelts.
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Grundzüge der Sozialgesetzgebung i n Deutschland
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I m Falle eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit erhält der Verletzte Heilbehandlung und Berufshilfe. Ist die Erwerbsfähigkeit des Verletzten um mindestens 20 v. H. über die 13. Woche nach dem Unfall hinaus gemindert, so erhält er eine Rente. Diese entspricht bei Erwerbsunfähigkeit zwei Drittel des voraufgegangenen Arbeitsverdienstes, sonst dem Teil der Vollrente, der dem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit entspricht. I m Falle des Alters und der Invalidität erhält der Versicherte (im Falle seines Todes seine Hinterbliebenen) eine Rente, die sich berechnet nach Maßgabe der Versicherungsdauer und des individuellen Arbeitsverdienstes während des zurückliegenden Arbeitslebens. Eine A k t u a l i sierung dieser früheren Arbeitsverdienste stellt sicher, daß die Stellung des Versicherten i m Einkommensgefüge während seines Arbeitslebens sich i n der Rentenhöhe ausdrückt. Die Rentenversicherung w i l l also den relativen Lebensstandard sichern. Ein Versicherter, der stets den Durchschnittsverdienst bezogen hat, erreicht nach 40 Versicherungsjähren eine Rente, die u m 60 v. H. des aktuellen Durchschnittsverdienstes liegt 4 . Die laufenden Renten werden jährlich an Veränderungen des Durchschnittslohnes angepaßt, um ein Absinken des Lebensstandards der Rentner infolge von Lohn- und Preiserhöhungen zu vermeiden. I n der Alterssicherung ist das Prinzip der Äquivalenz zwischen Dauer und Höhe der Beitragsentrichtung einerseits und Rentenhöhe andererseits stark ausgeprägt. Zwar gibt es eine Reihe von Elementen, die von diesem Äquivalenzprinzip abweichen — u. a. Rente nach Mindesteinkommen, Kinderzuschüsse, Anrechnung beitragsloser Zeiten — doch sind diese vorwiegend pragmatisch motiviert i m Hinblick auf eine gerechte Umverteilung zwischen Jung und A l t ; sie sind jedenfalls nicht motiviert als Umverteilung zwischen Reich und Arm. Es löst zuweilen Erstaunen aus, wie wenig das deutsche System der Sozialversicherung vom Motiv der „redistribution" i m letztgemeinten Sinne geprägt ist. Dies t r i f f t für die Alterssicherung weitgehend zu. I n der Krankenversicherung dagegen findet eine erhebliche vertikale Umverteilung statt, weil hier einerseits die Beiträge streng einkommensproportional erhoben werden, andererseits 90 v. H. der Ausgaben Sach- und Dienstleistungen sind, die unabhängig vom Einkommen allein nach Maßgabe des (medizinischen) Bedarfs erbracht werden. Die Darstellung von Grundzügen und Eigenarten der deutschen Sozialgesetzgebung kann an dieser Stelle weder objektiv noch annähernd vollständig sein. Der an mehr Information über das gegen4 Dieses „Rentenniveau" schwankt i m zeitlichen A b l a u f i n Abhängigkeit von der Lohnentwicklung; die Z a h l f ü r 1977 betrug 66,4.
Landesbericht Deutschland
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wärtige System interessierte Leser sei auf andere Quellen verwiesen 5 . Wenn mehr Fragen entstanden sind als beantwortet wurden, so möchte doch deutlich geworden sein, daß die Grundzüge und Eigenarten des deutschen Systems — wie immer man diese auswählt und gewichtet — i n starkem Maße eine historische Bedingtheit aufweisen. Fast immer w i r d man auf die Frage Warum? historisch rekurrieren müssen. Der nachfolgend gegebene historische Rekurs ist nach Intention und Umfang begrenzt. Er kann deshalb auch nur eine Auswahl der zahlreich vorhandenen Literatur auswerten und erwähnen. Dies gilt insbesondere für die Entstehungsphase der Sozialversicherung i n Deutschland. Der weitergehend interessierte Leser sei auf die i n Band 3 dieser Schriftenreihe enthaltenen Beiträge und die dort genannten Quellen verwiesen. Die i m folgenden geschilderte Entwicklung hat sich i n einer großen Anzahl von Rechtsetzungsakten niedergeschlagen. Zur Sozialversicherung i m engeren Sinne sind seit 1883 etwa 400 Gesetze und über 1.000 Verordnungen ergangen. Viele dieser Rechtsquellen müssen i n der Darstellung erwähnt werden. I m Interesse der Lesbarkeit und der Raumersparnis werden nur die Kurzbezeichnungen und das Erscheinungsjahr der Gesetze angegeben. Der an Langbezeichnung und Fundstelle interessierte Leser muß auf die vorhandenen chronologischen Zusammenstellungen verwiesen werden 6 .
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Eine wertfreie, vollständige u n d korrekte Darstellung gibt die v o n Dieter Schewe u n d Mitautoren bearbeitete Übersicht über die soziale Sicherung, hrsg. v o m Bundesminister für A r b e i t u n d Sozialordnung, 10. Aufl., Bonn 1977. 6 Zeittafel sozialpolitischer Gesetze u n d Verordnungen 1839 - 1939 i n SyrupNeuloh, S. 543 ff.; 70 Jahre Sozialversicherungsrecht, Bundesarbeitsblatt 1953, S. 751; ab 1954 vgl. jährliche Verzeichnisse i m Bundesarbeitsblatt; Verzeichnis der Änderungen der RVO seit 1925 i n der Textausgabe „Sozialgesetzbuch. Reichs Versicherungsordnung" des Beck-Verlages; vgl. auch Michael Stolleis, Quellen zur Geschichte des Sozialrechts, Göttingen 1976 sowie Horst Peters, Die Geschichte der sozialen Versicherung, 3. Aufl., Sankt Augustin 1978. Eine recht detaillierte Zusammenstellung vor allem auch von Materialien der Versicherungsträger u n d ihrer Verbände gibt Florian Tennstedt, Quellen zur Geschichte der Sozialversicherung, i n : Zeitschrift f ü r Sozialreform, 1975, S. 225, 358 u. 422.
Β. Historische Entwicklung I . Die Ausgangslage (1850 - 1880)
Die Gesetzgebung über Sozialversicherung entstand i n Deutschland aus einer gegebenen sozialen, ökonomischen, rechtlichen und politischen Situation und wollte i n diese hineinwirken. Der Versuch, sich diese Situation rückschauend zu vergegenwärtigen, erfordert eine Auswahl charakteristischer und für die Entstehung der Sozialgebung relevanter Sachverhalte. Diese Auswahl kann nicht allein unter der Fragestellung erfolgen, welche Sachverhalte nach heutigem Erkenntnisstand relevant erscheinen, sondern muß berücksichtigen, welche Sachverhalte die damals agierenden Menschen zu A k t i o n oder Reaktion veranlaßten. Ferner muß die Schilderung der Ausgangssituation wesentlich eine Darstellung der Veränderung von Sachverhalten sein, denn solche Änderungen waren es vor allem, die zur Sozialgesetzgebung Anlaß gaben. Dabei ist wiederum die Darstellung der heute erkennbaren Änderungen zu ergänzen durch Beantwortung der Frage, ob, i n welchem Maße und i n welcher Weise die Veränderungen den damaligen Akteuren bewußt waren. 1. ökonomische und soziale Veränderungen
a) Bevölkerungszunahme
und Urbanisierung
I m vorigen Jahrhundert wuchs die Bevölkerung Deutschlands von 23 M i l l , auf 56 M i l l . Menschen an. I n der zweiten Hälfte des Jahrhunderts verstärkte sich das Wachstum der Bevölkerung noch gegenüber der ersten Hälfte; i m Durchschnitt der Jahre 1850 - 1900 wuchs die Bevölkerung u m jährlich 1,2 °/o. Dieses Wachstum vollzog sich trotz deutlich zurückgehender Geburtenzahlen durch eine drastische Erhöhung der Lebenserwartung infolge von Fortschritten der Medizin — vor allem bei der Bekämpfung von Epidemien — und der Anhebung des Lebensstandards. Hungersnöte, die i n früheren Jahrhunderten die Bevölkerung regelmäßig reduziert hatten, fehlten infolge erhöhter agrarischer Produktivität und verbesserter Transportmöglichkeiten. Der Bevölkerungszuwachs w a r m i t einer Vermehrung der städtischen Bevölkerung verbunden. Die Bevölkerung in Orten dörflichen Charakters wuchs zwischen 1850 und 1900 kaum nennenswert an; i n Orten zwischen 2.000 und 30.000 Einwohnern wuchs sie um etwa 60 °/o, i n Orten über 30.000 Einwohnern etwa auf das Fünffache.
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Landesbericht Deutschland
b) Zunehmende
Lohnabhängigkeit
Die wachsende Bevölkerung verursachte einen zunehmenden Bedarf an Arbeitsplätzen. Dieser Arbeitsplatzbedarf wurde noch erhöht durch die Auswirkungen der beiden großen Reformen i n der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: der Bauernbefreiung und der Einführung der Gewerbefreiheit. Die Bauernbefreiung bestand i m wesentlichen i n der Aufhebung der persönlichen Bindungen an den Grundherrn, der Umwandlung von Dienstpflichten und naturalen Abgaben i n Geldleistungen und i n der Verteilung des Eigentums anstelle von Nutzungsrechten. Die Ablösung der bäuerlichen Verpflichtungen mußte jedoch entgolten werden. Entweder wurde nur ein Teil der bisher vom Bauernhof genutzten Fläche i n Eigentum überführt (die Hälfte, bei bereits vorhandenem Erbrecht zwei Drittel) oder die bisherigen Verpflichtungen wurden i n eine Ablösesumme umgewandelt, die vom Bauern zu verzinsen und zu amortisieren war. M i t anderen Worten: die Bauernhöfe wurden wirtschaftlich geschwächt oder zusätzlich belastet. Diese Vorgänge fielen i n eine Zeit niedriger Getreidepreise. Die Inhaber größerer Betriebe, zumeist identisch m i t den bisherigen Grundherren, waren hinsichtlich Vermögen und Liquidität ungeschwächt. Unter ihnen setzte sich das Erwerbsprinzip durch und sie gingen zur Beschäftigung von Lohnarbeitern („Tagelöhner") über. Durch Anwendung rationeller, kapitalintensiver Anbaumethoden konnten sie Einkommensverluste durch vermehrte Erträge kompensieren. Infolge dieser unterschiedlichen Bedingungen w u r den viele kleine Besitzstellen von größeren Betrieben aufgekauft. Arbeitslosigkeit auf dem Lande war die Folge. Beschäftigungs- und bindungslos gewordene ländliche Hintersassen gerieten i n größte Bedrängnis 7 . Z u Anfang des 19. Jahrhunderts hatten etwa 85 °/o aller Familien ein — wenn auch eingeschränktes — Bodennutzungsrecht; um die Mitte des Jahrhunderts betrug dieser Anteil etwa 60 °/o8. Auch i n der Folgezeit ist der A n t e i l landloser oder landarmer Familien stetig gestiegen. Der Anteil der i n der Landwirtschaft Erwerbstätigen sank von etwa zwei Drittel u m 1800 auf die Hälfte u m 1875. Die Gewerbefreiheit wurde i n den linksrheinischen Gebieten unter französischer Besatzung (um 1790), i n Preußen 1807, i n allen deutschen Ländern bis 1868 eingeführt. Sie hatte ebenso wie die Bauernbefreiung eine Freisetzung von Arbeitskräften zur Folge. Zwar nahm kurzfristig die Zahl der Handwerksmeister und damit der Betriebe zu, doch zeigte sich i m Ganzen, daß das Handwerk unter der zünftigen Ordnung überbesetzt gewesen war. Die Freisetzung von Arbeitskräften aus dem 7 8
A . von Lengerke, Die ländliche Arbeiterfrage, 1849. Henning, Bd. 2, S. 45.
5
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Handwerk schuf eine wichtige Voraussetzung für die beginnende Entwicklung der Industrie und zwar vor allem m i t Bezug auf die Qualität der Arbeitskräfte. Vor dem Hintergrund weitverbreiteter Arbeitslosigkeit w a r ein Arbeitsplatz i n der Industrie sehr begehrt. „Gegenüber den bäuerlichen und handwerklichen Unterschichten . . . galten die Fabrikarbeiter i n den dreißiger und vierziger Jahren als begünstigte Schicht. Fabrikarbeit bedeutete vielen Sicherung des Existenzminimums, persönliche Unabhängigkeit, Möglichkeit zur Familiengründung, ja relative Sicherheit und soziales Ansehen 9 ." Doch die Industrie konnte lange Zeit nicht genügend Arbeitsplätze bereitstellen. Die durch Bevölkerungszunahme sowie Freisetzungen bewirkte Zunahme lohnabhängiger Menschen hatte deshalb einen Auswanderungsdruck zur Folge. Zwischen 1815 und 1835 sind mehr als 400.000 Menschen aus Deutschland ausgewandert. „Die Zeiten der Nahrungsmittelknappheit (Teuerungsjahre, Hungerperioden) erhöhten die Zahl der Auswanderer (1816/17, 1828, 1831). Nahrungsmittelüberfluß und niedrige Agrarpreise dämpften die Auswanderung. Dies ist als ein Indiz dafür anzusehen, daß nicht begüterte Schichten (Bauern, wohlhabende Handwerker und Händler) auswanderten, sondern von Lohn lebende Bevölkerungsgruppen einschließlich schlecht verdienender Handwerker, die keine oder nur eine geringe Landnutzung hatten 1 0 ." Die Auswanderung nahm i n den folgenden Jahrzehnten noch zu von jahresdurchschnittlich 15.000 Personen i m Zeitraum 1831 - 40 auf 82.000 Personen i m Zeitraum 1861 - 70. c) Industrialisierung Ein für die Entstehung der Sozialversicherungsgesetzgebung entscheidender Vorgang war die Industrialisierung. Sie setzte i n Deutschland i n den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts ein. Die Industrialisierung w a r gekennzeichnet und zum guten Teil auch bedingt durch folgende Faktoren: — Anwachsen der Zahl der vermögenslosen und lohnabhängigen Menschen (Arbeitnehmer); — Fortschritte der Produktionstechnik, vor allem Ersetzung der Handarbeit durch Maschinenarbeit; — Vermehrter Kapitaleinsatz (Nettoinvestitionen); — Schaffung des Deutschen Zollvereins (bis 1834) und innerhalb dessen Patentübereinkunft (1849); 9 10
Grebing, S. 22. Henning, S. 107.
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— Ausbau des Bankwesens; — Ausbau des Verkehrswesens, insbesondere durch den Eisenbahnbau (seit 1835). A r t und Ausmaß der Industrialisierung werden durch folgende Entwicklungen gekennzeichnet 11 : — die Zahl der Dampfmaschinen i n der gewerblichen Wirtschaft Preußens stieg von 1835 - 1850 auf rd. 2.000, von 1850 - 1875 auf rd. 30.000; — die Zahl der Maschinenfabriken i n Preußen stieg zwischen 1852 und 1875 von 180 auf 1.196; die Zahl der in diesen Fabriken Beschäftigten erhöhte sich i m gleichen Zeitraum von knapp 10.000 auf über 160.000; die Fabriken wurden also nicht nur zahlreicher, sondern auch größer; die durchschnittliche Zahl der Beschäftigten je Betrieb stieg i n diesen 23 Jahren von 54 auf 133; — die Roheisenproduktion i n Deutschland versechsfachte sich zwischen 1850 und 1870; — der Eisenbahnbau entwckelte sich wie folgt: 1845 1860 1880
rd. 2.000 k m rd. 12.000 k m rd. 34.000 k m
Technischer Fortschritt, vermehrter Kapitaleinsatz und vergrößerte Betriebseinheiten hatten eine rasch steigende Arbeitsproduktivität zur Folge. Zwei Beispiele: Die Spitzenleistung je Hochofen stieg zwischen 1835 und 1875 auf das Fünffache (von 2.000 auf 10.000 t Roheisen); die Eisenbahn senkte die Transportkosten gegenüber dem Straßentransport auf ein Zehntel. Die Industrialisierung hatte tiefgreifende Wandlungen auf dem A r beitsmarkt zur Folge. Die Zahl der i n der Industrie (einschließlich Manufaktur und Bergbau) Beschäftigten erhöhte sich i m Zeitraum 1835 - 1850 jährlich durchschnittlich u m rd. 17.000, i m Zeitraum 1850 1865 um fast 50.000 und i m Zeitraum 1865 - 1880 um mehr als 200.000. Die absolute Zahl der Industriearbeiter betrug: 1835 1850 1867 1882
0,5 0,8 2,0 6,0
Mill. Mill. Mill. Mill.
Bezüglich der Herkunft der industriellen Arbeiterschaft i n der Zeit 1835 - 1900 ist berechnet worden, daß 38 °/o aus dem eigenen Sektor, d. h. aus dem Bevölkerungszuwachs der gewerblichen Bevölkerung kamen; 62 °/o stammten aus dem primären Sektor, d. h. i m wesentlichen 11
Henning, S. 116, 118, 130, 150, 154, 163, 238.
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aus der Landwirtschaft 1 2 . Fast zwei Drittel der neu i n der Industrie Beschäftigten wechselte den Beruf. Bei vielen von ihnen war dies auch m i t einem Wechsel des Wohnortes und der Lebensumwelt verbunden, denn die industriellen Arbeitsplätze entstanden vorwiegend i m Westen Deutschlands, während ländliche Arbeitslosigkeit vor allem i n den östlichen Landesteilen herrschte. Von 205.000 Bergarbeitern des Ruhrgebietes i m Jahre 1899 kamen 44 °/o aus Oberschlesien, West- und Ostpreußen sowie dem osteuropäischen Ausland. Man hat für diese Jahrzehnte von einer „industriellen Völkerwanderung" gesprochen 13 . d) Einkommens-
und Lebenslage der Arbeitnehmer
aa) Verbesserung der Beschäftigungslage Obwohl die wachsende Industrie neue Arbeitsplätze bot, war dieses Angebot längere Zeit geringer als der Bedarf an Arbeitsplätzen. Verschiedene Indizien — die Klagen der Zeitgenossen über geringe Erwerbschancen, niedrige Löhne, steigende Ausgaben der Städte für das Armenwesen, hohe Auswandererzahlen — deuten auf Jahrzehnte anhaltender Arbeitslosigkeit hin. Erst ab etwa 1855 verbesserte sich die Beschäftigungslage, weil nunmehr das Arbeitsplatzangebot vor allem i n der Metallindustrie und im Eisenbahnbau nicht nur weiterhin wuchs, sondern größeres quantitatives Gewicht bekam. bb) Konstante Realeinkommen Der gleiche Umstand dürfte ursächlich dafür sein, daß die sektoral zunehmende Arbeitsproduktivität sich verstärkt i n steigendem Volkseinkommen niederschlug. Das Volkseigentum stieg (in realen Preisen) von 1850 bis 1900 auf das 3,5fache, wegen der zunehmenden Bevölkerung pro Kopf auf das 2,2fache. Diese Einkommenssteigerung kam jedoch i n erster Linie den Beziehern von Grundrenten und Kapitaleinkommen zugute. Die Erhöhung der Grundrenteneinkommen beruhte auf den i n der Zeit 1825 bis i n die 70er Jahre tendenziell ansteigenden Agrarpreisen sowie auf dem raschen Anstieg der Einkommen aus Baugrundstücken i m Zusammenhang m i t dem Wachstum der Städte. Die Kapitaleinkommen stiegen — bei langfristig gleichbleibendem Zinssatz u m 4 % — vor allem als Folge eines steigenden Kapitalstocks sowie zunehmender Unternehmergewinne. Die Folge war, daß der Anteil der Arbeitseinkommen am gesamten Volkseinkommen während des 19. Jahrhunderts rückläufig war. Das Arbeitseinkommen pro Kopf blieb i n dem Zeitraum 1840 - 1880 real konstant 1 4 . 12 13 14
Henning, S. 126. Syrup-Neuloh, S. 50. Henning, S. 28.
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Die ab Mitte des vorigen Jahrhunderts aufgeworfene soziale Frage lag also nicht i n zunehmender A r m u t der Arbeiter i m Vergleich zur vorindustriellen Zeit begründet. Zwar belastete die Wohnungsmiete die Löhne der vom Lande i n die Stadt zugezogenen Arbeiter; sie senkte aber nicht deren vorausgegangenen Lebensstandard. Die i n der Stadt vorgefundenen Zustände wurden vor dem Hintergrund früherer agrarisch-ländlicher Zustände beschrieben. Man sah die Industrie nicht nur als Ort, sondern auch als Ursache der A r m u t an. Als Friedrich Engels 1845 sein Buch über „Die Lage der arbeitenden Klassen i n England" veröffentlichte und darin die Industrialisierung als Ursache der schlechten Lage der Arbeiter ansah, wurde i h m darin sogleich widersprochen m i t dem Hinweis, daß i n Deutschland die Not dort am größten sei, wo es keine Industrie gäbe. Diese Beurteilung w i r d von der neueren Geschichtsforschung bestätigt: „Aber diese ,heile Welt' von ehedem, diese ,vorindustrielle Harmonie zwischen Stadt und Land 4 , die der Welt der Maschinen und Fabriken gegenübergestellt wurde, war überzeichnet. Es fehlten i n dem B i l d die Krisen, die auch die vorindustrielle Welt erschütterten: es fehlt der Hunger, der i n kürzeren Intervallen und i n langsam sich verschärfender Not die Menschen bedrängte 15 ." Die A r m u t war auch nicht auf die Industriearbeiterschaft beschränkt. 1850 wurde i n einem Aufsatz über den „vierten Stand" geschrieben: „Die Proletarier der Geistesarbeit sind i n Deutschland die eigentliche ecclesia militans des vierten Standes. Sie bilden die große Heersäule der Gesellschaftsschicht, welche offen und selbstbewußt m i t der bisher überlieferten sozialen Gliederung gebrochen h a t . . . Ich fasse auch diese Gruppe des vierten Standes i n ihrer ganzen Konsequenz und weitesten Ausdehnung, Beamtenproletariat, Schulmeisterproletariat, perennierende sächsische Predigtamtskandidaten, verhungernde akademische Privatdozenten, Literaten, Journalisten, Künstler aller A r t . . . 1 6 ." Es handelte sich also u m die seit jeher vorhandene A r m u t der Besitzlosen, nicht u m eine für Fabrikarbeiter charakteristische Armut. A b Mitte des Jahrhunderts gibt es Anzeichen für einen sich langsam bessernden Lebensstandard i n den Städten. Der Verzehr tierischer (teuerer) Produkte nahm zu bei gleichzeitiger Abnahme des aus pflanzlicher Nahrung stammenden Kalorienanteils. Die durchschnittliche A r beitszeit der Lohnarbeiter war i n den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts angestiegen (von etwa 65 auf 90 Wochenstunden), ab Mitte des Jahrhunderts begann sie stetig zu fallen 1 7 . Als i n Literatur und Politik 15 W i l h e l m Abel, Massenarmut u n d Hungerkrisen i m vorindustriellen Deutschland, Göttingen, 2. A u f l . 1977, S. 6 f.; dort auch Hinweis auf den zeitgenössischen Engels-Kritiker Bruno Hildebrand. 16 W i l h e l m Heinrich Riehl 1850, zitiert nach A b e l (Anm. 15), S. 12. 17 Henning, S. 195, 231.
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die soziale Frage aufgeworfen wurde, begann sich die Lage der Arbeitnehmer zumindest i n Hinsicht auf Beschäftigungschancen, Realeinkommen und Arbeitszeit zu verbessern. cc) Problem der Einkommenssicherung Ungeachtet dessen — und vielleicht gerade dadurch schärfer ins Bewußtsein tretend — bestanden für die Arbeiter neue Belastungen. Es waren dies das i m Vergleich zu bäuerlicher und handwerklicher Tätigkeit ungewohnte Arbeitstempo, der Arbeitsrhythmus und die Eintönigkeit der industriellen Arbeit, ferner die oft gesundheitsschädigenden Arbeitsbedingungen. Die Arbeit von Frauen und Kindern w a r wohl kaum häufiger als i n der vorindustriellen Zeit, sie hatte aber i n den Fabriken physisch und psychisch weit verheerendere Wirkungen. Weitere Belastungen waren die soziale Bindungslosigkeit der Arbeiter in den Städten und vor allem das Problem der Einkommensstetigkeit bei Arbeitsunfähigkeit und Arbeitslosigkeit. Diese Probleme wurden objektiv verschärft durch die Herauslösung vieler Arbeiter aus Primärgruppen (Dorfgemeinschaft, Großfamilie), weil sie vielfach i n Kleinfamilien i n fremder Umgebung lebten und weil sie ausnahmslos vermögenslos waren. Sie wurden zusätzlich subjektiv durch die räumliche Konzentration der betroffenen Menschen verschärft. dd) Räumliche Konzentration und Bewußtseinslage der Industriearbeiterschaft Daß die soziale Frage zu einer politischen Frage wurde, scheint durch das Zusammenfallen dieser drei Faktoren verständlich: das quantitative Gewicht der Industriearbeiterschaft seit der Mitte des Jahrhunderts, deren räumliche Konzentration und die Schnelligkeit der Entwicklung; denn man muß sehen, „daß die deutsche Industriearbeiterschaft ein Produkt von nur 50 Jahren ist" und daß die Arbeiterschaft „plötzlich als ein geschlossener Koloß i m Blickfeld der Gesellschaft erschienen" ist. Zahl, Konzentration und schnelles Wachstum der Industriearbeiterschaft veränderte das Bewußtsein der Gesellschaft; es veränderte aber zunächst und vor allem das Bewußtsein der Arbeiter selbst. „Sie wurden 30 Jahre lang i n den Strudel einer ungeheuren wirtschaftlichen Expansion hineingerissen, deren Ziel und Sinn ihnen lange unbekannt blieb, bis die politische und gewerkschaftliche Bewegung sie allmählich zu bestimmten Gruppen Zusammenschloß und ihnen ihren gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Standort zum Bewußtsein brachte 18 ." Dieses durch wachsende Zahl, räum18
Otto Neuloh, Arbeiterbildung i m neuen Deutschland, Leipzig 1930, S. 18.
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liehe Konzentration und Neuartigkeit der Erscheinungen geförderte Zusammenschließen der Arbeiterschaft zu einer neuen gesellschaftlichen Gruppierung leitet über zur Darstellung des politischen Kräftefeldes. 2. Das politische Kräftefeld
a) Reichsgründung
f
Adel und Bürgertum
Die Ankündigung einer Sozialversicherungsgesetzgebung i n Deutschland i m Jahre 1881 steht i n Zusammenhang m i t der Gründung des Deutschen Reiches 10 Jahre vorher. Diese Reichsgründung erfolgte i m Vergleich zu europäischen Nachbarländern spät; Traditionen des Verhaltens gegenüber dem Reich und tradiertes Reichsrecht fehlten daher zunächst. Die Reichsgründung war kein spontaner A k t , sondern Ergebnis einer jahrzehntelangen — wesentlich durch Bismarck geprägten — planvollen Politik, die mehrfach Risiken einzugehen und vielfache Widerstände zu überwinden hatte. Den Zeitgenossen, und insbesondere den politisch aktiven unter ihnen, erschien das Reich nicht als etwas Gegebenes, sondern als etwas „Gemachtes". Die Ereignisse, die zur Reichsgründung führten, waren noch i n Erinnerung: 1833 1848
1862
Gründung des Deutschen Zollvereins unter Führung Preußens. Zusammentreten der Deutschen Nationalversammlung i n der Paulskirche zu Frankfurt; diese wählt den Preußischen König zum Kaiser der Deutschen. Der König lehnt wegen fehlender Zustimmung der übrigen Fürsten ab. Bismarck w i r d preußischer Ministerpräsident und arbeitet seither auf die Reichsgründung durch Preußen hin. Er entscheidet sich für die kleindeutsche Lösung i m Gegensatz zu starken Strömungen, die eine großdeutsche Lösung unter Einschluß Österreichs wünschten.
1866
Als Ergebnis des Krieges gegen Preußen stimmt Österreich einer Neuordnung Deutschlands ohne seine M i t w i r k u n g zu. Der Norddeutsche Bund w i r d gegründet (Bismarck Bundeskanzler).
1870
Der Krieg gegen Frankreich stärkt die nationalen Emotionen und schafft die Voraussetzungen für den Zusammenschluß der süddeutschen Staaten — vor allem Bayerns — m i t dem Norddeutschen Bund zum
1871 Deutschen Reich; Bismarck w i r d Reichskanzler. Das Deutsche Reich ist ein Bundesstaat m i t damals 41 M i l l . Einwohnern. Träger der Souveränität ist der Bundesrat, die Vertretung der Landesfürsten und der Städte. Träger der eigentlichen Reichsgesetzgebung ist der Reichstag. Der Reichskanzler w i r d vom Kaiser ernannt.
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Träger der Einigungsbestrebungen i n Deutschland war vor allem das von Gedanken und Idealen des Liberalismus getragene Bürgertum. Die 1861 gegründete (liberale) Deutsche Fortschrittspartei hatte die Mehrheit i n dem nach Dreiklassenwahlrecht gewählten Preußischen A b geordnetenhaus. Auch i m 1871 erstmals (durch allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahl) gewählten Reichstag ist die Nationalliberale Partei m i t 119 von 397 Sitzen stärkste Fraktion; sie repräsentiert das national gesinnte westdeutsche Bürgertum und t r i t t für einen liberalen Rechtsstaat ein. Weiter sind i m Reichstag vertreten die liberalkonservative Deutsche Reichspartei, die Fortschrittspartei, die A l t k o n servativen (Repräsentant des preußischen Adels) sowie das Zentrum als Repräsentant des bürgerlich-katholischen Elements. Die Machtverhältnisse i m Reich wurden i m wesentlichen bestimmt durch den preußischen Adel, der vor allem die Führungspositionen i n Armee und Verwaltung innehatte, und das Großbürgertum, i n dessen Händen sich Industrie, Handel und Geldwesen befand. Während der Adel i m wesentlichen konservativ eingestellt war, lebten i m Bürgertum starke liberal-demokratische Traditionen und Bestrebungen. Diese Bestrebungen waren jedoch hinsichtlich ihrer politischen Wirkungen verdeckt und verzögert. Ursächlich hierfür war das Scheitern der liberalen Reformbestrebungen 1848 und die glänzenden nationalstaatlichen Erfolge Bismarcks bis zur Reichsgründung, die — zusammen m i t der w i r t schaftlichen Expansion — das Bürgertum weithin zu einem Anpassungsverhalten an vom Adel geprägte Verhaltensmuster und an monarchisch-autoritäre Ordnungsvorstellungen veranlaßten. Die feudalistische Prägung des jungen Reiches war eine Ursache dafür, daß die Integration der Arbeiterschaft sich i n Deutschland schwieriger gestaltete als i n den Nachbarländern. b) Die Arbeiterbewegung Bis 1848 fehlte in Deutschland eine politische Arbeiterbewegung. Zwar waren i n den 30er und 40er Jahren Arbeiterbildungsvereine entstanden; deren Bedeutung lag jedoch nicht i n ihrem aktuellen politischen Gewicht, sondern darin, daß hier erste organisatorische Erfahrungen gesammelt wurden, die i n spätere Zusammenschlüsse eingebracht wurden. I m Gefolge der von Frankreich nach Deutschland übergreifenden revolutionären Ereignisse des Jahres 1848 wurde i n Berlin aus lokalen Arbeitervereinen die „Allgemeine deutsche Arbeiter-Verbrüderung" gegründet, die man als erste deutsche politische Arbeiterorganisation bezeichnen kann. Durch Bundesgesetz von 1854 wurde die „Arbeiterverbrüderung" verboten; nur unpolitische und konfessionelle Arbeiter5 Sozialversicherung
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vereine konnten weiterarbeiten. Doch gibt es von i h r aus „deutlich erkennbar organisatorische und personelle Verbindungslinien bis i n das Jahr 1863, dem Gründungsjahr des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins" 1 9 . Dieser Verein unter Führung von Ferdinand Lassalle war ein Zusammenschluß von Arbeitervereinen (längst nicht aller), der ein politisches Programm hatte und sich als Partei verstand. 1869 entstand ebenfalls auf der Basis bereits bestehender Arbeitervereine eine zweite Partei, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei unter maßgebendem Einfluß von August Bebel und Wilhelm Liebknecht. 1875 traten führende Mitglieder des Arbeitervereins zu den Sozialdemokraten über; es wurde die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands gegründet, die sich ab 1891 Sozialdemokratische Partei Deutschlands nannte. Das politische Gewicht der Arbeiterschaft äußerte sich i n den Stimmabgaben zur Reichstagswahl wie folgt: 1871 3,2 °/o, 1874 6,8 o/o, 1877 9,1 % ; zum ersten Mal zogen 1877 12 sozialdemokratische Abgeordnete i n den Reichstag ein. Als erste gewerkschaftliche Organisation kann der (nach einem Vorläufer 1848: Deutscher Nationalbuchdruckerverein) 1862 gegründete Fortbildungsverein für Buchdrucker bezeichnet werden, w e i l i m Vordergrund seiner praktischen Tätigkeit die Vertretung der Arbeiterinteressen gegenüber den Arbeitgebern stand. Weitere Gewerkschaften wurden nach Aufhebung des Koalitionsverbots 1867 i n Preußen, 1869 i n den übrigen deutschen Staaten (durch die Gewerbeordnung) gegründet; sie entstanden vor allem auf Anregung des von England beeinflußten Hirsch (Hirsch-Dunckersche Gewerkvereine). Daneben entstanden „freie" Gewerkschaften, die jedoch 1879 teilweise wieder aufgelöst wurden. Ein für die Arbeiterbewegung entscheidender Einschnitt war die Verabschiedung des Sozialistengesetzes i m Jahre 1878. Aus Anlaß zweier Attentate auf den Kaiser hatte Bismarck das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie" i m Reichstag eingebracht und durchgesetzt. Aufgrund dieses Gesetzes wurden die Organisationen der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands aufgelöst, fast alle ihre Publikationsorgane verboten. Man schätzt, daß etwa 1.500 Personen zu Haftstrafen verurteilt, 900 ausgewiesen und viele andere zur Emigration veranlaßt wurden. Das Sozialistengesetz wurde auch auf die Gewerkschaften angewandt m i t Ausnahme der Hirsch-Dunckerschen, deren Mitglieder durch Unterschrift bestätigen mußten, weder Mitglied noch Anhänger der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei zu sein. I m übrigen fand man Anlässe, 19
Grebing, S. 46.
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„ u m Tausende großenteils noch ziemlich harmlose Arbeiter ihrer Vereine und ihrer Kassen zu berauben; sie wurden nun erst Sozialdemokraten" 2 0 . Die Organisationstätigkeit ging unter Tarnungen weiter. Nach Aufhebung des Sozialistengesetzes schlossen sich die sozialistischen (freien) Gewerkschaften 1890 zur „Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands" zusammen. Die Zahl ihrer Mitglieder stieg von rd. 200.000 auf 1,8 M i l l , i m Jahre 1908 und überflügelte damit schnell und dauerhaft diejenige anderer Gewerkschaftsorganisationen. Die antiliberale Aggressivität des Vorgehens gegen die politische Arbeiterbewegung ist aus der Rückschau schwer verständlich. Nach dem Gothaer Programm der Sozialistischen Arbeiterpartei erstrebte diese „den freien Staat und die sozialistische Gesellschaft, die Zerbrechung des ehernen Lohngesetzes durch Abschaffung des Systems der Lohnarbeit, die Aufhebung der Ausbeutung i n jeder Gestalt, die Beseitigung aller sozialen und politischen Ungleichheit". Aber: diese Ziele wurden erstrebt „ m i t allen gesetzlichen M i t t e l n " 2 1 . Das Unbehagen der i m Kaiserreicht herrschenden Kräfte gegenüber der sich ausweitenden Arbeiterbewegung ist wie folgt erklärt worden: „Objektiv gab es zwar i m Kaiserreich angesichts der praktischen Polit i k der Sozialisten keine Veranlassung zur Revolutionsfurcht, subjektiv bestand aber weder bei Bismarck noch i m Adel und i m Bürgertum irgendein Zweifel an der dem Staat und der Gesellschaft drohenden Gefahr.. . 2 2 ." Die Revolutionsfurcht konnte sich allenfalls aus der revolutionären Terminologie der Sozialisten und der aggressiven Sprache ihrer Publikationen, nicht jedoch aus deren Programmatik und politischer A k t i o n herleiten — und sei es nur deshalb, weil die Sozialisten vor dem Sozialistengesetz für wirksame politische Aktionen zu schwach waren (1877 493.000 Wähler bei einer Bevölkerung von 44 Millionen). Die Reaktion Bismarcks auf die Arbeiterbewegung nicht nur durch das Sozialistengesetz, sondern auch durch die wenig später erfolgende Sozialgesetzgebung geht auf Motivationen zurück, die noch näher zu schildern sind. Hier bleibt hinzuzufügen, daß die Arbeiterbewegung der damaligen Zeit die Sozialversicherungsgesetzgebung weder als vorrangige Forderung erhoben noch inhaltlich befruchtet hat. Aus der A r beiterschaft fließen i n der Zeit bis zur Kaiserlichen Botschaft „die Stimmen zur Frage einer staatlichen Versicherungsgesetzgebung nur recht spärlich" 2 3 . I m Gothaer Programm von 1875 werden m i t Bezug auf die 20
Schmoller, S. 464. A r t . I I des Gothaer Programms der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands von 1875; zitiert nach: Programme der deutschen Sozialdemokratie, Hannover 1963, S. 74. 22 Grebing, S. 74. 23 Vogel, S. 51. 21
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soziale Sicherung nur zwei Forderungen erhoben, die weder neu noch innovationsträchtig sind: „ E i n wirksames Haftpflichtgesetz" und „volle Selbstverwaltung für alle Arbeiter-Hilfs- und Unterstützungskassen" 24 . Auch die Gewerkvereine traten um diese Zeit meist lediglich nur für eine Ausdehnung des Haftpflichtgesetzes ein. Der zweite Vereinstag der deutschen Arbeitervereine beschloß i m Jahre 1864, eine „allgemeine Altersversicherungskasse für deutsche Arbeiter" zu entwickeln. Diese Kasse sollte i n höherem Lebensalter ein Kapital auszahlen; der Eint r i t t i n die Kasse sollte dem Arbeiter freistehen, der Arbeitgeber sollte sich moralisch verpflichtet fühlen, einen Teil der Leistungen zu übernehmen. Als eine solche Kasse nicht zustande kam, wurde zwar die Meinung geäußert, daß staatliche Hilfe nötig sei; diese Meinung setzte sich jedoch nicht gegen das bei den Führern der Sozialdemokratie herrschende Mißtrauen gegenüber staatlicher Verwaltung der Arbeiterkassen durch. Sie forderten vielmehr die einzelnen Gewerke auf, sich nach der A r t der Trade Unions i n England und des Deutschen Buchdruckervereins zu allgemeinen Gewerksgenossenschaften zusammenzuschließen und diesen die Gründung von Versicherungskassen zu überlassen. Die Sozialdemokraten befürworteten energisch den Arbeiterschutz, standen aber der Arbeiterversicherung auch nach ihrer Entstehung bis etwa zur Jahrhundertwende kritisch gegenüber; man sah i n i h r keine echte soziale Reform, sondern nur Verbesserungen i n der Armenpflege, die zudem nur als taktisches M i t t e l benutzt werde, u m die Arbeiter vom richtigen Weg abzulenken 25 . c) Bismarck und die Arbeiterfrage aa) Motive und Aktionsbereitschaft Die Meinungen stimmen darin überein, daß die Sozialgesetzgebung für Bismarck nicht Selbstzweck, sondern M i t t e l zum Zweck war. I n seinen recht ausführlichen „Gedanken und Erinnerungen" hat er die Arbeiterfrage als Sachproblem nicht behandelt. Andererseits ist belegt, daß i h n die Arbeiterfrage und Methoden zu ihrer Lösung früh und immer wieder beschäftigt haben, und daß er die Sozialpolitik entscheidend beeinflußt hat 2 6 . Auslösendes Motiv für den Sozialpolitiker Bismarck ist die Befürchtung, daß die Arbeiterschaft eine Gefahr für den Staat sei. Bereits 1849, als junger Abgeordneter i n der Preußischen Kammer, sagte er 24
Programme . . . (Anm. 21), S. 75. Vogel, S. 52, 54 f. 28 Aus der sehr umfangreichen Bismarck-Literatur stellvertretend: Hans Rothfels, Z u r Geschichte der Bismarckschen Innenpolitik, Archiv f ü r P o l i t i k u n d Geschichte V I I . Heft 9, B e r l i n 1926. 25
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von den Fabriken, diese „erzögen eine Masse von Proletariern, von schlecht genährten, durch die Unsicherheit ihrer Existenz dem Staate gefährlichen Arbeitern" 2 7 . Die Sozialistenfurcht war verstärkt worden durch die Ereignisse des Pariser Kommuneaufstandes i m März 1871, den preußisch-deutsche Regierungskreise unmittelbar miterlebt hatten und „dessen Verherrlichung durch Bebel auf Bismarck den tiefsten Eindruck gemacht hatte" 2 8 . Das Motiv der Gefahrenabwehr vom Staat war dominant für den Erlaß des Sozialistengesetzes 1878 und klingt noch i n der Kaiserlichen Botschaft vom 17. 11. 1881 deutlich durch: sie spricht die Überzeugung aus, „daß die Heilung der sozialen Schäden nicht ausschließlich i m Wege der Repression sozialdemokratischer Ausschreitungen . . . zu sichern sein werde" und den Wunsch, „dem Vaterlande neue und dauernde Bürgschaften seines inneren Friedens... zu hinterlassen" 29 . Etwas weniger majestätisch hat es später ein Mitarbeiter Bismarcks ausgedrückt, der „betonte, daß die Sozialpolitik nicht aus Liebe, sondern aus Furcht der herrschenden Klassen, besonders der Regierungskreise, geboren sei" 3 0 . Andererseits hat Bismarck auch früh erkannt und bekannt, daß man der Arbeiterfrage nicht allein m i t Repression begegnen könne. I n einer Kontroverse m i t seinem Handelsminister i m November 1871 schrieb er diesem: „Einziges Mittel, der sozialistischen Bewegung i n ihrer gegenwärtigen Verirrung Halt zu gebieten, ist die Realisierung dessen, was i n den sozialistischen Forderungen als berechtigt erscheint und i n dem Rahmen der gegenwärtigen Staats- und Gesellschaftsordnung verwirklicht werden kann 3 1 ." Und dies ist auch das zukunftweisende Motiv der Kaiserlichen Botschaft, wenn sie ausführt, daß die Heilung sozialer Schäden „nicht ausschließlich i m Wege der Repression..., sondern gleichmäßig auf dem der positiven Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen sein werde" und daß man wünsche, „den Hilfsbedürftigen größere Sicherheit und Ergiebigkeit des Beistandes, auf den sie A n spruch haben, zu hinterlassen". Es ist belegt, daß Bismarck die Kaiserliche Botschaft nicht nur i n den Grundzügen angelegt, sondern auch eigenhändig gründlich redigiert hat. Seine doppelte Zielsetzung, daß er zwar die Sozialdemokratische Partei gewaltsam unterdrücken, die Beschwerden und Mißstimmungen der Arbeiter aber, soweit sie i h m berechtigt erschienen, durch eine soziale Gesetzgebung abstellen wollte, hat Bismarck i n einer Reichstagsrede (1884) öffentlich dargelegt 32 . 27 28 29 30 31 32
Herkner, S. 98. Herkner, S. 347. Relevanter Textauszug aus der Kaiserlichen Botschaft vgl. unten S. 87. Gemein ist Theodor Lohmann, vgl. Vogel, S. 135. Syrup-Neuloh, S. 55. Vogel, S. 149.
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Hinsichtlich seines Grundgedankens, die Arbeiterschaft durch soziale Leistungen an den Staat zu binden, erscheint Bismarck i m deutschen Kontext i n zeitlicher und sachlicher Hinsicht durchaus originär. Es gibt Anzeichen dafür, daß er diesen Grundgedanken i n Frankreich aufgegriffen hat. Bei Besuchen 1855 und 1857 sowie als Gesandter 1861 i n Paris hat i h n das Regime Napoleons I I I . stark interessiert vor allem hinsichtlich der Art, wie Napoleon i n der Arbeiterschaft und Teilen der ländlichen Bevölkerung Anhängerschaft warb durch Staatsrenten, Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, Produktionsgenossenschaften, Arbeiterkassen u. a. 33 . 1889, bei der Begründung der Invaliditätsvorlage, sagte er i m Reichstag: „Ich habe lange genug i n Frankreich gelebt, u m zu wissen, daß die Anhänglichkeit der meisten Franzosen an die Regierung . . . wesentlich damit i n Verbindung steht, daß die meisten Franzosen Rentenempfänger vom Staate s i n d , . . 3 4 . " Weil Bismarck Sozialpolitik i n erster Linie als M i t t e l zum Zweck sah, war er hinsichtlich der Methoden ihrer Durchführung i m Prinzip offen. Allerdings m i t einer gewichtigen Einschränkung: Er lehnte eine Politik des Schutzes der Arbeitskraft i m Erwerbsleben ab. Seine Motive waren Sorge u m die Konkurrenzfähigkeit der Industrie gegenüber dem Ausland sowie u m die Erhaltung des Arbeitswillens und der Erwerbsmöglichkeit des Arbeiters. Darum lehnte er das Verbot von Sonntags- und Nachtarbeit sowie die Einschränkung der Arbeit von Frauen und Jugendlichen ab. „ A l l e seine Mitarbeiter bedauerten wohl ohne Ausnahme, daß Bismarck sich von diesen manchesterlichen Argumenten nicht abbringen ließ 3 5 ." Abgesehen von dieser negativen Fixierung bleibt gleichwohl eine Offenheit Bismarcks i n methodischer Hinsicht festzustellen. Gleich nach seinem Amtsantritt als preußischer Ministerpräsident (1862) stellte sich Bismarck die Frage, wie er die Arbeiter als Bundesgenossen gegen den Liberalismus gewinnen könne. Als ein M i t t e l hierzu erschien i h m die Einführung des allgemeinen gleichen und direkten Wahlrechts und die staatliche Unterstützung von Produktivgenossenschaften. Er war hierüber m i t Ferdinand Lassalle i m Gespräch und i m Briefwechsel. Bismarck sagte später über Lassalle: „ . . . ein bedeutender Mann, m i t dem konnte man w o h l reden." I n der Forderung nach allgemeinem, gleichem 33 K a r l Thieme, Bismarcks Sozialpolitik, Archiv f ü r P o l i t i k u n d Geschichte, 1927, Heft 11, S. 385. 34 Herkner, S. 102. Es scheint, daß Bismarck übertrieben hat oder unzureichend informiert w a r . Die Hilfskassenvereine (sociétés de secours mutuelles) zahlten i m Jahr 1872 rd. 30.000, 1896 rd. 200.000 Renten aus. Vgl. Schmoller, S. 388. 35 Vogel, S. 164. Dieser grundsätzliche Dissens über die Notwendigkeit einer P o l i t i k des Arbeitsschutzes u n d des Arbeitsrechts führte später zum Bruch m i t Lohmann. Vgl. Hans Rothfels, Theodor L o h m a n n u n d die K a m p f jahre der staatlichen Sozialpolitik, B e r l i n 1927.
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Wahlrecht hatte man keine Meinungsverschiedenheiten; allerdings: Lassalle erhoffte sich hiervon einen Zuwachs städtischer, proletarischer Stimmen; „Bismarck versprach sich vom letzteren dagegen damals noch eine Vermehrung der Stimmen der unter dem geistigen und politischen Einfluß des Großgrundbesitzes stehenden Bauern und Landarbeiter. Hier waren Berührungspunkte gegeben". Lassalle bescheinigte Bismarck, daß er von Anfang an den Wunsch gehabt habe, womöglich das soziale Element der Arbeiterbewegung durchzuführen, „moins das politische" 36 . I n den sechziger Jahren gingen Bismarcks Gedanken i n Richtung auf Unterstützung von Produktivgenossenschaften, Einschränkung der K i n derarbeit, Förderung von Altersversorgungsanstalten auf kommunaler Grundlage und Sparkassen. Diese Gedanken waren damals nicht neu und ließen noch keine charakteristischen Elemente des späteren Gesetzgebungswerkes erkennen. Seine methodische Offenheit hat Bismarck selbst mehrfach bezeugt. I m Reichstag sagte er 1878 m i t Bezug auf die staatliche Unterstützung von Produktivgenossenschaften: „Der Versuch, ich weiß nicht, ob unter dem Eindrucke von Lassalles Räsonnement oder unter dem Eindrucke meiner eigenen Uberzeugung, die ich zum Teil i n England während eines Aufenthaltes i m Jahre 1862 gewonnen hatte — m i r schien es, daß i n der Herstellung von Produktivassoziationen, wie sie i n England i n blühenden Verhältnissen existieren, die Möglichkeit lag, das Schicksal des Arbeiters zu verbessern, ihm einen wesentlichen Teil des Unternehmergewinns zuzuwenden." Selbst m i t Bezug auf seine eigene Sozialversicherungsvorlage sagte er 1882 i m Reichstag, er sei sich zwar über die Ziele, aber nicht über die Wahl der Wege so unbedingt sicher. „Ich b i n teils noch nicht m i t m i r darüber einig, teils nicht mehr i n dem Maße, wie ich es früher war, noch nicht, w e i l ich der Belehrung bedarf." Die methodische Offenheit Bismarcks darf nicht als Interesselosigkeit oder Gleichgültigkeit angesehen werden. Es w a r eine Offenheit für bessere Lösungen. Methodische Offenheit bedeutete insbesondere nicht Gleichgültigkeit gegenüber gewissen, i n Bismarcks Augen staatspolitisch relevanten Gestaltungsprinzipien. Hier hat er — wie noch zu zeigen ist — wiederholt energischen Willen bekundet und entscheidenden Einfluß ausgeübt. Allerdings lassen sich die bei Bismarck erkennbaren Leitprinzipien systematisch schwer einordnen. „ I n Bismarcks Sozialpolitik liegen persönliche Erfahrungen und Enttäuschungen, patriarchalische, staatssozialistische und wirtschaftlich-manchesterliche Gesichtspunkte i n eigentümlichem Gemenge beieinander 37 ." 36 37
Vogel, S. 148, 149. Vorstehende Zitate nach Vogel, S. 132, 144, 169.
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bb) Der Einfluß von Sozialreformern Die Suche Bismarcks nach geeigneten Lösungen bekundet sich auch i n seinem über Jahrzehnte anhaltenden Interesse an Meinungen und Vorschlägen der Wissenschaftler zur Lösung der Arbeiterfrage. Man gew i n n t den Eindruck, daß er stets auf der Suche nach politisch realisierbaren Vorschlägen war, ohne sich dabei auf Lehrmeinungen oder Konzepte festzulegen. Auch i n dieser Beziehung t r i t t einem der Realpolitiker Bismarck entgegen. Bis nach der Mitte des Jahrhunderts herrschte die Lehre von der freien Konkurrenz, die den Staat auf die Verwirklichung von Rechtszwecken und die Aufrechterhaltung der Rechtsordnung beschränkt sehen wollte. Ein Wandel trat erst ein m i t der Entstehung der historischen Schule der Nationalökonomie, die sich ein Organ i n den „Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik" schuf und m i t dem Auftreten der Kathedersozialisten i m „Verein für Sozialpolitik", der i n den siebziger Jahren erhebliche Publizität erlangte und dem Liberalismus entgegentrat. Ein Wortführer dieser Gruppe war Gustav Schmoller, der den Staat nicht als ein möglichst zu beschränkendes Übel, sondern als „das großartigste sittliche Institut zur Erziehung des Menschengeschlechtes" sah; der Staat habe aus der preußischen Überlieferung einen „sozialpolitischen Beruf" 3 8 . Diese Auffassung w a r typisch auch für andere Sozial reformer dieser Zeit (Ketteier, Schäffle, Rodbertus, Wagner, Wichern); sie prägte auch eine Gruppe sozialkonservativer Autoren (Roesler, Meyer), die sich i n der bis 1873 erscheinenden „Berliner Revue" artikulierten, von der gesagt wurde, daß ihre Beiträge „mehr für Bismarcks Augen als für ein großes Lesepublikum" geschrieben w u r den 3 9 . Dies erklärt, w a r u m aus dem Bemühen der Sozialreformer nicht — wie etwa i n England — eine sozialreformerische Bewegung entstand; man wandte sich an den Staat, hielt diesen für verantwortlich und wartete auf dessen Eingreifen. Die Wissenschaftler erörterten — oft kontrovers — eine Fülle von Vorschlägen zur Lösung der Arbeiterfrage, darunter auch und immer wieder die Frage einer Arbeiterversicherung. Es ist nicht erkennbar, daß die schließlich vorgelegten Regierungsvorlagen durch entscheidend neue Vorschläge der Wissenschaft geprägt wurden. Die Wissenschaftler haben jedoch zu Anfang der 70er Jahre durch Engagement und weit über ihre Amtspflichten hinausgehende Aktivitäten Entscheidendes zur Her38 Gustav Schmoller, Die soziale Frage u n d der preußische Staat, Preußische Jahrbücher, 1874, Bd. 3, Heft 4. Dabei hatte Schmoller betont, daß die von i h m erstrebte Reform keine U m k e h r der Wissenschaft, keinen Umsturz der bestehenden Verhältnisse u n d keine Förderung des Sozialismus wolle; „ . . . w i r protestieren gegen alle socialistischen Experimente". Vgl. Jahrbücher f ü r Nationalökonomie u n d Statistik, 1873, S. 11. 39 Vogel, S. 87.
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Stellung eines politischen Klimas getan, das der späteren Gesetzgebung den Boden bereitete. Insofern sind sie auch als ein Faktor i m politischen Kräftefeld der 70er Jahre anzusehen. Denn i m übrigen hatte Bismarck kaum verläßliche Verbündete. Es konnte gesagt werden, daß die Arbeiterversicherungsgesetzgebung Gestalt gewann, „obwohl starke praktische und ideale Interessen sich dieser Wendung entgegensetzten. Das private Versicherungsgeschäft, die individualistische Nationalökonomie und der politische Liberalismus wetteiferten, die segensreichen Folgen freier Geschäfts- und Vereinstätigkeit, die Schädlichkeit bureaukratischer Schablonen und Zwangsmaßregeln zu schildern" 40 . Die Argumente des politischen Liberalismus gegen die Sozialgesetzgebung waren (schon damals) i m wesentlichen: Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit, Lockerung der Familienverbundenheit, Schwächung der Selbstverantwortung, Tötung des Sparsinnes 41 . d) Zusammenhänge mit der Reichspolitik Das Grundmotiv Bismarcks hinsichtlich der Sozialpolitik: Bekämpfung der Sozialdemokratie und Bindung der Arbeiterschaft an den Staat hat sich i m Zeitablauf nicht gewandelt. Hinsichtlich des Zeitpunktes der Realisierung mußte er auf Konstellationen warten — oder solche herbeiführen —, die eine Zustimmung des Reichstages wahrscheinlich machten. Eine solche Konstellation war i m ersten Reichstag (1871) m i t seiner nationalliberalen Mehrheitsfraktion und dem starken konservativen Element nicht gegeben. Die Landwirtschaft w a r aus konservativer Grundhaltung gegen jede Sozialgesetzgebung eingestellt. Die Industrie — von einzelnen Persönlichkeiten abgesehen — lehnte eine Versicherungsgesetzgebung ab oder stand i h r doch zumindest abwartend gegenüber. Man sah Arbeiteransprüche an den Staat als bedenklich für das Ansehen des Staates an, fürchtete sich vor Staatssozialismus und hielt die Kosten nicht für tragbar. Die Einstellung der Industrie noch kurz vor Verkündung der Kaiserlichen Botschaft wurde so geschildert: „Und wenn nicht die Dankbarkeit gegen den FürstenReichskanzler und mehr noch vielleicht die Furcht, diese mächtige Stütze unserer bisherigen Handelspolitik eventuell einzubüßen und som i t die mühsam erkämpften Zölle bald wieder zu verlieren, davon abhielte, so würde schon jetzt die Industrie geschlossen gegen das Projekt Front machen 42 ." Auch die private Versicherungswirtschaft argumentierte gegen den sozialistischen Staatsgedanken und für die Selbst40
Schmoller, S. 392. Syrup-Neuloh, S. 120 unter Bezugnahme auf zeitgenössische Quellen. 42 Briefliche Äußerung des Herausgebers der „Deutschen Volkswirtschaftlichen Korrespondenz", v. Roell, v o m 1. M a i 1881, zit. nach Vogel, S. 41. 41
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h i l f e. „So verteidigten die Versicherungsgesellschaften, ähnlich wie die Industrie, ihre privatkapitalistischen Interessen. Sie hielten sich m i t wenigen Ausnahmen, wenn nicht i n direkter Opposition, so doch zum mindesten abwartend." A b 1872 beschäftigte Bismarck der sogenannte Kulturkampf, ein Machtkampf zwischen Staat und katholischer Kirche. Seine Motive waren der von Bismarck verkörperte Anspruch des Staates gegenüber der Kirche sowie der starke politische Einfluß des Liberalismus. Gesetzgeberisches Ergebnis des Kulturkampfes w a r die staatliche Schulaufsicht (1872) sowie die obligatorische Zivilehe (1874). Politisch war der Katholizismus durch das Zentrum vertreten, einer Partei, die 1871 i m Reichstag die zweitstärkste Fraktion bildete. U m den Einfluß dieser Partei zu mindern, wurde Bismarck 1874 geraten, die soziale Frage als „vielleicht einzig wirksames Kampfmittel gegen den Ultramontanismus" ins Feld zu führen 4 3 . Er sah jedoch zu diesem Zeitpunkt keine Möglichkeit der Realisierung, w e i l m i t der Zustimmung der nationalliberalen Partei, seit 1866 seine parlamentarische Stütze, nicht zu rechnen war. Der Kulturkampf wurde 1878 abgebrochen u. a., weil er sich politisch nicht als erfolgreich erwiesen hatte. Die Zahl der Zentrumsabgeordneten i m Reichstag stieg von 58 i m Jahre 1871 auf 91 i n 1874 und 93 i n 1877. Hinzu kam eine veränderte politische Konstellation. Das Jahr 1873 brachte für Deutschland eine „Gründerkrise". Eine bis dahin sprunghaft sich ausdehnende industrielle Produktion hatte ein Überangebot und als dessen Folge Preissenkungen, Einengung der Ertragslage und Firmenzusammenbrüche hervorgerufen. Die von den Preissenkungen betroffene Industrie reagierte i n mehrfacher Hinsicht: durch wettbewerbsmindernde Absprachen über Preise, Absatzmengen und Absatzgebiete, durch die Gründung des Zentralverbandes der Industrie (1875) und durch die Forderung nach Wiedereinführung der zwischen 1869 und 1873 abgeschafften Eisenzölle. I m Jahre 1879 wurde der — vor allem gegen die englische Konkurrenz gerichtete — Zoll auf Roheisen wieder eingeführt. Auch die Agrarpreise fielen i n den siebziger Jahren vor allem durch rückläufige Getreidepreise infolge drastisch sinkender Transportkosten aus Übersee. Man begann deshalb auch i n der Agrarpolitik von der Freihandelspolitik (seit 1865 war die Getreideeinfuhr zollfrei) abzugehen; ab 1880 wurde der Getreidezoll wieder eingeführt und auch von tierischen Produkten Einfuhrzölle erhoben. Obwohl die Agrarschutzzollpolitik den Interessen der Industrie entgegenstand, unterstützte sie diese i m Rahmen ihrer allgemeinen Schutzzollpolitik. Bei der Reichsregierung kam als Motivation für die Zollpolitik hinzu, daß die Zollein43
Hermann Wagener an Bismarck 1874, zit. nach Vogel, S. 156.
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nahmen ihre einzige direkte Einnahmequelle waren, während sie i m übrigen auf die m i t den Ländern auszuhandelnden Matrikularbeiträge angewiesen war. Bismarck nutzte die veränderte Lage aus, indem er die Industrie den liberalen Parteien zu entfremden und sie als Bundesgenossen zu gewinnen suchte. „Innenpolitisch brach Bismarck m i t den Nationalliberalen, weil sie seine neue Schutzzollpolitik nicht mitmachen wollten und wandte sich dem Zentrum, das er i m Kulturkampf eben noch befehdet hatte, und den Konservativen zu 4 4 ." Es „wurde 1877/78 unter seiner Führung ein Bündnis zwischen Großindustrie und Großgrundbesitz zum Zwecke des gegenseitigen Zollschutzes abgeschlossen" 45 . Es handelte sich u m einen folgenreichen politischen Kurswechsel. Die Zollpolitik ermöglichte Bismarck die Herstellung einer veränderten politischen Konstellation. Er wandte sich ab vom allgemeinpolitischen und wirtschaftspolitischen Liberalismus und gewann damit A k tionsfreiheit für Sozialistengesetz (Oktober 1878) und Sozialversicherungsgesetzgebung. 3. Formen sozialer Sicherung
Die nach 1881 entstandene deutsche Sozialversicherung enthält i n eigentümlicher Gewichtung die 4 methodischen Ansätze der sozialen Sicherung: 1. Sparen, 2. Fürsorge (durch Gemeinde oder Staat), 3. A r beitgeberverpflichtung und 4. Versicherung. U m zu verstehen, wie und warum es zur spezifischen Ausprägung der Sozialversicherung i n Deutschland kam, müssen die bis dahin vorhandenen Formen sozialer Sicherung i n methodischer und institutioneller Hinsicht vergegenwärtigt werden. Dabei kommt dem Sparen keine praktische Bedeutung zu. Es wurde zwar i n der zeitgenössischen Literatur gepriesen und empfohlen, doch entwickelte sich weder eine individuelle, freiwillige Spartätigkeit unter den Arbeitern, weil deren Sparfähigkeit zu gering war, noch ein obligatorisches Sparen analog dem englischen provident-fundSystem. Allerdings ging die Idee des Sparens insofern i n die spätere Invalidenversicherung ein, als deren Leistungen sich — bei Vorliegen des Versicherungsfalles — nach Dauer und Höhe der Vorleistung staffelten. a) Fürsorge Die Fürsorge hat ihren Ursprung i m christlich-karitativen Gedankengut. Lange Zeit w a r die Kirche alleiniger Träger von Maßnahmen, die man heute als Sozialpolitik bezeichnet. Kirchengemeinden und Klöster 44 45
Vogel, S. 158. Herkner, S. 104.
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errichteten Hospitäler und Asyle; sie unterstützten arme, kranke und alte Personen. Dadurch waren Chancen des Überlebens geschaffen für Personen, die kein Erwerbseinkommen hatten. M i t t e l der Hilfeleistung war die Almosen-Gewährung. Nach der Ursache der A r m u t wurde i n der Regel nicht gefragt. A r t und Umfang der Hilfe hing vom Ermessen des Spenders ab. Die Hilfe war daher großzügig und ohne verpflichtende Auflagen einerseits, wahllos und ungewiß andererseits, so daß Mißernten und Hungersnöte regelmäßig ihre Opfer unter den Hilfsbedürftigen forderten. Der Geist der christlichen Karitas hielt sich auch i n den Städten, als diese erblühten und sich von Kirche und Grundherrschaft emanzipierten. Ursprünglich wurden Hospitalgründungen (meist durch Orden) von den Städten subventioniert. Später übernahmen die Städte solche A r meneinrichtungen i n eigene Regie. A b 1520 entstanden städtische A r menordnungen. Die Reichspolizeiordnung von 1530 bestimmte, daß Städte und Gemeinden ihre Armen selbst unterhalten sollten. Dies besagte einerseits Anerkennung einer Unterhaltspflicht durch die öffentliche Hand, andererseits Abwehr der Zuständigkeit des Landesherrn. Der erstere Aspekt wurde i n der Zeit des Absolutismus aufgegriffen, konkretisiert und auf den Staat übertragen. Das „Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten" aus dem Jahr 1794 postulierte: „Dem Staat kommt es zu, für die Ernährung und Verpflegung derjenigen Bürger zu sorgen, die sich ihren Unterhalt nicht selbst verschaffen und denselben auch von anderen Privatpersonen, welche nach besonderen Gesetzen dazu verpflichtet sind, nicht erhalten können." Wenn auch die Durchführung der Armenpflege bestehenden Korporationen (Zunft, Innung, Knappschaft) sowie den Städten und Gemeinden auferlegt w u r de und A r t und Umfang der Hilfe sowie deren Finanzierung ungeregelt blieben, so liegt hier doch eine folgenreiche Anerkennung staatlicher Verantwortung für Bedürftige vor. Als i m 19. Jahrhundert i m Zuge der Liberalisierung Freizügigkeitsgesetze ergingen, mußte man parallel dazu die örtliche Zuständigkeit für die Armenunterstützung regeln. Dem diente ζ. B. das preußische Gesetz über die Verpflichtung zur Armenpflege von 1842, dessen Inhalt später Bundes- und Reichsrecht (1876) wurde. Danach waren Organe der Unterstützung die Ortsarmenverbände, bestehend aus einer oder mehreren Gemeinden. Die Fürsorgepflicht der Gemeinden umfaßte die Aufrechterhaltung des Existenzminimums. Die Unterstützung trat subsidiär ein und hatte den zeitweiligen Verlust des Wahlrechts und des Rechts auf Bekleidung öffentlicher Ämter zur Folge. Aus der früheren Fürsorge hat sich institutionell die heutige Sozialhilfe entwickelt. Daneben haben sich — wie noch zu zeigen sein w i r d —
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gewisse, der Fürsorge eigene Merkmale m i t solchen der Versicherung verbunden, als die deutsche Sozialversicherung Gestalt annahm. Dies gilt insbesondere hinsichtlich der Finanzierung aus öffentlichen M i t t e l n (Staatszuschuß) und der Anwendung des Bedarfsprinzips (sozialer Ausgleich). Daß dieser Zusammenhang nicht nur technisch-methodischer Natur ist, sondern dem Gesetzgeber die Fürsorge — i n damaliger Terminologie „Armenpflege" — als Verantwortungsbereich und Tradition bewußt war, zeigen Ausführungen in der Begründung zum ersten Unfallversicherungs-Gesetzentwurf. Dort w i r d daran erinnert, daß der moderne Staat die gesetzliche Regelung der Armenpflege als eine i h m obliegende Aufgabe anerkenne und daß es sich bei den Maßnahmen zur Verbesserung der Lage der besitzlosen Klassen „ n u r um eine Weiterentwicklung der Form, welche der staatlichen Armenpflege zugrunde liegt" handele 46 . b) Arbeitgeberverpflichtung Die Erbringung sozialer Leistungen durch den Arbeitgeber für seine Arbeitnehmer geht auf alte patriarchalische Traditionen zurück, die i m Rahmen der Grundherrschaft, aber auch i m Rahmen der Zünfte sowie i n der Seefahrt bestanden hatten. Solche patriarchalischen Verhaltensweisen — deren freiheitsbeschränkende Auswirkungen vielfach beklagt worden sind — w i r k t e n i n die Zeit der beginnenden Industrialisierung hinein und hatten einen heute oft unterschätzten Umfang betrieblicher Sozialeinrichtungen zur Folge. Nach einer Untersuchung des preußischen Ministeriums für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten gab es i m Jahre 1876 i n 4.850 Betrieben Preußens soziale Einrichtungen. Den größten Anteil an diesen Einrichtungen hatte die Unfallversicherung (2.828 Betriebe), gefolgt von den Kranken- und Unterstützungskassen. I m Jahre 1860 gab es i n Preußen 779 Unterstützungskassen für Fabrikarbeiter m i t 171.000 M i t gliedern, bei denen auch die Arbeitgeber Beiträge leisteten. Bis 1874 war diese Zahl auf 1.931 m i t 456.000 Mitgliedern angestiegen. Solche Kassen bestanden i n 3 , 6 % aller gewerblichen Betriebe m i t mehr als 5 Arbeitern; ihre Mitgliedschaft umfaßte 35,8 % aller Arbeitnehmer 4 7 . A n die erwähnten Traditionen knüpften später gesetzliche Regelungen an. Die preußische Gesindeordnung von 1810 machte der Herrschaft die Gewährung von Pflege und ärztlicher Versorgung an das Gesinde i m Krankheitsfall zur Pflicht. Das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch von 1861 verpflichtete den Reeder zur Übernahme der 46
Motive zum Unfallversicherungsgesetz, Reichstagsdrucksache 1881, No. 41. W o l f r a m Fischer, Die Pionierrolle der betrieblichen Sozialpolitik i m 19. u n d beginnenden 20. Jahrhundert, Zeitschr. f. Unternehmensgeschichte, N o vember 1978, S. 32. 47
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Kosten für Verpflegung und Heilung eines erkrankten Seemannes bis zu 3 Monaten i m Heimathafen und bis zu 6 Monaten i n einem fremden Hafen. Für Handlungsgehilfen schrieb dieses Gesetz die Gehaltsweiterzahlung bis zu 6 Wochen i m Krankheitsfalle vor. Beide Vorschriften knüpften an bestehende Zustände und Gewohnheiten an. Besonders deutlich fand die Methode der Arbeitgeberverpflichtung Anwendung hinsichtlich der Unternehmerhaftung für Schäden i m Zusammenhang m i t der Betriebstätigkeit. Dieser Gedanke fand zum ersten M a l Eingang i n das preußische Gesetz über die Eisenbahnunternehmungen von 1838; es verpflichtete die Eisenbahngesellschaften zum Schadenersatz für beförderte Personen, es sei denn, der Schaden ist durch eigenes Verschulden oder ein unabwendbares Ereignis eingetreten. Ein Zusatzgesetz von 1869 bestimmte, daß die Haftung der Eisenbahngesellschaften nicht durch Vertrag ausgeschlossen oder eingeschränkt werden kann. Es handelt sich hier um das erste Verbot privater Abmachungen gegenüber öffentlich-rechtlichen Gesellschaften. Für den Bereich der übrigen Betriebsunfälle brachte das Reichshaftpflichtgesetz von 1871 gegenüber dem allgemeinen Zivilrecht eine Erweiterung der Haftung des Betriebsunternehmers. Dieser war bis dahin nur schadensersatzpflichtig, wenn ihn oder einen seiner Angestellten ein Verschulden traf, bei dessen Auswahl er es an der nötigen Sorgfalt hatte fehlen lassen; jetzt wurde für die i m Gesetz aufgeführten, m i t besonderer Unfallgefahr verbundenen Betriebe der Entlastungsbeweis abgeschnitten; er war auch dann ersatzpflichtig, wenn er seine Aufsichtspersonen sorgfältig ausgesucht hatte. Die Beweislast lag jedoch weiter beim Geschädigten. Die Unternehmer reagierten auf die erweiterte Haftpflicht durch Versicherung gegen haftpflichtige Unfälle bei privaten Versicherungsunternehmen oder bei neu entstandenen Gegenseitigkeitsgesellschaften; während die ersteren gegen vorab vereinbarte feste Prämien Verpflichtungen übernahmen, legten die letzteren die entstandenen Kosten nachträglich um. Die Beiträge waren i n der Regel nach Gefahrenklassen abgestuft und wurden nach der Lohnsumme berechnet. Es wurde geschätzt, daß 1879 etwa ein Drittel aller Arbeiter auf diese Weise gegen Unfälle versichert w a r 4 8 . Dies leitet über zur Darstellung der vor Einführung der Sozialversicherung vorhandenen Einrichtungen auf Grundlage des Versicherungsgedankens. Hier bleibt festzuhalten, daß die Methode der Arbeitgeberverpflichtung, die bei der Ausgestaltung der Sozialversicherung 48
Schmoller, S. 400.
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i n Gestalt des Arbeitgeberbeitrages und der alleinigen Finanzierung der Unfallversicherung durch den Arbeitgeber übernommen wurde, auf ältere Traditionen zurückgeht; „es war ferner ein uraltes soziales Prinzip, daß der Dienstherr, der Grundherr, der Schiffsführer, der Bergwerkseigentümer für seine kranken, alten, i n Not befindlichen Leute m i t einzutreten hatte. Diese Verpflichtung verwandelte sich j e t z t . . . i n die öffentlich-rechtliche Zuschußpflicht der Arbeitgeber zu den Arbeiterversicherungskassen oder gar i n die Pflicht für gewisse Schäden (die Unfälle), welche sich als ein Teil der Produktionskosten darstellten, ganz aufzukommen" 4 9 . c) Versicherung Entstehung und weitere Entwicklung der Sozialversicherung i n Deutschland sind i n besonderem Maße durch Anwendung des Versicherungsprinzips geprägt. Versicherung ist allgemein gekennzeichnet durch — die Bildung von Gefahrengemeinschaften durch Zusammenschluß von Personen, die gleichartigem Risiko ausgesetzt sind (Versicherte) ; — die Entrichtung von Beiträgen (Prämien) durch die Versicherten nach Maßgabe der Risikowahrscheinlichkeit; — einen Risikoausgleich innerhalb der Versicherten, indem bei Eint r i t t eines definierten Versicherungsfalles ein Leistungsanspruch entsteht. Die Methode der Versicherung wurde lange vor Entstehung der Sozialversicherung angewandt. Institutionell lassen sich insbesondere drei Entwicklungslinien verfolgen, die die spätere Sozialversicherungsgesetzgebung beeinflußten und teilweise determinierten: private Versicherungsunternehmen, Unterstützungs- oder Hilfskassen und Knappschaftskassen. Ohne die Entwicklung der Privatversicherung hier i m einzelnen zu belegen, sei dies festgestellt: Ausgehend insbesondere von der Seeund Feuerversicherung breitete sich i n Deutschland das Versicherungswesen i n der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beträchtlich aus und betrieb auch Lebensversicherung, meist i n Form der Zusicherung einer Kapitalsumme i m Todesfall. A l l e i n i n der Zeit zwischen 1833 und 1857 wurden i n Deutschland 50 Versicherungsgesellschaften gegründet. Gleichwohl hatte das private Versicherungswesen für die soziale Sicherung i m ganzen geringe, i m Hinblick auf die Arbeiterschaft keine praktische Bedeutung. Andererseits war während der Vorbereitung der Sozialversicherungsgesetzgebung der Versicherungsgedanke allenthalben präsent; auch bezüglich versicherungstechnischer Kenntnisse hatten 49
Schmoller, S. 368.
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die vorangegangenen Jahrzehnte Fortschritte gebracht, nicht allein auf dem Gebiet der Privatversicherung.
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wenngleich
aa) Hilfskassen Der Versicherungsgedanke wurde für sozialpolitische Ziele frühzeitig von den Zünften angewandt. Der i n den Zünften vorhandene und gepflegte Solidaritätsgedanke führte zur Bildung von „Zunftbüchsen", d. h. Kassen, i n die jeder Zunftangehörige regelmäßig einen Beitrag zu zahlen hatte. Die Zunftbüchse gewährte i m Krankheitsfalle Unterhalt i n Spitälern, m i t denen vertragliche Beziehungen bestanden, i m Todesfall Beerdigungskosten, bei Invalidität und A l t e r Verpflegung und Wohnung. Die sozialpolitischen Aktivitäten der Zünfte entstanden aus sporadischen Ansätzen, wurden allmählich institutionalisiert und etwa ab Mitte des 14. Jahrhunderts durch „Satzung", „Ordnung" u. a. reglementiert. Nachdem die Handwerksgesellen zunächst ebenfalls den Zünften angehörten und beitragspflichtig zur Zunftbüchse waren, erfolgte später eine organisatorische Trennung. Neben den Zünften bildeten sich Gesellenbruderschaften, denen die Gesellen obligatorisch angehörten und zu denen sie beitragspflichtig waren. Die Bruderschaften gewährten wie die Zünfte i m Krankheitsfalle Unterbringung i n Hospitälern; neben Vertragshospitälern hatten die Gesellenbruderschaften teilweise auch eigene Hospitäler, später auch eigene Ärzte. Über die Leistungen der Zünfte hinausgehend zahlten die Bruderschaften auch Krankengeld. M i t der Allgemeinen Gewerbeordnung Preußens von 1845 wurden alle Zunftprivilegien abgeschafft. Den Gesellen wurde jedoch die Beibehaltung der zur gegenseitigen Unterstützung vorhandenen besonderen Verbindungen und Kassen gestattet; darüber hinaus enthielt dieses Gesetz zwei zukunftsträchtige Neuerungen: Erstens wurden die Gemeinden ermächtigt, den Beitritt der Gesellen zu den Kassen für obligatorisch zu erklären. Zweitens wurde die Möglichkeit der Neugründung von Kassen auch für Fabrikarbeiter geschaffen. Eine wichtige Weiterentwicklung brachte eine Verordnung 1849. Die Gemeinden wurden ermächtigt, durch Ortsstatut — auch für Fabrikarbeiter den Beitritt zu Unterstützungskassen für obligatorisch zu erklären, — den Fabrikinhaber zu verpflichten, zu den Unterstützungskassen der Arbeiter Beiträge zu entrichten bis zur Hälfte des Betrages, den die bei ihnen beschäftigten Arbeiter aufbringen, — den Fabrikinhaber zu verpflichten, die Beiträge der Arbeiter unter Vorbehalt der Anrechnung auf die nächste Lohnzahlung vorzuschießen.
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Es kam eine Reihe solcher Statuten zustande, die i m einzelnen Rechte und Pflichten der Mitglieder und ihrer Arbeitgeber festlegten. Die Leistungen bezogen sich auf Krankenunterstützung i n Form von ärztlicher Hilfe, Arznei und Verpflegungsgeld sowie Beerdigungskosten. Die Aufsicht über die örtlichen Hilfskassen hatten die Gemeinden. Hing die Errichtung von Unterstützungskassen bis dahin von der Initiative der Betroffenen ab, so brachte das Gesetz betreffend die gewerblichen Unterstützungskassen von 1854 die Ermächtigung, durch Ortsstatut die Pflicht zur Errichtung von Kassen einzuführen. Weiter wurden, weil „die Ortsbehörden, gehindert durch die Abneigung der Unternehmer, zögerten" 50 , auch die Bezirksregierungen ermächtigt, einen Beitrittszwang zu den Krankenkassen auszusprechen. Die 1854 geschaffene Rechtslage wurde i m wesentlichen von der Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes 1869 übernommen. Neuerungen brachte erst das Gesetz über die eingeschriebenen Hilfskassen von 1876. Es stellte gewisse Normativbedingungen auf und gab auch den freien (nicht durch Ortsstatut gebildeten) Kassen bei Erfüllung dieser Bedingungen eine rechtliche Grundlage. Sie blieben zwar privatrechtliche Körperschaften, erwarben jedoch aufgrund einer Zulassung die Rechte einer „eingeschriebenen Hilfskasse", d. h. den Status einer juristischen Person m i t Haftungsbeschränkung auf das Kassenvermögen. Die Normativbedingungen bezogen sich auf Verfassung, Organe, Aufsicht sowie Ober- bzw. Untergrenzen für Beiträge und Leistungen. A m Vorabend der Sozialversicherungsgesetzgebung stellte sich die Situation wie folgt dar: Es gab i n Deutschland 1874 rd. 10.000 Hilfskassen aller A r t m i t rd. 2 M i l l . Mitgliedern 5 1 . Bei etwa 8 M i l l . Arbeitern war also nur eine Minderheit Mitglied einer Hilfskasse. Von der Gesamtzahl waren etwa die Hälfte eingeschriebene Hilfskassen. Zahlenmäßig vorherrschend waren einerseits Kassen für Arbeiter bestimmter Berufe und Gewerbe, für die örtlicher Beitrittszwang bestand (Ortskrankenkassen) und andererseits Kassen für Arbeiter bestimmter Betriebe (Betriebskrankenkassen). Neben der unzureichenden Einbeziehung der Arbeiterschaft wurde als Mangel empfunden das verwirrende Nebeneinander verschiedener Kassen sowie die Uneinheitlichkeit der Leistungsarten und Leistungsvoraussetzungen.
50 Soweit ersichtlich, w u r d e i n dieser Zeit erstmals eine gesetzliche B e i tragspflicht gefordert v o n W i l h e l m Wagner, Denkschrift über Allgemeine Hülfskassen f ü r Arbeiter m i t gesetzlicher Beitragspflicht der Arbeitgeber u n d Arbeiter, B e r l i n 1851. 51 Schmoller, S. 391.
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bb) Knappschaftskassen I m Bereich des Bergbaus entstand bereits i m Mittelalter eine freie — grundherrlich nicht gebundene — Arbeiterschaft. Deren Lebensumstände waren denjenigen der späteren Industriearbeiter insofern ähnlich, als sie vielfach nicht ortsstämmig, räumlich konzentriert und lohnabhängig waren. Die Bergleute schlossen sich nach dem Vorbild der städtischen Zünfte genossenschaftlich zusammen. Diese Zusammenschlüsse, die Knappschaften, übernahmen u. a. eine Fürsorge für erkrankte und verunglückte Knappen sowie deren Angehörige. Die Hilfe wurde zunächst durch einen freiwillig entrichteten „Büchsenpfennig" finanziert. Später wurden i n landesherrlichen Bergordnungen Beitragspflichten der Knappen und ihrer Arbeitgeber (Gewerken) sowie A r t , Höhe und Dauer der Leistungen i m Falle von Krankheit, Unfall, Invalidität und Tod geregelt. Wenngleich die Mitgliedschaf t i n den Knappschaftsvereinen nach Ablösung des i m Zeitalter des Absolutismus entstandenen staatlichen Direktionssystems i m Prinzip freiwillig war, gehörten diesen i m Jahre 1852 i n Preußen 83 °/o der Bergleute an 5 2 . Entscheidende Neuerungen brachte das preußische Gesetz betreffend die Vereinigung der Berg-, Hütten- und Salinenarbeiter i n Knappschaften von 1854; es enthielt folgende Regelungen: — Versicherungspflicht für alle Bergarbeiter bei obligatorisch zu errichtenden Knappschaftskassen m i t weitgehender Selbstverwaltung; — freie „ K u r und Arznei" sowie Krankenlohn während der Krankheit; — lebenslängliche Unterstützung bei Invalidität oder Tod des Ernährers; — Beitragspflicht für Versicherte und Arbeitgeber; — Beitragsabführung durch Arbeitgeber. Wegen dieser Elemente, insbesondere Versicherungspflicht, Arbeitgeberbeitrag und Selbstverwaltung, hat man von einer Vorprägung der späteren Sozialversicherungsgesetzgebung durch die Knappschaftsversicherung gesprochen. Ein Zeitgenosse urteilte nach Aufführung einiger Mängel der Knappschaftsversicherung zusammenfassend so: „Aber i m ganzen hat sie sich doch so bewährt, daß sie i n den Augen der besten deutschen Unternehmer und der Regierungen ein ideales Vorbild für alle Arbeiterversicherungen wurde. . . . i n der öffentlichen Debatte wurde 1850- 1890 immer wieder auf sie hingewiesen 53 ." 52 Joseph Höffner, Sozialpolitik i m deutschen Bergbau, Münster 1956, S. 48. ' 5 3 Schmoller, S. 390.
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I m Jahre 1876 bestanden 88 Knappschaftskassen m i t 255.000 versicherten Bergleuten. I I . D i e erste Gesetzgebung
Die Ausgangslage vor Verkündung der Kaiserlichen Botschaft erforderte Initiativen, die vielfach gefordert und vorgeschlagen wurden. Beim Reichskanzler w a r seit längerem prinzipiell Aktionsbereitschaft vorhanden. A b 1876 bildete sich eine politische Konstellation, die Initiativen aussichtsreich erscheinen ließ. Soweit die Reformbestrebungen sich auf die soziale Sicherung bezogen, waren drei methodische Ansatzpunkte vorhanden, die i m Bewußtsein der Akteure lebendig waren und an die technisch angeknüpft werden konnte: die öffentliche Fürsorge, die Arbeitgeberverpflichtung und die Versicherung; letztere hatte sich i n ausgeprägter Weise aus den Prinzipien der Solidarität und der genossenschaftlichen Selbsthilfe heraus entwickelt und war i n Teilbereichen bereits obligatorisch geworden. U m diese Ansatzpunkte, ihre Weiterentwicklung und Ergänzung rankte sich die Diskussion i n der vorbereitenden Phase der Gesetzgebung. 1. Entscheidungsprozesse
A n der Diskussion der Gestaltungsprinzipien der i n Aussicht genommenen Sozialversicherung war i n starkem Maße die Beamtenschaft beteiligt, der die Erarbeitung der Gesetzentwürfe oblag. Diese Beamtenschaft war zunächst und i m ganzen dem neuen Vorhaben keineswegs günstig gesonnen. Die Mehrzahl der Beamten w a r „von der Richtigkeit der Lehre vom freien Spiel der Kräfte und der gesellschaftlichen Harmonie überzeugt und einer direkten Staatshilfe abgeneigt" 54 . Andererseits w i r d als Merkmal der Sonderstellung der deutschen Sozialpolitik hervorgehoben, daß hinter der sozialpolitischen A k t i v i t ä t außer der politischen Absicht „das soziale Verantwortungsgefühl hoher Staatsbeamter stand, die sich als Vertreter des sozialen Fortschritts und Verfechter der Einführung sozialer Institutionen zur Existenzsicherung der Arbeiter betätigten" 5 5 . Bismarck hat i n der Tat zur Durchführung seiner Schutzzoll- und Sozialpolitik neue Mitarbeiter berufen (Hofmann). Aus der Tatsache, daß ihm dies offensichtlich keine Schwierigkeiten bereitete, und ferner, daß er sich später von engagierten sozialpolitischen Mitarbeitern wegen grundsätzlicher Meinungsverschiedenheiten trennte (Lohmann), w i r d man folgern können, daß die Beamtenschaft kein gewichtiger Faktor 54 55
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Vogel, S. 30. Syrup-Neuloh, S. 56.
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i m politischen Kräftefeld war. Andererseits hat die Beamtenschaft angesichts der methodischen Offenheit des Kanzlers sowie der unter Sozialpolitikern allgemeinen Anschauung, daß der Staat aktiv werden müsse, auf die Gestaltung der Entwürfe großen Einfluß gehabt. Die Entscheidungsprozesse auf politischer Ebene rankten sich vor allem um die Frage der Versicherungspflicht sowie die Frage der Organisation und der Finanzierung 5 6 . a) Die Durchsetzung der Versicherungspflicht Einer Erweiterung der Versicherungspflicht über Knappschaftsversicherung und gemeindlichen Beschluß hinsichtlich Hilfskassen (1854) hinaus standen der liberalistisch geprägte Zeitgeist i n Bürokratie, Wissenschaft und Publizistik sowie die Auffassung der Mehrheit der Unternehmerschaft entgegen, die entweder prinzipiell gegen soziale Reformen eingestellt war oder freie Hand für betriebliche Sozialpolitik behalten wollte. I m November 1872 beriet aufgrund einer Vereinbarung der beiden Kanzler eine preußisch-österreichische Regierungsdelegation über Maßnahmen zur Begrenzung der Gefahren der internationalen Arbeiterbewegung. Hinsichtlich des Kassenwesens einigten sich die Konferenzteilnehmer „auf das preußische Prinzip der Zwangskasse m i t obligatorischer Beitragspflicht der Arbeiter und Arbeitgeber" 5 7 . Ein Weiterdenken i n Richtung auf eine allgemeine Versicherungspflicht wurde hierbei noch nicht sichtbar. Außerhalb der Regierung wurde die Versicherungspflicht erstmalig von Wissenschaftlern gefordert und publizistisch wirksam vorgetragen, so von Albert Schäffle i n einem Buch 187058, von Adolph Wagner i n einer „Rede über die soziale Frage" i n der Berliner Garnisonkirche 187159 und von Gustav Schmoller i n der Eröffnungsrede des Vereins für Sozialpolitik 1872™. Aber noch 1874 sprach sich der Verein für Sozialpolitik nach einer Umfrage unter seinen Mitgliedern nicht für eine allgemeine Versicherungspflicht, sondern nur für einen indirekten, d. h. Kassenzwang nach bisherigem Muster aus 61 . Neben den Wissenschaftlern traten zwei Unternehmer — beide i m Montanbereich tätig — für eine allgemeine Versicherungspflicht ein. 56
Vgl. zum Folgenden auch Rothfels (Anm. 35). Vogel, S. 28. 59 A l b e r t Schäffle, Kapitalismus u n d Sozialismus, 1870. 59 Jahrbuch f. Nationalökonomie u n d Statistik, 1872, S. 219. Jahrb. f. Nat. u. Statistik, 1873, S. 9. 451 Schriften des Vereins f ü r Sozialpolitik, Bd. V, 1874. 57
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1878 stellte v. Stumm-Halberg i m Reichstag einen Antrag auf Errichtung staatlicher Alters- und Invalidenkassen m i t Zwangsbeitritt. 1880 erstellte Baare — Generaldirektor des Bochumer Vereins — auf Wunsch des Reichskanzleramtes eine Denkschrift, i n der vorgeschlagen wurde, die Haftpflicht der Arbeitgeber bei Arbeitsunfällen durch eine Unfallversicherung zu ersetzen. Bismarck scheint sich i m Jahre 1880 für die Versicherungspflicht entschieden zu haben — wenn auch zunächst nur i n Hinsicht auf die Unfallversicherung. Als die Mehrzahl der zum Stummschen Antrag befragten Behörden sich gegen eine allgemeine gesetzliche Versicherungspflicht aussprachen, weil deren Durchführung zu schwierig sei, bemerkte Bismarck auf dem entsprechenden Bericht des Reichsamtes des I n nern i m J u l i 1880: „ m i t Recht". Immerhin ließ er sich gleichzeitig Statute von Knappschaftskassen vorlegen, die Stumm als Muster empfohlen hatte 6 2 . Ansatzpunkt der Regierungsarbeiten zur Sozialversicherungsgesetzgebung war sachlich und zeitlich die Unfallversicherung. Zu einer Lösung drängten die allenthalben beklagten oder doch anerkannten Unvollkommenheiten des Reichshaftpflichtgesetzes von 1871. Das Verbleiben der Beweislast beim Arbeiter hatte zur Folge, daß man es seitens der Unternehmer und der Versicherungsgesellschaften meist auf einen Prozeß ankommen ließ; selbst wenn der Arbeiter einen solchen Prozeß gewann, erhielt er nur eine einmalige Entschädigungssumme. Bei den Unternehmern lösten hohe Kosten, viel Schreibarbeit und viele Prozesse ebenfalls Unzufriedenheit aus. Dem Reichstag lagen seit 1878 zwei Anträge auf eine Revision der Haftpflicht-Gesetzgebung vor. Anfang 1880 legte das Reichsamt des Innern Entwürfe eines Haftpflichtrevisionsgesetzes und eines Unfallanzeigegesetzes vor. Bismarck hatte praktische Bedenken gegenüber diesen Entwürfen, hielt sie an und übersandte sie dem Zentralverband deutscher Industrieller zur Stellungnahme, die negativ ausfiel (März 1880). I m A p r i l wurde die Baaresche Denkschrift m i t dem Vorschlag einer Unfallversicherung vorgelegt. Als das Reichsamt des Innern auf eine Entscheidung über seine Entwürfe, insbesondere hinsichtlich der vorgeschlagenen Umkehrung der Beweislast drängte, vermerkte Bismarck i m J u l i auf der Vorlage: „Staat! wo culpa nicht nachweisbar." Als i m August 1880 eine Besprechung über die grundsätzliche Änderung des Haftpflichtgesetzes stattfand, legte Bismarck seine Direktiven dar 6 3 : 62
Vogel, S. 39. Es ist nicht erkennbar, welchen Einfluß auf die Meinungsb i l d u n g ein auf Wunsch des Reichskanzleramtes 1879 erstellter Bericht des deutschen Generalkonsuls i n London über die v o n den friendly societies errichteten Hilfskassenvereine hatte (Vogel, S. 13). 63 Vogel, S. 33, 152 unter Bezugnahme auf A k t e n der Reichskanzlei.
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— Keine Revision der Haftpflicht, sondern Versicherung; — Begrenzung der Höhe der Entschädigung, aber Vermehrung der Zahl der Fälle, i n denen Unterstützung gewährt w i r d ; — Errichtung einer Reichs- oder Staatsversicherung. Bismarck gab Weisung, eine Vorlage auszuarbeiten, die unter Benutzung der Baareschen Denkschrift die zivilrechtliche Haftpflicht durch eine allgemeine Unfallversicherung ersetze. Diese Weisung erging nicht als Zustimmung, sondern entgegen dem Rat des federführenden Unterstaatssekretärs (Lohmann). Damit war die Entscheidung für die Versicherungspflicht gefallen; sie ist danach, jedenfalls i m Kreise der Regierung, auch i n bezug auf die Kranken- und Invalidenversicherung nicht mehr i n Frage gestellt worden. Die Versicherungspflicht knüpfte rechtstechnisch an den Arbeitsvertrag an. Diese Verknüpfung ist i m Hinblick auf die damaligen Verhältnisse als Einbruch i n den Arbeitsvertrag beschrieben worden. Der Gedanke, i n den Arbeitsvertrag Vorkehrungen zur Versicherung der Arbeitskraft aufzunehmen, sei „ein ebenso einfacher wie genialer Gedanke, der ungeheuren Widerhall finden sollte" 6 4 . b) Organisation und Finanzierung Bismarck hatte 1880 gewünscht, die Unfallversicherung von einer Reichsversicherungsanstalt durchführen zu lassen. Dies entsprach seiner Vorstellung von der Rolle des Reiches als Wohltäter der Arbeiter. Aus dem gleichen Motiv gab er Weisung, neben den Beiträgen der A r beitgeber einen Reichsbeitrag zu den Kosten der Unfallversicherung vorzusehen. I n dieser Form ging der Entwurf eines Unfallversicherungsgesetzes am 8. 3. 1881 dem Reichstag zu. Unterstützend wurde zur Eröffnung der Sitzungsperiode am 15. 2. 1881 eine Thronrede des Kaisers verlesen, i n der die Notwendigkeit des Gesetzes betont und an die M i t w i r kung des Reichstages appelliert wurde. Doch der Reichstag stimmte nicht vorbehaltlos zu. Während die Versicherungspflicht bejaht wurde, lehnte der Reichstag den Zuschuß des Reiches ab, wollte die Reichsversicherungsanstalt durch Landesanstalten ersetzen und einen Beitrag der Arbeitnehmer einführen. Diesen Änderungen versagte die Reichsregierung ihre Zustimmung; der Entwurf wurde m i t dem Auslaufen der Legislaturperiode gegenstandslos. Bismarck war entschlossen, i m neu 64 J.-J. Dupeyroux, E n t w i c k l u n g u n d Tendenzen der Systeme der sozialen Sicherheit i n den Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaften u n d i n Großbritannien, hrsg. v o n der Hohen Behörde der Eur. Gem. f ü r Kohle u n d Stahl, L u x e m b u r g 1966, S. 35 u. 64.
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gewählten Reichstag einen neuen Anlauf zu nehmen. U m diesen zu unterstützen, wurde zur Eröffnung der ersten Session des fünften Reichstages am 17. November 1881 die als Kaiserliche Botschaft bekannt gewordene Thronrede verlesen 65 . „Schon i m Februar d. J. haben W i r Unsere Überzeugung aussprechen lassen, daß die Heilung der sozialen Schäden nicht ausschließlich i m Wege der Repression sozialdemokratischer Ausschreitungen, sondern gleichmäßig auf dem der positiven Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen sein werde. W i r halten es f ü r Unsere Kaiserliche Pflicht, dem Reichstage diese Aufgabe von Neuem ans Herz zu legen, u n d w ü r d e n W i r m i t u m so größerer Befriedigung auf alle Erfolge, m i t denen Gott Unsere Regierung sichtlich gesegnet hat, zurückblicken, w e n n es Uns gelänge, dereinst das Bewußtsein mitzunehmen, dem Vaterlande neue u n d dauernde Bürgschaften seines inneren Friedens u n d den Hülfsbedürftigen größere Sicherheit u n d Ergiebigkeit des Beistandes, auf den sie Anspruch haben, zu hinterlassen. I n Unseren darauf gerichteten Bestrebungen sind W i r der Zustimmung aller verbündeten Regierungen gewiß u n d vertrauen auf die Unterstützung des Reichstages ohne Unterschied der Parteistellungen. I n diesem Sinne w i r d zunächst der von den verbündeten Regierungen i n der vorigen Session vorgelegte E n t w u r f eines Gesetzes über die Versicher u n g der Arbeiter gegen Betriebsunfälle m i t Rücksicht auf die i m Reichstage stattgehabten Verhandlungen über denselben einer Umarbeitung u n terzogen, u m die erneute Berathung desselben vorzubereiten. Ergänzend w i r d i h m eine Vorlage zur Seite treten, welche sich eine gleichmäßige O r ganisation des gewerblichen Krankenkassenwesens zur Aufgabe stellt. Aber auch diejenigen, welche durch A l t e r oder I n v a l i d i t ä t erwerbsunfähig w e r den, haben der Gesamtheit gegenüber einen begründeten Anspruch auf ein höheres Maß staatlicher Fürsorge, als ihnen bisher hat zu T h e i l werden können. F ü r diese Fürsorge die rechten M i t t e l und Wege zu finden ist eine schwierige, aber auch eine der höchsten Aufgaben jedes Gemeinwesens, welches auf den sittlichen Fundamenten des christlichen Volkslebens steht. Der engere Anschluß an die realen K r ä f t e dieses Volkslebens u n d das Zusammenfassen der letzteren i n der F o r m korporativer Genossenschaften unter staatlichem Schutz u n d staatlicher Förderung werden, w i e W i r hoffen, die Lösung auch von Aufgaben möglich machen, denen die Staatsgewalt allein i n gleichem Umfange nicht gewachsen sein würde. I m m e r h i n aber w i r d auch auf diesem Wege das Z i e l nicht ohne die A u f w e n d u n g erheblicher M i t t e l zu erreichen sein."
I n Motivation und genereller Zielsetzung knüpfte die Botschaft an die Thronrede vom Februar des gleichen Jahres an: Heilung sozialer Schäden nicht ausschließlich i m Wege der Repression sozialdemokrati65 Die Kaiserliche Botschaft v o m 17. November 1881 (Verhandlungen des Reichstags, 5. Legislaturperiode, I. Session 1881/82, Bd. 1, S. 1) w a r weder die erste kaiserliche Thronrede, die sich m i t Sozialversicherung befaßte (vgl. diejenige v o m 15. 2. 1881), noch die letzte: Eine Thronrede v o m 14. 4. 1883 mahnte zur Erledigung der Vorlagen über U n f a l l - u n d Krankenversicherung, eine weitere v o m 22.11.1888 kündigte die Vorlage über die Invalidenversicherung an.
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scher Ausschreitungen, sondern auch auf dem der Förderung des Wohles der Arbeiter. Inhaltlich ging die Botschaft entschieden weiter. War i m Februar nur eine Versicherung gegen die Folgen von Unfällen angesprochen worden, so wurden nun auch die Krankenversicherung sowie „ein höheres Maß staatlicher Fürsorge" für den Fall des Alters und der Invalidität angesprochen. Für die Unfallversicherung wurde die Umarbeitung des i m Sommer gescheiterten Entwurfs „ m i t Rücksicht auf die i m Reichstage stattgehabten Verhandlungen" angekündigt. I n einem entscheidenden Punkt wurde jedoch zugleich eine neue Zielrichtung hinsichtlich der Organisation verdeutlicht: „Der engere Anschluß an die realen Kräfte des Volkslebens und das Zusammenfassen der letzteren i n der Form korporativer Genossenschaften unter staatlichem Schutz und staatlicher F ö r d e r u n g . . . " Dies war Bismarcks Reaktion auf die Tatsache, daß die von i h m ursprünglich gewünschte Reichsversicherungsanstalt nicht mehrheitsfähig war. Er hat seit damals auf den Gedanken der berufsgenossenschaftlichen Organisation großen Wert gelegt, und zwar offenbar erneut aus übergreifenden politischen Motiven. Seine Mitarbeiter berichteten (1883): „Die Unfallversicherung an sich sei ihm Nebensache, die Hauptsache sei ihm, bei dieser Gelegenheit zu korporativen Genossenschaften zu gelangen, welche nach und nach für alle produktiven Volksklassen durchgeführt werden müßten, damit man eine Grundlage für eine künftige Volksvertretung gewinne, welche anstatt oder neben dem Reichstage ein wesentlich m i t bestimmender Faktor der Gesetzgebung werde, wenn auch äußerstenfalls durch das M i t t e l eines Staatsstreiches.. . 6 6 ." Bismarck wollte obligatorische Berufsgenossenschaften für verwandte Unternehmen als öffentlich-rechtliche Körperschaften — und setzte sie durch. Bei der Erörterung des ersten Unfallversicherungsentwurfs hatte sich das Problem der Entschädigung der großen Zahl der nur m i t vorübergehender Arbeitsunfähigkeit verbundenen Arbeitsunfälle als schwierig erwiesen. Man wußte von den privaten Versicherungsgesellschaften, daß diese außerordentlich hohe Verwaltungskosten verursachten. Von daher entstand der Gedanke, diese den bereits vielfach bestehenden Hilfs(-Kranken-)kassen zu übertragen. Da außerdem die Sicherung i m Krankheitsfalle allgemein als unzureichend und das Hilfskassenwesen als ordnungsbedürftig empfunden wurde, entschloß sich die Reichsregierung, m i t dem zweiten Unfallentwurf am 8. 5. 1882 auch den Entwurf eines Krankenversicherungsgesetzes vorzulegen. Kernstück des Krankenversicherungsgesetzes war die Einführung der Versicherungspflicht kraft Gesetzes. I n organisatorischer Hinsicht 66
Vogel, S. 158 unter Bezugnahme auf Lohmann.
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waren die Vorgegebenheiten i n Gestalt der bereits zahlreich bestehenden Hilfskassen so prägend, daß lediglich eine gesetzliche Ordnung, keine Neugestaltung nötig und möglich erschien. Die Beiträge waren zu 2/3 von den Arbeitern, zu 1/3 von den Arbeitgebern zu zahlen. Ursprüngliche Vorstellungen Bismarcks, daß der A r beiter hier ebenso wie i n der Unfallversicherung keine Beiträge zahlen sollte, weil sonst „die Wirkung auf i h n verloren" gehe 67 , setzten sich bei der Regierung nicht durch. Seine Mitarbeiter sahen darin einen Verstoß gegen das Versicherungsprinzip; wichtiger war wohl, daß die Beitragszahlung der Arbeiter zu den Hilfskassen bereits eingespielt war. Das Krankenversicherungsgesetz wurde — vielleicht w e i l man bei i h m wenig grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten hatte — i m zuständigen Reichstags-Ausschuß zuerst beraten; es wurde, da man die Unfallversicherung nicht mehr glaubte bewältigen zu können, vom Unfall-Entwurf gelöst und allein dem Plenum vorgelegt. Dieses verabschiedete das Gesetz m i t 216 gegen 99 (vor allem Sozialdemokraten und Fortschrittspartei) Stimmen am 31. 5. 1883; das Gesetz wurde am 15. 6. 1883 verkündet und trat am 1. 12. 1884 i n Kraft. Die Regierung mußte den Unfall-Entwurf dem Reichstag am 6. 3. 1884 zum dritten Mal vorlegen. Erst jetzt ließ Bismarck den Reichszuschuß fallen, weil er nicht durchsetzbar erschien. Der Entwurf wurde am 6. 7. 1884 verkündet und trat am 1. 10. 1885 i n Kraft. Die Regierung nahm nun die Invalidenversicherung i n Angriff. I n 1887 vom Reichsamt des Innern veröffentlichten „Grundzügen" w a r vorgesehen, diese organisatorisch den Berufsgenossenschaften zu übertragen. Diese Absicht stieß auf massiven Widerspruch der Industrie, die eine Ubermacht der Berufsgenossenschaften fürchtete. Der Plan, nunmehr — wie ursprünglich i n der Unfallversicherung — eine Reichsversicherungsanstalt zu errichten, scheiterte am Widerstand des Bundesrates, der einer Stärkung der Reichsgewalt ablehnend gegenüberstand. So kam es zur Errichtung von Landesversicherungsanstalten. Der Ende 1888 dem Reichstag zugeleitete Entwurf wurde i m Reichstag zügig beraten. „Die Annahme erfolgte unter dem Druck Bismarcks, der sich nochmals m i t der ganzen Wucht seiner Persönlichkeit dafür einsetzte 68 ." Das Gesetz wurde am 22. 6. 1889 verkündet und trat am 1. 1. 1891 i n Kraft. Hinsichtlich der Finanzierung sah er je zur Hälfte von Arbeitgeber und Arbeitnehmer aufzubringende Beiträge und einen Reichszuschuß vor. Der Regierungsentwurf hatte eine Beteiligung des Reichs i n Höhe 67 68
Vogel, S. 151. Syrup-Neuloh, S. 124.
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eines Drittels der Rentenausgaben vorgesehen. Als Motive wurden genannt das Interesse des Reiches an der Zweckerfüllung der Versicherung, die Gefahr, daß die Belastung für einzelne Berufszweige zu hoch werde und die Erwartung, daß die Versicherung eine erhebliche Erleichterung der öffentlichen Armenpflege bewirke. I n der Absicht, die Belastung des Reiches zu reduzieren, legte der Reichstag fest, daß zu jeder Rente ein fester Betrag von 50 M jährlich zu zahlen sei 60 . Immerh i n realisierte sich hier erstmalig der alte Wunsch Bismarcks nach einer finanziellen Beteiligung des Reiches an der Sozialversicherung. Ein Charakteristikum der deutschen Sozialversicherung ist die Selbstverwaltung durch die Versicherten und ihre Arbeitgeber. Dieser Gedanke war jedenfalls als Prinzip nicht i n gleichem Maße kontrovers wie die Versicherungspflicht und die Organisation der Trägerschaft. Die Tradition genossenschaftlicher Selbsthilfe sowie auch der gemeindlichen Selbstverwaltung war allseits lebendig und anerkannt; die zahlreich bestehenden Hilfskassen standen i n Selbstverwaltung ihrer M i t glieder. I n der Kaiserlichen Botschaft w a r die Rede vom „engeren Anschluß an die realen Kräfte des Volkslebens" und von „korporativen Genossenschaften" gewesen. Da man die Krankenversicherung gesetzgeberisch zuerst behandelte und dabei aus Zweckmäßigkeitsgründen an die Hilfskassen anknüpfte, bestand weder der Anlaß, eine Selbstverwaltung zu induzieren, noch die Möglichkeit, sie zu beseitigen. Man komplettierte die Selbstverwaltungsorgane u m die Arbeitgeber, die nun auch beitragspflichtig wurden, eben nach Maßgabe ihres Beitragsanteils (ein Drittel). So lag es nahe, bei den wenig später entstehenden Berufsgenossenschaften den Unternehmern als den allein Zahlungspflichtigen die Verwaltung zu übertragen. Die Regierung hatte vorgeschlagen, den Vorständen Arbeiterausschüsse zuzuordnen; „der Unternehmereinfluß i m Reichstag wußte sie zu beseitigen" 70 . Es wurde lediglich eine Zuziehung gewählter Arbeiter für die Unfalluntersuchung und die Beratung der Unfallverhütungsvorschriften vorgesehen. I m Invalidenversicherungsgesetz wurde neben dem hauptamtlichen Vorstand ein Ausschuß als kontrollierende und beschlußfassende Vertretung errichtet, der sich entsprechend der Finanzierungsregelung paritätisch aus Arbeitgebern und Arbeitnehmern zusammensetzte. Das Gesetz erlaubte außerdem, daß dem beamteten Vorstand ehrenamtliche Unternehmer und Arbeiter beitreten. 69 Die Absicht erfüllte sich nicht; i m Ergebnis lag der A n t e i l der Reichsm i t t e l an den Ausgaben der Rentenversicherung i n den 90er Jahren u m 40 °/o. 70 Schmoller, S. 402.
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c) Die Grundlagen der weiteren
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1889 also w a r die Phase der Grundsteinlegung der deutschen Sozialversicherungsgesetzgebung beendet. Diese war zeitlich i n mehreren Stufen und organisatorisch i n mehreren Zweigen entstanden. Die zeitliche Stufung hatte sich zum einen aus der Vordringlichkeit einer Regelung der Unfallentschädigung ergeben. Zum anderen war sie von Bismarck aus taktischen Gründen gewollt. „Wollte die Reichsregierung" — so schrieb er 1881 — „gegenwärtig m i t dem gesamten Plane der Neuorganisation gleichzeitig hervortreten, so würden zahlreiche Gesellschaftskreise durch die Größe der bevorstehenden A u f gaben abgeschreckt und zur Opposition getrieben werden. Das Gebiet der sozialen Reform muß daher schrittweise nach und nach betreten werden,..." Die organisatorische Gliederung ergab sich zum einen aus der bereits bestehenden Hilfskassen-Organisation, war zum anderen Folge des erwähnten taktischen Vorgehens. Sie w a r auf jeden Fall Ergebnis von Kompromissen, nicht gewollte Konzeption. 1905 erklärte der zuständige Staatssekretär (Posadowsky-Wehner) i m Reichstag: „Wenn w i r heute res integra hätten, würde doch kein vernünftiger Mensch daran denken, eine besondere Organisation der Krankenversicherung und eine besondere Organisation der Alters- und Invalidenversicherung zu schaffen . . . Ich glaube, es muß eine Aufgabe der Zukunft sein, diese drei großen Versicherungen i n eine einheitliche Form zusammenzufassen . . . 7 1 ." A n gesichts dieser frühen und gewichtigen Meinung, die über die Zeit hin immer wieder Befürworter fand und bis heute findet, hat die organisatorische Grundstruktur der deutschen Sozialversicherung eine erstaunliche Kontinuität bewiesen. Kontinuität hat auch die Grundstruktur der Finanzierung der Sozialversicherung bewiesen. Die Dreiteilung der Finanzierungsquellen i n Arbeitnehmerbeiträge, Arbeitgeberbeiträge und Staatszuschüsse ist i m einzelnen oft geändert und i n ihrer Gewichtung verschoben, nie jedoch grundsätzlich i n Frage gestellt worden. Zusammenfassend ergibt sich, daß sich Bismarcks ursprüngliche Vorstellungen hinsichtlich Organisation und Finanzierung nur unvollkommen und abgewandelt realisiert haben. V o l l durchgesetzt hat er sich allein hinsichtlich der Durchsetzung der allgemeinen Versicherungspflicht. Diese Durchsetzung zu einem vergleichsweise frühen Zeitpunkt gegen erhebliche Widerstände i n Theorie und Praxis macht es ungeachtet mancher Einschränkungen i m Gedenken an seine Motive auch heute noch möglich, i m Ergebnis den Feststellungen von „Augenzeugen" 71
Syrup-Neuloh, S. 125.
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zuzustimmen, nämlich: Es „ist äußerst unwahrscheinlich, daß das Werk der Arbeiterversicherung ohne die titanischen Kräfte des Fürsten vollendet worden wäre" 7 2 . Und: „Die Riesenkraft, welche sie gegen Windund Tagesströmung durchdrückte, war eine politische, keine speziell sachverständige 73 ." Dessen ungeachtet war beim politisch motivierten „Durchdrücken" soviel Sachverstand eingeflossen, daß sich die Schöpfung der deutschen Sozialversicherung als arbeitsfähig und vor allem ausbaufähig erwies. Die grundlegenden Entscheidungsprozesse hatten dazu geführt, daß vorhandene Ideen und Methoden konsequent und wesentlich erweitert wurden: — aus der Versicherung entstand die Versicherungspflicht; — aus der Arbeitgeberverpflichtung entstand der Arbeitgeberbeitrag; — aus der staatlichen Verantwortung enstanden öffentlich-rechtliche Trägerschaft und Staatszuschüsse; — aus genossenschaftlicher Selbsthilfe entstand Selbstverwaltung. 2. Das materielle Redit
Die drei ersten Sozialversicherungsgesetze enthielten eine Fülle detaillierter Regelungen, die nachfolgend i n der üblichen Systematik unter Abhebung auf sozialpolitische Gewichtigkeit dargestellt werden. Die gewählte Unterteilung i n Personenkreis, Leistungsvoraussetzungen, Geldleistungen, Sach- und Dienstleistungen, Finanzierung und Organisation w i r d i n den folgenden, chronologisch unterteilten Abschnitten, so weit zweckmäßig, wiederholt, um auch einen Nachvollzug der Entwicklung i n jedem einzelnen dieser Sachbereiche zu ermöglichen. a) Personenkreis der Versicherten Krankenversicherung: Versicherungspflicht kraft Gesetzes für Arbeiter, die i n bestimmten, gesetzlich bezeichneten Betriebsarten beschäftigt sind. Angestellte sind versicherungspflichtig, wenn i h r Jahreseinkommen weniger als 2.000 M beträgt. Ein Versicherungsrecht besteht für Arbeitnehmer i n den bezeichneten Betrieben, die der Versicherungspflicht nicht unterliegen und eine bestimmte Einkommenshöhe nicht überschreiten. Die Krankenkassen haben das Recht, durch Satzungsbeschluß auch Familienangehörige der Versicherten einzubeziehen, und zwar entweder zu Lasten aller Kassenmitglieder oder gegen Entrichtung eines 72 73
Herkner, S. 105. Schmoller, S. 414.
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Zusatzbeitrages des einzelnen Versicherten (ohne Beteiligung seines Arbeitgebers). Unfallversicherung: Versichert sind Personen, die i n bestimmten Betriebsarten beschäftigt sind (Angestellte bis zu einem Jahreseinkommen von 2.000 M). Rentenversicherung: Versicherungspflicht für alle Lohnarbeiter und Angestellte bis zu 2.000 M Jahreseinkommen. Möglichkeit der freiwilligen Weiterversicherung; Selbstversicherungsrecht für Hausgewerbetreibende und Betriebsunternehmer. b) Leistungen Leistungsvoraussetzungen Krankenversicherung: Krankheit (ohne Legaldefinition). Unfallversicherimg: Unfall, der durch besondere, dem Betrieb eigentümliche Gefahren verursacht ist, unter Ausschluß des vorsätzlich herbeigeführten Unfalls. Rentenversicherung : — Erwerbsunfähigkeit; sie liegt vor, wenn der Versicherte außerstande ist, einen Lohn zu verdienen, dessen Höhe der Summe aus einem Sechstel des mittleren Jahresarbeitsverdienstes seiner Lohnklasse und einem Sechstel des ortsüblichen Tagelohns entspricht; die Erwerbsfähigkeit des Versicherten mußte also u m zwei Drittel gemindert sein. Wartezeit: 200 Wochenbeiträge (5 Jahre). — Alter: 70 Jahre und 1.200 Wochenbeiträge (30 Jahre). Geldleistungen Krankengeld: 50 v. H. des Lohnes vom 3. Tage der Arbeitsunfähigkeit an bis zu 13 Wochen. Verletztenrente: Zwei D r i t t e l des Jahresarbeitsverdienstes bei voller Erwerbsunfähigkeit; Teilrente entsprechend der Erwerbsminderung; bei Pflegebedürftigkeit Erhöhung auf 100 v. H. Witwenrente: 20 v. H. des Jahresarbeitsverdienstes. Invalidenrente: Grundbetrag 50 M (Reichszuschuß), Festbetrag 60 M und weiterer Betrag nach Maßgabe der Dauer der Beitragszahlung sowie der Lohnklasse, i n der Beiträge entrichtet sind. Sach- und Dienstleistungen Die Krankenversicherung leistet freie ärztliche Behandlung, Arznei und kleine Heilmittel. Anstelle des Krankengeldes und der ärztlichen Behandlung kann Krankenhausbehandlung und ein Teil-Krankengeld
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treten. Wöchnerinnenunterstützung w i r d während 4 Wochen nach der Niederkunft gewährt. Die Kassen erfüllen ihren Sicherstellungsauftrag freier ärztlicher Behandlung, indem sie einzelne Ärzte als Bezirksärzte unter Vertrag nehmen. Es gilt also das Sachleistungsprinzip. A n Stelle des üblichen zweiseitigen Verhältnisses zwischen Arzt und Patient t r i t t ein Dreiecksverhältnis zwischen Krankenkasse, Arzt und Patient. Diese A r t der Gestaltung einer Versicherungsleistung w a r durchaus neu und „bis dahin i n der Welt überhaupt noch nicht vorhanden" 7 4 . Die Berufsgenossenschaften leisten Heilbehandlung ab der 14. Woche. Sie werden ermächtigt, Vorschriften zur Verhütung von Unfällen zu erlassen, bei deren Nichtbeachtung den Betrieben Einstufung i n eine höhere Gefahrenklasse und Beitragszuschläge, den Versicherten Geldstrafen auferlegt werden können. Die Landesversicherungsanstalten sind ermächtigt, für Versicherte, die nicht krankenversichert sind, die Krankenfürsorge zu übernehmen, wenn als Folge der Krankheit Erwerbsunfähigkeit zu besorgen ist, die einen Rentenanspruch begründet. c) Finanzierung Krankenversicherung: Beiträge, die zu zwei Drittel vom Versicherten, zu einem Drittel vom Arbeitgeber zu tragen sind. Bei den Hilfskassen trägt der Versicherte den Beitrag allein. Der Beitragssatz schwankt zwischen 1,5 und 6 v. H. Die Krankenkassen sollen ein Vermögen i n Höhe von 3 Jahreseinnahmen ansammeln. Unfallversicherung: Beiträge der Arbeitgeber; Finanzierung durch Umlageverfahren 75 . Rentenversicherung: Beiträge, die je zur Hälfte von Versicherten und Arbeitgebern zu tragen sind. Die Beiträge sind nominal als Wochenbeitrag für Lohnklassen festgesetzt, denen die Versicherten angehören. Dabei ist eine Degression eingebaut: Als Beitragssatz errechnet sich i m Durchschnitt 1,7 % ; er beträgt i n der niedrigsten Lohnklasse über 2 °/o, i n der höchsten nur etwa 1 °/o. Das Reich zahlt einen Zuschuß zu jeder Rente i n Höhe von 50 M jährlich und gewährleistet eine Reichsgarantie. Finanzierung durch Kapitaldeckungsverfahren 76 . 74 M a x i m i l i a n Sauerborn, Kassenärzterecht i n der Entwicklung, Bundesarbeitsblatt 1953, S. 205. 75 Das v o n der Beamtenschaft ursprünglich vorgesehene u n d hartnäckig verteidigte Kapitaldeckungsverfahren hatte Bismarck abgelehnt, u m die I n dustrie erst allmählich zunehmend zu belasten; vgl. Vogel, S. 98 f. 76 Die Höhe der Beiträge w a r f ü r einen 10jährigen Zeitraum so zu bemessen, daß durch sie gedeckt werden Verwaltungskosten, Rücklagen zur B i l d u n g
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d) Organisation Das Krankenversicherungsgesetz sah folgende Kassenarten vor: — Ortskrankenkassen durch Beschluß der Gemeinde für Versicherte eines Gewerbezweiges oder einer Betriebsart; — Betriebskrankenkassen durch Beschluß des Betriebes; — Innungskrankenkassen durch Beschluß der Innung; — Knappschaftskassen nach bisheriger Regelung; — Baukrankenkassen, die von Bauherren unter bestimmten Bedingungen zu errichten sind; — Gemeinde-Krankenversicherung; eine kommunale Einrichtung (keine Krankenkasse), die von allen Gemeinden (ggf. gemeinsam m i t anderen Gemeinden) zu errichten ist; ihr gehören alle nicht von einer anderen Kasse erfaßten Personen an. Die daneben weiterbestehenden freien Hilfskassen können, wenn ihre Leistungen denjenigen der örtlichen Gemeinde-Krankenversicherung entsprechen, durch behördliche Bescheinigung als Träger der Krankenversicherung anerkannt werden m i t der Folge, daß die Mitgliedschaft bei ihnen von der Mitgliedschaft bei gesetzlichen Kassen befreit („Ersatzkassen"). Die Verwaltung der Ortskrankenkassen erfolgt durch den ehrenamtlichen gewählten Vorstand und die Generalversammlung (bei über 500 Mitgliedern Delegiertenversammlung), i n denen Arbeitnehmer und Arbeitgeber i m Verhältnis 2 : 1 vertreten sind. Durch Satzungsbeschluß können die gesetzlichen Mindestleistungen der Krankenkassen erweitert werden. Bei Streit über die Rechte und Pflichten nach dem Gesetz entscheidet zunächst die Aufsichtsbehörde; gegen deren Entscheidung ist der ordentliche Rechtsweg offen. Träger der Rentenversicherung sind örtlich zuständige Landesversicherungsanstalten m i t eigener juristischer Persönlichkeit und Selbstverwaltungsorganen. Die durch das Unfallversicherungsgesetz geschaffenen Berufsgenossenschaften werden von einem Vorstand aus gewählten Vertretern der Unternehmer verwaltet. Die den Berufsgenossenschaften übertragenen Aufgaben der Unfallverhütung standen neben den Aufgaben der bereits vorher existiereneines Reservefonds, Beitragserstattungen „sowie der K a p i t a l w e r t h der v o n der Versicherungsanstalt aufzubringenden Anteile an denjenigen Renten, welche i n dem betreffenden Zeitraum voraussichtlich zu bewilligen sein w e r den" (§ 20 des Invaliditàtsgesetzes).
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den Fabrikinspektoren. Bestrebungen der Regierung, eine Vereinheitlichung i n der Weise herbeizuführen, daß die Berufsgenossenschaften ermächtigt werden, die Fabrikinspektoren als ihre Beauftragten zu bestellen, setzten sich nicht durch 7 7 . Seither besteht der Dualismus zwischen staatlicher Gewerbeaufsicht und den Unfallverhütungsmaßnahmen der Unfallversicherungsträger. Durch das Unfallversicherungsgesetz w i r d das Reichsversicherungsamt errichtet. Das A m t ist oberste Instanz der Rechtssprechung und der Aufsicht für die Unfallversicherung und die Rentenversicherung. Später w i r d das A m t auch oberste Spruch- und Beschlußinstanz für die Krankenversicherung (1913), die Angestellten- und Knappschaftsversicherung (1923) und für die Arbeitslosenversicherung 78 . 3. Das sozialpolitische Ergebnis
Die erste Gesetzgebung über Sozialversicherung verbesserte die Lage vieler Arbeitnehmer entscheidend. Vor Inkrafttreten des Krankenversicherungsgesetzes waren rd. 2 M i l l . Arbeiter Mitglied einer Hilfskasse gewesen. 1885 hatte die Krankenversicherung 4,3 M i l l . Mitglieder. Etwa die gleiche Anzahl w a r unfallversichert und wenig später auch rentenversichert. A u f Anhieb verdoppelte sich also die Zahl der Arbeitnehmer m i t Versicherungsschutz. Die Versicherungspflichtgrenze für Angestellte (2.000 M) war aus heutiger Sicht vergleichsweise hoch; sie entsprach etwa dem 3fachen des durchschnittlichen Arbeitnehmerverdienstes i m Jahr 1892. Auch für diejenigen, die vorher bereits i n irgendeiner Form versichert gewesen waren, verbesserte sich die Situation entscheidend. Bei einem Arbeitsunfall hatte der Verletzte einen öffentlich-rechtlichen Anspruch gegen die Berufsgenossenschaft ohne Beweispflicht und ohne Rücksicht auf die Schuldfrage; an die Stelle der zivilrechtlichen Verschuldenshaftung w a r die Gefährdungshaftung getreten. A n die Stelle einer einmaligen Entschädigungszahlung war ein Rentenanspruch getreten, dessen Höhe dem Verletzten die Aufrechterhaltung des Lebensstandards auch i m Falle völliger Erwerbsunfähigkeit erlaubte. I m Falle der Krankheit w a r dem Versicherten kostenfreie ärztliche Versorgung an Stelle der bisherigen Kostenerstattung gewährleistet; ein Krankengeld bewahrte vor plötzlichen Absturz i n drückende Not. Bei Invalidität und i m A l t e r bestand ein lebenslänglicher Rentenanspruch. I n dieser Beziehung enthielt die Erstgesetzgebung der Ren77
Näheres bei Syrup-Neuloh, S. 75 f. Näheres bei Walter Bogs, Das Bundesversicherungsamt i m Rückblick, i n : Die Praxis des Bundesversicherungsamtes, hrsg. v o n Dieter Schewe, Bonn Bad Godesberg 1977, S. 195 ff. 78
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tenversicherung eine durchaus modern anmutende Regelung hinsichtlich der Leistungsvoraussetzungen. Übergangsbestimmungen stellten unbeschadet des Kapitaldeckungsverfahrens eine Rentenzahlung an über 70jährige von Anfang an sicher. Dies wurde erreicht durch befristeten Verzicht auf die normale Wartezeit. Da jede Rente einen festen Reichszuschuß sowie einen Grundbetrag enthielt, kamen auch bei sehr kurzen Versicherungszeiten hilfreiche Rentenbeträge zur Auszahlung. Bereits i m ersten Jahr der Invalidenversicherung (1891) wurden 133.000 AltersRenten bewilligt; nach 10 Jahren waren es rd. 600.00079. Der Fortschritt war sowohl i n quantitativer als auch i n qualitativer Hinsicht unbestreitbar groß i m Vergleich zum vorherigen Zustand. Mißt man das Erreichte dagegen aus heutiger Sicht am Leitbild einer ausreichenden sozialen Sicherung für alle Staatsbürger, so entsteht ein bescheidenes B i l d voller Lücken und Mängel. Wichtige Tatbestände waren nicht abgesichert, wie insbesondere der Schutz bei Arbeitslosigkeit, der Krankheitsschutz für die Angehörigen der Versicherten und der Schutz bei Ausfall des Ernährers durch Tod. War auch die absolute Zahl der Versicherten sprunghaft gestiegen, so war der relative Umfang des gesicherten Personenkreises gering. Die Anzahl der Versicherten (1885 4,3 M i l l , i n der KV) entsprach rd. 40 % aller Arbeitnehmer und knapp 10 °/o der Bevölkerung. Bescheiden war auch die Höhe der Rentenleistungen. Die durchschnittliche Höhe der Rente i m Jahre 189180 entsprach 18 °/o des durchschnittlichen Jahresverdienstes eines Arbeitnehmers. Man betrachtete die Altersrente an den Arbeiter als „eine Zubuße zu seinem verminderten Verdienst oder sonstigen Einkommen" 8 1 . 4. Erste Weiterentwicklungen (1883 - 1900)
a) Kreis der Versicherten Die Fortentwicklung des Systems der sozialen Sicherung setzte früh ein und vollzog sich i n rasch aufeinanderfolgenden Schritten. Dies war i n den aufgezeigten Mängeln und Unvollkommenheiten begründet, die aus sich heraus zur Fortentwicklung drängten. Gerade weil ein bescheidener Anfang gemacht war, traten die Lücken und Begrenzungen des Schutzes u m so deutlicher ins Blickfeld. Hinzu kam aber recht bald ein gesteigertes Zutrauen der Legislative und der Exekutive zu sich selbst und zur „Machbarkeit" der Probleme. Das neue System — das 1893 seine erste zusammenhängende rechtssystematische Darstellung fand 8 2 — erwies sich für die Beteiligten überraschend schnell als funk79 80 81 82
Reichsarbeitsblatt, 1905, S. 339. Reichsarbeitsblatt, 1905, S. 340. Schmoller, S. 411. Heinrich Rosin, Das Recht der Arbeiterversicherung, B e r l i n 1893.
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tionsfähig und finanzierbar. Viele der vorher befürchteten Schwierigkeiten und negativen Folgen erwiesen sich als übertrieben oder weniger gewichtig. Die die erste Gesetzgebung ergänzenden, erweiternden und klarstellenden Rechtsetzungsakte 83 werden i m folgenden nicht chronologisch referiert, sondern selektiv i m Hinblick auf ihren Problem- und Wirkungsgehalt. Eine geradezu stürmische Entwicklung vollzog sich i n bezug auf den Personenkreis: Neben der Einführung der Versicherungspflicht kraft Gesetzes hatte das Krankenversicherungsgesetz die Gemeinden, die Länder, den Bundesrat und den Reichskanzler ermächtigt, die Versicherungspflicht auf weitere Personengruppen auszudehnen. Diese Maßnahme trug dem Gedanken der verwaltungsmäßigen Durchführbarkeit Rechnung, wie er heute i n den Methode der schrittweisen Ausdehnung der sozialen Sicherung i n wenig industrialisierten Ländern vielfach und systematisch angewandt w i r d 8 4 . Durch Ausfüllung dieser Ermächtigungen, aber auch durch reichsgesetzliche Ausdehnung der Versicherungspflicht — daneben auch i n erheblichem Maße durch die zunehmende Zahl der i m versicherungspflichtigen Bereich Beschäftigten — stieg die Zahl der Mitglieder der gesetzlichen Krankenkassen zwischen 1885 und 1900 von 4,3 M i l l , auf 9,5 M i l l . an. Die Kassen machten zunehmend von ihrem Recht zur Einbeziehung der Familienangehörigen i n die Leistungsberechtigung Gebrauch. I m Jahre 1900 war bereits für rd. die Hälfte aller versicherten Arbeitnehmer die Familienversicherung eingeführt, und zwar ganz überwiegend zu Lasten des allgemeinen Beitrags. Von 201 Krankenkassen m i t Familienversicherung erhoben nur 11 Zusatzbeiträge 85 . Auch die Unfallversicherung wurde durch mehrere Gesetze schnell auf weitere Betriebsarten ausgedehnt, so auf eine Reihe von Reichsund Staatsbetrieben (1885), auf land- und fortwirtschaftliche Betriebe (1886), auf das Baugewerbe und die Seeschiffahrt (1887). Die Zahl der gegen Unfall Versicherten stieg — auch durch Erhöhung der Versicherungspflichtgrenze von 2.000 auf 3.000 M — von 4,1 M i l l , i m Jahre 1887 auf fast 19 M i l l , i m Jahre 1900. Nicht ganz so stürmisch verlief die Ausdehnung der Rentenversicherung, doch stieg die Zahl der Versicherten auch hier durch Zunahme 83
zen.
I n der Zeit 1885 - 1900 ergingen 10 Änderungsgesetze zu den 3 Erstgeset-
84 Detlev Zöllner, Planung u n d Durchführung von Gesundheitsmaßnahmen i n Entwicklungsländern, i n : Soziale Sicherung durch soziales Recht, Festschr. f. Horst Peters, hrsg. v o n Hans F. Zacher, Stuttgart 1975, S. 239. 85 Horst Peters, S. 57.
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der Arbeitnehmer sowie durch Bundesratsbeschlüsse und ein Änderungsgesetz (1900) um rd. ein Drittel. b) Leistungen Hinsichtlich der Leistungsvoraussetzungen wurde i m Invalidenversicherungsgesetz 1899 der Invaliditätsbegriff neu gefaßt: Die ZweiDrittel-Grenze blieb zwar, doch wurde erstmalig die Zumutbarkeit einer Verweisung auf andere Tätigkeiten begrenzt, indem als Maßstab eine Tätigkeit gesetzt wurde, „die i h m unter billiger Berücksichtigung seiner Ausbildung und seiner bisherigen Tätigkeit zugemutet werden kann". Ursprünglich war es allein auf die „Kräfte und Fähigkeiten" des Versicherten angekommen. I m Bereich der Sach- und Dienstleistungen machten die Rentenversicherungsträger unverzüglich Gebrauch von der ihnen eingeräumten Möglichkeit, unter bestimmten Bedingungen auch Krankenfürsorge zu übernehmen. I m Vordergrund der Bemühungen stand die Bekämpfung der Tuberkulose, die eine häufige Invaliditätsursache war. 1894 wurden die ersten Lungenkranken zur K u r verschickt, ein Jahr später wurde die erste eigene Heilstätte der Rentenversicherung eröffnet, der bald weitere Einrichtungen folgten. Aufgrund der ersten Erfahrungen wurde die zugrunde liegende gesetzliche Vorschrift i m Invalidenversicherungsgesetz 1899 erweitert; die Träger wurden ermächtigt, Heilverfahren i n dem ihnen geeignet erscheinenden Umfange durchzuführen. Voraussetzimg blieb jedoch, daß „infolge der Krankheit Erwerbsunfähigkeit zu besorgen ist", welche einen Rentenanspruch begründet. I m Jahr 1900 wurden fast 30.000 Heilverfahren durchgeführt, deren Kosten sich auf rd. 7 °/o der Rentenausgaben beliefen (zum Vergleich 1977: 4 °/o). Auch die Unfallverhütungstätigkeiten der Unfallversicherungsträger liefen bald nach deren Entstehung an. 1886 entstanden die ersten Unfallverhütungsvorschriften. Als die Berufsgenossenschaften i m Jahre 1900 gesetzlich verpflichtet wurden, Sicherheitsbeauftragte anzustellen, hatte deren Mehrzahl dies bereits getan. Durch Zusammenlegung der Schiedsgerichte für einzelne Berufsgenossenschaften m i t den Schiedsgerichten für die Invalidenversicherung entstanden 1899 Schiedsgerichte für die Arbeiterversicherung als erste Ansätze der späteren Sozialgerichtsbarkeit. c) Finanzierung Hinsichtlich der Finanzierung ergab sich bald, daß die ursprünglichen Annahmen über die Invaliditätshäufigkeit überhöht gewesen waren. 7*
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Die Rentenversicherung hatte daher beträchtliche Uberschüsse. I h r Vermögen betrug um die Jahrhundertwende etwa das Zehnfache einer Jahresausgabe. Zwischen den Rentenversicherungsträgern ergaben sich jedoch erhebliche Unterschiede; es gab bald relativ „reiche" und relat i v „arme" Anstalten, w e i l die Altersstruktur der Versicherten und deren Verteilung auf die Lohnklassen sehr unterschiedlich waren. Die ursprüngliche Annahme, daß die Risiken sich innerhalb der Anstalten ausgleichen würden, realisierte sich nicht. Deshalb wurde m i t dem Invalidenversicherungsgesetz 1899 ein begrenztes Gemeinlastverfahren eingeführt, um einen finanziellen Ausgleich unter den Anstalten zu schaffen; i n die Gemeinlast gingen vier Zehntel der Beiträge ein. Dies war der Anfang einer finanziellen Zentralisation bei — oder besser: zur — Aufrechterhaltung der organisatorischen Dezentralisation. Die fortdauernde Bedeutung dieser Entscheidung lag darin, daß man i n der Rentenversicherung, anders als i n der Kranken- und Unfallversicherung, von reichseinheitlichen Leistungen und auch Beiträgen ausging.
I I I . D i e E n t w i c k l u n g seit der Jahrhundertwende 1. Ausbau und Kodifikation (1900 - 1914)
a) Fortgang der sozio-ökonomischen
Umstrukturierung
Die sozio-ökonomischen Faktoren, die die Ausgangslage der Sozialversicherungsgesetzgebung gekennzeichnet hatten, w i r k t e n i n der Zeit bis zum ersten Weltkrieg weiter. Deutschland vollzog i n den letzten Jahrzehnten vor Beginn des ersten Weltkrieges endgültig den Ubergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft. Die Bevölkerung des Deutschen Reiches nahm in der Zeit zwischen der Reichsgründung und dem Beginn des ersten Weltkrieges nochmals um rd. 4 0 % zu. Begünstigt durch die Zunahme der Großbetriebe und den weiteren Ausbau des Eisenbahnsystems setzte sich auch die Urbanisierung rasch fort. I m Zeitraum 1880 - 1914 stieg die Zahl der Bewohner von Städten m i t mehr als 30.000 Einwohnern auf das Dreifache. Die m i t der Bevölkerung wachsende Zahl der Beschäftigten fand weiterhin zunehmend i m sekundären (industriellen) Produktionsbereich Arbeitsplätze; i m Jahre 1914 waren dies 38 °/o aller Beschäftigten. Die Tendenz zu größeren Betriebseinheiten zeigt sich darin, daß i m Zeitraum 1882 - 1907 der A n t e i l der Beschäftigten i n Betrieben m i t weniger als 6 Beschäftigten sich halbierte, während derjenige i n Betrieben m i t über 1.000 Beschäftigten auf das Zweieinhalbfache stieg 86 . 86 Materialien zur Statistik des Kaiserreiches 1870 - 1914, v o n G. Hohorst, J. Kocka, G. A. Ritter, 2. Aufl., München 1978, S. 58.
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Die Industrieproduktion stieg i n der Zeit 1890 - 1914 auf das Zweieinhalbfache. Expandierende Faktoren waren die Produktion von Stahl und Roheisen, die chemische Industrie, die Elektroindustrie und der Schiffbau. Durch ein schnelles Wachstum holte Deutschland eine Entwicklung nach, die i n anderen westeuropäischen Ländern — vor allem England — sich Jahrzehnte früher vollzogen hatte. Deutschland wurde zunehmend zu einem Exporteur industrieller Produkte. Die Entwicklung zur Arbeitnehmergesellschaft setzte sich fort. I n dem Zeitraum 1882 - 1907 sank der Anteil der Selbständigen an allen Erwerbstätigen von 32 auf 22 v. H.; entsprechend stieg der Anteil der Arbeitnehmer von 68 auf 78 v. H. I n den gleichen Zeitraum fällt auch das durch zunehmende Funktionsteilung i n den größeren Betrieben bedingte starke Anwachsen der Angestellten. Ihre Zahl stieg auf das Siebenfache, ihr A n t e i l an den Erwerbspersonen von 1,9 auf 5,2 v. H. Weiter erhöhte sich der Anteil der weiblichen Arbeitnehmer, und zwar insbesondere unter den Angestellten. Der A n t e i l der Frauen an allen Arbeitnehmern i n Industrie, Handel und Verkehr (ohne Landwirtschaft) stieg von 13 auf 20 v. H. (1882 - 1907), unter den Angestellten jedoch von 2 auf 12 v. H. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad der Arbeitnehmer erhöhte sich beträchtlich. Der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder an allen Arbeitnehmern (ohne Landwirtschaft) betrug 1890 etwa 6 °/o, 1900 etwa 11 % und 1913 etwa 32 °/o. Die industrielle Expansion hatte ein deutliches Ansteigen des Volkseinkommens zur Folge. Je Kopf der Bevölkerung stieg es i m Jahrzehnt 1891 - 1900 u m 2 0 v . H . ; i m folgenden Jahrzehnt 1901-1910 sogar u m fast 30 °/o an. Der durchschnittliche Jahresverdienst der Arbeitnehmer i n Industrie, Handel und Verkehr stieg von 1895 = 100 bis 1913 auf nominal 163 und real 125. Die durchschnittliche tägliche Arbeitszeit ging von 12 Std. um 1870 auf 9,5 Std. u m 191487 zurück. b) Das politische Kräftefeld Die stürmische Umstrukturierung von Wirtschaft und Gesellschaft reflektierte sich i n politischer Repräsentation und sozialen Verhaltensmustern nur m i t deutlicher Phasenverschiebung. Von den wichtigsten i m Reichstag vertretenen politischen Gruppierungen blieb i n der Periode von der Reichsgründung bis zum ersten Weltkrieg allein das Zentrum i n seinem Stimmenanteil bei den Reichstagswahlen weitgehend konstant u m 20 v. H. Die konservativen Parteien erhielten bis 1887 etwa 25 v. H. der Stimmen, fielen dann aber kontinuierlich auf 12 v. H. zurück. Auch der Stimmenanteil der Liberalen halbierte sich. 87 Vorstehende Angaben teils entnommen, teils errechnet aus Materialien, S. 67, 69, 107, 135, 156.
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Diese Parteien hatten bei der ersten Reichstagswahl fast die Hälfte aller Stimmen erhalten; 1890 lagen sie bei einem Drittel, 1912 bei einem Viertel. Die Verluste der Konservativen und Liberalen kamen der SPD zugute. Deren Stimmenanteil lag bei der ersten Reichstagswahl bei 3 °/o; er erhöhte sich bis 1884 auf 10 °/o, stieg 1890 — nach Aufhebung des Sozialistengesetzes — ruckartig auf 20 °/o, um dann recht kontinuierlich bis auf 35 °/o i m Jahre 1912 anzusteigen. Diese Veränderung des Stimmenanteils spiegelte sich allerdings nicht proportional i n der Verteilung der Reichstagsmandate wieder. Infolge des Direkt-Wahlsystems und der seit 1871 unverändert gebliebenen Wahlkreis-Einteilung führte die Binnenwanderung der Bevölkerung dazu, daß die Industriezentren und Großstädte zugunsten der Landgebiete benachteiligt waren. Aus diesem Grunde erhielten ζ. B. bei den Wahlen von 1903 die Konservativen 13,5 °/o der Stimmen, aber 18,9 °/o der Sitze; die Sozialdemokraten dagegen hatten bei 31,7 °/o der Stimmen nur 20,4 % der Sitze 88 . Stärker noch als Wahlergebnisse und Sitzverteilung i m Reichstag hinkte die rechtliche und bewußtseinsmäßige Integration der Arbeiterschaft i n Gesellschaft und Staat den tatsächlichen Verhältnissen nach. Engagierte und kenntnisreiche Sozialpolitiker kennzeichneten die Situation u m die Jahrhundertwende so: M i t dem „Monumentalwerk" der Arbeiterversicherung stehe das Deutsche Reich i m internationalen Vergleich an der Spitze, i m Arbeiterschutz ringe es m i t anderen Ländern u m die Palme, „hinsichtlich der Gleichberechtigung der Arbeiter, dieses Edelsteins aller Sozialreform, haben w i r uns weit überholen lassen" 89 . Als Kernstück der Gleichberechtigung wurde nicht nur von Sozialreformern, sondern auch von Gewerkschaftlern und Sozialdemokraten das Koalitionsrecht angesehen. Die Forderung nach Koalitionsrecht und rechtlicher Fundierung des Tarifvertragswesens hatte für die Führer der Arbeiterbewegung deutliche Priorität. Daß demgegenüber die Forderung nach Ausbau der Sozialversicherung nicht m i t gleicher Dringlichkeit vorgetragen wurde, hing auch damit zusammen, daß die Errungenschaften der Sozialversicherungsgesetzgebung von Regierung und bürgerlicher Publizistik stark herausgestellt und als Argument gegen weitere sozialpolitische Aktivitäten angeführt wurden. Während der Widerstand gegen einen Ausbau der Sozialversicherung i n Regierung und Reichstagsmehrheit nur hinhaltend, jedenfalls aber überwiegend undogmatisch war, w a r derjenige gegen Koalitionsfreiheit und Tarifvertragsrecht hart und prinzipieller Natur 9 0 . 88 A l l e vorstehenden Angaben zu den Reichstagswahlen aus Materialien, S. 173 ff. 89 Ernst Francke, in: Soziale Praxis I X , 1899, Sp. 865.
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Hinsichtlich der Weiterentwicklung der Sozialversicherung war die Situation um die Jahrhundertwende offen. Es gab i m politischen Raum einerseits keine spürbar treibende Kraft, andererseits keine entscheidenden Widerstandskräfte. Die konservativen Kräfte hatten sich m i t der Existenz der Sozialversicherung abgefunden; die Regierung verwies auf die erreichten Erfolge und hielt eine Phase der Konsolidierung für angebracht; die Arbeiterbewegung bejahte das Erreichte und verwies auf die Notwendigkeit des Ausbaus. Seit 1899 (aus Anlaß einer Novelle zum Invalidenversicherungsgesetz) stimmte die SPD-Fraktion des Reichstages den Sozialversicherungsgesetzen zu, vor allem wohl, weil eine Ablehnung von ihrer Wählerschaft nicht verstanden worden wäre, und weil der zunehmende Einfluß der erstarkenden, pragmatisch denkenden und handelnden Gewerkschaften auf die Partei entdogmatisierend wirkte. U m einen Ausbau der Sozialversicherung zu verwirklichen, bedurfte es jedoch zusätzlicher Anstöße. Nicht zum politischen, wohl aber zum geistesgeschichtlichen Kolorit dieser Zeit gehört das Erscheinen eines Buches über „Unerwünschte Folgen der deutschen Sozialpolitik", das i n kurzer Zeit mehrere A u f lagen erreichte und lebhaft diskutiert wurde. I n dem Buch wurden Rentenhysterie, parteipolitischer Mißbrauch sozialpolitischer Institutionen sowie staatliche Reglementierung beklagt 9 1 . Die hier erstmals geschlossen vorgelegten Argumente gegen die Sozialversicherung sind seither von konservativer Seite i n mehr oder minder modifizierter Form oft wiederholt worden und bis heute ständige Begleiter des weiteren Ausbaus der sozialen Sicherung gewesen. Doch ungeachtet dieser Diskussion hatte sich die Sozialversicherung in der gleichen Zeit konsolidiert. c) Konsolidierung
der Sozialversicherung
Fortgang der Industrialisierung, Zunahme der Arbeitnehmer und Erhöhung der Arbeitseinkommen i m ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts schufen gute Voraussetzungen für eine Weiterentwicklung der Sozialversicherung, die nicht von bedeutenden Problemen belastet war. Nach wie vor ging es i n erster Linie um den Ausbau des nunmehr bereits bewährten Systems und der Anwendung gewonnener Erfahrungen. Diese Erfahrungen waren sowohl auf Seiten der Verwaltung als auch auf Seiten der Versicherten gut. 90 Zahlreiche Belege bei Rolf Neuhaus, Die Gesellschaft f ü r Soziale Reform 1901 - 1914, Magisterarbeit, Bonn 1978. 91 L u d w i g Bernhard, Unerwünschte Folgen der deutschen Sozialpolitik, B e r l i n 1912. Gegenargumente bei Herkner, S. 365 f.; die damalige Diskussion griff auch auf England über: Lewis S. Gannett, Bernhard, Unerwünschte f o l g e n der deutschen Sozialpolitik and its critics, Quarterly Journal of Economics, vol. X X V I I I (1914), S. 561 ff.
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Die Zahl der Versicherten stieg i m Zeitraum 1900 - 1914 i n der Krankenversicherung von 9,5 auf 15,6 Mill., i n der Unfallversicherung von rd. 19 auf rd. 28 M i l l . Der Anteil der gegen Krankheitsfolgen geschützten Personen (Versicherte und deren mitversicherte Familienangehörige) an der Bevölkerung betrug etwa 35 °/o. Ein Änderungsgesetz i m Jahre 1903 verlängerte die Bezugsdauer des Krankengeldes von 13 auf 26 Wochen. Die Rentenversicherung zahlte i m Jahr 1913 rd. 1,2 M i l l . Renten, und zwar ganz überwiegend wegen Invalidität; nur weniger als 10 °/o aller Renten waren Altersrenten. Die Zahl der Krankenkassen hatte sich von ursprünglich rd. 18.000 insbesondere durch Zunahme der Ortsund Betriebskrankenkassen bis auf rd. 23.000 i m Jahre 1910 erhöht. Die Versicherungsträger bildeten zur Wahrnehmung gemeinsamer Aufgaben Verbände. Bereits 1885 war der „Verband der Deutschen Berufsgenossenschaften" gegründet worden; 1894 entstand der Centraiverband der Ortskrankenkassen, 1907 der Verband deutscher Betriebskrankenkassen, 1910 der Hauptverband deutscher Innungskrankenkassen und 1912 der Verband kaufmännischer eingeschriebener Hilfskassen (Ersatzkassen). Diese Verbandsbildung war vom Gesetzgeber nicht vorgesehen gewesen; sie entstand aus Bedürfnissen der Praxis und auf Initiative der Selbstverwaltung. Die Konsolidierung der Sozialversicherung zeigte sich insbesondere auch i m Hinblick auf deren Finanzlage. Alle drei Versicherungszweige hatten von Beginn an bis 1914 jährlich einen beträchtlichen Einnahmeüberschuß. Dieser führte zu einem Vermögensbestand, der i n der Rentenversicherung i n der gesamten Periode 1894 -1914 m i t nur leichten Schwankungen etwa dem 8fachen der jeweiligen Jahresausgabe entsprach. Aus der heutigen Sicht des modifizierten Umlageverfahrens war dies eine enorm hohe Rücklage. Aus der Sicht des damals vorgeschriebenen Kapitaldeckungsverfahrens blieb die Vermögensansammlung weit hinter dem Erforderlichen zurück. I n der Krankenversicherung thesaurierten sich die Einnahmeüberschüsse zu einem Vermögensbestand, der seit der Jahrhundertwende knapp einer Jahresausgabe entsprach. Der durchschnittliche Beitragssatz der Krankenkassen stieg bis 1913 von 2 auf 3 % an. Weniger mühelos als auf organisatorischem und finanziellem Gebiet vollzog sich die Konsolidierung i m Hinblick auf die Beziehungen zwischen Krankenkassen und Ärzten. Der Gesetzgeber hatte diese Beziehungen als so problemlos angesehen, daß er ursprünglich keinerlei Regelung vorgesehen hatte. Seit 1892 hatten die Kassen das gesetzliche Recht, durch Satzung das Arztsystem festzusetzen sowie Zahl und Person der Kassenärzte zu bestimmen; man ging dabei vom Einzeldienstvertrag aus. I n der Praxis hatten die Krankenkassen sich zur V e r w i r k -
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lichung des ihnen vorgegebenen Sachleistungsprinzips überwiegend vertraglich der Dienste von Bezirksärzten bedient und damit eine begrenzt freie A r z t w a h l sichergestellt. Damit war nur ein Teil der Ärzte zur Behandlung der Kassenmitglieder zugelassen. Den daraus entstehenden Konflikt beschrieb ein Zeitgenosse so: „Von ärztlicher Seite ist geradezu behauptet worden, die Versicherungsgesetzgebung habe zum Ruin des ärztlichen Standes geführt. Die beklagten Mißstände erwachsen aber nicht so sehr aus der gesetzlichen Versicherung, als aus der Überfüllung des ärztlichen Standes. . . . So ist unter den Ärzten ein gegenseitiges Unterbieten eingetreten, das sich die Krankenkassen zunutze gemacht haben 9 2 ." Der Hintergrund dieser Feststellung war sehr real: I n der Zeit 1876 - 1900 hatte sich die Arztdichte u m 50 % erhöht 9 3 . Die Auseinandersetzungen i n den 90er Jahren gingen vor allem um die beiden Fragen, ob die Kassen alle oder nur ausgewählte Ärzte zuzulassen und ob sie Einzel- oder Kollektivverträge abzuschließen hätten. I n dieser Situation wurde i m Jahre 1900 der „Verband der Ärzte Deutschlands" (Hartmannbund) gegründet u. a. m i t dem Ziel der unbeschränkten freien Zulassung aller niedergelassenen Ärzte zur Kassenpraxis. Der Verband bewirkte eine rege publizistische Tätigkeit, die; aber selbst 1911 (RVO) keine weitere gesetzliche Vorschrift zur Folge hatte, als daß der Abschluß schriftlicher Verträge zwischen Ärzten und Krankenkassen obligatorisch wurde. Erst nach Ankündigung und Vorbereitung eines ärztlichen Generalstreiks i m Jahre 1913 kam es zum „Berliner Abkommen" zwischen Ärzten und Krankenkassenverbänden. Damit hatte der Hartmannbund seine Anerkennung als Vertragspartner der Krankenkassen erreicht — eine Anerkennung, die die Gewerkschaften zu dieser Zeit noch nicht erreicht hatten. I m übrigen sah das Berliner Abkommen vor: — Zulassung mindestens eines Arztes auf je 1.350 Versicherte (bei Familienbehandlung auf je 1.000 Versicherte); — als Kassenarzt w i r d nur zugelassen, wer von einem Registerausschuß gewählt ist; — der Einzelvertrag des Arztes bedarf der Zustimmung eines paritätisch besetzten Vertragsausschusses. Damit waren nach langwierigen und heftigen Auseinandersetzungen von der Selbstverwaltung i m rechtsfreien Raum Grundlagen gelegt, die durch alle späteren gesetzgeberischen Normen verfeinert und modifiziert, nicht aber prinzipiell geändert wurden. Zugleich waren grund92
Herkner, S. 361. I m gleichen Zeitraum 1876 - 1900 hat sich die Z a h l der Krankenhausbetten je Einwohner verdoppelt. 93
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sätzliche Alternativen, wie etwa bei Krankenkassen angestellte Ärzte, die nach der Rechtslage weiterhin möglich blieben, faktisch ausgeschlossen. d) Die Reichsversicherungsordnung aa) Gang der Kodifikation Die sozialpolitische Diskussion nach der Jahrhundertwende zentrierte u m 3 Themenkreise: die Wünschbarkeit und Machbarkeit der Einbeziehung weiterer Personenkreise i n die Versicherungspflicht, die fehlende Hinterbliebenensicherung sowie die Unübersichtlichkeit und Uneinheitlichkeit des Rechts und der Organisation der Sozialversicherung. Die Diskussion über diese Fragen erreichte allerdings nicht die Breite und Tiefe der Ausgangsphase i n den 70er und 80er Jahren. Es mag dahingestellt bleiben, ob dies trotz oder wegen der guten Konsolidierungserfolge der Sozialversicherung der Fall war; ein gewichtiger Grund war sicherlich die Tatsache, daß i n den Augen der Arbeiterbewegung und vieler Sozialreformer Fragen des Arbeitsrechts Vorrang hatten. Doch ungeachtet dessen stagnierte die Entwicklung der Sozialversicherung keineswegs. Der Wunsch nach Vereinfachung von Recht und Organisation der Sozialversicherung verdichtete sich 1903 zu einer Reichstags-Entschließung, i n der ersucht wurde, „ i n Erwägung darüber einzutreten, ob nicht die drei Versicherungsarten . . . zum Zwecke der Vereinfachung und Verbilligung i n eine organische Verbindung zu bringen und die bisherigen Arbeiterversicherungsgesetze i n einem einzigen Gesetz zu vereinigen seien" 94 . Die Regierung ließ sich Zeit m i t ihren Erwägungen. Als sie sich schließlich vier Jahre später äußerte, lehnte sie eine Zusammenlegung der Versicherungszweige ab, stellte aber eine Kodifikation i n Aussicht. I m März 1908 legte sie den Länderregierungen Grundzüge der Reichsversicherungsordnung vor. Dem Reichstag ging der Entwurf der RVO i m März 1910 zu; der Entwurf eines Einführungsgesetzes zur Aufnahme von Übergangsbestimmungen folgte. Beide Gesetze wurden 1911 angenommen und verkündet. Sie traten i n K r a f t für die Rentenversicherung am 1. 1. 1912, für die Unfallversicherung am 1. 1. 1913 und für die Krankenversicherung am 1. 1. 1914. Die Reichsversicherungsordnung faßte alle bestehenden Arbeiterversicherungsgesetze i n systematischer Gliederung zusammen. Sie enthielt aber auch eine Reihe sachlicher Neuerungen.
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Verhandlungen des Reichstags, Bd. 188, S. 9201.
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bb) Neuerungen Hinsichtlich des Personenkreises war entscheidend, daß die Krankenversicherungspflicht jetzt auch auf alle Arbeitnehmer i n der Landwirtschaft ausgedehnt wurde, die bisher nur vereinzelt durch Ortsstatuten versichert gewesen waren. Außerdem wurden Dienstboten, unständige Arbeiter sowie das Haus- und Wandergewerbe — insgesamt fast 7 M i l l . Personen — einbezogen. Die Versicherungspflichtgrenze für Angestellte wurde auf 2.500 M erhöht. Dies w a r faktisch allerdings eine Herabsetzung; da der Durchschnittsverdienst sich zwischen 1883 und 1913 fast verdoppelt hatte, war das Verhältnis der Versichenmgspflichtgrenze zum Durchschnittsverdienst ( = 1) von 3,0 auf 1,8 abgesunken; es wurde jetzt auf 2,3 erhöht. I n der Unfallversicherung wurde die Versicherungspflichtgrenze auf 5.000 M erhöht. Weitere Neuerungen waren hier die Einführung des Einspruchverfahrens bei Rentenfestsetzung und die Ermächtigung an den Bundesrat, den Schutz der Unfallversicherung auch auf bestimmte Berufskrankheiten auszudehnen. Die Reichsversicherungsordnung beseitigte die rd. 8.500 gemeindlichen Einrichtungen der Krankenversicherung; die dort Versicherten (rd. 1,7 Mill.) wurden i m wesentlichen Mitglieder der Ortskrankenkassen. Dadurch erhöhte sich der A n t e i l der bei den Ortskrankenkassen Versicherten an allen Versicherten — der 1885 bei etwa einem Drittel gelegen hatte (zwei Drittel Betriebskrankenkassen) — auf etwa 60 °/o. Als neue Kassenart wurden die Landkrankenkassen geschaffen. Da deren Zahl bei weitem nicht die Zahl der beseitigten gemeindlichen Träger erreichte, beginnt m i t der RVO der bis heute andauernde Konzentrationsprozeß der Krankenversicherungsträger. Die eingeschriebenen Hilfskassen wurden nicht i n die RVO einbezogen; sie werden seither als Ersatzkassen von den „RVO-Kassen" unterschieden. Ein besonderes Gesetz i m Jahre 1911 hob das frühere Hilfskassengesetz auf und unterstellte die eingeschriebenen Hilfskassen als Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit dem Gesetz über die privaten Versicherungsunternehmungen. Allerdings regelte die RVO das Verhältnis zu den reichsgesetzlichen Kassen und die Voraussetzungen für die Zulassung der Hilfskassen als „Ersatzkassen". Bezüglich der Krankenversicherung war vielfach darüber geklagt worden, daß i n deren Verwaltung und Selbstverwaltung infolge der Zweidrittel-Besetzung m i t Vertretern der Versicherten die Sozialdemokratie dominiere. Dem entgegenzuwirken diente die Vorschrift der RVO, daß der Vorsitzende und die leitenden Angestellten der Kasse von der Mehrheit sowohl der Versicherten als auch der Arbeitgeber gewählt werden müssen; das gleiche galt für Satzungsänderungen. I m
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Falle der Nicht-Einigung hatte die Aufsichtsbehörde zu entscheiden. „Diese Neuerungen wurden getroffen, um Mißbräuche parteipolitischer A r t , die früher unter der Herrschaft des unbeschränkten Majoritätsprinzips i n manchen Ortskrankenkassen aufgetreten waren, einen w i r k samen Riegel vorzuschieben 95 ." Diese Neuerungen waren es unter anderem, die die SPD-Fraktion des Reichstages veranlaßten, gegen die RVO zu stimmen. Schließlich brachte die Reichsversicherungsordnung eine Vereinheitlichung des Verfahrensrechts der Versicherungsträger und eine einheitliche Gestaltung der Versicherungsbehörden. Es wurden Versicherungsämter bei den unteren Verwaltungsbehörden und Oberversicherungsämter bei den höheren Verwaltungsbehörden vorgeschrieben. Sie traten an Stelle der bisher bestehenden Schiedsgerichte und sonstige für Streitfälle zuständigen Instanzen. Wichtiger für den Fortgang der Sozialpolitik war aber die ebenfalls m i t der RVO eingeführte Hinterbliebenensicherung i m Todesfall. e) Hinterbliebenensicherung Eine Rentenzahlung an Hinterbliebene eines verstorbenen Versicherten war i n der Erst-Gesetzgebung nur für die Unfallversicherung vorgesehen; hier erhielt die Witwe 20 °/o des Jahresarbeitsverdienstes des Verstorbenen. I n der Rentenversicherung war keine Hinterbliebenenrente vorgesehen; die Begründung bezeichnete eine solche Leistung zwar als wünschenswert, aber vor allem aus finanziellen Gründen als undurchführbar. Das Gesetz sah lediglich eine Erstattung der vom Versicherten geleisteten Beiträge an die Witwe vor, wenn der Verstorbene vorher keine Rente bezogen hatte. I n der Öffentlichkeit, aber auch i m Reichstag wurde die Einführung der Hinterbliebenensicherung wiederholt gefordert. I n der sozialpolitischen Diskussion wurde als Beleg für deren Not darauf hingewiesen, daß bei den Witwen die Sterblichkeit, die Selbstmordrate und die Beteiligung an Vermögensdelikten deutlich höher sei als bei verheirateten Frauen 9 6 . Z u einem Fortschritt i n der Sache führte ein zusätzlicher Anstoß, der sich aus einer spezifischen parlamentarischen Situation ergab. I m Jahre 1901 legte die Reichsregierung den Entwurf eines Zolltarifgesetzes vor, das eine Anhebung der Zölle insbesondere auf Agrarprodukte, aber auch der Industriezölle vorsah. Die Vorlage war i n der Öffentlichkeit 95
Herkner, S. 353. Materialien hierzu bei Wolfgang Dreher, Die Entstehung der Arbeiterwitwenversicherung i n Deutschland, B e r l i n 1978, S. 39. 96
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und i m Reichstag heftig umstritten. Die Konservativen (Landwirtschaft) wünschten höhere Zölle, die Sozialdemokraten waren wegen der Auswirkungen auf die Lebenshaltungskosten gegen die Zollerhöhungen. Für das Schicksal der Vorlage w a r ausschlaggebend die Haltung des Zentrums. I n dieser Fraktion konnten die agrarisch orientierten Befürworter der Vorlage die Zustimmung ihrer „linken" Fraktionskollegen nur gegen ein kompensierendes Zugeständnis zugunsten der Verbraucher (sprich: Arbeitnehmer) erlangen. Man einigte sich auf die Hinterbliebenenrente als Kompensationsobjekt. Zentrumsabgeordnete stellten i n Ausschuß und Plenum den Antrag, der zur Einfügung des § 15 i n das Zolltarifgesetz vom 25. 12. 1902 führte 9 7 . Er schrieb vor, daß der den Durchschnitt der Jahre 1898 - 1903 übersteigende Ertrag aus bestimmten Landwirtschaftszöllen zur leichteren Einführung einer Hinterbliebenenversicherung angesammelt werde; ferner wurde das Reich verpflichtet, eine solche Hinterbliebenenversicherung bis zum 1.1.1910 zu schaffen 98 . Aus diesem Grunde war die Hinterbliebenensicherung bereits i m ersten Entwurf der Reichsversicherungsordnung von 1908 enthalten. Voraussetzung für die Rentengewährung an die Witwe war deren Invalidität. Es wurde unterstellt, daß der Arbeiterwitwe i n der Regel die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zuzumuten sei, auch dann, wenn sie Kinder zu erziehen hatte und vorher nicht erwerbstätig gewesen war. Man hat berechnet, daß etwa 75 °/o der nicht invaliden Arbeiterw i t w e n nach dem Tode des Ehemannes eine Erwerbstätigkeit neu aufnehmen mußten 9 9 . Die Rente wurde nicht gewährt, wenn die Witwe selbst invalidenversichert war; sie erhielt i n diesem Falle einen Jahresbetrag der Witwenrente als Abfindung. Schließlich galt die neue Regelung nur für Todesfälle nach dem 1. 1. 1912. Die i m Jahre 1912 zugehenden Witwenrenten betrugen aufgrund einer Mindestregelung 87 M jährlich. Das entsprach 47 °/o der durchschnittlichen Höhe der Invaliditätsrenten und 9 °/o des durchschnittlichen Jahresarbeitsverdienstes. Die Hinterbliebenenversorgung war also nach Voraussetzung und Höhe unzureichend. Doch ungeachtet dessen war ein Grundstein für die weitere, bis in die Gegenwart andauernde Entwicklung gelegt.
97 Sog. „lex T r i m b o r n " : der A n t r a g wurde angenommen m i t den S t i m men des Zentrums u n d der SPD gegen diejenigen der Konservativen u n d Freisinnigen bei Spaltung der Liberalen; vgl. zu weiteren Einzelheiten Dreher (Anm. 96), S. 41 f. 98 Dieser T e r m i n wurde i m Hinblick auf die bevorstehende Reichsversicherungsordnung zweimal verlängert. 99 Dreher (Anm. 96), S. 73.
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f)
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Angestelltenversicherung
Nachdem die Sozialversicherungs-Gesetzgebung wirksam geworden war und von den Betroffenen fast überwiegend als Verbesserung ihrer Lage empfunden wurde, regte sich auch bei den nicht versicherten A n gestellten — über 2.000 M Jahresverdienst — ein Interesse an Einbeziehung i n die Versicherung. 1901 wurde ein Interessenverband der Angestellten m i t dem Hauptziel gegründet, eine Versicherungspflicht zu erreichen. Die Bestrebungen erhielten Auftrieb durch die Tatsache, daß i m Jahre 1906 i n Österreich ein Gesetz über die Versicherung von A n gestellten verabschiedet wurde (dort gab es noch keine Arbeiterversicherung). Nach Erörterung zweier Denkschriften legte die Regierung dem Reichstag i m M a i 1911 — wenige Tage vor der Plenarberatung der Reichsversicherungsordnung — den Entwurf eines Angestelltenversicherungsgesetzes vor, der zügig beraten und noch i m gleichen Jahr verabschiedet wurde; das Gesetz trat am 1.1.1913 in Kraft. Eine der Hauptfragen i n der vorparlamentarischen Diskussion war, ob die Invalidenversicherung zugunsten der Angestellten auszubauen, oder eine Sondereinrichtung für Angestellte zu schaffen sei. Innerhalb der Angestelltenschaft waren die Meinungen zunächst geteilt, neigten sich aber m i t fortschreitender Zeit mehrheitlich zugunsten einer Sondereinrichtung. I n Regierung und Parlament wurde die Sondereinrichtung favorisiert aus finanziellen Gründen — eine Einbeziehung i n die Arbeiterversicherung hätte die Erweiterung des Reichszuschusses auf den neuen Personenkreis zur Folge gehabt — sowie aus politischen Gründen. „Abgesehen von einem Entgegenkommen gegenüber den Wünschen der Angestellten waren politische Gründe für die Errichtung dieser Sonderversicherung maßgebend. Man wollte die Front des M i t telstandes . . . dadurch erweitern, daß man die Angestellten aus der breiten Front der Arbeitnehmer herauslöste 100 ." Es wurde die Reichsversicherungsanstalt für Angestellte i n Selbstverwaltung der Angestellten gegründet. Das Angestelltenversicherungsgesetz erfaßte neu Angestellte m i t einem Jahreseinkommen zwischen 2.000 und 5.000 M, umfaßte aber auch alle bisher bereits versicherungspflichtigen Angestellten (zusammen etwa 1,4 M i l l . Personen). Der letztere Personenkreis blieb jedoch i n der Arbeiterversicherung; er war doppelt versichert. Die Angestelltenversicherung erhielt keinen Reichszuschuß; die von Arbeitgebern und Arbeitnehmern je zur Hälfte aufzubringenden Beiträge waren ungleich höher als i n der Arbeiterversicherung: i n den unteren Gehaltsklassen 8 v. H. des Gehalts (einschließlich des Beitrags zur Invalidenversicherung), i n den höheren Gehaltsklassen 7 v. H. Dieser i m Vergleich zur Arbeiterversicherung rd. vierfach höhere Beitragssatz 100
Syrup-Neuloh, S. 134.
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schuf einen finanziellen Spielraum, der entscheidende Verbesserungen nicht nur hinsichtlich der Rentenhöhe, sondern auch hinsichtlich der Rentenvoraussetzungen ermöglichte: — Altersgrenze 65 Jahre (70 bei Arbeitern); — unbedingte Witwenrente (Invalidität bei Arbeitern); — Berufsunfähigkeit bei Minderung der Erwerbsfähigkeit um 50 v. H. (66 2/3 v. H. bei Arbeitern); — stärker eingeschränkte Verweisbarkeit bei Feststellung der Invalidität (Berufsunfähigkeit) ; — Waisenrenten bis zum 18. Lebensjahr (Arbeiter 15). Diese qualitativen Unterschiede stärkten das Selbst- und Sonderverständnis der Angestellten für lange Zeit ganz i m Sinne der Befürworter einer Sonderregelung. Sie gaben andererseits Anlaß für das jahrzehntelange beharrliche Streben der Arbeiterschaft nach Gleichbehandlung, das sich i n der Tat schrittweise bis 1957 vollzog. Insofern hat die Entscheidung des Jahres 1911 für eine Sondereinrichtung der Angestellten — sicherlich ungewollt — dieser eine Schrittmacher-Funktion zugewiesen, die ungleich stärker zur Auswirkung kam als es bei der noch weiter fortentwickelten Beamtenversorgung der Fall war. 2. Der Erste Weltkrieg
Überraschend für die Beobachter der sozialpolitischen Szenerie gliederte sich die Arbeiterschaft i m Jahre 1914 reibungslos i n das Kriegsgeschehen ein. Die sozialpolitische Diskussion verstummte zunächst. Erst m i t zunehmender Dauer des Krieges und der durch i h n verursachten Belastungen lebte sie wieder auf. U m die M i t w i r k u n g der unter physischem, wirtschaftlichem und psychischem Druck stehenden Arbeiterschaft zu erhalten, arbeitete insbesondere die m i t weitgehenden Vollmachten ausgestattete Militärverwaltung großenteils vorurteilslos m i t den Gewerkschaften zusammen und erkannte diese faktisch an. Für die Gewerkschaftsführer hatten indes während dieser Zeit nicht sozialversicherungsrechtliche Fragen Priorität, sondern Fragen des individuellen und mehr noch des kollektiven Arbeitsrechts, die seit Bismarck immer wieder vertagt worden waren. I n dieser Beziehung „erwies sich i m Sinne der Sozialreform der Vorkriegszeit der erste Weltkrieg als der große Schrittmacher der Sozialpolitik . . . Anerkennung der Gewerkschaften, volle Koalitionsfreiheit, Arbeiterausschüsse, Tarifvertragswesen, Schlichtungseinrichtungen . . . hatten i m Kriege ihren Beginn, zum Teil hatten sie i n dieser Zeit ihre Gestalt, zum Teil wenigstens die Umrisse ihrer Formen erhalten" 1 0 1 . 101
L u d w i g Preller, S. 85.
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Die während des Krieges erweiterten Aufgaben des Staates führten 1917 zur Errichtung des Reichswirtschaftsamtes unter Einschluß der sozialpolitischen Aufgaben, die aus dem Reichsamt des Innern ausgegliedert wurden. I m Oktober 1918 wurde ein Reichsarbeitsamt errichtet, dessen Leiter ein Gewerkschaftsführer (Gustav Bauer) wurde. Die konsolidierte Sozialversicherung erbrachte während des ersten Weltkrieges den Beweis ihrer Funktionsfähigkeit auch unter erschwerten Bedingungen. Es kam nirgends zu ernsten Schwierigkeiten bei der Erfüllung ihrer Aufgaben. Die Gesetzgebung dieser Zeit brachte i m wesentlichen Regelungen der Anpassung an die besonderen Verhältnisse des Krieges, die jedoch überwiegend nicht grundsätzlicher A r t waren. Von weiter reichender Bedeutung w a r die Einführung der Wochenhilfe i m Dezember 1914 für die Ehefrauen von versicherten Kriegsteilnehmern und i m A p r i l 1915 für die Ehefrauen aller Kriegsteilnehmer sowie die Herabsetzung der Altersgrenze in der Rentenversicherung der Arbeiter vom 70. auf das 65. Lebensjahr i m Jahre 1916. 3. Die Weimarer Republik (1919 - 1932)
a)
Rahmenbedingungen
Die Ereignisse am Ende des ersten Weltkrieges führten i m November 1918 zum Zusammenbruch der Monarchie und am 11. August 1919 zur Unterzeichnung der Weimarer Verfassung. Sie schuf gegen manche, auch gewalttätige Widerstände von links- und rechtsextremen Kräften unter entscheidender Prägung durch Persönlichkeiten der Sozialdemokratie und der Gewerkschaftsbewegung eine parlamentarisch regierte demokratische Republik. Das innenpolitische Gewicht, das die Sozialversicherung inzwischen gewonnen hatte, schlug sich darin nieder, daß sie i n der Weimarer Verfassung als Aufgabe des Staates verankert wurde (Art. 161). Der Inhalt der Politik der Weimarer Republik wurde i n erheblich stärkerem Maße als vor dem Kriege von der wirtschaftlichen Entwicklung beeinflußt. Zwar setzten sich i n einem allgemeinen Grundzug die Tendenzen der Vorkriegszeit fort: — Rückgang der i m primären Sektor Beschäftigten und Zunahme der Beschäftigten i m tertiären Bereich; — Zunahme der Realeinkommen; — zunehmende Urbanisierung, vor allem Wachstum der Großstädte; — Zunahme der durchschnittlichen Betriebsgröße.
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Hinzu kam als neue Erscheinung eine Verschiebung der Altersstrukt u r der Bevölkerung. Zwischen 1911 und 1934 stieg der Anteil der 45 65jährigen Personen von 15 auf 21 v. H. an; der über 65jährige Bevölkerungsanteil stieg von 5 auf 7 v. H. an. Für das Verständnis der starken Prägung politischer und sozialpolitischer Vorgänge durch die wirtschaftliche Entwicklung sind nicht diese durchgehenden Tendenzen, sondern die wirtschaftlichen Wechsellagen i n der Zeit der Weimarer Republik maßgebend. I n dieser Beziehung heben sich drei Perioden voneinander ab: — die Nachkriegs jähre (1919 - 1923) m i t der Umstellung auf die Friedensproduktion und der Inflation; diese w a r durch eine gigantische Reichsschuld i n Höhe des Dreifachen des Volkseinkommens des Jahres 1914 ausgelöst worden; — die Stabilisierungsphase 1924 - 1929 m i t Währungsreform, umfangreichen Investitionen und hohen Wachstumsraten; — die Weltwirtschaftskrise (1929 - 1933) m i t rückläufiger Produktion, sinkenden Reallöhnen und katastrophaler Arbeitslosigkeit. Die Lohnabhängigkeit der Mehrheit der Bevölkerung i n Verbindung m i t einem durch den Krieg und die politische Veränderung gewandelten Bewußtsein der Arbeitnehmerschaft gab der Arbeitsmarktlage einen hohen innenpolitischen Stellenwert. Nach Kriegsende w a r die hochschnellende Arbeitslosigkeit (fast 3 Mill.) Anlaß zu ernster Sorge und einer Reihe von Abhilfemaßnahmen. Doch bereits i m Laufe des Jahres 1919 sank die Zahl drastisch ab. Auch ein erneuter Anstieg während der Inflationszeit (auf rd. 4 Mill.) w a r nur vorübergehender Natur. Als katastrophal i n ihrer wirtschaftlichen und politischen Auswirkung erwies sich die seit 1929 stetig ansteigende Zahl der Arbeitslosen; sie überschritt i m Winter 1931/32 die 6-Millionen-Grenze; etwa jeder dritte Arbeitnehmer war ohne Arbeit. Diese Situation schlug sich unmittelbar i n den Reichstagswahlergebnissen der NSDAP nieder: 20. 05.1928 14. 09.1930 31. 07.1932 06.11.1932 05. 03.1933
2,6 v. 18,3 v. 37,3 v. 33,1 v. 43,9 v.
H. H. H. H. H.
I n der Zeit rückläufiger Steuereinnahmen und wachsender Defizite der öffentlichen Haushalte entschied sich die Reichsregierung (Brüning) für eine Deflationspolitik. Sie beruhte auf dem Grundgedanken, durch Preis- und Kostensenkung eine Wiederbelebung der Wirtschaft zu erreichen; dabei sollten Defizite vermieden werden. Es wurden Steuern 8 Sozialversicherung
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gesenkt, Gehälter und Pensionen des öffentlichen Dienstes gekürzt, Arbeitnehmer entlassen und ein Baustopp verhängt. Diese Politik wurde weitgehend unter Ausschluß des Reichstages m i t Notverordnungen auf der Grundlage des Artikels 48 der Reichsverfassung durchgesetzt. Die allgemeine sozialpolitische Entwicklung war i n der ersten Nachkriegszeit zunächst durch Erfüllung alter Forderungen i m Bereich des Arbeitsrechts gekennzeichnet. — Unmittelbar nach Kriegsende wurde die Gesindeordnung sowie landesrechtliche Ausnahmegesetze bezüglich Landarbeitern aufgehoben und die bei Kriegsbeginn suspendierten Arbeitsschutzbestimmungen wieder in Kraft gesetzt. — Art. 165 der Weimarer Verfassung brachte die Tarif autonomie zur gleichberechtigten Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen; schon vorher hatte eine Verordnung über Tarifverträge, Arbeiterund Angestelltenausschüsse und Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten vom 23. Dezember 1918 den Begriff des Tarifvertrages, dessen Unabdingbarkeit sowie die Möglichkeit seiner Allgemeinverbindlichkeitserklärung festgelegt. — Einführung des 8-Stundentages i m November 1918. — Das Betriebsrätegesetz von 1920 verbesserte die Wahrnehmungsmöglichkeiten der Arbeitnehmerinteressen i m Betrieb. — Ein Gesetz über die Beschäftigung Schwerbeschädigter (1920) enthielt einen Einstellungszwang für Betriebe m i t bestimmter Beschäftigtenzahl. Während der Stabilisierungsphase ergingen folgende Regelungen: — Die bisherige Armenpflege wurde reformiert und zur reichsrechtlichen Fürsorge (jetzt Sozialhilfe) weiterentwickelt (1924); — das Knappschaftswesen (1923);
wurde
nach Reichsrecht
vereinheitlicht
— Einführung der Arbeitsgerichtsbarkeit (1926); — Einführung der Arbeitslosenversicherung (1927). I n der Zeit der Weltwirtschaftskrise wurde die Deflationspolitik der öffentlichen Haushalte auch auf den Bereich der sozialen Sicherung angewandt. Leistungsvoraussetzungen wurden erschwert, Geldleistungen herabgesetzt. Die Sozialversicherung durchlebte i n den ersten Nachkriegs jähren und sodann wieder während der Weltwirtschaftskrise außergewöhnlich stürmische Zeiten im Hinblick auf die Wechsellagen ihrer Finanzen und
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die Häufigkeit von Rechtsänderungen. Die Jahre 1930 -1932 waren eine Reduktionsphase der Sozialversicherung. Ihre Grundstrukturen blieben jedoch dessen ungeachtet erhalten. Längst sahen Sozialdemokraten und Gewerkschaftler, gegen deren Willen in dieser Zeit nichts Entscheidendes bewirkt werden konnte, die Sozialversicherung als „ihre", als verteidigungswürdige Angelegenheit an. Auch Arbeitgeber und Industrie, zwar weiterhin bedacht auf geringe Belastungen, fanden sich nicht nur m i t der Existenz der Sozialversicherung ab, sondern bejahten sie. Daneben standen die Mitglieder der Selbstverwaltungsorgane sowie die Bediensteten der Sozialversicherungsträger, die i n der Grundtendenz stabilisierend wirkten und sich zugleich stärker als in der Vorkriegszeit öffentliches Gehör verschafften. Es ist daher von nur geistesgeschichtlichem Interesse, zu erwähnen, daß 1928/29 — während der Stabilisierungsphase — mehrere Publikationen erschienen, die grundsätzliches Unbehagen an der Sozialversicherung äußerten 102 . Dabei wurden Argumente aufgegriffen — Sittenverdernis, Verweichlichung, Rentenneurose — die bereits i n dem Jahrzehnt vor dem ersten Weltkrieg — ebenfalls während einer Stabilisierungsphase — artikuliert worden waren 1 0 3 , und die später — abermals i n einer Stabilisierungsphase — während der Reformdiskussion der 50er Jahre noch einmal aufleben sollten. b) Die Entwicklung
der klassischen Zweige
Ungeachtet der Dominanz arbeitsrechtlicher Neuregelungen in den ersten Jahren der Weimarer Republik war die gesetzgeberische A k t i v i tät auch auf dem Gebiet der Sozialversicherung enorm hoch. I m Zeitraum 1883- 1918 war durchschnittlich je Jahr ein Gesetz zum Bereich der Sozialversicherung ergangen; i m Zeitraum 1919- 1932 waren es durchschnittlich 6 Gesetze pro Jahr. Die Mehrzahl erging in den Jahren 1921 (12 Gesetze), 1922 (22 Gesetze) und 1923 (16 Gesetze) 104 . Diese Vielzahl von Gesetzen gab Anlaß für die Neubekanntmachung der RVO vom 15. 12. 1924. Allerdings indizieren diese Zahlen keineswegs eine gleich gewichtige sozialpolitische Weiterentwicklung. Die Mehrzahl der gesetzlichen Regelungen hatte adaptiven Charakter; es wurden Abgrenzungsfragen, Verfahrensregeln, Organisation und nominale Größen i m Beitrags- und 102 Gustav Harz, Irrwege der deutschen Sozialpolitik, B e r l i n 1928; E r w i n Liek, Die Schäden der sozialen Versicherung, München 1928; Ernst Horneffer, Frevel am Volke, Leipzig 1929. 103 Vgl. A n m . 91. 104 Eine eingehendere Analyse der Gesetzgebungsfrequenz zur Sozialversicherung w i r d der Verfasser an anderer Stelle vorlegen.
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Leistungsrecht den besonderen und vielfach andersartigen, vor allem aber sich schnell ändernden wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Bedingungen der Nachkriegs jähre und der Inflations jähre angepaßt. Den Charakter sozialpolitischer Weiterentwicklungen hatten folgende Regelungen. aa) Personenkreis Hinsichtlich des Personenkreises wurde ab 1923 die Doppelversicherung von Angestellten geringeren Einkommens auch in der Rentenversicherung der Arbeiter beseitigt; gleichzeitig wurde die Möglichkeit der Selbstversicherung (bis zum 40. Lebensjahr) eingeführt. Erhöhungen der Versicherungspflichtgrenze i n mehreren Stufen (bis 1928 auf 8.400 RM) brachten diese auf das Vierfache des Durchschnittsverdienstes; diese relative Höhe ist vorher und nachher nicht erreicht worden. Die Versichenmgspflichtgrenze i n der Krankenversicherung wurde durch Anpassungen i n den Jahren 1925 und 1927 auf eine relative Höhe gebracht, die etwa der heutigen entspricht. I n der Unfallversicherung wurde eine Begrenzung der Versicherung nach der Einkommenshöhe i m Jahre 1923 abgeschafft; eine Reihe weiterer Betriebsarten wurde i n die Unfallversicherung einbezogen. Neuartig war (1928) die Einbeziehung von Personen, die bei der Lebensrettung einen Unfall erleiden. Diese Lösung von betriebsbezogenen Tätigkeiten i m Hinblick auf Tätigkeiten, die i m öffentlichen Interesse liegen, w a r der erste Schritt auf dem Wege zu der jetzt langen Liste versicherter Personen i m § 539 RVO, die heute gelegentlich unter dem Stichwort „unechte" Unfallversicherung diskutiert wird. bb) Geldleistungen Bezüglich der Leistungsvoraussetzungen Weiterentwicklungen :
gab es folgende wichtige
— Einführung des Anspruches auf Wochenhilfe der Krankenversicherung für alle weiblichen Versicherten (1919). — Bezugsdauer der Waisenrenten aus der Rentenversicherung bis zum 18. Lebensjahr (1923). — Ausdehnung des Unfallversicherungsschutzes auf Berufskrankheiten; Anerkennung von zunächst 11 (1925), später 22 Berufskrankheiten (1929). — Einbeziehung der Wegeunfälle i n den Unfallversicherungsschutz (1925). — Recht auf Witwenrente i n der Arbeiterrentenversicherung bei Vollendung des 65. Lebensjahres auch ohne Invalidität (1927).
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— Recht auf Rente wegen Berufsunfähigkeit aus der Angestelltenversicherung auch bei Vollendung des 60. Lebensjahres nach einjähriger Arbeitslosigkeit (1929). — I n der knappschaftlichen Rentenversicherung w i r d Rente wegen Berufsunfähigkeit unter folgenden Voraussetzungen gewährt: a) 300 Beitragsmonate, b) 180 Beitragsmonate wesentlich bergmännische Arbeit, c) Vollendung des 50. Lebensjahres und d) keine Verrichtung gleichwertiger Lohnarbeit. Die Geldleistungen wurden i n allen Zweigen wiederholt erhöht, doch brachten diese Erhöhungen keine bleibende Verbesserung der Relation zum Erwerbseinkommen, sondern allein eine — vor allem während der Inflation — nachträgliche Anpassung an gestiegene Löhne und Preise. Das auch nach der Währungsstabilisierung noch niedrige Rentenniveau w i r d dadurch gekennzeichnet, daß i m Jahre 1929 30 °/o der Rentner i n Städten (22 %> in Landkreisen) zusätzlich Fürsorgeunterstützung erhielten. Weitere 20 % erhielten nur deshalb keine Fürsorge, weil sie zusätzlich Arbeitseinkommen hatten 1 0 5 . Neu eingeführt wurde i m Jahre 1928 i n der Unfallversicherung die Möglichkeit der Zahlung einer Kapitalabfindung zum Erwerb oder zur Erhaltung von Grundbesitz anstelle der Rentenzahlung. cc) Sach- und Dienstleistungen I m Bereich der Sach- und Dienstleistungen wurde als eine neue Leistungsart i m Jahre 1925 die Berufsfürsorge i n der Unfallversicherung eingeführt. Aus- und Fortbildungsmaßnahmen waren nicht nur zur Wiedergewinnung oder Erhöhung der Erwerbsfähigkeit i m bisherigen Beruf, sondern auch für einen neuen Beruf vorgesehen. Die Versicherungsträger konnten M i t t e l zur Beschaffung von Arbeitsgelegenheit und zur Schaffung von Einrichtungen für die Berufsfürsorge verwenden. Es w a r also neben der individuellen auch bereits die institutionelle Förderung i m Ansatz vorhanden. Dies war ein bedeutungsvoller Einstieg i n einen Maßnahmenbereich, der sich rasch weiterentwickelte und der nach dem zweiten Weltkrieg unter dem zeitweise sehr populären Stichwort „Rehabilitation" auch den Trägern der Rentenversicherung und der Bundesanstalt für Arbeit übertragen wurde. dd) Finanzierung Bezüglich der Finanzierung konnten sich die Kranken- und Unfallversicherung mittels des Umlageverfahrens den wechselnden Bedingun105 W o l f r a m Fischer, Wirtschaftliche Bedingungen u n d Faktoren bei der Entstehung u n d E n t w i c k l u n g v o n Sozialversicherungen, i n : Bedingungen f ü r die Entstehung u n d E n t w i c k l u n g v o n Sozialversicherung, i n : Zacher, S. 95.
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gen so anpassen, daß grundlegende Hechtsänderungen erst während der Weltwirtschaftskrise erforderlich wurden. Die Rentenversicherung der Arbeiter hatte i m Jahre 1917 ein Vermögen i n Höhe von 2,5 Mrd. M ; dies entsprach knapp dem Zehnfachen einer Jahresausgabe. Dieses Vermögen war allerdings fast ausschließlich als Kriegsanleihe gezeichnet. Nach der Inflation war praktisch kein Vermögen mehr vorhanden (0,25 Mrd. RM). Mehr als 30 Jahre nach Errichtung der Versicherung war man hinsichtlich der Anforderung des Kapitaldeckungsverfahrens wieder beim Stande Null. Da die Umstände die Weiterzahlung und Erhöhung der Leistungen erforderten, andererseits wesentliche Beitragserhöhungen nicht erlaubten, praktizierte man de facto ein Umlage verfahren, wenngleich de jure das Kapitaldeckungsverfahren — bis 1957! — bestehen blieb. Unbeschadet zahlreicher Änderungen bezüglich des Reichszuschusses blieb der Anteil der Reichsmittel an den Ausgaben der Rentenversicherung bis 1931 m i t etwa 30 v. H. so hoch, wie er bei Kriegsende gewesen war. ee) Auswirkungen der Deflationspolitik Oben wurde erwähnt, daß die prozyklisch wirkende Deflationspolitik der Reichsregierung während der Weltwirtschaftskrise auch auf die Sozialversicherung angewandt wurde. U m die Ausgaben den durch Minderbeschäftigung und Lohnreduzierung rückläufigen Einnahmen anzupassen, wurden durch Notverordnungen der Jahre 1930 -1932 insbesondere folgende Maßnahmen getroffen: — Wegfall der Verletztenrente der Unfallversicherung bei einer M i n derung der Erwerbsfähigkeit um weniger als 20 v. H. (bis dahin 10 v. H.); es fielen rd. 130.000 Renten weg; die Ausgaben reduzierten sich dadurch um 10 v. H. — Die Höhe der Verletztenrente wurde um 7,5-15 v. H. gekürzt. — Die laufenden Renten aus der Rentenversicherung wurden um 6 RM, die Neurenten um 7 R M monatlich gekürzt (Einsparung 410 M i l l . R M jährlich). — Kinderzuschuß und Waisenrente der Rentenversicherung enden mit Ablauf des 15. Lebensjahres. — Ruhen der Rente bei Bezug von Krankengeld, Unfallrente oder Versorgungsbezügen. — Einführung einer Krankenscheingebühr und eines Arzneikostenanteils von je 50 Rpf. (Bereits 1923 war eine Arzneikostenbeteiligung von 10 v. H. eingeführt worden.) — Einführung einer Grundlohnhöchstgrenze (10 R M täglich).
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— Beginn des Krankengeldes mit dem 4. Tage der Arbeitsunfähigkeit (bis dahin: der Krankheit). — Beschränkung der Leistungen der Krankenversicherung Regelleistungen. Die Leistungsverschlechterungen hatten enorme Gesamtausgaben der Sozialversicherung, die bis Größen kontinuierlich angestiegen waren, sanken nämlich von 4,4 Mrd. R M in 1930 auf 3,3 Mrd. R M versicherung erlebte ihre größte Reduktionsphase.
auf die
Auswirkungen. Die dahin i n absoluten um ein Viertel ab, in 1932. Die Sozial-
Aus heutiger Sicht sind diese Maßnahmen noch verstehbar, soweit sie erforderlich waren, um in Zeiten rückläufiger Löhne und steigender Arbeitslosigkeit Beitragserhöhungen zu vermeiden. Nicht mehr verstehbar sind sie bezüglich der Rentenversicherung. Die Arbeiterrentenversicherung hatte bis 1930 wieder ein Vermögen von 1,6 Mrd. R M ( = 13 Monatsausgaben), angesammelt, aus dem das Defizit — i n den Jahren 1931 und 1932 je rd. 180 Mill. R M — noch lange hätte gedeckt werden können. Die Angestelltenversicherung hatte wegen ihres jüngeren Versichertenbestandes und geringerer Auswirkungen der Arbeitslosigkeit nie Defizite und baute ihr Vermögen i n der Zeit 1929 - 1932 um 766 M i l l . R M auf; das entsprach fast dem Dreifachen ihrer Jahresausgabe von 1932. Sie erhielt einzig die Auflage, zur Entlastung des Reiches Teile ihres Vermögenszuwachses in Reichsbahnaktien anzulegen. Der Horror vor einem deficit spending und die Faszination durch das errechnete versicherungstechnisch erforderliche Deckungskapital (1931 für die Arbeiterrentenversicherung 18 Mrd. RM) muß unter den Entscheidungsträgern enorm gewesen sein! ff) Organisation I n bezug auf die Organisation setzte sich der Konzentrationsprozeß in der Krankenversicherung fort. I m Jahre 1932 war die Zahl der Krankenkassen auf rd. 6.600 abgesunken. 62 v. H. der Versicherten waren Mitglieder der Ortskrankenkassen, 14 v. H. der Betriebskrankenkassen und 9 v. H. der Ersatzkassen. Eine grundlegende Neuregelung erfuhr das Knappschaftswesen. Die Primärgesetzgebung der 80er Jahre hatte die bestehenden Knappschaftskassen weitgehend unberührt gelassen; sie unterlagen weiterhin Landesrecht. Das Reichsrecht schrieb den Knappschaftskassen lediglich vor, mindestens die Leistungen der Betriebskrankenkassen zu erbringen. Hinsichtlich der Rentenversicherung wurde ihnen freigestellt, diese auf Antrag anstelle der Landesversicherungsanstalten durchzuführen; hiervon machten die meisten Knappschaftskassen Gebrauch. Lediglich für
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die Unfallversicherung war eine Knappschaftsberufsgenossenschaft für das ganze Reichsgebiet entstanden. A m Ende des ersten Weltkrieges bestanden 110 Knappschaftsvereine. Diese Zersplitterung und vor allem der nur partiell geregelte Übertritt zwischen den Vereinen hatte seit längerem die Forderimg nach einer reichsgesetzlichen Zusammenfassung des Knappschaftswesens ausgelöst. Ein diese Forderung erfüllender Gesetzentwurf wurde als Reichsknappschaftsgesetz 1923 verkündet. Ein Reichsknappschaftsverein (ab 1926 Reichsknappschaft) führt für alle Beschäftigten in bergbaulichen Betrieben die Kranken- und Rentenversicherung (für Arbeiter und Angestellte) durch. Hinsichtlich der Unfallversicherung verbleibt es bei der Knappschaftsberufsgenossenschaft. Aus dem Bereich der Selbstverwaltung ist zu erwähnen, daß die mit der RVO eingeführte getrennte Abstimmung der Versicherten- und A r beitgebervertreter i n den Organen der Krankenversicherungsträger durch Verordnung i m Februar 1919 aufgehoben wurde, so daß die Zweidrittelmehrheit der Versichertenvertreter wieder ausschlaggebend war. Dieses Datum erhielt später für die Maßnahmen der politischen Verfolgung durch das NS-Regime Bedeutung. c) Normierung
des Kassenarztrechts
Während der Weltwirtschaftskrise wurden die Grundlinien des heutigen Kassenarztrechts ausgeformt. Diese Ausformung war allerdings Ergebnis einer längeren, konfliktreichen Entwicklung. Das „Berliner Abkommen" zwischen Ärzten und Krankenkassen (vgl. oben I I I , 1, c) hatte deren Verhältnis zueinander geregelt und auch während der ersten Nachkriegs jähre m i t Ausnahme eines Ärztestreiks 1920 seine befriedende Wirkung getan. Z u erneuten Spannungen kam es, als das auf 10 Jahre befristete Berliner Abkommen Ende 1923 auslief. I m Oktober wurden die wesentlichen Bestimmungen dieses Abkommens i n die RVO aufgenommen, wogegen die Ärzte protestierten. I m November 1923 kam es zu einem Ärztestreik, der i m allgemeinen bis i n den Januar, i n Berlin bis in den Juni 1924 dauerte. I n dieser Situation richtete der Verband Berliner Krankenkassen Ambulatorien m i t angestellten Ärzten zur Sicherstellung der ärztlichen Versorgung ein. Diese aus einer Konfliktsituation geborene Maßnahme gab später Anlaß für viele Grundsatzdiskussionen. Sie wurde von den Verbänden der freiberuflichen Ärzte sofort als bedrohlich empfunden und energisch bekämpft. Immerhin war das Gewicht der 38 Ambulatorien und der in ihnen tätigen Ärzte inzwischen so groß geworden, daß ihr Fortbestand nach Ende des Streiks vertraglich gesichert wurde.
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Neue Spannungen entstanden, als die Regierung i n Reaktion auf die Mindereinnahmen der Krankenkassen i m J u l i 1930 eine Notverordnung erließ, nach der die Kassen entweder ärztliche Prüfstellen bilden oder Vertrauensärzte vor allem für die Durchführung von Nachuntersuchungen anstellen mußten. Zwar hatte die Verordnung gleichzeitig die Verhältniszahl zwischen zuzulassenden Ärzten und Versicherten auf 1 :1.000 verbessert (Berliner Abkommen 1 :1.350); auch gab es zu dieser Zeit bereits mehr als tausend Vertrauensärzte der Krankenkassen. Deren Verallgemeinerung und rechtliche Verankerung löste jedoch den Widerstand der Ärzte aus. Beunruhigend unter den Ärzten w i r k t e auch die Tatsache, daß mit dem Gedanken gespielt wurde, i n der Krankenversicherung das System festangestellter Ärzte einzuführen 1 0 6 . Bemerkenswert war jedoch, daß die Reaktion der Ärzte angesichts der finanziellen Notlage der Kassen offensiv und konstruktiv war. Der Ärztetag 1931 beschloß eine Gesamtvergütung; d. h. die Ärzteschaft wollte einen bestimmten A n t e i l an den Kasseneinnahmen gesichert wissen selbst angesichts der Gefahr, daß diese Einnahmen absolut rückläufig wären. Dieses Grundkonzept wurde von der Regierung i n einer Verordnung des Jahres 1932 107 übernommen und i m Sinne gleichberechtigter Selbstverwaltung der Beteiligten ausgebaut. Die innenpolitische Situation veranlaßte die Regierung, die Verhältniszahl abermals zugunsten der Ärzte zu verbessern (1 : 600); i m übrigen legte sie jedoch ein geschlossenes System zur Regelung der Beziehungen zwischen Ärzten und Krankenkassen vor. — Errichtung Kassenärztlicher Vereinigungen (KV) als öffentlich-rechtliche Körperschaften; diesen obliegt die Sicherstellung der kassenärztlichen Versorgung. — Verpflichtung zum Abschluß von Verträgen zwischen den K V e n und den Krankenkassen. — Die Krankenkasse zahlt eine vereinbarte Honorarsumme (Kopfpauschale) m i t befreiender Wirkung gegenüber dem einzelnen Arzt an die K V (Gesamtvergütung). Die Kopf pauschale ist an den Grundlohn gekoppelt. — Die K V stellt den Honorarverteilungsmaßstab auf und übernimmt die Haftung für Arzneiverordnungen. — Zulassung zur kassenärztlichen Tätigkeit durch paritätisch besetzte Zulassungsausschüsse. 106 107
Sauerborn (Anm. 74), S. 211. Verordnung v o m 14. 1. 1932 (RGBl. I, S. 19).
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Dieses System zur Regelung des Verhältnisses zwischen Krankenkassen und Ärzten ist zwar seither i n vielen Einzelheiten modifiziert, weiterentwickelt, teils auch aufgehoben worden; i n seinen Grundelementen — Selbstverwaltung, Gesamtvergütung, Sicherstellung der ärztlichen Versorgung und Kontrolle der kassenärztlichen Tätigkeit durch die kassenärztliche Vereinigung — besteht es jedoch bis heute und hat seine Funktionsfähigkeit im Vergleich zu alternativen Lösungsmöglichkeiten i n wechselnden Situationen wiederholt bewiesen. d) Einführung
der Arbeitslosenversicherung
Die Einführung einer Arbeitslosenversicherung oder auch nur einer staatlichen Arbeitsvermittlung erschien den Schöpfern der Sozialversicherung unmöglich. Die Frage wurde als Problem der Gesetzgebung i n den 80er und 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts nicht ernsthaft erörtert. Aktivitäten entwickelten zunächst Gewerkschaften und Kommunen; außerdem entstanden gewerbliche Vermittlungsstellen sowie Arbeitsnachweisstellen bei Arbeitgeber- und Industrieverbänden. Vor dem ersten Weltkrieg waren auf diese Weise mehr als 2.000 öffentliche oder verbandliche Arbeitsnachweiseinrichtungen und etwa 7.000 Stellenvermittlungsbetriebe entstanden. 1910 verabschiedete der Reichstag ein Stellenvermittlergesetz, das Voraussetzungen für die Zulassung zur gewerblichen Stellenvermittlung regelte. Bei Gewerkschaften und Städten waren auch Unterstützungskassen für den Fall der Arbeitslosigkeit entstanden; andere Städte zahlten Zuschüsse zu bestehenden Einrichtungen (Genter System). Nach Ausbruch des ersten Weltkrieges stieg die Zahl der Arbeitslosen sprunghaft an 1 0 8 . Dies veranlaßte die Regierung, noch i m August 1914 eine „Reichszentrale für Arbeitsnachweise" zu errichten. Diese konnte zwar koordinierend wirken und die Transparenz des Arbeitsmarktes verbessern, nicht aber die enorm steigende Belastung der bestehenden Unterstützungsfonds mildern. Gewerkschaften und Städte forderten daher eine Beteiligung der öffentlichen Hand an den A u f wendungen. Es kam jedoch während des Krieges nicht zu gesetzgeberischen Maßnahmen, vor allem vohl, weil die Zahl der Arbeitslosen bereits nach wenigen Monaten zurückging und fortan die Beschaffung von Arbeitskräften i m Vordergrund des Interesses stand. Diese Situation änderte sich grundlegend, als m i t dem Ende des Krieges rd. 6 M i l l . Soldaten entlassen wurden; Anfang 1919 gab es über eine M i l l i o n Arbeitslose. A m 13. November 1918 erging eine Verordnung über die Erwerbslosenfürsorge, die die Gemeinden zur Fürsorge für Erwerbslose (in nicht festgelegter Höhe) verpflichtete und eine Be108
Nähere Angaben u n d Gründe bei Preller, S. 6 f.
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teiligung des Reiches (50 v. H.) und des Landes (33 v. H.) an den A u f wendungen festlegte; ab 1923 wurden Arbeitgeber und Arbeitnehmer zur Zahlung von Beiträgen zur Erwerbslosenfürsorge verpflichtet, doch blieben deren Leistungen weiterhin von einer Bedürftigkeitsprüfung abhängig. Parallel zu diesen Vorgängen wurde i m Dezember 1918 ein Ausbau der Arbeitsnachweise unter finanzieller Beteiligung des Reiches angeordnet. Die Zuständigkeit für Arbeitsvermittlung ging vom Demobilmachungsamt zunächst auf den Reichsarbeitsminister, sodann auf das am 15. Januar 1920 errichtete Reichsamt für Arbeitsvermittlung über. A m 1. Oktober 1922 trat ein Arbeitsnachweisgesetz i n Kraft, das Organisationsfragen regelte, die Grundsätze der Unparteilichkeit sowie Unentgeltlichkeit der Vermittlung festlegte sowie die gewerbsmäßige Stellenvermittlung untersagte. Seit Kriegsende wurde auch die Frage einer Arbeitslosenversicherung diskutiert. Gegenüber dem bisher angewandten Fürsorgeprinzip setzte sich rasch das Versicherungsprinzip durch. Als schwieriger erwies sich die Frage, ob und in welchem Maße zwischen den Wirtschaftszweigen ein Risikoausgleich stattfinden solle. I n organisatorischer H i n sicht trat der ursprüngliche Gedanke, die neue Versicherung an die Krankenversicherung anzulehnen, bald gegenüber der Einsicht zurück, daß eine Verbindung von Versicherung und Vermittlung vorrangig sei 1 0 9 . Die Finanzierung durch Beiträge war allgemeine Auffassung, strittig war allein eine Beteiligung des Reiches oder der Gemeinden. Infolge der Inflation verzögerte sich die gesetzgeberische Behandlung der Materie; mehrfach wurden seit 1919 Entwürfe zurückgezogen und geändert. Als Zwischenmaßnahme führte ein Gesetz des Jahres 1926 eine Krisenfürsorge als Unterstützung für die Zeit nach Ablauf der Erwerbslosenfürsorge ein. Sie war ebenfalls von den Gemeinden zu tragen, die drei Viertel der Kosten vom Reich erstattet erhielten. Schließlich trat am 1. Oktober 1927 das Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung i n K r a f t ; dessen Grundelemente waren: — Errichtung der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung als Körperschaft des öffentlichen Rechts m i t Selbstverwaltung (Vertreter der Arbeitgeber, Arbeitnehmer sowie der öffentlichen Hand) und Behördenunterbau (Landesarbeitsämter, A r beitsämter). io» Walter Kaskel, Die gesetzliche Regelung der Arbeitsnachweise als V o r aussetzung der Arbeitslosenversicherung. Sehr. d. Dt. Gesellschaft zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, 1921, Heft 6; hier auch Forderung der V e r einigung beider Aufgaben i n einem Gesetz.
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— Rechtsanspruch auf Arbeitslosengeld; das bisherige System der Erwerbslosenunterstützung t r i t t außer K r a f t ; die Krisenunterstützung nach Ablauf der Unterstützungshöchstdauer (i. a. 26 Wochen) bleibt als Aufgabe der Reichsanstalt erhalten. — Arbeitsvermittlung und Berufsberatung sind Pflichtaufgaben der Reichsanstalt; Festlegung des Vermittlungsmonopols (mit Ausnahmen) der Reichsanstalt. — Versichert sind die bei der Kranken- und der Angestelltenversicherung erfaßten Personen. — Finanzierung allein durch Beiträge der Arbeitnehmer und Arbeitgeber (zusammen 3 v. H.), die von den Krankenkassen eingezogen werden. Schon kurze Zeit nach dem Anlaufen des neuen Gesetzes stieg die Zahl der Arbeitslosen weit über die als normal angenommene Zahl hinaus an. Die Reichsanstalt geriet bereits i m Laufe des Jahres 1929 in finanzielle Schwierigkeiten. Das Reich — seinerseits i n einer finanziellen Krise — mußte m i t Darlehen und Zuschüssen helfen. Man stand vor der Alternative, Leistungen zu kürzen (dafür Arbeitgeber und insbesondere Deutsche Volkspartei) oder Beiträge zu erhöhen (dafür Gewerkschaften und die an der Regierung beteiligten Sozialdemokraten). Als nicht ausreichende Zwischenlösungen wurden Ende 1929 Einsparungen bei den Leistungen und eine bis Juni 1930 befristete Beitragserhöhung auf 3,5 v. H. beschlossen. Als Anfang 1930 erneut entschieden werden mußte, zerbrach die Große Koalition, weil die Sozialdemokraten keine weiteren Leistungsverschlechterungen, die übrigen Regierungsparteien hingegen keine weitere Beitragserhöhung oder Reichsverschuldung hinnehmen wollten 1 1 0 . Inzwischen stieg die Zahl der Arbeitslosen, m i t denen jahresdurchschnittlich gerechnet werden mußte, weiter an. Als die neue Regierung (Brüning) m i t Sanierungsvorschlägen für die Reichsfinanzen und die Arbeitslosenversicherung i m Reichstag nicht durchdrang, wurde der Reichstag aufgelöst. Eine Notverordnung vom 26. J u l i 1930 schrieb Leistungseinschränkungen, einen erhöhten Reichszuschuß sowie einen Beitrag von 4,5 v. H. vor. Gleichwohl stieg das Defizit schnell weiter; u m seine vollständige Übernahme auf den Reichshaushalt zu vermeiden, wurde bereits i m Oktober 1930 der Beitrag auf 6,5 v. H. erhöht. Zugleich suchte das Reich seine Ausgaben für die Krisenunterstützung zu begrenzen m i t der Folge, daß die Fürsorgekosten der Gemeinden an110 Die häufig zu lesende Darstellung, daß die Große K o a l i t i o n „wegen eines halben Beitragprozentes" zerbrach, ist unzulässig vereinfacht. Z u den sehr komplexen u n d ins Grundsätzliche gehenden wirtschaftlichen u n d p o l i t i schen Zusammenhängen vgl. Preller, S. 428 f.
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wuchsen. Eine immer größer werdende Zahl von Arbeitslosen ging den Weg von der Arbeitslosenversicherung über die Krisenfürsorge zur allgemeinen Fürsorge. Ende 1931 wurden i n jedem dieser Zweige etwa ein Drittel der insgesamt 4,5 M i l l . Arbeitslosen unterstützt. Auch die drastische Beitragserhöhung führte nicht zu einem finanziellen Gleichgewicht; eine Notverordnung vom 5. Juni 1931 schrieb neben anderen Einschränkungen drastische Kürzungen der Unterstützungssätze i n Arbeitslosenversicherung und Krisenfürsorge vor. Man diskutierte i n dieser Zeit öffentlich die Suspendierung der Arbeitslosenversicherung unter Rückkehr zu einer bedarfsabhängigen Arbeitslosenhilfe. I m Juni 1932 wurde abermals eine Senkung der Unterstützungssätze sowie eine Begrenzung der Versicherungsleistungen auf 6 Wochen verordnet; danach waren sie von Hilfsbedürftigkeit abhängig. U m der katastrophalen Belastung der Gemeinden entgegenzuwirken, wurde i m November 1932 die Aussteuerung aus der Krisenunterstützung bis zum März 1933 aufgehoben. Bei dieser damals nur für einen Winter gedachten Lösung blieb es fortan 1 1 1 . Das Schicksal der Arbeitslosenversicherung während der ersten Jahre ihres Bestehens ist ein Teilaspekt der Gesamtumstände, die zum politischen Systemwechsel des Jahres 1933 führten. Dieser katastrophal folgenreiche Systemwechsel hat sich, wie zu schildern ist, auch auf die Entwicklung der Sozialversicherung ausgewirkt, wenngleich i n weniger tiefgreifender Weise. e) Ansätze zu Sozialhilfe und sozialer Entschädigung I n der Weimarer Republik wurden neben der Arbeitslosenversicherung zwei weitere Materien wenn auch nicht erstmals, so doch grundlegend neu geregelt. Sowohl das Fürsorge- als auch das Versorgungsrecht wurden einerseits i m Vergleich zur Zeit der Monarchie entscheidend fortentwickelt und erhielten andererseits eine Grundstruktur, die sich ungeachtet aller Fortentwicklung bis heute erhalten hat. Aus den Ursprüngen des Fürsorgerechts heraus (vgl. oben I. 3. a) hatte die Unterstützung das zum Leben Notwendigste zu bieten; i m übrigen ist A r t und Maß der Hilfe der Rechtsetzung der Länder überlassen. Den Unterstützten wurde vielfach — bis 1918 — das Wahlrecht entzogen. Hilfsbedürftigkeit wurde nicht gesehen m i t Blick auf das Subjekt des Hilfsbedürftigen, sondern als Störung der öffentlichen Ordnung. Noch 1901 hieß es i n einer Entscheidung des Bundesamtes für das Heimatwesen: „Einen obligatorischen Anspruch auf Unterstützung hat der Arme nicht. Der Arme ist nicht Subjekt, also nicht Träger des 111 Z u r Geschichte der Arbeitslosenversicherung bis 1939 vgl. Näheres bei Syrup-Neuloh, S. 303 ff., 326 ff., 455 ff.
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Anspruchs, das ist die Allgemeinheit, der Staat. Der Arme ist nur der Gegenstand der den Armenverbänden im öffentlichen Interesse auferlegten Unterstützungspflicht 112 ." Diese Sichtweise entsprach nicht mehr derjenigen der neuen Republik. 1924 ergingen die Reichsverordnung über die Fürsorgepflicht und die Reichsgrundsätze über Voraussetzung, A r t und Maß der öffentlichen Fürsorge. Damit war ein einheitliches, modernisiertes Fürsorgerecht sowie leistungsfähige Fürsorgeträger — kreisfreie Städte und Landkreise — geschaffen. A u f der Grundlage der Individualisierung und der Nachrangigkeit der Hilfe wurden entrechtende Folgen beseitigt, die Hilfe zur Selbsthilfe i n den Vordergrund gestellt und die laufende Hilfe zum Lebensunterhalt nach Richtsätzen (heute Regelsätze) bemessen. Diese Richtsätze sollen den „notwendigen Bedarf" sicherstellen, nicht nur den „unerläßlichen Lebensbedarf", wie bisher. Neben der allgemeinen Fürsorge stand die „gehobene Fürsorge", die für besondere Personengruppen — Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene, Sozialrentner und Kleinrentner (bestimmte Inflationsgeschädigte) bereits früher eingeführt worden war. I n der gehobenen Fürsorge galten erleichterte Leistungsvoraussetzungen, gemilderte Anrechnungsbestimmungen und ein u m ein Viertel erhöhter Richtsatz für den Lebensunterhalt. Die Aufwendungen wurden zum großen Teil vom Reich erstattet. Die Versorgung der Kriegsbeschädigten und -hinterbliebenen war i m Jahre 1906 durch das Mannschafts Versorgungsgesetz und das Offizierspensionsgesetz geregelt worden 1 1 8 . Für beide Gruppen galten unterschiedliche Versorgungssätze, was während des Krieges auf Unverständnis bei vielen Beschädigten stieß, die aus gleichen Berufen kamen und eine gleiche Beschädigung erlitten hatten. Die neue Regierung übertrug zunächst 1919 die Zuständigkeit für das Militärpensions- und -Versorgungswesen von den Militärbehörden auf das Reichsarbeitsministerium. I m Reichsversorgungsgesetz von 1920 wurde die Differenzierung der Rente nach dem militärischen Dienstgrad beseitigt, ebenso Unterscheidungen nach äußeren oder inneren Schädigungsfolgen sowie nach Kriegs- und Friedensschädigungen. Grundlegend für die Rentenbemessung war die Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit; außerdem war die Bedeutung der Beschädigung für den Beruf und für den Einkommensausfall des Geschädigten zu berücksichtigen, was mittels einer stark pauschalierten Ausgleichszulage geschah. Ferner gab es bereits unter bestimmten Bedingungen eine Schwerbeschädigtenzulage, eine Pflegezulage sowie die Kapitalabfin112 113
Z i t i e r t nach W i l h e l m Bangert, Die Sozialhilfe, Stuttgart 1961, S. 4. E i n erstes Militär-Pensionsgesetz w a r 1871 ergangen.
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dung. Ein Rechtsanspruch auf Heilbehandlung wurde eingeführt und deren Durchführung den Krankenkassen übertragen. 4. Die Zeit des Nationalsozialismus (1933 - 1945)
a)
Rahmenbedingungen
Als i m Januar 1933 die nationalsozialistische Partei die Macht i m Reiche übernahm, hatte sie i n bezug auf die Sozialversicherung keine politischen Leitvorstellungen. Das Interesse ihrer einflußreichen Führer war von anderen Fragen absorbiert. Die Entwicklung der Sozialversicherung während dieser Zeit folgte im Grundzug den sachlogischen Notwendigkeiten der bisherigen Entwicklung. Der gesicherte Personenkreis wurde erweitert, die Leistungsbeschränkungen der Depressionsjahre zögernd zurückgenommen, die Organisationsstruktur blieb i m wesentlichen erhalten. Die Eingriffe des neuen Regimes i n die Sozialversicherung waren nicht originär motiviert durch eigene sozialpolitische Vorstellungen, sondern abgeleitet aus allgemeinen politischen Wertungen insbesondere antidemokratischen und rassistischen Inhalts; sie lassen sich auf Macht- und Personalpolitik reduzieren. Die Interesselosigkeit der neuen Machthaber an Sozialpolitik lag begründet i n ihrer fehlenden Tradition und Erfahrung aus der Arbeitswelt. Ein Interesse wurde — m i t Ausnahme der antidemokratisch und rassistisch motivierten Eingriffe — auch später nicht geweckt, w e i l die Sozialversicherung keine politisch relevanten Probleme aufwarf. Das steigende Volkseinkommen und die drastisch sinkende Zahl der Arbeitslosen führten sie rasch aus ihrer Defizitsituation heraus und ließen sie bald zu einer geräuschlos fließenden Finanzierungsquelle für andere Staatsausgaben werden. I n den Augen der Bevölkerung war der Rückgang der Arbeitslosigkeit ein sozialpolitischer Erfolg, angesichts dessen andere Bedürfnisse weniger gewichtig erschienen — abgesehen davon, daß solche Bedürfnisse politisch und publizistisch nicht artikuliert werden konnten. So erklärt sich i m wesentlichen, daß die Sozialleistungsquote drastisch absank nicht nur im Vergleich zur Depressionsphase, sondern auch zur Weimarer Zeit. Die Sozialleistungsquote (öffentliche Sozialleistungen i n v. H. des Volkseinkommens) betrug 1 1 4 : 1927
10,4
1932
20,7
1939
8,7
114 Detlev Zöllner, öffentliche Sozialleistungen u n d wirtschaftliche wicklung, B e r l i n 1963, S. 21.
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Angesichts dieser politischen Rahmenbedingungen blieben Reformvorstellungen, die i n Arbeitsstäben der „Deutschen Arbeitsfront" entwickelt wurden — sie richteten sich auf Einführung einer i m Parteiprogramm vorgesehenen allgemeinen Altersversorgung sowie auf A b schaffung des Arbeitgeberbeitrags bei gleichzeitiger entsprechender Lohnerhöhung — Diskussionsmaterial ohne politische Relevanz. Diskussionspartner w a r wegen des fehlenden politischen „Rückenwindes" i m wesentlichen die Beamtenschaft des Reichsarbeitsministeriums; diese blieb personell weitgehend unverändert, war preußisch-konservat i v oder christlich-sozial orientiert und grundlegenden Reformvorstellungen abhold. Die Abwehr-Diskussion der Jahre 1935 - 1940 wurde m i t den Waffen überlegenen Sachwissens bei flexiblem taktischem Verhalten zäh, aber doch ohne dramatische Höhepunkte durchgestanden 115 . b) Beseitigung der Selbstverwaltung, politische und rassische Verfolgung Dramatisch waren allerdings die machtpolitisch, antidemokratisch und rassistisch motivierten Eingriffe der ersten Jahre des NS-Regimes. Bereits i m M a i 1933 — nur wenige Tage nach der Zerschlagung der Gewerkschaftsbewegung — wurde ein Gesetz zur „Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" sowie ein Gesetz über „Ehrenämter i n der sozialen Versicherung" erlassen. Das erstere Gesetz schuf die Rechtsgrundlage für die Entlassung von 2.500 - 4.000 — oder mindestens 10 v. H. aller — Krankenkassenangestellten 116 ; betroffen waren i n der Hauptsache die Ortskrankenkassen. I n deren Verbandszeitschrift „Die Ortskrankenkasse" motivierte ein Nazi-Funktionär die Maßnahmen später damit, „daß nach der Machtergreifung durch den Führer auch i n den Ortskrankenkassen Wandel geschaffen werden mußte. Es ging darum, die Ortskrankenkassen, die damals zum größten Teil i n den Händen der Marxisten und Juden waren, zurückzugewinnen für ihren eigentlichen Zweck, eine Versicherung der schaffenden Deutschen zu sein" 1 1 7 . Entlassungsgründe waren unter anderem: — Betätigung i m marxistischen (kommunistischen oder sozialdemokratischen) Sinne; — nicht arische Abstammung; — nach der bisherigen politischen Betätigung keine Gewähr für rückhaltloses Eintreten für den nationalen Staat. 115 Diese Bewertung ist Ergebnis v o n Gesprächen des Verfassers m i t f r ü heren Beamten des R A M . ne Florian Tennstedt, Sozialpolitik u n d Berufsverbote i m Jahre 1933, i n : Zeitschrift f ü r Sozialreform, 1979, S. 140. 117
Z i t i e r t nach Tennstedt (Anm. 116), S. 137.
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Nach dem zweiten Gesetz konnten Inhaber ihrer Ehrenämter enthoben werden, wenn sie auf Vorschlag einer wirtschaftlichen Vereinigung — Gewerkschaft — gewählt worden waren und die Vereinigung oder i h r Nachfolger — i m Falle der Gewerkschaften waren dies NS-Organisationen — erklärte, daß der Amtsinhaber ihr Vertrauen nicht besäße. Hiervon war die Mehrzahl der Versichertenvertreter i n den Organen vor allem der Orts- und Betriebskrankenkassen betroffen. Die freiwerdenden Stellen i n Verwaltung und Selbstverwaltung wurden planmäßig m i t NS-Gefolgsleuten besetzt. Die Selbstverwaltung w a r faktisch seit M a i 1933 beseitigt; ihre formale Beseitigung folgte durch das „Aufbaugesetz" vom J u l i 1934, einem Rahmengesetz, das durch insgesamt 17 Verordnungen während der Jahre 1934 - 1942 ausgefüllt und ergänzt wurde. Die Versicherungsträger erhielten staatlich ernannte „Leiter", die der Aufsichtsbehörde verantwortlich waren. Die Selbstverwaltungsorgane wurden beseitigt; lediglich ein „Beirat" war dem Leiter zur Unterstützung und Beratung beigegeben. Die Verfolgung griff auch i n den Bereich der kassenärztlichen Tätigkeit über. Verordnungen des Reichsarbeitsministers i m Jahre 1933 schlossen „Nichtarier" und Personen, die sich i m kommunistischen Sinne betätigt hatten, von der kassenärztlichen Tätigkeit aus. Es ist geschätzt worden, daß dies bis Ende 1933 etwa 2.800 Ärzte oder 8 v. H. aller zugelassenen Kassenärzte betraf. Die Entscheidung über den Ausschluß i m Einzelfall lag bei den kassenärztlichen Vereinigungen; der Ausgeschlossene hatte ein Beschwerderecht an den Reichsarbeitsminister. Es ist erwiesen, daß das Ministerium viele Ausschluß-Entscheidungen der ärztlichen Standesorganisationen aufgehoben hat. Der Ausschluß von der Kassenpraxis war für die Betroffenen existenzvernichtend; denn die kassenärztlichen Vereinigungen informierten die private Krankenversicherung. Der Verband privater Krankenversicherungen versandte die Ausschlußlisten m i t der Überschrift „Liste der staatsfeindlichen Ä r z t e " 1 1 8 . c) Die Rechtsentwicklung Die sozialpolitische Entwicklung 1 1 9 verlief i m übrigen weitgehend auf hergebrachten Bahnen und kann i n mancher Hinsicht als Fortentwicklung bezeichnet werden. Der einbezogene Personenkreis wurde deutlich erweitert. I n die Krankenversicherung wurden weitere Gruppen Selbständiger (Artisten, 118
Tennstedt (Anm. 116), S. 217, 223. Vgl. auch K a r l Teppe, Z u r Sozialpolitik des D r i t t e n Reiches a m Beispiel der Sozialversicherung, A r c h i v f ü r Sozialgeschichte, 1977, S. 195 ff. 119
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Hausgewerbetreibende, Hebammen) sowie (1941) die Rentenempfänger einbezogen, für die der Rentenversicherungsträger einen Pauschalbeitrag je Rentner an die Krankenversicherung abführte. Die Unfall-Versicherungspflicht wurde (1939) auf alle landwirtschaftlichen Unternehmer und deren Ehegatten ausgedehnt, nachdem dies bis dahin nur durch Satzung vorgesehen werden konnte. I n der Unfallversicherung erfolgte weiter ein bedeutsamer qualitativer Wandel. Seit ihrem Beginn war der Versicherungsschutz durch Einbeziehung weiterer Unternehmen i n die Versicherung erweitert worden. Der Verletzte mußte nachweisen, daß er i n einem versicherten Unternehmen zu Schaden gekommen war. Diese Bindung wurde 1942 aufgehoben; versichert war fortan die Tätigkeit (alle auf Grund eines Arbeits-, Dienst- oder Lehrverhältnisses Beschäftigten). Die Betriebsversicherung wurde ersetzt durch eine Tätigkeitsversicherung. Folglich wurde der Begriff „Betriebsunfall" ersetzt durch den Begriff „Arbeitsunfall". I n der Rentenversicherung wurde (1937) allen Staatsangehörigen bis zum 40. Lebensjahr das Recht zur freiwilligen Versicherung eingeräumt (Selbstversicherung). 1938 erging das „Gesetz über die Altersversorgung für das Deutsche Handwerk"; es erstreckte die Versicherungspflicht für den Fall des Alters und der Invalidität erstmals auf einen größeren Kreis Selbständiger ohne die Begründung, daß sie sicherungsbedürftig ähnlich wie Arbeitnehmer seien. Die selbständigen Handwerker wurden beitragspflichtig zur Angestelltenversicherung; sie waren versicherungsfrei, wenn sie für einen privaten Lebensversicherungsvertrag soviel an Prämien zahlten, wie sonst Beiträge zur Angestelltenversicherung zu zahlen gewesen wären. I m Leistungsrecht wurden — wie erwähnt — die i n der Depressionsphase verordneten Kürzungen und Einschränkungen zum großen Teil schrittweise aufgehoben. Verbesserungen, die darüber hinausgingen, waren i n der Krankenversicherung die Aufhebung einer zeitlichen Begrenzung der Krankenpflege sowie die Einführung eines Wochengeldes als Lohnersatz für je 6 Wochen vor und nach der Geburt eines Kindes bei Kostenerstattung durch das Reich (1942). I n der Rentenversicherung waren die Leistungserhöhungen i m wesentlichen adaptiver A r t . Fortgeltende Wirkung hatte die 1942 ergangene Vorschrift, nach der Berechnungsgrundlage für die Renten nicht mehr die gezahlten Beiträge, sondern die bescheinigten Arbeitsentgelte waren. Die Finanzierung der Sozialversicherung bereitete wegen des w i r t schaftlichen Aufschwungs und der zurückhaltenden Leistungspolitik keine ernsten Schwierigkeiten. Die Beitragssätze blieben stabil. Wenn
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gleichwohl 1933 ein Gesetz „zur Erhaltung der Leistungsfähigkeit" der Rentenversicherungen erging und auch das Ausbaugesetz von 1937 Finanzierungsvorschriften enthielt, so ging dies auf das Bestreben zurück, die Voraussetzungen für die Verwirklichung des Anwartschaftsdeckungsverfahrens zu verbessern. Auslösend waren errechnete versicherungsmathematische Fehlbeträge, nicht tatsächliche Defizite; i m Gegenteil, das Vermögen der Rentenversicherung stieg kontinuierlich und kräftig an; es muß te allerdings faktisch sofort wieder gegen Β rief oder Schuldbuchforderungen an das Reich abgeführt werden. I m einzelnen wurde der Reichszuschuß zur Arbeiterrentenversicherung geregelt und erhöht (1933), ein Reichszuschuß zur Angestelltenversicherung sowie eine Reichsgarantie für den Bestand der Rentenversicherung eingeführt (1937). Ferner wurde der Arbeitslosenversicherung eine Mittelabführung an die Rentenversicherung auferlegt. Hier hätte man bei rückläufiger Arbeitslosigkeit eine drastische Senkung des Beitragssatzes vornehmen können. Statt dessen ließ man den hohen Beitragssatz der Depressionsphase (6,5 v. H.) bestehen und verfügte über die Uberschüsse. So waren ab 1938 M i t t e l an die Rentenversicherung i n Höhe von 18 v. H. (ArV) bzw. 25 v. H. (AnV) der Beitragseinnahmen dieser Träger abzuführen. I m übrigen wurden die Überschüsse der Reichsanstalt verwendet für Autobahnbau, Kinderbeihilfen „sowie Mittel für sonstige staatspolitisch wichtige Aufgaben des Reiches. Was dann noch an Überschüssen verblieb, wurde an das Reich zur Deckung allgemeiner Reichsausgaben a b g e f ü h r t . . . I n Wirklichkeit wurde i h r Beitragsaufkommen wie eine Steuer für den Reichshaushalt behandelt und eingezogen" 120 . Ein wichtiger und bleibender Fortschritt vollzog sich hinsichtlich des Beitragseinzugsverfahrens. A n die Stelle des bisherigen Marken-Verfahrens („Kleben") trat 1942 das Lohnabzugsverfahren. Die Krankenkassen übernahmen den gemeinsamen Beitragseinzug auch für die Renten- und Arbeitslosenversicherung; die Berechnungsgrundlage für Beitrag und Lohnsteuer wurde vereinheitlicht. Daraus ergab sich eine verwaltungstechnisch erhebliche Vereinfachung. I n bezug auf die Organisation wurde oben (III. 3. b) die Beseitigung der Selbstverwaltung bereits erwähnt. Das Aufbaugesetz von 1934 und die auf i h m beruhenden Verordnungen brachten darüber hinaus Ä n derungen, die allerdings nicht grundsätzlicher A r t waren: — Die Gemeinschaftsaufgaben der Krankenversicherung werden auf die Landesversicherungsanstalten übertragen; ebenso der vertrauensärztliche Dienst der Krankenversicherung. 120
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— Die Ersatzkassen werden Körperschaften des öffentlichen Rechts. — Die Reichsvereinigungen der Krankenkassen werden als Reichsverbände Körperschaften des öffentlichen Rechts. Die wenig tiefgreifende A r t dieser Änderungen erstaunt i m Rückblick, wenn man bedenkt, daß die voraufgegangene Diskussion, auch i n Fachkreisen, von dem Stichwort „Zersplitterung" ausgegangen war, und daß der politisch tonangebende Zeitgeist auf Vereinheitlichung gerichtet war. Dennoch bekannte sich das Aufbaugesetz auch i n seiner amtlichen Begründung eindeutig zur Beibehaltung des gegliederten Systems der Sozialversicherung. Als Gründe hierfür w i r d man annehmen können: Das nach Beseitigung der Selbstverwaltung und des politisch mißliebigen Personals erlahmte Interesse der Parteiführung; ferner die auf Bewahrung des Bestehenden ausgerichtete Einstellung der M i nisterialbürokratie. Hinzu kam wohl eine zunächst unvermutete Bundesgenossenschaft. Die 1933 i n die Verwaltung der Sozialversicherung eingerückten NS-Funktionäre m i t zum Teil weitreichendem Einfluß wurden recht bald vom bestehenden Apparat absorbiert; sie wurden zum Fürsprecher seiner Erhaltung, weil es auch u m die Erhaltung ihrer neu gewonnenen Position ging. 5. Die Bundesrepublik Deutschland
a)
Rahmenbedingungen
Die Bilanz der nationalsozialistischen Herrschaft und des Krieges w a r katastrophal: Das Deutsche Reich hatte aufgehört zu existieren; die rechtsetzende und vollziehende Gewalt war auf Militärbehörden der Siegermächte übergegangen. Die wirtschaftlichen Kapazitäten i m verbliebenen Deutschland waren i m Durchschnitt aller Wirtschaftszweige auf 70 - 80, i m industriellen Bereich auf 30 - 35 v. H. des Standes von 1937 gesunken 121 . Die unzureichend ernährte, unter Wohnungsnot leidende Bevölkerung nahm ungeachtet der hohen Kriegsverluste durch den Zustrom von Flüchtlingen und Vertriebenen sprunghaft zu. I m Gebiet der heutigen Bundesrepublik lebten 1939 39 M i l l . Einwohner, 1949 waren es 47 M i l l . Der staatliche Wiederaufbau vollzog sich schrittweise von unten. Zunächst wurden 1945/46 die Gemeinde- und Kreisverwaltungen wiederhergestellt; es folgte 1946/47 die Errichtung von Ländern und innerhalb der Besatzungszonen die Schaffung von Zonen-Verwaltungen. Für die britische und amerikanische Zone wurde Anfang 1948 eine bizonale Verwaltung geschaffen. Parallel dazu wurden schrittweise 121
Henning, Bd. 3, S. 184.
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Gesetzgebungsbefugnisse und vollziehende Gewalt von den Militärbehörden auf deutsche Behörden oder Organe übertragen. I m J u l i 1948 erhielten die Ministerpräsidenten der Länder die Vollmacht zur Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung für die Errichtung eines Bundesstaates. Dieser „Parlamentarische Rat" beschloß das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, das am 24. 5. 1949 i n K r a f t trat. I m Herbst 1949 wurde der erste Deutsche Bundestag gewählt und die erste Bundesregierung gebildet. Fast gleichzeitig entstand auf dem Territorium der sowjetischen Besatzungszone die Deutsche Demokratische Republik. Auch das Verbandswesen baute sich „von unten" wieder auf, wobei i m wesentlichen an Traditionen der Weimarer Republik angeknüpft wurde. Eine wichtige Ausnahme waren die Gewerkschaften, die den Gedanken der Richtungsgewerkschaften nicht wieder aufnahmen. Die Industriegewerkschaften schlossen sich 1949 zum Deutschen Gewerkschaftsbund zusammen, der seither ein entscheidender Faktor i m sozialpolitischen Willensbildungsprozeß ist. Parallel zum staatlichen vollzog sich der wirtschaftliche Wiederaufbau. Die ersten Jahre der akuten Notsituation hätten ohne die Hilfe der Besatzungsmächte, vor allem der Nahrungsmitteleinfuhren aus den USA, nicht überstanden werden können. Nach der Währungsreform i m Juni 1948 stieg auch die industrielle Produktion sprunghaft an. Dies hing u. a. damit zusammen, daß die Währungsreform und der m i t i h r einhergehende Abbau der Zwangsbewirtschaftung Ausdruck einer politischen Grundsatzentscheidung zugunsten einer auf Wettbewerb beruhenden Marktwirtschaft („Soziale Marktwirtschaft") war. Die w i r t schaftlichen Wachstumsraten lagen i n den Jahren 1948/49 über 20 v. H.; sie hielten sich bis zur Mitte der 50er Jahre über 10 v. H. und schwanken seither um 5 v. H. I m Jahre 1953 hatte die Versorgung der Bevölkerung m i t Gütern und Diensten des privaten Verbrauchs wieder den Stand des letzten Vorkriegsjahres erreicht 1 2 2 . Durch dieses rasche Wachstum war es möglich, die zunächst hohe Arbeitslosigkeit bald abzubauen. Die Arbeitslosenquote fiel von 12,2 i m Jahre 1950 auf 9,5 i m Jahre 1952 und auf 5,6 i m Jahre 1955; seit Beginn der 60er Jahre herrschte i n der Bundesrepublik Vollbeschäftigung. Die Tendenz zur Arbeitnehmergesellschaft setzte sich fort; der Anteil der abhängig Beschäftigten an allen Erwerbstätigen stieg von 69 v. H. (1950) auf 86 v. H. (1979). Die zwanzigjährige wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung wurde unterbrochen durch eine Rezession i m Jahre 1966/67 und eine weitere be122 Wirtschaft u n d Statistik, 1954, S. 167. M a n frage sich, welcher Versorgungsstand bei 14 Jahren friedlicher E n t w i c k l u n g erreicht worden wäre!
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ginnend m i t dem Jahr 1973. Die Arbeitslosenquote stieg von einem Wert unter 1 bis auf 2,3 i m Jahr 1967, sank dann wieder unter 1, um i m Jahr 1975 den seit 20 Jahren nicht mehr registrierten Stand von 4,7 zu erreichen. Diese Rezessionen waren i m internationalen Vergleich nicht schwerwiegend. Vor dem Hintergrund der vorausgegangenen, anhaltend aufwärts gerichteten Entwicklung hatten sie i n Deutschland einen Bewußtseinswandel zur Folge, der noch nicht abschließend beschrieben werden kann. Für den vorliegenden Zusammenhang ist von Bedeutung, daß sie berichtenswerte Rückwirkungen auf die Sozialversicherung hatten. b) Die Entwicklung
bis zum Grundgesetz (1945 - 1949)
Man hat das Wort „katastrophal" wiederholt auch auf die Situation der Sozialversicherung bei Kriegsende angewandt. Richtig ist, daß i h r Vermögen verloren w a r — wie nach dem ersten Weltkrieg —, und daß zentrale Entscheidungsinstanzen auf staatlicher und verbandlicher Ebene weggefallen waren. Aber: Die örtlichen Leistungsträger existierten weiter und hatten, wenn auch stark geminderte, Beitragseinnahmen. Die Militärbehörden ließen das Recht der Sozialversicherung i n Kraft, lediglich rein nazistisch motivierte Regelungen wurden beseitigt. Auch wurde NS-belastetes Personal aus der Verwaltung entfernt. Diese Umstände hinderten jedoch nicht, daß die Betreuung der Versicherten i m Prinzip und abgesehen von örtlichen Ausnahmen weiterlief. Fehlende Reichseinnahmen und geminderte Beitragseinnahmen zwangen überall zu Leistungsbeschränkungen und -kürzungen. Die Sozialversicherung durchlebte eine weitere Reduktionsphase, doch konnten diese Beschränkungen zum guten Teil bereits i n den Jahren 1946/47, weitgehend i n den Jahren 1948/49 wieder rückgängig gemacht werden. Die Sozialversicherung bestand unter dem Gesichtspunkt der Kontinuität eine weitere, ihre größte Bewährungsprobe. Ihre Institutionen hatten Bestand; ihre Funktionen wurden erfüllt. Diese rückschauende Gesamtbewertung sieht ab von einer großen Zahl von Rechtsetzungsakten i n den Besatzungszonen und Ländern, die hier nicht i m einzelnen geschildert werden sollen 1 2 3 , w e i l sie später i n das Bundesrecht eingingen oder durch dieses verändert wurden. Z u erwähnen ist allerdings das vom Wirtschaftsrat der britisch-amerikanischen Bizone erlassene Sozialversicherungs-Anpassungsgesetz vom 17. Juni 1949, das — ein Jahr nach der Währungsreform — erhebliche Änderungen und Verbesserungen brachte, die später Bundesrecht 123 Vgl. Näheres bei Peters, S. 128 ff.; zur Sonderentwicklung i n Berlin, w o es zur Errichtung eines Einheitsträgers kam, vgl. die Aufsätze von Baker, Foggon, Noetzel u. a., i n : Bartholomäi.
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wurden. Neben der Aufhebung einer Reihe von Sondervorschriften der Kriegs- und Nachkriegszeit, einer Anpassung von Bezugsgrößen sowie einer Rentenerhöhung durch pauschale Zuschläge und Einführung einer Mindestrente von 50,— D M (Witwen 40,— DM) waren dies insbesondere die Einführung der unbedingten Witwenrente i n der Arbeiterrentenversicherung (allerdings nur für Versicherungsfälle ab Juni 1949) und die Herabsetzung der Invaliditätsgrenze für Arbeiter von 66 2/3 auf 50 v. H. der Erwerbsfähigkeit. Damit w a r die Rechtsstellung der Arbeiter i n zwei wesentlichen Punkten derjenigen der Angestellten angeglichen. Der Beitragssatz i n den Rentenversicherungen wurde von 5,6 auf 10 v. H. erhöht, gleichzeitig jedoch i n der Arbeitslosenversicherung unter Wegfall der bisherigen Zuschüsse von 6,5 auf 4 v . H. ermäßigt. I n der Krankenversicherung wurde der Beitrag zwischen Arbeitgeber und Versichertem halbiert (bis dahin Arbeitgeber ein Drittel). Das Sozialversicherungs-Anpassungsgesetz war inhaltlich der Abschluß der Zonen-Gesetzgebung, zugleich aber auch A u f t a k t der nun beginnenden expansiven Gesetzgebung des Bundes. Ausgehend von der „Stunde Null"-Empfmdung des Jahres 1945 ist später erörtert worden, ob diese Situation für eine durchgreifende Reform der Sozialversicherung Gelegenheit geboten habe und w a r u m diese Gelegenheit nicht genutzt worden sei. Es hat Entwürfe gegeben, die die Errichtung einer Einheitsversicherung vorsahen. Die Autorenschaft dieser Entwürfe ist jedoch ebensowenig geklärt wie die Frage, welche politischen Kräfte hinter ihnen standen. Daß es zu Beschlüssen über grundlegende Reformen der Sozialversicherung nicht kam, dürfte zunächst darin begründet liegen, daß die westlichen Besatzungsmächte sich bereits vor Kriegsende auf die grundsätzliche Weiterführung des bestehenden Systems festgelegt hatten. I n Richtlinien für die zukünftige Politik der amerikanischen Besatzungsmacht vom Dezember 1944 hatte es geheißen: „Die Sozialversicherung w i r d nach bestehenden Gesetzen und Verordnungen weitergeführt, soweit deutsche M i t t e l vorhanden sind." Ein Beteiligter bemerkt hierzu: „Deutsche Emigranten der Naziära i n den USA, die i n der Weimarer Republik an der Entwicklung eines vorbildlichen Systems der sozialen Sicherung i n Deutschland voller Hingabe beteiligt waren, hatten dazu geraten, alle Anstrengungen zunächst auf die schnelle Wiederherstellung der Sozialleistungen für Alte, Erwerbsunfähige und Hinterbliebene zu konzentrieren 1 2 4 ."
124 Herbert W. Baker: Beginn der deutschen Sozial- und Arbeitspolitik u n ter der Militärregierung, i n : Bartholomäi, S. 24.
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„Was die britische Militärregierung anbelangte, so war vor der Besetzung der Grundsatz aufgestellt worden, daß alle bestehenden Systeme der deutschen sozialen Sicherheit soweit wie möglich erhalten werden sollten. Diese Entscheidung konnte nicht überraschen, da das deutsche System i n Großbritannien sehr bewundert wurde 1 2 5 ." Trotz dieser Festlegungen hat der Alliierte Kontrollrat aus nicht rekonstruierbaren Gründen i m März 1946 Grundsätze für eine einheitliche Organisation der Sozialversicherung gebilligt. Dahinter stand aber offensichtlich zumindest auf westalliierter Seite kein politischer I m puls. „ W i r hatten zwar i m Alliierten Kontrollrat die Grundsätze für eine Einheitsversicherung gebilligt, waren aber der Meinung, daß diese wichtige, und für die Zukunft so entscheidende Frage des organisatorischen Neuaufbaus der deutschen Sozialversicherung, von den Deutschen selbst entschieden werden sollte 1 2 6 ." Die Deutschen selbst waren jedoch i m ganzen nicht sehr reformfreudig. Die Kräfte meinungsbildender Fachleute waren absorbiert von der täglichen Wiederaufbauarbeit. Als Reaktion auf die voraufgegangene NS-Periode herrschte eine anti-zentralistische Grundstimmung. Es gab auch keinen als dringlich empfundenen Grund zu weitreichenden Änderungen. Die Sozialversicherung erfüllte ihre Funktionen; zwar zunächst unvollkommen, doch zunehmend besser und m i t Zuversicht auf weitere Besserung. Diese Umstände erklären, warum konservative Kräfte den Reformplan ablehnten. Es kam aber hinzu, daß der Plan auch Einsparungsabsichten verfolgte, indem er z.B. die Angleichung des Rentenrechts für Arbeiter und Angestellte auf dem niedrigeren Arbeiterniveau vorsah. Dies entzog i h m die Unterstützung der Gewerkschaften, die teilweise (Britische Zone) sogar widersprachen. Nach alledem hatte der Entwurf keine Chance der Verwirklichung 1 2 7 . c) Grundlegungen
der Bundesgesetzgebung (bis 1955)
aa) Sozialversicherung im Grundgesetz Wenn man fragt, w a r u m bei so weitgehendem Konsens über Existenznotwendigkeit und Grundstruktur der Sozialversicherung dem Grundgesetz i n dieser Beziehung kein Gestaltungsauftrag eingefügt wurde — wie ihn A r t . 161 der Weimarer Verfassung enthalten hatte — so w i r d eine A n t w o r t nur i n größerem Zusammenhang zu finden sein. Der Grundgesetzgeber legte großen Wert auf die Normierung persön125
George Foggon, A l l i i e r t e Sozialpolitik i n Berlin, i n : Bartholomäi, S. 35. Baker, S. 30. 127 Eine detaillierte, vorzüglich belegte Darstellung hat jüngst vorgelegt: Hans Günter Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen i m Nachkriegsdeutschland: A l l i i e r t e u n d deutsche Sozialpolitik 1945 - 1957, Stuttgart 1980. 126
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licher Grundrechte, auf die Regelung des Verhältnisses zwischen Individuen und Staat sowie auf die Festlegung staatlicher Verfahrensregeln. Er war demgegenüber sehr zurückhaltend i n bezug auf die inhaltliche Festlegung einer Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsverfassung; i n diesen Hinsichten blieb das Grundgesetz „offen" für künftige Entwicklungen. Darin drückt sich verfassungsgeberische Weisheit, aber wohl auch der Umstand aus, daß zur Zeit der Beratung und Verabschiedung des Grundgesetzes faktisch die Entscheidungen für soziale M a r k t w i r t schaft, tarif-partnerlich gestaltete Arbeitsbedingungen und Fortbestand des bisherigen Sozialversicherungssystems bereits gefallen waren. Es bestand kaum weiterer Entscheidungsbedarf; jedenfalls hatten weder Befürworter noch K r i t i k e r der bestehenden Fakten dringenden Anlaß zu neuen Grundsatzerörterungen. Das Bundesverfassungsgericht hat später die Sozialversicherung als einen verfassungsrechtlichen Gattungsbegriff bezeichnet, der alles umfasse, was sich der Sache nach als Sozialversicherung darstelle. Auch hier kommt die Offenheit zum Ausdruck, die sich für die weitere Entwicklung als hilfreich erwiesen hat. Die öffentliche Diskussion, Gesetzgeber und Rechtsprechung mußten sich vergleichsweise wenig m i t begrifflichen Diskussionen und juristischen Konstrukten befassen; das Grundgesetz ließ großen Raum für Diskussionen und Entscheidungen „der Sache nach". bb) Der erste Deutsche Bundestag Solchen Sachfragen wandte sich der i m Herbst 1949 zusammentretende Deutsche Bundestag alsbald zu. Er stand vor einer gewaltigen Aufgabe, die er m i t Fleiß anging. I n der ersten Legislaturperiode w u r den 52 die Sozialversicherung betreffende Gesetze verabschiedet, eine Zahl, die i n keiner späteren Legislaturperiode auch nur annähernd erreicht wurde. Zunächst bestand die Notwendigkeit, die nach 1945 eingetretene Rechtszersplitterung zu beheben, was i m wesentlichen während der ersten Legislaturperiode abgeschlossen werden konnte. Ferner mußten Einkommensgrenzen für die Bemessung von Beiträgen und Leistungen an veränderte Verhältnisse angepaßt werden. Einer Anpassung bedurfte auch die Höhe der Geldleistungen, w e i l die Durchschnittslöhne sich i n dem Jahrfünft 1948 - 1953 u m mehr als 80 v. H. erhöhten. Diesem Ziel diente das Rentenzulagegesetz und das Teuerungszulagengesetz von 1951 sowie das Grundbetragserhöhungsgesetz von 1953; Leistungsverbesserungsgesetze ergingen 1952 und 1953 auch für die Unfallversicherung. Eine Anzahl Gesetze regelte — wie schon der Titel erkennen läßt — die Rechtsstellung besonderer Personengruppen: Heimkehrergesetz (1950), Schwerbeschädigtengesetz (1953), Häftlingshilfegesetz (für poli-
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tische Häftlinge, 1955). Der sozialen Sicherung i m weiteren Sinne dienten das Bundesversorgungsgesetz (1950), das die Versorgung Kriegsbeschädigter i m wesentlichen nach den Prinzipien des Reichsversorgungsgesetzes der Weimarer Zeit regelte (vgl. oben 3. c) sowie das Lastenausgleichsgesetz (1952), das für die rd. 11 M i l l . Flüchtlinge und Vertriebene neben einem Ausgleich für Vermögensschäden auch Rentenleistungen nach sozialen Kriterien, insbesondere für den Fall des A l ters und der Erwerbsunfähigkeit vorsah. Der Eingliederung der Flüchtlinge i n das System der Sozialversicherung diente das Fremdrenten- und Auslandsrentengesetz von 1953. Das Gesetz beruhte auf dem Entschädigungsprinzip, d. h. Versicherungsträger i n der Bundesrepublik treten unter bestimmten Voraussetzungen für Verpflichtungen von Trägern außerhalb der Bundesrepublik ein. Die Leistungen, insbesondere Renten, richten sich nach dem Recht des Herkunftslandes. Da die Flüchtlinge aus vielen verschiedenen, vor allem osteuropäischen, Ländern m i t sehr unterschiedlichen Rechtssystemen hinsichtlich Versicherungspflicht, Beitrags- und Leistungsberechnung gekommen waren, ergab sich eine sehr ungleiche Situation sowohl unter den Flüchtlingen selbst als auch i m Verhältnis zu Nicht-Flüchtlingen. cc) „Errichtungsgesetze" Neben den Gesetzen, die der Rechtsvereinheitlichung, der Anpassung an veränderte Wirtschaftsdaten und der Regelung von Kriegsfolgen dienten, ergingen recht bald auch solche, die man als strukturgestaltend für die weitere Entwicklung bezeichnen kann. Es waren dies einige „Errichtungsgesetze", die Regelung des Kassenarztrechts und das Selbstverwaltungsgesetz. Errichtet wurde zunächst (mit Wirkung vom 1. 5. 1952) die Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung. Durch Überführung der bis dahin i m Hoheitsbereich der Länder stehenden Arbeitsverwaltung i n die Bundesanstalt wurde der Zustand wiederhergestellt, der i n der Weimarer Republik m i t der Reichsanstalt gegeben war. Ebenso wurde nach früherem Vorbild die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte 1953 wiedererrichtet; i n der Zeit nach 1945 war die Versicherung der Angestellten von den Trägern der Arbeiterrentenversicherung mitverwaltet worden. Dem grundgesetzlichen Auftrag zur Schaffung einer eigenen Sozialgerichtsbarkeit (Art. 96) und zu einer klaren Trennung zwischen Rechtsprechung und Verwaltung (Art. 20) entsprach das Sozialgerichtsgesetz von 1953. Es schuf einen dreistufigen Rechtszug m i t neuartigem, kostenfreiem Gerichtsverfahren unter Beteiligung von Laienrichtern. Spätere Änderungen dieses Gesetzes dienten vornehmlich der Vereinfachung und Beschleunigung der Verfahren, berührten jedoch nicht die Grundstruktur der Sozialgerichtsbarkeit, die sich nach Meinung aller
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Beteiligten bewährt hat. M i t dem Entstehen der Sozialgerichtsbarkeit wurde die rechtsprechende Tätigkeit den staatlichen Behörden entzogen. Das waren bis 1945 das Reichsversicherungsamt, danach i n den Ländern Ober- oder Landes Versicherungsämter. Diesen verblieben jetzt nur noch Verwaltungs- und Aufsichtsaufgaben nach Maßgabe der Zuständigkeitsaufteilung zwischen Bund und Ländern. Der Bund übertrug (mit Ausnahmen) seine Aufsichtsbefugnisse auf das 1956 als selbständige Bundesoberbehörde errichtete Bundesversicherungsamt 128 . dd) Kassenarztrecht M i t dem Gesetz über das Kassenarztrecht von 1955 wurde das Verhältnis zwischen Krankenkassen und Ärzten bundesrechtlich geordnet. Man lehnte sich dabei an die Prinzipien an, die am Ende der Weimarer Republik entwickelt worden waren (vgl. oben 3. c.). Es wurden Kassenärztliche Vereinigungen und eine Kassenärztliche Bundesvereinigung als Körperschaften des öffentlichen Rechts gebildet, die die kassenärztliche Versorgung sicherstellen und Vertragspartner der Krankenkassen sind. Die Kassen bilden — ebenfalls auf Grund eines Gesetzes von 1955 — Landesverbände und einen Bundesverband ihrer Kassenart als Körperschaft des öffentlichen Rechts. Die zu Beginn der 30er Jahre gefundene und 1955 fortgeschriebene Grundkonstruktion — nämlich Sicherstellung der ärztlichen Versorgung durch selbstverwaltete ärztliche Organisationen, vertragliche Vereinbarung einer von den Kassen zu entrichtenden Gesamtvergütung und Honorarverteilung unter den Ärzten durch die Kassenärztliche Vereinigung — hat unbeschadet mancher Modifikationen und Schwierigkeiten ihre Tragfähigkeit bis i n die gegenwärtige Phase der Kostendämpfungsbemühungen hinein erwiesen. ee) Selbstverwaltung Eines der ersten Gesetze des Deutschen Bundestages auf sozialpolitischem Gebiet war das Selbstverwaltungsgesetz von 1951. Auch dieses knüpfte an alte Traditionen an. Eine wichtige Fortentwicklung w a r allerdings der Übergang zu einer verbandlichen Selbstverwaltung. Leitprinzip war nicht mehr wie ursprünglich das genossenschaftliche Prinzip der Vertretung einzelner Mitglieder i n den Organen, sondern das Prinzip der Vertretung der Versicherten und der Arbeitgeber durch deren jeweilige Verbände 1 2 9 . 128 Die Praxis des Bundesversicherungsamtes, hrsg. v o n Dieter Schewe, Bonn - Bad Godesberg 1977; vgl. insbes. die Beiträge von W. Bogs, V o m alten Reichsversicherungsamt, u n d v o n H. Schirmer, Selbstverwaltung u n d A u f sicht. 129 Walter Bogs, Sozialversicherungsrecht (unter dem Obertitel: Versicherungswissenschaft u n d Versicherungspraxis i n den zurückliegenden 75 Jahren), Zeitschrift f ü r die gesamte Versicherungswissenschaft, 1974, S.31.
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Bei den Trägern der Sozialversicherung werden aufgrund von Vorschlagslisten der Verbände Vertreterversammlungen gewählt, die ihrerseits einen Vorstand wählen. Die Selbstverwaltungsorgane wählen den Geschäftsführer des Trägers. Die Mitglieder der Organe werden i m Prinzip je zur Hälfte von Versicherten und Arbeitgebern gewählt; Ausnahmen bestehen für Bergbau, Landwirtschaft und Ersatzkassen. Neuerungen brachte dies für die Organe der Krankenversicherungsträger, die bis dahin entsprechend der bis 1949 bestehenden Beitragsdrittelung zu zwei Dritteln m i t Versichertenvertretern besetzt waren, und für die Organe der Unfallversicherungsträger, i n denen die Versicherten bis dahin nicht vertreten waren. Gewerkschaftliche Forderungen auf eine alleinige oder wenigstens mehrheitliche Vertretung der Versicherten i n den Organen fanden i m Bundestag keine ausreichende Unterstützung 1 3 0 ; die Mehrheit folgte dem „Sozialpartner-Modell", das bis heute Grundlage des Selbstverwaltungsrechts ist 1 3 1 . ff) Würdigung Die vorstehende, sehr geraffte Darstellung der Gesetzgebungstätigkeit während der ersten Jahre der Bundesrepublik Deutschland mag den Eindruck erwecken, als sei der Inhalt dieser Tätigkeit vorwiegend restaurativ gewesen. I n der Tat wurde i n vieler Beziehung wiedererrichtet und wieder angeknüpft. Ein Verständnis dafür erwächst aus folgenden Gründen: Es bestand ein Bedürfnis, den faktisch befriedigend funktionierenden Institutionen und Mechanismen schnell wieder Rechtssicherheit und Rechtseinheit zu vermitteln. Deutschland war über ein Jahrzehnt von der internationalen Diskussion abgeschnitten gewesen, wie sich etwa an der Tatsache absehen läßt, daß der Begriff „Soziale Sicherung" (social security) erst Anfang der 50er Jahre i n den Sprachgebrauch einging. Wichtiger noch w a r wohl die Tatsache, daß viele Entscheidungsträger- und Meinungsbilder-Positionen i n der neuen Republik von Menschen besetzt waren, die entweder seit 1933 zur Einflußlosigkeit verurteilt waren oder die NS-Zeit m i t der Einstellung des Bewahrens, des Verhütens von Schlimmerem überstanden hatten. Für diese Menschen — nun meist i n fortgeschrittenem Lebensalter — lag es nahe, an die Zustände, Gedanken und Ideale der Weimarer Zeit anzuknüpfen. Hinzu kommt, daß man keineswegs untätig war. Wie die Zahl, aber auch der stoffliche Inhalt der verabschiedeten und verwaltungsmäßig bewältigten Gesetze zeigt, waren Gesetzgebung, Verwaltung und Selbstverwaltung während der ersten Jahre der Geltung des Grundgesetzes ungewöhnlich fleißig. Auch dies ist zu bedenken, wenn 130 Näheres bei A l f r e d Schmidt, Z u m Entstehen der Selbstverwaltung i n der Nachkriegszeit, i n : Sozialpolitik nach 1945, S. 391. 131 Z u r gegenwärtigen Diskussion vgl.: Sozialpolitik u n d Selbstverwaltung. WSI-Studie Nr. 35, K ö l n 1977.
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man den zögernden und nicht sehr schwungvollen Beginn einer Diskussion um Reformen und Weiterentwicklungen beurteilt. d) Die Rentenreform
von 1957
aa) Reformdiskussion und Willensbildung Die Reformdiskussion begann i n den frühen 50er Jahren m i t einer K r i t i k wissenschaftlicher Autoren an der Unübersichtlichkeit des Sozialrechts und der sozialen Institutionen, aus der Forderungen nach einem neuen Konzept, nach einer rationalen Sozialplanung abgeleitet w u r den 1 3 2 . I m politischen Raum wurde die Forderung nach einem Sozialplan, verbunden m i t Vorstellungen zum quantitativen und qualitativen Ausbau der sozialen Sicherung, von der Sozialdemokratischen Partei vertreten 1 3 3 . Aus deren Reihen entstand — später und ohne praktischen Einfluß auf die Reformgesetzgebung von 1957 — der einzige „Sozialplan" 1 3 4 . I m Deutschen Bundestag legte die SPD m i t gleicher Zielrichtung i m Januar 1952 einen Antrag auf Einsetzung einer „Sozialen Studienkommission" aus unabhängigen Sachverständigen vor, die die Aufgabe haben sollte, „die gegenwärtigen sozialen Einrichtungen und Leistungen Deutschlands festzustellen, die Möglichkeiten der Entflechtung dieser sozialen Leistungen und ihrer systematischen Intensivierung zu prüfen und einen Plan der sozialen Sicherung i n Deutschland aufzustellen". Dieser Antrag wurde i m Februar 1952 von der Regierungsmehrheit abgelehnt, zugleich aber die Berufung eines Beirates beschlossen. „ Z u r Vorbereitung gesetzgeberischer Maßnahmen über die finanzielle Sicherung, Neuordnung und fortschrittliche Entwicklung der sozialen Leistungen, unter klarer Abgrenzung der Versicherung von Versorgung und Fürsorge, w i r d der Bundesminister für Arbeit beauftragt, beim Bundesministerium für Arbeit einen Beirat zu berufen 1 3 5 ." Dieser Beirat für die Neuordnung der sozialen Leistungen hat besonders i n seinen Arbeitsausschüssen — vor allem denjenigen für die 132 Walter Auerbach, Modell eines Sozialplans, Die Krankenversicherung, Heft 5, 1952; Gerhard Mackenroth, Die Reform der Sozialpolitik durch einen deutschen Sozialplan, Schriften des Vereins f ü r Socialpolitik, N. F. Bd. 4, B e r l i n 1952; Hans Achinger, Z u r Neuordnung der sozialen Hilfe. Konzept f ü r einen deutschen Sozialplan, Stuttgart 1954; vgl. i m übrigen die umfänglichen bibliographischen Hinweise i n Richter, Anhang V. 133 Die Grundlagen des sozialen Gesamtplans der SPD, B o n n 1953; beschlossen am 14. 9. 52 v o m sozialpolitischen Ausschuß der SPD i m Einvernehmen m i t dem Parteivorstand. Gleichsinnige Parteitagsbeschlüsse ergingen 1952 u n d 1954. 134 Sozialplan f ü r Deutschland. A u f Anregung des Vorstandes der SPD v o r gelegt von Walter Auerbach u. a., Berlin/Hannover 1957. 135 Die Sozialreform, F I, S. 3, F I I , S. 4.
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Krankenversicherung und das Fürsorgewesen — bis 1958 eine Fülle von Fragen behandelt, zum großen Teil auch einvernehmlich geklärt 1 3 6 . Diese sachliche Vorklärung hat spätere Gesetzgebungen bis i n die 60er Jahre hinein befruchtet und erleichtert. Grundlegende Reformgedanken hat der Beirat hingegen nicht entwickelt; auch entstand aus seiner Arbeit kein einheitliches Konzept und schon gar kein Sozialplan. Von einer „umfassenden Sozialreform" sprach die Regierungserklärung bei Beginn der zweiten Legislaturperiode i m Oktober 1953. Die neue Regierung verwies auf die von der ersten Bundesregierung bereits eingeleiteten Vorarbeiten für die Durchführung einer Sozialreform und erklärte: „Die neue Bundesregierung w i r d diese Vorarbeiten energisch fördern und ein umfassendes Sozialprogramm vorlegen 1 3 7 ." Z u einem solchen umfassenden Sozialprogramm ist es nicht gekommen. Es erfolgte eine „Reduktion der Sozialreform auf eine Reform einzelner Sozialversicherungszweige, zunächst der gesetzlichen Rentenversicherung" 138 . Schon der Begriff „Sozialreform" w a r inhaltlich reduziert worden. I m Verständnis der Arbeiterbewegung meinte er ursprünglich sehr umfassend den Abbau von Macht und Herrschaft des Kapitals. I n den beiden letzten Jahrzehnten des Kaiserreiches war er m i t der Forderung nach Koalitionsfreiheit und Tariffähigkeit verbunden. I n der frühen Bundesrepublik konnte auch eine konservativ geführte Regierung den Begriff Sozialreform verwenden, w e i l er einerseits sozialistische sowie christlich-soziale Wunschvorstellungen emotional abdeckte, andererseits darunter konkret-politisch allgemein nur noch eine Sozialleistungsreform verstanden wurde. Hinsichtlich eines inhaltlichen Konzepts verließ sich die Regierung nicht auf den von ihr berufenen Beirat, sondern mobilisierte weiteren Sachverstand. Es entstanden 1954 auf Veranlassung des Bundesarbeitsministeriums das Bogs-Gutachten 139 und 1955 „auf Anregung des Herrn Bundeskanzlers" die Rothenfelser Denkschrift 1 4 0 . Doch ungeachtet aller Forderungen, Anregungen und Hilfen kam es nicht zu einem regierungsamtlichen Sozialprogramm. Die Diskussionen dieser Jahre verloren sich teils i m Grundsätzlichen — über Begriffe wie Subsidiarität, Versicherungsprinzip, Volksversicherung — und boten anderenteils, wo sie konkreter wurden, wenig politisch „Griffiges". 136
Zusammenstellung der Ergebnisse i n : Die Sozialreform, C. Bundesanzeiger 1953, Nr. 204, S. 3. 138 Erich Standfest, Sozialpolitik als Reformpolitik, WSI-Studie Nr. 39, K ö l n 1979, S. 30. 139 Walter Bogs, Grundfragen . . . ; das Manuskript lag den Ministerien u n d dem Beirat seit M i t t e 1954 vor. 137
140 Hans Achinger, Joseph Höffner, Hans Muthesius, L u d w i g Neundörfer, Neuordnung der sozialen Leistungen, K ö l n 1955.
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Ein politischer Handlungsbedarf aber staute sich an, und zwar nicht nur wegen der — vor allem von Wissenschaftlern und Publizisten empfundenen — Unübersichtlichkeit des Rechts und der — i n ihren praktischen Auswirkungen oft überschätzten — Rentenkumulation, sondern wegen des ungeachtet mehrerer Rentenerhöhungen i m Vergleich zu den Erwerbseinkommen niedrigen Rentenniveaus. Die Renten betrugen 28 - 32 v. H. der vergleichbaren Löhne und Gehälter 1 4 1 . Man empfand allgemein, daß die Rentner unzureichend am wirtschaftlichen Aufschwung beteiligt seien. Die i m A p r i l 1954 vom Bundesarbeitsminister dem Kabinett vorgelegten „Grundgedanken zur Gesamtreform der sozialen Leistungen" 1 4 2 bezogen sich weitgehend auf eine Reform der Rentenversicherung unter Betonung eines Funktionswandels der Altersrente von der Zuschuß-Rente zur Lebensstandard-Rente. Vom Erscheinen dieser Grundgedanken an konzentrierte sich die ReformDiskussion schnell auf die Rentenreform. Den politischen Handlungsbedarf erkannte Bundeskanzler Adenauer. Er veranlaßte i n den ersten Monaten des Jahres 1955 die Bildung eines Kabinettsausschusses („Sozialkabinett") unter seiner Leitung und die Errichtung eines beim Bundesarbeitsministerium verankerten Generalsekretariats für die Sozialreform, das personell neu ausgestattet wurde. Das Wirken dieses Generalsekretariats i m Zusammenhang m i t der damals laufenden Diskussion u m die Sozialreform und der an i h r beteiligten Gruppen ist nachträglich so geschildert worden: „Eine vierte, maßgebliche Gruppe bildete schließlich das Bundesarbeitsministerium (Generalsekretariat für die Sozialreform), das nach längerer Verzögerungstaktik intensiv an pragmatischen (d. h. gesetzgeberisch umsetzbaren) Reformvorschlägen zu arbeiten begonnen hatte. (Anmerkung: I m Generalsekretariat arbeiteten ab 1954/55 unter K u r t Jantz unter anderem W. Haase, H. Hensen, D. Schewe und D. Zöllner.) Während also die drei erstgenannten Gruppen eine grundlegende, sozusagen axiomatische Neuordnung der sozialen Sicherung (wenn auch m i t unterschiedlichen Inhalten, Motiven und Tendenzen) anstrebten, knüpfte die vierte Gruppe sehr viel stärker — unter weitgehender Nichtberücksichtigung der Grundsatzdiskussion — an den aktuellen und dringendsten (oder für dringendst gehaltenen) Bedürfnissen an. Diese A u f fassung kann aber nicht als pragmatisch' i m Sinne von theorie- und prinzipienlos bezeichnet werden. Dahinter schien m i r eher die Einsicht i n den Prozeßcharakter der Sozialpolitik zu stehen, i n ihre A b hängigkeit von gesellschaftlichen Entwicklungen und ,Sachnotwendigkeiten' 1 4 3 ." 141 H a r t m u t Hensen, Z u r Geschichte der Rentenfinanzen, i n : Sozialpolitik nach 1945, S. 138. 142 Abgedruckt i n : Die Sozialreform, Β I I I 1. 143 Standfest (Anm. 138), S. 29.
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Die Arbeit an konkreten Gesetzgebungsvorschlägen war eine notwendige, nicht aber auch hinreichende Voraussetzung für politische Entscheidungen; denn der Widerstand insbesondere des Finanzministers blieb stark. I n einer Sitzung des Sozialkabinetts i m Dezember 1955 gab Adenauer dem Verfasser des Schreiber-Plans Gelegenheit zum Vortrag 1 4 4 . Dieser Plan durchbrach i n kühner Weise gewohnte Denkweisen und schlug eine jährliche, automatische Anpassung der Renten an die Lohnentwicklung bei Anwendung des Umlageverfahrens vor. Die Tatsache der Vorladung des bis dahin wenig bekannten Autors wurde als Politikum verstanden. Eine Vorlage des Generalsekretariats vom 27. 12. 1955 über die hauptsächlichen Entscheidungsalternativen wurde i n der ersten Januarwoche m i t Randnotizen des Kanzlers zurückgegeben; sie präjudizierte wesentliche Punkte der künftigen Reform. A m Rande der Passage über die Anpassung der Renten an die Lohn- und Gehaltsentwicklung fand sich ein „ja". Am. 13. 1. 1956 vergewisserte sich Adenauer der Zustimmung des Parteivorstandes der CDU, am 18. 1. und 17. 2. 1956 „setzte er demgemäß sein Meinungsbild i n Beschlüsse des Sozialkabinetts u m " 1 4 5 . Dies und das spätere Festhalten an dem Grundprinzip der dynamischen Rente gegen mächtige Widerstände ist ein persönliches Verdienst Konrad Adenauers. Denn es gab eine „geradezu panikartige Reaktion mächtiger Interessenverbände, die sogleich nach Schreibers Kabinettsvortrag den Widerstand zu organisieren begannen. I n der langen Phalanx der Gegner vor allem ,des dynamischen Leichtsinns der lohngekoppelten Rente' stand neben den renommierten Häuptern der neoliberalen Schule und der respektheischenden Bank Deutscher Länder fast das gesamte Wirtschaftslager — von den Versicherungsunternehmen und den Banken, durch deren Kassen bisher ein erheblicher Teil der Rentenversicherungskapitalien geflossen war, bis zu den Arbeitgeberverbänden" 1 4 6 . Die Motive Adenauers waren — ähnlich wie i m Falle Bismarck — nicht i m engeren Sinne sozialpolitisch, sondern eher allgemeinpolitisch. „Daß Adenauer die Rentenreform als ein Wahlkampfinstrument plante und einsetzte, um den sozialen Anspruch seiner Partei zu manifestieren, ist gesichert. Die dynamische Rente — schon sprachlich eine A r t positiver Ergänzung zur Wahlparole ,Keine Experimente 4 — sollte sich materiell und psychologisch nicht nur auf die Alters- und Invaliditätsrentner auswirken, sondern auch eine Erwartungshaltung der noch i m 144 W i l f r i e d Schreiber, Existenzsicherheit i n der industriellen Gesellschaft, K ö l n 1955. 145 Hans Günter Hockerts, S. 366. Die A r b e i t ist grundlegend f ü r diesen Zeitabschnitt wegen umfangreicher Belegung aus Originalquellen u n d abgewogener Darstellung. 146 Hockerts, S. 367.
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Arbeitsleben Stehenden treffen, indem sie den ökonomischen Aufschwung i n die Phase des individuellen Lebensabends hinein zu verlängern versprach." Dem w i r d unter Bezugnahme auf Ausführungen des Kanzlers vor dem Parteivorstand der CDU i m Januar 1956 hinzugefügt: „ . . . es ist ebenfalls gesichert, daß Adenauer nicht allein den kurzfristigen Wahlkampfzweck i m Auge hatte. Unter den längerfristigen Zielen steht neben dem ,reformkonservativen 4 Wunsch, die bestehende Gesellschaftsordnung durch eine soziale Spannungen abbauende Anpassungsleistung i n Funktion zu halten, ein Aspekt, der i m Zusammenhang m i t einer langfristig angelegten Wiedervereinigungspolitik zu sehen ist: Die Bundesrepublik sollte ,attraktiv bleiben' für die ,Menschen i n der Zone' 1 4 7 ." Die politischen Ziele Adenauers wurden erreicht. Bei den Wahlen zum Dritten Bundestag 1957 erreichten die Unionsparteien erdrutschartige Zuwächse und gewannen die absolute Mehrheit. Meinungsforscher berichteten: „Bisher ist kein Beispiel dafür bekannt, daß irgendein Gesetz, eine Institution oder sogar Verfassung und Symbole des Staates eine auch nur annähernd so positive Resonanz gehabt haben wie die Rentenreform 1 4 8 ." bb) Inhalt der Neuregelungen Die vom Bundestag i m Februar 1957 verabschiedeten Rentenreformgesetze enthielten als Kernstück die Dynamisierung der Renten. Für die Rentenberechnung bedeutete dies konkret, daß nicht i n der Vergangenheit liegende Nominalwerte des Beitrags oder Lohns zugrunde gelegt werden, sondern Relativwerte. Die persönliche Bemessungsgrundlage des Versicherten errechnet sich als das Verhältnis, i n dem sein Arbeitsverdienst zum jeweiligen Durchschnittsverdienst gestanden hat. Der sich so i m Durchschnitt des Arbeitslebens ergebende Vomhundertsatz w i r d auf den gegenwärtigen Stand der Durchschnittslöhne (allgemeine Bemessungsgrundlage) bezogen und damit aktualisiert. Die bereits laufenden Renten werden jährlich an die Veränderungen der allgemeinen Bemessungsgrundlage angepaßt. Ob es für diese Dynamisierung Vorläufer i m Ausland gegeben hat, mag hier offen bleiben. Wenn es diese gegeben hat, so waren sie den Mitwirkenden nicht bekannt, so daß diese später ausführen konnten, „daß die Impulse für die Einführung der dynamischen Rente ausschließlich aus dem Inland kamen . . ." 1 4 9 . Hierfür spricht, daß ein systematischer Durchbruch bereits m i t dem Renten-Mehrbetragsgesetz vom 147
Hockerts, S. 370, 371. Bericht über Trendbeobachtungen des Instituts f ü r Demoskopie Allensbach, i n : Bundesarbeitsblatt 1960, S. 66. 149 Hensen (Anm. 141), S. 138. 148
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November 1954 erfolgt war. Die bis dahin durchgeführten Rentenerhöhungen hatten globale Erhöhungen gebracht, deren relativer Nutzen für Versicherte u m so größer war, je geringer und je zeitlich jünger ihre Beitragsvorleistung war. Benachteiligt waren Versicherte m i t höheren und länger zurückliegenden Vorleistungen. Dieses Problem ist recht früh — mindestens 1953 — erkannt worden. „Der Grund für derartige schematische Erhöhungen waren i m wesentlichen verwaltungstechnische Überlegungen 150 . " Das Renten-Mehrbetragsgesetz w a r es nun — wie ein seit 1955 an der Reform Mitwirkender ausführt, „das als erstes sozialpolitisches Nachkriegsgesetz aus der langfristigen Lohnentwicklung infolge wachsender Produktivität und dem zwangsläufigen Zurückbleiben statisch bemessener Renten hinter den steigenden Erwerbseinkommen Folgerungen zog. Es schrieb vor, daß die aus den Entgelten und Beiträgen der Versicherten abgeleiteten Steigerungsbeträge der Renten in A b hängigkeit vom Zeitpunkt der Beitragsentrichtung den Gegenwartswerten anzupassen seien. Je rückwärtiger die Beitragsleistung lag, u m so höher war der gewährte Mehrbetrag, der die Rente angemessenen Gegenwartswerten annähern sollte" 1 5 1 . Neben der Dynamisierung der Renten und einer weitgehenden Rechtsbereinigung brachten die Reformgesetze von 1957 eine Reihe weiterer Neuregelungen. Die neue Berechnungsformel und der Wegfall von festen Rentenbestandteilen führten zu einer größeren Differenzierung der Renten nach Maßgabe der Versicherungsdauer und des individuellen, lebensdurchschnittlichen Arbeitsverdienstes. Es wurde erreicht, „daß die individuelle Situation des Arbeitnehmers während seines Arbeitslebens ihre entsprechende Fortsetzung während des Empfanges der Rente findet" 152. Der Versicherungsfall der Invalidität wurde unterteilt i n die Fälle Berufsunfähigkeit und Erwerbsunfähigkeit. Man hoffte, sich hiermit von der als ungut empfundenen „Alles oder Nichts"-Entscheidung bei der Rentengewährung lösen zu können. Die Sicherung i m Falle der vorzeitigen Invalidität wurde verbessert durch Einführung einer Zurechnungszeit bis zum 55. Lebensjahr. M i t dem Ziel einer Minderung der Invaliditätshäufigkeit wurden die Möglichkeiten zur Durchführung gesundheits- und berufsfördernder Maßnahmen erweitert und diese Lei150 K a r l - H e i n z Orda, I m Vorfeld der Rentenreform, i n : Sozialpolitik nach 1945, S. 101. 151
Hensen (Anm. 141), S. 139. K u r t Jantz i n der E i n f ü h r u n g zu Jantz/Zweng, Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter u n d der Angestellten, Stuttgart 1957, S. 7. Näheres zur Entstehung u n d F o r t w i r k u n g des Dynamisierungsprinzips siehe auch bei K u r t Jantz, Die Rentendynamik 1957 als V o r b i l d i m Sozialleistungsrecht, i n : Sozialpolitik nach 1945, S. 109. 152
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stungen vom Status einer Kann- i n denjenigen einer Regelleistung erhoben. Dem Ziel einer Angleichung des Rechts der Arbeiter an . dasjenige der Angestellten dienten die Einführung der Altersgrenze 60 nach einjähriger Arbeitslosigkeit und die Einführung der unbedingten Witwenrente auch für Arbeiterwitwen, deren Ehemänner vor 1949 verstorben waren. Neu war die Einführung der Altersgrenze 60 für Frauen, die i n den letzten 20 Jahren überwiegend versicherungspflichtig beschäftigt waren. Endlich wurde auch das Finanzierungsverfahren geändert. A n die Stelle des Anwartschaftsdeckungsverfahrens, dem man seit 1891 vergeblich zu entsprechen versucht hatte, trat das Abschnittsdeckungsverfahren, das praktisch darauf hinauslief, daß stets ein Vermögen i n Höhe einer Jahresausgabe vorhanden sein muß. Die erheblichen Rentenerhöhungen machten eine Beitragserhöhung von 11 auf 14 v. H. erforderlich, wobei gleichzeitig der Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung von 3 auf 2 v. H. gesenkt wurde. Der Bund erhöhte seine Zuschüsse, ohne daß jedoch der Anteil der Bundesmittel an den Gesamtausgaben der Rentenversicherung stieg. e) Weiterentwicklungen Auslaufen der Sozialreform
und (bis 1965)
Die während der zweiten Legislaturperiode des Bundestages geführte Reformdiskussion zentrierte so stark auf die Rentenreform, daß darüber einige parallel laufende Entwicklungen unter Gebühr beachtet wurden. Dazu gehörten i m Umfeld der Sozialversicherung die Einführung des Kindergeldes und die Modernisierung des Fürsorgerechts, innerhalb ihres eigenen Bereichs der Ausbau der sozialen Sicherung der Selbständigen und die Neuregelung des Rentenrechts der Vertriebenen. Auch ist zu erwähnen, daß am Ende der zweiten Legislaturperiode noch eine bedeutsame Verbesserung der wirtschaftlichen Sicherung der A r beiter i m Krankheitsfall verabschiedet wurde. aa) Kindergeld Seit Beginn der 50er Jahre gab es eine familienpolitische Diskussion, die von der sozialen Benachteiligung kinderreicher Familien ausging. Diese Diskussion mußte i n Deutschland neu begonnen werden, weil die allein bevölkerungspolitisch motivierten Maßnahmen des NS-Regimes (ab 1935 Kinderbeihilfen ab dem 5., später ab dem 3. Kind) 1945 eingestellt worden waren. Nach längerer Diskussion vor allem über Finanzierung und Trägerschaft erging 1954 das Kindergeldgesetz, das Erwerbstätigen ab dem 3. K i n d einen Anspruch auf Kindergeld einräumte. Als Träger wurden Familienausgleichskassen bei den Berufsgenossen10*
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Schäften errichtet; die Finanzierung erfolgte durch Beiträge der Unternehmer. Wegen zahlreicher Unzulänglichkeiten wurde das System 1964 grundlegend umgestellt. Die Finanzierung übernahm der Bund, die Durchführung eine bei der Bundesanstalt für Arbeit errichtete Kindergeldkasse. Seither erfolgten mehrfach Erhöhungen des Kindergeldbetrages. Seit 1961 besteht auch für das zweite Kind, seit 1975 für alle Kinder ein Anspruch. Die Höhe des Kindergeldes je K i n d steigt m i t deren Anzahl. bb) Sozialhilfe Die öffentliche Fürsorge hatte i n den ersten Nachkriegs jähren außerordentliche Belastungen zu tragen. Als mit dem Ausbau der Sozialversicherung diese Belastungen relativ zurückgingen, setzte eine Diskussion über ihre Neuregelung ein, die belebt wurde durch ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes von 1954, nach dem ein Rechtsanspruch auf Fürsorge dem Grunde nach bestehe. Damit war eine Wende von der staatsinternen Bindung zum subjektiv-öffentlichen Recht vollzogen. Die Diskussion wurde i n die Reformbestrebungen eingebunden, indem der Beirat für die Neuordnung der sozialen Leistungen einen Ausschuß für Fürsorge-Fragen einsetzte. I n diesem Ausschuß wurden — lautlos, aber wirksam und konkret — die Grundlagen für das Bundessozialhilfegesetz von 1961 erarbeitet. Die Sozialhilfe erhielt die Aufgabe, dem Hilfesuchenden ein der Würde des Menschen entsprechendes Leben zu ermöglichen. A u f der Grundlage der Prinzipien der Nachrangigkeit und der Individualisierung wurde das Recht zusammengefaßt, modernisiert und erweitert. Über die evolutionären Elemente hinaus bleibt insbesondere die Erweiterung der Möglichkeiten für „Hilfen i n besonderen Lebenslagen" bemerkenswert, weil diese eine stärkere Betonung von Dienst- gegenüber Geldleistungen einleitete. Zur Milderung sozialer Härten i m Zusammenhang m i t dem Abbau der Wohnraum-Bewirtschaftung wurde 1960 ein von Bund und Ländern finanziertes Wohngeld eingeführt. cc) Altershilfe für Landwirte Die lebhafte Diskussion von Problemen der Alterssicherung hatte auch die selbständig Erwerbstätigen erfaßt. Allseitig setzte sich die Erkenntnis durch, daß für die Mehrzahl der Selbständigen das Arbeitseinkommen maßgeblich ist und das Kapitaleinkommen keine ausreichende Grundlage für eine Alterssicherung ist. I n der Landwirtschaft ergab sich zunehmend das Bedürfnis, einen über den naturalen Altenteilsanspruch hinausgehenden Ausgleich zwischen der alten und der jungen Generation zu schaffen. Die vorwiegend kleinbäuerlich geprägte Betriebsstruktur i n der Bundesrepublik machte die Bargeldversorgung
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der alten Generation schwierig und hatte eine verzögerte Hofabgabe zur Folge. Dies wiederum stand dem damals sehr populären Ziel einer Verbesserung der Agrarstruktur entgegen. Die 1955 beginnenden Diskussionen um eine Alterssicherung für Landwirte gingen deshalb davon aus, daß eine Lösung gefunden werden müsse, die sozialpolitische Zielsetzungen m i t solchen der Strukturpolitik verbindet 1 5 3 . Das Gesetz über eine Altershilfe für Landwirte von 1957 brachte i n mehrfacher Hinsicht neuartige Lösungen: Die Gewährung eines Altersgeldes war an die Voraussetzung der Hofabgabe geknüpft (Übergabe an den Erben, Entäußerung, Verpachtung). Dies hatte bald eine Beschleunigung der Hofabgabe und eine deutliche Senkung des Durchschnittsalters der Betriebsinhaber zur Folge. U m diesen, aber auch den gewünschten sozialpolitischen Effekt zu erreichen, wurde mit Inkrafttreten des Gesetzes die gesamte „alte Last" i n die Leistungsberechtigung einbezogen; für ältere Landwirte genügte der Nachweis einer Tätigkeit als landwirtschaftlicher Unternehmer an Stelle der für die Zukunft erforderlichen Beitragsentrichtung. Sie wurden behandelt, als ob sie früher Beiträge entrichtet hätten. Als Träger wurden bei den landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften landwirtschaftliche Alterskassen errichtet. Die Finanzierung der Altershilfe erfolgte durch Beiträge der landwirtschaftlichen Unternehmer, die später aus strukturellen Gründen und wegen agrarpolitischer Zielsetzungen i n zunehmendem Umfang durch Bundesmittel ergänzt wurden. Die Altershilfe für Landwirte m i t ihren neuartigen Konstruktionselementen hat sich bewährt und ist seither durch eine Reihe von Änderungsgesetzen erheblich ausgebaut worden 1 5 4 . — Das Altersgeld wurde mehrfach erhöht und ist seit 1975 dynamisiert nach Maßgabe des Anstiegs der Arbeitnehmerrenten. — Einführung eines vorzeitigen Altersgeldes bei Erwerbsunfähigkeit (1963). — Einführung von Maßnahmen zur Erhaltung und Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit (1965); an Stelle des während dieser Maßnahmen zu gewährenden Ersatzgeldes kann eine Ersatzkraft gestellt werden.
153 Beschluß des Vorstandes der Agrarsozialen Gesellschaft, i n : Soziale Sicherheit f ü r das Landvolk, Heft 15 der Schriftenreihe f ü r ländliche Sozialfragen, Hannover 1956, S. 138. 154 Heinz Frehsee, Detlev Zöllner, Die E n t w i c k l u n g der Agrarsozialpolitik, i n : Sozialpolitik nach 1945, S. 263.
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— Einführung einer zusätzlichen Landabgaberente für Inhaber von Kleinstbetrieben, weil hier Übergabeerlös und Altersgeld der Zielsetzung nicht adäquat erschienen (1969). — Staffelung der Höhe des ursprünglich einheitlichen Altersgeldes nach Maßgabe der Beitrags-Zahlungsdauer (ab 1974). dd) Handwerkerversicherungsgesetz Die 1938 eingeführte Handwerkerversicherung befriedigte in Durchführung und Ergebnis nicht. Einerseits waren Erfassung und Beitragsentrichtung der Handwerker unvollständig, andererseits verlangten Angestelltenorganisationen eine Trennung der organisatorischen Durchführung von der Angestelltenversicherung, w e i l diese durch die Handwerksversicherung unzumutbar belastet sei. E i n Änderungsgesetz von 1956 schrieb zur Klärung der Finanzlage eine getrennte Einnahmenund Ausgabenrechnung sowie gesonderte Beitragsmarken für die Handwerkerversicherung vor. Eine grundlegende Neuregelung erfolgte durch das Handwerkerversicherungsgesetz von 1960; es beseitigte die Wahlmöglichkeit zwischen Sozial- und Privatversicherung, begrenzte andererseits die Versicherungspflicht für alle Handwerker auf 18 Jahre. Ähnlich wie bei den Landwirten beschränkte sich der Gesetzgeber auch bei den Handwerkern auf die Gewährleistung einer Grundsicherung. Die Durchführung der Handwerkerversicherung wurde auf die Rentenversicherung der Arbeiter überführt. ee) Fremdrenten Die Verbesserungen der Rentenreform von 1957 ließen um so schärfer die Mängel des auf dem Entschädigungsprinzip beruhenden Rentenrechts für Vertriebene hervortreten. Die Bezugnahme des Entschädigungsprinzips auf das Recht und die wirtschaftlichen Verhältnisse des Herkunftslandes führten zu schwer verständlichen Unterschieden i m Vergleich zu einheimischen Versicherten, aber auch der Vertriebenen untereinander. A n die Stelle des Entschädigungsprinzips setzte das Fremdrentenund Auslandsrenten-Neuregelungsgesetz von 1960 das Eingliederungsprinzip. Dieses beruhte auf dem ebenso kühnen wie einfachen und hilfreichen Grundgedanken, den Rentner aus Vertreibungsgebieten so zu behandeln, als ob er sein gesamtes Arbeitsleben i m Gebiet der Bundesrepublik verbracht hätte. Beitragszeiten bei einem nicht-deutschen Versicherungsträger stehen den nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleich; eine Beschäftigung i m Ausland steht einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung i m Bundesgebiet gleich, wenn sie hier Versicherungspflicht begründet hätte. Der Berechnung werden die für die jeweilige Beschäftigung i m Bundes-
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gebiet gezahlten Entgelte zugrunde gelegt. Damit waren Eingliederung und Gleichbehandlung der Vertriebenen i n bezug auf die Alterssicherung schlagartig erreicht. Die verwaltungsmäßige Durchführung wurde dadurch erleichtert, daß die Beschaffung von Versicherungsunterlagen aus den unzugänglichen Herkunftsländern nicht mehr allein ausschlaggebend war, sondern es für die Feststellung der erheblichen Tatsachen (des Arbeitslebens) genügt, wenn sie glaubhaft gemacht sind. ff) Andere Prioritäten Nach dem durch die Rentenreform mitbedingten hohen Wahlsieg i m Herbst 1957 erklärte der wiedergewählte Bundeskanzler Adenauer i n seiner Regierungserklärung vom 29. Oktober 1957: „Die Sozialreform w i r d fortgeführt werden. I n erster Linie w i r d neben der Korrektur etwa zutage tretender Mängel i n der bisherigen Gesetzgebung eine Neuordnung der Krankenversicherung und der Unfallversicherung i n Frage kommen." Doch die Regierungserklärung ließ auch die nach dem politischen und finanziellen Kraftakt der Rentenreform gewandelte Stimmung deutlich erkennen. „Die Sozialreform w i r d sich jedoch nicht i n . . . dem Ausbau solidarischer Sicherungseinrichtungen erschöpfen können. . . . Die Bundesregierung ist entschlossen, den Gedanken der Selbsthilfe und privaten Initiative i n jeder Weise zu fördern und das Abgleiten i n einen totalen Versorgungsstaat . . . zu verhindern 1 5 5 ." Diese neue Zielrichtung war i m Schwerpunkt auf die Krankenversicherung gerichtet. Sie hinderte — wie gezeigt — jedenfalls nicht die Neuordnung der Sozialhilfe, der Handwerkerversicherung, des Fremdrentenrechts und den Ausbau der landwirtschaftlichen Altershilfe nach der Rentenreform und auf deren Bahnen. Gleiches gilt auch für die Unfallversicherung, die i n der Tat wenig Ansatzpunkte für Selbsthilfe und private Initiative bot. gg) Unfallversicherungsneuregelungsgesetz Die Bundesregierung hatte noch dem 2. Bundestag einen Gesetzentw u r f zur Neuregelung der Unfallversicherung vorgelegt, der aus Zeitmangel nicht mehr verabschiedet wurde. Eine erneute, überarbeitete Vorlage an den 3. Bundestag wurde ebenfalls nicht verabschiedet; offenbar wurde kein dringendes Reformbedürfnis empfunden. Notwendig erscheinende Leistungsverbesserungen wurden durch „Vorschaltgesetze" (1957 und 1960) bewirkt. Erst 1963 wurde das Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz verabschiedet. Neben einer Modernisierung und Systematisierung des Rechts brachte es als Neuerung eine stärkere Betonung der Unfallverhütung, erweiterte Möglichkeiten der Heil155
Die Sozialreform, Β I I 4, S. 13.
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behandlung und Berufshilfe sowie der Entschädigung von Berufskrankheiten und schließlich eine Regelung zur Anpassung laufender Leistungen an die Lohnentwicklung ähnlich wie i n der Rentenversicherung. Die Bundesregierung hat seither regelmäßig einen Unfallverhütungsbericht vorzulegen. hh) Reform der Krankenversicherung Bei den Bemühungen zur Reform der Krankenversicherung schlug sich die i n der Regierungserklärung von 1957 formulierte Zielrichtung alsbald nieder. E i n 1959 vorgelegter Regierungsentwurf zur Neuordnung der Krankenversicherung sah unter anderem den Übergang zur Vergütung der Ärzte nach Einzelleistung und eine damit verbundene Selbstbeteiligung des Patienten an jeder ärztlichen Leistung vor. Damit sollten die Versicherten motiviert werden, ärztliche Leistungen nicht leichtfertig i n Anspruch zu nehmen; ärztliche Leistungen sollten von leichten auf schwere, langdauernde Krankheitsfälle verlagert, die Krankenversicherung von Bagatellfällen entlastet werden. Dieses Vorhaben stieß innerhalb des Bundestages auf die Ablehnung der SPD-Fraktion und — wichtiger noch für sein Schicksal — außerhalb des Bundestages auf diejenige der Gewerkschaften und der ärztlichen Organisationen. Die ersteren wandten sich gegen die Einschränkung der gesundheitlichen Betreuung, die Ärzte i n der öffentlichen Darstellung gegen die ihnen zugedachte „Inkasso-Funktion". Die K r a f t innerhalb der Regierungsmehrheit des Bundestages reichte nicht aus, u m sich gegenüber dieser ungewöhnlichen Koalition durchzusetzen. Der Entwurf blieb bis zum Ende der Legislaturperiode (1961) unerledigt. Die Regierung blieb jedoch unverdrossen. I n der Regierungserklärung vom 29. 11. 1961 betonte sie, daß Sozialpolitik nicht Selbstzweck sein dürfe, und daß sie Bedacht darauf nehmen werde, die Eigenverantwortung des Menschen zu stärken. „Die Sozialreform w i r d fortgeführt, das ist selbstverständlich. Die Bundesregierung w i r d Entwürfe für die Reform der Krankenversicherung und der Unfallversicherung, die diesen Grundsätzen entsprechen, vorlegen 1 5 6 ." Dies geschah 1962 m i t einem i m K e r n unveränderten Krankenversicherungsentwurf, der lediglich eine andere Form der Selbstbeteiligung vorsah. Zur Erleichterung seiner politischen Durchsetzbarkeit war dieser Entwurf i n ein „Sozialpaket" verschnürt, das außerdem die volle Lohnfortzahlung für Arbeiter i m Krankheitsfall durch den Arbeitgeber und ferner die Verlagerung der Kosten für das Kindergeld von den Arbeitgebern auf den Bund vorsah. 156
Die Sozialreform, Β I I 5 b, S. 19.
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Die Widerstände von SPD, Gewerkschaften und Ärzten gegen die Selbstbeteiligung und von Arbeitgebern gegen die Lohnfortzahlung waren so groß, daß eine Beschlußfassung wiederum nicht zustande kam. I m Oktober 1963 nahm der neue Bundeskanzler, L u d w i g Erhard, die Intentionen der Regierung deutlich zurück. I n seiner Regierungserklärung bezeichnete er eine gründliche Durchleuchtung der Sozialgesetzgebung als unabdingbar und kündigte die Durchführung einer SozialEnquête an. Der Begriff „Sozialreform" kam nicht mehr vor. Dies wurde allgemein als Absicht und Aufforderung zu einer „Denkpause" verstanden. Der Bundestag reagierte, indem er i m A p r i l 1964 eine Verbesserung des Kindergeldes und dessen Finanzierung durch den Bund beschloß. Die umstrittenen Teile des Sozialpakets blieben unerledigt. I n der vierten Legislaturperiode wurde 1965 ohne nennenswerte öffentliche Beteiligung noch ein Rentenversicherungs-Änderungsgesetz verabschiedet, das bei erheblicher Komplizierung des Rechts eine Reihe von Härten und Unzulänglichkeiten milderte, die nach der Rentenreform aufgetreten und i n einem Bericht der Bundesregierung zusammengestellt worden waren (,,Härte"-Novelle). f) ökonomisierung
und Anpassung (1966 - 1969)
I m Jahre 1966 trat eine Rezession ein, die das wirtschaftliche Wachstum fast auf N u l l reduzierte und die Zahl der Arbeitslosen sprunghaft ansteigen ließ. Dieser Einbruch war für die Bundesrepublik eine neue Erfahrung m i t weitreichenden psychologischen und politischen W i r kungen. A m Ende des Jahres wurde eine große Koalition zwischen CDU/ CSU und SPD gebildet. I n bezug auf die Sozialpolitik bestand die Notwendigkeit, den Rezessionsfolgen zu begegnen. Ein Geist der Ernüchterung, ein Bedürfnis nach Rationalität trat auch politisch zutage. I n der sozialpolitischen Fachdiskussion hatte sich bereits früher eine Schwerpunktverlagerung ergeben, die man als „ökonomisierung" bezeichnen kann. Sie war ausgelöst worden allgemein durch das zunehmende Finanzvolumen, das durch die Träger der sozialen Sicherung umverteilt wurde, und i m besonderen durch die stark ökonomisch geprägte Diskussion um die Rentendynamisierung. I n den Jahren 1955 1957 erschienen eine Reihe bahnbrechender Arbeiten zur sozialen Sicherung aus volkswirtschaftlicher Feder 1 5 7 . Bald darauf erschien eine „ ö k o nomische Theorie der Sozialpolitik", die m i t den Worten eingeleitet 157 So insbesondere: H a r t m u t Hensen, Die Finanzen der sozialen Sicherung i m Kreislauf der Wirtschaft, K i e l 1955; W i l f r i e d Schreiber, Existenzsicherheit i n der industriellen Gesellschaft, K ö l n 1955; Horst Jecht, ökonomische Probleme der Produktivitätsrente, Stuttgart 1956; W i l h e l m H a n k e l u. Gerhard Zweig, Die Alterssicherung i n der sozialen Marktwirtschaft, Ordo 1957, S. 157.
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wurde: „Die Sozialpolitik ist eine Politik der Einkommensumverteilung geworden 1 5 8 ." Es wurde der Versuch unternommen, den säkularen Anstieg der Sozialleistungsquote — auch international — durch das W i r ken sozio-ökonomischer Determinanten zu erklären 1 5 9 . Auch der 1966 vorgelegte Bericht der Sozialenquête-Kommission war stark ökonomisch geprägt. Er analysierte erstmals auch die Krankenversicherung m i t ökonomischer Methodik und machte konkretere Vorschläge für die Aufstellung eines umfassenden und mittelfristig vorausgerechneten Sozialbudget 160 . Die Vorarbeiten hierfür wurden alsbald aufgenommen; Anfang 1969 wurde das erste Sozialbudget veröffentlicht und dem Bundestag zugeleitet 161 . Deutlich weiter als das offizielle Sozialbudget ging eine 1968 eingeleitete Gemeinschaftsarbeit „Sozialbudget — Sozialplanung". Hier w u r de eine 10-Jahres-Vorausrechnung nicht auf Grund des geltenden Rechts, sondern auf Grund einer eigens erarbeiteten, rational durchkonstruierten — aber politische Optionen offen lassenden — sozialpolitischen Konzeption erstellt. Abgesehen von ihrem originären methodischen Ansatz zeigte diese Arbeit, daß die Sozialleistungsquote vor allem wegen demographischer Gegebenheiten zwar ansteigen, nicht aber ins Untragbare sich entwickeln werde 1 6 2 . Die 1964 regierungsamtlich eingeleitete Denk- und Handlungspause ging unmittelbar i n die wirtschaftliche Rezession über. Die durch sie bedingten Mindereinnahmen an Steuern und Beiträgen zwangen zu Konsolidierungsmaßnahmen, insbesondere des Bundeshaushalts. 1967 (Finanzänderungsgesetz) wurden die Bundeszuschüsse zur Rentenversicherung reduziert und zugleich der Beitragssatz stufenweise erhöht (1968 15%, 1969 16°/o, 1970 17%); eine kräftige Beitragserhöhung wäre allerdings wegen der bis Mitte der 70er Jahre ansteigenden Altersquote ohnehin nötig geworden. E i n Krankenversicherungsbeitrag der Rentner i n Höhe von 2 % wurde 1970 wieder beseitigt. 158 Elisabeth L i e f m a n n - K e i l , ökonomische Theorie der Sozialpolitik, B e r l i n 1961, S. 1. 159 Detlev Zöllner, öffentliche Sozialleistungen u n d wirtschaftliche E n t wicklung, B e r l i n 1963. ιβο Walter Bogs, Hans Achinger, H e l m u t Meinhold, L u d w i g Neundörfer, W i l f r i e d Schreiber, Soziale Sicherung i n der Bundesrepublik Deutschland. Bericht der Sozialenquête-Kommission, Stuttgart u. a., 1966; der Begriff Sozialbudget geht auf Mackenroth zurück, vgl. A n m . 132. 161 Sozialbudget 1968, Bundestagsdrucksache V/4160. Näheres zur Entsteh u n g u n d Methodik vgl. Hermann Berié, Das Sozialbudget, B o n n - B a d Godesberg 1970. 162 Sozialbudget — Sozialplanung. Gutachten eines Arbeitskreises der Gesellschaft f ü r sozialen Fortschritt, B e r l i n 1971. Die — auch geistige — L e i t u n g des Arbeitskreises hatte W i l l i Albers.
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Zwar auch durch finanziellen Druck ausgelöst, aber doch länger gehegten sozialpolitischen Wunschvorstellungen entsprechend waren zwei weitere Maßnahmen: der Fortfall der Versicherungspflichtgrenze für Angestellte und der Fortfall einer Beitragserstattung an Frauen bei Heirat. Ein weiteres Änderungsgesetz am Ende der Legislaturperiode (1969) diente der längerfristigen Sicherung der Rentenfinanzen. Eine solche Sicherung schien veranlaßt durch die Erfahrungen der Rezession, aber auch ermöglicht durch den 1968 beginnenden, 1969 bereits deutlich sich niederschlagenden wirtschaftlichen Aufschwung. Das Finanzierungsverfahren wurde noch mehr dem Umlageverfahren angenähert; die Regierung hat jährlich eine jeweils 15 Jahre umfassende Vorausrechnung der Rentenfinanzen vorzulegen; die Mindestrücklage beträgt drei Monatsausgaben. Der Beitragssatz beträgt ab 1972 18 v. H. Bei dieser Gelegenheit wurde auch das seit langem bestehende Problem der ungleichen Finanzentwicklung zwischen den verschiedenen Rentenversicherungsträgern endgültig gelöst. Unter den Trägern der Arbeiterrentenversicherung fand bereits früher (erstmals 1899) ein sog. Gemeinlastverfahren statt, u m die regionalen Unterschiede i n dem Verhältnis zwischen Beitragszahlern und Leistungsberechtigten a b zugleichen. Weil i n das Gemeinlastverfahren nicht alle Ausgaben eingingen, entwickelten sich die Rücklagen der einzelnen Träger weiterh i n unterschiedlich; deshalb wurde 1969 zusätzlich ein Defizitverteilungsverfahren eingeführt. Zwischen den organisatorisch getrennten Rentenversicherungen der Arbeiter und der Angestellten besteht seit 1969 ein weitgehender F i nanzausgleich. Dieser wurde erforderlich, weil die Zahl der Angestellten i m Gegensatz zu derjenigen der Arbeiter stark zunimmt m i t der Folge, daß das Verhältnis zwischen Beitragszahlern und Rentnern i n der Angestelltenversicherung sehr viel günstiger ist als i n der Arbeiterrentenversicherung. U m die bei gleichen Leistungen und finanzieller Unabhängigkeit erforderliche Konsequenz unterschiedlicher Beitragssätze zu vermeiden, wurde zunächst (1964) ein Ausgleich über entsprechende Verteilung des Bundeszuschusses gesucht. Seit 1969 sind unmittelbare Ausgleichszahlungen zu leisten, wenn das Vermögen eines Versicherungszweiges ein bestimmtes Verhältnis zu den Ausgaben unterschreitet und dasjenige des anderen Versicherungszweiges einen bestimmten Verhältniswert überschreitet. Ferner wurde eine gegenseitige Liquiditätshilfe vorgeschrieben. Der geschilderte finanzielle Verbund läßt die institutionelle Differenzierung unberührt, ermöglicht aber die Nutzung von Vorteilen einer zentralen Organisation. Sie ermöglicht insbesondere ein Auffangen der
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Wirkungen wirtschaftsstruktureller Änderungen und demographischer Verschiedenheiten. Er ist insofern eine Voraussetzung für die Aufrechterhaltung der organisatorischen Gliederung. Was hier 1969 für den Bereich der Rentenversicherung geregelt wurde, w i r d zur Zeit als Problem auch für den Bereich der Krankenversicherung diskutiert. Die Große Koalition verabschiedete nach Überwindung der Rezession 1969 noch zwei weitere wichtige sozialpolitische Gesetze: das Arbeitsförderungsgesetz und das Lohnfortzahlungsgesetz für Arbeiter. Hinsichtlich der Lohnfortzahlung richteten sich die Forderungen der Arbeiterschaft auf Gleichstellung m i t den Angestellten, die i m Krankheitsfall einen Anspruch auf Gehaltsfortzahlung für 6 Wochen hatten. Ein wichtiger Schritt i n dieser Richtung war noch i n der zweiten Legislaturperiode erfolgt. Das Lohnfortzahlungsgesetz 1957 erhöhte das Krankengeld für die ersten 6 Wochen von (in der Regel) 50 auf 65 v. H. (mit Zuschlägen für Angehörige bis 75 v. H.) des Arbeitsentgelts und verpflichtete den Arbeitgeber, den Unterschiedsbetrag zwischen Krankengeld und 90 v. H. des Nettoarbeitsentgelts zu zahlen. Dieser Prozentsatz wurde 1961 auf 100 erhöht. Die volle Gleichstellung der Arbeiter m i t den Angestellten brachte nun das Lohnfortzahlung s g es etz 1969, das dem Arbeiter einen Rechtsanspruch gegen seinen Arbeitgeber auf Fortzahlung des Arbeitsentgelts bis zur Dauer von 6 Wochen einräumte. U m das dadurch entstehende finanzielle Risiko für Kleinbetriebe zu verteilen, wurde für Betriebe mit weniger als 20 Beschäftigten ein durch Umlagebeiträge gespeister Ausgleichsfonds errichtet. Die Arbeitslosenversicherung hatte i n der Zeit rückläufiger Arbeitslosigkeit und der anschließenden Vollbeschäftigung nicht viel öffentliche Aufmerksamkeit erfordert. Trotz mehrfacher Verbesserung der Geldleistungen konnte der Beitragssatz von ursprünglich 6,5 auf 4,0 (1949), 3,0 (1955) und schließlich 2,0 v. H. (1957) herabgesetzt werden. Ein Änderungs- und Ergänzungsgesetz von 1956 brachte eine sachliche und formelle Vereinheitlichung des Rechtsstoffes, ohne jedoch inhaltlich die Grundlagen des nun fast 30 Jahre alten Gesetzes zu verlassen. 1959 wurden m i t Blick auf die saisonale Arbeitslosigkeit i m Baugewerbe das Schlechtwettergeld und Maßnahmen zur Förderung des Winterbaus eingeführt. Die Rezession 1966/67 hatte m i t Bezug auf die Arbeitsverwaltung ein neues Problembewußtsein zur Folge. Es setzte sich die Erkenntnis durch, daß diese nicht nur die Aufgabe habe, Folgen einer Arbeitslosigkeit zu mildern, sondern mehr als bisher vorsorgende Aufgaben wahrnehmen müsse. A u f diesem Grundgedanken basierte ein Ende 1967 vorgelegter Entwurf, der 1969 zur Verabschiedung des Arbeitsförderungsgesetzes führte. Es setzte der umbenannten „Bundesanstalt für Arbeit"
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das Ziel, einen hohen Beschäftigungsgrad zu erhalten, die Beschäftigungsstruktur zu verbessern und das Wachstum der Wirtschaft zu fördern. Das dafür nötige Instrumentarium — Berufsberatung, Arbeitsvermittlung, Förderung der beruflichen Bildung, Förderung der A r beitsaufnahme, Forschung und Information — wurde erheblich erweitert. Dadurch ist die Bundesanstalt seither zu einer modernen Dienstleistungsverwaltung geworden, die über ihre traditionellen Sicherungsaufgaben hinaus Aufgaben der aktiven Arbeitsmarktbeeinflussung wahrnimmt. Diese konzeptionelle Neuorientierung hat sich i n der seit 1974 schwierigen Arbeitsmarktsituation vielfach bewährt 1 0 3 . Diese schwierige Wirtschaftslage führte 1974 auch zur Einführung einer neuartigen Leistung, des Konkursausfallgeldes, das die Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers als Lohnersatz erhalten. g) Weiterentwicklungen
1970-1975
Die Bildung einer von der SPD geführten Bundesregierung — „sozialliberale Koalition" — nach den Bundestagswahlen i m Herbst 1969 löste innenpolitisch Empfindungen, Wunschvorstellungen und Aktivitäten aus, die später als „Reformeuphorie" bezeichnet wurden. Nach der voraufgegangenen Phase der ökonomisierung und der Anpassungsmaßnahmen an die Rezessionsfolgen entstand eine Erwartungshaltung auf die Umsetzung traditioneller sozialdemokratischer Zielsetzungen, die um so mehr gerechtfertigt erschien, als die wirtschaftlichen Voraussetzungen infolge des Aufschwungs gut waren. Diese Zielsetzungen verbanden sich mit Begriffen wie: Sozialplanung, gestaltende und präventive Sozialpolitik, umfassende soziale Sicherung für alle. Die neue Regierung konkretisierte ihre Absichten nicht nur in der Regierungserklärung (Oktober 1969), sondern auch in dem wenig später (April 1970) vorgelegten „Sozialbericht 1970", der neben einem ausgebauten und um eine funktionale Gliederung erweiterten Sozialbudget auch eine zusammenfassende Darstellung von Problemen und Aufgaben der Sozialpolitik enthielt. Der Bericht geht „von der Notwendigkeit innerer Reformen aus und versucht aufzuzeigen, wo sich für eine Weiterentwicklung der Sozialpolitik neue Ansätze und Möglichkeiten ergeben" 164 . Der hier benutzte — und später oft wiederholte — Begriff „Weiterentwicklung" wollte einerseits der erwähnten Erwartungshaltung Rechnung tragen; er beinhaltete andererseits aber auch die Absicht, auf der Grundlage des Bestehenden weiter —, nicht auf andere Grundlagen h i n 163 Der Beitragssatz lag ab 1961 unter 2 v . H.; er mußte 1975 auf 2,0 u n d 1976 auf 3,0 v. H. erhöht werden. 164 Sozialbericht 1970, S. 3.
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neu zu entwickeln. Doch man hielt sich m i t begrifflichen Klärungen nicht lange auf; die Weiterentwicklung wurde schnell konkret. Sie erfaßte die Inangriffnahme eines Sozialgesetzbuches sowie quantitative und qualitative Erweiterungen in allen Zweigen der Sozialversicherung. Diese sogleich näher zu schildernden Vorgänge waren jedoch nur ein Ausschnitt aus einer Skala weit angelegter Aktivitäten. Die Bundesregierung berief i m Jahre 1970 4 Kommissionen: Die Kommission für wirtschaftlichen und sozialen Wandel, die 1976 ein abschließendes Gutachten vorlegte 1 6 5 , sowie Sachverständigenkommissionen zur Vorbereitung eines Arbeitsgesetzbuches, für ein Sozialgesetzbuch und zur Weiterentwicklung der sozialen Krankenversicherung. Ein Aktionsprogramm Rehabilitation vom A p r i l 1970 leitete insbesondere eine Erweiterung institutioneller Kapazitäten in diesem Bereich ein. I m gleichen Jahr wurden Gesetzentwürfe vorgelegt zur Erhöhung des Kindergeldes (verabschiedet 1970), zur Dynamisierung der Kriegsopferrenten (verabschiedet 1970), zur Erweiterung und Vereinheitlichung der Ausbildungsförderung (verabschiedet 1971), zur Ausweitung und Erhöhung des Wohngeldes (verabschiedet 1970) und zur Neuregelung der Betriebsverfassung, die 1972 i n Kraft trat. Auch auf europäischer Ebene wurde Weiterentwicklung gesucht. Bis 1969 war die deutsche Haltung i n sozialpolitischen Fragen unter Hinweis auf die eng begrenzten Kompetenzen der EG-Organe restriktiv gewesen. Die Diskussion hatte sich über viele Jahre h i n an dem Problem der „Harmonisierung" verstrickt. Hierzu hieß es nun: „Die Bundesregierung ist der Meinung, daß eine Harmonisierung i m Bereich der Sozialpolitik um jeden Preis für die europäische Integration ebenso nachteilig wäre wie das unbedingte Beharren auf den historisch gewachsenen vielfältigen Formen der sozialen Systeme." A u f deutsche Initiative h i n beschloß der Rat der Europäischen Gemeinschaften i m November 1970, zu klären, „welche gemeinsamen Ziele i n Zukunft m i t den i m einzelnen unterschiedlich bleibenden Systemen der sechs Mitgliedstaaten anzustreben wären" 1 6 6 . Innenpolitisch nahmen i m Bereich der Sozialversicherung die eingesetzten Kommissionen ihre Arbeit zügig auf. Die i m Mai 1970 eingesetzte Sachverständigenkommission für ein Sozialgesetzbuch hatte die Aufgabe, die Bundesregierung bei der Erarbeitung eines Entwurfs für les wirtschaftlicher u n d sozialer Wandel i n der Bundesrepublik Deutschland, veröffentlicht v o m Bundesminister f ü r A r b e i t u n d Sozialordnung, Bonn 1976. 168
Sozialbericht 1971, S. 42; vgl. i m übrigen Detlev Zöllner, Formen internationaler Zusammenarbeit i n der sozialen Sicherung, Bundesarbeitsblatt 1971, S. 229; vgl. auch Entschließung des Rates der E G v o m 21. 1. 74 über ein sozialpolitisches Aktionsprogramm.
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ein Sozialgesetzbuch zu unterstützen. Damit war ein Vorhaben in A n griff genommen, das erstmals i m Godesberger Programm der SPD von 1959, dann auch i n der Regierungserklärung von 1969 angesprochen worden war. Die Kodifizierung des Sozialrechts i n einem Sozialgesetzbuch war vor allem auf die Ziele Transparenz und Vereinfachung gerichtet. Regierung und Sachverständigenkommission waren sich darin einig, daß ein solches Ziel nur stufenweise erreicht werden könne. Man nahm zunächst einen „Allgemeinen Teil" des Sozialgesetzbuches in A n griff, der i m Frühjahr 1972 als Regierungsentwurf vorgelegt wurde 1 6 7 . Die Verabschiedung erfolgte allerdings erst durch den folgenden Bundestag i m Jahre 1975. Ein Jahr später wurde als zweite Stufe das Sozialgesetzbuch — Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung — verabschiedet. Weitere Stufen — Verwaltungsverfahren und Jugendhilfe — liegen den gesetzgebenden Körperschaften zur Zeit vor. Auch die Arbeiten der i m A p r i l 1970 berufenen Sachverständigenkommission zur Weiterentwicklung der sozialen Krankenversicherung führten recht bald zu konkreten Ergebnissen, die sich auch i n Gesetzesänderungen niederschlugen. Die Weiterentwicklung der Krankenversicherung wurde dadurch begünstigt, daß die Einführung der arbeitsrechtlichen Lohnfortzahlung ab Anfang 1970 zu einer erheblichen finanziellen Entlastung der Krankenversicherung geführt hatte. Ein Weiterentwicklungsgesetz vom Dezember 1970 ermöglichte allen Angestellten den freiwilligen Beitritt zur gesetzlichen Krankenversicherung. Die Versicherungspflichtgrenze wurde dynamisiert i n Höhe von 75 v. H. der jeweiligen Beitragsbemessungsgrenze i n der Rentenversicherung. Freiwillig versicherten Angestellten wurde ein Anspruch gegen den Arbeitgeber auf einen Zuschuß zu ihrem Krankenversicherungsbeitrag eingeräumt. Dieses Gesetz führte weiter als neue Leistungsart der Krankenkassen Maßnahmen zur Früherkennung von Krankheiten ein. Über die seit 1923 zulässigen Kann-Leistungen zur Vorbeugung von Erkrankungen hinaus erhielten Versicherte nun unter bestimmten Bedingungen einen Rechtsanspruch auf Früherkennungsuntersuchungen. Hier wurde eine Wende i m Verständnis der Krankenversicherung i n Richtung auf eine Gesundheitssicherung deutlich. Durch ein Gesetz über die Krankenversicherung der Landwirte w u r den 1972 auch die Selbständigen, mitarbeitenden Familienangehörigen sowie die Bezieher von Altersgeld i n die Krankenversicherung einbezogen. Dieser Personenkreis erhält kein Krankengeld, wohl aber unter bestimmten Voraussetzungen für die Weiterführung des Betriebes eine 167 Hans F. Zacher (während der ersten Jahre Vorsitzender der Sachverständigenkommission f ü r ein Sozialgesetzbuch), Das Vorhaben des Sozialgesetzbuchs, Percha 1973.
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Ersatzkraft. Die landwirtschaftlichen Krankenkassen wurden — wie vorher schon die Alterskassen — bei den landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften errichtet. Ein Leistungsverbesserungsgesetz vom Dezember 1973 räumte Versicherten unter bestimmten Bedingungen einen Anspruch auf Haushaltshilfe bei Krankenhausaufenthalt sowie auf Arbeitsfreistellung und Krankengeld bei Erkrankung eines Kindes ein. Die zeitliche Begrenzung der Krankenhauspflege fiel weg. Schließlich wurden m i t Gesetz vom Juni 1975 alle Studenten i n die gesetzliche Krankenversicherung einbezogen und m i t einem Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetz vom August 1975 als „sonstige Hilfen" ärztliche Beratung zur Empfängnisregelung, Leistungen bei Sterilisation und Schwangerschaftsabbruch eingeführt. Eine bedeutsame Weiterentwicklung der Unfallversicherung war die Einbeziehung der Schüler, Studenten sowie Kinder i n Kindergärten in den Versicherungsschutz und damit auch i n verstärkte Unfallverhütungsmaßnahmen (1971). Ferner wurde i n der landwirtschaftlichen Unfallversicherung die Betriebs- und Haushaltshilfe als neue Leistung eingeführt (1972). Hinsichtlich der Rentenversicherung sind oben die finanziellen Konsolidierungsmaßnahmen des Jahres 1969 geschildert worden. Sie erwiesen sich i m Nachhinein als überproportioniert. Die unter dem Eindruck der Rezession getroffenen Maßnahmen führten dazu, daß die Vorausrechnungen der folgenden Aufschwungjahre 1970 -1972 ständig wachsende Uberschüsse auswiesen. Die Regierung konnte also auch hier Weiterentwicklungen i n Angriff nehmen. I n einem Gesetzentwurf zur weiteren Reform der gesetzlichen Rentenversicherung von 1971 schlug sie vor: — Einführung einer flexiblen (herabgesetzten) Altersgrenze 1 6 8 ; — Rentenberechnung nach einem Mindesteinkommen zum Ausgleich niedriger Löhne i n der Vergangenheit; — Anrechnung eines zusätzlichen Versicherungsjahres für Frauen je K i n d („Babyjahr"); — Öffnung der Rentenversicherung für alle Staatsbürger. 168 Die Aufnahme dieses Programmpunktes, der sich sozialpolitisch u n d ab 1973 arbeitsmarktpolitisch als so segensreich erwies, i n die Regierungserklär u n g von 1969 u n d seine Popularisierung ist i n ungewöhnlichem Maße dem persönlichen Einsatz des damaligen Bundesarbeitsministers Walter A r e n d t zuzuschreiben; vgl. Walter Arendt, Kennzeichen Sozial, Stuttgart 1972, S. 198 ff.
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Die parlamentarische Beratung des Gesetzes fiel i n eine Zeit abbröckelnder Mehrheit der Regierungskoalition und bevorstehender (vorgezogener) Bundestagswahlen. Dies und die sich i n kurzen Abständen besser darstellenden finanziellen Vorausrechnungen führten zu Beschlüssen, die die ursprünglich geplanten Mehrausgaben etwa verdoppelten. Wieder kam es zu einer Uberreaktion auf aktuelle (diesmal günstige) wirtschaftliche Umstände. Von den vorgeschlagenen Maßnahmen wurden die flexible Altersgrenze und die Rente nach Mindesteinkommen beschlossen. Die Öffnung der Rentenversicherung wurde erweitert um großzügige Nachentrichtungsmöglichkeiten. Zusätzlich wurde die Anpassung der Bestandsrenten um ein halbes Jahr vorgezogen. Insbesondere diese letztere Maßnahme belastete die späteren Vorausrechnungen der Finanzlage der Rentenversicherung erheblich. Der Phase der Weiterentwicklung zuzurechnen, obwohl ihre Verabschiedung bereits i n die Zeit des 1973 beginnenden wirtschaftlichen Rückgangs fällt, sind noch die folgenden Gesetze: — Rehabilitations-Angleichungsgesetz (1974), das eine Verbesserung, vor allem auch eine Vereinheitlichung der Leistungen i m Falle der Behinderung brachte; — Gesetz über die Sozialversicherung Behinderter (1975), das die in Werkstätten und Anstalten beschäftigten Behinderten unter besonderen Bedingungen i n die Kranken- und Rentenversicherung einbezog; — Gesetz über die Errichtung einer Zusatzversorgungskasse für A r beitnehmer in der Land- und Forstwirtschaft (1974); — Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung (1974), das eine bedingte Unverfallbarkeit von Versorgungsanwartschaften sowie ein Verbot von Leistungskürzungen wegen der Erhöhung von Sozialversicherungsrenten brachte. h) Konsolidierung
und Kostendämpfung
ab 1975
I m Herbst 1973 wurde aus Anlaß des ersten „Ölschocks" offenbar, daß ein wirtschaftlicher Abschwung eingesetzt hattë. Die Zahl der A r beitslosen stieg seit Sommer von Monat zu Monat an und lag deutlich über den jeweiligen Vorjahreswerten. I m Januar 1974 lag sie m i t über 600.000 fast doppelt so hoch wie ein Jahr zuvor. Zugleich wuchs die Zahl ausländischer Arbeitnehmer weiter an. I n dieser Lage erließ der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung i m November 1973 einen Anwerbestopp für ausländische Arbeitnehmer, der bis heute gültig ist. Diese Maßnahme w i r k t e zwar entlastend auf den Arbeitsmarkt, hin11 Sozialversicherung
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derte jedoch nicht den weiteren Anstieg der Zahl der Arbeitslosen, die i m Januar 1975 die Millionengrenze überschritt. Veranlaßt durch die plötzliche ölverteuerung wurde durch Gesetz vom Dezember 1973 den Empfängern von Wohngeld und Sozialhilfe ein einmaliger Heizölkostenzuschuß gewährt. Dieser Vorgang wiederholte sich i m Winter 1979. aa) Krankenversicherung I n bezug auf die Krankenversicherung hatte sich die Regierung nach der bis 1973 erfolgten Ausbauphase die Regelung finanzieller, organisatorischer und struktureller Fragen vorgenommen. I n bezug auf die gleichmäßige kassenärztliche Versorgung hatten sich Mängel i n ländlichen und Stadtrandgebieten gezeigt. Ein i m November 1974 vorgelegter Entwurf, der i m Dezember 1976 verabschiedet wurde, verbesserte das den Kassenärztlichen Vereinigungen zur Verfügung stehende I n strumentarium zur Sicherstellung der kassenärztlichen Versorgung, sah eine Bedarfsplanung und eine M i t w i r k u n g der Krankenkassen vor. Ende 1974 wurde eine Entwicklung offenbar, die bald als „Kostenexplosion" i m Gesundheitswesen bezeichnet wurde. Auslösend waren die rückläufigen Steigerungsraten der Beitragseinnahmen. Dagegen stiegen die Ausgaben m i t zunehmenden Raten, wobei strittig diskutiert wurde, ob die Hauptursache dafür die Leistungsausweitungen oder strukturelle Faktoren seien, wie die Verteuerung der Dienstleistungen, die zunehmende Apparatemedizin, das zunehmende Durchschnittsalter und steigende Gesundheitsbewußtsein der Bevölkerung. Angesichts steigender Beitragssätze bei den Krankenkassen bemühte sich die Regierung i m Laufe des Jahres 1975 i n Gesprächen mit allen beteiligten Gruppen u m eine Politik der Kostendämpfung, die darauf abzielte, „die Handlungsspielräume der Beteiligten auszuschöpfen und die Strukturen i n Richtung auf mehr Wirtschaftlichkeit und Bedarfsgerechtigkeit fortzuentwickeln . . . Die Beteiligten sagten zu, jeweils i n ihren Bereichen alle Möglichkeiten der Kostendämpfung auszuschöpfen" 169 . Die Erfolge dieses Bemühens griffen jedoch nicht schnell und vor allem nicht tief genug. Die Beitragssätze stiegen auf breiter Front weiter. Der durchschnittliche Beitragssatz erreichte m i t 10,4 v. H. i m Jahre 1975 den Stand des Jahres 1969 vor Einführung der arbeitsrechtlichen Lohnfortzahlung. Danach (1971) hatte er 8,2 v. H. betragen. 1976 stieg er auf 11,3 v. H. Die Regierung erwog Ende 1975 und Anfang 1976 gesetzgeberische Maßnahmen, konnte sich aber nicht zu Beschlüssen durchringen 1 7 6 . Immerhin bewirkte das drohende Eingreifen des Gesetz169
Sozialbericht 1976, S. 28.
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gebers eine zurückhaltende Honorarforderungspolitik Organisationen.
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der ärztlichen
Erst die nach der Bundestagswahl 1976 neugebildete Regierung legte den Entwurf für ein Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetz vor, das i m Juni 1977 verabschiedet wurde. Neben einer Reihe zumutbar erscheinender Leistungsbegrenzungen waren dessen Kernpunkte: — Bei Verhandlungen über die Gesamtvergütung für ärztliche Leistungen ist die Entwicklung der Grundlohnsumme zu berücksichtigen. — Für verordnete Arzneimittel w i r d ein Höchstbetrag vereinbart, bei dessen Überschreitung bestimmte Kontrollmechanismen einsetzen. — Es können Verträge über vorstationäre Diagnostik und nachstationäre Behandlung i n Krankenhäusern abgeschlossen werden. — Bildung einer Konzertierten A k t i o n i m Gesundheitswesen. Weiter wurde ein Finanzausgleich für die Krankenversicherung der Rentner eingeführt. Ein Gesetzentwurf zur Überarbeitung des Krankenhausfinanzierungsgesetzes mit dem Ziel einer besseren Kostensteuerung ist noch nicht verabschiedet. Es bleibt zu berichten, daß die Beitragssätze der Krankenversicherung i n den Jahren 1977 - 1979 stabil geblieben sind. Indizien sprechen dafür, daß dies i n erster Linie nicht eine direkte Folge der gesetzlichen Änderungen ist, sondern eine indirekte, deswegen aber nicht weniger begrüßenswerte: Die heftige öffentliche Diskussion und die bloße Tatsache gesetzgeberischer A k t i v i t ä t hatte kostendämpfende Auswirkungen auf das Verhalten aller Beteiligten. bb) Rentenversicherung Die Rentenversicherung ging i n der fraglichen Zeit auf den Höhepunkt des demographisch bedingten sogenannten „Rentenberges" zu. Bei stagnierender Bevölkerung stieg die Zahl der Rentenempfänger zwischen 1969 und 1978 von 9,5 auf 12 Millionen an. Die Rentenreform von 1972 hatte erhebliche Mehrausgaben verursacht. Die hohen Lohnsteigerungsraten der Aufschwung] ahre schlugen sich mit dem i n der Rentenformel enthaltenen „time lag" nun in hohen Anpassungsraten für die Renten nieder. Den steigenden Ausgaben standen m i t Beginn der Rezession ab Ende 1973 langsamer steigende Einnahmen gegenüber. Die Lage war jedoch zunächst nicht beunruhigend, weil genau für die170 Eine Ausnahme w a r das Gesetz über Regelungen auf dem A r z n e i m i t t e l m a r k t v o m August 1976, das durch Senkung der Handelsspannen eine mäßige Preisniveausenkung für A r z n e i m i t t e l bewirkte.
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sen Fall die Rücklage („Schwankungsreserve") der Rentenversicherung vorhanden war. Das Jahr 1974 Schloß noch m i t einem Einnahme-Überschuß von 6,6 Mrd. D M ab. Erst 1975 entstand ein Defizit von 0,6 Mrd. DM, dem jedoch eine Rücklage i n Höhe von 45 Mrd. D M gegenüberstand. I n dieser Lage hing die Beurteilung politischer Entscheidungen davon ab, welche Annahmen man hinsichtlich des Fortgangs der wirtschaftlichen Entwicklung zugrunde legte. Die nun einsetzende öffentliche Diskussion über die Finanzen der Rentenversicherung war eine Diskussion über mögliche, wahrscheinliche oder befürchtete künftige Entwicklungen. Diese Diskussion verhärtete sich und wurde ein Wahlkampfthema für die Bundestagswahl 1976. Einerseits wurde auf die Gefahr hingewiesen, daß die Rücklage der Rentenversicherung binnen weniger Jahre aufgezehrt sein würde, wenn man „realistische" Annahmen zugrunde lege. Andererseits mußte die Bundesregierung die Möglichkeit und Wünschbarkeit günstigerer A n nahmen betonen schon allein, um einen negativen „Signaleffekt" für die tatsächliche wirtschaftliche Entwicklung zu vermeiden. Ihre Aussage: „Die Renten sind sicher" war begründet, soweit damit die aktuelle Zahlungsfähigkeit der Versicherungsträger, aber auch die künftige Sicherung nicht nur der nominalen Zahlbeträge, sondern auch der Kaufkraft der Renten gemeint war. Wenn die Rentensicherheit von anderer Seite bezweifelt wurde, so bezog sich dies — wenn man von tagespolitischer Polemik absieht — allein auf Zeitpunkt und Ausmaß künftiger Rentenerhöhungen. Hier allerdings entstand ein Entscheidungsbedarf, als sich i m Laufe des Jahres 1976 die wirtschaftlichen Daten nicht besserten und die Rentenversicherung m i t einem Defizit von rd. 6 Mrd. D M abschloß. Die neue Bundesregierung legte i m Februar 1977 den Entwurf eines 20. Rentenanpassungsgesetzes vor, das bereits i m Juni des gleichen Jahres verabschiedet wurde. Es sah neben einer Rentenanpassung zum 1. 7.1977 folgende Konsolidierungsmaßnahmen vor: — Verschiebung des Rentenanpassungstermins auf den 1. Januar jeden Jahres; — Entlastung von Ausgaben für die Krankenversicherung der Rentner zu Lasten der Krankenversicherung (für die gleichzeitig das Kostendämpfungsgesetz erging) ; — Zahlung von Beiträgen für Arbeitslose durch die Bundesanstalt für Arbeit; — Vorzeitige Rückzahlung gestundeter Bundeszuschüsse; — Herabsetzung der Mindestrücklage auf 1 Monatsausgabe.
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Hinzu kamen eine Reihe entlastender Bereinigungen hinsichtlich M i n destbeitrag bei freiwilliger Versicherung, Kinderzuschuß, Nebenverdienstgrenzen und Rehabilitationsmaßnahmen. Die Hoffnung, daß m i t diesem Gesetz die Finanzlage der Rentenversicherung dauerhaft konsolidiert sei, erfüllte sich nicht. A u f der Grundlage neuer gesamtwirtschaftlicher Annahmen über die mittelfristige Wirtschaftsentwicklung i m Januar 1978 ergaben die Vorausrechnungen erneut eine Finanzierungslücke. Die Regierung mußte m i t dem Entw u r f eines 21. Rentenanpassungsgesetzes weitere Konsolidierungsmaßnahmen vorschlagen. Das i m J u l i 1978 verabschiedete Gesetz schrieb eine Beitragserhöhung von 18,0 auf 18,5 v. H. ab 1981 vor und setzte abweichend vom bisherigen Verfahren die Anpassungssätze für die Renten diskretionär fest. Nach den Vorschriften der Rentendynamik wären die Renten i n den Jahren 1979 bis 1981 u m 7,2, 6,9 und 6,1 v. H. zu erhöhen gewesen. Das neue Gesetz reduzierte diese Sätze auf 4,5, 4,0 und 4,0 v. H. Diese Beteiligung der Rentner an der Konsolidierung der Rentenfinanzen wurde als wirtschaftlich tragbar angesehen, weil das Rentenniveau i m Vergleich zu den Nettolöhnen seit 1975 erheblich angestiegen war. Kritisiert wurde diese Maßnahme denn auch nicht so sehr wegen ihres wirtschaftlichen Ergebnisses, sondern „wegen ihrer politischen Bedeutung. Die Rentenanpassungen waren ihrer Höhe nach i n der Vergangenheit stets umstritten. Allerdings hatte das (quasi automatische) Anpassungsverfahren so viel normative K r a f t entfaltet, daß es sich auch unter stark konservativen Einflüssen jeweils durchgesetzt hat. Damit war ein Stück soziale Sicherheit faktisch der W i l l k ü r der Politik entzogen; die Stetigkeit der Renteneinkommensentwicklung gehorchte innerhalb der Grenzen der wirtschaftlichen Entwicklung eigengesetzlichen sozialpolitischen Zielen. Die Durchbrechung dieses Dogmas durch das 21. Rentenanpassungsgesetz restauriert i n dieser Hinsicht den Zustand vor 1957: die Rentenpolitik ist wieder stärker dem politischen Zugriff ausgesetzt und gerät damit weiter i n parteipolitische und wahltaktische Überlegungen. Es darf vermutet werden, daß dies der Sachdienlichkeit von Maßnahmen nicht förderlich sein w i r d " 1 7 1 .
171 Standfest (Anm. 138), S. 92. Angesichts der „Gefahr, daß nach den A u s nahmejahren nicht wieder die an die Bruttolohnsteigerungen anknüpfende Anpassung zum Zuge komme", hatte eine Hälfte der bei Beschlußfassung anwesenden Mitglieder des Sozialbeirats eine andere konkrete Lösungsmöglichkeit empfohlen. Vgl. Gutachten des Sozialbeirats v o m 10. 3. 1978, Dt. B u n destag, Drs. 8/1665, Z i t a t S. 7.
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cc) Sonstige Entwicklungen Die sozialpolitische Diskussion war seit 1975 i n starkem Maße durch die erwähnten Kostendämpfungs- und Konsolidierungsbemühungen geprägt. Dies Schloß finanziell wirksame Leistungsverbesserungen weitgehend aus. Immerhin wurde 1978 aus vorwiegend arbeitsmarktpolitischen Erwägungen die flexible Altersgrenze für Schwerbehinderte stufenweise von 62 auf 60 Jahre herabgesetzt. Finanziell wenig wirksam wurden noch i n der 7. Legislaturperiode zwei Vorhaben verabschiedet, die strukturell fortdauernde W i r k u n g haben werden. Das Mitbestimmungsgesetz von 1976 erfaßte rd. 500 Unternehmen und erweiterte die Vertretung der Arbeitnehmer i n deren Aufsichtsrat bis knapp unterhalb der Parität. I m Zusammenhang m i t einer Reform des Ehe- und Familienrechts wurde i m Dezember 1975 ein Versorgungsausgleich eingeführt. Ausgehend von dem Gedanken der gleichberechtigten Teilhabe beider Ehepartner an den während der Ehe gemeinsam erworbenen Versorgungsanwartschaften findet künftig i m Falle der Ehescheidung ein Ausgleich der Anrechte und Aussichten auf eine Invaliditäts- und Altersversorgung statt. Der Ausgleich erfolgt dadurch, daß für den versorgungsrechtlich schwächer abgesicherten Ehegatten, i n aller Regel also für die Frau, Rentenanwartschaften i n der gesetzlichen Rentenversicherung übertragen werden oder dort zu begründen sind. A u f diese Weise gutgeschriebene Anwartschaften führen i m Falle der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit und i m Alter zu einer eigenen Rentenleistung aus der gesetzlichen Rentenversicherung. Das Thema der sozialen Sicherung der Frau und der Hinterbliebenen w i r d ein wichtiger Diskussionspunkt der näheren Zukunft sein. Die Neuregelung dieses Bereichs w i r d voraussichtlich eine der ersten sozialpolitischen Reformvorhaben i m zweiten Jahrhundert der Geschichte der Sozialversicherung sein. Das Bundesverfassungsgericht hat 1975 i n einer grundlegenden Entscheidung festgestellt, daß der derzeitige Rechtszustand, nach dem für Witwen- und Witwerrente unterschiedliche Voraussetzungen gelten, angesichts der zunehmenden Erwerbstätigkeit verheirateter Frauen nicht beibehalten werden kann. Der Gesetzgeber wurde verpflichtet, die Hinterbliebenenversorgung bis 1984 neu zu ordnen. Eine von der Bundesregierung i m Oktober 1977 berufene Sachverständigenkommission hat ihr Gutachten i m Mai 1979 vorgelegt 1 7 2 . Die Diskussion um das letzterwähnte Problem w i r d voraussichtlich — wie schon die Begründung des Bundesverfassungsgerichtsurteils von 172 Vorschläge zur sozialen Sicherung der Frau u n d der Hinterbliebenen, hrsg. v o m Bundesminister f ü r A r b e i t u n d Sozialordnung, Bonn 1979.
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1975 — verstärkt m i t soziologischen Argumenten geführt werden und damit eine seit einiger Zeit erkennbare Tendenz bestärken, die man als „Soziologisierung" der wissenschaftlichen Sozialpolitik bezeichnen kann, die auf die oben erwähnte Phase der ökonomisierung folgte. Nachdem die Soziologie über sehr lange Zeit das Phänomen soziale Sicherung kaum wahrgenommen und zu ihrem Forschungsgegenstand gemacht hatte, setzte nach der Rentenreform von 1957 eine K r i t i k an deren „Verrechtlichung" und „Monetarisierung" ein 1 7 3 , deren Vertiefung neben vielen interessanten Gesichtspunkten auch zu der Ansicht führte, daß allein die Soziologie über ein geeignetes Instrumentarium für eine adäquate Behandlung der sozialpolitischen Problematik verfüge 1 7 4 . Es setzten empirische Untersuchungen ein 1 7 5 , deren Anzahl sich i n jüngster Vergangenheit rasch vermehrte. Dabei fällt allerdings auf, daß die neueren Untersuchungen und Reflexionen aus soziologischer Feder fast ausschließlich Randbereiche des institutionell, personell und finanziell großen Gebiets der sozialen Sicherung behandeln. Eine Soziologisierung auch zentraler Fragen w i r d um so eher zu Bereicherungen des Standes der Erkenntnis führen, je mehr anerkannt wird, daß die i n einhundertjähriger Entwicklung entstandenen bedeutsamen monetären Umverteilungsmaßnahmen auf der Grundlage der Rechtssicherheit i m Prinzip unverzichtbar sind 1 7 6 .
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Hans Achinger, Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik, H a m b u r g 1958. Christian von Ferber, Sozialpolitik i n der Wohlstandsgesellschaft, H a m b u r g 1967, S. 26. Diese Ansicht folgt bei Ferber aus einem spezifischen V e r ständnis des Begriffes Sozialpolitik. „Sozialpolitik ist k e i n systematischer, sondern ein historischer Begriff . . . Sozialpolitik bezeichnet einen Konsensus, sie bildet eine Grundlage f ü r politische Aktionen." 175 Franz-Xaver Kaufmann, Sicherheit als soziologisches u n d sozialpolitisches Problem, Stuttgart 1970. 176 Die Bedeutung der Rechtssicherheit für das Vertrauen der Betroffenen betont aus soziologischer Sicht Hans Braun, Soziale Sicherung, System u n d Funktion, 2. Aufl., Stuttgart 1972, S. 40. Z u r K r i t i k an dem ökonomisierungsu n d Verrechtlichungssyndrom vgl. auch Volker Hentschel, Das System der sozialen Sicherung i n historischer Sicht 1880 bis 1975, Archiv f ü r Sozialgeschichte, 1978, S. 307 ff., insbes. S. 351 f. 174
C. Schluß: Aspekte der Erklärung Die vorstehende knappe Schilderung der fast 100jährigen Geschichte der deutschen Sozialversicherung verleitet zu der Frage, ob und wie deren Entstehung und Entwicklung erklärt werden kann. Solche Erklärung i m Sinne eines Versuches, das Geschehene i n seiner Sinn- und Zielhaftigkeit zu verstehen, könnte hilfreich sein für vergleichende Betrachtungen, für Vermutungen über die künftige Entwicklung sowie für beratende Tätigkeit beim Auf- und Ausbau junger Systeme der sozialen Sicherung. Allerdings müßte ein derartiger Versuch sehr viel breiter angelegt sein, als es die hier vorgegebenen Zusammenhänge und Begrenzungen erlauben. Deshalb können nur einige wenige Aspekte als „Einstieg" i n eine umfassendere Diskussion angesprochen werden, wobei es zweckmäßig erscheint, zwischen Aspekten zu unterscheiden, die sich auf die Entstehung der Sozialversicherung und solchen, die sich auf deren weitere Entwicklung beziehen. 1. Zur Entstehung
Die Bedingungen für die Entstehung von Sozialversicherung sind an anderer Stelle ausführlich behandelt worden 1 7 7 . Uber A r t und W i r k weise der i n Betracht kommenden Faktoren besteht weitgehend Einigkeit; doch ist deren jeweiliges Wirkgewicht weniger geklärt — und gewiß wegen nationaler Sonderheiten auch weniger leicht allgemeingültig klärbar. I n Deutschland wirkten um die Mitte des vorigen Jahrhunderts eine Reihe von Faktoren, die i n gleicher oder ähnlicher Weise auch i n anderen westeuropäischen Ländern wirksam waren: Industrialisierung, Liberalisierung, Bevölkerungszunahme, Urbanisierung, zunehmende Lohnabhängigkeit, räumliche Konzentration der neuen Industriearbeiterschaft. Solche Faktoren höhlten die Funktionsfähigkeit älterer Formen sozialer Sicherung aus und ließen neue Bedürfnisse nach sozialer Sicherung entstehen, die diese älteren Formen nicht befriedigen konnten. Hinzu kam die politische Mobilisierung der Arbeiterschaft, die von der neuen Situation i n erster Linie betroffen war. Diese Politisierung führte vor dem Hintergrund der i m 19. Jahrhundert hervorgetretenen Tendenz zur Rationalisierung, Individualisierung und Demokratisierung zur Verbreitung der vom Liberalismus abweichenden Auffassung, daß 177
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eine staatliche Verantwortung für die Lösung sozialer Probleme gegeben sei. „Soziale Notstände gewannen damit eine politische Dimension" 1 7 8 . Das Hineinwachsen objektiver Zustände i n das politische Problembewußtsein war neu und für die weiteren Geschehnisse insbesondere i n Deutschland entscheidend. Denn i n bezug auf die wirtschaftliche Entwicklung, den Stand der Industrialisierung war Deutschland zur Zeit der Reichsgründung keineswegs der Spitzenreiter, sondern hatte nach Großbritannien, Belgien, der Schweiz und Frankreich erst den fünften Rangplatz inne. Den frühen Beginn der Sozialgesetzgebung i n Deutschland kann man also aus dem wirtschaftlichen Entwicklungsstand nicht hinreichend erklären. „Soziale Traditionen und politische Konstellationen gaben den Ausschlag" 179 . Ob soziale Traditionen i n Deutschland anders, vor allem aber früher und mächtiger gewirkt haben als i n den Nachbarländern, kann hier nicht entschieden werden. Immerhin w i r d darauf hingewiesen, daß die frühe Einführung der Sozialversicherung nicht aus einer besonderen „Modernität" des Bismarckreiches erwachsen ist, „sondern aus der spezifischen und andauernden Labilität der Reichsgründung sowie älteren Schichten von Staatsverständnis und Verwaltungstradition. So war es allenfalls die Modernität des vorliberalen Denkens, zu welchem man i n Deutschland m i t der konservativen Wendung 4 von 1878 leichter als anderswo zurückkehrte. Es ist das Fesselnde an dieser konservativen Wendung, daß sie — als Reaktion auf die innere Krise — zugleich progressive 4 Ergebnisse hervorbrachte" 1 8 0 . I m Hinblick auf politische Konstellationen erscheint ein Urteil leichter. Dabei ist an ein für Deutschland spezifisches agens zu erinnern, nämlich daß „ . . . nicht die Parlamentsparteien, sondern die damalige politische Führung und Bürokratie die entscheidende Triebkraft für die Entwicklung eines staatlichen Sozialversicherungssystems i n Deutschl a n d " 1 8 1 waren. Die Frage, warum sich die politische Führung i n Deutschland veranlaßt sah, die Rolle einer Triebkraft für die Entwicklung einer staatlichen Sozialversicherung anzunehmen, ist i m Rahmen politischer Systeme und deren Reaktionsweisen auf veränderte sozioökonomische Daten und politische Mobilisierungseffekte untersucht worden; dabei w i r d das damalige Deutschland als autoritäres System i m Gegensatz zu parla178 Jens Alber, Modernisierung u n d die E n t w i c k l u n g der Sozialversicherung i n Westeuropa, Dissertation Mannheim 1979, S. 22. 179 Fischer, i n : Zacher, S. 91. 180 Michael Stolleis, Die Sozialversicherung Bismarcks. Politisch-institutionelle Bedingungen ihrer Entstehung, i n : Zacher, S. 394. 181 Michael Stolleis, Diskussionsbeitrag i n Bedingungen, S. 222.
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mentarischen Systemen beschrieben. „Das Vorangehen Deutschlands w i r d i n diesem Rahmen dadurch erklärlich, daß sich die frühe politische Organisation der Arbeiter i m autoritären Staat mit einer relativ fortgeschrittenen sozioökonomischen Entwicklung verband" 1 8 2 . Diese Sicht erscheint plausibel, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die politische Führung und Bürokratie diejenigen eines soeben erst errichteten Reiches waren. Diesem Reich fehlte es an demokratischer Legitimation, es w a r weder gewachsen noch spontan entstanden, sondern eine staatsrechtliche Schöpfung, die politisch „geschmiedet" worden war gegen den Widerstand partikulärer Interessen und zur Enttäuschung großdeutscher Hoffnungen. Man hat den Zustand bezeichnet als die „Unfertigkeit und Unsicherheit, die fortwährende Problematik des neuen Reiches, seine Gefährdung i m Innern wie nach Außen" 1 8 3 . Es bestand also ein hoher Integrations- und Stabilisierungsbedarf oder: ein hoher Sensibilisierungsgrad der Verantwortlichen für destabilisierende Faktoren. Dies letztere gilt i n besonderem Maße für den Schöpfer des Reiches, der die Rolle des Stabilisators annahm und dem die Zeit und Autorität gegeben war, diese Rolle auszufüllen. Bismarck sah die Stabilisierungsaufgabe vorrangig außenpolitisch; er hat aber die innenpolitische Stabilisierungsaufgabe früh empfunden und daraus Aktionen hergeleitet, deren eine die Schöpfung der Sozialversicherung war. Diese seine Schöpfung hat ein Jahrhundert überdauert. 2. Zur Expansion
Die Geschichte der Sozialversicherung i n Deutschland ist eine Geschichte ihrer Expansion. Der von i h r erfaßte Personenkreis entsprach ursprünglich 40 v. H. der Arbeitnehmer oder rd. 10 v. H. der Bevölkerung; heute sind alle Arbeitnehmer und rd. 90 v. H. der Bevölkerung einbezogen. Aus der ursprünglichen Arbeiterversicherung wurde durch Einbeziehimg der Angestellten eine Arbeitnehmerversicherung und schließlich durch Einbeziehung großer Gruppen der Selbständigen sowie die Öffnung der Rentenversicherung eine Volksversicherung. Zu der Expansion des gesicherten Personenkreises kam eine Vermehrung und Differenzierung der leistungsauslösenden Tatbestände sowie eine Erhöhung der Einkommensersatzrate i n allen Leistungszweigen. Bot die Sozialversicherung ursprünglich einen Mindestschutz vor Not, so bietet sie heute i n den meisten Fällen Sicherung des Lebensstandards. Die klassische Sozialversicherung der Anfangsphase wurde er182
A l b e r (Anm. 178), S. 181. Hans Rothfels, Prinzipienfragen der Bismarckschen Sozialpolitik, i n : ders., Bismarck, der Osten u n d das Reich, Darmstadt 1962, S. 166. 183
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gänzt durch weitere Leistungsbereiche wie Arbeitslosenversicherung, soziale Entschädigung, Kindergeld, Wohngeld, Ausbildungsförderung und Sondersysteme für selbständig Erwerbstätige. Die Sozialversicherung ist heute Teil — allerdings der bedeutendste Teil — eines umfassenden Systems der sozialen Sicherung. Die Expansion des gesicherten Personenkreises, der Leistungszweige, Leistungsarten und der Leistungshöhe hatte i m Verein m i t einer Steigerung der Altersquote von ursprünglich 5 auf jetzt 15 v. H. der Bevölkerung eine enorme Erhöhung der Ausgaben zur Folge. Die Sozialleistungsquote von ursprünglich etwa 2 v. H. stieg über 10 v. H. i n den 20er Jahren auf gegenwärtig über 30 v. H. Dem angedeuteten Expansionstrend lag zum Teil eine systemimmanente Automatik zugrunde insofern, als die Arbeitnehmerquote und damit die Zahl der Versicherten zu Lasten der Selbständigen und m i t arbeitenden Familienangehörigen ständig anstieg. Zum anderen Teil gab es wiederholt Expansionssprünge, die durch neue Gesetzgebung bewirkt wurden. Solche Sprünge waren insbesondere: die Ausdehnung der Unfallversicherung auf landwirtschaftliche Betriebe (1886), die Ausdehnung der Krankenversicherung auf landwirtschaftliche Arbeitnehmer (1914), die Einführung der Angestelltenversicherung (1913), die Erstreckung der Alterssicherung auf Handwerker (1938) und Landwirte (1957), die Öffnung der Rentenversicherung für alle Staatsbürger (1972). Verallgemeinernd läßt sich sagen, daß gesetzliche Erweiterungen des Personenkreises i n Zeiten wirtschaftlicher Prosperität erfolgten. Der schub- und stoßweisen personalen Expansion des Systems folgte m i t Dämpfungseffekten und zeitlichen Verschiebungen die monetäre Expansion. Sie ergab sich wiederum zum Teil automatisch aus der Vergrößerung des einbezogenen oder leistungsberechtigten Personenkreises. I n längerfristiger Betrachtung kann man i n diesem Zusammenhang auch die Unzahl der „adaptiven" Rechtsetzungsakte sehen, die lediglich Anpassungen an veränderte wirtschaftliche Verhältnisse bewirken und insofern lediglich den Inhalt früherer Entscheidungen bewahren oder wiederherstellen; hierzu gehören Normen, die Bemessungs- und Begrenzungsgrößen an veränderten Lohngrößen anpassen oder die relative Kaufkraft von Leistungen erhalten. Verglichen m i t Rechtsetzungsakten dieser A r t ist die Zahl induktiver Regelungen, nämlich solcher, die eine reale Veränderung des Leistungsniveaus bewirken, weitaus geringer 1 8 4 . Hierher gehören etwa: die Einführung der Angestelltenversicherung m i t erhöhtem Leistungsniveau (1913), die Einführung der Hinterbliebenensicherung i n der 184 Z u r Unterscheidung zwischen i n d u k t i v e r u n d adaptiver Rechtsetzung vgl. Detlev Zöllner, öffentliche Sozialleistungen u n d wirtschaftliche E n t wicklung, B e r l i n 1963, S. 22 ff.
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Arbeiterrentenversicherung (1914), die Anhebung und Dynamisierung der Renten (1957), die Anhebung des Krankengeldes i m Verhältnis zum Lohn (1957, 1961), die Dynamisierung der Unfallrenten (1963), die Herabsetzung der Altersgrenze (1916, 1957, 1972). Auch hier w i r d eine zeitliche Koinzidenz m i t wirtschaftlichen Prosperitätsphasen deutlich. Umgekehrt ist die finanzielle Expansion mehrfach durch Reduktionsphasen unterbrochen worden, die sämtlich m i t Zeiten ökonomischer Depression zusammenfielen. Während der Inflation 1921 - 1923 sowie während der Nachkriegs jähre 1945 - 1948 ergaben sich faktische Leistungsreduktionen, weil adaptive Rechtsetzungsakte ungewöhnlich lange ausblieben. Während der Weltwirtschaftskrise 1929 - 1932 und der Rezessionen von 1966/67 sowie ab 1974 erfolgten Reduktionen durch gesetzgeberische Eingriffe. Allerdings wurden nur i m ersteren Falle Leistungen absolut herabgesetzt; i n den beiden letzteren Fällen handelte es sich lediglich um Reduktionen der bei unveränderter Rechtslage zu erwartenden Leistungserhöhungen. Fragt man nach der inneren Bedingtheit des i m ganzen bis i n die jüngste Vergangenheit anhaltenden Expansionstrends, so sind neben den bereits genannten Faktoren der zunehmenden Arbeitnehmerquote und der zunehmenden Altersquote gewiß eine Reihe weiterer Faktoren zu nennen. Viele der möglichen Faktoren dürften sich jedoch subsummieren lassen — und damit vermittelnden Charakter erhalten — unter der Feststellung, daß die Sozialversicherung zur Zeit ihrer Einführung i n erheblichem Maße Funktionsdefizite aufwies. Dies ergibt sich unbeschadet der damals erreichten Fortschritte, wenn man ihre Funktion aus heutiger Sicht betrachtet. Legt man etwa für die Alterssicherung die von der SozialenquêteKommission für richtig gehaltene Konzeption zugrunde, nach der Ziel der Alterssicherung eine Statussicherung für alle Staatsbürger sein sollte 1 8 5 , so w i r d aus dem oben Gesagten deutlich, daß dieses Ziel auch heute noch nicht erreicht ist. Eine Betrachtung vom Ausgangspunkt her ergibt eine Auflistung des Erfolges, des Fortschritts, der Expansion. N i m m t man die Gegenwart zum Ausgangspunkt, so erscheint die Geschichte als ein schrittweiser Abbau von Defiziten 186 . Die Fragestellung richtet sich dann nicht darauf, warum etwas zu gegebener Zeit geschah, sondern warum es spät und unvollkommen geschah. Eine A n t w o r t hierauf ist gewiß auch 185
Sozialenquete (Anm. 160), T Z 340, 347, 388, 390. Detlev Zöllner, Die Funktionserfüllung der gesetzlichen Alterssicherung i m Rückblick, i n : Alterssicherung als Aufgabe f ü r P o l i t i k u n d Wissenschaft, Festschrift f ü r H e l m u t Meinhold, hrsg. v o n Klaus Schenke u n d W i n f r i e d Schmähl, Stuttgart 1980, S. 195. 188
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schwierig und komplex, aber möglicherweise leichter zugänglich als bei der erstgenannten Fragestellung. Die Wahl einer Sicht auf das anfänglich große und erst allmählich sich abbauende Funktionsdefizit der Sozialversicherung — und gewiß auch auf zunehmende Sicherungsansprüche — w i r d auch nahegelegt durch folgende Gegebenheiten: Parallel zur Expansion der gesetzlichen Alterssicherung expandierte auch die Individualversicherung 1 8 7 und die betriebliche Altersversorgung 1 8 8 . 3. Zum Funktionswandel
I m Zuge ihrer personalen und monetären Expansion unterlag die Sozialversicherung i n mehrfacher Hinsicht auch einem Funktionswandel. Die Ausgabenstruktur verschob sich von den Geldleistungen zu den Sachleistungen. Von den Gesamtausgaben der Krankenversicherung waren 1885 etwa 60 v. H. Geldleistungen, heute sind es nur etwa 10 v. H. Der A n t e i l der Sachleistungen an den gesamten Sozialausgaben stieg zwischen 1950 und 1978 von 14,1 auf 21,0 v. H . 1 8 9 . I n diesen Zahlen drückt sich die Tendenz steigender Ausgaben für Gesundheitsmaßnahmen bei Krankheit und Invalidität, für Arbeitsförderungsmaßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit und für Sachleistungen i m Rahmen der Sozialhilfe aus. Darin spiegelt sich zugleich der Ausbau von Maßnahmen präventiven Charakters. Beispiele für die Erweiterung der von Sozialleistungsträgern angebotenen Sach- und Dienstleistungen sind der Ausbau der Unfallverhütung, die Erweiterung der Maßnahmen zur Erhaltung und Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit durch die Rentenversicherung, Früherkennungsmaßnahmen der Krankenversicherung sowie die Bereitstellung von Betriebs- und Haushaltshilfe. I n dem Ausbau präventiver Maßnahmen offenbart sich ein Entwicklungstrend, der als Übergang von der strukturerhaltenden zur strukturgestaltenden Aufgabe der sozialen Sicherung beschrieben worden ist. „ M a n kann von einem Wandel der subsidiär-helfenden Funktion der Sozialversicherung zur prägenden, lebensgestaltenden Funktion der Sozialversicherung sprechen 190 ." Eine solche Sicht w i r d gestützt nicht nur durch den Ausbau präventiver Maßnahmen, sondern auch durch den Ausbau von Steuerungsmechanismen i m Gesundheitswesen, die Sondervorschriften hinsichtlich Finanzierung und Leistungsberechtigung i n Bergbau und Landwirtschaft, die Finanzausgleichsmechanismen in 187 K a r l H a x : Die Entwicklungsmöglichkeiten der Individualversicherung i n einem pluralistischen System der sozialen Sicherung, Stuttgart 1968. 188 Detlef Zöllner (Anm. 2), S. 149 ff. 189 Sozialbericht 1971, T e i l B, A n h a n g 2, Tab. I I - 1 u n d Sozialbericht 1978, S. 72. 190 Hans F. Zacher i n der Einleitung zu Zacher, S. 11.
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der Alterssicherung sowie die besonderen Altersgrenzen für Arbeitslose, Frauen und Schwerbehinderte. Die Sozialversicherung ist heute i n vielerlei Hinsicht auch Instrument der Strukturpolitik. Weiter ist der Trend zu beobachten, den man als stärkere Hinwendung zum Finalprinzip bezeichnen kann. Das deutsche Sozialrecht war ursprünglich stark vom Kausalprinzip geprägt; A r t und Höhe der Sozialleistung richteten sich nach der erbrachten Vorleistung und der Ursache des leistungsauslösenden Tatbestandes. Die stärkere Hinwendung zum Finalprinzip zeigt sich an folgenden Beispielen 1 9 1 : — I n den Ursprungsgesetzen wurde Krankengeld versagt, wenn die Krankheit auf Raufhändel oder Trunksucht zurückging; eine Invalidenrente stand nicht zu, wenn die Erwerbsunfähigkeit vorsätzlich oder bei Begehung eines Verbrechens zugezogen war. Diese kausal motivierten Einschränkungen wurden erst nach Jahrzehnten, i m Krankenversicherungsrecht erst jüngst gestrichen. — Die Lastenausgleichsgesetzgebung (1952), deren Hauptzweck die Entschädigung früherer Vermögensverluste war, nahm finale Gesichtspunkte auf, um den Lebensunterhalt der Geschädigten zu sichern. — Das ursprünglich als Entschädigungsmaßnahme konzipierte Fremdrentengesetz wurde 1961 auf das Eingliederungsprinzip umgestellt. Nicht früher erbrachte Beitragsleistungen i n den Herkunftsländern sind Bemessungsgrundlage der Leistungen, sondern die Situation vergleichbarer Arbeitnehmer i n der Bundesrepublik. — Die Rente nach Mindesteinkommen (1972) stellt Versicherte nach längerer Versicherungsdauer so, als ob sie stets 75 v. H. des Durchschnittsentgeltes aller Versicherten verdient hätten. Damit ist eine Modifikation der Rentenberechnung unter finalem Aspekt vollzogen. — Nach Auflösung einer erneut eingegangenen Ehe lebte die Witwenrente nur unter der Bedingung wieder auf, daß diese Ehe ohne Verschulden der Witwe aufgelöst wurde. Diese auf die Ursache der Eheauflösung abstellende Bedingung wurde 1972 gestrichen. — Das Rehabilitationsangleichungsgesetz von 1974 stand ausdrücklich unter der Motivation, i m Sinn des Finalprinzips die den Behinderten gewährten Leistungen anzugleichen. Die Behinderten sollen die Förderungsleistungen unabhängig von der Ursache der Behinderung und der Kostenträgerschaft nach einheitlichen Kriterien erhalten. — Das Schwerbeschädigtengesetz von 1974 bezog i n seinen Schutz neben den Kriegs- und Arbeitsopfern alle Behinderten unabhängig von der Ursache der Behinderung ein. 191 Hier werden n u r vollzogene Änderungen referiert; vgl. darüber hinaus W i l l i Albers; Möglichkeiten einer stärker final orientierten Sozialpolitik, Göttingen 1976.
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Die angedeuteten Entwicklungslinien wie Zunahme der Sach- und Dienstleistungen, Ausbau instrumentaler und finaler Elemente deuten einen Funktionswandel an, der sich besonders deutlich für den Bereich der Krankenversicherung nachzeichnen läßt. I n diesem Bereich hat sich ein Wandel vollzogen, „den man . . . kennzeichnen kann als die Entwicklung der nunmehr fast ein Jahrhundert alten früheren reichsgesetzlichen Versicherung gegen Krankheit zu einer bundesweiten Gesundheitssicherung" 192 . Man kann eine solche Kennzeichnung ableiten aus der Betrachtung des versicherten Personenkreises und des Leistungskatalogs der Krankenversicherung. Darüber hinaus kann der Wandel verdeutlicht werden, wenn man sich den kontinuierlich zunehmenden Grad der Differenzierung und Problematisierung i m Bereich der Gesundheitssicherung vergegenwärtigt. Bei Schaffung der sozialen Krankenversicherung waren einerseits der Begriff Krankheit und andererseits das Angebot an medizinischen Leistungen für den Gesetzgeber Daten, die nicht problematisch erschienen. Krankheit war i m damaligen Verständnis eine schicksalhafte Gegebenheit; sie erschien jedenfalls i m Prinzip definierbar, wenngleich der Gesetzgeber auf eine Definition verzichtete. Aufgabe der Krankenversicherung war es, gegen die w i r t schaftlichen Folgen der Krankheit — Lohnausfall und Kosten medizinischer Behandlung — zu versichern. Die Nachfrage wurde als gegeben unterstellt, ebenso das Angebot an medizinischen Leistungen. Weder die Zahl noch die A r t der vorhandenen Ärzte und Krankenhäuser wurde als Problem empfunden. Gegenüber dieser Ausgangssituation vollzog sich eine Wandlung i n mehrfacher Hinsicht. Der gesetzlich nicht definierte Krankheitsbegriff w i r d u m die Jahrhundertwende von der Rechtsprechung definiert als „regelwidriger Körper- oder Geisteszustand, der ärztlicher Behandlung bedarf". Die Notwendigkeit der ärztlichen Behandlung wurde anerkannt (durch Rechtsprechung) zunächst zur Heilung und zur Abwehr einer Verschlimmerung der Krankheit, später zur Abstellung von Beschwerden oder Schmerzen und sodann, wenn eine Regelwidrigkeit behandelbar und die Behandlung sinnvoll ist. Ärztliche Behandlung diente also früher der Abwehr von Krankheit, heute dem Hinarbeiten auf Gesundheit. Der gesetzliche Leistungskatalog der Krankenversicherung erweiterte sich über die ursprüngliche Krankenhilfe hinaus erheblich. Es kamen hinzu 1920 die Familienhilfe (Mutterschaft), 1923 vorbeugende Heilmaßnahmen (Kuren), 1971 Früherkennungsmaßnahmen (Anspruch), 192 Walter Bogs, Entwicklungstendenzen i m neueren Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, i n : Sozialpolitik. Ziele u n d Wege, hrsg. von A l f r e d Christmann u. a., K ö l n 1974, S. 319.
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1974 Haushaltshilfe, 1975 sonstige Hilfen (bei Sterilisation und Schwangerschaftsabbruch). Dabei ist Abgrenzung von Krankheit und Gesundheit zunehmend problematisch geworden. Je tiefer die Krankenversicherung i n das Feld der Prävention vorstößt, um so unmittelbarer ist sie m i t dem gesundheitsrelevanten Verhalten der Versicherten konfrontiert. Zum Problem ist auch das Angebot medizinischer Leistungen geworden. Es gab eine enorme quantitative Ausweitung. Die Arztdichte (Ärzte je 10.000 Einwohner) stieg zwischen 1876 und 1976 von 3,2 auf 19,8, die Krankenhausdichte (Krankenhausbetten je 10.000 Einwohner) zwischen 1886 und 1976 von 26 auf 150. Parallel dazu verlief die Einbeziehung aller Ärzte i n die Kassenzulassung. Die Entwicklung i n Stichworten: 1883 1913
Kassen stellen einzelne Ärzte als Bezirksärzte an. Berliner Abkommen: auf 1.350 Versicherte ist mindestens 1 Arzt zuzulassen.
1931 Die Verhältniszahl w i r d gesenkt auf 1 : 600. 1955
Die Verhältniszahl w i r d gesenkt auf 1 : 500.
1960
Urteil des BVerfG: Jeder niedergelassene Arzt ist zuzulassen.
Jüngere Prognosen sagen eine Verdoppelung der Ärzte i n den nächsten Jahrzehnten voraus. Dies läßt Konsequenzen für die Zulassung und/oder die ärztliche Einkommenspolitik unausweichlich erscheinen. Dies gilt u m so mehr als der Glaube an die Determiniertheit der erforderlichen medizinischen Leistungen erschüttert ist. Die Versechsfachung der Arzt- und Bettendichte bei gleichzeitig stark erhöhter Arbeitsproduktivität je Arzt und Behandlungsintensität je Patient hat nicht dazu geführt, daß Ärzte arbeitslos oder nur unterbeschäftigt sind. Das liegt i m wesentlichen daran, daß A r t und Umfang medizinischer Leistungen weitgehend durch die Anbieter solcher Leistungen bestimmt werden. Das Vertrauen des Gesetzgebers von 1883 — und vieler nachfolgender Juristen-Generationen bis h i n zur Gegenwart — i n die Objektivierbarkeit der notwendigen medizinischen Behandlung ist erschüttert — oder sollte es sein. Einen beeindruckenden Hinweis auf die Variabilität des Anbieterverhaltens hat die Diskussion u m die sogenannte Kostenexplosion des Gesundheitswesens seit 1974 geliefert. Diese Variabilität i n Verbindung m i t der rasch weitersteigenden Arztdichte w i r d wahrscheinlich Folgen haben für A r t und Inhalt von Abstimmungsgesprächen à la Konzertierte A k t i o n i m Gesundheitswesen sowie die Maßstäbe und Methoden der Einkommensbemessung für Gesundheitsberufe.
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Vergleicht man die Ausgangssituation m i t der heutigen Situation, so läßt sich sagen: Der Begriff Krankheit erscheint nicht als Vorgegebenheit, sondern ist zum Problem und Diskussionsgegenstand geworden. Die ständige Ausdehnung seines Inhalts hat zur Anerkennung eines Bedürfnisses nach Gesunderhaltung geführt, ohne jedoch die permanenten definitorischen Schwierigkeiten zu lösen. Der neue Begriff und die Hinwendung der Versicherungsträger zu Maßnahmen der Gesundheitssicherung w i r f t — neben vielen technisch-organisatorischen Fragen — eine Grundsatzfrage neu auf, nämlich: Welche Anforderungen soll und kann eine leistungsverpflichtete Gemeinschaft an das gesundheitsrelevante Verhalten des Leistungsberechtigten stellen? Auch das Angebot an medizinischen Leistungen erscheint nicht länger als Vorgegebenheit, sondern ist Problem. Analyse und Entscheidung sind erforderlich in bezug auf eine Reihe von Fragen, wie die Ausbildungskapazitäten für medizinische Berufe, Zahl, A r t und räumliche Verteilung der Krankenhäuser, Produktion und Distribution von Pharmazeutika, Kriterien der Einkommensbildung für Anbieter von Gesundheitsleistungen, Steuerung von A r t und Menge der medizinischen Leistungen. Wenn sich die Krankenversicherung zur Gesundheitssicherung gewandelt hat, von einer Gewährungsverwaltung zu einer Dienstleistungsverwaltung geworden ist, so besagt dies nicht, daß ihre Entwicklung abgeschlossen ist. Diese Bezeichnungen deuten vielmehr an, daß sie auch i m zweiten Jahrhundert ihres Bestehens Weiterentwicklungen unterliegen wird. 4. Schlußbemerkung
Expansion und Funktionswandel der Sozialversicherung während der vergangenen 100 Jahre lassen sich i m Kern, wenn auch nicht ausschließlich, als schrittweiser Abbau ursprünglicher Funktionsdefizite verstehen. Die zunehmende Quantität förderte die Einsicht i n die Interdependenz sozialpolitischer Maßnahmen m i t anderen Politikbereichen. Die Politik der sozialen Sicherung wirkte zunehmend stärker i n Bereiche der Wirtschafts-, Finanz- und Rechtspolitik hinein und unterlag gerade deswegen auch zunehmenden Rückwirkungen aus diesen Bereichen. Dies könnte die Zunahme instrumentaler Elemente erklären. Ferner wurde durch die zunehmende Quantität der Blick für verbleibende Defizite geschärft. Das mag eine stärkere Hinwendung zu finalen Betrachtungsweisen erklären, aber auch die ungeachtet des starken Defizitabbaus nach wie vor existenten Reformsehnsüchte. Diese werden verstärkt durch das Ziel der Chancengleichheit, das während des gesamten Zeitraumes politisch an Anerkennung gewonnen hat. Daraus 12 S o z i a l v e r s i c h e r u n g
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erwuchs eine Differenzierung und qualitative Verbesserung insbesondere der Sach- und Dienstleistungen, die ihrerseits zu vermehrter Einsicht i n die Verhaltensbedingtheit von Aktionen und Reaktionen der Akteure und der Betroffenen geführt hat. Damit sind gegenwärtige und zukünftige Probleme angesprochen, die zahlreich diskutiert werden. Es hat jedoch nicht den Anschein, als ob die befriedigende Lösung solcher Probleme einen grundsätzlichen Umbau des Systems der deutschen Sozialversicherung erfordert. Dieses m i t dem Namen Bismarck verbundene System hat sowohl bezüglich seiner institutionellen Grundzüge als auch bezüglich seiner rechtlichen Grundstruktur eine im Hinblick auf die vielen, teilweise katastrophalen Wechselfälle, denen es ausgesetzt war, erstaunliche Kontinuität bewiesen. „Trotz der häufigen Änderung der Sozialversicherungsgesetze gibt es wenig öffentliche Rechtsmaterien, deren Grundformen — unbeschadet ihrer funktionalen Wandlungen — . . . so wenig tiefgreifende Veränderungen erfahren haben wie das Sozialversicherungsrecht 193 ." Die rechtliche Ausformung dieser Grundstruktur hat andererseits eine Flexibilität bewiesen, die dem System hinreichende Reagibilität verliehen, immer wieder Anpassungen und Weiterentwicklungen ermöglicht hat und wohl auch weiterhin ermöglichen wird.
Bogs (Anm. 129), S. 37.
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