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German Pages 1139 [1126] Year 2010
Buchwissenschaft in Deutschland
Buchwissenschaft in Deutschland Ein Handbuch
Herausgegeben von
Ursula Rautenberg
Band 1: Theorie und Forschung Band 2: Fachkommunikation, Lehre, Institutionen und Gesellschaften
De Gruyter Saur
ISBN 978-3-11-020036-2 e-ISBN 978-3-11-021192-4 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Der Plan zu dem nun in zwei Bänden vorliegenden Handbuch »Buchwissenschaft in Deutschland« entstand aus der Einsicht, dass es an der Zeit sei, Buchwissenschaft und buchwissenschaftliche Forschung in einem größeren Zusammenhang zu präsentieren. In Zeiten des beschleunigten Medienwandels, in denen die einst fest gefügten Grenzen zwischen den traditionellen Medien zunehmend durchlässig werden, mag ein Überblick über die Arbeitsfelder und Forschungsergebnisse der Buchwissenschaft, ihre fachlichen Traditionen und ihre Organisationen, nicht nur als Innehalten und Selbstvergewisserung verstanden werden, sondern auch als Angebot an die Nachbardisziplinen zur gemeinsamen Arbeit am ältesten schriftgebundenen Medium. Dass dieser Plan verwirklicht werden konnte, ist den mehr als vierzig Beiträgern zu verdanken, die ihr geistiges Eigentum beigesteuert haben, sowie den materiellen Förderern. An erster Stelle ist die German-SchweigerSpende der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg zu nennen: sie hat nicht nur die begleitende Tagung »Konzepte buchwissenschaftlicher Forschung« (2007) in Erlangen ermöglicht, sondern auch die redaktionellen Arbeiten großzügig gefördert und einen Druckkostenzuschuss beigesteuert, der den Ladenpreis in halbwegs erträglichen Grenzen halten konnte. Gedankt sei auch der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Gastgeberin einer Jahrestagung des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Bibliotheks-, Buch- und Mediengeschichte zum Thema »Buchwissenschaftliche Forschung: Bestandsaufnahme und Perspektiven« (2006). Beide Tagungen haben den Umkreis des Handbuchs abgesteckt. Heiko Hartmann, Cheflektor des de Gruyter-Verlags, hat die Publikation schon in einem sehr frühen Stadium willkommen geheißen, ihren Fortgang unterstützt und den Buchtitel vorgeschlagen. Celestina Filbrandt (Erlangen) gebührt Dank für die redaktionelle Arbeit am Manuskript und bei der Fahnenkorrektur. Der Redaktionsschluss der Beiträge liegt, je nach deren Eingang, zwischen Mitte 2007 und Ende 2008; punktuelle Aktualisierungen konnten noch kurz vor der Drucklegung im Herbst 2009 vorgenommen werden. Ursula Rautenberg, im Dezember 2009
Inhaltsverzeichnis Vorwort ............................................................................................................... V Abkürzungsverzeichnis ................................................................................ XIII
Band 1: Theorie und Forschung I
Buchwissenschaft und Medienwissenschaft
URSULA RAUTENBERG Buchwissenschaft in Deutschland. Einführung und kritische Auseinandersetzung ............................................. 3 ULRICH SAXER Buchwissenschaft als Medienwissenschaft ................................................... 65 SVEN GRAMPP Das Buch der Medientheorie. Zum Jargon der Uneigentlichkeit ........... 105 HELMUT SCHANZE Medienwissenschaft – Buchwissenschaft. Ansätze zu einer Agenturtheorie des Buchs .............................................. 131 GEORG STANITZEK Buch: Medium und Form – in paratexttheoretischer Perspektive ......... 157 II Forschungsberichte OLIVER DUNTZE Verlagsbuchhandel und verbreitender Buchhandel von der Erfindung des Buchdrucks bis 1700 ............................................. 203
VIII
Inhaltsverzeichnis
MONIKA ESTERMANN Buchhandel, Buchhandelsgeschichte und Verlagsgeschichtsschreibung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Ein Überblick über die Quellenlage und Forschungsliteratur ................. 257 BEATE MÜLLER Zensurforschung: Paradigmen, Konzepte, Theorien ............................... 321 SONJA GLAUCH/JONATHAN GREEN Lesen im Mittelalter. Forschungsergebnisse und Forschungsdesiderate .................................... 361 ARNO MENTZEL-REUTERS Das Nebeneinander von Handschrift und Buchdruck im 15. und 16. Jahrhundert ........................................................................... 411 ALFRED MESSERLI Leser, Leserschichten und -gruppen, Lesestoffe in der Neuzeit (1450–1850): Konsum, Rezeptionsgeschichte, Materialität ............................................. 443 HELMUT ZEDELMAIER Buch und Wissen in der Frühen Neuzeit (15.–18. Jahrhundert) ............ 503 AXEL KUHN/SANDRA RÜHR Stand der modernen Lese- und Leserforschung – eine kritische Analyse ..................................................................................... 535
Band 2: Lehre, Fachkommunikation und Institutionen III Fachkommunikation und Fachgesellschaften KONRAD UMLAUF Neuere Lehr- und Fachbücher und Fachlexika der Buchwissenschaft – Bestandsaufnahme und Desiderate .................. 603 THOMAS STÄCKER Digitalisierung buchhistorischer Quellen, Fachportale und buchhistorische Forschung jenseits der Gutenberggalaxie ...................... 711
Inhaltsverzeichnis
IX
CHRISTOF CAPELLARO/OLIVER DUNTZE Das Wissenschaftsportal b2i und seine buchwissenschaftlichen Inhalte .................................................. 735 MONIKA ESTERMANN Die Historische Kommission des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels ................................................................................ 757 PETER VODOSEK Der Wolfenbütteler Arbeitskreis für Bibliotheks-, Buch- und Mediengeschichte ......................................... 775 WOLFGANG SCHMITZ Die Internationale Buchwissenschaftliche Gesellschaft ........................... 793 IV Studium und Lehre VOLKER TITEL Zwischen allen Stühlen? Das universitäre Fach Buchwissenschaft in Erlangen .............................. 801 THOMAS KEIDERLING/SIEGFRIED LOKATIS Buchwissenschaft als Kommunikations- und Medienwissenschaft. Zur Geschichte, Ausprägung und Zukunft eines Leipziger Modells ..... 819 STEPHAN FÜSSEL Mit Gutenberg in die digitale Zukunft: Das Mainzer Institut für Buchwissenschaft zwischen historischer Kulturwissenschaft und Medienwissenschaft ...................... 829 CHRISTINE HAUG/FRANZISKA MAYER Die Münchner Buchwissenschaft: Methoden – Modelle – Theorien ................................................................. 839 ERNST-PETER BIESALSKI Ein betriebswirtschaftliches Studium für die Buch- und Medienbranche: Buchhandel/Verlagswirtschaft an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig ........................ 857
X
Inhaltsverzeichnis
ULRICH ERNST HUSE Gregor Samsa und der Stein der Weisen. Medienkonvergenz als Herausforderung für die Ausbildung des Branchennachwuchses an der Hochschule der Medien Stuttgart .................................................... 869 JULIA BLUME Das Buch als Thema. Zur Bedeutung von Buchgestaltung und Typographie innerhalb der Studienangebote der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig ........................................ 881 WOLFGANG SCHMITZ Buchwissenschaftliche Themen im Rahmen der Ausbildung der wissenschaftlichen Bibliothekare in Deutschland ..................................... 891 WERNER WUNDERLICH Das Lehrprogramm Buchwissenschaften an der Universität St. Gallen ..................................................................................... 913 JOHANNES FRIMMEL Fast gar nichts da? Zur Situation der Buchwissenschaft in Österreich und ihre Institutionen ............................................................ 929 V Forschungsbibliotheken und Museen HELWIG SCHMIDT-GLINTZER Buchwissenschaft an der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel ............................................... 947 BRIGITTE KLOSTERBERG Erschließungsprojekte in der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen zu Halle ............................................................... 963 EVA HANEBUTT-BENZ Das Gutenberg-Museum in Mainz .............................................................. 979 STEPHANIE JACOBS Das Buch museal. Das Deutsche Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig ................................................... 997
Inhaltsverzeichnis
XI
JUTTA BENDT Vom Fundus zur Forschung: Das Deutsche Literaturarchiv in Marbach .............................................. 1017 VI Bibliophilie und Buchkunst WULF D. VON LUCIUS Zur Geschichte und gegenwärtigen Situation der bibliophilen Gesellschaften in Deutschland ............................................ 1033 REINHARD WITTMANN Die Gesellschaft der Bibliophilen ............................................................. 1047 HORST GRONEMEYER Die Maximilian-Gesellschaft ..................................................................... 1055 HERBERT KÄSTNER Der Leipziger Bibliophilen-Abend ........................................................... 1061 GEORG WINTER Die Wiener Bibliophilen-Gesellschaft ...................................................... 1071 AGLAJA HUBER-TOEDTLI Die Schweizerische Bibliophilen-Gesellschaft ........................................ 1077 UTA SCHNEIDER Die Stiftung Buchkunst .............................................................................. 1085 Autorenverzeichnis ..................................................................................... 1097
Abkürzungsverzeichnis ABHB
AdA
AGB
AGDB
Annual Bibliography of the History of the printed Book and Libraries. Publications of […] and additions from the preceding years. Ed. by the Department of Special Collections of the Koninklijke Bibliotheek, Den Haag. Under the auspices of the Committee on Rare and Precious Books and Documents, International Federation of Library Associations. Ed. by Hendrik D. L. Vervliet. Dordrecht: Springer 1 (1970/73) – 31 (2000/06). [Fortsetzung: Book History Online]. Aus dem Antiquariat. Beilage zum Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel. 1948–1970 Redaktion Bernhard Wendt. 1971–1996 Redaktion u. hrsg. v. Karl H. Pressler. 1997ff. hrsg. v. d. Arbeitsgemeinschaft Antiquariat im Börsenverein des Deutschen Buchhandels. 2003ff.: Aus dem Antiquariat. Zeitschrift für Antiquare und Büchersammler. Frankfurt a. M.: Buchhändler-Vereinigung 1948–2002; MVB Marketing- und Verlagsservice des Buchhandels 2002, H. 10ff. Archiv für Geschichte des Buchwesens. Bd. 1–56 hrsg. v. der Historischen Kommission des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. Frankfurt a. M.: Buchhändler-Vereinigung 1958– 2001. Bd. 57 Frankfurt a. M.: MVB Marketing- und Verlagsservice des Buchhandels 2003. Bd. 58f. hrsg. im Auftrag der Historischen Kommission des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels v. Monika Estermann, Ursula Rautenberg u. Reinhard Wittmann. München: Saur 2004f. Bd. 60ff. hrsg. im Auftrag der Historischen Kommission des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels v. Monika Estermann u. Ursula Rautenberg. München: Saur 2006ff. Archiv für Geschichte des Deutschen Buchhandels. Hrsg. v. der Historischen Kommission des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler. Leipzig: Börsenverein der Deutschen Buchhändler 1 (1878) – 20 (1898); 21 (1930) (Publikationen des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler. Neue Folge).
XIV
BBB Bbl.
BHG
BHO DFG FAZ GJ
GW
Abkürzungsverzeichnis
Bibliographie der Buch- und Bibliotheksgeschichte. Bearb. v. Horst Meyer. Bad Iburg: Bibliographischer Verlag Meyer 1 (1980/81/82), 2 (1982/83) – 22/23 (2002/03/04). Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel. Hrsg. v. Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig. Leipzig: Fachbuchverlag 1 (1834) – 112 (1945), H. 8; 113 (1946), H. 1/2 – 157 (1990), H. 51/52. Parallelausgabe: Hrsg. v. Börsenverein des Deutschen Buchhandels. Frankfurt a. M.: Buchhändler-Vereinigung 1 (1945) – 46 (1990). Frankfurt a. M.: Buchhändler-Vereinigung 158 (1991) – 169 (2002), H. 80; 169 (2002), H. 81ff. Frankfurt a. M.: MVB Marketing u. Verlagsservice des Buchhandels. Buchhandelsgeschichte. Beilage zum Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel. Hrsg. v. der Historischen Kommission des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. Frankfurt a. M.: Buchhändlervereinigung 1. Folge 1974, H. 1 – 1978, H. 15; 2. Folge 1979, H. 1 – 1981, H. 12; Buchhandelsgeschichte. Aufsätze, Rezensionen und Berichte zur Geschichte des Buchwesens. Frankfurt a. M.: Buchhändlervereinigung 1982–2002. Book History Online. International Bibliography of the History of the Printed Book and Libraries. Den Haag: Koninklijke Bibliotheek. http://www.kb.nl/bho/. Deutsche Forschungsgemeinschaft Frankfurter Allgemeine Zeitung für Deutschland. Hrsg. v. Erich Welter. Frankfurt a. M.: Frankfurter Allgemeine Zeitung 1 (1949), H. 1 v. 1. November 1949ff. Gutenberg-Jahrbuch. Begr. u. hrsg. v. Aloys Ruppel. Mainz: Gutenberg-Gesellschaft 1926–1969. 1970–1976 hrsg. im Auftrag der Gutenberg-Gesellschaft v. Hans Widmann. 1977f. hrsg. v. der Gutenberg-Gesellschaft. 1979–1993 hrsg. im Auftrag der Gutenberg-Gesellschaft v. Hans-Joachim Koppitz. 1994 hrsg. im Auftrag der Gutenberg-Gesellschaft v. Stephan Füssel u. Hans-Joachim Koppitz. 1995ff. hrsg. im Auftrag der Gutenberg-Gesellschaft v. Stephan Füssel. Wiesbaden: Harrassowitz. Gesamtkatalog der Wiegendrucke. Hrsg. v. d. Kommission für den Gesamtkatalog der Wiegendrucke. Bd. 1–7. Leipzig: Hiersemann 1925–1940. – 2. Aufl. Bd. 1–7 hrsg. v. der Kommission für den Gesamtkatalog der Wiegendrucke. Stuttgart: Hiersemann/ New York: Kraus 1968. – Bd. 8ff. hrsg. v. der Deutschen Staatsbibliothek zu Berlin. Bd. 8 Stuttgart: Hiersemann/Berlin: Akade-
Abkürzungsverzeichnis
IASL
ISTC LGB2 LJB
NDB
NZZ OBST
VD 16
XV
mie/New York: Kraus 1978. Bd. 9 Stuttgart: Hiersemann/ Berlin: Akademie 1991. Bd. 10f. Stuttgart: Hiersemann 2000f. http://www.gesamtkatalogderwiegendrucke.de. Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Hrsg. v. Norbert Bachleitner u. a. Tübingen: Niemeyer 1 (1976)ff. Ab 26 (2001) Onlineausgabe: Berlin: de Gruyter. http://dx.doi.org/10.1515/iasl. Incunabula Short-Title-Catalogue. The Illustrated ISTC on CDROM. 2nd edition. Reading: Primary Source Media 1998. Onlineausgabe: http://www.bl.uk/catalogues/istc/. Lexikon des gesamten Buchwesens. Hrsg. v. Severin Corsten u. a. 2., völlig neu bearb. Auflage. Bd. 1ff. Stuttgart: Hiersemann 1987ff. Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte. Eine Veröffentlichung der Deutschen Nationalbibliothek in Zusammenarbeit mit dem Leipziger Arbeitskreis zur Geschichte des Buchwesens. Wiesbaden: Harrassowitz 1 (1991)ff. (Veröffentlichungen des Leipziger Arbeitskreises zur Geschichte des Buchwesens). Neue Deutsche Biographie. Bd. 1–8 Hauptschriftleitung Otto Graf zu Stolberg-Wernigerode. Bd. 8 hrsg. v. Walter Bußmann. Bd. 9–16 hrsg. v. Fritz Wagner. Bd. 16–19 hrsg. v. Karl Otmar Frhr. v. Aretin. Bd. 20ff. hrsg. v. Hans Günter Hockerts für die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Berlin: Duncker & Humblot 1 (1953) – 23 (2007). Neue Zürcher Zeitung. Zürich: Neue Zürcher Zeitung 1 (1780)ff. Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie. Hrsg. v. dem Verein zur Förderung der Sprachwissenschaft in Forschung und Ausbildung Universität Osnabrück/Fachbereich Kommunikation, Ästhetik. Osnabrück: Univ. Osnabrück 1976–1982, H. 1–21. Osnabrück: Verein zur Förderung der Sprachwissenschaft in Forschung u. Ausbildung 1982–1992, H. 22–46. Oldenburg: OBST 1993–2003, H. 47–65/2005, H. 69–70. Norderstedt: Books on Demand 2001, H. 62. Duisburg: Gilles und Francke 2003, H. 66/2004, H. 68. Duisburg: OBST 2004, H. 67/2006–2008, H. 71–74. Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts. VD 16. Hrsg. v. der Bayerischen Staatsbibliothek in München in Verbindung mit der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel u. Irmgard Bezzel. Bd. 1–25. Stuttgart: Hiersemann 1983–2000. – Online-Ausgabe mit Nachträgen: Ver-
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VD 17 WBB WNB
ZfB ZfBB ZfdPh
Abkürzungsverzeichnis
zeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts (VD 16). Hrsg. v. der Bayerische Staatsbibliothek München. München 2004. http://www.vd16.de. Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 17. Jahrhunderts. VD 17. http://www.vd17.de. Wolfenbütteler Bibliographie zur Geschichte des Buchwesens im deutschen Sprachgebiet 1840–1980. Bearb. v. Erdmann Weyrauch. Bd. 1–12. München u. a.: Saur 1990–1999. Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte. Hrsg. v. der Herzog August Bibliothek in Zusammenarbeit mit dem Wolfenbütteler Arbeitskreis für Bibliotheks-, Buch- und Mediengeschichte. Wiesbaden: Harrassowitz Bd. 1 (1976)ff. Zentralblatt für Bibliothekswesen. Leipzig: Bibliographisches Institut 1 (1884) – 60 (1943/44), 61 (1947) – 104 (1990). [vereint mit Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie]. Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie. Frankfurt a. M.: Klostermann 1 (1954)ff. Onlineausgabe: http://zs.thulb.uni-jena.de/content/main/journals/zfbb.xml. Zeitschrift für deutsche Philologie. Berlin: Schmidt 1 (1869) – 69 (1944/45/47); 70 (1947/49)ff.
I Buchwissenschaft und Medienwissenschaft
URSULA RAUTENBERG
Buchwissenschaft in Deutschland. Einführung und kritische Auseinandersetzung 1 2 2.1 2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 2.4 3 3.1 3.2 3.3 4
Ziele, Entstehung und Konzeption des Handbuchs Buch und Buchwissenschaft: Entstehungskontexte, Selbstbeschreibungen und Außensicht Entstehungskontexte Wissenschaftskontexte Selbstbeschreibungen Krzysztof Migoń und die ›Polnische bibliologische Schule‹ Die frühen Diskussionen um eine Buchwissenschaft in Deutschland Die Mühsal der Definitionen: Was ist ein Buch? Neue Konzepte Zum gegenwärtigen Stand buchwissenschaftlicher Forschung: eine Skizze Ist das Buch (überhaupt) ein Medium? Buchwissenschaft als Medienwissenschaft Literaturverzeichnis
1 Ziele, Entstehung und Konzeption des Handbuchs Autoren und Herausgeberin hoffen, dass das vorliegende Handbuch Buchwissenschaft in Deutschland eine Lücke schließen wird. Es hat sich ehrgeizige Ziele gesetzt. Zum einen möchte das Handbuch für die engere Fachgemeinschaft der Buchwissenschaft − Wissenschaftler, Lehrende und Studierende buchwissenschaftlicher Studiengänge – Orientierung bieten und Handreichung sein, zum anderen das Fach in der Außenwahrnehmung der Nachbardisziplinen und für die interdisziplinäre Zusammenarbeit stärker konturieren. Denn ein fundierter Überblick, der die zentralen Arbeitsfelder der Buchwissenschaft in ihren neueren Forschungsergebnissen sowie die wichtigsten Organisationen und Institutionen des Fachs im Zusammenhang
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Ursula Rautenberg
vorstellt, war bislang ein Desiderat. Dass das hier entstehende Bild wenig geschlossen und ungleich ausgeführt ist, spiegelt die Situation des Fachs. Auch wenn die Geschichte des Buchs lang und die Reflexion über seine Medialität fast so alt ist wie das Buch selbst, so ist doch eine Buchwissenschaft, die sich als eigenständiges »problemverursachendes wie -lösendes Wissenschaftssystem«1 begreift, ein Phänomen jüngeren Datums. Entsprechend stellt diese Bestandsaufnahme die Erfolge und Ergebnisse vor und beschönigt die Mängel nicht. Letzteres gilt auf der Sachebene der Forschungsberichte und mehr noch für den kritischen Blick auf eine in den ersten Anfängen stehende Konzeptualisierung einer ›Buch‹-Wissenschaft und der unsicheren Positionierung des Fachs im Verhältnis zu seinen Nachbarn, den Medienwissenschaften und den historischen, literatur- und kulturwissenschaftlichen Fächern. Das Leistungsvermögen einer Wissenschaft zeichnet sich zwar vorrangig durch die Produktion von wissenschaftlichem Wissen in einzelnen zugeordneten Forschungsfeldern aus, aber auch durch die Benennung dessen, was vor dem Hintergrund fachlichen Anspruchs und Selbstverständnisses als unvollständig, fehlend oder gar als ›blinder Fleck‹ sichtbar wird. Zwei Tagungen – in Wolfenbüttel und Erlangen − haben geholfen, diesen Band vorzubereiten. Vom 9. bis 11. Oktober 2006 hat der Wolfenbütteler Arbeitskreis für Bibliotheks-, Buch- und Mediengeschichte unter dem gastlichen Dach der Herzog August Bibliothek die Jahrestagung »Buchwissenschaftliche Forschung: Bestandsaufnahme und Perspektiven«2 abgehalten. Anlass dieser Tagung war das zwei Jahrzehnte zurückliegende Erscheinen des Bands Die Erforschung der Buch- und Bibliotheksgeschichte in Deutschland, Paul Raabe zum 60. Geburtstag gewidmet. Die Herausgeber, Werner Arnold, Wolfgang Dittrich und Bernhard Zeller, leiteten das Vorwort mit den Sätzen ein: Jede wissenschaftliche Disziplin sollte über ihre Leistungen und Defizite von Zeit zu Zeit Rechenschaft ablegen. Das vorliegende Buch will einer solchen Bilanz für die Buch- und Bibliotheksgeschichte dienen, die lange Jahre als Fachgebiete gelten konnten, in denen Forschungsleistungen deutscher Bibliothekare auch internationale Anerkennung fanden. Durch tiefgreifende Veränderungen der beruflichen Situation der Bibliothekare ist diese Tradition zwar nicht abgerissen, aber doch durch andere Interessen und Ziele weitgehend überlagert worden.3
Sprachen die Herausgeber noch explizit von einer Forschungsbilanz der Buch- und Bibliotheksgeschichte, wesentlich getragen von Bibliothekaren, 1 2 3
Vgl. den Beitrag von Saxer in Bd. 1, S. 67. Geleitet wurde die Tagung von Monika Estermann und Ursula Rautenberg. Arnold/Dittrich/Zeller: Vorwort, S. XI.
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zeigt das vorliegende Handbuch Verschiebungen in mehrfacher Hinsicht. Zwanzig Jahre später gilt die Beobachtung, dass Bibliothekare als Träger der Buchgeschichtsforschung zurückgetreten seien, in verschärfter Weise. Wirtschaftliches Denken und die Dominanz der elektronischen Datenverarbeitung haben grundlegende Veränderungen bewirkt mit der Folge, dass buchwissenschaftliche Themen aus dem Lehrkanon wissenschaftlicher Bibliothekare weitgehend entfernt wurden.4 Dennoch haben Bibliotheken unter geänderten Vorzeichen nach wie vor großen Anteil an buchwissenschaftlicher Forschung. Forschungsbibliotheken mit geschlossenen historischen Beständen, beispielhaft seien hier die Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel oder die Bayerische Staatsbibliothek München genannt, sind Zentren buchhistorischer Wissenschaft.5 An den Universitäts- und Staatsbibliotheken zeigt sich deutlich ein Wandel im Selbstverständnis. Unter verschärften Konkurrenzbedingungen und einem nicht geringen Legitimationsdruck in Politik und Öffentlichkeit genügt es nicht mehr, den Bestand zu bewahren und zu pflegen, zu erweitern und dem Nutzer zugänglich zu machen. Bibliotheken sind zu Informationsdienstleistern für die Wissenschaft geworden, die selbst Drittmittelprojekte, nicht selten in Kooperation mit Universitäten, betreiben oder mit wissenschaftlich erarbeiteten Ausstellungen und Ausstellungskatalogen die Aufmerksamkeit einer kulturinteressierten Öffentlichkeit anstreben. Bislang noch kaum abzuschätzen ist die immense Bedeutung elektronischer Gesamtkataloge wie zum Beispiel des ISTC, GW, VD16 und VD17 sowie der zahlreichen Digitalisierungsprojekte unter der Schirmherrschaft von Bibliotheken für die historische Buch- und Buchhandelsforschung und die Bibliometrie.6 Die Zeit quellengesättigter buch- und bibliothekshistorischer Einzelstudien bedeutender Bibliothekare des 19. und 20. Jahrhunderts, die die deutsche Forschung über die nationalen Grenzen hinaus berühmt gemacht haben7, scheint jedoch vorbei zu sein. Im beruflichen Alltag des wissenschaftlichen Bibliothekars sind sie wohl kaum noch unterzubringen. Der Schwerpunkt buchwissenschaftlicher Forschung ist inzwischen von Bibliotheken und Bibliothekaren auf Universitäten und Buchwissenschaftler übergegangen. Buchwissenschaft als eigenständiges Fach hat sich an fünf deutschen Universitäten etabliert, wobei allein vier Gründungen in 4 5 6 7
Vgl. den Beitrag von Schmitz: Buchwissenschaftliche Themen, Bd. 2. Vgl. den Beitrag von Schmidt-Glintzer in Bd. 2. Vgl. den Beitrag von Stäcker in Bd. 2. Vgl. dazu die Bände des Archiv für Geschichte des deutschen Buchhandels (1878–1898, 1930) und des Archiv für Geschichte des Buchwesens (seit 1958ff).
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Ursula Rautenberg
die letzten 25 Jahre fallen.8 Die personelle Ausstattung dieser wenigen Standorte ist im Vergleich zu älteren, etablierten Fächern marginal, entsprechend eng begrenzt sind die Forschungskapazitäten. Buchforschung wird auch und nicht zuletzt in anderen Disziplinen geleistet. Auch davon legt dieser Band Zeugnis ab. Die hier gedruckten Forschungsberichte wären erheblich kürzer und lückenhafter, hätten die Autoren nur die in den engen Grenzen des Fachs erarbeiteten Ergebnisse berücksichtigt. Ähnliches fördert ein Blick auf die fachliche Heimat der Autorinnen und Autoren zu Tage. Nur wenige sind von ihrer engeren Fachzuordnung her Buchwissenschaftler, mitgeschrieben haben Literatur-, Bibliotheks- und Medienwissenschaftler, Historiker und − nicht zum kleinen Teil − in Bibliotheken, Archiven und Museen tätige Wissenschaftler. Die Forschungsberichte werfen ein helles Licht auf die erfreuliche Tatsache, dass buchwissenschaftliche Forschung interdisziplinär betrieben wird; es bleibt aber eine dringliche, bislang kaum angegangene Aufgabe des Fachs, die unterschiedlichen Ansätze in auch für die Nachbardisziplinen anschlussfähige Konzepte einzubinden. Die Wolfenbütteler Tagung 2006 hatte sich unter dem Titel »Bestandsaufnahme und Perspektiven« zum Ziel gesetzt, nach zwei Dekaden erneut über »Leistungen und Defizite«9 Rechenschaft abzulegen. Die Forschungsberichte schließen daher nahtlos an das Ende des Berichtszeitraums von Die Erforschung der Buch- und Bibliotheksgeschichte in Deutschland an, die Konzeption des Bands wurde jedoch nicht übernommen. Die Tagung wie auch daraus entstandene, hier publizierte Beiträge setzen den Schwerpunkt auf die zentralen buchwissenschaftlichen Forschungsinteressen: die Verlags- und Buchhandelsgeschichte, Lesen, Leser und Zensur. Nicht wieder aufgenommen wurden die aus bibliothekswissenschaftlicher Perspektive den älteren Band dominierenden Themen Erschließung, Bibliotheksgeschichte, Technikgeschichte, Einbandforschung sowie Überblicke über einzelne Buchgattungen. Während in Wolfenbüttel die Forschungsergebnisse und -desiderate der Buchwissenschaft diskutiert wurden, stand die an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg am 3. und 4. Mai 2007 veranstaltete Tagung unter dem Motto »Konzepte buchwissenschaftlicher Forschung und Lehre«.10 Als Seitenstück zur Wolfenbütteler Tagung stellten in Erlangen Vertreter der Studiengänge an Universi8 9 10
Siehe unten S. 16f. Vgl. Anm. 2. Geleitet von Ursula Rautenberg und Volker Titel. Die Schweiger-Spende der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg hat die Tagung ermöglicht.
Buchwissenschaft in Deutschland
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täten und Fachhochschulen11, von Buchmuseen und -archiven ihre Konzepte vor. Gefordert war von den Referenten auch eine Aussage über eine theoretische Zuordnung der Arbeit ihrer Institutionen zum Formalobjekt ›Buch‹. Die Vorträge und Diskussionen in Wolfenbüttel und Erlangen hatten großen Anteil an der Vorbereitung der vorliegenden Publikation. Allerdings sollte keine der Tagungsdokumentationen entstehen, die als ›Buchbindersynthesen‹ berüchtigt sind, sondern ein möglichst abgerundetes Handbuch. Dazu wurden weitere Beiträge eingeholt: der wissenschaftstheoretische Aufsatz von Ulrich Saxer über »Buchwissenschaft als Medienwissenschaft« oder die anregende Auseinandersetzung von Sven Grampp zum »Jargon der Uneigentlichkeit«, mit dem sich die Medientheorie der Buchgeschichte am Beispiel Gutenbergs (scheinbar) bemächtigt. Die beiden umfangreichen Forschungsberichte von Beate Müller zur Zensurforschung und von Axel Kuhn und Sandra Rühr zum Stand der Lese- und Leserforschung sind nachträglich entstanden, ebenso wie Konrad Umlaufs kenntnisreiche kritische Analyse der Lehr- und Fachbücher und Fachlexika. Die Vorstellungen der bibliophilen Vereinigungen und des Gutenberg-Museums (Eva Hanebutt-Benz) sowie die Berichte über die Münchener Buchwissenschaft (Christine Haug/Franziska Mayer) und Buchgestaltung und Typographie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig (Julia Blume) kamen später dazu. Fast alle Referenten der Tagungen in Wolfenbüttel und Erlangen12 haben ihre Vorträge nochmals in die Hände genommen und größtenteils erheblich bearbeitet und ausgeweitet. Ihnen allen gilt großer Dank, denn es ist nicht (mehr) selbstverständlich, von der Darstellung eigener Forschungsergebnisse abzusehen und die zeitraubende Mühe eines detaillierten Forschungsüber11 12
Für die universitären Studiengänge liegt eine Bestandsaufnahme mit Stand 1998 vor; vgl. Kerlen/Kirste: Buchwissenschaft und Buchwirkungsforschung. Wolfenbüttel: Oliver Duntze, Monika Estermann, Jonathan Green, Hans-Christoph Hobohm, Siegfried Lokatis, Arno Mentzel-Reuters, Alfred Messerli, Ursula Rautenberg, Georg Stanitzek, Helmut Zedelmaier; Erlangen: Jutta Bendt, Ernst-Peter Biesalski, Monika Estermann, Johannes Frimmel, Stephan Füssel, Huang Xianrong, Ulrich-Ernst Huse, Stephanie Jacobs, Thomas Keiderling, Brigitte Klosterberg, Wulf D. von Lucius, Klaus G. Saur, Helmut Schanze, Helwig Schmidt-Glintzer, Wolfgang Schmitz, Volker Titel. − Der Beitrag zum St. Galler Studiengang, über den Hans-Ulrich Bösch referiert hat, wurde von Werner Wunderlich ausgearbeitet, der von Klaus G. Saur zur Historischen Kommission von Monika Estermann. Über den Münchener Studiengang wurde in Erlangen nicht berichtet, der Beitrag ist nachträglich hinzugekommen. Der Bericht meiner chinesischen Kollegin Huang Xianrong zum Studiengang »Publishing Science« (Partnerstudiengang der Erlanger Buchwissenschaft) an der Universität Wuhan, VR China, wurde nicht aufgenommen; er hätte den Rahmen des Bandes überdehnt.
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Ursula Rautenberg
blicks oder der nicht nur erfreulichen Introspektion von Studiengängen, Museen, Gesellschaften und Vereinen auf sich zu nehmen. Es sind nicht wenige Fehlstellen zu benennen. Beiseite gelassen wurden nahezu der gesamte Bereich der Buchherstellung und Buchgestaltung sowie die Buchillustration.13 Geradezu sträflich vernachlässigt wird die Tatsache, dass das Buch in seiner Geschichte und auch in der Gegenwart – noch zunehmend durch elektronische Trägermedien – ein Bildträger par excellence ist. Während die künstlerische Buchillustration in einem bibliophilen oder kulturelitären Konzept des Buchs eine reiche Forschung vorzuweisen hat, sind Bilder im Sach- und Fachbuch o. ä. fast gar nicht berücksichtigt, wichtige Anregungen aus der neuen Forschungsrichtung Bildwissenschaft von der Buchwissenschaft noch kaum reflektiert worden.14 So lassen sich zum Beispiel an das Kunstbuch in seinem Spektrum von der akademischen Monographie bis zum populären Bildband komplexe Fragestellungen anschließen, etwa nach der dispositiven Funktion der Abbildungen von Kunstwerken im Buch für die wissenschaftliche Kunstgeschichte und die Popularisierung von Kunst.15 Empfindliche Lücken sind auch im Bereich des Buchhandels spürbar. Trotz ausdauernder Bemühungen konnte kein Bearbeiter für den Antiquariatsbuchhandel16 gefunden werden. Ebenso fehlt ein Forschungsbericht zur modernen Buchwirtschaft, ein Mangel, der allerdings teilweise ausgeglichen wird durch die Übersicht über die einschlägigen Lehrwerke in der Bestandaufnahme buchwissenschaftlicher Fachliteratur von Umlauf. Ein medientheoretischer Teil »Buchwissenschaft und Medienwissenschaft« eröffnet den Band. Inzwischen scheinen Fachvertreter der universitären Buchwissenschaft einer Konzeptualisierung von Buchwissenschaft als Medienwissenschaft zuzuneigen, allerdings sind diese Vorstellungen bisher von fachlicher Seite nur passim vorgetragen worden.17 Die Beiträge von Helmut Schanze zu einer Agenturtheorie des Buchs und Georg Stanitzek zu einer intermedialen Theorie der Paratexte tragen die Sicht ›buchaffiner‹ Medienwissenschaftler bei; diese und Saxers Entwurf einer Medienwissenschaft als Buchwissenschaft regen – hoffentlich − die Diskussion innerhalb des Fachs an und tragen zur qualitativen Optimierung des Diskurses bei. 13 14 15 16 17
Hier sei ersatzweise verwiesen auf die Bände Die Buchkultur im 15. und 16. Jahrhundert. In Vorbereitung der Band zum 19. Jahrhundert. Es kann nicht angehen, dieses Feld ausschließlich von Typographen besetzen zu lassen, wie z. B. Gorbach: Typographie. Vgl. dazu neuerdings Krause/Nier/Hanebutt-Benz: Bilderlust und Lesefrüchte. Vgl. dazu Wendt/Gruber: Der Antiquariatsbuchhandel. Vgl. unten Kap. 3.3.
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Im zweiten Teil folgen die Forschungsübersichten. Da die historische Forschung in der Buchwissenschaft traditionell stark vertreten ist, sind diese in diachronen Längsschnitten angelegt. Die Forschungsreferate zur Buchhandelsgeschichte, die den herstellenden wie den verbreitenden Buchhandel umfassen, setzen mit dem gedruckten Buch ein. Denn erst mit dem Buchdruck entwickeln sich ausdifferenzierte Organisationsstrukturen innerhalb der Wirtschaftsstufen des Gesamtbuchhandels. Oliver Duntze behandelt die Frühe Neuzeit, Monika Estermann die Neuzeit, wobei die Autorin den Schwerpunkt auf die neuere Verlagsgeschichtsschreibung und ihre Methoden legt. Ein Beitrag zur Zensurforschung (Beate Müller) schließt sich an. Die Sektion zur Lese- und Leserforschung beginnt beim Lesen im Mittelalter (Sonja Glauch/Jonathan Green). Hier sind im Berichtszeitraum zahlreiche Arbeiten erschienen, die transdisziplinär Impulse gesetzt haben, so unter anderen der Essay von Ivan Illich »Im Weinberg des Textes«, der die Diskussion um den Zusammenhang zwischen der Gestaltung der Buchseite und Lektürepraktiken neu eröffnet hat. Der viel zitierte Medienwechsel von der Handschrift zum Druck, der als Folie für die gegenwärtigen Medienumbrüche herhalten muss – die Rede vom Ende der Gutenberg-Galaxis war eine der Siglen, mit der die Jahrtausendwende ausgezeichnet wurde −, analysiert kritisch Arno Mentzel-Reuters. Zwei weitere Beiträge behandeln die Frühe Neuzeit: Alfred Messerli mit einem Schwerpunkt auf Lesern und Lesestoffen, Helmut Zedelmaier auf Wissensorganisation und Wissensarchitektur des Buchs. Kuhn und Rühr geben einen Überblick über Methoden und Studien der neueren und neuesten empirischen Lese- und Leserforschung, wobei stets auch die Sicht auf das (Buch-) Lesen in der sogenannten Medienkonkurrenz zentral ist. Die genannten Forschungsberichte behandeln das Feld nicht gleichmäßig, sondern setzen Akzente jeweils bei den Themen, die im Berichtszeitraum stärker im Interesse der Forschung gestanden haben. Sie berücksichtigen wesentlich die deutschsprachige Literatur. Eine Ausnahme ist der Beitrag zum Lesen im Mittelalter, der die englischsprachige Forschung hinzuzieht. Den Berichtsteil schließt die differenzierte Sichtung der seit 2000 erschienenen Lehr- und Fachbücher und Lexika durch Umlauf ab. Umlaufs Analyse des für Nachschlage- und Lehrwerke aufbereiteten Fachwissens leitet das folgende Kapitel ein, das der Fachkommunikation und den Fachgesellschaften gewidmet ist. Es versteht sich von selbst, dass auch hier eine Auswahl getroffen werden musste. Thomas Stäcker schlägt Pfade durch das Unterholz der zahlreichen unterschiedlich gelagerten
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Digitalisierungsprojekte buchwissenschaftlicher Quellen sowie der wichtigsten elektronischen Kataloge und Fachportale. Ausführlich vorgestellt wird das zentrale Fachportal der Buchwissenschaft, das Wissenschaftsportal b2i, von Oliver Duntze und Christof Capellaro; beide haben am Aufbau des Portals mitgearbeitet. Aus den Fachgesellschaften wurden diejenigen ausgewählt, die Anteil an buchwissenschaftlicher Forschung haben. Als älteste ist hier die Historische Kommission des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels zu nennen, deren Bemühungen um die Geschichte des Buchhandels bis in das 19. Jahrhundert zurückreichen. Der Wolfenbütteler Arbeitskreis für Bibliotheks-, Buch- und Mediengeschichte ist an einem der international bedeutendsten Zentren der historischen Buchforschung angesiedelt. Die jährlichen Tagungen fördern den Dialog über die Fach- und Ländergrenzen hinweg. Jüngeren Datums ist die Internationale (früher: Deutsche) Buchwissenschaftliche Gesellschaft, die sich ihrem Namen nach als zentrale Fachgesellschaft versteht. Wie der Wolfenbütteler Arbeitskreis tritt sie mit jährlichen Tagungen hervor, die in Sammelbänden dokumentiert werden. Es bleibt abzuwarten, ob sich der Kreis der Mitglieder hinreichend vergrößert und vor allem internationalisiert, so dass die Internationale Buchwissenschaftliche Gesellschaft dem selbst gesetzten Anspruch ihres Namens gerecht werden kann. Das Selbstverständnis eines Fachs ist nicht zuletzt an Studienplänen und Lehrcurricula abzulesen. Der Bologna-Prozess hat die Bachelor- und Masterstudiengänge europaweit verpflichtend eingeführt. Trotz aller berechtigter Kritik an der Verschulung und Bürokratisierung von Studium und Lehre hat die Reform ein Gutes: Sie zwingt zum Nachdenken über die zentralen und die eher am Rande liegenden Inhalte des Fachs und deren Umsetzung in eine feste Struktur. Was im lose organisierten Magisterstudiengang noch verschleiert werden konnte – eine manchmal allzu beliebige Themenvielfalt und fehlende Ressourcen für die Lehre –, wird nun zum Problem. Ein kleines Fach wie die Buchwissenschaft ist hier besonders betroffen, da nicht alle der universitären Standorte grundständige Angebote im Bachelor und Master anbieten können. Die Fachhochschulen sind hier weitaus besser gestellt. Möglich ist ein Überleben im Verbund mit anderen Fächern oder durch die Vergabe von Lehraufträgen. Zweifellos kann aus der Not eine Tugend gemacht werden, gerade da, wo sich die Buchwissenschaft als anwendungsbezogen versteht. Die Zusammenarbeit über die fachlichen Grenzen hinaus oder mit Lehrenden aus der Praxis ist bereichernd, birgt aber die Gefahr des Verlusts der fachlichen Identität, mit der es ohnehin nicht zum Besten bestellt ist. Weitere
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Umschichtungen als Folge einer scharfen Profilbildung der Universitäten im Rahmen von Exzellenzinitiativen oder durch stets drohende Sparmaßnahmen lassen (meist geisteswissenschaftliche) Fächer schnell als entbehrlich erscheinen, die in der Lehre nicht sichtbar sind. Bis auf Münster präsentieren in diesem Band alle Universitäten (Erlangen, Leipzig, Mainz, München, neuerdings St. Gallen in der Schweiz) und die wichtigsten Fachhochschulen (Leipzig, Stuttgart) ihr buchwissenschaftliches Angebot. Weitere Beiträge runden das Bild ab. Für die traditionsreiche und renommierte Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst stellt Julia Blume die Ausbildung in den vier Klassen Typographie, Illustration, Schrift sowie System-Design vor. Über buchwissenschaftliche Themen in der Ausbildung der wissenschaftlichen Bibliothekare berichtet Wolfgang Schmitz. Werner Wunderlich erklärt das Lehrprogramm Buchwissenschaften an der Universität St. Gallen, Johannes Frimmel die Situation der Buchwissenschaft in Österreich. Diese hat keine institutionelle Verankerung, an einzelnen Instituten wie an der Universität Wien entstehen aber regelmäßig buch- und verlagsgeschichtliche Diplomarbeiten und Dissertationen. Vergleicht man die Situation der institutionell verankerten Buchwissenschaft in Deutschland mit der in den deutschsprachigen Nachbarländern Österreich und Schweiz, steht diese gut da. In den letzten zwei Jahrzehnten hat die deutsche Buchwissenschaft, entgegen ungünstiger gesamtuniversitärer Trends, einen Aufschwung erlebt. Mindestens zwei Universitäten, Mainz und Erlangen, sind personell gut ausgestattet und verfügen über grundständige Studiengänge. Zum Umkreis der Buchwissenschaft gehören Forschungsbibliotheken und Buchmuseen. Im fünften Teil dieses Bandes konnten nur wenige stellvertretend aufgenommen werden. Die Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel mit ihren vielfältigen Aktivitäten in der Verzeichnung, elektronischen Aufbereitung und Erforschung ihrer umfangreichen historischen Bestände ist zentral für Buchhistoriker und Buchwissenschaftler. Die Wolfenbütteler Arbeitskreise und ein reiches Stipendienprogramm binden eine internationale Forschergemeinde an die Bibliothek. Die Franckeschen Stiftungen zu Halle schließen an die historische Bibliothek und das Archiv, die das Studienzentrum August Hermann Francke bilden, zahlreiche Erschließungsprojekte an, darunter die Bibliographie der Drucke aus dem Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses zu Halle. Mit Wolfenbüttel und Halle wurden zwei Einrichtungen gewählt, die heute als historische Gesamtensembles musealen Charakter haben. Das GutenbergMuseum in Mainz und das Deutsche Buch- und Schriftmuseum in Leipzig
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sind, anders als die beiden zuvor genannten Forschungsstätten, keine mit dem Namen einer Gründerpersönlichkeit verbundenen und historisch gewachsenen Buchstätten, sondern als Lehr-, Schau- und Gedenksammlungen im Zeitalter des Historismus im ausgehenden 19. Jahrhundert entstanden. Beide Häuser wirken durch ihre Ausstellungen zur Geschichte der Drucktechnik und der Buchherstellung sowie zur Buchkultur im weitesten Sinn. Zwar steht die museale Funktion im Vordergrund, die Sammlungen und Archivalien sind zugleich Forschungsgegenstände. Dies gilt auch für das Deutsche Literaturarchiv Marbach, das Archiv, Bibliothek und Museum vereint. Als Dichter-Gedenkstätte zu Ehren Friedrich Schillers entstanden, widmet sich Marbach der Archivierung und Aufarbeitung von Autoren- und Verlegernachlässen. Das Verhältnis von Bibliophilie und Buchwissenschaft ist nicht ohne Schwierigkeiten, stehen sich doch Wissenschaft und ›Buchliebhaberei‹ vermeintlich unversöhnt gegenüber. Widerlegt wird diese pauschale Behauptung allein durch die Tatsache, dass Buchwissenschaftler sich in bibliophilen Gesellschaften engagieren und aus der historischen wie modernen Bibliophilie Standardwerke zur Materialität des durch Ausstattung, Provenienz oder Seltenheit herausragenden Buchs und zum Buch als Gegenstand des Sammelns hervorgegangen sind.18 Die historische Buchforschung nutzt die Kataloge bibliophiler Sammler und Sammlungen und moderne Antiquariatskataloge, deren Exemplarbeschreibungen Standards setzen. Sie entstehen nicht selten in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern, beispielhaft zu nennen sind hier die Kataloge der Antiquariate Jörn Günther in Hamburg und Heribert Tenschert in der Schweiz.19 Zu den interessanten, bisher kaum bearbeiteten Themen gehört die Analyse des Zusammenhangs von Bibliophilie, Sammeln20, Antiquariatsbuchhandel und symbolischer Zuschreibungen an das Buch. Ein bedauerliches Desiderat ist zudem das Fehlen einer wissenschaftlichen Geschichte der Bibliophilie. Wulf D. von Lucius leitet den letzten Teil, Bibliophilie und Buchkunst, mit grundlegenden Überlegungen zur Lage der bibliophilen Gesellschaften ein, die gekennzeichnet ist durch Schwund und hohen Alters18 19
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Vgl. u. a. Bogeng: Einführung in die Bibliophilie; Bogeng: Die großen Bibliophilen; Lucius: Bücherlust. Vgl. u. a. die vom Antiquariat Bibermühle in Ramsen/Schweiz erschienenen Kataloge in der Reihe »Leuchtendes Mittelalter. Neue Folge« (seit 1997); zuletzt: König, Eberhard/Tenschert, Heribert: 30 holländische und flämische illuminierte Handschriften des 15. und 16. Jahrhunderts. Ramsen/Schweiz: Antiquariat Bibermühle 2009 (Leuchtendes Mittelalter. Neue Folge 6). Zu nennen auf der theoretischen Ebene ist hier bes. Sommer: Sammeln.
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durchschnitt der Mitglieder. Ob das traditionelle Konzept der meisten Gesellschaften, gegründet auf Exklusivität und Pflege der Buchkultur, auch in Zukunft noch tragen wird, bleibt abzuwarten. Die bibliophilen Vereinigungen sollten die Chance sehen und ergreifen, die mit dem Übergang von buchnahen Inhalten in ›immaterielle‹, nicht statische Trägerformen entstehen. Haptik und Visualität des gedruckten Buchs könnten einen Aufschwung des ›alten‹ Mediums begründen, nicht in einer bibliophilen, rückwärts gewandten Nische, sondern durch ein wachsendes Bedürfnis nach dem gut gestalteten Buch für Lesezwecke neben der schnellen Informationsentnahme oder der unterhaltenden Wegwerflektüre, die digitale Formen in Zukunft möglicherweise besser bedienen werden. Freilich sind hier auch die bibliophilen Vereinigungen gefordert, modernere Konzepte zu entwickeln. Die wichtigsten Vereinigungen stellen sich mit ihrer Geschichte und ihren Zielen hier vor. Zunächst die beiden überregionalen: Die Gesellschaft der Bibliophilen und die MaximilianGesellschaft, dann beispielhaft der regional wirkende Leipziger Bibliophilen-Abend. Österreich und die Schweiz sind mit der Wiener BibliophilenGesellschaft und der Schweizerischen Bibliophilen-Gesellschaft vertreten. Nicht dem bibliophilen Buch gelten die Ziele und die Bemühungen der Stiftung Buchkunst, sondern dem vorbildlich gestalteten und verarbeiteten kommerziellen Gebrauchsbuch und den innovativen Experimenten. Sie zeichnet die aus einem Wettbewerb hervorgehenden »Schönsten deutschen Bücher« und die »Schönsten Bücher aus aller Welt« aus. Der vorangegangene Überblick über die Konzeption und die Inhalte war auch ein Versuch, die thematische Breite und die unterschiedlichen Träger buchwissenschaftlicher Forschung in Umrissen zu zeigen. Es fehlt die captatio benevolentiae, die als traditioneller auktorialer Peritext21 in einem Buch zum Buch nicht fehlen darf. Allen gut und weniger gutmeinenden Kritikern, von denen sich Autoren und Herausgeber viele wünschen, denn diese sind akribische Leser und als Rezensionsschreiber Öffentlichkeitsarbeiter, sei an dieser Stelle ins Gedächtnis gerufen, was ein Handbuch leisten kann: »Das Handbuch versteht sich nicht als Ergebnis weiterführender Forschung, sondern ist zur raschen, oft praxisnahen, Orientierung innerhalb der gesicherten Wissensgebiete gedacht.«22 Mögen die Kritiker also die Versäumnisse der jungen und vergleichsweise marginalen Disziplin Buchwissenschaft nicht dem Handbuch anlasten und den 21 22
Zum Begriff des Peritexts vgl. Genette: Paratexte. Mentzel-Reuters: Handbuch, S. 248.
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Untertitel »Ein Handbuch« nicht der Hybris der Herausgeberin: dieser ist auf Wunsch des Verlags gewählt worden.
2 Buch und Buchwissenschaft: Entstehungskontexte, Selbstbeschreibungen und Außensicht 2.1 Entstehungskontexte
Die folgenden Kapitel dienen einer knappen Bestandsaufnahme: (1) der Entstehungskontexte akademischer Buchwissenschaft, (2) der diesen Kontexten zuzuordnenden Wissenschaftsfelder, (3) den frühen Diskussionen seit den 1950er Jahren um das Fach Buchwissenschaft und (4) der disziplinenspezifischen Konturierung, wie sie sich in einschlägigen Lexika zeigt.23 Ich schließe zunächst an Saxers Überlegungen zu »Buchwissenschaft als Medienwissenschaft« in diesem Band an. Es ist bemerkenswert, dass diese Überlegungen von einem Autor stammen, der als Kommunikations- und Sozialwissenschaftler zwar in einem zentralen Feld buchwissenschaftlicher Forschung, der Lese- und Leserforschung, ausgewiesen ist, aber außerhalb der engeren buchwissenschaftlichen ›Scientific community‹ steht. Saxer skizziert den ›State of the art‹24 einer Buchwissenschaft, die sich zwar im Namen explizit als Wissenschaft bezeichnet, bisher aber nur geringe Anstrengungen unternommen hat, den Status universitärer Autonomie durch eine theoretische Modellierung zu legitimieren. Ein hinreichend komplexes, disziplinenspezifisch konturiertes Formalobjekt buchwissenschaftlichen Forschens und Lehrens jenseits alltagsweltlich vorzufindender Materialobjekte wie Buch, Buchhandel, Lesen etc. sei erst noch zu entwickeln. Zudem mahnt Saxer die Verständigung über einen gesellschafts- und medientheoretischen Rahmen für die Modellierung von Buch und Buchkommunikation an, darüber hinaus moniert er die mangelnde Integration von wissenschaftlichem und anwendungsbezogenem Wissen. Hier sind grundlegende Voraussetzungen berührt, die erfüllt sein müssen, um dem Fach im gegenwärtigen Wissenschaftssystem einen legitimen Ort – jenseits pragmatischer Verweise auf die Nachfrage von Studierenden – und die wissenschaftliche Wertschätzung und Beachtung benachbarter Disziplinen zu sichern. Noch zu führen ist der Nachweis, »wieweit buch23 24
Diese Überlegungen habe ich auf der Wolfenbütteler Tagung vorgetragen; sie lagen Saxer für seinen Beitrag vor. Siehe Saxer: Buchwissenschaft als Medienwissenschaft in Bd. 1, S. 70–72.
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wissenschaftliche Ansätze explizite Problemstellungen in Bezug auf Medien mit Hilfe expliziter Problemlösungsverfahren intersubjektiv nachvollziehbar lösen und die Problemstellungen in überprüfbarer Form kommunizieren«.25 In den folgenden Überlegungen geht es nicht darum, Saxers Entwurf auf einer theoretischen Ebene weiter anzureichern, sondern mit der vorhandenen »buchwissenschaftlichen Datenbasis«26 abzugleichen. Buchwissenschaft als eigenständiges Fach ist an deutschen Universitäten nur selten vertreten und hat eine kurze Geschichte. Dem entspricht ein, auch von Seiten der Fachvertreter, monierter Mangel an Reflexion über den Forschungs- und Lehrgegenstand.27 Damit findet sich die Buchwissenschaft in der Gesellschaft mit anderen jungen und spezialisierten Fächern, deren Entstehung sich im Prozess fortschreitender akademischer Ausdifferenzierung der letzten Jahrzehnte beobachten lässt.28 Die Mühen und Grabenkämpfe um die Etablierung von Kommunikations- und Medienwissenschaften sind von Saxer als exemplarisch für die Buchwissenschaft geschildert worden. Noch heute verläuft eine Demarkationslinie zwischen einer text- und kulturwissenschaftlich und einer sozial- und kommunikationswissenschaftlich (empirisch) arbeitenden Publizistik.29 Als der Magisterabschluss in den 1980er Jahren eingeführt wurde und nach und nach Berufsfelder für Geisteswissenschaftler in einer Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft außerhalb des traditionellen schulischen Kanons mit der Eingangsvoraussetzung des Ersten Staatsexamens sichtbar wurden, entstand eine Ausweitung der Fächervielfalt, die, so konnte man den Eindruck haben, lediglich durch die zur Verfügung stehenden Forschungs- und Lehrkapazitäten und den Verteilungskampf um Stellen und Mittel eingedämmt wurde. Während sich die naturwissenschaftlichen und technischen Fachrichtungen ausdifferenzierten, aber auf die integrierende Kraft von wenigstens teilweise gemeinsamen Grundlagencurricula zurückgreifen konnten, ist in den Geistes- und Kulturwissenschaften eine ›additive Fragmentierung‹ zu beobachten. Dies gilt auch für die Etablierung eines erst in jüngerer Zeit sich einheitlich als Buchwissenschaft bezeichnendes Universitätsfach. Der fachlichen Autonomie, die durch Stellen- und Studierendenzuwächse in jüngster Zeit an den größten Standor25 26 27 28 29
Saxer, S. 97, nach Schmidt: Nachbardisziplinen, S. 59. Saxer, S. 66. S. o. Saxer; vgl. Weyrauch: Die Buchwissenschaft in Leipzig, S. 174; Rautenberg: Buchwissenschaft und Buchforschung, S. 14f. Aufschlussreich ist ein Blick in den Katalog von Studienfächern: http://www.hochschulkompass.de/. Vgl. Hickethier, wenn auch überspitzt, in: Ist das Buch überhaupt ein Medium?, S. 40.
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ten Erlangen und Mainz bestätigt wird, muss eine fachliche Identitäts- und Theoriebildung noch folgen. Das Fach Buchwissenschaft, wie es zurzeit an fünf Universitäten unter diesem Namen30 gehandelt wird, ist aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Kontexten entstanden31. Die Geschichte, Lehr- und Forschungsprofile der Einrichtungen sowie deren fachliche Selbstbeschreibung können in diesem Band ausführlich nachgelesen werden. Hier soll nur eine kurze Sichtung der Ursprünge erfolgen. Der älteste Lehrstuhl an der Universität Mainz ist eng mit dem Namen Gutenberg, der Gutenberg-Forschung bzw. der Inkunabelkunde und dem Gutenberg-Museum verbunden. Aloys Ruppel war nach dem Zweiten Weltkrieg in Personalunion ab 1950 erster Direktor des Gutenberg-Museums und Inhaber des Gutenberg-Lehrstuhls ab 1947/49.32 Aus den Historischen Hilfswissenschaften ist auf Betreiben des Würzburger Historikers und Paläographen Otto Meyer 1983 eine Professur für Buch- und Bibliothekskunde an der Universität ErlangenNürnberg entstanden, die zunächst am Lehrstuhl für Geschichte des Mittelalters und Historische Hilfswissenschaften beheimatet war. Der erste Stelleninhaber, Alfred G. Świerk, ist u. a. Bibliothekswissenschaftler.33 Während diese beiden älteren Gründungen in ihren Anfängen noch der älteren ›Buchkunde‹ in weitestem Sinne zugeordnet werden können, gehen die Anfänge der stark praxisorientierten Münchner Studiengänge auf Herbert G. Göpfert zurück, Cheflektor des Hanser-Verlags. Der Aufbaustudiengang und der Diplomstudiengang, 1987 und 1996 begonnen, waren am Institut für Deutsche Philologie34 angesiedelt und wurden geprägt durch die von Georg Jäger maßgeblich vertretene Richtung der Sozialgeschichte der Literatur mit einem Schwerpunkt im 18. und 19. Jahrhundert.35 Aus wiederum anderen Wurzeln, der Buchhandelsökonomie, erwuchs die Buchwissenschaft an der Universität Leipzig. 1925 entstand auf Betreiben des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler eine Professur für Buchhandelsbetriebslehre36 an der damaligen Handelshochschule, an 30 31 32 33 34 35 36
München 1987, Leipzig 1995, Mainz 1997, Erlangen-Nürnberg 1998, Münster 1999; vgl. Keiderling: Buchwissenschaft als Konzept, S. 1, Anm. 1. Vgl. dazu auch den Überblick über historische Entwicklungsstationen moderner Buchwissenschaft bei Keiderling: Buchwissenschaft als Konzept, S. 2−13 sowie Schneider: Buchwissenschaft und Wissenschaftsgeschichte. Vgl. dazu die Beiträge von Füssel und Hanebutt-Benz in Bd. 2. Vgl. dazu den Beitrag von Titel in Bd. 2 sowie Rautenberg: Bücher. Heute Department Germanistik, Komparatistik, Nordistik und Deutsch als Fremdsprache. Vgl. dazu den Beitrag von Haug/Mayer in Bd. 2. Vgl. dazu die kritische Auseinandersetzung von Meyer-Dohm: Buchhandel und Hochschulforschung, S. 2199f.
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die die 1994 am Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft neu errichtete Professur für Buchwissenschaft anknüpft. Diese wurde mit Dietrich Kerlen, Theologe, Philosoph und Verlagspraktiker in Personalunion, besetzt.37 An der Universität Münster38 war und ist die Buchforschung am »Institutum Erasmianum« angesiedelt, das in den 1950er Jahren vom Romanisten Heinrich Lausberg gegründet wurde und sein Profil wesentlich durch den Anglisten Bernhard Fabian erhielt. Das »Forschungsinstitut für Buchwissenschaft und Bibliographie« setzte seine Schwerpunkte auf die »Grundlagenforschung zu editionstheoretischen und -praktischen Problemen und die analytische Bibliographie«39. Als reines Forschungsinstitut war diesem kein Studiengang zugeordnet. Als 1998 der nun so bezeichnete Lehrstuhl für Buchwissenschaft neu besetzt wurde, war auch die Errichtung eines Studiengangs, eingebunden in das Institut für Anglistik, vorgesehen. Vom »Institut für Buchwissenschaft und Textforschung« werden inzwischen Veranstaltungen im Rahmen der Studiengänge des Englischen Seminars angeboten. Jüngste Gründung im deutschsprachigen Raum ist der interdisziplinäre »Kompetenzbereich Buchwissenschaften« am Institut für Medien- und Kommunikationsmanagement an der Universität St. Gallen 2006. Das »Lehrprogramm Buchwissenschaften« setzt, dem Fächerspektrum der Hochschule für Wirtschafts-, Recht- und Sozialwissenschaft St. Gallen entsprechend, einen juristisch-ökonomischen Schwerpunkt mit deutlichem Praxisbezug. Wesentlichen Anteil am St. Galler Studienmodell hat Ludwig Delp, der »Buchwissenschaften« – im Plural – als Querschnittswissenschaft mehrerer das Materialobjekt ›Buch‹ bearbeitender Disziplinen versteht.40 Die dem Fach zugeordneten Professuren an bundesdeutschen Universitäten lassen sich an gut zwei Händen abzählen. Nicht nur fehlt damit die kritische Masse an genuin buchwissenschaftlicher Forschungskapazität, sondern auch der qualifizierte wissenschaftliche Nachwuchs, der aus dem Wettbewerb der Besten hervorgehen sollte, ist rar gesät. Die Institutionalisierungsschwäche des Fachs wirkt damit auf seine Forschungsleistung zurück, die ohne inter- und transdisziplinäre Einbindung nach außen ungenügend sichtbar wird. 37 38
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Vgl. dazu den Beitrag von Keiderling/Lokatis in Bd. 2 Ein eigener Beitrag der Münsteraner Buchwissenschaft konnte in diesem Band zum Bedauern der Herausgeberin leider nicht verwirklicht werden. Zur Buchwissenschaft in Münster vgl. Müller-Oberhäuser: Buchwissenschaft in Münster sowie: http://www.unimuenster.de/Buchwiss/. Müller-Oberhäuser: Buchwissenschaft in Münster, S. 57. Vgl. auch unten, S. 36–38.
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2.2 Wissenschaftskontexte
Diese knappe Übersicht über die breit gestreuten, sehr unterschiedlichen Entstehungskontexte der ›akademisch registrierten‹ Buchwissenschaft erklärt m. E. Saxers Beobachtung, dass ein »wenig profilierter wissenschaftstheoretischer Pluralismus mit Präferenzen für historischhermeneutische Perspektiven«41 vorherrsche. Die den Entstehungsgeschichten entsprechenden Wissenschaftskontexte42 seien im Folgenden kurz gesichtet. Eine der älteren Wurzeln der Buchwissenschaft fußt in der Historia litteraria oder ›Litterärgeschichte‹ des 18. Jahrhunderts als historisch-systematische Bücherkunde. In ihr manifestiert sich das Ideal einer Buchgelehrsamkeit, für die die Kenntnis des Schrifttums, der »BücherEmpirismus«, Grundlage der Wissenschaft ist.43 Diese Wurzel hat die Buchwissenschaft mit der Bibliothekswissenschaft gemeinsam. Im Umfeld von Bücherkunde und materieller Überlieferungsgeschichte ist die Bibliophilie anzusiedeln. Seit dem 18. Jahrhundert setzt sich ein Konzept von Bibliophilie durch, das vor dem Hintergrund des Büchersammelns und des antiquarischen Buchhandels die Ausstattung des Buchs sowie die spezifischen Besonderheiten und die Geschichte jedes Exemplars in den Blick nimmt. Grundlage der textbasierten (historisch-philologischen) Wissenschaften ist die Erforschung der Überlieferungsgeschichte der Texte und ihrer Textzeugen. Für die Handschriftenzeit fällt diese traditionell in den Aufgabenbereich der Mediävistik und der Historischen Hilfswissenschaften sowie der Lateinischen Philologie des Mittelalters. Die Erforschung des Drucks und des gedruckten Buchs hingegen ist eher der Buchwissenschaft als ›Buchkunde‹ zugeordnet: die Denomination, unter dem die Erlanger Buchwissenschaft gegründet wurde, war bis 1998 »Buch- und Bibliothekskunde«, die der Mainzer Professur »für Buch-, Schrift- und Druckwesen«. Im Zentrum stand die Inkunabel- und Frühdruckforschung, nicht zuletzt befördert durch die Gutenberg-Verehrung.44 Die im 18. Jahrhundert aufblühende Inkunabelkunde45 war und ist eines der zentralen Forschungsgebiete der historischen Buchwissenschaft. Sie hat mit der Typenkunde und der Inkunabelbeschreibung eine ausgefeilte 41 42 43 44 45
Siehe Saxer: Buchwissenschaft als Medienwissenschaft in Bd. 1, S. 80. Der Beginn buchwissenschaftlicher Forschungen im 18. Jahrhundert ist umfassend dargestellt bei Anna Zbikowska-Migoń: Anfänge buchwissenschaftlicher Forschung in Europa. Vgl. Zbikowska-Migoń, S. 43. Vgl. dazu Hanebutt-Benz in Bd. 2, S. 985. Vgl. dazu ausführlich Zbikowska-Migoń: Anfänge buchwissenschaftlicher Forschung in Europa, Kap. VI.
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Methodik entwickelt, die weit über den von ihr behandelten Zeitraum angewandt und modifiziert wird. Am gedruckten Buch der Handpressenzeit wurde auch die analytische Druckforschung (Analytical Bibliography) entwickelt, die möglichst viele Exemplare einer Druckauflage untersucht, um Erkenntnisse über deren materialen Produktionsprozess (Typographischer Kreislauf) und die Textgenese zu gewinnen.46 Das Münsteraner Institut für »Buchwissenschaft und Textforschung« steht in dieser Tradition. Eine Hauptrichtung buchwissenschaftlicher Forschung liegt demnach auf dem Buch als materiellem oder physischem Objekt und Produkt eines handwerklichen oder maschinellen Herstellungsprozesses, auf seiner Verzeichnung, Beschreibung und der Erforschung seiner Funktion für die Speicherung, Überlieferung und Verbreitung von Texten und Bildern. In zeichen- und medientheoretischer Terminologie ist das ›Buch‹ als Zeichenträger, Zeichensystem und Trägermedium für die buchwissenschaftliche Forschung zentral. Eine andere Richtung betont die Ökonomie des Buchs und die Verwertungskette vom Autor als geistigem Urheber über den Buchhandel bis zum Käufer und Leser. Auch hier kommen unterschiedliche Traditionen und Anregungen zusammen. Hinter der Historia Litteraria, Bibliographie und der Erforschung des Buchdrucks und der Buchgeschichte in der Buchforschung des 18. Jahrhunderts ist die Buchhandelsgeschichte jedoch zurückgetreten.47 Zu nennen ist an erster Stelle die Buchhandelsgeschichtsschreibung, wesentlich getragen von der 1876 auf Verlegerinitiative hin gegründeten Historischen Kommission des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler, einem Ausschuss des zentralen Wirtschaftsverbands der Branche. Die Historische Kommission regt Forschungen zu den ökonomischen Prozessen um die geistigen und materiellen Urheber, Verlag und Handel in der geschichtlichen Dimension an. Ein weiterer Schritt ist die 1925 auf Betreiben des Börsenvereins der Deutschen Buch46 47
Die ›Analytical bibliography‹ geht auf die sog. ›Angelsächsische bibliographische Schule‹ (A. W. Pollard, R. B. McKerrow, Sir Walter Greg, Fredson Bowers und Charlton Hinman) zurück und ist in Deutschland mit dem Namen Martin Boghardt verbunden. Vgl. Zbikowska-Migoń: Anfänge buchwissenschaftlicher Forschung in Europa, S. 234: »Die Geschichte des Buchhandels war wesentlich seltener Thema einzelner Studien und wissenschaftlicher Publikationen als die Geschichte anderer Bereiche der Buchkunde. Es ist schwierig, eine Antwort auf die Frage nach den Ursachen dieser Situation zu geben (die sich schließlich in vielen Ländern bis zum heutigen Tag erhalten hat). Entstehungsgeschichtliche und sachliche Verbindungen zwischen dem Verlags-, dem Buchdruck- und dem Buchhandelswesen waren der Grund dafür, daß die Buchhandelsproblematik – wenngleich auch niemals besonders ausführlich – in Arbeiten zur Buchdruckgeschichte oder in den wenigen Gesamtdarstellungen der Buchgeschichte im 18. Jahrhundert behandelt wurde.«
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händler eingerichtete Professur für Buchhandelsbetriebslehre an der Leipziger Handelshochschule, die der Forschung zum Buchhandel, der akademischen Ausbildung der Buchhändler und von Lehrkräften an den Buchhändlerschulen dienen sollte.48 In dieser buchwirtschaftlichen Tradition stehen der Studiengang Buchhandel/Verlagswirtschaft an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig und die Professur für Buchwissenschaft an der Universität Leipzig, wiederum mit einer Anschubfinanzierung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels errichtet. Die ökonomische und buchhändlerische Perspektive ist, zumindest teilweise, auf Initiative und Betreiben außeruniversitärer Interessengruppen als Arbeitsfeld eingebracht worden, die einerseits selbstreferenziell die geschichtliche Unterfütterung des Buchhandels und andererseits die buchwirtschaftliche Anwendung als Gratifikation ihrer Bemühungen ansah. Aber auch Universitätsinstitute und Forschungsstellen widmeten sich seit den 1950er Jahren der buchsoziologischen Forschung.49 Die beginnende wissenschaftliche Diskussion der 1960er Jahre um die Problematik einer autonomen Buchwissenschaft wurde unter anderen von Verlegern wie Otto Wenig50 oder Herbert Grundmann51 geführt. In dem buchwirtschaftlichen Zweig der Buchwissenschaft liegt wesentlich ihre Praxisnähe begründet, die dem Fach in den letzten Jahren unter geänderten hochschulpolitischen Prämissen – auch von den Universitäten wird eine stärkere Berücksichtigung späterer Berufsfelder gefordert – einen Aufschwung beschert hat und nicht zuletzt ein Grund für die anwachsenden Studierendenzahlen der Buchwissenschaft ist. Erst in jüngerer Zeit sind wirtschaftswissenschaftliche Inhalte mit dem Fokus auf der Buchwirtschaft in die Studiengänge eingeführt worden. Forschungsarbeiten, die mit wirtschaftswissenschaftlicher Modellbildung und Methodik arbeiten, sind allerdings selten. Ein anders gelagerter Impuls kommt seit den 1970er Jahren aus der Sozialgeschichte der Literatur, die »literarische und gesellschaftliche Konstellationen und Prozesse in wechselseitige Beziehung [setzt], um literarische Strukturen und literaturgeschichtliche Entwicklungen beschreiben und […] erklären zu können«.52 Studien zum Verlagswesen und Buch48 49 50 51 52
Vgl. Altenhein: Gerhard Menz und die Leipziger Buchwissenschaft, S. 16. Vgl. Grundmann: Von der Notwendigkeit und Möglichkeit einer allgemeinen Buchwissenschaft, S. 405f. Wenig: Wege zur Buchwissenschaft. Grundmann: Von der Notwendigkeit und Möglichkeit einer allgemeinen Buchwissenschaft. Schönert: Sozialgeschichte, S. 454.
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markt, zur Situation des ›freien‹ Autors auf dem Markt, zum literarischen Publikum und den Organisationen der literarischen Rezeption wie z. B. Lesegesellschaften und Leihbibliotheken entstehen, die zeitlich und thematisch vor 1800 und im Umfeld der ›Ersten Leserevolution‹ einsetzen. Die Münchner Buchwissenschaft ist aus dieser Forschungsrichtung erwachsen. Diese unterschiedlichen Entstehungskontexte des Fachs Buchwissenschaft zeigen, dass Methodenpluralismus und Präferenz einer hermeneutisch-historischen Perspektive, wie sie Saxer konstatiert, eng mit dessen Entstehungsgeschichte(n) verbunden sind. Zudem ist das ›Buch‹ das älteste Medium der Überlieferung umfangreicher, zusammenhängender Texte. Diese lange Geschichte mag als Bürde erscheinen, zumal die historische Buchforschung eng mit der Arbeit an seinen Material- und Zeichenqualitäten verbunden ist. Die wissenschaftliche Buch- und Buchhandelsgeschichte, die die Buchwissenschaft im Umfeld der traditionellen geisteswissenschaftlichen Fächer entstehen ließ (und nicht der Publizistik, der Wirtschaftswissenschaft oder der Sozialwissenschaften), garantiert immerhin die Anschlussfähigkeit des Fachs an die literatur-, kultur- und sprachwissenschaftlichen Fächer. 2.3 Selbstbeschreibungen 2.3.1 Krzysztof Migoń und die ›Polnische bibliologische Schule‹
1984 hat Migoń (geb. 1940) eine erweiterte Fassung seiner Habilitationsschrift unter dem Titel »Das Buch als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Buchwissenschaft und ihre Problematik« vorgelegt. Migoń war Schüler und Nachfolger des Breslauer Lehrstuhlinhabers für Buch- und Bibliothekswissenschaft Karol Głombiowski (1913–1986), beide sind führende Vertreter der sogenannten Polnischen bibliologischen Schule. Die Grundlagen einer »autonomen Buchwissenschaft«53 wurden in der polnischen Buchforschung bereits früh in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen gelegt. Charakteristisch für die polnische Bibliologie ist, dass das Buch als Einheit materieller, inhaltlicher und funktionaler Aspekte innerhalb eines Buchsystems betrachtet wird. Das Schlagwort vom ›Buch in der Gesellschaft‹ (»instrumentum communicationis socialis« (Głombi53
Migoń: Die Gestaltung der autonomen Buchwissenschaft, S. 709.
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owski)) erscheint als zentrales Forschungskonzept einer autonomen Buchwissenschaft.54 Die deutsche Übersetzung von Świerk, Schüler Migońs, erschien 1990 in der Reihe Buchwissenschaftliche Beiträge aus dem Deutschen Bucharchiv München. Es handelt sich bei dieser Monographie um die erste umfassende Sichtung internationaler buchwissenschaftlicher Forschungsliteratur seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert.55 Beeindruckend ist die Breite, mit der Migoń das schon von den Originalsprachen her umfangreiche Gebiet abdeckt. Ein Schwerpunkt liegt auf der russischen und osteuropäischen – besonders der polnischen – Literatur. In diese wohl vielen Buchforschern schon aus sprachlichen Gründen nicht zugängliche, da ganz überwiegend nicht in Übersetzung verfügbare, Literatur bietet Migoń einen guten Einblick. Hier hat eine grundlegende Auseinandersetzung mit buchwissenschaftlicher Theorie und Methodik seit den 1920er und 1930er Jahren stattgefunden.56 Weiter bezieht er die angloamerikanische, französische und deutsche Literatur und passim die indische und südafrikanische ein. Migoń verwendet explizit die Bezeichnungen Buchwissenschaft, Bibliologie und Buchkunde gleichberechtigt, obwohl deren Bedeutung in den einzelnen Sprachen unterschiedlich akzentuiert wird.57 So ist im Deutschen, anders als im Französischen oder in den östlichen Sprachen, die Bezeichnung ›Bibliologie‹ unüblich, ›Bibliographie‹ hat einen engeren Bedeutungsumfang als das anlgoamerikanische ›bibliography‹ und ›Buchkunde‹ steht für empirisch-heuristische Untersuchungen am materiellen Buchobjekt. Auch die Zahl der Teildisziplinen, die Migoń der übergeordneten Disziplin der ›Buchwissenschaft‹ zuordnet, ist umfangreicher als in der modernen deutschen Buchwissenschaft. In der Tradition der russischen und osteuropäischen Forschung stehend, gehören Bibliographie, Bibliotheksgeschichte und Bibliothekswissenschaft zentral in das Feld der Bibliologie. Anders als das Inhaltsverzeichnis vermuten lässt58, bietet die Monographie kein ausgefeiltes Theoriegebäude, vielmehr sichtet Migoń zunächst in 54 55 56 57 58
Vgl. Migoń, S. 709; Zitat ebd. Zu den Anfängen buchwissenschaftlicher Forschung im 18. Jahrhundert vgl. ZbikowskaMigoń: Anfänge buchwissenschaftlicher Forschung in Europa. Vgl. Migoń: Das Buch als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung, Kap. III: Entstehung und Entwicklung der Buchwissenschaft. Migoń, S. 70–72. Das Buch enthält folgende Hauptkapitel: Das Buch als Forschungsgegenstand der Bibliologie; Entstehung und Entwicklung der Buchwissenschaft; Theorieelemente moderner Buchwissenschaft; Probleme der historischen Buchwissenschaft; Theorieprobleme des modernen Buchsystems; Die Buchwissenschaft im Kreis der Geisteswissenschaften.
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der Art eines Forschungsberichts die unterschiedlichen Konzepte buchwissenschaftlicher Forschung, die er historisch wie systematisch ordnet. Wegen der Fülle der Fakten und der systematischen Herangehensweise ist die Lektüre streckenweise mühsam. Einen eigenen Entwurf, basierend auf der Forschungsliteratur, stellt Migoń im vierten Hauptkapitel »Theorieelemente moderner Buchwissenschaft« vor; dabei soll kein »ideales Modell«, sondern ein brauchbares »Programm für das Vorgehen in bestimmten buchwissenschaftlichen Feldern«59 geschaffen werden. Als »zentrale Forschungskategorien«60 der modernen Buchwissenschaft benennt Migoń »das Buch samt seiner bibliologischen Prozesse, das heißt die Produktion, der Umlauf und Abnahme des Buches sowie die Folgen dieser Prozesse und die an ihnen beteiligten Menschen und Institutionen«61. Den engeren Forschungsgegenstand schränkt er auf »die kulturellen, gesellschaftlichen Aspekte und Funktionen des Buches«62 ein; (technische) Produktions- und (wirtschaftliche) Distributionsprozesse sind daher stets in ihren Voraussetzungen und Auswirkungen auf den Adressaten des Buchs, den Leser, zu sehen. Migoń fasst seine Gegenstandsbestimmung von Buch und Buchwissenschaft wie folgt zusammen: Aus der oben charakterisierten Annäherungsweise [Leser, Lesen, Lektüre] an den Gegenstand innerhalb der buchwissenschaftlichen Forschung geht bereits hervor, daß die sozialen Bindungen und Funktionen des als Kulturprodukt und aktiver Kulturfaktor verstandenen Buches die zentralen Kategorien der Disziplin darstellen. Den Mittelpunkt der bibliologischen Problematik bilden daher die gemeinsamen, reichen und vielseitigen Beziehungen zwischen Buch und Mensch (Gruppen, gesamte Gesellschaft). Je öfter man im Buch oder beim Buch den Menschen erblicken kann, umso interessanter gestalten sich die Forschungsperspektiven für die Buchwissenschaft, und umso größer wird der Erkenntnis- und praktische Wert dieser Forschung. Nach dieser Auffassung gehört die Bibliologie zur Gruppe der Wissenschaften, die sich mit der sozialen Kommunikation beschäftigen. Sie untersucht nämlich jene Kommunikationsprozesse, an denen das Buch beteiligt ist. Die Eigenart dieser Prozesse, die Besonderheit ihres Mittels – des Buches – und die ausgedehnte Praxis, ausgeübt durch viele Menschen und bibliologische Institutionen, rechtfertigen einen relativ autono63 men Status der Bibliologie gegenüber den anderen Wissenschaften.
Die zentrale Bedeutung der gesellschaftlichen Funktion des Buchs für den Buchbegriff hatte Migoń unter Berufung auf den russischen Theoretiker A. J. Tschernjak bereits in der Forschungsdiskussion vorgestellt: 59 60 61 62 63
Migoń: Das Buch als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung, S. 75. Migoń, S. 74. Migoń, S. 75. Migoń, S. 76. Migoń, S. 79.
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[…] eine Buchdefinition muß das Wesen des Buches als eine gesellschaftliche Erscheinung wiedergeben und diese Erscheinung in ihrer Gesamtheit erfassen; sie sollte nicht alle, dafür aber die zweifellos grundlegenden funktionellen Eigenschaften des Phänomens enthalten; […] es muß der Standpunkt klar zum Vorschein kommen: daß ›ein Buch für den Leser geschaffen wird, daß es in der Welt des Lesers lebt, und daß es nicht außerhalb der Welt des Lesers existieren kann‹ […].64
Eine zeichentheoretische Konturierung, wie sie der von Migoń ebenfalls zitierte russische Buchwissenschaftler und Gutenbergforscher E. L. Nemirowski vorschlägt, lehnt Migoń als unzureichend für eine komplexe, offene Buchwissenschaft ab.65 Aus der Konzeptionalisierung von Buch und Buchwissenschaft auf den stets übergeordneten gesellschaftlichen Aspekt leitet Migoń sowohl den integrativen Charakter der Buchwissenschaft wie auch deren Meta-Methode ab. Buchwissenschaft erforsche das Buchsystem ganzheitlich, indem sie auf einseitig analytische und lineare Forschungsmethoden verzichte. Der komplexe Charakter der Buchwissenschaft rühre von einem »offenen« Buchbegriff her, der die unterschiedlichen Fragestellungen an das Formalobjekt Buch, den auch die anderen Wissenschaften betragen, synthetisiere.66 Die allgemeine Methode der Buchwissenschaft ist dementsprechend nach Migoń die »funktionelle (bibliologisch-funktionelle) Methode als die allgemeine Methode der wissenschaftlichen Analyse der Buchwissenschaft, mit deren Hilfe das Buch als ein Zusammenspiel aller seiner Elemente und das Buchwesen in Verbindung mit dem realen und potentiellen Leser untersucht« werde.67 Die einheitliche methodische Grundlage spiele eine wichtige integrierende Rolle für eine autonome Buchwissenschaft, der Methodenpluralismus vorgeworfen werde, da sie sich der Methoden anderer Wissenschaften bediene. Verbunden mit dieser Hauptmethode sind die dialektisch-materialistische und formal-logische Methode sowie die den jeweiligen Fragestellungen entsprechenden Methoden, die die Buchwissenschaft mit anderen Wissenschaften gemeinsam habe, z. B. die ältere der Bibliographie, aber auch der Wirtschaftswissenschaft, der Pädagogik 64 65
66 67
Migoń, S. 19. »Das Buch ist ein Zeichensystem, innerhalb dessen man sich zum Austausch semantischer Informationen zwischen zwei verschiedenen materiellen Systemen, z. B. zwischen Autor und real existierender Welt oder zwischen Autor und Leser, der Gesamtheit der visuell wahrnehmbaren Schriftzeichen oder graphischer Darstellungen bedient […]«; Nemirowski zitiert nach Migoń, S. 19; Migoń beruft sich auf die Zweite Buchwissenschaftliche Allunionskonferenz in Moskau 1974, auf der semiotische Buchdefinitionen behandelt wurden; vgl. Migoń, S. 18. Migoń, S. 80f. Migoń, S. 49.
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und Psychologie etc.68 Ein Methodenbewusstsein sei in der Buchwissenschaft unerlässlich, weil die Grenzen zwischen Wissenschaft und Praxis in dieser Disziplin oft fließend seien: Das Ignorieren wissenschaftlicher Methoden und die Präsentation bibliologischer Fakten, ohne eine konkrete übergeordnete Konzeption, verleiht den buchwissenschaftlichen Arbeiten zuweilen das Niveau einer bloßen Beschreibung der Phänomene, ohne deren Ursachen und Folgen zu untersuchen, oder setzt sie auf die Stufe einer reinen Praxisberichterstattung herab.69
Die innere Struktur der Buchwissenschaft orientiert sich nach Migoń in der Tradition der Polnischen bibliologischen Schule am »Weg des Buches vom Schöpfer zum Abnehmer«;70 sie umfasst das Verlagswesen, die Verbreitungsprozesse von Büchern (Buchhandel, Bibliothekswesen und Buchinformation) sowie die Leserschaft. Modifiziert werde dieses »Grundschema«71 in den Dimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Migoń stellt in seiner Monographie einen theoretischen Bezugsrahmen her, der beeindruckend zeigt, dass die russische und polnische Buchforschung bereits seit den 1920er und 1930er Jahren72 − und damit wesentlich früher als die deutschsprachige, englische oder westeuropäische − grundlegend an Theoriefragen einer eigenständigen Disziplin Buchwissenschaft gearbeitet hat. Ich gehe hier nur auf einige Aspekte ein. Die innere Strukturierung des disziplinenspezifischen Felds nach Produktion, Distribution und Rezeption des Buchs (bzw. ›vom Autor zum Leser‹) wurde von polnischen Bibliologen bereits in der Vorkriegszeit entwickelt.73 Diese Trias ist so oder ähnlich auch in der nach dem Krieg einsetzenden deutschen Diskussion präsent und spiegelt sich im Aufbau der universitären buchwissenschaftlichen Lehrprogramme wider. Auf die eine von Migoń geforderte ›Metamethode‹ hat man sich nicht einigen können, da mit einer einheitlichen Gesellschaftstheorie auch die funktionelle Methode nicht allgemein bindend sein kann. Es bleibt also bei dem, auch von Saxer konstatierten, methodischen Pluralismus. Der »offene« Buchbegriff 74, den Migoń betont, bildet auch gegenwärtig die Inter- und Transdisziplinarität der Buchwissenschaft ab, ebenso wie die daraus resultierende Notwendigkeit einer disziplinenspezifischen Konturierung des Formalobjekts buch68 69 70 71 72 73 74
Vgl. Migoń, S. 81f. Migoń, S. 83f. Migoń, S. 85. Migoń, S. 86. Vgl. dazu Migoń: Die Gestaltung der autonomen Buchwissenschaft. Vgl. Migoń, S. 709. Vgl. Anm. 63.
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wissenschaftlicher Forschung. Unbestritten, wenn auch in der Einzelforschung nicht immer erkennbar, scheint aber der systemtheoretische Anspruch zu sein, sei es die der soziologischen Systemtheorie (u. a. Talcott Parsons oder Niklas Luhmann) oder einer systemtheoretisch begründeten kommunikations- und medienwissenschaftlichen Konturierung (u. a. Saxer). Jäger hat 1994 dezidiert auf die Anschlussfähigkeit gegenwärtiger systemtheoretischer Entwicklungen an die Theorien der russischen und polnischen Buchwissenschaft und deren zentraler Theorie, das Buchwesen als funktionales gesellschaftliches System zu konturieren, hingewiesen. Kritisch merkt er allerdings an, dass eine Verständigung über die Bezugstheorien fehlten und die Abspaltung der kommunikativen und sozialen Funktion des Buchs in der bibliogischen Schule − möglicherweise den Bedingungen sozialistischer Planwirtschaft geschuldet −, von der wirtschaftlichen nicht akzeptiert werden könne.75 Auch auf eines der wichtigsten offenen Probleme hat Migoń bereits, wenn auch passim, hingewiesen: dass die Anwendungs- und Praxisorientierung der Buchwissenschaft, die wissenschaftspolitisch dem Fach an Universitäten zum Aufschwung verholfen hat und sich in programmatischen Selbstbeschreibungen wiederfindet, auf einer wissenschaftlichen Grundlage beruhen müsse, und sich nicht lediglich auf die Vermittlung eines theorielosen ›how-to-do‹ beschränken könne. So bleibt als eine der zukünftigen Aufgaben, die kulturellen und buchwirtschaftlichen Prozesse nicht nur zu beschreiben, sondern auf wissenschaftlicher Grundlage zu analysieren und mögliche Handlungsanleitungen zu geben. Diese Forderung stellt sich besonders angesichts der gravierenden und weitreichenden Systemverschiebungen − von den Urheberrechten über die Distributionskanäle bis hin zum Mediennutzungsverhalten – in der Folge digitaler Buch- und Textformen. Świerk, Inhaber der Erlanger Professur für Buch- und Bibliothekskunde von 1984 bis 1994, hat 1989 eine knappe Begriffs- und Standortbestimmung der Buchwissenschaft gegeben, die eng an Migoń anschließt. Der Aufsatz steht im Kontext einer seit der Mitte der 1960er Jahre geführten Debatte um die fachliche Autonomie der Buchwissenschaft, die Świerk zu Beginn kurz referiert. Ausgangspunkt war der Vorschlag von Helmut Hiller, Forschungen zum Buch- und Verlagswesen der (sich sträubenden) Publizistik anzugliedern. In den Diskussionen um eine mögliche wissenschaftliche (und fachliche) Autonomie der Buchwissenschaft bzw. 75
Vgl. Jäger: Buchwissenschaftliche Studiengänge, S. 276.
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deren fachliche Zuordnung wurde, nach Świerk, schnell die in der Buchforschung »fehlende Einsicht«76 in die Notwendigkeit offenbar, das immense angehäufte Wissen zu ordnen, zu systematisieren und theoretisch zu durchdringen: Mit Recht unterstrichen sie [die Vertreter der Publizistik], daß der natürliche Gegenstand ›Buch‹ (das M a t e r i a l o b j e k t = das Buch in toto) nicht Gegenstand einer einzigen eigenständigen Wissenschaft sein könne, daß es vielmehr der Reduzierung des Materialobjektes auf einen bestimmten Erscheinungsbereich (F o r m a l o b j e k t ) bedürfe, um sich mit ihm sinnvoll innerhalb einer Wissenschaft beschäftigen zu können.77
Świerks folgende Ausführungen zielen darauf, Nachweis und Konturierung des vermissten buchwissenschaftlichen Formalobjeks zu erbringen. Er bestimmt die »Erhaltung, Überlieferung und Verbreitung geistiger Inhalte« als die Grundfunktionen des Buchs, wobei die äußeren Erscheinungsformen und die Herstellungsmethode des materiellen Trägers akzidenziell, da zeit-, orts- und funktionsbedingt, sei: »Sie [sc. Die materiellen Formen] können die wesentlichen Funktionen zwar quantitativ, nicht aber qualitativ verändern. Die drei Grundfunktionen verschmelzen jedoch in letzter Konsequenz zur kommunikativen Funktion des Buches.«78 Wie für Migoń ist auch für Świerk die funktionale Methode die Grundmethode einer autonomen Buchwissenschaft. Er bezieht sich auf den Funktionalismus in der Kulturanthropologie und Kultursoziologie (u. a. Bronisław Malinowski, Parsons), wonach »der innere Gleichgewichtszustand eines Systems die Grundlage und Gewähr der Existenz und deshalb auch Ziel einer jeden Gesellschaft, die dieses System als ihre Lebensform angenommen hat«79, sei. Dem entgegen wirkende dysfunktionale Tendenzen seien im gesamtgesellschaftlichen Interesse durch »das Schaffen geeigneter Kontrollinstanzen […] im Keim zu ersticken oder ihnen rechtzeitig vorbeugend entgegenzuwirken«.80 Daraus folge als die Hauptfunktion des Buchs die soziale Funktion, genauer die Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse durch das Buch; es diene dabei nicht allein der Darstellung des Geistesfortschritts, sondern berücksichtige unterschiedliche soziale Interessenlagen. Der Übergang geistiger Inhalte in neue materielle Buchformen vollziehe sich nach der funktionalen These als »dialektische Einheit von Buch, Inhalt und Gesellschaft«.81 Die 76 77 78 79 80 81
Świerk: Buchwissenschaft, S. B 64. Świerk, S. B 64. Świerk, S. B 65. Świerk, S. B 66. Świerk, S. B 66. Świerk, S. B 66; vgl. die »funktionale Theorie«, die von Kazimierz Piekarski und Jan Muszkowski grundlegend dargestellt wurde und durch die Schriften Karol Głombiowski und Krzysztof Migoń einen Aufschwung erfuhr.
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soziale Funktion des Buchs beschreibt Świerk weiter auf der Ebene der Buchinhalte. Literarische Werke (›literarisch‹ hier im weiten Sinn) hätten kognitive, ästhetische oder ideell-didaktische Funktionen, mit deren Hilfe sie die geistigen Bedürfnisse des Lesers und der Gesellschaft befriedigen oder wecken. Der »Intention« oder »Botschaft« des Autors verleihe der Verleger die adäquate materielle Gestalt; am Ende stünden das Buch und sein »eigentliches Ziel, das Bewirken gesellschaftlicher Kommunikation«.82 Abschließend definiert Świerk das Buch als Formalobjekt einer autonomen Buchwissenschaft wie folgt: Als Träger und Vermittler wissenschaftlicher, ideellmoralischer, didaktischpädagogischer und ästhetischer Werte wirkt das Buch in der Gesellschaft, bringt Bewußtseinsprozesse in Gang und löst Bewegungen aus. […] Es ist das B u c h , v e r standen als die graphische Materialisierung geistiger Inhalte, mit dem Ziel ihrer Erhaltung, Überlieferung und Verbreitung gemäß d e n B e d ü r f n i s s e n u n d E r w a r t u n g e n d e r G e s e l l s c h a f t.83
Die nur wenige Seiten umfassenden Ausführungen Świerks sind hier aus mehreren Gründen ausführlich referiert worden. Zwar schließt Świerk sich eng an die von Migoń entwickelte Buchtheorie an, der er nur wenig Eigenständiges hinzufügt, dennoch handelt sich um eine theoretisch und sachlich fundierte Gegenstandsbestimmung der Buchwissenschaft, die unter den bis dahin vorliegenden deutschen Bemühungen herausragt. Zudem präzisiert Świerk die bei Migoń undeutlich bleibenden gesellschaftlichen und kommunikativen Funktionen des Buchs. Migońs Monographie und Świerks Aufsatz, beide in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre publiziert, haben nicht die Aufmerksamkeit erhalten, die ihnen – nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer nicht überschäumenden Theoriediskussion innerhalb der Buchwissenschaft – hätte gezollt werden können.84 Über die Gründe kann nur spekuliert werden. Ich möchte hier nur einige kritische Bemerkungen anfügen, die über die bereits oben kurz benannte Bedeutung der Migoń’schen Überlegungen bzw. die der Polnischen bibliologischen Schule für die heutige Buchwissenschaft hinausgehen. Konsensfähig scheint die Festlegung auf eine soziale bzw. gesellschaftliche Funktion des Buchs zu sein, die sich auf eine funktionalistische Theorie und Methode beruft, aber nicht die Festlegung von 82 83 84
Świerk: Buchwissenschaft, S. B 65 u. 67. Świerk, S. B 65 u. 67; Auszeichnungen im Original. Vgl. dazu auch Jäger: Buchwissenschaftliche Studiengänge, S. 275: »Die polnische und sowjetische Theorie der Buchwissenschaft, die von den deutschen Fachvertretern – sieht man von Swierk ab, der aus der aus der ›polnischen Schule‹ kommt – noch kaum diskutiert wurde, eröffnet der Forschung fruchtbare Perspektiven.«
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Buch und Buchkommunikation ausschließlich auf Zwecke gesellschaftlicher Bedürfnisbefriedigung. Unklar ist der gesellschaftliche Bezugsrahmen, von dessen Konzeptualisierung die inhaltliche Definition von ›gesellschaftlichen Bedürfnissen‹ abhängt ebenso die Entscheidung über eu- und dysfunktionale Buchkommunikation. Hier liegt, soweit dies aus den beiden besprochenen Publikationen hervorgeht, eine Schwachstelle der (formal) funktionalistischen Konzeption. Weder Migoń noch Świerk äußern sich konkret über gesellschaftliche, politische oder institutionelle Wertesysteme. Eine Ideologisierung im Sinne marxistischer Terminologie und des historischen Materialismus wird vermieden, auch wenn diese in der russischen Diskussion der Ende der 1920er Jahre entwickelt wurde und sich in den 1930er Jahren durchgesetzt hat.85 Allerdings lassen insbesondere Świerks Funktionsbeschreibungen des ›literarischen‹ Werks als kognitiv, ästhetisch und ideell-didaktisch bzw. didaktisch-pädagogisch Rückschlüsse auf einen impliziten, traditionellen Buchbegriff zu, der das Buch als ›Kulturgut‹ und ›geistige Leistung‹ begreift und ihm eine aufklärerische bzw. erzieherische Rolle zuschreibt. Um 1990 ist diese Sicht auf das ›gute Buch‹, die sich seit den 1970er Jahren steter Kritik ausgesetzt sah, weitgehend in einen kulturkonservativen Diskurs herabgesunken86, der bis heute u. a. von der Standesorganisation des Buchhandels für seine politische Lobbyarbeit wach gehalten wird.87 Jüngstes Beispiel ist die Debatte um die Urheberrechte im elektronischen Raum und besonders in der Auseinandersetzung mit der Massendigitalisierung durch Google Inc. Andererseits 85
86
87
Vgl. Migoń: Die Gestaltung der autonomen Buchwissenschaft, S. 704f.; Migoń zitiert hier Novosadskij: »Das Buch als gesellschaftliches Phänomen ist eine bestimmte Form des gesellschaftlichen Bewußtseins, das heißt der Ideologie. Die Buchwissenschaft sollte eine Gesellschaftswissenschaft sein, deren grundlegende Forschungsmethode der historische Materialismus als Methodologie der Gesellschaftswissenschaften sein soll. Die Aufgaben einer marxistischen Theorie der Buchwissenschaft liegen in der Aufdeckung des gesellschaftlichen Charakters des Buches als Ideologieform und in der Erklärung seiner Entwicklungsgesetze mittels der gesellschaftlichen Verhältnisse.« [Novosadskij, I.V.: Teorija knigovedenija i marksizm. Kritika sovremennogo knigovedenija (Die Theorie der Buchwissenschaft und der Marxismus. Kritik der gegenwärtigen Buchwissenschaft). In: Trudy Muzeja knigi, dokumenta i pis’ma. I. Stat’i po knigovedeniju. Leningrad 1931, S. 29 u. 33.] Vgl. Saxer: Das Buch in der Medienkonkurrenz, S. 206f., der bereits 1975 feststellt: »Sogar den alten bildungselitären Vorstellungen über das eigene Tun hat man, zumindest in aufgeklärten Zirkeln, weitgehend abgeschworen und bekennt sich fast stolz statt zum Kulturgegenstand zur Ware Buch […], zum Handel statt wie ehedem zur Pädagogik und im Gefolge davon bereits wieder selbstsicherer zur Auseinandersetzung mit andern Medien. In andern aufgeklärten Kreisen freilich, hauptsächlich der BRD, regt sich gegenläufig entschieden auch neuer Idealismus: diesmal ein politischer, der nun im Namen von Demokratie nicht nur dem Buchwesen in seiner heutigen Gestalt, sondern allen übrigen Kommunikationsmitteln dazu den Prozeß macht.« Vgl. Rautenberg/Wetzel: Buch, S. 63–67.
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lässt sich aus westdeutscher und -europäischer Perspektive eine in dieser Weise mit gesellschaftlichen Zwecken begründete Medienfunktionalität wie eine Legitimation sozialistischer Buchhandelssysteme lesen. Das Erscheinungsjahr der Publikation, 1989, fiel mit dem Zusammenbruch der Buchmärkte in Osteuropa zusammen, deren Buchproduktion und -verteilung sowie Zensursysteme auf das Ziel eines sozialistisch begründeten gesellschaftlichen Nutzens des Buchhandels unter staatlicher Lenkung hin optimiert worden waren. Auch dies mag der Rezeption abträglich gewesen sein. Lässt man diese zeitbedingten Rezeptionshemmnisse beiseite, bleiben aus heutiger Sicht ›blinde Flecken‹ im Theoriegebäude selbst. Der von Migoń wie von Świerk verwendete Kommunikationsbegriff geht über eine einfache Konzeption, dass das Buch als materieller Träger gesellschaftliche Kommunikation vermittle, nicht hinaus. Die westliche kommunikationswissenschaftliche und -soziologische Theoriebildung der 1960er und 1970er Jahre steht außerhalb der Theorien der polnischen Bibliologie und wird von Migoń nicht berücksichtigt. Ebenso finden komplexe systematische Zusammenhänge buchmedialer Kommunikation in der deterministisch ausgerichteten Strukturierung des buchwissenschaftlichen Felds keinen Platz. Die funktionelle Methode legt zwar begrifflich ein ›Buchsystem‹ zugrunde, in dem sich einzelne Systemteile gegenseitig beeinflussen, die jedoch wenig ausdifferenziert erscheinen. Dem entspricht eine Fixierung auf das ›Buch‹, an das die »bibliologischen Prozesse« Buchhandel, Buchwirtschaft etc. angelagert werden. Die Buchtheorie der Polnischen bibliologischen Schule untermauert die Ordnung und Klassifikation88 des buchwissenschaftlichen Felds mit grundlegenden theoretischen Überlegungen, deren hohes Reflexionsniveau aus der gleichzeitigen deutschen Diskussion herausragt. Auch wenn in der Transformation über die politischen Systemgrenzen hinweg der polnischen Bibliologie der gesellschaftliche Bezugsrahmen abhanden gekommen ist, ist die Auseinandersetzung damit lohnenswert. 88
Vgl. dazu Świerk: Buchwissenschaft, S. B 70: »Durch den Aufbau begrifflich-klassifikatorischer Schemata zur Ordnung und zur Analyse des buchwissenschaftlichen Tatsachenwissens, durch die Entwicklung einer den Regeln einer wissenschaftlichen Fachsprache entsprechenden Terminologie, vor allem aber durch Theoriebildung, das Bemühen um die Formalisierung generalisierender, empirisch abgestützter und falsifizierbarer Aussagen, hat sie die notwendigen wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen erfüllt. Keine andere Wissenschaft erforscht diesen Bereich der Wirklichkeit gesellschaftlicher Kommunikation mit solcher Intensität, in solchem Ausmaß und auf solche Weise wie die Buchwissenschaft. Ihr Platz ist in der Reihe humanistischer Wissenschaften in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Kommunikations- und Kulturwissenschaften.«
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2.3.2 Die frühen Diskussionen um eine Buchwissenschaft in Deutschland
In seiner Übersicht über die nationalen Theoriebemühungen hatte Migoń der Literatur Vorkriegsdeutschlands zur Buch- und Bibliothekskunde nur noch historische Relevanz bescheinigt, da die damaligen Kontroversen und Diskussionen für den zeitgenössischen Leser »völlig unaktuell und unergiebig«89 seien. Für die Deutsche Demokratische Republik resümiert Migoń (Stand 1984): »Die Buchkunde der DDR hat bislang nicht den Charakter einer integrierten Wissenschaft, die sich mit der Geschichte und dem Status quo bibliologischer Prozesse auseinandersetzt, erreicht.«90 In der Bundesrepublik setzte seit den 1950/60er Jahren die Diskussion um eine Buchwissenschaft, ihr Forschungsfeld und ihre disziplinenspezifischen Konzepte ein. Im Vordergrund stehen das Verhältnis einer Buchwissenschaft zur Bibliothekswissenschaft bzw. der Herauslösung einer eigenständigen Disziplin sowie die Frage, ob eine autonome, an Universitäten etablierte Buchwissenschaft sinnvoll sei.91 Einer der ersten Befürworter ist Wieland Schmidt, Mediävist und Bibliothekswissenschaftler, Ordinarius für Bibliothekswissenschaft und gleichzeitig der erste Leitende Direktor der 1952 neu gegründeten Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin. In seinem Aufsatz »Die Wissenschaft vom Buch« (1955) entwirft er, dem Publikationsort in Universitas Litterarum. Handbuch der Wissenschaftskunde entsprechend, eine Klassifikation des Forschungsfelds. Schmidt hatte bereits wenige Jahre vorher in seinem Beitrag »Vom Wesen des Buches« (1952) eine beschreibende Funktionsbestimmung des Buchs am Beispiel des wissenschaftlichen Buchs versucht, ohne dass er diese jedoch in eine explizite Definition einbringt. Ähnlich wie Schmidt verfährt auch Grundmann in seinem Beitrag »Von der Notwendigkeit und Möglichkeit einer allgemeinen Buchwissenschaft« (1966). Grundmann, seit 1953 Alleininhaber des Bouvier Verlags Herbert Grundmann und im Verlegerausschuss des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels tätig, geht ebenfalls von Klassifikationssystemen aus. So prüft er bibliothekarische Ordnungssysteme wie die »Dewey Decimal Classification« oder die »Göttinger Basis-Klassifikation« auf ihre Verwendbarkeit. Er kommt zu dem Schluss, dass eine eigene buchwissenschaftliche, von der Bibliotheks-
89 90 91
Migoń: Das Buch als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung, S. 59. Migoń, S. 60. – Siehe dazu auch: Krueger: Buch, Sp. 310; danach ist die Wissenschaft vom Buch Teil der bibliothekarischen Ausbildung. Vgl. auch den kurzen Abriss bei Keiderling: Buchwissenschaft als Konzept, S. 14–16.
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wissenschaft abzugrenzende Klassifikation die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Disziplinen der Buchforschung koordinieren könne: Dagegen aber wäre die Systematik der Zusammenarbeit der verschiedenen Disziplinen einer Art Auftragsvergabe und der Darbietung an den Studierenden so dienlich wie der Konsolidierung aller Probleme um das Medium Buch herum zur Buchwissenschaft.92
Grundmann plädiert darüber hinaus nachdrücklich für eine institutionalisierte Buchwissenschaft. Neben der Tatsache, dass buchwissenschaftliche Forschungsarbeit bereits an Universitäten und anderen Institutionen betrieben werde, begründet er seine Forderung aus den »praktischen Notwendigkeiten« des Buchhandels, die aus einer kaum einen Beruf verschonenden dynamischen Veränderung entstünden: der Buchhandel benötige qualifizierte Mitarbeiter mit einem Fachstudium.93 Mit dieser Forderung reiht sich Grundmann in die ältere Leipziger Tradition einer wissenschaftlichen Ausbildung für den buchhändlerischen Nachwuchs ein. Beiläufig benutzt er auch den Begriff ›Medium Buch‹ in Anlehnung an Erich Feldmanns »Theorie der Massenmedien« (1962). Eine Abgrenzung von Medienwissenschaft und Buchwissenschaft folgt jedoch unmittelbar: so wichtig für die Medienwissenschaften die Sozialfunktion sei, »so gefährlich wäre eine übertriebene Akzentuierung dieses Aspekts bei unserer neuen Systematik«.94 Grundmanns Aufsatz war im Sammelband Wege zur Buchwissenschaft (1966) erschienen, in dem er als einziger theoretischer Beitrag neben Aufsätzen zum Buchhandel steht. Der Herausgeber, Otto Wenig, meint denn auch, im Vorwort die Bezeichnung ›Buchwissenschaft‹ rechtfertigen zu müssen: Der Terminus Buchwissenschaft ist natürlich nicht vor Mißverständnissen geschützt. Er teilt damit das Schicksal vieler Benennungen. Haftet dem Namen zwar, wenn man es so verstehen will, etwas der Praxis Entrücktes, Theoretisches an, so läßt jedoch das bereits Dargelegte erschließen, daß es der Buchwissenschaft, ohne den historischen Aspekt, unter dem das Buch als traditionsgebundener Traditionsträger zu sehen ist, zu verkennen, gerade um das Buch in seiner gegenwärtigen öffentlichen Funktion zu tun ist.95
Grundmanns Beitrag überkreuzt sich mit einer seit Anfang der 1960er Jahre in den Bertelsmann Briefen, im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel und in dessen Beilage Buchhandelsgeschichte geführten losen Debatte meist kürzerer 92 93 94 95
Grundmann: Von der Notwendigkeit und Möglichkeit einer allgemeinen Buchwissenschaft, S. 416. Vgl. Grundmann, S. 405 u. 407f. Grundmann, S. 416. Wenig: Vorwort, o. S.
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aufeinander Bezug nehmender Stellungnahmen. Ich greife hier nur einige heraus und gehe zunächst auf Gustav Sichelschmidt (»Die Autonomie der Buchwissenschaft«, 1963) ein. Sichelschmidt bezieht in einem Bertelsmann Brief mit teils polemisch geschärfter Argumentation Stellung für eine autonome Buchwissenschaft. Er verweist auf die Beispiele der Bibliotheks- und Zeitungswissenschaft, denen es gelungen sei, an Universitäten Fuß zu fassen, während eine spezifische Buchwissenschaft im akademischen Raum fehle, obwohl »dem Buch trotz aller Erfolge der Massenmedien als dem immer noch wichtigsten Medium geistiger Kommunikation ein unverminderter Rang« zukomme.96 Sichelschmidt zitiert Adolf von Harnack, der bereits 1921 einer bei Paläographie, Buchdruck etc. verharrenden Buchforschung »philologisch-archäologischen Romantik«97 vorgeworfen hat. Daran habe sich nach Sichelschmidt nichts geändert: die »ungelösten Fragen des Buches« könnten aber nicht »einseitig im Rahmen der historischen oder literarhistorischen Disziplinen«98 gelöst werden. Nur eine autonome, aus dem Aufgabenbereich der Bibliothekswissenschaft ausgegliederte Buchwissenschaft könne sich dem zeitgenössischen Buch widmen. Sichelschmidts Aufsatz ist einerseits im Zeitdiskurs über die Stellung und Funktion des Buchs in der aufkommenden Medienkonkurrenz verwurzelt. So sieht er die Aufgabe einer modernen Buchwissenschaft, nach dem Vorbild der USA, in der sozialwissenschaftlichen Erforschung des Lesers und der »Publikumswirkung« des Buchs, allerdings immer im Dienst des ›guten Buchs‹, an das die Jugend heranzuführen sei. Der Staat sei mit der Schaffung von Professuren an den Universitätsneugründungen in der Pflicht. Andererseits gehört Sichelschmidt (1913–1996) zum rechtskonservativen Spektrum der jungen Bundesrepublik. Er war seit 1939 im Bibliothekswesen (Oberbibliotheksrat) tätig und nach Wehrdienst und Kriegsgefangenschaft u. a. Leiter der Amerika-Gedenkbibliothek in Berlin. Als »neo-faschistischer Journalist und namhafter Rechtsextremist« verfasste er zahlreiche zeit- und gesellschaftskritische Bücher zum vermeintlichen ›Kulturverfall‹ in Deutschland,99 darunter 96 97
98 99
Sichelschmidt: Die Autonomie der Buchwissenschaft, S. 2. Adolf von Harnack hatte in der Vossischen Zeitung (24. Juli 1921) die Errichtung eines Lehrstuhls für Bibliothekswissenschaften an der Humboldt-Universität gefordert: »Nur eine verblendete, philologisch-archäologische Romantik starrt noch immer, wenn vom Buch die Rede ist, ausschließlich auf alte Handschriften, Inkunabeln und alte Bibliothekskataloge, und übersieht das unendliche Lesen und die Rechte des wirklichen Buchwesens, das die Gegenstände nährt.« Zitiert nach Hornung: Buchforschung, S. B 115. Sichelschmidt: Die Autonomie der Buchwissenschaft, S. 4. Vgl. Gustav Sichelschmidt. http://de.wikipedia.org/wiki/Gustav_Sichelschmidt [30.07.2009]; vgl. auch Deutscher Bundestag. Drucksache 13/5166 v. 16.07.1996
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»Deutschland in Gefahr« 1981. Vor diesem Hintergrund ist auch sein Plädoyer für eine universitäre Buchwissenschaft zu lesen, die die Aufgabe habe, den Rückstand gegenüber den entsprechenden Bemühungen des Auslandes aufzuholen »im Interesse unserer geistigen Selbstbehauptung in der Welt«.100 Sichelschmidts programmatischer Beitrag hat eine Debatte um eine autonome Buchwissenschaft ausgelöst, die allerdings unempfindlich gegenüber der ›völkischen‹ Einfärbung des Sichelschmidt’schen Vokabulars ist. Noch unabhängig von Sichelschmidts Beitrag von 1963 hatte Peter Meyer-Dohm, Professor für Volkswirtschaftslehre und später Rektor der Ruhr-Universität Bochum, einen Vortrag »Buchhandel und Buchforschung«, gehalten auf der Tagung der »Arbeitsgemeinschaft unabhängiger Sortimenter«, 1965 im Börsenblatt publiziert. Darin finden sich die Sätze: Um es noch einmal zu unterstreichen: Die Usurpierung des Forschungsobjektes Buchhandel – und natürlich auch des Forschungsobjektes Buch – durch e i n e Disziplin ist unsinnig. Ebenso unsinnig ist auch die Entwicklung einer eigenständigen ›Buchwissenschaft‹ als Spezialdisziplin. Eine solche ›Buchwissenschaft‹ hätte es mit erheblichen Definitionsschwierigkeiten zu tun, denn es müßte u.a. festgestellt werden, was ein typischer Buchinhalt ist, was im einzelnen zu dieser Spezialdisziplin gehört, und es würde sich sehr schnell herausstellen, daß es sich lediglich um ein verschiedenen Fachgebieten zuzuordnendes Forschungsfeld handelt.101
Meyer-Dohm argumentiert nur vordergründig mit der Überkomplexität des Gegenstands. Ohne auf Grundmann Bezug zu nehmen und unter Verweis auf die vom Börsenverein der Deutschen Buchhändler betriebene Gründung der Leipziger Professur für Buchhandelsbetriebslehre lehnt er anwendungsorientierte Forschung strikt ab. Wissenschaft habe allein im
http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/13/052/1305288.asc [18.11.2009]; vgl. auch Rosellini: Literary Skinheads, S. 249, Anm. 37. 100 Sichelschmidt: Die Autonomie der Buchwissenschaft, S. 3f.; »Die Lehrer aller Schulgattungen können die Aufgabe, die Jugend an das gute Buch heranzuführen, nur höchst unvollkommen erfüllen, verfügen sie nicht über einen ausreichenden Fundus an Kenntnissen über diese Materie. Der Staat kann sich schon deswegen nicht auf die Dauer der Verpflichtung entziehen, seine Hochschulen mit entsprechenden Lehr- und Forschungsaufgaben zu betrauen. […] Der Augenblick, all diese Probleme endlich zu lösen und damit eine jahrzehntelange Unterlassungssünde wettzumachen, ist heute denkbar günstig. Angesichts der projektierten Neugründungen von Universitäten und des forcierten Ausbaus bereits bestehender Hochschulen muß auch der Wissenschaft vom Buch ein gebührender Platz in unserem kulturpolitischen Programm eingeräumt werden. Der Rückstand, den wir gegenüber den entsprechenden Bemühungen des Auslandes aufzuholen haben, sollte die zuständigen Instanzen beflügeln, der Buchwissenschaft im Interesse unserer geistigen Selbstbehauptung in der Welt endlich eine Chance zu bieten.« 101 Meyer-Dohm: Buchhandel und Hochschulforschung, S. 2201.
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Dienste der »Wahrheit« zu stehen und nicht »einer wie auch immer gearteten einzelbetrieblichen oder branchenmäßigen Interessenpolitik Handlangerdienste zu leisten«102. Ironischerweise wird Meyer-Dohm 1976 Rektor der Ruhr-Universität Bochum, einer großen, neu gegründeten Reformuniversität. Sichelschmidt sieht sich zu einer Stellungnahme herausgefordert, die ebenfalls im Börsenblatt Anfang 1966 erscheint (»Gibt es eine autonome Buchwissenschaft?«). Darin wiederholt er seine 1963 vorgetragenen Argumente, worauf ihn Meyer-Dohm an gleicher Stelle in einem unmittelbar anschließenden Artikel (»Es gibt keine autonome Buchwissenschaft!«) scharf angreift und ihm unwissenschaftliche Terminologie, Interessenpolitik und Unkenntnis der Hochschulforschung vorwirft.103 Die Fronten zwischen wissenschaftlich vs. praxis- und anwendungsorientiert, und quer dazu verlaufend zwischen autonomer Buchwissenschaft vs. multidisziplinär zu bearbeitendem Materialobjekt, sind mit dieser Debatte aufgebaut und bestimmen den weiteren Diskussionsverlauf. Sie sind auch heute noch nicht ausgeräumt, wie die Skepsis traditionsbewusster Professoren verdeutlicht. Ein Habilitand an der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg, der sich vor einigen Jahren um die Venia legendi für Buchwissenschaft bemühte, wurde von dem das Verfahren präsidierenden Dekan die erste Frage gestellt: »Sie beantragen die Venia legendi für Buchwissenschaft. Wieso gibt es überhaupt Buchwissenschaft. Da könnte man doch für alles Wissenschaften erfinden, zum Beispiel auch Bananenwissenschaft.« An die ›Sein oder Nichtsein‹-Frage der Autonomie wird die der wissenschaftlichen Anbindung geknüpft. Die Bibliothekswissenschaft erscheint weit abgeschlagen hinter der Publizistik oder Zeitungswissenschaft, die zu dieser Zeit schon im universitären Geschehen Fuß fassen konnte. Peter Glotz und Wolfgang R. Langenbucher, damals Assistenten von Otto B. Roegele am Lehrstuhl für Zeitungswissenschaft der LudwigMaximilians-Universität München, grenzen sich in der Zeitschrift Publizistik (»›Buchwissenschaft‹? Ein Diskussionsbeitrag«, 1965) zu einem entsprechenden Artikel von Helmut Hiller im Börsenblatt 1964 ab, der Buchund Verlagswesen der Publizistik als Lehrgegenstand zuordnen möchte104. Eine sich mehr und mehr als Kommunikationswissenschaft formierende Publizistik definiere sich nicht über die Addition publizistischer Medien, 102 Meyer-Dohm, S. 2198. 103 Meyer-Dohm: Es gibt keine autonome Buchwissenschaft. 104 Hiller: Buch- und Verlagswesen.
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sondern eine spezifische Kommunikationstheorie. Zwar könne die Publizistik zur Lösung von Problemen um den Forschungsgegenstand Buch als Massenkommunikationsmittel beitragen, da aber mit dem Begriff ›Buchwissenschaft‹ keine neue Disziplin gemeint sein könne, sondern lediglich ein Forschungsfeld, seien auch andere Disziplinen gefragt.105 Diese Ausgrenzung ist aus der damaligen Situation der Publizistik verständlich, die mit ihrer Selbstfindung und akademischen Etablierung beschäftigt war. Der Kommunikationswissenschaftler Manfred Rühl hat 1979 in einem Bertelsmann Brief erhellende Überlegungen zu einer Theorie der »Buchkommunikation« vorgelegt. Es gebe kein irgendwie geartetes statisches ›Wesen‹ des Buchs, vielmehr sei das »Buch als gesellschaftliches Evolutionsprodukt« zu verstehen.106 Eine zeitgemäße, für die empirische Forschung verwertbare Theorie der Buchkommunikation müsse von den psychischen und sozialen, stets gruppenspezifischen, Bedürfnissen von Menschen ausgehen und davon, wie das Buchangebot durch die Leser (das Publikum) genutzt werde (Nutzungsansatz). Auch hier stellt sich die Frage nach dem gesellschaftlichen Bezugsrahmen von Buchkommunikation: »Eine komplexe Gesellschaftsordnung – wie die der Bundesrepublik Deutschland jedenfalls – verlangt eine komplexe sozialwissenschaftliche Theorie des Buches.«107 Damit sind die wesentlichen Argumentationsgänge in Kürze aufgezeigt. Es lohnt nicht, die knappen und in aller Regel nicht wissenschaftstheoretisch argumentierenden Diskussionen weiter aufzufächern.108 Genauer eingehen möchte ich noch auf Ludwig Delp, der sich mehrfach und über einen langen Zeitraum hinweg109 dezidiert gegen eine eigenständige Disziplin Buchwissenschaft ausgesprochen hat; auf dessen Konzeption geht das Lehrprogramm »Buchwissenschaften« an der Universität St. Gallen zurück110. Delp, Jurist und seit 1993 Honorarprofessor für Urheberund Verlagsrecht an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, hat mit dem Deutschen Bucharchiv München (gegründet 1948, seit 2006: St. Gallen) ein unabhängiges Institut gegründet, das – so die Selbst105 106 107 108
Glotz/Langenbucher: Buchwissenschaft, S. 303f. Rühl: Buch – Bedürfnis, S. 48. Rühl, S. 52. Świerk: Buchwissenschaft, S. B 64f.; ausführlich bei Delp: Buch und Wissenschaften, S. 770–773. 109 Vgl. bes. die Publikationen zum 40- und 50-jährigen Bestehen des Deutschen Bucharchivs; Delp: Buch und Wissenschaften; Delp: Buchwissenschaften – Dokumentation und Information. 110 Vgl. dazu den Beitrag von Wunderlich in Bd. 2, S. 914.
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beschreibung – »alles erreichbare, für die wissenschaftliche Arbeit verwertbare Material« zum Buch- und Zeitschriftenwesen sammelt, archiviert, erschließt und für die Öffentlichkeit zugänglich macht.111 Entsprechend der unterschiedlichen Bezüge, in die das Buch eingebunden ist, steht es als »multidimensionales Materialobjekt im Blickfeld vieler Wissenschaften […], ohne daß sich diese Erforschung in jedem Einzelfall zur speziellen Buchwissenschaft verdichtet«112; ein einheitliches Formalobjekt ›Buch‹ könne es daher nicht geben. Entsprechend der an der Buchforschung beteiligten vielen unterschiedlichen Wissenschaften, die jeweils aus ihrem fachspezifischen Theorie- und Methodenfundus Buchforschung betreiben, gebe es nur ›Buchwissenschaften‹, aber keine ›Buchwissenschaft‹. Wissenschaftstheoretisch möchte Delp das »Begriffs- und Definitionsproblem ›Buch und Wissenschaften‹«113 folgendermaßen lösen: Das bedeutet aber nichts anderes, als daß der Fachgenosse einer der mit dem Buchund Zeitschriftenwesen befaßten Wissenschaften in dieser seiner angestammten wissenschaftlichen Disziplin Buchforschung betreibt, und daß, andererseits, kompetente Buchforschung nur durch Vertreter der einzelnen in Betracht kommenden Wissenschaften betrieben werden kann […]. Buchwissenschaftliche Forschungstätigkeit muß deshalb interdisziplinär entwickelt und kooperativ abgestimmt, aber monodisziplinär durchgeführt und als Beitrag zu einem Gesamtprogramm mit buchwissenschaftlicher Zielsetzung verstanden werden.114
Diese Konzeption löst m. E. nicht die Frage nach hinreichend buchwissenschaftlich konturierten Konzepten, sondern unterläuft sie eher. Sie beruht auf einer Vorstellung von Buch als »dinghaft vorgestellter Totalbegriff«115, auf den von unterschiedlichen Disziplinen und ihren je eigenen Formalkonturierungen zugegriffen wird, und verzichtet von vornherein auf ein integrierendes Konzept von Buchwissenschaft, das deren spezifisches Problemlösungspotenzial entfaltet. Die von Delp angeführte interdisziplinäre Bearbeitung sollte gerade nicht in einem Nebeneinander der Disziplinen, sondern in inter- und transdisziplinärer Thematisierung von Forschungsfragen und Lösungen bestehen, die die einzelwissenschaftliche Forschung überschreiten. Delp umreißt den Forschungsgegenstand der »Buchwissenschaften« mit Hilfe einer Systematik, die als Ordnungssystem des Deutschen Bucharchivs seit 1948 entwickelt wurde. Auf der horizontalen Koordinate wer111 112 113 114 115
Delp: Buchwissenschaften, S. 4. Delp, S. 6. Delp: Buch und Wissenschaften, S. 772. Delp, S. 773. Rühl: Buch – Bedürfnis, S. 46.
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den die »Fachgebiete des Buch- und Zeitschriftenwesens« eingetragen, auf der vertikalen die an der Buchforschung beteiligten Wissenschaften. In der Kombination ergibt sich für jede Publikation eine von maximal 10 000 möglichen Systemstellen.116 In seiner Betonung eines klassifikatorischen Systems steht Delp Grundmann nahe, obwohl beide zu entgegengesetzten Folgerungen über eine autonome Buchwissenschaft kommen. Kritisch sei hier angemerkt, dass bibliothekarische Ordnungssysteme wenig geeignet sind, als ›Theorieersatz‹ Forschungsfelder zu definieren, da sie für pragmatische Zwecke wie die Aufstellung, Katalogisierung etc. entwickelt werden. Delps Beitrag zur Wissenschaftstheorie hat keine Anhänger unter den Vertretern der Buchwissenschaft an den Hochschulen gefunden; mit der Bezeichnung ›Buchwissenschaften‹ und den wissenschaftstheoretischen Implikationen der Verwendung im Plural steht Delp allein. Dies schmälert aber keineswegs die Bedeutung des Deutschen Bucharchivs und seine Sammel- und Katalogisierungsarbeit für die buchwissenschaftliche Forschung; so ist der online-Katalog des Bucharchivs zentraler Teil der virtuellen Fachbibliothek für die Bibliotheks-, Buch- und Informationswissenschaften (b2i).117 Eine Ausnahme bildet Burkard Hornung, zeitweilig Mitarbeiter im Deutschen Bucharchiv und Mitherausgeber der Schriftenreihe Buchwissenschaftliche Beiträge aus dem Deutschen Bucharchiv München 1983 bis 1985. 1982 hatte er in der Buchhandelsgeschichte für eine zentrale Rolle des Deutschen Bucharchivs München als »außerhalb des akademischen Lehrbetriebes stehendes Koordinationszentrum buchwissenschaftlicher Aktivitäten« 118 votiert. Nach Hornung, der stets die Bezeichnung Buchforschung119 wählt, könne es keine eigene Disziplin geben, da dies an der Komplexität des Stoffs scheitere: »Die Institutionalisierung der Buchforschung in einem akademischen Wissenschaftszweig zog meist negative Erfahrungen und Mißerfolge nach sich«120. Belege für dieses Scheitern findet man nicht. Hornung beruft sich auf die ergebnislos verlaufenden Überlegungen, welcher akademischen Disziplin eine Buchwissenschaft zuzuordnen sei.121 116 117 118 119
Delp: Buch und Wissenschaften, S. 776–787. Vgl. den Beitrag von Capellaro/Duntze in Bd. 2, S. 743f. Hornung: Buchforschung, S. B 116. Hornung, S. B 116. – Hornung bezieht sich hier auf Finger: Die Buchforschung im Streit ihrer Namen. − In diesen Umkreis gehört auch der Artikel »Buchforschung« (Finger) im LGB2; siehe u. S. 46. 120 Hornung: Buchforschung, S. B 117. 121 Dargestellt bei Hornung, S. B 114–B 116; Keiderling: Buchwissenschaft als Konzept, S. 16f.
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Jäger, der die Münchner buchwissenschaftlichen Studiengänge konzipiert hat, entlarvt den Streit um den wissenschaftlichen Status einer autonomen Buchwissenschaft als das Scheingefecht, das es ist. Der Katalog von Studienfächern großer Universitäten zeigt nach Jäger auch außerhalb der Geisteswissenschaften nicht wenige Fächer, deren Gegenstand lebens- oder alltagsweltlich sei.122 Auch die Buchwissenschaft gehört zu diesen realwissenschaftlichen Disziplinen. Wissenschaft entsteht (nach Saxer) aus der Beobachtung von »lebensweltlichen Objekten, die irgendwie als qualifizierter Reflexion bedürftig und zugänglich wahrgenommen werden«123. Das Buch gehört längst nicht mehr zu den selbstverständlichen, sondern ›fragwürdigen‹ Objekten. Die ›Wissenschaftlichkeit‹ der Buchwissenschaft ist also keine Frage der von ihr behandelten Materialobjekte, sondern wird an ihren Theorien, Methoden und Konzepten, an ihrem Problemlösungspotenzial, gemessen. So erweist sich der Streit um ›Buchwissenschaften‹ oder ›Buchwissenschaft‹ als Streit der Namen, dem freilich ein unterschiedliches Selbstverständnis zugrunde liegt. Andererseits hat eine autonome − dem griechischen Wortsinn entsprechend − selbstbestimmte Buchwissenschaft die Pflicht zu begründen, was sie erforscht und auf welche Weise. Damit möchte ich den Überblick über die ältere deutsche buchwissenschaftliche Theoriediskussion abschließen. Diese zeigt stark gegenläufige Tendenzen. Am Beginn steht mit Wieland Schmidt ein bedeutender Bibliothekswissenschaftler und Mediävist aus der Tradition der Buchkunde, der eine eigenständige Wissenschaft vom Buch aus der Bibliothekswissenschaft herauslöst. Mit Herbert Grundmann sehen wir einen Wissenschaftsverleger und Funktionär des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, der an eine autonome Disziplin sowohl Forschungsaufgaben für den Buchhandel wie auch die Ausbildung des buchhändlerischen Nachwuchses knüpft. Das Lager der Zeitungs- und Kommunikationswissenschaftler, denen das Buch als Forschungs- und Lehraufgabe angetragen wird, verhält sich ablehnend zu diesem Vorschlag wie auch einer eigenständigen Disziplin. Quer dazu verlaufen die Stellungnahmen für oder gegen eine autonome Buchwissenschaft. Alfred G. Świerk aus der Schule der polnischen Bibliologie, der sich als einziger Fachvertreter äußert, steht naturgemäß für ein selbstständiges Fach, während Ludwig Delp sowie Burkhart Hornung und Heinz Finger in seinem Umkreis die Gegenposi122 Jäger führt das schöne Beispiel der Forstwissenschaftlichen Fakultät der LudwigMaximimilans-Universität München an, die »alle relevanten Studien rings um den Wald« versammle; vgl. Jäger: Buchwissenschaftliche Studiengänge, S. 277f. 123 Saxer: Buch und Buchwissenschaft, S. 111.
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tion einnehmen. Dieser – überspitzt formuliert – kakophonischen Vielfalt ist gemeinsam, dass ihren Argumenten zumeist tragfähige Konzepte fehlen. Ablesen lässt sich dies nicht zuletzt an wiederholten Äußerungen, die solche einfordern. Saxer (1975) verweist aus der Situation der 1970er Jahre heraus und aus den Schwierigkeiten, Buch und Lesen unter den Bedingungen der nun scharf hervortretenden Medienkonkurrenz zu bestimmen, auf dreierlei: (1) die institutionellen Umdeutungen des Buchs – zunächst ausschließlich kultureller, dann ökonomischer, dann die politische Vereinnahmung in der Konkurrenzdiskussion – hinderten die Fachvertreter, ein gesichertes Rollenverständnis im Hinblick auf die Position des von ihnen behandelten Forschungsgegenstandes zu entwickeln, (2) die geringe Reichweite von Analysen zu Buch und Lesen, die lediglich unter dem Stichwort der Buchmarktforschung betrieben werde und (3) ein genereller Mangel an Grundlagenwissen: wo schon die Definition des Substrats, des Buchs, Schwierigkeiten bereite, fehlten auch die nötigen Voraussetzungen, die vieldeutigen empirischen Daten zu analysieren und interpretieren.124 Bernd R. Gruschka moniert 1995 das Fehlen einer allgemeinen, buchwissenschaftlichen Theorie und resümiert, dass die bisherigen theoretischen Beiträge zur Buchwissenschaft weniger eine Theorie ihres Gegenstandes entwickelten, als vielmehr die Frage aufwürfen, ob es überhaupt eine eigenständige Disziplin Buchwissenschaft gebe, die mehr als nur ihr Forschungsfeld abstecke.125 Michael Cahn (1994) argumentiert aus der Sicht der Buchgeschichtsschreibung, dass ohne »einen Begriff des Buches, in dem seine Rolle als Ware, als Maschine zum Denken und als kulturelles Objekt, seine bibliothekarische Verwaltung und seine Kraft, Handlungen zu steuern« bloße Bibliographie bleibe.126 In einer Einführung Grundwissen Medien (2004) wundert sich Werner Faulstich: »Kurioserweise wird das Buch oft gar nicht als ein Medium begriffen, obwohl es eine explizite Buchwissenschaft bereits seit Mitte des 20. Jahrhunderts gibt […]. Gleichwohl mutet seltsam an, daß es bis heute eine explizite Theorie des Buchs, als Medientheorie, noch nicht gibt, obwohl doch das Buch über Jahrhunderte hinweg als wichtigstes Kulturmedium weltweit seine Bedeutung hatte.«127 124 125 126 127
Saxer: Buch in der Medienkonkurrenz, S. 207f. Gruschka: Der gelenkte Buchmarkt, S. 6 u. Anm. 9. Cahn: »Es gibt keine Geschichte des Buches«, S. B 33. Faulstich: Buch, S. 130. In der vorhergehenden, 4. Auflage von 2000, S. 134, stand an dieser Stelle noch: »Auch eine Buchwissenschaft gibt es erst neuerdings […]«.
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Zuletzt sei Erdmann Weyrauch zitiert, der Bearbeiter der grundlegenden historischen Fachbibliographie Wolfenbütteler Bibliographie zur Geschichte des Buchwesens im deutschen Sprachgebiet 1840–1980 (WBB).128 Angesichts von 116 821 in 12 Foliobänden versammelten bibliographischen Einheiten urteilt er 1995: Die Buchwissenschaft bzw. das Fach ›Buchgeschichte‹ haben das Buch als Träger von kommunikativen Prozessen bisher nicht hinreichend behandelt. […] Von wenigen, beinahe durch die Bank noch druckfrischen Ausnahmen abgesehen, haben sich die Arbeiter in den Weinbergen des historischen Buchwesens bisher mit dem Buch als Medium, als Träger übergreifender Prozesse, als Auslöser von Vorgängen und Umbrüchen weitreichender Wirkung […] nicht oder nur beiläufig befaßt. […] alljährlich werden für den Bereich der deutschsprachigen Buchgeschichtsforschung etwa 5 bis 6 Tausend Titel auf den Berg der Publikationen draufgeladen. Aber die traditionelle Buchgeschichtsforschung in Deutschland entbehrt bis heute ein elementares Moment jeder professionellen Wissenschaft: sie hat im Prinzip keine übergreifenden Konzepte; […] Es gibt in all dem Wust von bedrucktem buchgeschichtlichem Papier keine kommunikations- und mediengeschichtliche Synthese, allen beeindruckenden Einzelleistungen der Zunft zum Trotz.129
2.4 Die Mühsal der Definitionen: Was ist ein Buch?
Lexika und Handbücher gehören zu den Buchgattungen, in denen sich gleichsam das geronnene Wissen einer Disziplin niederschlägt oder niederschlagen sollte. Daher werden im folgenden Kapitel einige der zentralen Nachschlagewerke befragt. Doch zuvor ein Exkurs, der zeigt, wie die Mühen einer Konturierung des Formalobjekts Buch umgangen werden können. Hornung, der eine eigenständige Wissenschaftsdisziplin Buchwissenschaft abgelehnt hatte, beruft sich 1982 auf den Literatursoziologen Robert Escarpit, der keine Antwort auf die Frage ›Was ist ein Buch?‹ gebe, da sich dieses wie »alles Lebendige« einer Definition entziehe.130 Damit ist das eine Ende der definitorischen Skala beschrieben, die man als überholt und nicht erwähnenswert abtun könnte, wäre da nicht auch das andere, das durch die Definition der UNESCO vom 19. November 1964 bezeichnet wird: »A book is a non-periodical printed publication of at least 49 pages, exclusive 128 Weyrauch, Erdmann (Bearb.): Wolfenbütteler Bibliographie zur Geschichte des Buchwesens im deutschen Sprachgebiet 1840–1980 (WBB). 12 Bde. München u. a.: Saur 1990– 1999. 129 Weyrauch: Das Buch, S. 5f.; wiederholt in Weyrauch: Die Buchwissenschaft in Leipzig, S. 173. 130 Vgl. Hornung: Buchforschung, S. B 114f.
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of the cover pages […]«131. Diese, explizit für statistische Zwecke gesetzte Norm132, entwickelt in der Folge ein Eigenleben und geistert seitdem durch nicht wenige, auch neue und neueste Lexikonartikel. Hier seien nur einige genannt: Der 15-zeilige Artikel »Book« in Glaisters Encyclopedia of the Book133 (2001) bietet dem Ratsuchenden lediglich die UNESCO-Definition − fälschlich auf 1950 datiert −, ergänzt um Hinweise auf die Begriffsverwendung als ›Buch‹ der Bibel und als Synonym für ›copy‹ im 18. Jahrhundert in England. Immerhin weist der Artikel auf das statistische Umfeld der Definition hin. In der neuesten Auflage von Hiller/Füssel Wörterbuch des Buches fehlt selbst dieser Hinweis in der Begriffsdefinition: Buch. Eine in einem Umschlag oder Einband durch Bindung zus. gefasste, meist größere Anzahl von leeren, beschriebenen oder bedruckten Blättern (mind. 49 S., UNESCO) von nicht periodischer Erscheinungsweise. Bei geringerem Umfang spricht man von → Broschüre.134
Und selbst der 1996 im Lexikon Kommunikations- und Medienwissenschaft publizierte Artikel »Buch«135 glaubt ohne die Hilfe der UNESCO nicht auskommen zu können. Nach diesem Exkurs sollen einige der einschlägigen Fachlexika gesichtet werden.136 Das mehrbändige, seit 1987 in zweiter, überarbeiteter Auflage erscheinende Lexikon des gesamten Buchwesens (LGB2) ist das zentrale, umfassende Nachschlagewerk der Disziplin; man kann zu Recht erwarten, dass der Artikel »Buch«137 in solch prominenter Umgebung umfassend und auf dem neuen Diskussionsstand sein sollte. Der dreispaltige Artikel (1987) vereint im ersten Teil, »Begriff« überschrieben, auf 16 Zeilen eine historische Worterklärung, eine knappe herstellerische Definition des Materialobjekts (des Gegenstands) und zwei Sätze zum Buch als Informationsspeicher: Von seiner Funktion her ist ein B. ein Informationsmedium (-speicher), das mittels graphischer Symbole (Schrift, Zeichnung, Bild) Ideen und Realitäten aus allen Bereichen des menschlichen und naturhaften Seins, insbes. aus Lit., Wissenschaft und Kunst festhält, um sie zu bewahren, zu vermitteln und zu verbreiten. Das B. ist das äl-
131 UNESCO: Recommendation, II. 6. a. 132 »The following definitions are without prejudice to existing international agreements and should be used for the particular purpose of drawing up the book production statistics referred to in this recommendation.« UNESCO, II. 6. 133 Glaister: Encyclopedia of the Book, S. 54. 134 Hiller/Füssel: Wörterbuch des Buches, S. 61. 135 Kerlen/Keiderling: Buch, S. 27. 136 Vgl. dazu bes. den Beitrag von Umlauf in Bd. 2, Kap. 2. 137 Grebe: Buch, S. 568.
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teste und kulturgeschichtlich bedeutendste Medium der Überlieferung und Verbreitung geistiger Äußerungen in Wort und Bild.138
Alle weiteren Ausführungen bestehen aus einer historischen Formenanalyse und einem Überblick über die Buchgeschichte, der beim indischen Palmblattbuch beginnt und in den 1920er Jahren in Deutschland endet. Dass den Herausgebern des LGB2 der Artikel als nicht ausreichend erschienen sein mag, kann man möglicherweise an der Tatsache ablesen, dass einige weitere Artikel mit kommunikationstheoretischem Hintergrund ins Alphabet eingereiht wurden, die der Nachschlagende eigentlich unter »Buch« sucht: »Funktionen des Buches«, »Institutionelle Position des Buches« und »Intermediärer Zusammenhang des Buches«, alle verfasst von Saxer.139 Hier erfährt der Leser wenigstens in Kürze etwas über mediale Positionierungen des Buchs, die sich auf der Höhe des Diskurses bewegen. Der Artikel »Institutioneller Markt des Buches«140 dagegen kommt ohne jeden theoretischen Hintergrund aus, sondern beschreibt den Buchmarkt statistisch nach »Buch und Buchhandel in Zahlen« aus dem Jahr 1989/90, Zahlen, die vermutlich schon bei seinem Erscheinen veraltet waren. Man fragt sich nach Sinn und Nutzen eines solchen Artikels in dem Lexikon des Buchwesens.141 Der Artikel »Buch« des LGB2 lebt im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft (1997) wieder auf. Der Verfasser des Artikels »Buch« stützt sich in Definition und einleitender Begriffsexplikation teilweise wörtlich und ohne Quellenangabe auf seinen Vorgänger: Buch. Umfangreicheres, gebundenes, (meist) gedrucktes Schriftwerk; das kulturgeschichtlich wichtigste Medium zur Vermittlung von Ideen in Wort und Bild. Expl.: Das Buch ist der Form nach bestimmt durch die Verbindung mehrerer Blätter oder Bogen mittels Heftung/Bindung, die von einem Einband umschlossen sind; seiner Funktion nach ist es Informationsspeicher, in dem mittels graphischer Zeichen (Schrift und Bild) Wissen, Kenntnisse und Vorstellungen aus allen Bereichen menschlichen Seins (Wissenschaft, Literatur, Theologie, Kunst, Handel etc.) verbreitet werden.142
138 Grebe, S. 568. 139 Saxer: Funktionen des Buches; Saxer: Institutionelle Position des Buches; Saxer: Intermediärer Zusammenhang des Buches. 140 Hinze: Institutioneller Markt des Buches. 141 Vgl. auch Umlauf in Bd. 2, S. 621: »Die kultur- und medienwissenschaftliche Wende der Geisteswissenschaften seit den späten 1980er Jahren ist auch da im LGB2 nicht angekommen, wo die Stellung der Lemmata im Alphabet und damit in der Zeitleiste der Erarbeitung der Inhalte dies erlaubt, ja verlangt hätte.« 142 Füssel: Buch, S. 259.
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Zu den einbändigen kleineren Nachschlagewerken, die beanspruchen, das gesamte Feld der Buchwissenschaft zu umgreifen, gehört das traditionsreiche Wörterbuch des Buches (1. Auflage 1954 von Hiller, ab der 6. Auflage 2002 bearbeitet von Füssel). Die sechste Auflage schreibt fort, was bereits seit 1954 im Wesentlichen in allen Auflagen zu lesen war. Die zweiteilige, auf das Lemma folgende Begriffsdefinition beginnt mit einer knappen herstellerischen Definition und einem Verweis auf die UNESCODefinition; hinzugefügt wird ein Hinweis auf Funktionen des Buchs, der auch in der neuen (7.) »grundlegend bearbeiteten« Auflage unverändert bleibt: Der Funktion nach ist das B. die grafische Materialisierung geistig-immaterieller Inhalte, zum Zwecke ihrer Erhaltung, Überlieferung und Verteilung in der Gesellschaft.143
Hier greift der Autor auf die Funktionsbeschreibung von Schmidt aus dem Jahr 1952 zurück: Bücher sind bewegliche Bild- oder Schriftträger, die erhalten und durch Vervielfältigung verbreitet werden sollen und deren Zweck durch die Vermittlung eines immateriell-geistigen Inhalts und durch den Wert für die Allgemeinheit gegeben ist.144
In die Reihe dieser Artikel reiht sich auch die zweite Auflage des Lexikon Buch, Bibliothek, Neue Medien (2007) von Dietmar Strauch und Margarete Rehm ein. Der Artikel »Buch« ist gegenüber der ersten Auflage (verantwortet von Rehm, 1991) nicht verändert worden. Auch hier findet sich mit leichten Variationen die übliche Definition des materiellen Gegenstands zu Beginn, auf die die verkürzte Formengeschichte und die Geschichte des Buchs folgen.145 Es ist müßig, den stemmatischen Verzweigungen nachzugehen, die die besprochenen Artikel verbinden. Vermutlich lassen sich Tradierungslinien dieser Art auch in Lexika anderer Fächer finden. Bedenklich stimmt aber, dass in den sechs Jahrzehnten von Schmidts ›archetypischer‹ Definition im Gutenberg-Jahrbuch 1952 über das LGB2 bis zu Hiller/Füssel 2006, schenkt man den Buchbestimmungen in den einschlägigen Lexika Glauben, keine weiterführenden Reflexionen zur Buchtheorie stattgefunden haben. Weder schlagen sich die Überlegungen der Polnischen bibliologischen Schule nieder, die in deutscher Sprache seit 1990 vorliegen, noch werden die kommunikationswissenschaftlichen und -soziologischen Ansätze um ›Buch und Lesen‹ und das ›Buch in der Medienkonkurrenz‹ seit den 1970er Jahren berührt. 143 Hiller/Füssel: Wörterbuch des Buches, S. 61. 144 Schmidt: Vom Wesen des Buches, S. 207. 145 Strauch/Rehm: Lexikon Buch, S. 82.
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Erst in jüngster Zeit sind neue Ansätze erkennbar, die nicht mehr auf die älteren Versuche zurückgreifen. Das 2003 in erster und zweiter Auflage erschienene Reclams Sachlexikon des Buches stellt dem ›Hiller‹ ein neu konzipiertes, einbändiges Buchlexikon an die Seite.146 Der von der Verfasserin verantwortete Artikel »Buch«147 bemüht sich hier um eine über das ›Realobjekt‹ hinaus weisende Konturierung, bei der die früheren Artikel stehen bleiben (und scheitern). Der Artikel beginnt mit einer allgemeinen, von den historischen Formen zunächst unabhängigen Beschreibung des Materialobjekts148, der die historischen Formen im Anschluss kurz zugeordnet werden. Die Definition des Formalobjekts basiert auf einer einfachen zeichentheoretischen Konturierung, aus der die basalen medialen Eigenschaften abgeleitet werden. Abschließend werden unterschiedliche primäre (kommunikative) Funktionen des Buchs und sekundäre (symbolische) Zuschreibungen benannt. Auch der Artikel »Buch« im Metzler Lexikon Medientheorie – Medienwissenschaft (2002)149 verfährt ähnlich, arbeitet aber die Buchgeschichte ein und behandelt die spezifischen Aufgaben der Buchmedienkommunikation ausführlicher. Damit liegt – in lexikalischer Umgebung erstmals − ein anspruchsvollerer Versuch vor, den Forschungsgegenstand der Buchwissenschaft zu erfassen. Vorausgegangen war die Einführung Buch in der Reihe Grundlagen der Medienkommunikation 2001. Zur weiteren Einordnung und Gewichtung der Beiträge der Verfasserin verweise ich auf den Forschungsbericht von Umlauf in diesem Band.150 Der zurzeit jüngste Definitionsversuch151 findet sich im Lexikon Kommunikations- und Medienwissenschaft (2006). Das Buch ist danach ein »Speichermedium auf unterschiedlichen Trägern zur Übermittlung von Texten und bildlichen Illustrationen«152. Der Artikel zählt weiter die materiellen Buchformen bis zum Hörbuch auf, um dann auf die UNESCO-Definition 146 Vgl. den detaillierten Vergleich beider Lexika bei Umlauf in Bd. 2, S. 607–613. 147 Rautenberg: Buch, S. 83–87. 148 Rautenberg, S. 82f.: »(1) B u c h a l l g e m e i n: Als m a t e r i e l l e s bzw. p h y s i s c h e s Objekt oder elektronisches Speichermedium ist das B. Produkt eines handwerklich oder maschinell geprägten Herstellungsprozesses. Es besteht aus einem Trägermaterial […] und den darauf aufgebrachten Sprach- und Bildzeichen […]. Dieser weite B.-Begriff fasst unterschiedliche, historisch aktualisierte Repräsentationen der Textüberlieferung zusammen […]. Die physischen Formen entstehen in Abhängigkeit von den […], die für das Trägermaterial zur Verfügung stehen, sowie deren Weiterbearbeitung und der Art und Weise, wie die Zeichen auf das physische Substrat aufgebracht werden«. 149 Rautenberg: Buch, S. 39–43. 150 Siehe Umlauf: Neuere Lehr- und Fachbücher in Bd. 2, S. 611. 151 Kerlen/Keiderling: Buch. 152 Kerlen/Keiderling, S. 27.
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zurückzukommen. Nach einem kursorischen Durchgang durch die Buchgeschichte in wenigen kurzen Absätzen wird der Primärzweck des Buchs bestimmt als »eine Beziehung zwischen Verfasserperson und Leseperson herzustellen – die Träger mögen sein, wie sie wollen.«153 Nach den Lemmata »Buch« seien noch kurz die zur »Buchwissenschaft« bzw. »Buchforschung« gesichtet. Das Stichwort »Buchforschung« im LGB2 von Heinz Finger, Bibliothekar, behandelt eigentlich die Buchwissenschaft: der Artikel resümiert im Wesentlichen die Diskussionen um Buchwissenschaft und Bibliothekswissenschaft und eine autonome Disziplin.154 Der Artikel »Buchwissenschaft« hingegen, verfasst von Severin Corsten, Inkunabelforscher und Direktor der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln, beginnt mit einer Rückschau auf die Buchkunde als Teilgebiet der Bibliothekswissenschaft und Bibliographie. Der zweite Teil geht nochmals auf die programmatischen Forderungen nach einer autonomen Buchwissenschaft ein, wobei Corsten diese eher kritisch sieht.155 Beide Artikel sind 1987 erschienen und spiegeln sowohl die begrifflich-definitorischen Unsicherheiten als auch ein Unvermögen, Arbeitsfelder buchwissenschaftlicher Forschung zu umreißen. Im Hiller/Füssel fehlt ein Stichwort »Buchwissenschaft«. Unter »Buchforschung« werden lediglich Institutionen aufgezählt, die Buchforschung betreiben. Der Artikel »Buchwissenschaft«156 in Reclams Sachlexikon des Buches geht von einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin aus, umreißt das Forschungsfeld und die Geschichte, u. a. am Beispiel der Institutionen. Der größte Teil der hier gesichteten Lexikonartikel »Buch«, »Buchwissenschaft« und »Buchforschung« geht von einer Definition des materiellen Gegenstands aus, die von der UNESCO-Definition bis zu einer knappen Beschreibung des materiellen Objekts reicht. Funktionen und Leistungen von Buch- und Buchkommunikation werden nur am Rande berührt. So ist besonders zu bedauern, dass im umfassenden Fachlexikon, der zweiten Auflage des Lexikon des gesamten Buchwesens, die einschlägigen Artikel kein Rahmenkonzept erkennen lassen. Selbst wenn man berücksichtigt, dass die Buchartikel im ersten Band 1987 (in Lieferungen auch vor dem Erscheinungsjahr) publiziert wurden, ist ihre Konzept- und Theoriearmut auffällig, die den Stand der Diskussionen der 1960/70er Jahre spiegelt.
153 154 155 156
Kerlen/Keiderling, S. 28. Finger: Buchforschung, S. 591f. Corsten: Buchwissenschaft, S. 639. Rautenberg: Buchwissenschaft, S. 125–127.
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Auch die kleineren Lexika schreiben, bis auf Reclams Sachlexikon des Buches, den veralteten Stand fort.
3 Neue Konzepte Das folgende Kapitel skizziert (1) den gegenwärtigen Stand buchwissenschaftlicher Forschung und widmet sich (2) der aktuellen medienwissenschaftlichen Sicht auf Buch und Buchwissenschaft und (3) Konzepten einer Buchwissenschaft als Medienwissenschaft. 3.1 Zum gegenwärtigen Stand buchwissenschaftlicher Forschung: eine Skizze
Seit der Errichtung des Gutenberg-Lehrstuhls in der unmittelbaren Nachkriegszeit war Mainz für fast drei Jahrzehnte der einzige universitäre Standort des Fachs Buchwissenschaft. Eine reiche, überwiegend buchhistorische Forschung ist in dieser Zeit weiterhin von benachbarten Disziplinen und außeruniversitären Einrichtungen157 beigetragen worden. Seit gut zwei Jahrzehnten ist eine erfreuliche Entwicklung zu beobachten: mit München, Erlangen, Leipzig und Münster sind neue buchwissenschaftliche Standorte an Universitäten hinzugekommen, besonders Mainz und Erlangen sind in den letzten Jahren nach Studierendenzahlen und Personal stark gewachsen. Die Autonomie-Diskussion, die dieser Konsolidierungsphase vorausgegangen ist, kann damit endgültig als beendet betrachtet werden. Nach wie vor dominiert der Anteil historisch-hermeneutischer Forschung mit seinen entsprechenden methodischen Werkzeugen, als Forschungsschwerpunkte sind aber deutlicher als in der frühen Zeit die Wirtschaftsgeschichte des Buchs − auch für den lange vernachlässigten verbreitenden Buchhandel −, die buchhändlerische Institutionen- und Vereinsgeschichte, die Zensurforschung und besonders auch die Lese- und Lesergeschichte konturiert worden. Hierüber geben die Forschungsberichte in diesem Band Auskunft. Inzwischen öffnet sich buchwissenschaftliche Forschung zunehmend auch der Gegenwart des Buchs. Deutlich ist dies an den Themen der Abschlussarbeiten158 abzulesen. Zu dieser Entwicklung 157 Vgl. den Abriss bei Meyer-Dohm: Buchhandel und Hochschulforschung, S. 2201f. 158 Abschlussarbeiten sind in folgenden online-Verzeichnissen einzusehen: Erlangen: http://www.buchwiss.uni-erlangen.de/forschung/publikationen/examensarbeiten/ [02.08.2009];
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hat die Neuprofilierung fast aller universitärer Studiengänge beigetragen, die wissenschaftliche Ausbildung und berufspraktische Belange integrieren. Der gegenwärtige Trend zu buchwissenschaftlicher Forschung und Lehre, die sich allen Facetten buchmedialer Kommunikation und den medialen Umbrüchen öffnet, wird sich in Zukunft aller Wahrscheinlichkeit nach noch verstärken. Diesen Schluss lassen die Studienpläne der im Rahmen des Bologna-Prozesses neu konzipierten Studiengänge zu. Auch ein Blick auf die über Drittmittel finanzierte Forschung zeigt in diese Richtung. Neben historisch ausgerichteten Projekten stehen solche, die sich aktuellen Forschungsfeldern widmen.159 Mit diesen Entwicklungen sieht sich das Fach wiederum vor neue Probleme gestellt, da Kompetenzen aus der Medienökonomie, der Wirtschafts-, Kommunikations- und Sozialwissenschaft eingefordert werden, die keineswegs zum bisherigen buchwissenschaftlichen Spektrum gehören. Gerade die personellen Zuwächse der letzten Zeit bieten hier die Chance, über Neubesetzungen und Änderungen von Denominationen160 Doppelkompetenzen einzuholen und den ›Dilettantismus‹, der mit solchen Grenzgängen verbunden ist, im erträglichen Rahmen zu halten. Zudem dürften hier am ehesten Anschlussmöglichkeiten an die Kommunikationsund Medienwissenschaften möglich sein. Nachdem die eher fruchtlosen, aber vermutlich für die frühe Gründungs- und Selbstfindungsphase notwendigen Theoriediskussionen in den 1980er Jahren abgeebbt waren, ist diese von den Fachvertretern seit den 1990er Jahren aufgenommen worden.161 An erster Stelle ist hier Georg
München: http://www.buchwissenschaft.uni-muenchen.de/studium_lehre/diplomstudium/ arbeiten/archiv.html [02.08.2009]; Leipzig (Universität): http://www.uni-leipzig.de/ ~buchwiss/informationen/info-frame.htm [02.08.2009]. Publizierte Abschlussarbeiten liegen im Rahmen von Reihen vor: Alles Buch. Studien der Erlanger Buchwissenschaft. Hrsg. v. Ursula Rautenberg u. Volker Titel. Erlangen 2003ff. http://www.alles-buch.unierlangen.de [02.08.2009]. Mainzer Studien zur Buchwissenschaft. Hrsg. v. Stephan Füssel. Wiesbaden: Harrassowitz 1995ff.; die Reihe enthält nur teilweise Abschlussarbeiten. 159 Für die Erlanger Buchwissenschaft seien hier drei genannt: das DFG-finanzierte »Wissenschaftsportal Bibliotheks-, Buch- und Informationswissenschaften (b2i)« mit der gerade bewilligten zweiten Ausbauphase, das Projekt »Abenteuer Buch« und das BMBF-Projekt »2nd-Product-Lifecycle-Strategien für Hightech-Geräte zur Steigerung der Innovationsfähigkeit kleiner und mittelständischer Organisationen (2nd Tech-Cycle)«. 160 So wird die Personalstruktur der Erlanger Buchwissenschaft zurzeit durch Neubesetzungen und Stellenzuwächse grundlegend umstrukturiert; vgl. dazu den Beitrag von Titel in Bd. 2, S. 808, sowie Rautenberg: Wir lesen Bücher, nicht Texte. 161 Vgl. dazu den kurzen Abriss in Rautenberg/Wetzel: Buch, S. 10–13.
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Jäger zu nennen mit seinen buchhandelsgeschichtlichen Forschungen auf systemtheoretischer Grundlage, die von seinen Schülern weiter getragen wurde.162 Danach ist das Buch als Handelsartikel Gegenstand der Buchwirtschaft, aber auch technisches und rechtliches Ereignis und nicht zuletzt kulturell codiert. Seine Konzeptualisierung »erfordert eine Metasprache, die das Ineinandergreifen von Vorgängen in mehreren sozialen Feldern oder Systemen abzubilden vermag.«163 Dies leiste die Systemtheorie, die die gesellschaftlichen Funktionen des Buchs und seine Leistungen für einzelne soziale Systeme und die Austauschprozesse z. B. zwischen Literatur, Religion, Wissenschaft und Wirtschaft beschreibt. Thomas Keiderling hat jüngst das systemtheoretische Konzept für buchwissenschaftliche Fragestellungen überprüft (»Wieviel Systemtheorie braucht die Buchwissenschaft?«, 2007). Er kommt zu folgendem Schluss: Zwar sei die moderne Systemtheorie prinzipiell geeignet, zu buchwissenschaftlichen Problemlösungen beizutragen, dennoch gebe es nur wenige Arbeiten, die diesen Anspruch einlösten. Ein Erkenntnisfortschritt werde nur selten erzielt, die systemtheoretische Begründung sei in ihrer spezialisierten Terminologie schwer verständlich und es gebe in den bisher vorliegenden Arbeiten nur eine geringe Verzahnung von Theorie und Untersuchungsgegenstand.164 Eine zweite, neuere Richtung widmet sich der Medienspezifik des Buchs in semiotischer Konturierung.165 Diese Konzeption schärft den Blick für die Strategien visueller Codierung von Sprach- und Bildzeichen im Zeichensystem des Buchs. Besonders das Buch benötigt ein Medialitätskonzept, das die triviale Dichotomie von Inhalt und Form, die in der Literaturwissenschaft längst überholt ist, endgültig aufgibt und die Differenzen von Zeichensystem und medialem Kanal und der übermittelten Botschaft differenziert herausarbeitet. Gerade die Selbstverständlichkeit, mit der das Buch als Alltagsgegenstand in seiner Jahrhunderte langen Geschichte alle Bereiche des Lebens durchdrungen hat, hat die Wahrnehmung medialer Differenzen erschwert. Diese lässt sich auch nicht umstandslos dem Paradigma der ›Materialität der Texte‹ einverleiben. Die medienspezifische ›Grammatik‹ des Buchs lässt sich adäquat vor einem semiotischen Konzept von Typographie erarbeiten, wobei sich vielfältige Anschlussmöglichkeiten für den intermedialen Vergleich ergeben. Einen Meilenstein hat Susanne Wehde 2000 mit Typographische Kultur. Eine zeichen162 163 164 165
Vgl. dazu Rautenberg/Wetzel, S. 17f. Jäger: Buchwissenschaft – das Münchener Modell, S. B 94. Keiderling: Wieviel Systemtheorie braucht die Buchwissenschaft?, S. 291f. Vgl. Rautenberg/Wetzel: Buch, S. 4–10.
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theoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung gesetzt, in der sie das Verhältnis zwischen materieller und physischer Repräsentation der Zeichen und einer sprachunabhängigen typographischen Semiotik und ihren Leistungen im Kommunikationsakt herausarbeitet. Die Erforschung spezifischer Dispositive der Buchkommunikation – wie zum Beispiel typographische Dispositive166, aber auch die der einzelnen Buchgattungen – sind ein lohnendes Arbeitsfeld. Zuletzt sei noch auf die symbolischen Zuschreibungen an das Buch hingewiesen, die unabhängig von den faktischen Buchmarkt- und Buchnutzungsdaten Vorstellungen von den Leistungen und Funktionen des Mediums repräsentieren.167 Damit seien nur einige der wichtigeren, theoretisch avancierten neuen Ansätze skizziert, die allerdings im Meer traditionell hermeneutischer Forschung versinken. Desiderate lassen sich weiterhin in einschlägig theorieoder modellgeleiteter Buchwirtschaftsforschung ausmachen. Es gibt zwar zahlreiche – an Bedürfnissen der Praxis orientierte – Publikationen, aber kaum eigenständig mit wirtschaftswissenschaftlichen Methoden arbeitende Studien.168 So ist die transdisziplinär buch- und wirtschaftswissenschaftliche Forschung bisher nur schwach ausgebildet. Eine der dringenden buchwissenschaftlichen Zukunftsfragen ergibt sich aus den massiven Systemverschiebungen im System der Buchkommunikation durch die zügig fortschreitende Digitalisierung von Büchern und die digitale Bereitstellung buchnaher Inhalte.169 Diese Herausforderung wird die Buchwissenschaft mit eigenständigen Problemlösungen anzugehen haben. Dies erfordert zwingend eine medien- und kommunikationswissenschaftliche Konzeptualisierung. Ein Fach ›Buchwissenschaft‹ kann vielleicht − auch ohne hier erfolgreich zu sein − überdauern, allerdings nur um den Preis des Rückschritts auf die historisch-buchkundliche Ebene.
166 Vgl. bes. Wehde: Typographische Kultur sowie als Beispiel einer Anwendung Rautenberg: Die Entstehung und Entwicklung des Buchtitelblatts. 167 Vgl. Rautenberg: Buch in der Alltagskultur. 168 Vgl. aber die Dissertation von Kerstin Emrich: Branchenstruktur und Konzentrationsprozess im deutschen Bucheinzelhandel. Diagnose – Prognose – Handlungsempfehlungen. 2009. [Ms. masch.] 169 Vgl. den Forschungsbericht von Titel: Electronic Publishing und E-Commerce.
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3.2 Ist das Buch (überhaupt) ein Medium?
Bereits zu Beginn der 1960er Jahre findet sich u. a. bei Grundmann und Sichelschmidt die Verbindung der Substantive ›Buch‹ und ›Medium‹. Inzwischen hat diese Koppelung inflationäre Formen angenommen. Das ›gute‹ Buch hat dem ›Medium‹ Buch Platz gemacht, das immer dann herbeizitiert wird, wenn Buch, Buchmensch und Buchforscher in moderne, medial überformte Zeitdiskurse eingereiht werden wollen. Wer herausfinden möchte, wie inhaltsleer, aber reich an Kontexten und Konnotationen die Rede vom Medium Buch inzwischen ist, kann sich durch ungefähr 2 330 000 unspezifische Treffer bei Google.de lesen und immerhin noch 182 000 Fundstellen, die die erweiterte Google-Suche mit genau dieser Wortfolge liefert.170 Eine Buchwissenschaft, die ihren Forschungsgegenstand im Anschluss an medienwissenschaftliche Theorien zu konturieren versucht, wird sich jenseits plakativer Aushängeschilder nach tragfähigen Konzepten und nicht zuletzt zukünftig möglichen Beziehungen zur umworbenen Medienwissenschaft fragen lassen müssen. Denn dass es mit letzteren nicht allzu gut bestellt ist, zeigt ein Blick auf einige neuere Publikationen. Der Medienwissenschaftler Knut Hickethier fragt im Titel eines Aufsatzes »Ist das Buch überhaupt ein Medium?« (2004). Hickethier vertritt die These: »Eine Beschäftigung mit dem Medium Buch findet in der universitären Medienwissenschaft so gut wie nicht statt«.171 Die Medienwissenschaft, unter der er in Abgrenzung zur Publizistik und Kommunikationswissenschaft eine kultur- und textwissenschaftliche, aus Literatur- und Theaterwissenschaft entstandene Disziplin172 versteht, sei in ihrem Kern eine Wissenschaft von den technisch-apparativen Medien, denen sie das Buch nicht zurechne. Diese habe ihre ursprüngliche Abhängigkeit von Wort, Schrift und Buch durch die Faszination von den bewegten audiovisuellen Bildern überwinden wollen. Hickethier setzt dem seine zweite These entgegen: »Das Medium Buch hat einen legitimen Standort innerhalb der Medienwissenschaft«173. Auf zehn Seiten werden Dimensionen des Buchs entfaltet, die sich medienwissenschaftlich konturieren lassen: Schrift, Schriftträger, Einband, Druckverfahren/Illustration, Verlag und Buchhandel, Bibliothek und Archiv, Lesen und 170 Google. http://www.google.de/search?hl=de&q=Medium+Buch&btnG=Google-Suche &meta=&aq=f&oq= [31.07.2009]. 171 Hickethier: Ist das Buch überhaupt ein Medium, S. 39. 172 Vgl. auch Viehoff: Von der Literaturwissenschaft zur Medienwissenschaft. 173 Hickethier, S. 41.
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andere Gebrauchsformen. Dieser Parforce-Ritt – aus der Sicht einer Buchwissenschaftlerin, die ihr Fachgebiet halbwegs zu überschauen glaubt – stellt buchgeschichtliche Fakten dubioser Herkunft eklektisch und schief 174 dar. Kurz: es fehlt jede Fundierung der Thesen mit buchwissenschaftlicher Forschungsleistung. Der Autor bietet hier ein Beispiel für seine Eingangsthese, dass die Beschäftigung mit dem Medium Buch in der Medienwissenschaft nicht stattfinde.175 2000 ist das einbändige Handbuch Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte. Von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert von Jürgen Wilke erschienen. Hier kommt das Buch nicht vor. Bei der Lektüre der Vorbemerkungen erfährt man, dass der Kommunikationsbegriff dem Medienbegriff vorgeschaltet werde, da in erster Linie die durch Medien vermittelte Kommunikation − in Anlehnung an Gerhard Maletzke als Massenkommunikation gefasst – behandelt werde: Für sie gilt gewöhnlich als charakteristisch, dass sie sich indirekt (über ein technisches Medium), einseitig (vom Sender zum Empfänger) und öffentlich (im Prinzip allgemein zugänglich) vollzieht sowie dass sie an ein disperses, sozial ›verstreutes‹ Publikum gerichtet ist.176
Diese Kriterien erfüllt auch die Buchmedienkommunikation.177 Als historisches Sekundärmedium und neuerdings elektronisches Tertiärmedium kann auch die Technizität nicht in Frage gestellt werden. Als den Beginn der Mediengeschichte, der sich »unschwer« datieren lasse, bezeichnet Wilke den Buchdruck: »Sie setzt mit der Erfindung des Drucks mit beweglichen Lettern durch Johannes Gutenberg Mitte des 15. Jahrhunderts ein und erstreckt sich inzwischen über mehr als fünf Jahrhunderte«.178 Während Buch und Buchmedienkommunikation ausgeblendet werden, rückt die Herstellungstechnik, die in Medientheorien eng mit dem Buch gekoppelt wird, zum Schlüsselereignis auf. Wilke reiht sich damit in eine Ordnung des 174 Ich zitiere nur ein Beispiel: »Die Einbandtechnik des pergamentenen Kodex wurde mit seiner genähten Verbindung der einzelnen Seiten an einer Seite der Blätter (nicht oben und unten) mit dem Übergang zum Papier als Beschreibstoff im Wesentlichen beibehalten […].« Hickethier, S. 51. 175 Von insgesamt zwölf Literaturhinweisen verweisen drei auf den Autor selbst, weitere auf die Medienwissenschaftler Harry Pross, Marshall McLuhan und Michael Giesecke. Zur Schriftgeschichte wird der veralteten Aufsatz von Lange »Das Buch im Wandel der Zeiten« (1941) zitiert, zum Kapitel Schrift auf eine populärwissenschaftliche Papiergeschichte von 1986 und zum Beleg für die Schriftspaltung Fraktur vs. Antiqua auf ein Lehrbuch zur Visuellen Kommunikation. 176 Wilke: Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte, S. 2. 177 Vgl. dazu auch Bonfadelli: Buch, Buchlesen und Buchwissenschaft, S. 109, der das Buch als Massenkommunikationsmittel den Gegenständen der Publizistikwissenschaft zuordnet. 178 Wilke: Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte, S. 1.
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Mediendiskurses ein, die auf die zentrale Kategorie des Buchdrucks als »historische Referenzfigur« zugreift oder unter die »umfassendere Kategorie der technischen Reproduzierbarkeit«179 subsumiert, schließt aber seltsamerweise das Hauptprodukt dieser Technologie aus. Das dreibändige, insgesamt fast 3 000 Seiten im Großfolioformat umfassende Werk Medienwissenschaft. Ein Handbuch zur Entwicklung der Medien und Kommunikationsformen (1999–2002) ist in der renommierten Reihe der Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft erschienen, die den Wissens- und Forschungsstand einzelner Disziplinen und Hauptforschungsgebiete umfassend versammeln. Zwar zählt das Handbuch auch »Buch und Broschüre« zu den Medien – dies ist erfreulich, weil nicht selbstverständlich −, die Konzeption lässt allerdings keine systematische Reflexion darüber erkennen. Im Kapitel »Medientheorie« findet man zum Beispiel die die Einzelmedienanalyse vorbereitenden Unterkapitel Theorien des Flugblatts und der Flugschrift, der Zeitung und Zeitschrift, des Plakats, selbstverständlich auch des Films, des Hörfunks etc. Einen analogen Beitrag zu Theorien des Buchs sucht man vergebens, auch die Bemerkung »entfällt« − die im Inhaltsverzeichnis nicht selten auf geplante, aber nicht realisierte Beiträge hinweist − fehlt. So scheinen die Herausgeber an einen eigenen Artikel zur Buchtheorie nicht gedacht oder diesen nicht für notwendig gehalten zu haben. In den Blick genommen hat man hier nur die klassischen massenmedialen Printmedien. Formalobjekt und Forschungsgegenstand ›Buch‹ werden als selbsterklärend vorgestellt, denn nirgendwo findet sich auch nur in Ansätzen eine Buch-Definition, geschweige denn eine Begründung für die ausgesprochen seltsame Gleichstellung von »Buch und Broschüre«, die als roter Faden in den Überschriften der einschlägigen Hauptkapitel erscheint. So kommt es zu Inkongruenzen bei der Formulierung von Überschriften, zum Beispiel »BuchForschung«, aber »Forschungsgeschichte des Buch- und Broschürenautors«, beide unter dem Obertitel »Buch und Broschüre IV: Forschungsgeschichte«. In den meisten Artikelüberschriften entfällt die Broschüre, wohingegen die Kapitelüberschriften an Buch und Broschüre festhalten.180 Als Erklärung drängt sich auf, dass die Herausgeber sich an die UNESCO-Definition halten, die strikt zwischen ›Buch‹ (mindestens 49 Seiten) und ›Broschüre‹
179 Grampp: Ins Universum technischer Reproduzierbarkeit, S. 445. 180 Leonhard u. a.: Medienwissenschaft.
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(alles unterhalb dieses Umfangs) unterscheidet.181 Eine tragfähige Konzeption für ein derart ambitioniertes, repräsentativ angelegtes Grundlagenwerk ist dies nicht. Da, wo das Handbuch in die historische Perspektive wechselt, sind Buch und Broschüre umfassend vertreten. Fast zweihundert Seiten stark ist allein der Teil, in dem geschichtliche Längs- und Querschnitte zugelegt werden. Abgehandelt wird die Überlieferungsgeschichte einzelner Werke bzw. Autoren, so u. a. die Bibel, Herodot, Isidor von Sevilla, Thomas Morus, Kopernikus etc. Diese Artikel könnten in dieser Form auch in philosophischen, theologischen, mediävistischen, literaturwissenschaftlichen etc. Nachschlagewerken stehen; sie sind von einschlägigen Fachwissenschaftlern geschrieben worden. Eine Konturierung und Zuspitzung auf die gemeinsame Klammer des Handbuchs, die hier wohl als die Mediengeschichte des Buchs in Längsschnitten an Beispielen zu bezeichnen wäre, ist nicht zu bemerken. Alle Beiträge stehen für sich und unverbunden nebeneinander.182 Über die Gründe für die ›blinden Flecke‹ des Handbuchs lassen sich nur Vermutungen anstellen. Es ist nicht ganz ungewöhnlich, dass die Herausgeber bei den medientheoretischen Umrissen das ›Buch‹ nicht berücksichtigen, in den historischen Überblicken an das Trägermedium Buch gebundene »Kommunikationsformen« (siehe Untertitel) hingegen breit zu Wort kommen lassen. Hier spiegeln sich zum wiederholten Male die Dominanz historischer Buchforschung und fehlende Konzepte des Forschungsgegenstands ›Medium Buch‹, die im größeren Rahmen bestehen könnten. 3.3 Buchwissenschaft als Medienwissenschaft
Die Überlegungen, Buchwissenschaft als Medienwissenschaft zu konturieren, sind in jüngster Zeit in Gang gekommen. Ob es eine (Medien-) Theorie des Buchs, die der Mehrdimensionalität des Forschungsgegenstands und der Interdisziplinarität seiner Bearbeitung gerecht wird, geben kann, ist fraglich. Die Medienwissenschaft ist selbst stark in Theorieauseinandersetzungen verstrickt, umstritten ist auch die Berechtigung von Einzelmedientheorien. Saxer warnt, dass die Schwächen der Buchwissenschaft, 181 UNESCO: Recommendation, II. 6. b: »A p a m p h l e t is a non-periodical printed publication of at least 5 but not more than 48 pages, exclusive of the cover pages, published in a particular country and made available to the public«. 182 Leonhard u. a.: Medienwissenschaft, Bd. 1, S. 439–784.
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die an die Medienwissenschaft Anschluss sucht, durch die Integrations- und Identitätsprobleme der Medienwissenschaft perpetuiert oder verstärkt werden könnten.183 Dennoch sollten die Überlegungen einer medienwissenschaftlichen Konzeptualisierung vorangetrieben werden, zumal bislang keine für die gesamte Fachcommunity anschlussfähigen oder tragfähig begründeten Konzepte vorliegen. Der systemtheoretische Ansatz im Anschluss an Luhmann scheidet seiner theoretischen Komplexität wegen als nicht breit konsensfähig aus184, während ein mögliches Konzept von Buchwissenschaft als Kulturwissenschaft zwar postuliert, aber nicht hinreichend begründet wurde185. Eine Tagung der Deutschen Buchwissenschaftlichen Gesellschaft 2003 an der Universität Lüneburg, veranstaltet von Werner Faulstich und Dietrich Kerlen, widmete sich dem Thema »Buchwissenschaft als Medienwissenschaft«; die Vorträge sind im gleichnamigen Sammelband 2004 erschienen. In seinem Beitrag stellt Kerlen sieben Thesen vor, warum und wie Buchwissenschaft als Medienwissenschaft verstanden werden kann. Ausgangspunkt ist: Eine dürre, weil formale Definition von ›Medium‹ und ›Buch‹ – nämlich Synthesen von Inhalten unterschiedlicher Art mit Trägern bzw. Geräten – eine solche Minimaldefinition ist dieser Knoten, der von allen Seiten und aus einer Vielzahl von Aspekten materialmäßig angereichert wird […].186
Kerlen geht von lebensweltlichen, auch in der Geschichte auffindbaren Buchformen aus. Die folgenden Thesen operieren dementsprechend auf sehr unterschiedlichen, an buchgeschichtlichen Linien oder an einzelnen Sachproblemen orientierten Diskursebenen. Die beiden ersten Thesen grenzen das Buch von den Massenmedien als Individualmedium und Me183 Vgl. den Beitrag von Saxer in Bd. 1, S. 87. 184 Vgl. Keiderling: Wieviel Systemtheorie braucht die Buchwissenschaft?, S. 291f. 185 Vgl. Füssel: Buchwissenschaft als Kulturwissenschaft, S. 63: »Eine den spezifischen Eigenschaften des Buches und seiner Rolle und Bedeutung in der Kultur und in der Gesellschaft gerecht werdende Fragestellung bietet eine eindeutige kulturwissenschaftliche Perspektivierung. Eine Kulturwissenschaft, die sich als Wissenschaft vom Menschen und der ihm gestalteten Welt begreift und die eine Integration der zersplitterten Wissenschaftsaspekte anstrebt, wird am ehesten den Facetten der Buchwissenschaft gerecht, die Inhaltsanalyse und äußere Form, Biographie und Soziologie, Theologie und Philosophie, Handwerks- und Sozialgeschichte, Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, kommunikations- und medienwissenschaftliche Aspekte synthetisieren muß. Der Doppelcharakter des Buches als geistiger Wert und Handelsobjekt wird gerade dann genau erfaßt, wenn alle geistigen Strömungen einer Epoche ebenso berücksichtigt werden wie die zeitgenössischen, ökonomischen, rechtlichen und politischen Rahmendaten.« Vgl. auch die nahezu wörtliche Übernahme (allerdings statt »begreift« »greift«) in: Füssel: Buch-Forschung, S. 573. – Vgl. auch den Beitrag von Saxer in Bd. 1, S. 82 186 Kerlen: Buchwissenschaft als Medienwissenschaft, S. 27.
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dium langer Vergangenheit ab: vor allem letzteres könne den Medienwissenschaften »historische Tiefenschärfe«187 verleihen − dies die fünfte These. Abschließend fasst Kerlen drei Felder zusammen, auf denen Buchwissenschaft zur Medienwissenschaft anschlussfähig sei: Buchgeschichte, Buchwirtschaftslehre und vergleichende Medientheorie.188 Zwei zentrale Aufsätze stammen von Heinz Bonfadelli189 und Ulrich Saxer190, die die publizistik- bzw. kommunikationssoziologische Perspektive beitragen. Bonfadelli klärt vorab den Gegenstand der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft als »Massenkommunikation« bzw. »öffentliche Kommunikation«, wobei diese mit sozialwissenschaftlichen Ansätzen arbeite, aber ein Theorie- und Methodenpluralismus bestehe. Medientheoretischen Gesamtentwürfen schreibt er einen eher »medienphilosophischen« Charakter zu; die gesellschaftliche Einbettung der Medien wie auch der individuelle Medienumgang werde nur ungenügend reflektiert und diese Entwürfe seien nicht empirisch überprüfbar.191 Ziel seines Beitrags sei daher eine pragmatische Bestandsaufnahme, wie sich die Publizistik mit dem Medium Buch, dem Buchlesen und der Buchwissenschaft beschäftigt.192 Dies geschieht (1) unter drei Analyseperspektiven je nach einem technischen, semiotischen oder sozial-institutionellem Medienbegriff, (2) auf drei Analyseebenen: die Medienpsychologie und -soziologie auf der Mikroebene untersucht beispielsweise das Leseverhalten sowie formale und inhaltliche Strukturen von Lesestoffen, auf der Mesoebene stehen Medienorganisationen und Stützsysteme wie Buchhandel und Bibliotheken, auf der Makroebene gesamtgesellschaftliche Phänomene sowie politische und ökonomische Fragen. Daraus ergibt sich ein Raster von neun Feldern für die empirische Medien- und Buchanalyse.193 Aus der Sicht der Publizistik wird das Buch als Massenmedium aufgefasst und im Rahmen publizistik- und kommunikationswissenschaftlicher Fragestellungen mit berücksichtigt: »Dementsprechend besteht weder ein Bedarf nach Einzelmedientheorien noch einer für eine spezielle Buchtheorie.«194 Für die Publizistik muss man hinzufügen.
187 188 189 190 191 192 193 194
Kerlen, S. 29. Kerlen, S. 37. Bonfadelli: Buch, Buchlesen und Buchwissenschaft. Saxer: Buch und Buchwissenschaft. Vgl. Bonfadelli: Buch, Buchlesen und Buchwissenschaft, S. 92f. Bonfadelli, S. 91. Bonfadelli, S. 96. Bonfadelli, S. 109.
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1965 haben Glotz/Langenbucher die Beteiligung der damals noch jungen Publizistik an der Buchforschung sehr ähnlich, wenn auch weniger ausdifferenziert, beschrieben und angeboten.195 Seither sind die Ergebnisse der Publizistik und Kommunikationswissenschaft zur Lese- und Leserforschung für buchwissenschaftliche und buchwirtschaftliche Fragestellungen zur unverzichtbaren Grundlage geworden, wie dies auch im Forschungsbericht von Kuhn/Rühr in diesem Band dokumentiert wird. Saxer beginnt mit einer knappen Bestandsaufnahme buchwissenschaftlicher Zugriffe auf das Materialobjekt Buch. Während die zu beobachtende disparate Vielfalt mit der Vieldimensionalität von Medien und Medialität generell zu tun habe, seien die Einseitigkeiten durch die stärker geisteswissenschaftlich als sozialwissenschaftlich ausgerichtete Buchwissenschaft bedingt. So sei die Empathie für das »Kulturwerk« Buch stärker ausgeprägt als für das Sozialsystem Buch, stärker für den Träger der Eliteals der von Populärkultur.196 Andererseits nehme sich ein »höher dotierter« Zweig angewandter Forschung des Wirtschaftsguts Buch an, die Buchmarktforschung, die zur vergleichenden Medienforschung ausgeweitet werde. Die Buchwissenschaft finde sich »[…] eingespannt vor allem zwischen Kommunikations- und Wirtschaftswissenschaften und überdies reklamiert von einer prekär definierten Medienwissenschaft […]«197. Diese strukturellen Schwächen seien in dreifacher Hinsicht zu optimieren durch: (1) die Integration der disparaten Vielfalt intra- und interdisziplinärer Ansätze mit Hilfe eines konsensfähigen Basiskonzepts vom Medium Buch und mit der Arbeit an empirisch, nicht bloß spekulativ gestützten Theorien, (2) den Ausgleich der unterschiedlich stark behandelten Dimensionen des Mediums, so zum Beispiel zwischen Elite- und Populärkultur, (3) die Ergänzung der analytisch dominierenden Mikroebene durch die Mesoebene der Institutionen und die Makroebene der Gesellschaft.198 »Eine medien- und zumal buchsoziologisch optimale kommunikationssoziologische Perspektive« sei geeignet, das Leistungsvermögen der Buchwissenschaft zu erhöhen.199
195 Glotz/Langenbucher: Buchwissenschaft, S. 304: »Ebenso wie Presse, Rundfunk, Fernsehen ist das Buch aber auch (Massen-)Kommunikationsmittel. Wie jeder andere, so kann auch der über das Medium Buch laufende Kommunikationsprozeß psychologisch analysiert werden.« 196 Saxer: Buch und Buchwissenschaft, S. 113. 197 Saxer, S. 112. 198 Saxer, S. 114. 199 Saxer, S. 115f.
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Diese kursorischen Ausführungen im Lüneburger Sammelband sind zu ergänzen durch Saxers einführenden Beitrag im Handbuch Medienwissenschaft (»Der Forschungsgegenstand der Medienwissenschaft«, 1999) und den in diesem Band unmittelbar anschließenden Aufsatz »Buchwissenschaft als Medienwissenschaft«. Der ältere Beitrag entwickelt ein medienwissenschaftliches Konzept von ›Medium‹ und führt folgende Nominaldefinition ein: »Medien sind komplexe institutionalisierte Systeme um organisierte Kommunikationskanäle von spezifischem Leistungsvermögen«.200 Daran schließen sich die folgenden Dimensionen der Erforschung von Medien an: Systemhaftigkeit, Intermedialität, Technizität, Organisiertheit, Funktionalität, Institutionalisiertheit, Medienwandel und Mediengesellschaft. Saxers weiterführende Analyse in diesem Band fokussiert auf ein medienwissenschaftliches Konzept von Buchwissenschaft und ihrer Arbeitsfelder. Die Forschungsdimensionen werden in Anpassung auf das Buchmedium mit Systemhaftigkeit, Technizität, Komplexität, Organisiertheit, Funktionalität und Institutionalisiertheit benannt. Saxers grundlegender Problemanalyse und seinen forschungsleitenden Vorschlägen kann und soll an dieser Stelle nicht paraphrasierend und kommentierend vorausgegriffen werden. Allerdings ist vorab zu konstatieren, dass das hier vorgeschlagene Konzept einer Buchwissenschaft als Medienwissenschaft dem bisherigen Selbstverständnis und seinen Hauptarbeitsfeldern weitaus besser angepasst ist, als Medientheorien »philosophischen Charakters«, um hier nochmals das Bonmot von Bonfadelli aufzugreifen. Dies hat schon die geringe Akzeptanz des sonst hoch gelobten Entwurfs von Michael Giesecke Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien gezeigt.201 Größere Probleme wird eine stringente gesellschaftstheoretische Einordung auf der Makroebene nach sich ziehen, die bisher stark kulturpolitisch vereinnahmt wurde und einer geisteswissenschaftlich orientierten Buchwissenschaft schwer fällt. Für die historische Forschung bietet das Konzept große Chancen, denn es ermöglicht eine Ordnung des nahezu unüberschaubaren Materials nach den oben genannten Dimensionen, ohne dass wesentliche Gebiete ausgelassen werden. Besonders aus den Dimensionen der Systemhaftigkeit und Komplexität können in einer integrativen Buchmediengeschichte Erklärungsmodelle und -theorien abgeleitet werden, in die auf hermeneutischen Weg erarbeitete Ergebnisse eingebracht werden. Ein erster Versuch, auf diesem Weg weiter zu gehen, liegt mit der 200 Saxer: Forschungsgegenstand, S. 6. 201 Vgl. dazu Mentzel-Reuters in Bd. 1, S. 418−423.
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Arbeit an einer Digitalen Buchgeschichte vor, zu der sich eine kleine Gruppe von Buchwissenschaftlern zusammen gefunden hat.202 Wie auch immer: Wenn also die Buchwissenschaft sich als Medienwissenschaft etablieren und bewähren will, dann setzt dies voraus, dass sie ihre kognitive Binnenstruktur entsprechend verstärkt und erweitert. Andernfalls ist c h a o t i s c h e T h e o r i e b i l d u n g […] das Re203 sultat solcher wissenschaftlicher Anschluss- oder auch Übernahmepolitik.
Das vorliegende Handbuch möchte die Diskussion anstoßen und zu einer Klärung beitragen.
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ULRICH SAXER
Buchwissenschaft als Medienwissenschaft 1 1.1 1.2 1.3 2 2.1 2.2 2.3 3 3.1 3.2 3.3 4 4.1 4.2 5
Grundlegung Bezugsrahmen Probleme Prinzipien Buchwissenschaft Status Konstituenten Position Medienwissenschaft Parallelen Basiskonzepte Arbeitsfelder Fazit Wissenschaftssystem Wissenschaftspolitik Literaturverzeichnis
Über Status, Konstituenten, Position einer (der) Buchwissenschaft wird dauernd, kontrovers und seit der digitalen Revolution mehr denn je diskutiert.1 Welche Art von Wissenschaft wird unter diesem Etikett praktiziert? Welches sind die Konstituenten eines solchen (dieses) Wissenschaftssystems? Und welche Position nehmen buchbezogene Forschung und Lehre im Wissenschaftssystem ein? Zur Diskussion steht freilich immer wieder der Bereich der Kommunikations- und Medienwissenschaften überhaupt. So legte der deutsche Wissenschaftsrat im Mai 2007 ein umfängliches Gutachten mit Empfehlungen zu deren Entwicklung vor, in dem er diese drei Aspekte unter der übergeordneten Perspektive thematisiert, wie diese Wissenschaften »auf die Herausforderungen der umfassenden Medialisie1
Vgl. Kerlen: Buchwissenschaft – Medienwissenschaft; Rautenberg/Wetzel: Buch.
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Ulrich Saxer
rung der Lebenswelt und der dynamischen technologischen Entwicklungen reagiert«2 hätten. Auf diesen Horizont hin ist auch der folgende, hinsichtlich seiner buchwissenschaftlichen Datenbasis beschränkte Versuch ausgelegt, das buchbezogene Forschen und Lehren als Medienwissenschaft zu konzeptualisieren. Dazu bedarf es indes vorgängig einer wissenschaftswissenschaftlichen begrifflichen und theoretischen Fundierung und einer entsprechenden Darstellung des diesbezüglichen State of the art, vornehmlich in Deutschland. Nur auf dieser Basis kann ein nachvollziehbares und auch einigermassen einvernehmliches Konzept von Medienwissenschaft entwickelt werden, das seinerseits aus einem sechsdimensionalen Konzept von Medium abgeleitet wird. In den entsprechenden Arbeitsfeldern wird die Buchwissenschaft als Wissenschaftssystem evaluiert und dessen Leistungsfähigkeit auf ein Fazit gebracht. An dieses werden schließlich einige wissenschaftspolitische Folgerungen geknüpft. Es geht ja in diesem Beitrag unter einer kommunikationssoziologischen Optik3 ebenso um die Optimierung wie um die Analyse des Leistungsvermögens der Buchwissenschaft und seiner Bedingungen.
1 Grundlegung 1.1 Bezugsrahmen
Dieser Zielsetzung hat der Bezugsrahmen zu entsprechen, der die Argumentation zu dieser kontroversen und überdies diffus konturierten Thematik fundiert und organisiert. Ihm zugrunde liegt die These des Wissenschaftstheoretikers Karl Popper: »Alles Leben ist Problemlösen.«4 Damit wird die Buchwissenschaft, jede wissenschaftliche Tätigkeit, von vornherein in die Lebenswelt eingebettet. Theoretisch und zugleich praxisbezogen, wie sie arbeitet, ist dies für eine sachgerechte Positionierung der Buchwissenschaft unerlässlich und trägt dem generellen Tatbestand zunehmender Kontextualisierung moderner Wissenschaft, d. h. ihres verstärkten Einbezugs in immer mehr und andere Funktionssysteme, Rechnung.5 Dies wiederum setzt die Wissenschaft unter steigenden 2 3 4 5
Wissenschaftsrat: Empfehlungen zur Weiterentwicklung, S. 7. Vgl. Saxer: Buch und Buchwissenschaft. Popper: Alles Leben. Vgl. Nowotny/Scott/Gibbons: Re-Thinking Science, S. 18.
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Legitimationsdruck, da die Gesellschaft in sie als besonders potenten Problemlösungsmechanismus mehr und mehr Ressourcen investiert. Problemlösungspotenzial, reales und unterstelltes, Kontextualisierung und Investitionen in sie bilden mithin die weiteste Konstellation ihrer Statusdeterminanten. In dieser entwickelt, so die funktionalistisch-systemtheoretische Gesamtausrichtung dieses Beitrags, das komplexe, d. h. durch viele Subsysteme konstituierte Interaktionssystem Buchwissenschaft sein spezifisches Problemlösungsvermögen. Wissenschaft bildet letztlich ein Strategiesystem, da sie ihr Ziel, die Produktion von besonders qualifiziertem Wissen, möglichst längerfristig unter bestimmten Bedingungen realisieren soll. Ein solches Verständnis von Wissenschaft ist freilich in der Scientific community der Buchwissenschaftler wohl kaum gängig, sollte aber zumindest zustimmungsfähig sein. ›Funktionalistisch‹ im soziologischen Sinn ist im übrigen dieser Bezugsrahmen konstruiert, als er die Funktionalität, die gesellschaftlichen Konsequenzen der Buchwissenschaft, ihrer Existenz und ihres Wirkens erfassen soll, und zwar die problemlösenden wie die problemverursachenden, ihre Eufunktionalität wie ihre Dysfunktionalität. Effizient optimiert werden kann deren Leistungsvermögen ja nur dann, wenn die funktionale Analyse auch ihre leistungsabträglichen Strukturen und Prozesse aufdeckt, Buchwissenschaft ebenso als problemverursachendes wie -lösendes Wissenschaftssystem begreift. ›Systemtheoretisch‹ ist andererseits die gleichfalls wohl konsentierbare Prämisse, Buchwissenschaft werde eben systemisch, als Verbund von Akteuren mit dem Ziele realisiert, möglichst valides und anwendungstaugliches Wissen über den Gesamtkomplex ›Buch‹ und ›Buchkommunikation‹ zu erarbeiten. 1.2 Probleme
Zentral für die funktionale Analyse ist jedenfalls die Bestimmung der Probleme, mit denen Akteure, individuelle oder kollektive – hier Buchproduzenten, -vermittler und -konsumenten bzw. Buchwissenschaftler – konfrontiert sind oder sich zumindest konfrontiert sehen. Dass Wissenschaftssysteme eigene Problemperzeptionen entwickeln und nicht einfach die auch wieder je spezifischen ihrer Beobachtungsobjekte übernehmen, ist Voraussetzung dafür, dass überhaupt Wissen erarbeitet wird, das die Qualifikation ›wissenschaftlich‹ verdient. Schon gegen diese methodologische Selbstverständlichkeit wird allerdings im Gefolge besonderer Em-
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pathie für den Beobachtungsgegenstand, sei es für eine vom Untergang bedrohte Kultur in der Kulturanthropologie, sei es für ›das‹ Buch, häufig verstossen. Buchwissenschaft, die praktizistisch auch die Berufsideologie von Buchproduzenten und -vermittlern wissenschaftlich bestätigt, ist indes selber Ideologie und missachtet das elementare wissenschaftliche Qualitätserfordernis der Unparteilichkeit. Über die Genese sozialer Probleme und deren Wahrnehmung sollte man denn auch in der Buchwissenschaft wissenssoziologisch Bescheid wissen,6 um etwaige dysfunktionale Implikationen von Buchkommunikation bzw. entsprechende Vorwürfe, wie z. B. »Lesesucht« oder »Leseschund«7, sachgerecht interpretieren zu können. Es bedarf ja eine problemorientierte funktionale Analyse valider Verfahren, Probleme zu definieren, soll nicht die beanstandete »generelle Untertheoretisierung«8 der Buchwissenschaft auch auf ihre Evaluation zutreffen. Welche Probleme bei der Realisierung optimaler Buchkommunikation haben deren verschiedene Partizipantenkategorien gemeinsam? Eine anerkannte Theorie sozialer Probleme ist allerdings bis heute noch nicht entwickelt worden, aber immerhin eine funktionalistisch-systemtheoretisch fundierte elementare Typologie, die die Probleme von Personen, Organisationen und anderer Sozialsysteme vergleichbar macht, Talcott Parsons’ sogenanntes AGIL-Schema.9 Nach diesem haben alle Akteure, Personen wie Systeme, vier elementare Probleme zu meistern, nämlich Anpassung an die Umwelt, Zielrealisierung, Integration und Erhaltung struktureller Identität. Dieses Schema erlaubt es, auch die konkreten Probleme im Zusammenhang mit Buch- und Buchkommunikation, aber auch ihrer wissenschaftlichen Analyse, in einen theoretischen Zusammenhang zu bringen. So ermöglicht etwa intensive Buchlektüre Heranwachsenden die temporäre Etablierung personaler Identität,10 vergrössert aber auch ihren Wissensvorsprung vor den Buchabstinenten. Diese beeinträchtigen damit ihre eigenen Zielrealisierungschancen, und für die demokratische Gesellschaft wirkt sich diese Wissenskluft zwischen besser und schlechter informierten Bevölkerungskategorien im Gefolge unterschiedlich intensiver Buchnutzung desintegrativ aus.11
6 7 8 9 10 11
Vgl. Schetsche: Wissenssoziologie. Schön: Der Verlust der Sinnlichkeit, S. 46–49. Rautenberg/Wetzel: Buch, S. 8. Vgl. Parsons: System moderner Gesellschaften, S. 12–29. Vgl. Saxer: Kulturelle Identitätsmuster, S. 113. Vgl. Saxer: Soziologische Aspekte der Wissensvermittlung.
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1.3 Prinzipien
Zu den unverzichtbaren Elementen wissenschaftlicher Analyse und damit eines solchen Bezugsrahmens gehört schließlich auch noch die Festlegung der übergeordneten Regeln, die bei seiner Anwendung, hier bei der genaueren Bestimmung der Buch- als Medienwissenschaft, einzuhalten sind. Es handelt sich hierbei um drei komplementäre wissenschaftswissenschaftliche Prinzipien, die jedenfalls für sozialwissenschaftliche und weitgehend für qualifizierte wissenschaftliche Arbeit überhaupt wegleitend sind.12 (1) Isomorphiepostulat: Wissenschaftliche Modellierungen müssen der Struktur ihres Beobachtungsobjekts entsprechen, insbesondere deren Komplexität auf das Wesentliche reduzieren, aber deren Komplexität doch in Theoriekonstruktionen von analoger Eigenkomplexität abbilden.13 Der Vorwurf der »Untertheoretisierung« der Buchwissenschaft zielt in erster Linie auf diesbezügliche Defizite. (2) Werturteilsabstinenz: Da Werturteile sich erfahrungswissenschaftlichen Prüfungskriterien entziehen, werden sie von Sozialwissenschaftlern, verfahren sie normgerecht, lediglich untersucht, aber nicht in eigener Kompetenz formuliert bzw. vertreten. Und wenn sie bei kulturwissenschaftlichen Projekten untersuchungsleitend sind, müssen sie deklariert werden, damit nicht elementare Missverständnisse die wissenschaftliche und erst recht die außerwissenschaftliche Verständigung beeinträchtigen. Bei der vieldimensionalen Normativität von Buch und Buchkommunikation und deren ständiger kulturideologischer Vereinnahmung ist ein geschärftes Bewusstsein für diese Problematik Voraussetzung qualifizierter buchwissenschaftlicher Argumentation. (3) Spieltheoretisches Obligat: Gerade auch die Buchwissenschaft ist, wie dieses Postulat erfordert,14 als ingeniöses, optimal ergiebiges Spiel mit den jeweils dienlichsten Theorien und Methoden gegen sperrige Gegenstände anzulegen. Nicht nur operiert die Buchwissenschaft ja interund transdisziplinär, d. h. über die Fachgrenzen hinaus und auch in ständiger Kooperation mit Buchpraktikern, sondern auch ihr ebenso kulturell wie ökonomisch definierter Gegenstand verlangt besonders kreative wissenschaftliche Spielanlagen. Zugleich impliziert das Postulat ein pragmatisches Wissenschaftsverständnis. Wissenschaft sei mithin als Kunst des Möglichen zu betreiben, also unter Verzicht auf theoretischen und methodologischen 12 13 14
Vgl. Saxer: Schweizerische Kommunikationswissenschaft, S. 232–235. Vgl. Ashby: Variety, Constraint, and the Law. Vgl. u. a. Leinfellner: Wissenschaftstheorie, S. 16f.
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Rigorismus, aber natürlich immer in Übereinstimmung mit den Normen des wissenschaftlichen Wahrheitscodes.
2 Buchwissenschaft 2.1 Status
Problemlösungspotenzial, Kontextualisierungsgrad und Ressourcen bestimmen also den Status von Wissenschaftssystemen am umfassendsten, und Indikatoren für diesen sind ihre Reputation, ihre institutionelle Position und ihre Ausstattung. Selbstverständlich sind diese Indikatoren systemisch miteinander verknüpft. Dies impliziert, dass wissenschaftspolitisch überzeugend für mehr buchwissenschaftliche Lehrstühle oder die vorbehaltlosere Institutionalisierung der Buchwissenschaft als eigenständige Universitätsdisziplin nur argumentiert werden kann, wenn ihr Problemlösungsvermögen ihr zu entsprechender Reputation verhilft. Dass diese Leistungskapazität ihrerseits wiederum von der institutionellen Position und den Investitionen in das Wissenschaftssystem abhängt, bildet einen Bedingungszirkel, mit dem jegliche Wissenschaftspolitik ständig konfrontiert ist. Der Status von Kommunikations- und Medienwissenschaften zumal ist dabei, wie auch aus dem Gutachten des deutschen Wissenschaftsrates ersichtlich, besonders – wenn auch je nach Etablierungsphase unterschiedlich – labil. So hat sich mittlerweile die institutionelle Position der Publizistikwissenschaft stabilisiert, während diejenige von Einzelmedienwissenschaften wieder vermehrt in Frage gestellt wird.15 Das von einem Wissenschaftssystem erwartete Problemlösungsvermögen, sein Zielrealisierungspotenzial also, und die für sein soziales Schicksal maßgebliche, da Investitionen legitimierende Reputation, müssen durch entsprechende Qualitätskontrollen gesichert sein. Die klassischen Kontrollmechanismen wie wissenschaftliche Öffentlichkeit, Personalpolitik und Prüfungsordnungen fungieren freilich in nachgeordneter Position. Sie vermögen wissenschaftliche Qualität nur zu garantieren, wenn das Wissenschaftssystem selber ausreichend (aus)differenziert ist und seine Grenzen bzw. sein Beobachtungsobjekt so bestimmt, dass es dieses mit seinen Ressourcen qualifiziert zu bearbeiten und seine Grenzen in diesem Sinne zu kontrollieren vermag. Wünschenswerter Stimulation von Wissenschaft durch transdisziplinäre Kooperation steht die Gefahr 15
Vgl. Faulstich: Grundwissen, S. 21.
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von Autonomieeinbußen und von Kontamination durch externe Ansprüche gegenüber. Statt Buchwissenschaft wird in diesem Falle »Buchkunde« gelernt.16 Ausdifferenzierung als Strukturierungsprozess und Voraussetzung moderner Wissenschaftlichkeit hat dabei in zwei Richtungen zu erfolgen: nach außen, insofern eine je spezifische (fach)wissenschaftliche Perspektive entwickelt werden muss, und nach innen, als Binnenstrukturierung, in Gestalt immer differenzierterer Beobachtungsinstrumente, Analysetechniken und Verfahren der Theoriebildung und -evaluation. Zum einen geht es um die Ausdifferenzierung eines fachspezifischen Formalobjekts aus den Gegenständen der Alltagswelt, des Materialobjekts Buch, Buchhandel, Buchmarkt etc., also um die Entwicklung eines buchwissenschaftlichen Verständnisses dieses Materialobjekts, das natürlich auch andere Wissenschaften erforschen. Zum andern bedarf eben komplementär hierzu jedes Wissenschaftssystem der entsprechenden Binnenstrukturierung für die qualitativ hoch stehende Erschliessung seines Formalobjekts. Wie zentral dabei die Frage der optimalen Festlegung der Systemgrenzen ist, Buch- oder Medienwissenschaft also, erhellt schon aus dem Umstand, dass allzu eng definierten Wissenschaftssystemen Selbstmarginalisierung durch extreme Spezialisierung und Sterilität mangels produktiven Austausches mit ihren relevanten Umwelten drohen. Für die qualifizierte wissenschaftliche Bearbeitung allzu umfassender Gegenstandsbereiche genügen hingegen die Ressourcen gerade von Kommunikations- und Medienwissenschaften nicht, die aber unter dem Eindruck der Expansion der Mediensysteme ständig versucht sind ihre Zuständigkeitsansprüche auszuweiten.17 Auch die Etablierung einer wissenschaftlichen Systemidentität und damit die Bewältigung eines weiteren der vier elementaren Probleme, mit denen Personen und Systeme konfrontiert sind, hängt maßgeblich an der sachgerechten Entwicklung des jeweiligen Formalobjekts. Dieses erst erschließt den Problemhorizont, unter dem das Materialobjekt von der betreffenden Scientific community fokussiert wird, verbürgt einen gemeinsamen Sinn, unter dem die Akteure wissenschaftlicher Strategiesysteme das Ziel qualifizierter Wissensproduktion realisieren. Je komplexer, durch je mehr Subsysteme – Buch-, Lese-, Buchmarktforschung etc. – bzw. Subdisziplinen eine Wissenschaft strukturiert ist, desto anforderungsreicher wird andererseits deren produktive Integration, Überkomplexität 16 17
Vgl. Rautenberg/Wetzel: Buch, S. 13–17. Vgl. Saxer: Von wissenschaftlichen Gegenständen, S. 42f.
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ebenso zum sekundären Problem wie Unterkomplexität als Strukturdefizit ein primäres ist. Systemisch hängen diese vier elementaren Probleme zusammen wie auch die Elemente der Bedingungskonstellation. Der Status der Buchwissenschaft präsentiert sich jedenfalls unter dieser Optik selbst als ein hochkomplexes Dauerproblem. 2.2 Konstituenten
Die wissenschaftliche Analyse und gegebenenfalls Optimierung von Buch und Buchkommunikation ist demzufolge gemäss dem in 1.1 entwickelten Bezugsrahmen ganzheitlich anzugehen, theorie- und anwendungsorientierte Buchwissenschaft als System zu konzipieren. So wie z. B. Leseförderung nur als komplexes Interaktionssystem längerfristig erfolgreich praktiziert werden kann, intermedial und transdisziplinär18, so auch buchwissenschaftliche Forschung und Lehre. Dies ist eine Grundthese dieses Beitrags. In Konsequenz der bisherigen Analyse muss dementsprechend das Konzept des Wissenschaftssystems, dem fortan die Aufmerksamkeit gilt, weiter ausgeführt und buchwissenschaftlich adaptiert werden. Wissenschaftssysteme sind durch Gegenstände, Träger, Regeln und Paradigmen konstituiert. An Formalobjekten werden von intra-, inter- und transdisziplinären Trägerschaften Problemstellungen gemäß wissenschaftlich anerkannter Regeln in möglichst vorbildliche, intersubjektiv nachvollziehbare Lösungen, Paradigmen, überführt. Im Lichte der Thematik dieses Beitrags sind die folgenden Merkmale des Systems Buchwissenschaft besonders beachtenswert: (1) Gegenstände: Unter der Bezeichnung »Buchwissenschaft« bzw. »Buchforschung« werden aufgrund divergierender Buchkonzepte die allerverschiedensten mit dem Buch zusammenhängenden Phänomene unter wechselnden Perspektiven untersucht. Immerhin synthetisiert Ursula Rautenbergs Buchdefinition im repräsentativen Metzler Lexikon Medientheorie – Medienwissenschaft. Ansätze – Personen – Grundbegriffe buchwissenschaftliche Hauptrichtungen und ist theoretisch und interdisziplinär anschlussfähig: »Das Buch lässt sich (1) als materielles bzw. physisches Objekt definieren, das Ergebnis einer bestimmten Herstellungstechnik ist und (2) als Zeichenträger (3) spezifische Aufgaben buchmedialer Kommunikation übernimmt«19. Beschränktes Einvernehmen der Basiskonzepte 18 19
Vgl. Saxer: Lese(r)forschung, S. 124–126. Rautenberg: Buch, S. 39.
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erschwert generell in vielen Geistes- und zum Teil auch in den Sozialwissenschaften sowie in der (bzw. den) Medienwissenschaften eine systematische Theoriebildung; in der (bzw. den) Medienwissenschaft(en) beeinträchtigt das Fehlen eines konsensfähigen Konzepts von Medium die intra- und interdisziplinäre Verständigung grundsätzlich. Dieser Umstand führte denn auch zur Aufforderung der Herausgeber des Handbuchs Medienwissenschaft. Ein Handbuch zur Entwicklung der Medien und der Kommunikationsformen an den Verfasser dieses Beitrags, im Zusammenhang mit der Bestimmung des Gegenstandes der Medienwissenschaft ein konsens- und anschlussfähiges Konzept von Medium für diese zu entwickeln.20 (2) Trägerschaften: Der Heterogenität buchwissenschaftlicher Forschung und Lehre und ihres Gegenstandsverständnisses entsprechend wird sie von sehr unterschiedlichen Trägerschaften, universitären wie buchwirtschaftlichen, realisiert. Dies erhöht zwar die Vielfalt der Ansätze, verhindert hingegen die Etablierung wirksamer Qualitätskontrollen und vermindert überdies das wissenschaftspolitische Durchsetzungsvermögen dieses Wissenschaftssystems. Die Doppelheit des Buchs als Kommunikationsträger und ökonomisches Objekt begründet ja zwei von je anderen Regelhaftigkeiten geprägte Verbreitungswege: buchmediale Kommunikation und Buchzirkulation als Handelsware. Diese zwei Zirkel theoretisch zusammenzuführen wurde von der Buchwissenschaft bis anhin erst ansatzweise versucht.21 Stattdessen behinderte die ideologische Fixierung auf das ›Kulturgut Buch‹ dessen produktiveren Einbezug in die intermediale kommunikationswissenschaftliche Theoriebildung oder eine realistische Medienpädagogik. (3) Problemstellungen: Immerhin hat sich mittlerweile die nach wie vor kleine Scientific community von Buchwissenschaftlern intermedialen Fragestellungen weitgehend geöffnet und rekurriert häufiger als ehedem auf Theorien und Methoden der sozialwissenschaftlich-empirisch ausgerichteten Kommunikationswissenschaft. Buchgeschichte ist aber für die Buchwissenschaft nach wie vor konstitutiver als Kommunikationsgeschichte für die Kommunikationswissenschaft,22 und dass Jürgen Wilke in seiner repräsentativen kommunikationswissenschaftlichen Darstellung der allgemeinen Kommunikationsgeschichte das Buch ausklammert,23 zeugt weiterhin von einer gewissen fachlichen Isolierung der Buchwissenschaft. 20 21 22 23
Vgl. Saxer: Forschungsgegenstand. Vgl. z. B. Gruschka: Der gelenkte Buchmarkt. Vgl. Rautenberg/Wetzel: Buch. Vgl. Wilke: Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte, S. V–VII.
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Die zwei Buch-Verbreitungszirkel, wissenschaftlich zwar vielfältig, aber kaum integral thematisiert, wie u. a. auch am Aufbau von Rautenbergs und Wetzels buchwissenschaftliche Synopse erkennbar, erschweren es ihr, Identität als Wissenschaftssystem zu entwickeln. (4) Regeln: Insbesondere gilt ja unter diesen Umständen außer hermeneutischer auch analytische Wissenschaftstheorie, wird geistes- wie sozialwissenschaftliche, bis hin zu betriebswissenschaftlicher Methodologie praktiziert. Andererseits kann solcher Regelpluralismus, wenn er nicht zum wissenschaftstheoretischen ›anything goes‹ degeneriert, durchaus das spieltheoretische Obligat erfüllen und eine flexible und damit der Dynamik des Gegenstandes angemessene Theoriebildung erleichtern. (5) Paradigmen: Unter diesen Umständen ist es nicht adäquat, die Leistungsfähigkeit dieses Wissenschaftssystems in Gestalt sozusagen einer Paradigmenliste zu charakterisieren, vorbildlicher wissenschaftlicher Problemlösungen von einer gewissen Generalisierbarkeit, einer Gültigkeit mittlerer Reichweite.24 Eine Wissenschaftskonzeption, gemäß der wissenschaftliche Paradigmen gewissermassen hierarchisiert werden, ist ja einem ›Kernmodell‹ verpflichtet, während Geisteswissenschaften und auch die Buchwissenschaft, zumal mit der Relativierung ihres früheren Kulturelitarismus, stärker gemäß einer Netzstruktur operieren.25 Die Behebung der ja von buchwissenschaftlicher Seite selber festgestellten »Untertheoretisierung« dieses Wissenschaftssystems muss folglich mit der Reflexion darüber beginnen, welche Arten von Theorien von ihr überhaupt entwickelt werden sollen. Selbst in der Kommunikationswissenschaft werden neben sozialwissenschaftlicher auch normative Theorie, Praktiker- und Alltagstheorie zumindest ernst genommen.26 Festzuhalten ist an dieser Stelle lediglich, dass sehr vielfältige qualifizierte wissenschaftliche Erkenntnisse zu Buch und Buchkommunikation erarbeitet worden sind und werden, unter welchem Etikett auch immer, dabei schwergewichtig historische Rekonstruktionen, Her- und Verbreitungsanalysen, Buch- und Lese(r)typologien, Deskriptionen, theoretisches, und auch viel anwendungstaugliches Wissen.
24 25 26
Vgl. Wienold: Theorien. Vgl. Kerlen: Buchwissenschaft – Medienwissenschaft, S. 26f. Vgl. McQuail: Mass Communication Theory, S. 4–6.
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2.3 Position
Fach? Disziplin? Integrationswissenschaft? Angewandte Wissenschaft? Über die angemessene Positionierung der Buchwissenschaft sind bei diesen Gegebenheiten nicht nur ihre Repräsentanten selber unschlüssig. Einen solch komplexen kognitiven Status optimal in Universität, Fachhochschule und Akademie zu institutionalisieren stellt tatsächlich Verantwortliche vor eine anspruchsvolle Daueraufgabe. Das den ganzen kommunikations- und medienwissenschaftlichen Bereich thematisierende Gutachten des deutschen Wissenschaftsrates formuliert – bezeichnenderweise – zu dessen Institutionalisierung keine Empfehlungen, hält aber immerhin »ein modisches Umetikettieren etablierter Studiengänge in solche für Medien für nicht länger akzeptabel«27. Fachliche Ausrichtung und Konstitution und organisatorische Zuordnung und Etikettierung in bestmögliche Übereinstimmung zu bringen wird eben durch die damit verbundene Reputationssteigerung oder -minderung zusätzlich erschwert. Rautenberg veranschaulicht diesen Umstand mit einem Hinweis aus der buchwissenschaftlichen Alltagserfahrung: »In letzter Zeit greife ich bei der Eingangsfrage [interessierter Gesprächspartner Ulrich Saxer] nach dem Fachgebiet häufiger zu der Antwort: Medienwissenschaft. Damit kann das Gegenüber schon eher etwas anfangen, klingt modern«28. Ein weiterer Aspekt der Problemstellung dieses Beitrags kommt damit ins Blickfeld. Den Doppelaspekt der Positionierung jedes Wissenschaftssystems muss jedenfalls bereits die Analyse der Positionierungsproblematik der Buchwissenschaft berücksichtigen, bevor überhaupt sachgerechte entsprechende wissenschaftspolitische Empfehlungen formuliert werden können. Die fachliche Ausrichtung und Konstitution der Buchwissenschaft als Medienwissenschaft wird im folgenden dritten Kapitel genauer durchleuchtet. An dieser Stelle muss vorgängig lediglich noch ihre gegenwärtige akademische Institutionalisierungsform kurz charakterisiert werden: –
Akademische Disziplinen sind Wissenschaftssysteme im beschriebenen Sinn, die universitär auch als solche registriert sind. Dies ist bei der Buchwissenschaft in Deutschland in einigen Universitäten der Fall, und im übrigen je nach nationaler Buch- und Universitätskultur verschieden. Allerdings variiert die Ausrichtung der buchwissenschaftlichen Lehre und Forschung auch je nach Lehrstuhlinhaber sehr stark
27 28
Wissenschaftsrat: Empfehlungen zur Weiterentwicklung, S. 8. Rautenberg: Wie, warum … studiert man, S. 1.
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und ist je nachdem primär geschichts- bzw. kulturwissenschaftlich, wirtschafts- oder medienwissenschaftlich fundiert. Dietrich Kerlen unterscheidet denn auch die drei Felder Buchgeschichte, Buchwirtschaftslehre und Buchtheorie als vergleichende Medientheorie, versteht aber Buchwissenschaft überhaupt als Medienwissenschaft29. Eine solch intensive und verschiedenpolige Prägung eines disziplinären Profils durch einzelne Persönlichkeiten ist jedenfalls für die Frühphase einer Disziplin charakteristisch und ermöglicht nur einen prekären disziplinären Institutionalisierungsstatus. Die Buchwissenschaft präsentiert sich mithin als interdisziplinär operierende Integrationswissenschaft mit einer überdies vergleichsweise unabhängig von dieser entwickelten transdisziplinären Lehre. Was darin von Wissenschaftlern und Praktikern an Buchkundlichem vermittelt wird, entbehrt freilich weitgehend des universitären Qualifikationsmerkmals der Verbindung von Forschung und Lehre. Von der Sache her ist sie demnach institutionell der Fachhochschule zuzuordnen.
Auch in ihrer Positionierung erweist sich mithin die Buchwissenschaft als schwer fassbares, da heterogenes und akademisch wie nichtakademisch determiniertes Wissenschaftssystem. Dies erlaubt ihr nur bedingt einen Status zu realisieren, der ihre universitäre Institutionalisierung zu stabilisieren vermöchte. Und ihre Systemkonstituenten sind von solcher Art und Interaktion, dass sie wohl eine vielfältige und auch anwendungsorientierte, aber heterogene und unterschiedlich qualifizierte Wissensproduktion ermöglichen. Die weitere Klärung ihres Verhältnisses zu Kommunikationsund Medienwissenschaft, auch zur Medientechnologie, könnte ihre Anschlussfähigkeit erhöhen, ihre Systemidentität verstärken und ihre wissenschaftspolitischen Durchsetzungschancen verbessern.
3 Medienwissenschaft 3.1 Parallelen
Der Königsweg der Wissenschaft ist bekanntlich der Vergleich und Vergleichen überhaupt eine Überlebensstrategie schlechthin. Wenn von buchwissenschaftlicher,30 aber auch von behördlicher Seite die Option 29 30
Kerlen: Buchwissenschaft – Medienwissenschaft, S. 37. Vgl. Kerlen, S. 25–38; Rautenberg: Wie, warum … studiert man, S. 2.
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Medienwissenschaft als primäre Anschlussmöglichkeit der Buchwissenschaft erwogen und befürwortet wird, dann eben im Gefolge der Notwendigkeit, dieses Wissenschaftssystem im interdisziplinären Gesamtspektrum optimal zu verorten und innerhalb der Bildungsinstitutionen adäquat zu positionieren, und mithin als das Ergebnis entsprechender Vergleiche. Gerade für eine Wissenschaft, die der historischen Dimension besonders verpflichtet ist, sollte es allerdings selbstverständlich sein, solche Vergleiche nicht nur synchron, sondern auch diachron anzustellen. Wie vergleichbare andere Wissenschaftssysteme, hier namentlich die Kommunikationskomparatistik und die Publizistikwissenschaft, dieses Zuordnungsproblem gelöst haben, ist theoretisch und wissenschaftspolitisch für die Buchwissenschaft aufschlussreich. Auch die vergleichende M edien-, Publizistik- und Kommunikationsforschung (MPKfo)31 ist als Wissenschaftssystem schwer fassbar und labil, und auch ihre Ressourcen sind prekär. Wie schon ihre Bezeichnung signalisiert, operiert sie interdisziplinär und zudem international vielfältig determiniert, was die Integration, die Identitätsetablierung und auch die autonome Zielrealisierung erschwert. Entsprechend konstituiert sich weniger eine permanente Scientific community, vielmehr formen sich partikuläre Trägerschaften um dauernde oder temporäre Kommunikationsprobleme, sei es in Entwicklungsländern, sei es im sich vereinigenden Europa. Ausgehend von einigermaßen unumstrittenen buchgeschichtlichen Periodisierungen und gestützt auf Theorien des Gesellschafts- und Medienwandels wären in analoger Weise gebildete integrierende buchwissenschaftliche Schwerpunkte denkbar. Eine noch bedeutsamere Parallele zur Medienwissenschaft eröffnet indes die wachsende Einsicht der Träger der MPKfo, dass sie nicht ein Materialobjekt in ein Formalobjekt transformieren, sondern eine allgemeine Perspektive, eben die komparatistische, auf verschiedenste Art differenzieren. Die nach wie vor ebenfalls schwer fassbare Identität der Medienwissenschaft analog als Perspektive, nämlich die mediale, zu begreifen, wäre zumindest klärend, allerdings nur wenn das Basiskonzept ›Medialität‹ weiter fundiert und elaboriert wird. Noch vielfältigere Parallelen werden allerdings beim Vergleich der Geschichte der Buchwissenschaft mit derjenigen der Zeitungs- bzw. Publizistikwissenschaft, dem zur Wissenschaft von der öffentlichen, medienvermittelten Kommunikation entwickelten Fach, erkennbar: Für 31
Vgl. Saxer: Konstituenten, Leistungen und Perspektiven.
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beide Wissenschaftssysteme steht lange die optimale Definition ihres Gegenstandes im Zentrum des Fachdiskurses, aber auch der Diskussionen der Universitätsbehörden über ihre allfällige Institutionalisierung. Ausdruck von überkommenem universitärem Kulturelitarismus ist es da, wenn die Dignität des Materialobjekts ›Zeitung‹ als Gegenstand einer universitären Fachrichtung bezweifelt wird, während andererseits gewissermassen ein Zuviel an Dignität die sachgerechte wissenschaftliche Behandlung des Kulturgutes ›Buch‹ behindert. –
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32 33 34
Noch elementarer stellte das im wahrsten Sinn geflügelte Wort des deutschen Soziologen Ferdinand Tönnies die Existenzberechtigung eines Fachs Zeitungswissenschaft in Frage: Eine eigenständige Zeitungswissenschaft aus der Soziologie auszusondern sei so sinnlos wie eine Hühner- oder Entenwissenschaft aus der Mutterdisziplin Zoologie.32 Und noch 69 Jahre später, 1999, muss sich ein Habilitand im Fach Buchwissenschaft der kritischen Frage des Dekans stellen: »Wieso gibt es überhaupt Buchwissenschaft? Da könnte man doch für alles Wissenschaften erfinden, zum Beispiel auch Bananenwissenschaft«33. 1975 stellt indes auch Elisabeth Noelle-Neumann unter dem Titel Publizistik- und Kommunikationswissenschaft – ein Wissenschaftsbereich oder ein Themenkatalog? die Identität des Fachs zur Diskussion.34 Weil sie systemisch zusammenhängen, müssen gleichermaßen der Umfang und damit die Systemgrenzen sachgerecht festgelegt, das Formalobjekt optimal bestimmt und die institutionelle Eigenständigkeit der Wissenschaftsrichtung verbürgt sein, damit das betreffende Wissenschaftssystem die elementaren Systemprobleme zur Garantierung qualifizierter Wissensproduktion bewältigen kann. Buchwissenschaft wie Publizistikwissenschaft sind von vornherein transdisziplinär ausgerichtet, als sie viel in die Ausbildung von Buchpraktikern bzw. Journalisten investieren und damit ihre Institutionalisierung zugleich legitimieren und illegitimieren. Was sie so an Geltung als Sozialtechnologie gewinnen, qualifiziert sie ja im Urteil mancher Universitätsrepräsentanten eher für eine Position in einer Fachhochschule. Bezeichnenderweise entwickelt sich die Journalistik als Besonderheit neben, aber auch innerhalb der allgemeinen PublizisVgl. Bruch: Zeitungswissenschaft, S. 581. Rautenberg, Ursula: Buchwissenschaft: Zur Konstituierung eines Forschungsfeldes – oder: Was haben Buch und Banane gemeinsam? Vortrag, gehalten auf der Tagung »Buchwissenschaftliche Forschung – Bestandsaufnahme und Perspektiven«. [unveröffentliches Ms.], S. 2. Vgl. Noelle-Neumann: Publizistik- und Kommunikationswissenschaft.
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tikwissenschaft. Die Frage stellt sich, wieweit die Buchwissenschaft überhaupt die verschiedenen buchwissenschaftlichen Ausbildungsgänge überdachen kann. Die Integration der publizistikwissenschaftlichen Theoriebildung unter dem allgemeinen, durch Kommunikatoren, Medien, Kommunikaten und Rezipienten elementar bestimmten Kommunikationsmodell ist jedenfalls weiter fortgeschritten als diejenige der zwischen Kommunikations- und Warenzirkel stärker fragmentierten Buchwissenschaft. Die alte Zeitungswissenschaft erweiterte ihren ursprünglichen Zuständigkeitsbereich, indem sie ihn erst auf die Zeitschrift, dann auf Radio und Fernsehen und schließlich, längst zur Publizistikwissenschaft mutiert, auch auf Multimedia ausdehnte. Hätte sie sich dieser zusätzlichen Materialobjekte gemäss der alten »Summenformel der publizistischen Medien«35 gewissermassen in einer Serie wissenschaftspolitischer Handstreiche einfach additiv bemächtigt, wäre darüber weder eine funktionierende fachwissenschaftliche Öffentlichkeit noch eine Integrationswissenschaft von der Publizistik entstanden. Dies war erst nach der Entwicklung des genannten übergreifenden Formalobjekts und dank eines wachsenden, intermedial generalisierbaren Theoriebestandes möglich. »Umetikettierung« geistes- bzw. kulturwissenschaftlicher Disziplinen wie Literatur- oder Kunstwissenschaft in Medienwissenschaft(en)36 gemahnen mitunter an diese problematische Art der Expansion von Wissenschaftssystemen. Wenn also die Buchwissenschaft sich als Medienwissenschaft etablieren und bewähren will, dann setzt dies voraus, dass sie ihre kognitive Binnenstruktur entsprechend verstärkt und erweitert. Andernfalls ist chaotische Theorienbildung wie zeitweise und in manchem auch heute noch in der Publizistikwissenschaft37, das Resultat solcher wissenschaftlicher Anschluss- oder auch Übernahmepolitik. Unterschiedliche Wissenschaftssysteme und gar als Disziplinen institutionalisierte entwickeln ja, sind sie wirklich produktiv, irgendwie kohärente Problemstellungen und Paradigmen von einem spezifischen und nicht beliebig übertragbaren Lösungsvermögen. Chaotisch ist da eine unter dem Selbstverständnis einer Integrationswissenschaft praktizierte Theoriebildung, bei der disziplinfremde Konzepte bzw. Theoriestücke übernommen und in den Dienst disziplineigener Problemstellungen gestellt Glotz: Zeitungswissenschaft, S. 250. Vgl. Schanze: Medienwissenschaften, S. 260. Vgl. Saxer: Basistheorien und Theorienbasis.
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werden, ohne dass dies unter Beachtung konsentierter wissenschaftswissenschaftlicher Prinzipien erfolgte. Dabei können in der chaotischen, da regellosen Konkurrenz neuer Ansätze um Geltung als Paradigmen sehr wohl auch gut etablierte eigene Fachtraditionen, wie bei der brüsken Hinwendung der historisch-hermeneutisch ausgerichteten deutschen Publizistikwissenschaft zum empirisch-analytisch verfahrenden angelsächsischen Communication(s) research, zum Schaden einer produktiven Fachentwicklung in Vergessenheit geraten. Der Buchwissenschaft, die mancherorts den vollen Status einer Medienwissenschaft anstrebt, wird jedenfalls durch diese Umorientierung ein gehöriges Pensum an Umformulierungs- und Adaptionsarbeit an ihrem kognitiven Instrumentarium abgefordert. In diesem Sinne sind auch die Ausführungen in den folgenden Kapiteln 3.2 und 3.3 zu verstehen. 3.2 Basiskonzepte
Dass die Qualität von Wissenschaftssystemen im allgemeinen und von Wissenschaftskommunikation im besondern maßgeblich von gut definierten, möglichst anschlussfähigen und operationalisierbaren Begriffen und auch sonst von einem transparenten Vorgehen abhängt, dürfte allgemein anerkannt sein. Bereits über die wissenschaftstheoretischen Regeln, erst recht die methodologischen, die für die Buchwissenschaft gelten sollten, sind sich freilich die Fachvertreter nicht schlüssig. Als inter- und transdisziplinär und labil positioniertes Wissenschaftssystem ist für sie ein wenig profilierter wissenschaftstheoretischer Pluralismus mit deutlichen Präferenzen für historisch-hermeneutische Perspektiven bezeichnend. Allerdings hat sich mit der (Buch)Lese(r)forschung, in der sich buchwissenschaftliche und kulturpädagogische Motivationen häufig verbinden, ein stärker empirisch-analytisch ausgerichtetes buchwissenschaftliches Teilsystem entfaltet.38 Die Medienwissenschaft, auf die hin die Buchwissenschaft gegebenenfalls sich entwickelt, sollte sich nicht einseitig historischhermeneutisch festlegen, will sie den notwendigen Anschluss an die moderne Kommunikationswissenschaft bewahren und vertiefen. Nur so, selber komplex, vermag sie ihrem komplexen Gegenstand gerecht zu werden. 38
Vgl. u. a. Bertelsmann Stiftung: Medienkompetenz; Bertelsmann Stiftung: Lesesozialisation; Bonfadelli/Bucher: Lesen in der Mediengesellschaft; Stiftung Lesen: Lesen im internationalen Vergleich.
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Schon das Konzept ›Buchkultur‹, vieldimensional in historischen Rekonstruktionen elaboriert und substanziiert39, beinhaltet ja gesamtgesellschaftliche Reichweite40. Heinz Bonfadelli hat aus publizistikwissenschaftlicher Perspektive41 und zugleich zukunftsgerichtet deutlich gemacht, dass die Buchwissenschaft auf allen drei Gesellschaftsebenen, dem Mikrobereich der Individuen, Autoren und Leser z. B., dem Mesolevel der Organisationen, etwa Verlage oder Bibliotheken, und dem Makrolevel der grossen Funktionssysteme Kultur, Politik und Wirtschaft buchrelevante Phänomene beobachten muss, auch wenn sie sich damit den Vorwurf der »Monsterwissenschaft«42 einhandelt. Das spieltheoretische Obligat als operatives Prinzip bleibt ja trotzdem verbindlich, und nur so können auch von buchwissenschaftlicher Seite her, wie schon 1974 umfassend dokumentiert43, auf überzeugende Analysen gestützte Anregungen zur Förderung von Buch- und Lesekultur erfolgversprechend in den öffentlichen Diskurs eingebracht werden. Dazu bedarf es allerdings eines reflektierten buchwissenschaftlichen Gesellschaftsverständnisses, das gesellschaftstheoretisch, also soziologisch fundiert sein sollte. Dafür findet sich indes, in der einseitig geisteswissenschaftlich orientierten Medienwissenschaft, von Ausnahmen abgesehen44, wenig Rückhalt. Wie Gesellschaft als äußerste Determinante des Medienbzw. Buchsystems konzeptualisiert wird, als Wissens-45, Erlebnis-46, Informations-47, Netzwerk-48 oder Mediengesellschaft49 beeinflusst natürlich letztlich auch die buchwissenschaftlichen Fragestellungen und Theorieentwürfe. Ihre Aussagen zur Buchpolitik, zu Buchorganisationen und Buchkommunikation stützen sich ja, explizit oder implizit, unweigerlich auch auf Annahmen über den gesellschaftlichen Kontext, in dem diese situiert sind. Je kontrollierter, und eben nicht chaotisch, die buchwissenschaftliche Scientific community sich das entsprechende gesellschaftstheoretische Wissen aneignet, desto valider werden auch ihre Analysen und Förderungsprogramme. Als soziologisch einigermassen etabliertes Gesellschaftskonzept, auf das sich die 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49
Vgl. z. B. Giesecke: Von den Mythen der Buchkultur. Vgl. auch Rautenberg/Wetzel: Buch, S. 42–56. Vgl. Bonfadelli: Buch, Buchlesen und Buchwissenschaft. Glotz/Langenbucher: Buchwissenschaft, S. 310. Vgl. Baumgärtner: Lesen. Vgl. Ludes: Einführung in die Medienwissenschaft. Vgl. Willke: Wissensgesellschaft. Vgl. Schulze: Erlebnisgesellschaft. Vgl. Giesecke: Von den Mythen der Buchkultur. Vgl. Castells: Aufstieg der Netzwerkgesellschaft. Vgl. Imhof u. a.: Mediengesellschaft.
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Buchwissenschaft als Medienwissenschaft beziehen kann, empfiehlt sich am ehesten dasjenige der Mediengesellschaft. Gerade weil die Buchwissenschaft vielfach als Kulturwissenschaft verstanden50 und praktiziert wird, sollte sie auch auf einem klar dimensionierten, anschlussfähigen und entsprechend konsentierten Konzept von ›Kultur‹ aufbauen können. Dies ist, wie meist bei geistes- und zum Teil auch bei sozialwissenschaftlichen Basiskonzepten nicht der Fall; umso explikationsbedürftiger sind die jeweils verwendeten Kulturkonzepte. Im hier argumentationsleitenden funktionalistisch-systemtheoretischen Bezugsrahmen liegt es nahe, Kultur als jenes gesellschaftliche Funktionssystem zu verstehen, das für die mentale Strukturierung der Gesellschaftsmitglieder verantwortlich ist, indem es die verhaltenssteuernden Orientierungsmodelle hervorbringt. Ihr Hauptobjekt, analog zu Gütern und Dienstleistungen für das Wirtschaftssystem und zu Macht für das Politiksystem, ist dementsprechend Sinn, hier zu verstehen als eine Strategie der Reduktion der Zufälligkeit und widersprüchlichen Vielfalt der Erfahrungswelt und der möglichen Verhaltensweisen auf identifizierbare, vorbildhafte Muster. Kultur ist mithin in besonders ausgeprägtem Maß Kommunikation. Das Buch scheint in dieser Konzeption auch in seiner Doppelheit auf, und zugleich ermöglicht dieses Kulturkonzept eine werturteilsfreie weiterführende Interpretation dieser Crux buchwissenschaftlicher Analysen.51 Kommunikation operiert über Zeichensysteme bzw. Codes, ein Funktionssystem über einen Basiscode. Derjenige des Wirtschaftssystems lautet gemäß dessen Steuerungsmedium Geld bezahlen/nicht bezahlen, derjenige von Kultur sinnhaft/sinnlos. Die Monetarisierung von Sinn durch Buchkommunikation lässt sich so als Codewechsel begreifen und in den weiteren Zusammenhang einer elementaren Typologie von Kulturorganisation bzw. -diffusion rücken, derjenigen von Elitekultur als Kultur von Eliten für Eliten, von Volkskultur als Kultur von Nichteliten für Nichteliten und von Populärkultur als Kultur von Eliten für Nichteliten. Bringt man noch als weitere Unterscheidung diejenige zwischen Anspruchs- und Akzeptanzkultur gemäß der unterschiedlichen Zugänglichkeit von Kulturmustern ins Spiel, so erlauben diese Konzepte die kohärente theoretische Erfassung solch vieldiskutierter Probleme wie der Popularisierung von Kultur oder der sogenannten »Kostenkrankheit« der Kulturproduktion52 unter einer buchund zugleich medienwissenschaftlichen Optik. 50 51 52
Vgl. z. B. Füssel: Buch-Forschung, S. 573. Vgl. Saxer: Medienökonomie. Kiefer: Medienökonomik, S. 165–168.
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Für die Konstitution einer Medienwissenschaft und die Zuordnung der Buchwissenschaft zu einer solchen noch zentraler ist allerdings der Begriffskomplex ›Medialität‹ (›medial‹) bzw. ›Medium‹. Entsprechend vieldeutig und noch weniger einvernehmlich als selbst das Kulturverständnis der Kulturwissenschaftler ist das Medialitäts- bzw. Mediumsverständnis der Medienwissenschaftler. Die große Anschlussfähigkeit, die diesem Begriff als Sammelname auch für Disziplinen eignet, hängt mit seinem großen Umfang zusammen und dass er kaum etwas in Frage Kommendes verbindlich ausschließt. Dass ›Definieren‹ begrenzen und auch ausschließen impliziert, wird hier einmal mehr deutlich und wohl auch die Bedeutung der optimalen Begrenzung von Wissenschaftssystemen für ihre Identität und letztlich für ihre Produktivität. Aus der »Untertheoretisierung« der Buchwissenschaft führt jedenfalls die Einordnung in eine unterdefinierte Kategorie von Wissenschaften kaum heraus. Auch an dieser Stelle kann und soll freilich in Gestalt einer knappen Analyse diesbezüglicher Begriffsstrategien bloß ein weiterer Schritt in Richtung konzeptueller Fundierung der Buchwissenschaft als Medienwissenschaft unternommen werden. An vier Konzeptualisierungen kann erkannt werden, wie strategisch mit diesem für eine Medienwissenschaft konstitutiven Begriff verfahren wird: (1) Implizite Konzeptualisierung: Bemerkenswert ist der Umstand, wie oft und gerade auch in besonders repräsentativen medienwissenschaftlichen Publikationen auf eine explizite Konzeptualisierung und gar Definition von Medialität verzichtet wird. Helmut Schanze, der Herausgeber des erwähnten Lexikons Metzler Lexikon Medientheorie – Medienwissenschaft. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, betont wohl die Gängigkeit und Bedeutung des Medienbegriffs, erwägt aber mit dem Hinweis auf dessen geringe Konsentiertheit, ob es nicht angezeigter sei, von »Medienwissenschaften« statt von »Medienwissenschaft«53 zu sprechen. Entsprechend fehlt eben auch das Stichwort »Medialität«, wo hingegen unter dem Eintrag »Intermedialität« daselbst Jan Siebert erläutert, damit sei »eine gegenwärtige Forschungsrichtung« bezeichnet, »die im engeren Sinn die Bezeichnung zwischen Medien behandelt, wie sie aufgrund eines Zusammenspiels mindestens zweier distinkter Medien bestehen«.54 Auch in der einschlägigen Sammelpublikation »Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets«55, geht der Herausgeber Jörg 53 54 55
Schanze: Vorwort Metzler Lexikon, S. V. Siebert: Intermedialität, S. 152. Helbig: Intermedialität.
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Helbig auf »Medialität« nicht ein und Joachim Paech in seinem dort abgedruckten Beitrag findet es zwar begrüßenswert, dass ein anderer Autor »das Bedürfnis verspürte, einer ›Theorie der Intermedialität‹ zunächst einmal eine Theorie des Mediums vorausgehen zu lassen«56, lehnt aber den dort präsentierten Mediumsbegriff als konventionell ab und bestätigt damit ungewollt die eigene wissenschaftssoziologische Feststellung: »Intermedialität ist dabei, zu einem Marktplatz für Anschluss suchende geisteswissenschaftliche Disziplinen zu werden, die in die Jahre gekommen sind und beginnen, sich in ihrer selbstgewählten und eifersüchtig verteidigten splendid isolation unbehaglich zu fühlen.«57 Die entscheidende Frage, wo und zwischen was denn durch Intermedialität vermittelt wird, bleibt also unbeantwortet und damit ein wohl konstitutives Element dieses medienwissenschaftlichen Spezialsystems undefiniert. (2) Gesellschaftstheoretische Konzeptualisierung: Umso elaborierter, historisch und gesellschaftstheoretisch vertieft, ist Kay Kirchmanns Konzeptualisierung von Medialität im Rahmen seines monumentalen Versuchs, eine zivilisationstheoretisch fundierte Medialitätsbzw. Medialisierungstheorie zu entwickeln.58 An der Medienwissenschaft beanstandet er – analog zur älteren Publizistikwissenschaft – ein letztlich bloßes Addieren verschiedener Geisteswissenschaften zu einer »akkumulativen Meta-Disziplin«, statt der Ausdifferenzierung eines integrierten Wissenschaftssystems unter den komplementären Strukturbegriffen Medialität und Medium. Medialität stellt sich unter dieser Optik dar »als einzig mögliche Form kollektiver Weltaneignung und Realitätskonstruktion. Hierauf fussend, erwächst Medialität zu einer sozialen Struktur von übergreifender Tragweite, wobei ihre soziale Relevanz historisch durchaus differiert, insgesamt aber nicht nur isolierten Feldern sozio-kultureller Praxis zuzuschreiben ist«. Kirchmann korrigiert zudem mit dem weiteren Hinweis: »Medialität konkretisiert sich immer polymodal, weshalb ein allein auf die materielle Trägersubstanz des Medialen fixiertes Medienverständnis verfehlt ist«59, eine eng an materiellen Formaten ihres Gegenstands orientierte Buchwissenschaft und befreit die Buchhistoriographie von kulturelitären Vorurteilen. Anschlussfähig ist dieses Konzept dafür an die publizistikwissenschaftlich zentrale Theorie der Konstruktion von Me-
56 57 58 59
Paech: Intermedialität, S. 17. Paech, S. 14. Vgl. Kirchmann: Verdichtung. Kirchmann, S. 41 bzw. 61.
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dienrealität.60 Medialität präsentiert sich in dieser Konzeptualisierung jedenfalls als gesellschaftliches Totalphänomen,61 das sämtliche Ebenen des sozialen Seins durchwirkt, was freilich grundsätzliche Probleme der optimalen Begrenzung des medienwissenschaftlichen Objektbereichs aufwirft. (3) Deskriptive Konzeptualisierung: Das Medialitätskonzept, das in der gegenwärtigen Medienwissenschaft relativ konsentiert ist – wenigstens nach Ausweis von Knut Hickethiers und Gebhardt Ruschs Einführungen in die Medienwissenschaft,62 unterscheidet sich von Kirchmanns ganzheitlich aus theoretischen Prämissen abgeleiteten vor allem dadurch, dass es eher additiv und pragmatisch das in der medienwissenschaftlichen Praxis aufscheinende Verständnis von Medialität beschreibt. So formuliert Hickethier einerseits einen restriktiven Begriff von Medialität als die »spezifischen medialen (ästhetischen) Eigenschaften« von Medien und hebt diese von ihrer Technik und Institutionalisierung ab,63 listet dann aber andererseits im Folgenden »medienübergreifende Formen« der »Medialität« wie Oralität und Literalität, Theatralität und Audiovisualität auf,64 in denen diese Dimensionen wieder vermengt werden. Unter dem, neuerer französischer Theorietradition entstammenden, Begriff des Mediendispositivs sucht er dann sein Medialitätskonzept in manchem analog zu Kirchmann auf die Synthese einer apparativ organisierten gesellschaftlichen Wahrnehmungsstruktur zu bringen.65 Es gilt aber wohl nach wie vor Raimund Klausers und Rainer Leschkes Feststellung, Medienwissenschaft verfahre insgesamt vergleichsweise konzeptionsarm.66 (4) Kommunikationstheoretische Konzeptualisierung: Schließlich konzeptualisiert der Verfasser dieses Beitrags im Rahmen einer gegenwärtig erarbeiteten kommunikationssoziologischen Analyse der Mediengesellschaft Medialität ganz elementar als die Verbindung von Zeichensystem und Kanal im Kommunikationsprozess. Es ist ja die unendlich vielgestaltige Kombinierbarkeit dieser beiden Elemente, die als Mechanismus die Funktionalität von Kommunikation im allgemeinen und von Medienkommunikation im besondern maximiert und vielfältig differenziert. Das in der zweiten und dritten Konzeptualisierung herausgestellte funktionale 60 61 62 63 64 65 66
Vgl. Bonfadelli: Medieninhalte. Vgl. Klima: Totalphänomen. Vgl. Hickethier: Medienwissenschaft; Rusch: Medienwissenschaft. Vgl. Hickethier, S. 25. Vgl. Hickethier, S. 27f. Vgl. Hickethier, S. 186f. Vgl. Klauser/Leschke: Strukturmuster, S. 341.
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Zentrum von Medialität als kollektiver Wahrnehmungsstruktur ist in dieser vierten Variante ebenso impliziert wie viele weitere. Der hohe Abstraktionsgrad und die allgemeine kommunikationstheoretische Fundierung dieser Vorstellung von Medialität macht sie ja vieldimensional anschlussfähig und bringt das Medialitätskonzept in einen kohärenten Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Metaprozess der Medialisierung und ihrem unmittelbarsten Akteur, dem Medium. Medialität wird so als konstitutives Element von Kommunikation anthropologisch verwurzelt, die ontologisierende Redeweise vom Wesen irgendeines Mediums, auch des Buchs, damit gegenstandslos. Auch die chaotischen Reaktionen auf Makro-Medienwandel werden bei dieser Konzeptualisierung als Ausdruck von Ratlosigkeit über die Erschütterung je spezifisch etablierter Weltgewissheit als Resultat institutionalisierter Verfestigung von Zeichensystem, Schrift und Kanal, z. B. Papier, nachvollziehbarer.67 Medialität historisch, sozial, kulturell, wirtschaftlich oder politisch kann auf dieser konzeptuellen Basis durch dimensionale Analysen und entsprechende Problemstellungen hin konkretisiert und weiter theoretisiert werden. Buchmedialität im Besondern, als Verbindung von Zeichensystemen und Kanal, vorrangig kommunikativ wie ökonomisch definiert, lässt sich so buchwissenschaftlich in eine Medienwissenschaft integrieren und das Medium Buch als spezifischer Akteur im Kommunikations- bzw. Wirtschaftssystem und im weiteren Gesellschaftskontext theoretisch verorten und bezüglich seiner Implikationen empirisch erforschen. Ein medienwissenschaftlich fundiertes Buchkonzept setzt freilich ein theoretisch kohärentes und anschlussfähiges Mediumskonzept voraus. Das erwähnte, vom Verfasser dieses Beitrags im Handbuch Medienwissenschaft entwickelt,68 ist immerhin in der Scientific community relativ akzeptiert und geeignet, die buchwissenschaftlichen Arbeitsfelder medienwissenschaftlich zu ordnen und das darin Geleistete unter dieser Optik zu würdigen. 3.3 Arbeitsfelder
Die Gegenstände der gegenwärtigen Buchwissenschaft, die noch kaum ein kohärentes Formalobjekt bearbeitet, sind das Medium Buch, seine Bereitstellungsqualitäten,69 schwergewichtig Buchkommunikation und -wirtschaft 67 68 69
Vgl. Saxer: Basistheorien und Theorienbasis, S. 184. Vgl. Saxer: Forschungsgegenstand. Vgl. Platte: Soziologie der Massenkommunikationsmittel, S. 11–51.
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und Buchfunktionalität überhaupt. Die Buchwissenschaft arbeitet dementsprechend in sehr unterschiedlich strukturierten Subsystemen und als wissenschaftliches Gesamtsystem wenig integriert und profiliert. Da auch die Medienwissenschaft als Wissenschaftssystem mit vergleichbaren Integrations- und Identitätsproblemen konfrontiert ist, müssen die Repräsentanten der Buchwissenschaft dafür besorgt sein, dass mit deren neuem Selbstverständnis als Medienwissenschaft Schwächen ihres Problemlösungsvermögens tatsächlich vermindert und nicht perpetuiert oder gar verstärkt werden. Die Chancen einer solchen Zuordnung bestehen jedenfalls in erster Linie in der Erschliessung eines integrierenden theoretischen Fokus für die auseinander driftenden Richtungen historischer, kultur-, wirtschafts-, sozial- und kommunikationswissenschaftlich orientierter Buchwissenschaft und daraus resultierenden Synergien für eine qualifizierte Wissensproduktion. In diesem Sinne muss hinsichtlich der Bewältigung der vier elementaren Probleme jedes Wissenschaftssystems aber festgestellt werden, dass auch die Medienwissenschaft in nur prekär integrierten und mithin wenig koordinierten Subsystemen arbeitet. Die tatsächliche Forschungspraxis ist nach wie vor in starkem Maß auf einzelne Medien ausgerichtet, wie die Anlage des repräsentativen Handbuchs Medienwissenschaft 70 belegt, und an je disziplinspezifischen Paradigmen orientiert. Darum steht auch als Stichwort »Medienwissenschaften« im Metzler Lexikon Medientheorie – Medienwissenschaft. Ansätze – Personen – Grundbegriffe 71 und lautet der Vorschlag Siegfried Schmidts, statt Interdisziplinarität anzustreben, KoDisziplinarität zu praktizieren, und zwar »auf der Basis eines gemeinsamen expliziten Medienkonzepts«72. Dieses Mediumskonzept muss dem expansiven Gegenstand gerecht werden und einen – im großen – gemeinsamen Fragehorizont erschließen, auf den hin unterschiedliche Arbeitsfelder sich konstituieren. Auf diese Weise bleiben diese aber demselben »Grundlagendesign«73 verpflichtet. Ein solches Konzept, das nach Ansicht mancher Fachvertreter eine solche Integrations- und Systematisierungsleistung erbringt, fasst die folgende Nominaldefinition zusammen: Medien sind komplexe institutionalisierte Systeme um organisierte Kommunikationskanäle von spezifischem Leistungsvermögen.
70 71 72 73
Leonhard u. a.: Medienwissenschaft. Schanze: Medienwissenschaften. Schmidt: Nachbardisziplinen, S. 59. Schmidt, S. 59.
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Entlang den sechs hier genannten Dimensionen lassen sich die medien- bzw. buchwissenschaftlichen Arbeitsfelder unter einem gemeinsamen Grundlagendesign ordnen. Generell gilt aber, dass unterschiedliche Intensität der Ausprägung dieser Dimensionen für verschiedene Entwicklungsphasen von Medialität bezeichnend ist: (1) Systemhaftigkeit: Medien sind Organisationen von Elementen und nur funktionsfähig, wenn diese kooperieren. Systemhaftigkeit impliziert ja, dass Veränderungen eines Systemelements das System als Ganzes verwandeln und daher keine der sechs konstitutiven Dimensionen bei Medienanalysen vernachlässigt werden darf. Die Verbindungen zwischen den Elementen sind allerdings bei Medien, weil primär Kommunikationssysteme, eher variabel, vielfach lose und besonders störanfällig. Von der Textniederschrift des Autors bis zur Lektüre des Gedruckten durch den Bucheigentümer oder entleiher ist die Her-, Bereitstellungs- und Nutzerkette lang, und entsprechend vielfältig sind die Möglichkeiten, dass sie durch Missverständnisse fehlgeleitet oder überhaupt durch Kommunikationsverweigerung abgebrochen wird. Dem Isomorphieprinzip von Wissenschaft entsprechend muss die Struktur buchwissenschaftlicher Modellierung diese Systemhaftigkeit ihres Gegenstandes widerspiegeln. In der Intermedialität als gängiger neuzeitlicher Erfahrung von Medienkommunikation und in der Epoche von Multimedia überdies mehr und mehr Prinzip ihrer Produktion kommt im Übrigen die Systemhaftigkeit von Medien besonders viel dimensional zum Tragen. In ihre gesellschaftliche Umwelt sind Medienorganisationen erst recht systemisch eingefügt. Selbst wenn Tendenzen zu elitekultureller Abschottung von Buchsystemen immer wieder durchschlagen, verfolgen die elementar auf Austausch angewiesenen Buchproduzenten seit längerem Strategien elitewie populärkultureller Marktpenetration. Auch die Schule, wichtigste Instanz von Lesesozialisation, lehrt mehr und mehr multimedial und intensiviert so die Interpenetration von Mediensystem und Gesellschaft. (2) Technizität: Systemisch operiert in einem umfassenden Maß auch die Kommunikationstechnologie, die in beschleunigter Abfolge neue Kanäle für die Vermittlung immer weiterer Zeichensysteme hervorbringt. Dies ist dank eines wachsenden Bestands von Basistechniken bzw. Technikelementen möglich, die ständig um- und neukombiniert werden, dank fortgesetzter Systemintegration und -kumulation also. Jede Kommunikations- bzw. Medientechnik stellt ja ein spezifisches und in bestimmter Weise beschränktes Lösungspotenzial von Kommunikationsproblemen dar, das man durch konsequente Ausmerzung mediumsspezifischer Schwächen und
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die Weiterentwicklung der eigenen Vorzüge fortwährend zu optimieren sucht. So wurde die vergleichsweise geringe Aktualität des Buchs durch radikale Verkürzung seiner Produktionszeit stark erhöht, allerdings zum Teil auf Kosten von Herstellungssorgfalt. Die elementare Leistung von Kommunikationstechniken, die Vergegenwärtigung von Abwesendem, wird überhaupt technologisch durch Maximierung der Speicherung, des Transports, der sinnlichen Qualität und der Vervielfältigung von Zeichen fortwährend gesteigert. Wieweit hier das Medium Buch mithalten kann und soll und in welcher Gestalt, muss buchwissenschaftlich zumindest erwogen werden, und zwar auf dem Hintergrund einer medienpolitischen Dauerdiskussion darüber, wieweit kommunikationstechnische Maxima auch gesellschaftliche Optima verbürgen. In Gestalt des »elektronischen Buchs« gewinnt der Nutzer zwar multisensorische Textstimuli wie die freie Kombinierbarkeit von Hypertexten anstelle von linear-sequentieller Ordnung und mannigfache zielgenaue Suchmöglichkeiten; dies aber nur bei hoher flexibler Medienkompetenz und an Stelle gesicherter Leseroutinen, auf Kosten früherer Textstabilität und überhaupt der die Identität des Mediums Buch bislang definierenden »feste(n) Verbindung von Zeichen mit einem Trägerstoff«74. (3) Komplexität: Durch diesen Wandel wird aber die Bereitstellungsqualität, das ›Dispositiv‹ des Mediums Buch elementar verändert. Diese umfasst neben den medienspezifischen Zeichensystemen die jeweiligen Inhalte, die Technik des Bereitstellungsvorgangs, von der Periodizität der Produktion bis zu ihren Formaten, die Bereitstellungsdauer, -räume und -kosten.75 In der Bereitstellungsqualität wird indes nur ein Aspekt von Medienkomplexität erkennbar, wie folgendes Schema dieser funktionalen Zusammenhänge veranschaulicht.
74 75
Rautenberg/Wetzel: Buch, S. 38–41. Vgl. Platte: Soziologie der Massenkommunikationsmittel, S. 11–51.
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Abb. 1: Die Komplexität von Medienleistung
Im engeren Arbeitsfeld Medienkomplexität steht die Medienleistung im Vordergrund, dasjenige, was Medien jeweils von ihrem Organisationszweck realisieren, während in der Funktionalitätsdimension das gesamte mediale Problemlösungs- und -verursachungspotenzial untersucht wird. Medienleistung, geht man davon aus, Medien hätten Kommunikationsangebote, immaterielle und materielle, her- bzw. bereitzustellen, die eine gewisse Akzeptanz finden, ist folglich doppelt definiert, nämlich durch das Medienprodukt und dessen Akzeptanz. Das erstere wird durch die allgemeine mediumsspezifische Bereitstellungsqualität und das konkrete inhaltlich-formale Angebot bestimmt sowie dessen Akzeptanz durch das jeweilige Geltungsbild des Mediums, sein Gratifikationsprofil und die konkrete Mediennutzung. Diese Leistung ist das Ergebnis des Zusammenwirkens einer mehr oder minder großen Zahl von Subsystemen, von Herstellungs-, Verbreitungs- und Abnahmeorganisationen, und in diesem Sinne konstituieren Medien immer – wenn auch unterschiedlich – komplexe Sozialsysteme. Medienfunktionalität hingegen umfasst weit mehr und reicht von der Hilfestellung in individuellen und kollektiven Krisensituationen über die Etablierung von Kulturhierarchien bis zur integrativen und desintegrativen Einflussnahme auf dem politischen Makrolevel. Die zunehmende Komplexität moderner Mediensysteme und ihre Expansion zu gesellschaftsbestimmenden Quartärsektoren der Kommunikation stellt im übrigen ein Resultat gesellschaftlicher Differenzierung dar: Ihrer wachsenden Eigenkomplexität begegnen moderne Gesellschaften mit Vergrößerung ihrer medialen Komplexität. Hierin erweist sich auch einmal mehr, dass Medien- und desgleichen Buchtheorie ohne gesellschaftstheoretische Fundierung Medienwandel nur sehr rudimentär erklä-
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ren kann. Dass Medienwandel mehrheitlich disparitär, nämlich in den verschiedenen medialen Dimensionen in je anderem Rhythmus verläuft, wird im übrigen auf dieser konzeptuellen Basis auch leichter verständlich. (4) Organisiertheit: Systemhaftigkeit, Technizität und Komplexität implizieren auch Organisiertheit von Medien, d. h. die Rationalisierung kollektiven Handelns zur Realisierung bestimmter Zwecke vornehmlich durch Arbeits-, Funktionsteilung und Hierarchie. Im Gefolge der ideellmateriellen Doppeldefinition des Mediums Buch schaltet sich einerseits eine sehr große Vielfalt von Organisationen in Verfolgung der verschiedensten Zwecke in die Buchkommunikation und in den Buchhandel ein,76 andererseits bereitet die Organisation der Buchproduktion wie der Medienproduktion generell besondere Schwierigkeiten. Medien stellen als Dienstleistungsorganisationen mit kommunikationstechnischen Mitteln massenhaft Unikate her bzw. bereit. Ihnen obliegt es, kulturwirtschaftliche Massenproduktion und Kreativitätsförderlichkeit effizient zu vereinigen. In diesem Sinne wird in Medienorganisationen den Trägern kreativer Rollen regelmässig ein größerer Freiheitsspielraum zugestanden als den exekutiv-technischen Chargen. Wie gut in den Verlagen, von der Autorenpflege über die Rollenprofile von Lektoren und Buchgestaltern bis zu denjenigen in Technik und Administration, diese Aufgabe auch im Lichte betriebspsychologischer und -soziologischer Erkenntnisse gelöst wird, stellt fachwissenschaftlich wie auch im medienwissenschaftlichen Vergleich ein empirisch ergiebiges Forschungsfeld dar. Zentral ist unter diesen Umständen das Problem der Sicherung von Organisationsstabilität bei Wahrung ausreichender Flexibilität. Medien als Kommunikationssysteme sind ja als Anbieterorganisationen ohne gesicherte Nachfrage wegen des grundsätzlich unbeschränkten Nutzeranschlusses, aber auch der stets möglichen Nutzungsverweigerung, essentiell instabil. Sie unternehmen in neuerer Zeit denn auch mehr und mehr Anstrengungen ihre Abnahmesysteme zu stabilisieren, von der Organisation von Buchgemeinschaften bis zu Lese- und weiterer Marktforschung. Auch auf der Zulieferseite wird kulturelle Kreativität, weil sich immer mehr Kommunikationskanäle in sie teilen müssen, stärker organisiert. Die wirtschaftlich bedingte Organisationskonzentration in der Medienindustrie ist dabei nur eine Entwicklungslinie, indem sie zumal Marktnischen für Kleinverlage öffnet, die spezifische Leserbedürfnisse aus größerer Kundennähe befriedigen können.77 Die Buchwissenschaftler und die Medien76 77
Vgl. u. a. Heinold: Bücher und Büchermacher. Vgl. Heinold, S. 13.
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wissenschaftler generell sollten jedenfalls bei ihren organisationsbezogenen Analysen und etwaigen kommunikationspolitischen Interventionen auch die Befunde der wirtschaftswissenschaftlichen Konkurrenztheorien berücksichtigen. (5) Funktionalität: Unter den Analysen der Mediumsdimensionen steht neben derjenigen der Systemhaftigkeit diejenige der Funktionalität im Vordergrund der hier konzeptualisierten Medienwissenschaft und so auch der Buchwissenschaft, soweit sie sich als Medienwissenschaft begreift. Eu- und Dysfunktionalität der Existenz und des Wirkens von Medien bilden natürlich den Gegenstand ebenso unzähliger disziplinärer und interdisziplinärer Analysen wie transdisziplinärer Interventionen zwecks ihrer Optimierung. Das – auch längerfristig – spezifische Leistungsvermögen von Buchkommunikation zu bestimmen muss da das primäre Anliegen einer kommunikationstheoretisch orientierten Buch- als Medienwissenschaft sein, und zwar auf dem gesellschaftlichen Mikro-, Meso- und Makrolevel. Nur so kann sie die vieldimensionale Funktionalität der Buchkultur sachgerecht und umfassend genug erhellen, dass ihre Optimierung gegebenenfalls auch als kulturpolitisches Tractandum vordringlich wird. Allerdings fällt die Identifikation eines spezifischen Erkenntnis- und Optimierungsobjekts Buchkommunikation immer schwerer, wenn linearsequentielle Zeichenanordnung und die feste Verbindung mit ihrem Trägerstoff nicht mehr dafür konstitutiv sind. Zwischen fachlicher Marginalisierung infolge defizitärer Gegenstandsbestimmung und (zu) viel versprechender »Monsterwissenschaft« gilt es optimale Strategien für qualifizierte Wissensproduktion zu entwickeln. Weil es an generell akzeptierten Funktionstypologien von Medien und Medienkommunikation im allgemeinen und Buch und Buchkommunikation im speziellen mangelt, findet die Buchwissenschaft hier ein besonders vielfältiges, freilich auch anspruchsvolles konzeptionelles, theoretisches und empirisches Arbeitsfeld. Vor allem sind hier transdisziplinäre Anschlussmöglichkeiten besonders viel versprechend. »Der Funktionalitäts-Begriff erlaubt es [nämlich Saxer], Phänomene von direkter Intentionalität (auf individueller Ebene) bis hin zu indirekten, hochkomplexen Wirkeffekten höherer Ordnung (auf sozialer Ebene) zu integrieren«78. Handlungs- und Systemtheorie können, wie für die Analyse von Buchsystem und -kommunikation unerlässlich, unter funktionalistischer Optik zusammengeführt und diese so auch auf allen drei Gesell78
Vgl. Groeben: Funktionen des Lesens, S. 23.
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schaftsebenen kohärent beobachtet werden. Dabei muss allerdings noch sehr viel konkrete Evaluations-, Vergleichs- und Transformationsarbeit in eine wissenschaftstheoretisch und methodologisch qualifizierte Zusammenschau der unterschiedlichen buch- und medienwissenschaftlichen Perspektiven investiert werden. Als Ausgangspunkt und Zentrum einer integrierten Buchwissenschaft empfiehlt sich die Lese(r)forschung. In dieser Hinsicht ist ja bereits besonders viel empirisch und auch unter funktionalistischer Optik geforscht worden79 und zumal in den Untersuchungen zur Lesesozialisation80 und den Programmen zur Medienpädagogik81 wird vielfältig inter- und transdisziplinär gearbeitet. Mit dem Titel Lesen in der Mediengesellschaft 82 wird die entsprechende buchwissenschaftliche Agenda gültig benannt. (6) Institutionalisiertheit: Um deren Funktionalität zu optimieren, institutionalisieren Gesellschaften Medien, d. h. nehmen sie gemäß bestimmten Normen in ihren Dienst. Als »Institutionen« bezeichnet die Soziologie relativ dauernde Regelungsmuster, die sich auf wichtige Bedürfnisse beziehen; entsprechend rechnen sie zum Ordnungsgefüge der Gesellschaft, zu ihren Strukturen und basieren auf bestimmten Sinndeutungen; sie begründen korrespondierende Erwartungen und Verhaltensweisen und verfügen vielfach über ein materielles Substrat. Wie unerlässlich es ist und war, die Etablierung der Buchtechnik zu institutionalisieren, erhellt schon allein aus dem Umstand, dass effiziente Produktionsorganisationen – und von der Nutzerseite her Lesekompetenz – elementare Voraussetzungen der Entwicklung einer Buchkultur sind. Die lange Geschichte der Buchzensur wiederum, vom erst 1967 aufgehobenen »Index librorum prohibitorum« des Apostolischen Stuhls bis zur trotz allem Aufwand nur bedingt wirkungsvollen Buchpolizei moderner Diktaturen veranschaulicht sowohl die Vorstellungen von Machthabern über die Macht des gedruckten Wortes als auch ihre Ohnmacht, dieses zentralistisch zu regulieren. Schrift, Buchdruck, erhöht wohl die Kontrollierbarkeit der Kommunikation durch Vergleichbarkeit des Geschriebenen, vermindert sie aber durch die Trennung von Emission und Rezeption. Das Konzept der Institution bzw. Institutionalisierung ist jedenfalls als buchgeschichtliche Klammer dienlich und reiht Buchhistorie zudem theoretisch überzeugend in die allgemeine Mediengeschichte ein. 79 80 81 82
Vgl. u. a. Saxer/Langenbucher/Fritz: Kommunikationsverhalten. Vgl. z. B. Bertelsmann Stiftung: Lesesozialisation; Groeben/Hurrelmann: Lesesozialisation. Vgl. Bertelsmann Stiftung: Medienkompetenz. Bonfadelli/Bucher: Lesen in der Mediengesellschaft.
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Zugleich lässt sich so auch systematisch das Buch im Gesellschaftsund Mediensystem strukturell positionieren83: In Demokratien liberal institutionalisiert und damit der Regulierung durch Marktmechanismen überantwortet soll es doch auch meritorische Leistungen84 erbringen, wie sie sonst nur vom dank demokratisch kontrollierter Institutionalisierung gebührenfinanzierten öffentlichen Rundfunk erwartet werden. Weil institutionelle Regelungsmuster der tatsächlichen Entwicklung von Medienkommunikation nachhinken oder auch vorangehen können, ist die Institutionentheorie im übrigen eine unverzichtbare Erklärungshilfe für disparitären Medienwandel. Der Zusammenhang von Gesellschafts- und Medienwandel bildet ohnehin den Rahmen eines weiteren zentralen Arbeitsfeldes einer ganzheitlich orientierten Buchwissenschaft.
4 Fazit 4.1 Wissenschaftssystem
Im Lichte dieser höchst rudimentären parallelen Darstellung konstitutiver Elemente der Buchwissenschaft und solcher der Medienwissenschaft(en) kann nun abschliessend und zusammenfassend versucht werden, Buchwissenschaft als Medienwissenschaft zu konzeptualisieren. Massgeblich ist dabei der unter 1.1 entworfene Bezugsrahmen und mithin das Problemlösungsvermögen eines solchen Wissenschaftssystems. Ein Soll-Zustand wird zudem mit dem Ist-Zustand in Verbindung gebracht, weshalb diesem Fazit auch postulatorische Elemente eignen: (1) Auch als Medienwissenschaft konzeptualisiert arbeitet die Buchwissenschaft inter- und transdisziplinär. Dadurch, dass sie so für einen weiteren Kreis von Wissenschaften systematisch anschlussfähig wird, reduziert sie die Gefahr ihrer Selbstmarginalisierung als Wissenschaftssystem. Darin ist sich die buchwissenschaftliche Scientific Community wohl weitgehend einig85. Produktive Ausweitungen des buchwissenschaftlichen Fokus sind in den verschiedensten Richtungen möglich, sei es in der Gestalt der semiotischen Verankerung des Buches in der Alltagskultur,86 sei es durch das Zusammensehen von Kultur- und Wirt83 84 85 86
Vgl. Saxer: Buch in der Medienkonkurrenz, S. 211–221. Vgl. Kiefer: Medienfunktionen. Vgl. u. a. Keiderling: Buchwissenschaft als Konzept. Vgl. Rautenberg: Buch in der Alltagskultur.
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schaftswissenschaften im Zeichen von Marshall McLuhans Gutenberg galaxy.87 Die Schwierigkeiten interdisziplinärer Wissenschaftspraxis bleiben aber die gleichen, und an die grundsätzlichen Probleme der Umsetzung von Theorie in wissenschaftlich qualifizierte Handlungsanweisungen, z. B. an Buchproduzenten, -vermittler, -pädagogen und -politiker tragen die Medienwissenschaften wenig bei. (2) Qualifizierter im Sinne der Prinzipien Isomorphiepostulat und Werturteilsabstinenz und des spieltheoretischen Obligats kann die Buchwissenschaft als Medienwissenschaft in verschiedener Hinsicht arbeiten, vorausgesetzt sie entschärft durch diese Erweiterung ihres Kompetenzbereichs ihre konstitutiven Probleme und vermengt sie nicht um diejenigen der Medienwissenschaft(en). Isomorphie und in sich konsistente Modellierungen ihres Gegenstandes hängen maßgeblich von der optimalen Definition ihres Formalobjekts ab, und diese wiederum davon, ob sie sensibel, aber nicht chaotisch auf Veränderungen ihres Materialobjekts Buch reagiert. Dann, und zumal wenn intermedial vergleichende Funktionalitätsanalysen sachgerecht und systematisch vorgenommen werden, verzerrt auch die Basiswertung vieler Buchwissenschaftler, Buch-Bereitstellungsqualität und kulturelle Höherqualifizierung seien gleichbedeutend, die buchwissenschaftliche Theorienbildung weniger. Im Sinne des spieltheoretischen Obligats handeln die Buchwissenschaftler auch nur dann, wenn sie ihre Selbstidentifikation als Medienwissenschaftler dazu nutzen, synergieträchtige Kooperationen mit andern Medienwissenschaftlern einzugehen und durch Beweise der Praxisdienlichkeit buchwissenschaftlicher Forschung, Beratung und Lehre zusätzliche Ressourcen aus dem Buchund Mediensystem für dieses Wissenschaftssystem zu erschliessen. (3) Aus der Positionierung der Buchwissenschaft als Medienwissenschaft erwachsen ihr hingegen in jeder Beziehung Vorteile, und zwar um so mehr, je konsequenter und systematischer sie diese Zuordnung in Theorie und Praxis realisiert. Gerade für die sachgerechte Theoriebildung über den sehr komplexen Gegenstand, den sie bearbeitet, darf aber diese Positionierung als Medienwissenschaft nicht ausschliesslich sein, da für eine ausreichend komplexe theoretische Modellierung von Buch und Buchkommunikation Gesellschaftstheorie, Kognitionspsychologie, Medientechnologie und weitere Wissenschaften berücksichtigt werden müssen. Anwendungsorientierten Disziplinen wie z. B. der Betriebswirtschaftslehre oder auch der Erziehungswissenschaft muss sich die Buch87
Vgl. Wunderlich: Kompetenzbereich Buchwissenschaften.
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wissenschaft ebenso offen halten, will sie in der Verlagsberatung und Leseförderung kompetent mithalten. Für die Binnenstrukturierung der Buchwissenschaft impliziert diese Umpositionierung entsprechende Anpassungen der Gegenstandsbestimmung, von Basiskonzepten und Theorien und neue Forschungsdesigns, alles freilich immer nach Maßgabe der knappen Ressourcen des Wissenschaftssystems.88 (4) Zentral ist, als konstitutiver Rahmen von Buch- als Medienwissenschaft, die sachgerechte Umdefinition ihres Beobachtungsfeldes und ihres Formalobjekts. Davon hängt weitgehend die Bewältigung der vier elementaren Systemprobleme ab. Als soziale Totalphänomene, die sämtliche Sphären des Seins in modernen Gesellschaften durchwirken, werden Medialität und Medienkommunikation überhaupt nur über die Bestimmung eines Formalobjekts theoretisierbar. Schon das diesbezügliche Ungenügen der Buchwissenschaft, manifest in ihren erfolgsarmen Bemühungen um eine theoriefähige Buchdefinition, weist auf die Notwendigkeit hin, auf einer generelleren Ebene als derjenigen mehr oder minder willkürlich definierter Einzelmedien ein buchwissenschaftliches Formalobjekt anzusiedeln und im Anschluss zu spezifizieren. Diese generelle Ebene wird hier in der Gestalt des explizierten Medienkonzepts unter der Annahme vorgestellt, aus diesem lasse sich konkretisierend ein theorie- und anschlussfähiges buchwissenschaftliches Formalobjekt ableiten. Dies wäre von dieser Scientific Community zu leisten. (5) Die damit zugleich angesprochene Aufgabe, für die als Medienwissenschaft verstandene Buchwissenschaft Basiskonzepte zu entwickeln, betrifft in erster Linie deren breitere interdisziplinäre Abstützung und Konsentierbarkeit. Diese Arbeit ist wohl anspruchsvoll und mühsam, wie am Medialitätskonzept dargelegt, aber für konsistente und auch empirisch testbare Theorienbildung zu Buchkommunikation, Buchhandel und erst recht Buchkultur unerlässlich. Bei inter- und gar transdisziplinären Projekten, etwa zum Problem des Aufbaus unterschiedlich strukturierter Wissensbestände im Gefolge je anderer Mediennutzung, muss ja von gemeinsamen, operationalisierbaren Konzepten, in diesem Fall von »Wissen«, ausgegangen werden können, die ihrerseits theoretisch fundiert sein sollten. Die frühere Forschung zur sogenannten Wissenskluft-Perspektive, die Wissensvorsprünge eifriger Buchleser ermittelte, versäumte es z. B., anfänglich, die Motivation für Wissenserwerb ausreichend zu berücksichtigen, die von der je anderen Dienlichkeit medienvermittelten Wissens für 88
Vgl. Schmidt: Nachbardisziplinen, S. 60.
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unterschiedliche Rezipienten abhängt. Nur schon dieses Beispiel zeigt, welcher konzeptueller Abgleichungsarbeit es bedarf, damit geistes- und sozialwissenschaftliche Ansätze in einer als interdisziplinäre Medienwissenschaft praktizierten Buchwissenschaft produktiv zusammengebracht werden können. (6) Was die Regeln einer Buchwissenschaft betrifft, die als Medienwissenschaft ihr Problemlösungsvermögen verbessern will, so wird sich der wissenschaftstheoretische und -praktische Pluralismus der Normen und Standards, gemäß denen in ihr geforscht und gelehrt wird, eher vergrößern. Bei der Vielzahl und Vielfalt medienwissenschaftlicher Gegenstände und der sie bearbeitenden Disziplinen89 kann sich nur fallweise partikuläres Einverständnis über wissenschaftliche Qualität etablieren und wie sie zu garantieren sei. Der diesbezügliche Abstimmungsbedarf wächst bei dieser Erweiterung der Fachperspektive auf jeden Fall. Dafür wird sich eine Buchwissenschaft, die sich als Medienwissenschaft versteht, verstärkt sozialwissenschaftlicher Theorie und Empirie öffnen, dabei aber bemüht sein, die geschichtliche Dimension ihres traditionsreichen Gegenstandes weiter zu erhellen und dabei auch historisch-hermeneutische Interpretationsweisen pflegen. Umgekehrt reintegriert z. B. die primär sozialwissenschaftlich ausgerichtete Publizistik- und Kommunikationswissenschaft neuerdings vermehrt wieder kulturwissenschaftliche Ausrichtungen, etwa in der Gestalt linguistischer Ansätze. Annäherungen in ihren Normsystemen sind also beiderseits nicht zu übersehen. (7) Eine umfassende Integration der Buchwissenschaft auf der Ebene der Theorien bzw. Paradigmen ist dennoch (noch) nicht in Sicht. Zu unterschiedlich argumentieren Buchhistoriker, Verlagsanalytiker, Bibliothekswissenschaftler, Lese(r)forscher und Lesekulturtheoretiker, als dass auch nur ein gemeinsames Verständnis von ›Theorie‹ etabliert werden könnte. Gesicherte fachliche Wissensbestände müssen in der Lehre wohl überwiegend additiv vermittelt werden. Auch präsentieren sie sich stark deskriptiv. All dies sagt indes wenig über, für oder gegen die Qualität des hier Geleisteten aus. Entscheidend auch für ihre Wissenschaftlichkeit ist vielmehr, wieweit buchwissenschaftliche Ansätze explizite Problemstellungen in Bezug auf Medien mit Hilfe »expliziter Problemlösungsverfahren intersubjektiv nachvollziehbar lösen und die Problemstellungen in überprüfbarer Form kommunizieren«.90 Offenkundig ist nur, dass primär historisch ausgerichtete Fachtraditionen, stark normative Kulturtheorie 89 90
Vgl. Rusch: Transdisziplinäres Forschungsprogramm, S. 73. Schmidt: Nachbardisziplinen, S. 59.
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und ausschließlich sozial- bzw. wirtschaftswissenschaftlich orientierte Empirie nur sehr lose verbundene Wissenschaftssysteme zu realisieren vermögen. Ihre Problemstellungen sind so verschieden, dass auch ihre Paradigmen erst sekundär, namentlich in gemeinsamen Curricula, zusammengeführt werden können. Auch die Positionierung der Buchwissenschaft als Medienwissenschaft vermag, bei deren gegenwärtiger Verfassung, nur sehr bedingt mehr buchwissenschaftliche Identität und Integration zu stiften. (8) Ein Fazit über die Bewältigung der vier elementaren Systemprobleme durch die Buchwissenschaft als Medienwissenschaft zu ziehen fällt angesichts dieser komplexen und auch wenig transparenten Konstellation schwer. Ohnehin ist diese Positionierung stärker erst wissenschaftspolitisches Programm als fachwissenschaftliche Realität. Entwicklungen zeichnen sich aber bereits ab, und diese sind vor allem hinsichtlich der Meisterung der Adaptationsproblematik viel versprechend: Durch ihre Profilierung als Medienwissenschaft transzendiert die Buchwissenschaft ihre eher marginale Position, findet Anschluss an einen Wissenschaftskomplex von längerfristig bemerkenswerten Chancen und profitiert von vielfältigen Anregungen aus diesem für die weitere Ausarbeitung einer spezifischen, aber eben umfassender abgestützten Perspektive. Die Integration einer medienwissenschaftlich konzeptualisierten Buchwissenschaft oder zumindest Buchforschung wie von Medienwissenschaft überhaupt lässt sich am ehesten über ein theoretisch valides und interdisziplinär konsentierbares Mediumskonzept, wie eines hier vorgestellt wurde, befördern. Ein solches erleichtert wiederum die Entwicklung eines Formalobjekts, das diesem Wissenschaftssystem zu profilierterer Identität als bislang verhilft. Schließlich können auf dieser Grundlage auch sachgerechter dessen Ziele definiert und unter Beachtung der drei hier als verbindlich deklarierte Prinzipien auch eher realisiert werden. 4.2 Wissenschaftspolitik
Aus diesem Koordinatensystem – denn um mehr handelt es sich nicht – das die Buchwissenschaft der Medienwissenschaft zuordnet, sollen abschließend und ganz knapp noch drei wissenschaftspolitische Folgerungen gezogen werden: –
Vom Gegenstand her und zumal im Lichte der möglichen Steigerung ihres Problemlösungspotenzials stellen die Positionierung und Strukturierung der Buchwissenschaft als Medienwissenschaft eine
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–
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günstige Option dar. Sie muss hinsichtlich sämtlicher Elemente des Wissenschaftssystems entschiedener wahrgenommen werden. Es beginnt mit dem verstärkten Bemühen um ein konsentiertes Formalobjekt von Buch- als Medienwissenschaft, da nur ein solches den effizienten Einsatz der beschränkten Ressourcen des weiterhin kleinen Fachs erlaubt. Mit dem gleichen Ziel, aber auch für dessen Reputationsmehrung ist Qualitätssicherung des Wissenschaftssystems in Gestalt wissenschaftstheoretischer und methodologischer Reflexion und Kontrolle durch eine kritische Fachöffentlichkeit, entsprechende Curricula, Prüfungsordnungen etc. zu intensivieren. Bei Problemstellungen und Theorienwahl schließlich sollte vermehrt auf deren inter- und transdisziplinäre Anschlussfähigkeit geachtet werden. Die institutionelle Sicherung des Fachs als eigenständige Disziplin muss mithin für eine Buchwissenschaft als Medienwissenschaft nicht prioritär sein. Zwar sollen die Binnenstrukturen eines Wissenschaftssystems und seine organisatorische Positionierung einander entsprechen, aber die Entscheidung für eine Buchwissenschaft als Medienwissenschaft ist, zumindest idealiter, primär eine theoretische. Andere Ziele des Wissenschaftssystems werden ja damit definiert als bei einer Einzelmedienwissenschaft für das Buch. Wenn sich das Fach mit einem anschlussfähigen, qualifizierten Problemlösungspotenzial präsentiert, ist seine akademische, behördliche und mediale Umwelt auch eher bereit, es so zu positionieren und auszustatten, dass es dieses Potenzial realisieren kann. Trotzdem ist bei der Festlegung solcher wissenschaftspolitischer Agenden stets zu berücksichtigen, dass die vier elementaren Systemprobleme selber miteinander systemisch verknüpft und als Ganzes zu bewältigen sind. Da innerhalb des Mediensystems seit eh und je ein – historisch freilich variabel eingestuftes – distinktes, komplexes Buchsystem operiert, das fortwährender Optimierung und ständig qualifizierten Nachwuchses bedarf, ist ein Wissenschaftssystem, das es forschend erhellt und seine Erkenntnisse lehrend und beratend weitergibt, funktional. Wie lohnend kognitiv und sozial, kulturell und wirtschaftlich eine entsprechende gesellschaftliche Investition ist, hängt von der Leistungsfähigkeit dieses Wissenschaftssystem ab, und diese umgekehrt von der Investition. Damit diese gegeben ist, muss indes die Buchwissenschaft keineswegs den Status einer ohnehin chancenlosen »Monsterwissenschaft« anstreben, sondern eine zwar umfassende, aber flexible Perspektive auf Buch und Buchkommunikation entwickeln und
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schrittweise, aber mit integrativem Horizont,91 realisieren. Den Metamorphosen von Buch und Buchkommunikation, national und international, früher und jetzt, ist nachzuspüren, möglichst in Form empirisch prüfbarer Hypothesen und vornehmlich im Rahmen von Theorien mittlerer Reichweite, aber auf allen drei Gesellschaftslevels92. Das Selbstverständnis als Medienwissenschaft garantiert ihr dabei die sachgerechte Weite und notwendige Fokussierung ihrer Perspektive.
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91 92
Vgl. Bonfadelli: Buch, Buchlesen und Buchwissenschaft, S. 96–109. Vgl. Bonfadelli, S. 109.
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SVEN GRAMPP
Das Buch der Medientheorie. Zum Jargon der Uneigentlichkeit 1 2 3 4 5 6 7 8
Die zweifache Uneigentlichkeit der Medientheorie Das Buch der Medientheorie Das Buch in der Medientheorie Das Buch als Trope in der Medientheorie Das Buch als Metapher in Jacques Derridas Medientheorie Das Buch als Synekdoche in Marshall McLuhans Medientheorie Der Jargon der Uneigentlichkeit oder: Die Funktion des Buchs in der Medientheorie Literaturverzeichnis
1 Die zweifache Uneigentlichkeit der Medientheorie Der vermeintlich ›eigentliche‹ Inhalt der Nachrichten, die Franz Kafka seinem Freund Max Brod häufig hat zukommen lassen,1 ist für einen Medientheoretiker völlig irrelevant. Für ihn ist vielmehr von Interesse, mit welchen Mitteln Kafka eine mutmaßlich außersprachliche Erfahrung etwa beim Anblick der nächtlichen Prager Burg in eine kommunizierbare Form transformiert und wie die dafür gewählte mediale Form wiederum auf Denken und Wahrnehmung Kafkas und Brods rückwirkt. Damit ist von Belang, ob Kafka Brod von einer Erfahrung beim gemeinsamen kurzen Heimweg von der Arbeit erzählt oder ob er Brod mittels des seit Beginn 1
Kafkas Leben und Werk ist nicht nur in der Literaturwissenschaft ein äußerst beliebter Forschungsgegenstand, sondern inzwischen auch in der medientheoretischen resp. medienhistoriographischen Forschung. An seinem Werk und Leben werden besonders gern die Effekte von Medien auf Inhalt, Wahrnehmung und Erkenntnis untersucht vgl. exemplarisch: Kittler: Schreibmaschinen, Sprechmaschinen, S. 75–163. Deshalb scheint es mir angebracht, einen Text über Medientheorie mit einem Verweis auf Kafkas Alltagleben zu beginnen. Zum regen Nachrichtenaustausch zwischen Kafka und Brod vor, während und vor allem nach ihren beruflichen Pflichten als Beamte bei der Prager Post bzw. der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt des Königreichs Böhmen vgl. ausführlich: Stach: Kafka.
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des 20. Jahrhunderts in Prag flächendeckend etablierten Rohrpostsystems informieren will oder aber ob Kafka seine Nachricht durch einen Boten überbringen lässt, wie in einer der berühmtesten Erzählungen des Schriftstellers, die inzwischen in nahezu jedem Deutschlehrbuch der Sekundarstufe zu finden ist.2 Das eigentlich Entscheidende der Nachricht ist also aus medientheoretischer Perspektive ihre Form – und damit die Weise ihrer Uneigentlichkeit.3 Oder weniger pointiert in klassisch erkenntnistheoretischem Vokabular formuliert: Medientheorie untersucht die historisch wandelbaren, Wahrnehmung, Kommunikation und Denken ermöglichenden wie reglementierenden Medialitätsstrukturen und -prozesse. Insofern hat Medientheorie keinen klar umrissenen Gegenstand und wohl auch keinen methodischen Kernbereich, jedoch aber eine recht klare Perspektive auf ihre Gegenstände. Damit verbunden ist auch ein Versprechen. Ist doch dann Medientheorie genau die Forschungsausrichtung, die im Stande ist, alle bisherige Forschung über die Medialität ihrer Gegenstände ebenso wie über die jeweils eigenen medialen Bedingtheiten aufzuklären. Konsequenter Weise folgt daraus umgekehrt ein nicht gerade geringer Anspruch auf Neujustierung der gesamten Forschungslandschaft. Und diese scheint tatsächlich darauf mit einer »epistemologische[n] Wendung« 4 zu reagieren: [...] das Medium [gilt] zunehmend als Inbegriff für ein allfällig anzutreffendes Mittleres, das Mediale als Zone der Vermittlung, als zunächst so unbemerkbare wie unentbehrliche Ermöglichung aller Erkenntnis, Erfahrung und Sozialisierung, aller Produktion, Reproduktion und Repräsentation. Es setzt Rahmen und Reichweite wissenschaftlicher Beobachtbarkeit; es wird zur Chiffre für die Bedingtheiten der untersuchten Welt schlechthin, eingeschlossen noch die Bedingtheit wissenschaftlichen Fragens selbst. So beansprucht heute ein mediales Apriori Geltung, ein wie immer paradoxes Apriori der Vermitteltheit, d. h. der Nicht-Unmittelbarkeit, Nicht-Ursprüglichkeit und Nicht-Gegebenheit des Realen.5
Dass medientheoretische Bestrebungen von der Uneigentlichkeit jeglichen Weltbezugs ausgehen und damit, einmal explizit, einmal implizit, von einem wie auch immer genauer zu fassenden ›medialen Apriori‹ ausgehen,
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Vgl. Eine kaiserliche Botschaft [1919]. Vgl. zu dieser Perspektivierung auch Kirchmann: Verdichtung, S. 49: Medientheorie beobachte Vermittlungsprozesse kraft derer »m e d i a l e [ s ] › S p r e c h e n ‹ i m m e r e i n u n e i g e n t l i c h e s , M e d i a l i t ä t a l s o e i n e F o r m d e r U n e i g e n t l i c h k e i t « [Hervorhebung im Original] sei. Engell/Vogl: Editorial, S. 5–8, hier: S. 6. Engell/Vogl, S. 6.
Das Buch der Medientheorie. Zum Jargon der Uneigentlichkeit
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scheint weitgehend konsensfähig zu sein.6 Problematischer dürfte wohl die Behauptung sein, dass Medientheorie auch noch in einer ganz anderen Hinsicht mit Uneigentlichkeit zu tun hat. Sie operiert nämlich auffällig häufig mit uneigentlichen Redefiguren, also mit Tropen.7 Im Folgenden geht es mir vorrangig um diese Art der Uneigentlichkeit. These ist somit, dass die Art und Weise, wie die Medientheorie ihre Gegenstände perspektiviert, durchzogen ist von rhetorischen Figuren der Uneigentlichkeit. So konkret oft ihre Gegenstände, an denen die theoretischen Implikationen entfaltet werden, auf den ersten Blick auch sein mögen, sei es nun ›das Fernsehen‹, ›das Internet‹ oder auch – was hier ausführlicher behandelt werden soll – ›das Buch‹, so uneigentlich wird in der Medientheorie zumeist darüber gesprochen. Der eigentliche Gegenstand ist im uneigentlichen Reden über den Gegenstand regelrecht aufgehoben. Und vielleicht mag das sogar als performative Geste konsequent sein. Denn, wenn man dem zentralen Axiom der Medientheorie folgt, dann können ja alle Gegenstände nur vermittelt, also uneigentlich in Erscheinung treten und das gilt dann eben auch für die medialen Vermittlungsinstanzen selbst. Genau das kann wiederum durch den uneigentlichen Gebrauch eines Ausdrucks zur Darstellung gebracht werden.8 Umso erstaunlicher und erklärungsbedürftiger ist es aber dann, dass in weiten Teilen der Medientheorie dennoch explizit behauptet wird, es werde über handfeste Gegenstände gesprochen, wo doch genau besehen uneigentliche Rede vorherrscht. Gerade die Referenz auf den Gegenstand Buch ist dafür ein besonders eindrückliches Beispiel. Einerseits wird nämlich auf eine spezifische Materialität verwiesen, die der ›eigentlichen‹ Hardware Buch zu-
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Eine ganz andere Frage ist freilich, wie man sich zu solch einem Postulat verhält. Lorenz Engell und Joseph Vogl deuten ein zentrales Problem einer solche Sichtweise an, wenn sie diesbezüglich von einem »wie immer paradoxe[n] Apriori der Vermitteltheit« (Engell/Vogl, S. 6) sprechen. Denn: Wie sollte die Vermittlungsinstanz erkannt und beschrieben werden können? Der eigentliche Gegenstand der Untersuchung müsste aus dieser Sicht konsequenter Weise unbeobachtbar bleiben. Vgl. zur Diskussion dieses Problems z. B. Mersch: Medientheorie, S. 105, 117f., 221f. Dass zumindest ein bestimmter Typ von Medientheorie massiv mit rhetorischen Mitteln arbeitet, darauf verweist besonders nachdrücklich Leschke: Vom Eigensinn der Medienrevolutionen. Das könnte eine dekonstruktivistische Pointe der Medientheorie sein. Vgl. dazu auch die Überlegungen von Mersch: Medientheorien, S. 219–228. Nun ist diese dekonstruktivistische Strategie keineswegs neu. Verwiesen sei nur auf den wohl wirkungsmächtigsten Text, der tropische Figuren zur Grundlage jeglicher Art von Sprachgebrauch erklärt und emphatisch zur ästhetischen Neugestaltung der Sprache durch den Gebrauch immer neuer tropischer Wendungen auffordert, nämlich Nietzsche: Ueber Wahrheit und Lüge.
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kommen soll. Anderseits aber figuriert ›das Buch‹ beinah ausschließlich als Trope.9 Diese Behauptung wird hier freilich noch näher auszuführen sein. Der Buchwissenschaft ist aber so gesehen mit vorliegendem Beitrag bei der Suche nach einer konkreten, angemessenen oder zumindest operationalisierbaren Beschreibung der Medialität ihres Gegenstands wenig geholfen, obwohl man gerade aus der Perspektive der Medientheorie solch eine Klärung der Medialität zu Recht erwarten dürfte, ist dies doch ihr genuiner Gegenstand.10 Stattdessen ist vorliegender Text nur in einem sehr indirekten Sinne ein Beitrag zur Konturierung des buchwissenschaftlichen Objektbereichs. Soll doch gezeigt werden, wie man diesen Gegenstandsbereich ›anderenorts‹ versteht und funktionalisiert, eben als uneigentlichen. 9
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Selbstredend ist es durchaus keine Kleinigkeit den Gegenstand Buch angemessen zu konturieren, vorausgesetzt man gibt sich nicht mit dem Alltagsverständnis zufrieden, unter ›Buch‹ einfach ein materielles Ding mit beschriftetem Papier und Einband zu verstehen. Will man das Formalobjekt Buch konturieren (siehe zur Differenz von Material- und Formalobjekt Buch ausführlicher Rautenberg/Wetzel: Buch, S. 48f.) und also eine wissenschaftstheoretisch befriedigende Grundlage zur Erforschung ›des Buches‹ vorlegen, dann muss man anders vorgehen. Zwar wird es in vorliegendem Text nicht darum gehen. Aber da hier ja behauptet wird, dass viele medientheoretische Texte den Gegenstandbereich Buch als Trope, sprich uneigentlich, ins Blickfeld rücken, muss zumindest darauf verwiesen werden, wie denn eine ›eigentliche‹ oder doch zumindest wissenschaftlich angemessenere und operationalisierbarere Gegenstandsbeschreibung auszusehen hätte. So wird ja überhaupt erst die Grundlage geschaffen, von der ausgehend, die uneigentlichen und damit auch die abgeleiteten Beschreibungen als uneigentlich und abgeleitet zu beobachten sind. Dabei möchte ich auf Ansätze von Ursula Rautenberg und Ulrich Saxer rekurrieren (siehe dazu auch die Beiträge dieser Autoren in vorliegendem Band). Bei Rautenberg (und anschließend daran auch bei Saxer) wird der Gegenstand bzw. der Gegenstandszugriff auf ›das Buch‹ in drei Bereiche ausdifferenziert, die in einem interdependenten Wechselverhältnis stehen. Die Bereiche Materialität/Technik, Zeichen und Funktion werden als die entscheidenden Faktoren angeführt. Eine dementsprechende Definition des Buchs liest sich in kompakter Form wie folgt: »Das Buch lässt sich (1) als materielles bzw. physisches Objekt definieren, das Ergebnis einer bestimmten Herstellungstechnik ist und (2) als Zeichenträger (3) spezifische Aufgaben buchmedialer Kommunikation übernimmt.« (Rautenberg: Buch, S. 39; vgl. dazu auch ausführlicher neben Rautenbergs Beitrag in diesem Band Rautenberg/Wetzel: Buch, S. 6, 9 und vor allem S. 42– 46.) Diese technisch-semiotisch-funktionale Perspektivierung des Gegenstandes beinhaltet zum einen die Konsequenz, dass ›das Buch‹ eben nicht nur ein materiales Objekt ist, das man zur Hand nehmen kann. Stattdessen steht ›das Buch‹ in einem komplexen funktionalen, technischen und semiotischen Zusammenhang, der in seiner Gesamtheit das Formalobjekt Buch darstellt. Zum anderen wird damit auch die Rede von ›dem‹ Buch als Gegenstandbereich unangemessen, weil der Gegenstand sich zuallererst im Wechselspiel von Technik, Zeichen und Funktion konstituiert und damit historisch und je nach Blickwinkel hochgradig v a r i a b e l ist. Das hat unter anderem auch die nicht ganz unerhebliche Konsequenz, dass der jeweilige Zugriff auf den Gegenstand p r a g m a t i s c h zu begründen ist und folglich n i c h t materialistisch oder gar ausgehend von einer substantialistischen Definition des Gegenstands Buch geschehen kann (vgl. dazu ausführlicher Rautenberg/Wetzel: Buch, S. 42–46). Siehe dagegen den Beitrag von Saxer in Bd. 1, der genau diese Zielsetzung verfolgt.
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2 Das Buch der Medientheorie Die noch vage Bestimmung, dass es der Medientheorie um präfigurierende und transformierende Vermittlungsprozesse zu tun ist, lässt sich im Anschluss an Sybille Krämer präzisieren.11 Bestimmt doch Krämer Medientheorie als einen Diskurs, der durch zwei Tendenzen zu charakterisieren sei: »Das Feld des Mediendiskurses ist labyrinthisch verzweigt; doch kristallisieren sich zwei Zentren heraus, deren Gravitationspunkte jeweils die sprachlichen und die technischen Medien bilden.«12 Der eine Gravitationspunkt lässt sich im Anschluss daran perspektivieren als philologischsemiotisch fundierte Ausweitung und Radikalisierung einer sprachtheoretischen und philosophischen Tendenz, die als linguistic turn im gesamten geistes- und sozialwissenschaftlichen Bereich des 20. Jahrhunderts so wirkungsmächtige Folgen zeitigte. Der zweite Strang hingegen »ist inspiriert nicht von der Sprache, vielmehr von der Technik, genauer: von medientechnischen Apparaten.«13 Dieser Gravitationspunkt wiederum lässt sich perspektivieren als materialistisch-apparativ fundierte Kritik an der Fixierung auf Sprache als allumfassenden Erklärungsansatz. Statt sprachlicher Prozesse werden die technisch-apparativen Rahmenbedingungen als entscheidender Faktor kommunikativer Prozesse hervorgehoben. Anders formuliert: Geht es im ersten Fall vor allem darum, präfigurierende und transformierende Vermittlungsprozesse als ein semiotisches Problem zu behandeln, wodurch Fragen nach (unterschiedlichen) Codierungssystemen wie alphabetische Schrift, Musik, Bild virulent werden. So stehen im zweiten Fall stattdessen im Zentrum des Interesses die Effekte technischer Kanäle, Apparaturen und (Re-)Produktionstechniken wie Buchdruck, Telegraph oder Computer auf die Vermittlungsprozesse. In beiden Gravitationszentren wird auch auf den Gegenstandsbereich Buch referiert, und in beiden Fällen vorrangig uneigentlich. Nichtsdestotrotz operieren die Gravitationszentren aber mit unterschiedlichen Figuren der Uneigentlichkeit, die auch sehr voneinander abweichende Implikationen mit sich führen, was die Perspektivierung der Gegenstände anbelangt. Um die jeweilige Beschreibung des Buchs und deren Differenzen genauer in den Blick nehmen zu können, werde ich die Ausführungen 11 12 13
Der medientheoretische Diskurs ließe sich auch anders beschreiben. Zu unterschiedlichen Konturierungen dieses Feldes siehe z. B. Winkler: Prekäre Rolle der Technik; Leschke: Einführung in die Medientheorie; Mersch: Medientheorien. Krämer: Von der sprachkritischen zur medienkritischen Wende, S. 1. Krämer, S. 1.
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zweier Autoren gegenüberstellen, die jeweils typisch für ein Zentrum stehen sollen. Zum einen handelt es sich um die Position Jacques Derridas, zum anderen um die Marshall McLuhans. Zugegebenermaßen sehr zugespitzt und unter Ausblendung einiger damit verbundener Schwierigkeiten14 möchte ich im Folgenden erstens darstellen, dass die Trope ›Buch‹ bei den Autoren sehr unterschiedlich in Erscheinung tritt. Zweitens gilt es zu zeigen, dass sich die Identität und Legitimität der Medientheorie vor allem aus dem zweiten Gravitationsfeld speist und zwar eben nicht zuletzt durch eine spezifische tropische Beschreibung des Buchs, wie sie bei McLuhan idealtypisch zu rekonstruieren ist.
3 Das Buch in der Medientheorie Das Forschungsobjekt Buch wird in der Medientheorie sehr unterschiedlich konturiert. Eine genaue Definition dessen, was der Gegenstand denn nun sein soll, wird aber nicht oder doch zumindest nur rudimentär geliefert. Stattdessen lassen sich die meisten medientheoretischen Verlautbarungen zum Buch in eine jahrhundertlange Tradition einreihen, in der über das Buch in einer spezifischen, aber nicht eben sehr präzisen Weise gesprochen wird. Hierbei kommt der uneigentlichen Verwendung des Ausdrucks ›Buch‹ eine zentrale Rolle zu. Erdmann Weyrauch macht darauf aufmerksam, dass bereits im 16. Jahrhundert das Buch zur »Grundmetapher eines neuen Zeitalters wurde.«15 Diese Tradition setzt sich ungebrochen in medientheoretischen Verlautbarungen zum Buch fort: Man definiert zwar nicht genau, was das Buch sein soll; dass es aber für die 14
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Umstritten ist nämlich z. B., ob Derrida tatsächlich als Medientheoretiker gelten kann (in einigen Einführungsbändchen zur Medientheorie wird er nicht einmal erwähnt). Umstritten ist nicht minder, ob McLuhan überhaupt ein Theoretiker ist (vgl. dazu etwa sehr polemisch Faulstich: Medienwissenschaft, S. 22). Man kann auch durchaus mit guten Gründen behaupten, dass das erste Gravitationszentrum sich viel eher mit der Debatte um Oralität/Literalität, wie sie sich in den 1960er Jahren etabliert hat, charakterisieren ließe als mit der Dekonstruktion Derridas (vgl. etwa Krämer: Von der sprachkritischen zur medienkritischen Wende, S. 2f.). Diskutieren ließe sich auch darüber, ob die Positionen von Derrida und McLuhan denn heute überhaupt noch als s t a t e o f t h e a r t der Medientheorie gelten können. Darüber hinaus werden Derridas und McLuhans Werke recht selektiv durchforstet. Bei Derrida wird vor allem auf sein frühes Hauptwerk, nämlich die »Grammatologie«, rekurriert, bei McLuhan vorrangig auf seine für den medientheoretischen Diskurs zentralen Bücher »Die magischen Kanäle« und Die »Gutenberg-Galaxis«. Weyrauch: Das Buch, S. 13. Dem Buch als kulturgeschichtlich relevante Metapher wird ausführlich und kenntnisreich nachgegangen in Blumenberg: Lesbarkeit der Welt; vgl. auch Grampp: Ins Universum, S. 25–31, 465–476.
Das Buch der Medientheorie. Zum Jargon der Uneigentlichkeit
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Kulturgeschichte wichtig sein muss und zwar so wichtig, dass damit Epochenzäsurierungen zu markieren sind, scheint weitestgehend Konsens. Das ›Buch‹ fungiert hierbei als Reflexionsfigur für epistemologische, kulturelle und kommunikative Zusammenhänge. Über die bloße Referenz auf ein wie auch immer genau zu fassendes Artefakt hinaus steht das ›Buch‹ für eine soziokulturelle Konstellation, wie sie beispielsweise in der Beschreibungsformel »Buchzeitalter«16 zum Ausdruck kommt. Gleich zur Bezeichnung eines ganzen Zeitalters muss hier das ›Buch‹ herhalten. In solch einem Kontext referiert der Ausdruck ›Buchzeitalter‹ auf eine Konstellation, in der unterschiedliche Techniken und Medien um das Leitmedium Buch gruppiert sind – eine Konstellation, die wiederum ökonomische, politische wie kulturelle Faktoren, bis hin zu epistemischen Aspekten der Wahrnehmungs- und Erkenntnisbedingungen organisieren, wenn nicht präfigurieren soll. Im ›Buch‹ scheint somit eine kulturgeschichtliche Konstellation sowohl ihren metaphorischen Ausdruck als auch ihre technisch-materielle (Be-)Gründungsfigur zu erhalten. Die Bezeichnung ›Buch‹ ist damit einer immensen Konnotationsvielfalt und semantischen Variabilität ausgesetzt, die gerade in der Medientheorie weidlich genutzt wird: Je nach Vergleichsobjekt und Perspektivierung steht das ›Buch‹ mal für die bedrohte Hochkultur, mal für die Entfremdung von archaischen Gemeinschaftsformen, mal als Initialzündung für das gesamte medien-technische Ensemble der Neuzeit, dann wieder in radikalem Gegensatz zu neueren audiovisuellen Medien, mal in Kontrast zu oralen Kommunikationsformen, dann wieder zu bildlichen Repräsentationsformen. Mal findet das ›Buch‹ als Metapher für Bildung, Freiheit und Aufklärung Anwendung, dann wieder als Inbegriff der Totalität und Zurichtung.17 Zudem ist je nach Perspektive erst der funktionale Einsatz des Buchs entscheidend, oder aber schon die Materialität an sich determiniert Einsatz und Folgen desselben.18 Diesen vielfältigen Konnotationen, die mit dem uneigentlichen Gebrauch des Ausdrucks ›Buch‹ im medientheo16 17 18
So der Untertitel der deutschsprachigen Übersetzung von McLuhans »The GutenbergGalaxis. The Making of Typografic Man« – siehe McLuhan: Gutenberg-Galaxis. Vgl. dazu besonders anschaulich die diametral entgegengesetzten Positionen von Neil Postman und Norbert Bolz, zu finden etwa in Postman: Wir amüsieren uns zu Tode; Bolz: Am Ende der Gutenberggalaxis. Siehe dazu z. B. die an diesem Punkt zumindest entgegengesetzten Beschreibungen der Folgen des gedruckten Buchs bei dem systemtheoretischen Funktionalisten Luhmann: Gesellschaft der Gesellschaft, S. 291–299, und bei dem technikorientierten Medientheoretiker Kittler: Bewegliche Letter.
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retischen Diskurs einhergehen, sollen im Folgenden anhand der Analyse der Positionen Derridas und McLuhans präziser gefasst werden. Der Zweck dieser Untersuchung besteht im Besonderen darin zu zeigen, dass mit der Referenz auf ›Buch‹ nicht nur einfach unterschiedliche Konturierungen des Gegenstands einhergehen, sondern auch ganz handfeste Instrumentalisierungen.
4 Das Buch als Trope in der Medientheorie Da hier behauptet wird, dass in der Medientheorie das ›Buch‹ vornehmlich als uneigentlicher Ausdruck Verwendung findet und genau in diesem Sinne auch bei Derrida und McLuhan virulent ist, muss aber zuvor zumindest umrisshaft geklärt werden, was es denn bedeutet, einen Ausdruck uneigentlich zu verwenden. In der klassischen Rhetorik versteht man beispielsweise Metapher, Synekdoche, Hyperbel oder auch Katachrese als Figuren des uneigentlichen Redens. Sie werden unter dem Begriff Tropen zusammengefasst. Laut Quintilians wirkungsmächtiger Definition ist »ein Tropus eine Redeweise, die von ihrer natürlichen und ursprünglichen Bedeutung auf eine andere übertragen ist, um der Rede zum Schmuck zu dienen, oder wie Grammatiklehrer meist definieren, ein Ausdruck, der von der Stelle, bei der er eigentlich gilt, auf eine Stelle übertragen ist, wo er nicht eigentlich gilt.«19 Der Einsatz von Tropen ist somit ein Vorgang semantischer Substitution. Im Anschluss daran möchte ich die uneigentliche Rede hier so verstanden wissen, dass es bei der Rede über das ›Buch‹ in der Medientheorie nicht eigentlich um das Bemühen einer angemessenen Gegenstandsbeschreibung geht, und damit auch nicht um so etwas wie seine ›natürliche und ursprüngliche Bedeutung‹.20 Man tut nur so, als würde es darum gehen, spricht aber genau besehen über etwas anderes und überträgt damit den Ausdruck Buch ›auf eine Stelle, wo er nicht eigentlich gilt‹. Oder präziser formuliert: Die Bezugnahme auf den Gegenstand wird substituiert durch Referenz auf etwas jenseits des ursprünglichen Gegenstandbereichs. Beispielsweise geschieht dies bei einer metaphorischen Übertragung der Bezeichnung ›Buch‹ auf die als zusammengehörig gedachten Strukturgesetzmäßigkeiten, die der natürlichen Welt zugrunde liegen sollen. In der 19 20
Quintilianus: Ausbildung des Redners, Bd. 2, S. 251. Zu einer ›eigentlichen‹, ›ursprünglichen‹ wissenschaftlichen Bezugnahme des Buchs vgl. Anm. 9.
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Formulierung ›das Buch der Natur‹ wird genau das zum Ausdruck gebracht. Oder aber umgekehrt, durch Referenz auf einen kleinen Ausschnitt des eigentlichen Gegenstands, findet eine Substitution statt. Zu denken ist hierbei etwa daran, dass das Buch als totum pro parte nur für eine ganz spezifische Art von Büchern stehen kann, beispielsweise für das mit beweglichen Lettern gedruckte Buch. Der eigentliche Gegenstand ist in beiden Fällen gegen das uneigentliche Reden über den Gegenstand ausgetauscht.
5 Das Buch als Metapher in Jacques Derridas Medientheorie Wenn es zutreffen sollte, dass der medientheoretische Diskurs sich vor allem aus zwei Gravitationszentren speist, und es weiterhin zutrifft, dass eines dieser Zentren als philologisch-semiotisch fundierte Ausweitung und Radikalisierung sprachtheoretischer und -philosophischer Tendenzen des linguistic turn zu verstehen ist, dann wäre mit Derrida ein Autor gefunden, der wie kaum ein zweiter für diese Richtung stehen dürfte. Ist doch Derridas Dekonstruktion ein Projekt, das mit seiner Erweiterung des Schriftbegriffs den linguistic turn radikalisiert. Denn postuliert wird, dass in allen Arten des Weltzugangs und in allen kommunikativen Prozessen ein semiotischer Prozess am Werke ist, der Bedeutung per se unkontrollierbar macht und die Verankerung von Seinsgewissheiten in einem präsemiotischen Bereich für obsolet, ja solche Bestrebungen selbst als Effekt einer spezifischen Art von Zeichen erklärt. Folglich muss nach Derrida jeder Weltzugang wie jeder kommunikative Akt ein medial vermittelter, also unhintergehbar uneigentlicher sein. Das ist der entscheidende systematische Grund, warum Derrida durchaus als Medientheoretiker und als Prototyp für die semiotische Ausrichtung des medientheoretischen Diskurses bezeichnet werden kann.21 Das muss etwas genauer erläutert werden. Derridas Schriftkonzept unterscheidet sich von vielen anderen sprachphilosophischen Positionen allein schon dadurch, dass darin nicht nur auf sprachliche Phänomene Bezug genommen wird, sondern auf alle möglichen Codierungsformen, womit denn auch zwangsläufig eine Aus-
21
Vgl. auch Mersch: Medientheorien, S. 224f.
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weitung des linguistic turn einhergeht.22 In seiner Grammatologie formuliert Derrida diesbezüglich, unter dem Begriff ›Schrift‹ soll all das zu fassen sein, »was Anlaß sein kann für Ein-Schreibung überhaupt, sei es nun alphabetisch oder nicht, selbst wenn das von ihr in den Raum ausgestrahlte nicht im Reich der Stimme liegt: Kinematographie, Choreographie, aber auch ›Schrift‹ des Bilds, der Musik, der Skulptur usw.«23 All diesen Schriften und Codierungen liegt nach Derrida eine Art »Urschrift«24 in Form einer semiotischen Verweisungsstruktur zu Grunde, die zum einen die Bedingung darstellt für Sinn- und Bedeutungszuweisungen und zum anderen gleichzeitig verantwortlich ist für die Unmöglichkeit letztendlicher Sinn- und Bedeutungsfixierung. Diese semiotische Verweisungsstruktur nennt Derrida auch »différance«.25 Mit der Radikalisierung von Ferdinand de Saussures Konzept der Sinnkonstitution qua differenzieller Zeichenoperationen zeigt Derrida, dass Bedeutung nicht nur zuallererst durch ein differenzielles Zeichensystem generiert wird. Er macht darüber hinaus deutlich, dass durch diese Differenzialität eine Schließung eines Zeichensystems und somit eine Totalisierung der Sinnzuweisungen unmöglich ist. Die prinzipielle Offenheit des differenziellen Zeichensystems hat damit Konsequenzen nicht einfach nur in der Weise, dass die Welt immer nur sinnhaft gedeutet werden kann mittels spezifischer semiotischer Instrumente, die den Blick unter Umständen selektiv leiten. Die Konsequenzen sind radikaler: Bedeutungszuweisungen und Sinnstiftungen sind per se unkontrollierbar und jede Fixierung auf einen eindeutigen Sinnzusammenhang respektive Code ist nicht zu begründen und muss in Aporien führen. Festzuhalten bleibt, dass Derrida mit der Universalisierung des Schriftbegriffs die unhintergehbare semiotische Grundlage für Sinnstiftung, Erkenntnis und Kommunikation aufweist. Damit will er auch zeigen, dass Zeichen nicht einfach als neutrale Mittler auf ein den Zeichen vorgängiges Bedeutungsfeld verweisen, sondern erst via Zeichen Bedeu22 23 24 25
Vgl. im Gegensatz dazu die Tendenzen der analytischen Sprachphilosophie: Wellmer: Sprachphilosophie, S. 20f. Derrida: Grammatologie, S. 21. Damit ist auch der Begriff ›Schrift‹ bei Derrida zumindest in diesem Kontext als eine Metapher zu verstehen. Derrida, S. 218. Vgl. dazu Derrida: Die différance. Dort weist Derrida im Übrigen selbst darauf hin, dass die d i f f é r a n c e als eine Art »mediale [...] Form« (Derrida, S. 119) verstanden werden kann, womit er eine Ausweitung seiner Schriftphilosophie auf eine Medientheorie bzw. -philosophie selbst nahe zu legen scheint. Zur Verortung Derridas als Medienphilosoph vgl. Sandbothe: Pragmatische Medienphilosophie, S. 123f. und Margreiter: Medienphilosophie, S. 49.
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tung generiert wird, die darüber hinaus immer nur vorläufig, prekär und aporetisch organisiert ist. Von Mike Sandbothe wird in diesem Kontext davon gesprochen, dass Derrida die Materialität der Zeichen ernst nehme.26 ›Materialität‹ kann hier aber nicht meinen eine materielle Einschreibung eines Bilds etwa in Materialien wie Stein oder Papier oder gar eine apparative Anordnung wie den Buchdruck. Stattdessen geht es viel abstrakter auf dieser Ebene der derrida’schen Konzeption zunächst nicht einmal um unterschiedliche Schrifttypen, also differente Codierungstypen wie Schrift, Zahl, Musik oder Bild. Vielmehr geht es um Schrift als universales und allgemeines semiotisches Verweisungssystem. ›Materialität‹ der Zeichen bedeutet so gesehen nichts anderes als das unhintergehbare und unabschließbare semiotische Spiel der Differenzen.27 Von Interesse ist also für Derrida zuvorderst ein allgemeiner Schriftbegriff, mit dem der linguistic turn eine Ausweitung über die sprachlichen Zeichen hinaus findet. Dabei kümmert er sich aber zunächst einmal nicht um unterschiedliche Schriftsysteme, geschweige denn um technisch-apparative Unterschiede. Daneben operiert Derrida aber noch mit einem spezifischeren Schriftbegriff. Dieser Wechsel vom allgemeinen Schriftbegriff zu einem spezifischeren korrespondiert mit einer kulturgeschichtlichen Perspektivierung und führt Derrida zu einer (Metaphysik-)Kritik an nahezu der gesamten abendländischen Philosophie. Dass nämlich die Vorstellungen von eindeutiger Sinnzuweisung, reiner Bedeutung, direkter Repräsentation und ahistorischen wie rationalen Ordnungsschemata sich überhaupt erst haben flächendeckend Bahn brechen können, ist nach Derrida verbunden mit der Etablierung des phonetischen Alphabets und dem damit in Zusammenhang stehenden Verständnisses der (gesprochenen) Sprache als Inbegriff und Garant von Sinnpräsenz.28 Mit einer ganz ähnlichen Emphase wie die bereits zitierten Engell und Vogl konstatiert Derrida eine sich abzeichnende ›epistemologische Wendung‹: Im ganzen gesehen währte dieses Abenteuer [die Vorherrschaft eines bestimmten Verständnisses der Sprache und der phonetischen Schrift; S. G.] nicht sehr lange. Man könnte sagen, daß es mit der Geschichte eins wird, welche die Technik und die logozentristische Metaphysik seit nahezu drei Jahrtausenden miteinander verbindet, und daß es sich jetzt seiner eigenen Erschöpfung nähert, von der wir nur ein Beispiel erwähnen wollen: den Tod der Buchkultur, von dem so viel die Rede ist und der sich 26 27 28
Siehe Sandbothe: Pragmatische Medienphilosophie, S. 103. Zum Begriff des Spiels in diesem Kontext vgl. Derrida: Die Struktur, das Zeichen und das Spiel. Vgl. dazu z. B. Derrida: Grammatologie, S. 17 und S. 22f.
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vor allem in der konvulsivischen Wucherung der Bibliotheken offenbart. Entgegen allem Augenschein kündigt dieser Tod des Buches zweifellos (und in gewisser Weise seit je) bloß einen Tod des gesprochenen Wortes (eines angeblich erfüllten gesprochenen Wortes) und eine neue Mutation in der Geschichte der Schrift, in der Geschichte als Schrift an; kündigt ihn über einige Jahrhunderte hinweg an.29
Diese Passage stammt aus dem ersten Kapitel der Grammatologie, das die programmatische Überschrift »Das Ende des Buches und der Anfang der Schrift« trägt. Derrida nimmt dabei Bezug auf den im medientheoretischen Diskurs bis dato omnipräsenten Topos vom ›Tod der Buchkultur‹.30 Vier Jahre vor der Grammatologie, 1962, verkündete McLuhan in seinem Buch Die Gutenberg-Galaxis zumindest auf diskursiver Ebene recht erfolgreich in diesem Sinne das »Ende des Buchzeitalters«31. Trotz dieser übereinstimmenden Diagnose könnte der Unterschied zwischen McLuhan und Derrida größer kaum sein. Darauf wird später noch einmal ausführlich zurückzukommen sein. Hier ist zunächst einmal von Interesse, was Derrida unter dem ›Tod der Buchkultur‹ versteht. Derrida verbindet mit der Etablierung der phonetischen Schrift einen epistemologischen Sündenfall. Zum einen soll erst mit der Etablierung der phonetischen Schrift die Vorstellung aufgekommen sein, dass die Schrift etwas Sekundäres ist, ein Supplement der gesprochenen Sprache und damit ein bloßes Transportmittel von Sinn und Bedeutung. Zum anderen wird dem französischen Denker zufolge in der gesamten abendländischen Philosophie die Stimme als Phänomen beschrieben, in dem das Sprechen nicht einfach nur einen kommunikativen Akt darstellt, sondern ein Sichselbst-Vernehmen, das zu einer »Hypostatisierung einer innerlichen und unmittelbaren Präsenz des Sinns«32 führt. Nach Derrida ist aber auch dieses Sich-selbst-Vernehmen immer dem Spiel der differenziellen Zeichen ausgesetzt; folglich kann es keine ›unmittelbare Präsenz des Sinns‹ geben. Selbst der gesprochenen Sprache liegt somit eine ›Schrift‹ zugrunde.33 Und genau diesem Postulat von der Selbstpräsenz des Sinns im Spre29 30
31 32 33
Derrida, S. 20. Schon sehr viel früher wird dieser Tod bereits angekündigt, etwa von Béla Balázs in den 1920er Jahren und später in den 1960er Jahren dann diskursprägend von McLuhan; vgl. dazu ausführlich Grampp: Erben der Gutenberg-Galaxis und Grampp: Ins Universum, S. 343–357. So etwa ein Teil des Untertitels von McLuhans »Gutenberg-Galaxis«. Sandbothe: Pragmatische Medienphilosophie, S. 101. Freilich ist hier nun auf den universalen Schriftbegriff verwiesen. Sprechen war demzufolge auch vor der historischen Erfindung von Schriftsystemen durch Schrift fundiert: »Wir werden zu zeigen versuchen, daß es kein sprachliches Zeichen gibt, das der Schrift vorherginge. Ohne diese Exteriorität bricht selbst die Idee des Zeichens zusammen.« (Derrida:
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chen, mit dem Ideen wie die einer überzeitliche Wahrheit einhergehen sollen, spürt Derrida in seinen dekonstruktiven Lektüren vornehmlich klassisch philosophischer Texte des Abendlands nach. Dabei will er zeigen, in welche aporetischen Figuren sich die Texte mit solchen Postulaten verwickeln.34 Der ›Tod der Buchkultur‹ meint nun bei Derrida die Erschöpfung der Vorherrschaft einer bestimmten Vorstellung von Präsenz, Sinn und Bedeutung, die historisch mit dem Aufkommen der phonetischen Schrift und korrespondierend mit dem Konzept eines idealisierten und unverfälschten Sich-Vernehmens im Sprechen verbunden war. Das ›Buch‹ wiederum steht hier explizit als »Metapher«35 um eine Implikation der phonetischen Schrift zu veranschaulichen, nämlich das Konzept von Totalität. »Die Idee des Buches ist die Idee einer endlichen oder unendlichen Totalität des Signifikanten.«36 Das ›Buch‹ wird zum Inbegriff der Idee einer vermeintlichen Abgeschlossenheit bzw. Abschließbarkeit des Spiels der Zeichen, die es überhaupt erst ermöglichen soll, eine Ursprünglichkeit jenseits des Spiels der Zeichen denkbar zu machen. Der Ausdruck ›Buch‹ figuriert hier aber genau besehen als uneigentlicher Ausdruck für Tendenz der totalitären Sinnsetzungen, die mit der Etablierung des phonetischen Alphabets einhergegangen sein sollen. Die Verbindung von wörtlich Gesagtem, ›Buch‹, und dem übertragen Gemeinten, ›Tendenzen des phonetischen Alphabets‹, bildet dabei mittels das tertiums ›Abgeschossenheit‹ eine Beziehung der Ähnlichkeit aus – und genau in diesem sehr traditionellen Sinne ist ›Buch‹ hier eine veranschaulichende Metapher. Somit ist es auch erklärlich, warum die materiell unterschiedlichen Formen des Buchs genauso wenig eine Rolle spielen wie die unterschiedlichen Produktions- und Distributionsarten. Es geht nicht darum, ob etwas Handschriftliches auf Pergament geschrieben und zu einem Manuskript gesammelt wurde oder ob etwas als integraler Bestandteil eines Codex vorkommt, ob das Buch gedruckt wurde, ob es vor allem alphabetische
34
35 36
Grammatologie, S. 29.) Hier zeigt sich sehr deutlich, dass Derridas Schriftbegriff hochgradig metaphorische Züge angenommen hat. Sandbothe verweist zurecht darauf, dass einige Medientheoretiker diesem Ideal nicht gänzlich abgeschworen haben, ganz im Gegenteil: »Derrida problematisiert damit den philosophischen Hindergrund der phonozentristisch argumentierenden Medienschelte – von Platon bis zu Rousseaus Schriftkritik und darüber hinaus bis zu den kulturkritischen Medientheorien zeitgenössischer Autoren wie Jean Baudrillard, Paul Virilio, Neil Postman oder Joseph Weizenbaum.« (Sandbothe: Pragmatische Medienphilosophie, S. 101.) Derrida: Grammatologie, S. 30. Derrida, S. 35.
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Schriftzeichen beherbergt oder technische Zeichnungen, ob es mechanisch hergestellt wird oder in digitaler Form vorliegt. Ja, es geht nicht einmal darum, ob etwas tatsächlich in einem Buch steht. Entscheidend ist die Idee der Abgeschlossenheit, die mit dem Buch metaphorisch angezeigt wird – und die ging laut Derrida nicht mit der Etablierung der Pergamentrolle, ebensowenig mit der Etablierung des Manuskripts oder der Erfindung der Druckerpresse einher, sondern mit der Etablierung der alphabetischen Schrift vor circa 3000 Jahren. Und es ist irrelevant, ob diese Schrift auf einer Kalbshaut, einem Stein, in einem gedruckten Buch oder einem elektromagnetischen Feld eingeschrieben ist. Freilich ist auch nach Derrida ein Buch in seiner materiell abgeschlossenen Form der ideale Träger, Speicher und Vermittler für die Implikationen der phonetischen Schrift. Die Verursachung der Idee der Totalität ist es aber nicht. Entscheidend ist der alphabetische Code, nicht das Buch als »materielles bzw. physisches Objekt« und »Ergebnis eines bestimmten Herstellungsprozesses«.37 Die Idee der Abgeschlossenheit, die das Buch metaphorisch bezeichnet, ist nun, jedenfalls laut Derrida, erschöpft. Korrespondierend dazu verkündet der Dekonstruktivist für die Gegenwart den »Anfang der Schrift«38. Womit wohl gemeint sein soll, dass nun wieder die generelle Schriftverfasstheit aller semiotischen Prozesse zu Tage tritt und damit eine Absage an alle totalisierenden Konzeptionen einhergeht. Dass diese ›Erkenntnis‹ mit dem Gewahrwerden unterschiedlicher Codierungssysteme in Zusammenhang zu bringen ist und auch mit der Beobachtung, dass außerhalb von Büchern Schrift ganz materiell immer mehr Orte zu besetzen scheint, lässt sich auch bei Derrida zeigen. Allein schon die Beispiele, die er wählt, um seinen universalen Schriftbegriff zu erläutern, zeigen dies. Aber der entscheidende Punkt ist es für ihn gewiss nicht.39 Derridas dekonstruktive Metaphysikkritik bezieht sich vielmehr generell auf diskursiv totalisierende Tendenzen in semiotischen Verweisungszusammenhängen. Eine Ausnahme bildet – wie gezeigt – das phonetische Alphabet, das wie kein anderes Zeichensystem laut Derrida im Stande ist, die Idee des präsenten Sinns zu zementieren. Deshalb ist diese Schriftform für Derrida von besonderem Interesse und stellt folglich die zentrale epistemologische Zäsur dar. Wenngleich das Buch nach Derrida kulturgeschichtlich die 37 38 39
Rautenberg: Buch, S. 39. Derrida: Grammatologie, S. 17. Zu einer an Derrida ausgerichteten Argumentation, die schon im Titel ausgeflaggt wird, aber mit stärkerem Fokus auf technisch-audiovisuelle bzw. digitale Codierungsformen operiert, vgl. Koschorke: Imagination des Buches; Wetzel: Enden des Buches.
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wichtige Vermittlungsinstanz des phonetischen Alphabets ist (ohne freilich genau zu explizieren, was das Buch eigentlich genau sein soll), so kommt es dennoch bei ihm vorrangig als veranschaulichende Metapher der Idee der Abgeschlossenheit zum Tragen, die durch die alphabetische Schrift ermöglicht wurde. Damit harmoniert auch bestens die Einschätzung, dass Derridas Position typisch für das semiotische Gravitationszentrum der Medientheorie steht und damit für die Ausweitung des linguistic turn. Nicht die Materialität der technischen Artefakte ist von Interesse, sondern allein die semiotischen Prozesse.
6 Das Buch als Synekdoche in Marshall McLuhans Medientheorie Wie bei Derrida tritt auch bei Marshall McLuhan das Buch als tropische Figur in Erscheinung. Nicht aber als Metapher fungiert es in den Schriften des kanadischen Medientheoretikers, sondern als Synekdoche, also als Figur, bei der ein Ausdruck substituiert wird durch einen anderen aus demselben Begriffsfeld. Dieser Ersetzungsvorgang liegt bei McLuhan in zwei gegenläufigen Varianten vor. Das ›Buch‹ tritt zum einen auf als totum pro parte. In diesem Fall steht ›Buch‹ für eine spezifische Art von Büchern, nämlich Bücher, die Ergebnis eines maschinellen typographischen Herstellungsprozesses sind.40 McLuhans ›Buchzeitalter‹, mit dem er die historische Epoche bezeichnet, für die er das Buch als maßgebliches Kommunikationsmittel veranschlagt, ist demgemäß das Zeitalter der mechanisch gedruckten Bücher (und nicht etwa der Manuskripte, Papyrusrollen, Codices, e-books oder Hörbücher). Abzulesen ist diese Verknappung auch an einer weiteren synekdochischen Operation. Schreibt doch McLuhan an vielen Stellen, so etwa schon im Titel eines seiner bekanntesten Bücher, statt von einem ›Buchzeitalter‹ von einer »Gutenberg-Galaxis«41, womit er den vermeintlichen Erfinder der Druckerpresse mit vielfach verwendbaren Lettern als pars pro toto für die technische Reproduktionstechnik setzt. Genau genommen findet sich in der Wendung Gutenberg-Galaxis sogar eine doppelte Synekdoche mitsamt einer Metapher vermengt. Erstens steht ja ›Gutenberg‹ für eine Reproduktionstechnik, also als Teil für ein Ganzes. Zweitens wird eine 40 41
Zum Begriff Typographie und dem ›typographischen Prinzip‹ vgl. Rautenberg/Wetzel: Buch, S. 22f. McLuhan: Gutenberg-Galaxis.
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zeitliche Erstreckung via tertium ›Ausdehnung‹ metaphorisch in der Wendung ›Galaxis‹ verräumlicht. Und drittens steht ›Gutenberg‹ (sprich ›die Druckerpresse mit beweglichen Lettern‹) als pars pro toto für eine Organisationsweise einer ganzen ›Galaxis‹ (sprich einer kulturgeschichtlichen Epoche). Damit sind denn auch die beiden entscheidenden gegenläufigen synekdochischen Bewegungen benannt. Zum einen findet sich ein totum pro parte, also eine Verknappung des Gegenstands: Der Ausdruck ›Buch‹ wird eingeschränkt auf ›gedrucktes Buch‹. Zum anderen ist eine Erweiterung des Gegenstandsbereichs auszumachen. Viel wichtiger noch als das pars pro toto, bei dem der Erfinder für seine Apparatur gesetzt wird, ist in diesem Zusammenhang, dass der Ausdruck ›GutenbergGalaxis‹ respektive ›Buchzeitalter‹ als Teil für ein gesamtes soziostrukturelles Epochengefüge einsteht. An diesem Punkt vollzieht sich das für die Medientheorie Entscheidende und für viele medientheoretische Positionen so Vorbildliche: Hier schlägt die rhetorische Figur in eine kausale Konstruktion um. Im pars pro toto ›Buch‹ findet noch eine gesamte Epoche ihren übertragen, uneigentlichen Ausdruck, wobei der damit verbundene offensichtliche Reduktionismus, nämlich die Rückführung einer komplexen Konstellation auf eine vereinfachte Ursache, offen ausgestellt wird. In dieser rhetorischen Gestalt durchzieht das ›Buch‹ schon seit einigen Jahrhunderten diverse Diskurse.42 Dagegen wird bei McLuhan der uneigentliche Gebrauch des Ausdrucks ›Buch‹ zu einer reduktionistischen Kausalkonstruktion, in der eine einfache Ursache komplexe Wirkungen zeitigt: Das Buch des Buchdrucks oder genauer noch die technische Reproduktionsweise des Buchdrucks verursacht radikale Verände42
Das (gedruckte) ›Buch‹ bzw. der ›Buchdruck‹ sind als wichtige Elemente der Epochenzäsurierung weit verbreitet. Man denke nur an Ausführungen Victor Hugos in seinem Roman »Der Glöckner von Notre-Dame«: »Die Erfindung des Buchdrucks ist das größte Ereignis der Geschichte. Sie ist die Mutter aller Revolutionen.« (Hugo: Glöckner von Notre-Dame, S. 45.) Zu verweisen ist auch auf Formulierungen Hegels: »Die neuen Vorstellungen fanden ein Hauptmittel zu ihrer Vorbereitung in der eben erfundenen Buchdruckerkunst, welche wie das Mittel des Schießpulvers dem modernen Charakter entspricht und das Bedürfnis, auf eine ideale Weise miteinander in Zusammenhang zu stehen, entgegengekommen ist.« (Hegel: Vorlesungen, S. 490.) Oder auch auf Ausführungen in der bis heute noch populären »Kulturgeschichte der Neuzeit« Egon Friedells; vgl. Friedell: Kulturgeschichte, S. 244f. und S. 265f. Auch auf die über Jahrhunderte hinweg populären Buchdruckjahrhundertfeiern lässt sich in diesem Kontext hinweisen; vgl. dazu Estermann: »O werthe Druckerkunst«. Die meisten dieser Beschreibungen setzen das ›Buch‹ aber als synekdochische Figur und überführen sie nicht wie McLuhan in eine kausale Begründungskonstruktion. Vielmehr finden sie ›hinter dem Buch‹ – freilich zumeist kaum weniger reduktionistisch – noch entscheidendere Bewegungskräfte wie Ökonomie, Geist, Gott oder Luther.
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rungen der Wahrnehmung, Kommunikation und selbst des Erkenntnisvermögens. Ganz handfest wird hier eine rhetorische Figur in eine kausale Argumentation überführt, eine Figur der Uneigentlichkeit kurzerhand zur eigentlich materiellen Grundlage kultureller Dynamiken erklärt. Mit dieser Beschreibung des ›Buchs‹ gehen mindestens vier – und wie ich behaupten möchte – für die Medientheorie bis dato prägende Implikationen einher. (1) Anhand der reduktionistischen Beschreibung des Buchs wird McLuhans grundlegendes Axiom, nämlich dass das Medium die Botschaft ist, exemplifiziert. McLuhan erklärt das Axiom selbst wie folgt: »[…] die ›Botschaft‹ jedes Mediums oder jeder Technik ist die Veränderung des Maßstabes, Tempos oder Schemas, die es der Situation des Menschen bringt.«43 Durch neue Medien – und eben nicht durch deren Inhalte – verändern sich also laut McLuhan sowohl die Wahrnehmung und die kognitive Verarbeitung der einzelnen Menschen als auch die gesellschaftlichen Prozesse bis hin zu deren epistemologischen Grundlagen.44 Der Begriff ›Medien‹ ist dabei sehr unscharf gefasst. Wird er doch von McLuhan zumeist mit Technik und Werkzeug synonym gesetzt und zur Bezeichnung aller Artefakte verstanden, die der Mensch zur Ausweitung seiner Körperfunktionen hervorbringt.45 Ein recht weites Feld spannt sich hier auf: Medien sind demgemäß nicht nur Dinge, die man prima facie als solche bezeichnen würde wie beispielsweise Buch, Schrift oder Fernsehen, sondern auch Straßen oder Kleider.46 Etwas spezifischer wird es, wenn McLuhan auf die medienhistoriographische Ebene wechselt. Hier werden aus der diffusen Menge der Medien als relevant erachtete Leitmedien selektiert. McLuhan teilt die Mediengeschichte in vier Abschnitte ein: Auf eine orale Stammeskultur folgt nach Einführung des phonetischen Alphabets (8.– 5. Jh. v. Chr.) eine von der Schrift geprägte Manuskriptkultur. Die schließlich um 1450 nach Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg von der GutenbergGalaxis abgelöst wird. In der Gegenwart jedoch werden die alle Lebensbereiche durchdringenden Einflüsse der Drucktechnologie zunehmend von den Auswirkungen des elektronischen Zeitalters verdrängt.47 43 44 45 46 47
McLuhan: Magische Kanäle, S. 22f. Vgl. z. B. dazu bspw. McLuhan, S. 21–29. Vgl. z. B. McLuhan, S. 78f. Vgl. z. B. die Kapitelüberschriften in McLuhan: Magische Kanäle. Höltschl: Gutenberg-Galaxis, S. 77. McLuhan selbst stellt seine Epochenzuteilungen nicht systematisch dar, bezeichnet sie aber an unterschiedlichen Stellen sehr deutlich. Um nur auf einige Passagen aus der »Gutenberg-Galaxis« zu verweisen: McLuhan: GutenbergGalaxis, S. 307 (zur oralen Kultur), S. 102 (zur Manuskriptkultur), S. 159 (zur GutenbergGalaxis) und S. 175 (zum elektronischen Zeitalter).
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Mit den historischen Phasen werden also auch entsprechende Leitmedien benannt, die für diese Phasen Einfluss auf Kommunikation, Wahrnehmung und Denken haben und deren Funktionsweise alle anderen Medien anleiten: erstens gesprochene Sprache, zweitens Schrift, drittens Buchdruck und viertens elektrische Medien (z. B. Telegraph, Radio, Fernsehen). Der Buchdruck bzw. das gedruckte Buch ist nach McLuhan nun eben ein Leitmedium innerhalb der Kulturgeschichte, ein Leitmedium, an dem die These, dass das Medium die Botschaft sei, unter anderem exemplifiziert wird. (2) Dargestellt wird der Einfluss des ›Buchs‹ auf die Gesellschaft anhand der extremen Veränderungen, die damit einhergegangen sein sollen. Diese Veränderungen wiederum werden von McLuhan äußerst negativ bewertet und dienen als Kontrastfolie für die nachfolgende kulturelle Konstellation, die durch die elektrischen Medien dominiert wird. Zwar geht mit deren Aufkommen noch eine Ausweitung des Einflusses der Medientechniken einher. Aber die Effekte sollen denen des ›Buchs‹ entgegengesetzt sein. Unmissverständlich wird hier Kritik geübt an der ›Buchkultur‹ und somit letztlich an den Tendenzen der Neuzeit. In kulturkritischer Manier führt McLuhan für die ›Gutenberg-Galaxis‹ Merkmale wie Mathematisierung, Rationalisierung, Aufspaltung, Vereinzelung auf, die zur Entfremdung des Menschen geführt und im ›Buch‹ ihre Ursache haben.48 Dagegen verbindet er mit den elektrischen Medien die Utopie der Ganzheitlichkeit, die zwar nicht in eine vormoderne, etwa orale Kultur führen soll. Aber zumindest einige dieser Merkmale, wie die Integration des Einzelnen in die Stammesgesellschaft, werden für das Zeitalter der Elektrizität übernommen, freilich – medientechnisch ermöglicht – auf globale Dimensionen ausgeweitet.49 Unverkennbar folgt McLuhan einer heilsgeschichtlichen Narration von Harmonie/Störung/Harmonie. Das Buch spielt dabei die Rolle des kulturellen Sündenfalls.50 Damit kann das
48 49 50
Vgl. z. B. McLuhan: Gutenberg-Galaxis, S. 267. Vgl. z. B. McLuhan, S. 37f.; McLuhan: Magische Kanäle, S. 524f. Der epistemologische Sündenfall ist bei McLuhan dennoch ähnlich wie bei Derrida die alphabetische Schrift. Ohne Alphabet keine ›Gutenberg-Galaxis‹. Kulturgeschichtlich relevant werden die epistemologischen Implikationen der alphabetischen Schrift aber erst mit dem Buchdruck; vgl. z. B. McLuhan: Gutenberg-Galaxis, S. 189. Vgl. zu dieser Einschätzung auch Kirchmann: Verdichtung, S. 271f.
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Zeitalter der Elektrizität umso besser als neues »Goldene[s] Zeitalter«51 in Differenz dazu gesetzt werden.52 (3) Das gedruckte ›Buch‹ ist aber nicht nur ein exemplarisches Leitmedium und nicht einfach nur Kontrastmittel, sondern auch noch in einem ganz anderen Sinn ein besonderes Leitmedium. Denn erst in der dritten Phase der Mediengeschichte, eben in der ›Gutenberg-Galaxis‹ und damit erst mit dem ›Buch‹, sollen laut McLuhan die Auswirkungen der Leitmedien »ohne kulturelle Ausgleichskräfte blühen.«53 Das heißt im Umkehrschluss: In den beiden vorangegangenen Phasen gab es noch kulturelle Ausgleichskräfte, die die Auswirkungen der Leitmedien kompensieren konnten.54 Noch etwas allgemeiner ausgedrückt: Mit dem Buchdruck werden die Medien zu dem entscheidenden Faktor soziokultureller Prozesse. Erst mit der Verbreitung des gedruckten ›Buchs‹ sind die soziokulturellen Ausgleichskräfte irrelevant geworden und zwar aufgrund seiner technisch-maschinellen Eigenschaften. »Jedenfalls«, so McLuhan, »bewegen wir uns mit der Gutenberg-Technik in das Zeitalter, in dem die Maschine ihren Siegeszug antrat.«55 Auch der (medien-)technische Fortschritt wird von McLuhan ab diesem Zeitpunkt als ein permanenter gedacht, dessen Dynamik alle gesellschaftlichen Bereiche affiziert: »Mit Gutenberg tritt Europa in die technische Phase des Fortschritts, in der die Veränderung an sich zur archetypischen Norm des sozialen Lebens wird.«56 McLuhans Schlussfolgerung ist dramatisch: Seit dem ›Buchzeitalter‹ – und das gilt dann eben auch für die folgende Medienepoche des elektrischen Zeitalters – werden die Menschen zusehends zu medientechnischen »Servomechanismen«57: Medien steuern also unabhängig von menschlichen Absichten, Einfluss und Kontrollen Kommunikation, Wahrnehmung und 51 52
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McLuhan: Magische Kanäle, S. 100. Laut McLuhan verhält es sich sogar so, dass das ›Buchzeitalter‹ zu Ende gehen musste, damit der Mensch überhaupt erst eine Ahnung von den medialen Wirkkräften ausbilden konnte. Wäre dieses Zeitalter nicht irgendwann im 19. Jahrhundert zu Ende gegangen, dann wäre nie klar geworden, dass Medien, gleich welche Inhalte sie transportieren mögen, unsere Wahrnehmung, Kommunikation und Erkenntnis maßgeblich präfigurieren. Es brauchte also aus dieser Perspektive betrachtet das Ende der Vorherrschaft des Buchs, damit Medientheorie einsetzen konnte. McLuhan dazu sehr deutlich: »Vor der elektrischen Geschwindigkeit und der Berücksichtigung der Gesamtwirklichkeit war es nicht klar, dass das Medium die Botschaft ist.« (McLuhan: Magische Kanäle, S. 30.) McLuhan: Gutenberg-Galaxis, S. 8. Siehe McLuhan, S. 102. In der Manuskriptkultur z. B. sei die schriftliche Kommunikation durch die soziale Praxis des Vorlesens begleitet worden. McLuhan, S. 193. McLuhan, S. 193. McLuhan: Magische Kanäle, S. 81.
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Denken des Menschen. Seit der ›Gutenberg-Galaxis‹ sind es endgültig die Medien – um eine pointierte Formulierung Leschkes aufzugreifen –, »die die Helden für die Geschichte stellen.«58 Daran lässt sich wiederum deutlich ablesen, dass das zentrale medientheoretische Axiom McLuhans, eben dass das Medium die Botschaft sei, von McLuhan selbst historisch verankert wird. Zum einen wird es so kulturhistorisch relativiert, zum anderen aber zur zentralen Beschreibungsformel der abendländisch-neuzeitliche Kultur universalisiert. (4) McLuhan rekurriert bei der Beschreibung der ›Gutenberg-Galaxis‹ signifikanterweise nicht mehr, wie in den vorangegangenen Zeitaltern, auf semiotische Codes (Sprache, Schrift), sondern zum ersten Mal in der Leitmedienreihe auf technisch-apparative Aspekte. Genau diese Umstellung der Betrachtung von semiotischen Aspekten auf technisch-apparative ist die wohl wichtigste Konsequenz, die mit der Umstellung von der rhetorischen Figur auf kausale Argumentation einhergeht. Denn der Rekurs auf technisch-apparative Aspekte liefert ein zentrales Differenz- und damit auch ein vermeintliches Legitimationskriterium für die medientheoretische Forschung. Wird doch dadurch ein zumindest in den Geisteswissenschaften bis dahin marginalisierter Aspekt thematisiert, eben die Relevanz technisch-apparativer Aspekte für Kommunikation, Wahrnehmung und Erkenntnis. Zumindest für den neuzeitlichen Rahmen wäre also die Medientheorie McLuhan’scher Prägung die Zentralinstanz, die die anderen traditionellen geisteswissenschaftlichen Disziplinen medientechnisch instruiert, reformiert, wenn nicht revolutioniert. Hiermit ist denn auch ein Differenzkriterium zur Medientheorie Derrida’scher Provenienz gefunden. Geht es dort vorrangig um die Codeaspekte der Medien, so ist hier mit Rekurs auf das gedruckte Buch auf die Relevanz der Technik verwiesen. Damit ist denn auch der linguistic turn eben nicht wie bei Derrida ausgeweitet bzw. radikalisiert, sondern kritisiert und somit zuallererst eine eigenständige, materialistisch ausgerichtete Medientheorie zumindest behauptet. Die Ironie dieser Konturierung liegt freilich darin, dass tatsächlich nur sehr beschränkt die Materialität der Gegenstände berücksichtigt wird, obwohl es doch das Legitimationsargument schlechthin darstellt.59 Denn nicht nur wird das ›Buch‹ auf das gedruckte Buch reduziert, sondern auch 58 59
Leschke: Einführung in die Medientheorie, S. 252. Zu den Facetten des Buchs und der Materialität des Buchs vgl. Rautenberg: Reclams Sachlexikon des Buches.
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Differenzen in der Buchgestaltung, Veränderungen der Buchdrucktechnik, die Differenz verschiedener Druckerzeugnisse (Zeitung, Magazin, Buch etc.) oder auch die Distributionsaspekte werden überhaupt nicht in den Blick genommen. Seinen Grund hat diese Ignoranz nun nicht so sehr darin, dass in einem umfassenden medientheoretischen Entwurf, der seine Thesen im großen kulturgeschichtlichen Rahmen entfaltet, nicht auf jede technische Veränderung eingegangen werden kann. Vielmehr hat es seinen Grund im uneigentlichen Gebrauch des Ausdrucks ›Buch‹. Oder etwas schärfer formuliert: Im Missbrauch einer Synekdoche für ein monokausales, materialistisch grundiertes und darüber hinaus hochgradig normativ aufgeladenes Legitimationsargument findet die Medientheorie eine ihrer durch und durch problematischen, von Widersprüchen durchzogenen Grundlagen.
7 Der Jargon der Uneigentlichkeit oder: Die Funktion des Buchs in der Medientheorie Erstaunlich genug ist es, dass viele Medientheoretiker McLuhan in der Beschreibung des Buchs gefolgt sind,60 und dass es ein Ausdruck wie ›Gutenberg-Galaxis‹ gar in den illustren Kreis der Grundbegriffe der Medientheorie geschafft hat.61 Und selbst wenn Medientheoretiker sich dezidiert von McLuhan absetzen, gerade, was die Perspektivierung des Buchs betrifft,62 und auch wenn viele Aspekte inzwischen vielschichtiger und differenzierter betrachtetet werden,63 so sind doch die McLuhan’schen Implikationen weiterhin omnipräsent im medientheoretischen Diskurs.64 Da diese Implikationen immer noch attraktiv scheinen, obwohl doch viele Schwierigkeiten damit einhergehen, möchte ich abschließend der Frage nachgehen, welche Art Attraktivität dieser Gebrauch des uneigentlichen Ausdrucks ›Buch‹ für den medientheoretischen Diskurs eigentlich besitzen kann, dass er dort derart erfolgreich Karriere machen konnte. Der naheliegendste Grund mag darin zu finden sein, dass durch solch einen uneigentlichen Gebrauch Komplexität radikal reduziert werden kann. 60 61 62 63 64
Vgl. z. B. Flusser: Schrift. Vgl. Höltschl: Gutenberg-Galaxis. Vgl. z. B. Postman: Wir amüsieren uns zu Tode. Vgl. mit Bezug auf den Buchdruck Giesecke: Buchdruck oder allgemeiner Debray: Mediologie. Auch z. B. dort, wo dies explizit zurückgewiesen wird, vgl. z. B. Bolter: Writing space.
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Damit werden komplizierte Wirkungen auf einfache Ursachen rückführbar. Aus dieser Sicht gibt es gute Gründe, Medientheorie eine kompensatorische Funktion der Sinnorientierung zuzuweisen.65 Dabei wird auch durch die uneigentliche Rede über das ›Buch‹ die Schwierigkeit umgangen, den Gegenstand Buch näher bestimmen zu müssen. Denn dann wäre man mit dem Problem konfrontiert, das Buch mit Bezug auf unterschiedliche und eben auch unterschiedliche materielle Kontexte bestimmen zu müssen. Durch die Reduktion auf das ›Buch‹ der Druckerpresse wird das Buch operationalisierbarer, zwar nicht in einem wissenschaftstheoretischen Sinne, umso mehr aber hinsichtlich sinnstiftender Orientierung. Weiterhin orientierten sich die Beschreibungen des Buchs in der Medientheorie an Darstellungen, die seit Jahrhunderten in diversen Diskursen ausfindig zu machen sind. Dementsprechend partizipiert die Medientheorie auch und gerade in ihren Radikalisierungstendenzen an der vermeintlichen Evidenz einer solchen über Jahrhunderte tradierten gesellschaftlichen Selbstvergewisserungsformel. Überdies bindet die Medientheorie ihren Legitimitätsanspruch an die kausale Wendung einer rhetorischen Figur. Mit dieser kausalen Wendung wird nämlich sehr einfach und klar eine Differenz markiert zu bisheriger geisteswissenschaftlicher Forschung, die – so zumindest die Behauptung – bisher die Materialität ihrer Gegenstände nicht oder doch nur marginal untersucht habe. Damit einher geht auch die Behauptung, dass die medientheoretische Perspektive von ungemeiner Relevanz für die gesamte Forschung sei. Und da die Medientheorie die Frage nach der medialen Präfiguration der Wahrnehmung von Welt stellt, ist damit immer auch impliziert, dass sie auch die Frage nach den Effekten der medientechnischen Grundlagen auf wissenschaftliche Forschung stellt. Dass die Forschungsergebnisse nicht in einem gerade geringen Maße in Form von gedruckten Büchern zirkulieren, und – unter medientheoretischem Axiom betrachtet – ihre Ergebnisse selbst als Effekte des Mediums ›Buch‹ zu begreifen sind, stellt eine Pointe dar, die bereits McLuhan, aber noch genüsslicher Friedrich Kittler nicht müde wird, den Geisteswissenschaftler als Ausweis ihres blinden Flecks zu präsentieren.66 Dass das materialisti65 66
Vgl. dazu auch Leschke: Medientheorie, S. 237–245. Vgl. z. B. in diesem Kontext den programmatischen Slogan ›Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften‹, den Friedrich Kittler für einen Sammelband wählt; vgl. Kittler: Austreibung des Geistes. Was dort noch auf den französischen Poststrukturalismus bzw. Derrida’scher Dekonstruktion und dessen ›Spiele mit den Signifikanten‹ gemünzt und also noch auf der Codeebene verhandelt wird, wendet Kittler später in Schriften wie »Grammphon Film Typewriter« in eine materialistisch-technikzentrierte ›Austreibung des Geistes
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sche Argument aber aus dem Geist der Rhetorik und damit eben auch aus einem philologischen Geist geboren ist, wird dabei gerne übergangen. Strategisch gesehen ist es freilich konsequent. Dass die Medientheorie mit Uneigentlichkeit zu tun hat, ist für diese Forschungsausrichtung konstitutiv. Dass sie den Formen der Uneigentlichkeit einen Eigenwert zuspricht und diese Formen als wichtige Aspekte der Wahrnehmung, Kommunikation und Erkenntnis versteht, führt vielleicht einige erkenntnistheoretische Schwierigkeiten mit sich, scheint aber dennoch fruchtbare Perspektiven auf alte Probleme werfen zu können. Weit weniger problematisch ist dies auf jeden Fall als der Gebrauch der uneigentlichen Redeweise, die den medientheoretischen Diskurs durchzieht und für die eine Präzisierung der dort zirkulierenden Modelle nicht gerade behilflich sein dürfte. Weniger dramatisch dürfte dies jedoch in den Fällen sein, in denen die rhetorischen Figuren als solche klar erkennbar bleiben (etwa bei Derrida), schwerwiegender hingegen, da, wo die Figuren hinterrücks zu Argumenten mutieren (etwa bei McLuhan). Umso frappierender scheint das auch deswegen zu sein, weil Derrida seinen Gebrauch von rhetorischen Figuren offen ausstellt, nimmermüde auf die Relevanz des Spiels der Zeichen hinweisend.67 Währenddessen McLuhan gerade von der Relevanz der materiellen Aspekte jenseits der Zeichen überzeugen möchte und genau dafür ein verschleierndes Spiel mit den Zeichen treibt.68 Insofern scheint es mir auch kein Zufall zu sein, welche uneigentliche Redefigur die jeweiligen Autoren bevorzugen. Derrida wählt vornehmlich die Metapher als eine Figur, die Verbindungen mittels Ähnlichkeit herstellt. Diese Ähnlichkeiten münden aber nie in eine Identitätsbehauptung, sondern führen immer auch die Differenz der Vergleichsobjekte mit. Im Gegensatz dazu wählt McLuhan die Synekdoche – eine Figur, die gerade in der pars-pro-toto-Variante eine Wendung zu einer monokausalen Argumentationsfigur nahe zu legen scheint, wird doch schnell einmal aus dem Teil, das für das Ganze steht, das Teil, das das Ganze verursacht.
67 68
aus den Geisteswissenschaften‹. Zur pointierten Darlegung, dass der Geist ein Effekt des Buchdrucks sei, vgl. Kittler: Nacht der Substanz. Derrida weißt der Metapher explizit erkenntnisirritierende wie -konstitutive Funktion zu; vgl. Derrida: Weiße Mythologie. Am Rande soll dennoch erwähnt sein, dass es inzwischen auch im medientheoretischen Diskurs sehr viel versprechende Ansätze gibt, die nicht nur nicht einfach uneigentlich über die Dinge sprechen, sondern die vor allem bestrebt sind, unterschiedlichen Perspektiven zusammenzuführen. So wird z. B. mit dem Konzept Kulturtechnik zu fassen versucht, dass und wie die Codierungs-Ebene mit der Ebene der technischen Apparate und mit den jeweiligen Praxen zusammenhängen; vgl. zu diesem Ansatz einleitend Krämer/Bredekamp: Kultur, Technik, Kulturtechnik sowie Winkler: Basiswissen Medien, S. 92.
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Medienwissenschaft – Buchwissenschaft. Ansätze zu einer Agenturtheorie des Buchs 1 2 3 4 5 6
Vorbemerkungen: Buchwissenschaft – Medienwissenschaft? Altes Medium – Neues Medium Agenturtheorie des Buchs Mediendiskurse – Buch-Handlungen Medienwissenschaft – Buchwissenschaft: Perspektiven Literaturverzeichnis
1 Vorbemerkungen: Buchwissenschaft – Medienwissenschaft? Die Frage nach dem Verhältnis der ›Buchwissenschaft‹ zur ›Medienwissenschaft‹ setzt Annahmen voraus, deren wissenschaftstheoretischer Status in doppelter Weise umstritten ist. Während das Buch in seiner Materialität lebensweltlich auf der Hand liegt, ist es nicht zuletzt die Frage nach der Immaterialität der Medien, welche eine ›Medienwissenschaft‹ begründet hat. Abgesehen von den begriffsgeschichtlichen Implikationen eines ›magischen‹ oder ›parapsychologischen‹ Medienbegriffs ist das Problem der ›Medialität‹ das der Bestimmung von Transaktionen, die den Sinnen weitgehend entzogen sind. Der Diskurs über ›virtuelle Realität‹ der Digitalmedien hebt auf den Widerspruch zwischen ›Virtualität‹ und ›Realität‹ ab. Die ›Wellen‹ des Rundfunks sind der Erfahrung weitgehend entzogen. Was auf dem Bildschirm ›erscheint‹, durchläuft komplexe En- und Dekodierungsprozeduren. Werden menschliche ›Körper‹ zum Zwecke des Informationsaustauschs mit Hilfe technischer Medien verbunden, so verdankt sich die künstlich wiederhergestellten ›Sinnlichkeit‹ technischer ›Interfaces‹. Sie werden ingenieurmäßig entwickelt und von eigens dafür geschulten Organisationen bereitgestellt. Medien organisieren komplexe Informationsübergänge. Medien in dieser praktischen Definition sind technisch bestimmt, zugleich aber auch ›Kommunikationsorganisationen‹. Diese wiederum ver-
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festigen sich dauerhaft als ›inkorporierte Persönlichkeiten‹, als ›Firmen‹, ›Gesellschaften‹, ›Anstalten‹, die zwischen den ›Urheber‹ und den ›Nutzer‹ treten. Sie entstehen im Laufe der Mediengeschichte, differenzieren sich aus und drohen, wieder zu verfallen. Beispielhaft steht dafür wieder das Buchwesen: Bücher werden von Autoren konzipiert, als Manuskripte produziert, nach Regeln drucktechnisch hergestellt, gesetzt, vervielfältigt, vertrieben und (vielleicht auch) gelesen. Ihr ›Inhalt‹ ist das, was von dem ›inneren Auge‹ bei der Lektüre wieder entsteht. Genauere Hinsicht kann denn auch zeigen: Die ›Medialität‹ des Buchs besteht keineswegs im gebundenen Papier oder den schwarzen Buchstaben und den bunten Bildern darauf. Ein Autor vermittelt seine ›Botschaft‹ über ein technisches Medium und eine Kommunikationsorganisation (das Druck-, Verlags- und Buchhandelswesen) an Leser. Dieser Prozess vollzieht sich in Raum und Zeit zwischen Personen. Seine raum-zeitlichen Dimensionen sind medienspezifisch. Ein Medium kann schnell oder langsam sein, es kann in die Breite wirken und für wenige oder viele Personen dienlich sein. Das ›Buch‹ hält, auch in dieser Beziehung beispielhaft, blickt man auf den Gesamtkontext des gegenwärtigen Medienensembles, eine Mittelstellung. Es ist weder besonders schnell, noch im Regelfall global, noch generell ein Massenmedium. Tendenziell aber zielt das Buch auf grenzenlose Verbreitung an eine möglichst große Zahl an Lesern. Es bedient die Gesamtheit der ›literarischen Gattungen‹, einschließlich der ›Progressiven Universalpoesie‹, dem modernen, literarischen ›Gesamtkunstwerk‹, dem ›Roman‹ und seinen Schwestergattungen. Es stellt Protogattungen für die ›Neuen Medien‹ bereit und ist selbst zum ›Neuen Medium‹ geworden. ›Bücher‹ sind – bis heute – unverzichtbar in allen Bereichen der gesellschaftlichen Kommunikation. Sie vermitteln qualifizierte Bildung, Information und Unterhaltung an eine Vielzahl von Publika, den kleinsten Kreis wie auch ein Massenpublikum. Sie sind Träger einer besonderen Sparte der ›Kunst‹ in ›Prosa‹ und ›Poesie‹, der ›Literatur‹ und vermitteln bildende Kunst in Reproduktionen und Musik in Noten. Man kann Literatur des kleinsten Kreises, Nationalliteratur und ›Weltliteratur‹ unterscheiden. Bücher haben einen nicht geringen Teil am kulturellen Theater der Erinnerung. Die besondere Wirkung des Gedichts, von Literatur schlechthin, (nach Friedrich Schiller) ist die der »fernenden Erinnerung«, oder, mit William Wordsworth, »emotion recollected in tranquillity«.1 Das Buch ist das stille, dis1
Diese Einsicht geht zurück auf Klaus Dockhorn. Vgl. Dockhorn: ›Memoria‹ in der Rhetorik, S. 97–99.
Medienwissenschaft – Buchwissenschaft. Ansätze zu einer Agenturtheorie
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tanzierende Medium. Zielte die Rhetorik, basierend auf der Grammatik als Theorie der Schrift, auf ein Präsenzpublikum, also auf eine Vielzahl an Personen in maximaler Direktheit, so schafft das Buch Distanz zwischen Autor und Leser, andererseits eröffnet es ein neues, virtuelles Forum. Das Buch hat Teil an einer medialen Kette, die vom Autor zum Nutzer läuft, die in komplexen Verarbeitungsprozessen auch immer wieder in sich zurückkehrt und in der der Autor zugleich zum Nutzer wird. Die Digitalmedien, basierend auf der Technik der ›Graphischen Datenverarbeitung‹, haben einerseits die höchste Nähe zum Buch, sind aber, mediengeschichtlich, vom Buch auch am weitesten entfernt. Die Wiederkehr des Buchs in den Digitalmedien setzt eine Differenz voraus, die, trotz aller Näherungen, stets erhalten bleibt. Die Nutzungsformen der elektronischen Bücher sind von der des ›guten alten‹ Buchs material, sinnlich unterschieden. Das neue feste Buch entsteht in einem Prozess der Re-Materialisierung der verarbeiteten Texte durch den Ausdruck auf Papier, das in aller seiner Vergänglichkeit dem Buchstaben Dauer verleiht. Alle diese Funktionen und Prozesse, die alten ›graphischen‹ wie auch die neuesten ›digitalen‹ werden im ›Buchwesen‹ in hoch differenzierter und professioneller Weise in dafür eigens entwickelten Organisationen integriert. Die Grundfrage einer Buchwissenschaft als Medienwissenschaft ist somit die paradoxe Frage nach der ›Immaterialität‹ des Buchs. Medienwissenschaft operiert mit Medienbegriffen, die abgeleitet sind von technisch spezifizierten Kommunikationsorganisationen, von sehr unterschiedlichen ›Firmen‹ im weitesten Sinn des Wortes. Ein umfassender Begriff von Medialität entfaltet sich material erst in einer Mediengeschichte, die dann von der Schrifterfindung bis zu den modernen Digitalmedien, quasi als große Fortschrittslinie medialer Technologien aufgeschrieben wird. Die naturwissenschaftlichen Voraussetzungen medialer Apparate und die gesellschaftlich-ökonomischen Bedingungen gehen ein in genuin kulturelle Prozesse, in Hervorbringungen von Menschen für Menschen, die wiederum durch Menschen vermittelt werden. Dass Medien als Kommunikationsorganisationen mit einer Stimme sprechen sollen, hebt auf eine Utopie der Unmittelbarkeit ab, die bereits mit dem Schriftgebrauch verabschiedet wurde. Medien als Übergänge lassen sich über die jeweilige technische Konfiguration genauer bestimmen. Dies heißt aber auch, dass sich eine Medienwissenschaft, in einem materialen Sinn, stets nur an Medienwissenschaften, an eine Pluralität von Übergängen anschließen und begründen lässt, will sie sich nicht in bloße Spekulation oder Medienutopien verlieren.
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In dieser historisch angelegten Theorie der Medien ist die Frage »Was ist ein Buch?«, also die Grundfrage einer Wissenschaft vom Buch, einbeschlossen, als ein großer Schritt in einer Geschichte, die zugleich auch eine Systematik der Medienkonfigurationen, -konstellationen und -relationen abgibt. Mit diesem mediengeschichtlichen und funktionstheoretischen Ansatz kann der Versuch unternommen werden, die auseinander strebenden Epistemologien einer technologisch-ökonomischen, einer sozialwissenschaftlich-empirischen und einer kulturwissenschaftlichen Medienforschung zumindest tendenziell zu integrieren. Dies gilt gleichermaßen auch für einen buchwissenschaftlichen Ansatz. Ist die Trennung der Dimensionen des Buchs, der Technik, der Ökonomie, der Kommunikation und der Ästhetik auch im Blick auf die Inhalte, soweit sie über diese erste technische Graphie reproduziert und mit Gewinn distribuiert werden können, also Texte und unbewegte Bilder durchaus sinnvoll, um Einzelaspekte hinreichend zu klären, so ist doch die Gesamtperspektive, der Prozesse der Herstellung und des Vertriebs, die Druckerei, der Verlag und das Sortiment – die frühe Funktionstrennung – stets auf den Gesamtprozess des Schreibens und des ›Lesens‹ als integraler kommunikativer Prozess höchster kultureller Bedeutung bezogen. Einerseits also lässt sich Buchwissenschaft nicht auf ein bloß Vorfindliches, auf Historie von Erfindung und Ausbreitung, auf die Gestaltung, Herstellung und Ökonomie des Buchs und seine Rolle im Prozess der Zivilisation reduzieren, also auf ›die Bücher‹ – was Material genug für eine einlässliche Buchwissenschaft sein kann, die mehr darstellt als eine ›Buchkunde‹ alter Art. Andererseits lässt sich die These aufzustellen, dass Medienwissenschaft ohne Buchwissenschaft als Wissenschaft der ersten technischen Graphie und deren Vorgeschichte über weite Bereiche zu einem leeren Wortspiel ausarten kann, Begriffe ohne Inhalt traktiert, also, mit Kant, ›hohl‹ sei. Eine Buchwissenschaft im definierten Sinn aber kann auch ohne Medienwissenschaft sehr gut und auch sehr erfolgreich betrieben werden, da sie ein Wissen organisiert, was einen Medienbegriff impliziert und auch explizieren hilft, aber materialiter kaum auf ihn angewiesen ist. Der Rekurs auf einen Medienbegriff kann ihr gelegentlich sogar lästig sein, da er zu einer Reflexion zwingt, der von ihren konkreten Untersuchungen und Zielstellungen im Wortsinn einer reflexio ablenken kann. Der folgende Beitrag kann keineswegs eine einfache Lösung der Problematik des Verhältnisses von Buchwissenschaft und Medienwissen-
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schaft anbieten. Er verzichtet bewusst auf eine Denkfigur der Überordnung von Theorie (sprich Medientheorie) und Praxis (sprich Buchwissenschaft), die in wissenschaftlichen Praxen zu gelegentlich unlösbaren Dominanz- und Revierstreitigkeiten führen kann. Er postuliert vielmehr ein historisch gesättigtes Wechselverhältnis zwischen Medienwissenschaft und Buchwissenschaft, das Theorie wie Praxis auf beiden Seiten vermutet. Aus diesem Ansatz, der eine integrative Medienwissenschaft auf eine Buchwissenschaft bezieht und sich zugleich von dort theoretische, systematische und historische Klärung des medienwissenschaftlichen Feldes verspricht, sind einige Grundfragen herauszulösen. An ihnen sollte deutlich werden, dass es sich bei einem engen, wechselseitigen Reflexionsverhältnis von Medienwissenschaft und Buchwissenschaft nicht nur um eine für die Forschung attraktive fachliche Konfiguration handelt, sondern dass auch beide Seiten in ihren Fachbegründungen von diesem wechselseitigen Bezug profitieren können. Um dies noch zuzuspitzen: Es wäre nicht nur sinnvoll, sondern auch notwendig, die beiden Fächer (die durchaus unabhängig von einander betrieben werden können) in ein Reflexionsverhältnis zu setzen – wenn dies nicht schon seit Anbeginn der medienwissenschaftlichen Forschung überhaupt der Fall war, was aber durch die Dominanz der ›Neuen Medien‹, zunächst der analogen, heute der digitalen Bewegtbildmedien verdeckt schien. Die ›Neuen Graphien‹ bis zur Kinematographie und den audiovisuellen Medien haben das Schriftsystem grundsätzlich revolutioniert; gleichwohl rekurrieren sie auf die Schrift. Die eingangs angedeutete Prozessstruktur der audiovisuellen Medienproduktion kommt, professionell gesehen, ohne Schrift (einschließlich der Musiknoten und der graphischen Abbildungen), das Buch und das Theater nicht aus, auch wenn sie sich als Gegensatz im Fortschritt zu ihnen definiert. Dass die Medienästhetik vor allem als Ästhetik der Bewegtbild- und Tonmedien (des Films, der Schallplatte, der Hörfunks, des Fernsehens, der Audiovisionen) verstanden werden konnte, verdankt sie deren technischer Neuheit, welche die Konstitutionsbedingungen der technisch neuen Graphien und deren Fundierung in den ›Büchern‹ aller Art, gelegentlich gravierend unterschätzte. So viel z. B. für eine ›Bewegtbildwissenschaft‹ spricht, so wenig kann diese davon abstrahieren, dass es sich auch hier, der prinzipiellen Vorgabe folgend, um Wissenschaft in Form der Beschreibung handelt, die dann, für den Zuschauer (nicht für den Leser übrigens) diese ihre technische und kulturelle Konstitutionsbedingung in den Innenbereich der Produktion, als Arkana quasi des Regimes der technischen Graphien verbannt hat. Dass aber auch
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die alte Druckerei Arkana – schon aus handfesten ökonomischen Interessen – pflegt, als das Schreiben selber öffentlich werden sollte, ist einer der Grundwidersprüche, die sich von Medium zu Medium vererben. Medien versprechen die Herstellung von Öffentlichkeit, die sie selber zu scheuen scheinen wie die Teufel das Weihwasser. Die Druckerpresse diente den ›Humanisten‹ wie auch den ›Dunkelmännern‹, vor allem aber der ›Aufklärung‹, und dies über die Jahrhunderte hinweg, in denen sich Gelehrsamkeit, Alphabetisierung und Volksbildung durch ›das Buch‹ und dessen Plural enzyklopädisch verbreiteten. In diesem Sinne soll versucht werden, an einer Reihe von Gemeinplätzen des Mediendiskurses deren ›buchwissenschaftliche‹ Herkunft aufzuklären, und andererseits aber auch, einige buchwissenschaftlichen Argumentationen in medienwissenschaftlicher Hinsicht zu präzisieren. Dass dabei in der Folge nur auswählend und keineswegs vollständig verfahren werden kann, ist an dieser Stelle vorausgesetzt. Sinnvollerweise kann dabei auch auf andere Beiträge des Bandes verwiesen werden. Vier Fragen sollen in der Folge gestellt und, wo möglich, mit einer kurzen Antwort versehen werden. In einem ersten Schritt wird versucht, die historische und funktionsgeschichtliche Dimension des Verhältnisses von Medienwissenschaft und Buchwissenschaft unter der Fragestellung ›Altes Medium‹ – ›Neues Medium‹ ansatzweise zu entfalten. In einem zweiten Schritt wird theoretisch, aber praxisbezogen, nach der ›Natur‹ jener ›Firmen‹ zu fragen sein, welche Kommunikation organisieren, speziell, ob und inwieweit das ›Buchwesen‹ eine Form der Organisation entwickelt hat, welche – gegebenenfalls – eine paradigmatisch moderne Firmenstruktur darstellt. Aus den entsprechenden wirtschafts- und rechtswissenschaftlichen Theorieansätzen bietet sich hierzu die seit den 1930er Jahren entwickelte Agenturtheorie an, welche die ›Natur‹ von ›Firmen‹ generell modelliert. Der Begriff der Agentur beschreibt allgemein das asymmetrische Verhältnis zwischen einem ›Prinzipal‹ als Auftraggeber und einem ›Agenten‹, der sein spezialisiertes Wissen für diesen Auftraggeber einsetzt und dafür eine entsprechende Vergütung erhält. Eine Mehrzahl von Agenten bilden eine Agentur, die sich in einem hohen Maße verselbständigen kann. Medienorganisationen werden in der Folge als Agenturen mit hoch spezialisiertem Wissen verstanden, die ›Öffentlichkeit‹ herstellen. Das für die folgenden Überlegungen anzusetzende Begriffsfeld reicht von den vom Marvin Minsky beschriebenen Agenturen des Geistes, jenen Prozessen, die bewusstes Handeln, auch Sprache, hervorbringen und beschreibbar machen, bis zu jenem Begriff der ›Agentur‹ im ökonomisch-
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rechtlichen Bereich, wie ihn der Nobelpreisträger Ronald Coase, nicht ohne Grund zuerst in einer Kritik der Rundfunkordnungen der 1930er Jahre entwickelt hat und der für die neueren ökonomischen und rechtlichen Diskussionen um Regulierung und Deregulierung nicht nur der Medien leitend geworden ist.2 Damit wird der theoretische, in der Praxis durchgehend bewährte und anerkannte Ansatz der Agentur, ihrer spezifischen Asymmetrien und Professionalisierungen, die sich auch als ›Kulturen‹ beschreiben lassen, für ›Medien‹ spezifiziert und ist für das jeweilige Einzelmedium zu konkretisieren. Da es sich beim ›Medium Buch‹ um das paradigmatische ›Alte Medium‹ handelt, ist die Annahme erlaubt, dass eine Agenturtheorie des Buchs zugleich ein leitendes Paradigma einer Agenturtheorie der Medien bilden kann. In einem dritten Schritt wird die Frage gestellt, wie nach einer Systematisierung gegenwärtiger Mediendiskurse ›Handlungen‹ im Medienbereich ›medienwissenschaftlich‹ zu beschreiben wären und wie diese wiederum auf buchwissenschaftliche Fragestellungen zu beziehen sind. In einem übertragenen Sinn können die so spezifizierten Praxen und deren konkrete Ausdifferenzierung in einer Agenturtheorie des Buchs als ›BuchHandlungen‹ ausgewiesen werden. In einem vierten, abschließenden Schritt wird nach Forschungsperspektiven zu fragen sein, die sich einerseits auf die ›Inhalte‹ des Buchs, auf seine ›Herstellung‹, seinen ›Vertrieb‹ und schließlich auf seine ›Leser‹ beziehen. Letztere sind im heutigen, multimedialen Kontext immer wieder nicht nur ›Konsumenten‹, sondern auch kreative Verarbeiter dessen, was sie »an den buochen lezen«3. Das etwas abgewandelte Zitat aus einem Werk eines Autors der Epoche ›vor Gutenberg‹ mag zeigen, dass diese kreative Tätigkeit nicht nur das Ende, sondern zugleich auch der Ausgangspunkt kultureller Produktion durch und in Medien ist. Medien stehen zwischen Geist und Geist, zwischen Körper und Körper, schaffen sich Verständigung und stören diese – oft so nachhaltig, dass sie mit der Lüge selber identifiziert werden. So ist es nicht nur die Herstellung von Öffentlichkeit, mit der sie beschäftigt sind und von der sie leben, es ist auch die Frage nach ihrer Glaubwürdigkeit, ihrem ›Kredit‹, welche an die Medien gestellt wird.
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Eine Auswahl aus dem Schriftverzeichnis von Ronald Coase ist im Literaturverzeichnis am Ende dieses Beitrags aufgeführt. Hartmann von Aue: Der arme Heinrich, Prolog Vers 1–3: »Ein ritter so geleret was/daz er an den buochen las/swaz er dar an geschriben vant«.
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Die prekäre Frage nach den lügenden Menschen über die lügenden Bilder und Worte bis zu den lügenden Zeitungen, Büchern und elektronischen Medien, den Simulationen, die das Proprium der ›Neuen Medien‹ bilden, muss in der Mediengeschichte immer neu gestellt werden. Dass, im Blick auf ›Bildung‹ und einem emphatischen Begriff von Kultur, die jeweils älteren Medien den Vorzug vor den neueren erhalten, die Mündlichkeit vor der Schriftlichkeit, die Handschrift vor dem Gedruckten, das Gedruckte vor den bewegten Bildern, verrät etwas von der Kluft zwischen Geist und Geist, zwischen Körper und Körper, die, je neuer die Medien, auch umso breiter und tiefer gerät. Dass dabei das ›Buch‹ in zweifacher Gestalt auftritt, als ›altes‹, verlässliches, aber auch als ›neues‹, gar nicht so zuverlässiges Medium, konfrontiert die gegenwärtige Buchwissenschaft mit einem doppelten Bruch. In der Tat hat das Buch nicht nur als erstes der modernen Massenmedien, sondern auch als hoch individualisiertes Medium den Prozess der Digitalisierung durchlaufen.4 Es ist nicht nur das erste Massenmedium, sondern auch das erste Individualmedium. Die Massenpresse wie auch das Buch auf Abruf bedienen sich der gleichen Technologie. Die Umstellung auf Datenverarbeitung, wie der Prozess einst umständlich hieß, hat die Druckvorstufen, bis hin zum Druck selber, grundlegend verändert. Der ›Print Shop‹ ist, professionell, semiprofessionell oder schlicht dilletantisch genutzt, ein zentraler Teil der Programmumgebung jedes Rechners. Ob das ›Buch‹ dabei an Glaubwürdigkeit gewonnen hat, ist zu bezweifeln; erstaunlich aber ist, welch hohen Grad an Verlässlichkeit es dennoch bewahren konnte.
2 Altes Medium – Neues Medium Man darf und kann gegenwärtig also durchaus von einer »Wiederkehr des Buchs« sprechen.5 Das älteste der ›Neuen Medien‹ ist das Buch. Seine Geschichte und die Systematik des Wissens über Bücher – eingeschlossen das Wissen, das in den Büchern bewahrt und verbreitet wird – also sind für die Fragen »Was ist ein Medium?« und »Wozu brauchen wir Medien?« von paradigmatischer Bedeutung. Die vorbildliche Bedeutung des Buchs im gegenwärtigen Medienumbruch erschließt sich in zweierlei Hinsicht: Zum ersten ist es die schlichte 4 5
Vg. Schanze: Integrale Mediengeschichte, S. 269f.; Schanze: Die Tradition des Buchs, S. 1f. Schanze: Die Wiederkehr des Buchs, S. 53–60.
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Tatsache, dass Presse und Buch, aus technischen Gründen, die Digitalisierung als erste der ›Neuen Medien‹ abgeschlossen haben. Es folgten die Tonmedien und die Bewegtbildmedien, wobei ›das Fernsehen‹, also die entwickelte Audiovision, noch gegenwärtig sog. Statusberichte zur Digitalisierung mit unüberbietbarer Komplexität abliefert.6 Dabei könnte ›das Buch‹ – und hier ist die zweite Hinsicht angesprochen – eben jene Lösungen anbieten, die seitens der Bewegtbild-Industrie in Sachen ›rights management systems‹ immer noch mit Ausdauer gesucht werden. Die klassische ›Veröffentlichung‹ (›publishing‹) und die ›Bibliothek‹ (›library‹) bilden Modelle für die Welt der Digitalen Medien.7 Das Buch ist als ›altes‹ wie auch als ›neues‹ Medium gegenwärtig. Die Ko-Präsenz von verlässlicher Tradition und innovativer Technik geben ihm einen Vorsprung in der Gunst der Nutzer gegenüber allen anderen, neueren Digitalmedien, die immer noch mit komplexen technischen Handhabungsproblemen zu kämpfen haben. Als Speichermedium für Wissen ist es unverzichtbar, es liefert die Inhalte, den immer wieder neu zu verarbeitenden ›content‹, den die anderen elektronischen Medien nur mühsam bewahren können. Das Speichermodell des Wissens und der Wissenschaften bleibt, genauer gesehen, letztlich ein Buchmodell, mit ›volumes‹ und ›pages‹. Im kulturellen Bereich nimmt das Buchwissen eine nicht nur traditionelle, auszulegende Funktion ein, eine gelegentlich gigantisch anmutende Neuproduktion beweist seine Zukunftsbedeutung. Aus den traditionellen und aktuellen Buchpraxen ist auf die prinzipiell medientheoretische, mediensystematische und mediengeschichtliche Funktion der ersten technischen Graphie, des ältesten ›Massenmediums‹ überhaupt zu schließen. In medientheoretischer Hinsicht ist für das Buch die Konkurrenz von Bild, Ton und Schrift konstitutiv, wobei die Schrift im Form der Beschreibung und der Notation einerseits ein defizitäres Speicher- und Verbreitungsmedium darstellt, beide aber – und dies ist der mediengeschichtliche Sprung schlechthin – in einem Medium vereinigt. Das Defizit wird zu einem rationalen und rationalisierenden Fortschritt, welcher Mediengeschichte überhaupt begründet. Der Schrift gegenüber sind Bild und Ton die ›alten‹ Medien. In der medialen Repräsentation dagegen sind die Bilder und Töne, die als Kunstbilder und -töne im Kopf, auf dem Forum und auf dem Theater (bis hin zu den technischen Audiovisionen)
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Vgl. dazu ausführlich Rusch/Schanze/Schwering: Theorien der Neuen Medien. Vgl. Newcomb: Post-Network Television, S. 33–44.
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erscheinen, die ›neuen‹. Wie man von einem Film vor dem Film8 (in den Vorgängermedien der Kinematographie seit der Antike) sprechen kann, darf man auch von einem Buch vor dem Buch sprechen. Das erste gedruckte Buch war eine Simulation der mittelalterlichen Codices und die Bibliothek ist keine Erfindung der Neuzeit. Was von heute aus gesehen sich als Sprung von alt zu neu in der Mediengeschichte darstellt, lässt sich als diskontinuierlicher Prozess von technischen Entwicklungen ausweisen. Medienumbrüche, so die gegenwärtige Erfahrung mit den Digitalmedien, dauern lange, trotz der wahrgenommenen Plötzlichkeit und Einmaligkeit. Auch die Mediengeschichte des Buchs ist die einer Kontinuität in Diskontinuitäten. In ihr konfligieren der Augenblick einer gelingenden und sich schnell durchsetzenden technischen Erfindung – in der Verbreitung des Buchdrucks in Europa nachzuvollziehen – und die Notwendigkeit, den Umgang mit dem neuen Medium überhaupt erst zu lernen, wie die Geschichte der Alphabetisierung zeigt. Sie bezieht sich nicht nur auf die Lese- und Schreibfähigkeit im engeren Sinn, deren Erwerb als intellektuelle Leistung oft unterschätzt wird, da er in der Kindheit, fast naturwüchsig absolviert wird, sondern auch auf die folgende, nicht nur schulische Einübung in den Umgang mit der medienspezifischen Grammatik des Buchs: Typographie, Textorganisation und Textgliederung usw. Diese wird am gedruckten Buch entwickelt und erfordert einen Gewöhnungsprozess des Lesers bis in Rezeptionsstrategien hinein. Die Geschichte der Alphabetisierung, also wesentliche Stationen der Mediengeschichte des Buchs, wiederholt sich quasi in der Geschichte jedes Einzelnen, dem gebildeten Menschen. Aber auch die ›Filmsprache‹ muss gelernt werden. Die Kulturgeschichte der bewegten Bilder setzt auf einer Bildungsgeschichte auf, die ohne das Buch zum Film nicht gedacht werden kann. Gegenwärtig wird diese Einsicht unter dem Begriff ›computer literacy‹ neu erarbeitet. Tendenziell bietet der Ansatz des Buchs vor dem Buch, des Films vor dem Film, des Computers vor dem Computer, also die Umkehrung des Fortschrittsparadigmas und die Einsicht in die Mediengeschichte als Verlustgeschichte alter Sicherheiten, einen Ansatzpunkt, auch für die Buchgeschichte eine Geschichte der Diskontinuitäten zu postulieren. Die Durchsetzung des Druckmediums nach einer ›heißen‹ Erfindungsgeschichte vollzog sich in einer ›kalten‹ Alphabetisierungsgeschichte, die in Mitteleuropa um 1800 ihre sog. Sattelzeit erreicht. Die Einführung der Bild8
So der Titel des Buchs von Berns: Film vor dem Film.
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druck- und Massendrucktechniken im 19. Jahrhundert wurde nicht nur als Fortschritt der Menschheitsgeschichte begriffen. Den Massendrucktechniken folgten die ›guten‹ Bücher, das Interesse am ›schönen‹ Buch und ›bibliophilen‹ Bücher in der Buchkunst- und Pressendruckbewegung am Ende des 19. Jahrhunderts. Die Popularisierung der umfassenden Einsichten der Buchkünste der Renaissance kommt nicht von ungefähr im Zeitalter der Digitalen Medien auf. Wenn sich normativ verfestigte Strukturen, auch die des festen Buchstabens, auflösen, ist die Rationalität eines jeden Mediums kritisch zu befragen. Dies ist nicht zuletzt die Aufgabe einer Medienwissenschaft, wenn sie sich als praktische Wissenschaft begreift. Sie hat Handlungsmodelle bereit zu stellen, die Reflexion im Wortsinn ermöglichen. Sieht man das Wissen über die Herstellung, die Verbreitung und die Rezeption von Büchern als integralen, mediengeschichtlichen Augenblick an, der Dauer gewonnen hat, so ist auch von der ›Natur‹ dieser uralten ›Firmen‹ zu handeln, die, so hier die These, als Ausgangspunkte für die modernen Kommunikationsindustrien zu gelten haben. Sie nämlich stellen den ›festen Buchstaben‹, die Materialität des Buchs, her und sehen ihr ›Geschäft‹ darin, es zu vertreiben.
3 Agenturtheorie des Buchs Damit ist die zweite Fragestellung angesprochen. Wie, so ist zu fragen, lassen sich die ›Firmen‹ des Buchwesens genauer beschreiben? Was meinte Samuel Fischer, als er seine Briefe nicht nur mit seinem Namen, sondern mit »S. Fischer, Verlag« unterzeichnete? Sind Verlage, Druckereien, Buchhandlungen beliebige ›Unternehmen‹ am Markt, die Waren zum Ausstausch herstellen und vertreiben, oder handelt es sich beim »Geschäft mit Wort und Meinung«9 um ein Geschäft besonderer Art, dem unter herkömmlichen Gesichtspunkten des ›Marktes‹ im Sinne einer ›Profitmaximierung‹ nicht beizukommen ist? Worauf beruht seine besondere gesellschaftliche Bedeutung, wie erklärt sich das ›Interesse‹ des Staats am Buchmedium, die sich in Konfliktgeschichten zwischen staatlicher Machtausübung, bis hin zu verfassungsmäßigen Garantien der Zensurfreiheit manifestiert? Wenn die These von Medien als ›Agenturen der Öffentlich9
So der Titel eines Werks zu den Medienunternehmern des 20. Jahrhunderts. Vgl. Schulz: Geschäft mit Wort und Meinung; darin bes.: Schulz: Unternehmer im Medienbereich, S. 9– 22; Schanze: Samuel Fischer – Peter Suhrkamp – Siegfried Unseld, S. 147–164.
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keit‹ plausibilisiert werden kann, wenn das Buchwesen selber Organisationsformen geschaffen hat, die für den Begriff eines modernen Geschäftswesens (im Sinne einer Ökonomie der Informationsgesellschaft) leitend ist, so vermittelt eine Agenturtheorie des Buchs durchaus auch verallgemeinerbare, medienwissenschaftliche Erkenntnisse. Das gedruckte Buch stand nicht nur im Fokus gesellschaftshistorischer Debatten und Kämpfe, sondern war auch, wie Elizabeth Eisenstein in Bezug auf die Gutenberg-Erfindung formuliert hat, selber »Agent des Wandels«.10 Bereits mit der Schrifterfindung zugleich trat, gesellschaftshistorisch, ein Problem auf, das heute mit dem kritischen Terminus ›Digital Divide‹ in einer globalisierten Wirtschaft beschrieben wird. Es gibt neben denjenigen, welche die neuen Kommunikationstheorien beherrschen, solche, die sie nicht beherrschen. Die Herrschenden bedienen sich des spezialisierten Wissens, einst der Schreiber und (Vor-)Leser, dann der Drucker, Verleger und Buchhändler, dann der Audiovision und heute der Netzwerker. Mit der Technifizierung der Schrift durch den Druck wurden diese asymmetrischen Verhältnisse entscheidend verändert. Obwohl der Print Shop immer noch von einem Herrscher zu seinen Zwecken genutzt werden kann, bildet er jene Struktur des doppelten Prinzipals aus, der für moderne Medien als technisch spezifizierte Kommunikationsorganisationen kennzeichnend ist. Wie einerseits dem Buchwesen eine Funktion in der Meinungslenkung zugesprochen werden kann, so andererseits aber auch eine nicht zu unterschätzende Rolle im Prozess der Emanzipation. Wenn hier von ›Firmen‹ (den Druckereien, Verlagen, Buchhandlungen), also dem rechtlich-ökonomischen Aspekt des Buchwesens gesprochen wird, so ist dem Organisationsaspekt der Medienhandlungen eine genauere Kontur zu geben. Modelliert man Firmen als ›Agenturen‹, so lässt sich die Mikroebene (die hoch differenzierten Handlungen und deren Regeln) mit einer ökonomisch-sozialen Makroebene verbinden. Es ist charakteristisch für die Mediendiskurse, dass sie eine dezidierte Spannung zwischen ›Medien als Texte‹ und ›Medien als Organisationen‹ ausweisen. Der Versuch, diese Spannung rein technologisch zu beschreiben, bringt, gerade im Buchbereich mit seinem Übergang vom Schreiben zum Drucken, von einer ›Kunst‹ im alten Sinn (techne, ars) zu einer ›Kunst‹ im neuen Sinn (Technik) eine grundsätzliche medientheoretische Problemstellung, die Frage nach der Rationalität der Medien, auf, zu deren Lösung 10
Eisenstein: The Printing Press.
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eine Buchwissenschaft als Medienwissenschaft entscheidend beitragen kann. Es geht also nicht nur um eine Medientheorie, sondern vor allem auch darum, wie Medialität praktisch wird, und wie sie sich in neuen Organisationsformen und Institutionen verfestigt. Die Handlungsfiguren auf der (sprachlichen, schriftlichen) Mikroebene, so die These, lassen sich auf der (sozialen, ökonomischen, juristischen) Makroebene zur Beschreibung, Kritik und Prognostik auch für die ›Medien‹ und ihre von Handelnden für Handelnde durchgeführten ›Transaktionen‹ anwenden.11 Und umgekehrt: Am Medienbereich und an seinen Organisationsprinzipien lässt sich die Organisationsproblematik moderner ›Unternehmen‹, die nicht zuletzt mit ›Information‹ im weitesten Sinn handeln, in besonderer Weise verdeutlichen. Das dabei zu beobachtende grundsätzliche Widerspiel von rationaler ›Planung‹ einerseits, von ›Markt‹ anderseits gewinnt in diesem Bereich eine besondere Brisanz. Dies war, wie sich aus dem zitierten Schriftenverzeichnis12 ergibt, der Ausgangspunkt von Ronald Coase und seiner Theorie der ›agency‹.13 Entscheidend für die Bestimmung eines ökonomischen Organisationsmodells ist nach Coase die Rollenverteilung der Akteure im jeweiligen Modell. Er unterscheidet nach den Prinzipien des ›Marktes‹ und der ›Hierarchie‹. Das Prinzip des ›Marktes‹ geht aus von gleichgewichtigen, marktförmig tauschenden Akteuren, das Prinzip der ›Hierarchie‹ dagegen von ungleichgewichtigen Akteuren. Letzterem ist das Organisationsmodell der ›Agentur‹ zuzuordnen. Im asymmetrischen Verhältnis (›agency‹) zwischen einem beauftragenden ›Prinzipal‹ und einem eigenverantwortlich handelnden ›Agenten‹, der gegebene Aufgaben ausführt, kann der ›Prinzipal‹ (ökonomisch gesehen) in kostengünstiger Weise professionelles Wissen und professionelle Werkzeuge des Agenten nutzen. Die agenturtheoretischen Prinzipien gelten sowohl für ›private‹ wie für ›öffentliche‹ Unternehmungen. Sie betreffen die Führungsprobleme innerhalb einer ›Firma‹, den Informationsfluss, die Beobachtbarkeit von Leistung u. s. f. Sie betreffen aber auch das Verhältnis eines Auftraggebers zu seiner ›Agentur‹, seine Möglichkeiten, diejenigen, die für ihn professionell handeln, zu kontrollieren. 11 12 13
Die folgenden Überlegungen beruhen auf: Schanze: Ansätze zu einer Agenturtheorie, S. 79–86. Vgl. Anm. 2 und das Literaturverzeichnis. Neuere, weiter gefasste und insofern weniger spezifische Agenturtheorien müssen in der Folge außer Betracht bleiben.
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Von hier aus lassen sich Formen der inneren Organisation einer ›Firma‹ ableiten, auch Begriffe wie ›Delegation‹, ›Sanktionen‹ und ›incentives‹ finden ihre genauere Begründung. Wegen der für die moderne Unternehmensführung zentralen Fragestellung hat sich die Agenturtheorie, so, wie sie nach Coase weiterentwickelt wurde, vor allem auf firmeninterne Problemstellungen bezogen. ›Hierarchie‹ als Organisationsmodell gilt nicht mehr nur für staatliche Bürokratien allein, es wird in seiner Leistungsfähigkeit und in seiner Problematik für den Gesamtbereich aller Unternehmen im Kontext moderner, vom Informationsfluss bestimmter Gesellschaften betrachtet. Die eigentliche Provokation des Ansatzes bei Coase aber bildete die Unterstellung der Form der ›Hierarchie‹ unter den Kostengesichtspunkt. Kostenbetrachtungen gelten also nicht nur für die marktförmige Lösung (Transaktionen zwischen gleichgewichtigen Akteuren), sondern auch für die Hierarchielösung (Transaktionen zwischen ungleichgewichtigen Akteuren), wobei sich letztere bisher – scheinbar – dem Kostengesichtspunkt entzog. Es müssen sich also nicht nur alle marktförmigen Organisationen, sondern auch die hierarchischen Strukturen in öffentlichen, halböffentlichen, öffentlich-rechtlichen und privaten Bereichen begründet fragen lassen, wie sie es denn mit den ›Kosten‹ halten. Da ein Vergleichspunkt gegeben ist, entsteht darüber hinaus eine Alternative zwischen ›öffentlichen‹, ›hierarchisch‹ strukturierten und ›privaten‹, marktförmig agierenden Unternehmen (die selbst intern durchaus ›Hierarchien‹ sein können). Die Alternative ist in einer Vielzahl von Abhandlungen und empirischen Untersuchungen behandelt worden und hat eine breite publizistische ›Privatisierungsdebatte‹14 ausgelöst. Die Provokation besteht noch heute, gegebenenfalls auch in umgekehrter Richtung als bisher. Beiden Prinzipien, denen des ›Marktes‹ und der ›Hierarchie‹, so Coase, können kostengünstige Lösungen zugewiesen werden. Unter dieser Prämisse interessant ist z. B. die Perspektive von wirtschaftlichen Transaktionen, die innerhalb von Organisationen (Hierarchien, Unternehmungen) oder zwischen ihnen stattfinden, je nachdem, wo die Transaktionskosten geringer sind. Dies kann sowohl innerhalb der Hierarchie der Fall sein, also auch außerhalb, zwischen den Unternehmen, die selber wieder ›Agenturen‹ darstellen. 14
Coase selber hat sich nachdrücklich gegen aus seiner Sicht unnötige Staatsmonopole und staatliche Regulierung ausgesprochen, erkennt aber auch die Vorzüge des Hierarchiemodells aus ökonomischer Sicht. Die politische Debatte dagegen präferierte eindeutig das Modell der ›Deregulierung‹ bzw. der Privatisierung im Sinne von marktförmigen Lösungen.
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Ausdrücklich muss bemerkt werden, dass Coase einen sehr spezifischen Begriff des ›Marktes‹ nutzt, der mit dem im wirtschaftswissenschaftlichen Bereich heute gebräuchlichen, weiteren Begriff nur zum Teil identisch ist. Die heutigen Begriffsbildungen stehen in einem Forschungszusammenhang, in dem das Agenturmodell und der Markt nicht als strikter Gegensatz gesehen werden. Gerade die Entwicklung der Informationsgesellschaft hat das ›Hierarchiemodell‹ präferiert. Agenturen, so die neuere Sicht, aber handeln gleichwohl in einem Markt. Erklärungsbedürftig sind, bei Annahme des ›weiten‹ Marktbegriffs, allerdings bestimmte Handlungseinschränkungen, eben die ›Regulierungen‹ des Marktes. Zwischen atomistischer Freiheit und monopolistischer Planung wird ein verantwortbarer Mittelweg gesucht, der sich an einem wohlverstandenen Gesamtinteresse orientiert. Der engere Begriff des ›Marktes‹, als Gegensatz zum Begriff ›Hierarchie‹ verstanden, aber hat den Vorteil, eine klare begrifflich-organisatorische Alternative auszumachen. Sie ist historisch gesehen, wie zu zeigen sein wird, insbesondere für ›Medienunternehmen‹ von hoher Plausibilität. Als technische Informationssysteme sind sie mit den Entwicklungen, welche die moderne Unternehmenstheorie zu fassen sucht, aufs engste gekoppelt. Hier waren und sind bis heute ebenso marktförmige wie hierarchieförmige Systemlösungen zu diskutieren. Es ist zunächst die praktisch (und auch historisch) gegebene Alternative genauer zu fassen, um dann den Versuch zu machen, ihre Bedeutung für eine Prognostik zu bestimmen. Um Missverständnisse zu vermeiden, wird hier die Frage in den Mittelpunkt gestellt, welche Konsequenzen sich aus dem Konzept einer ›Hierarchie‹ bzw. einer ›Agentur‹ ergeben, wenn sie unter den Bedingungen eines heute im weiteren Sinn verstandenen Marktes arbeitet. Coase hat, wie eingangs bereits angeführt, selbst seine Prinzipien der Deregulierung und der Monopolkritik zuerst im Bereich der Medien und in Bezug auf ihre besondere Situation angewandt. Seine in den 1930er und 1940er Jahren viel beachteten Gutachten zur Situation des englischen Rundfunks stellen auch heute noch eine konzise englische Mediengeschichte dar, insofern sie insbesondere die Argumente zur Gründung des BBC-Monopols kritisch sichteten und die Bedeutung der Kanalvermehrung erstmals ansprachen. In den USA setzte Coase seine medienhistorischen Überlegungen, nunmehr ausgehend von der amerikanischen Situation, eindrucksvoll fort. 1979 hat er sich unter dem Stichwort ›Payola‹ mit den Zuwendungen an Programmverantwortliche im Zusammenhang mit der Platzierung von Schlagern im Programm befasst und damit eine fun-
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damentale Kritik der Regulierungsansätze geleistet. Vehement setzte er sich für ›Versteigerung‹ der Frequenzen und für eine Offenlegung der ›Preise‹ für ›Payola‹ zugunsten des Publikums ein. Es komme nicht darauf an, solche Zuwendungen als illegal zu erklären, sondern darauf, zu fragen, warum solche Zuwendungen gemacht werden, und zu klären, welche Wirkungen solche Illegalisierungen in der Welt, wie sie ist, überhaupt bewirken könnten. Coase traf fraglos den Punkt: bis heute ist ›Schleichwerbung‹ nicht zu verhindern. Warum also sollten die gezahlten Summen nicht legal dem Programm zugute kommen? Wenn Frequenzen und ›Product Placement‹ ihren Preis haben, könne ein Missbrauch am ehesten abgestellt werden. Da von hier aus die Ansätze von Coase ihre besondere, bis heute andauernde Wirkung entfaltet haben, der Deregulierungsgedanke zu seinem ureigenen Gegenstand zurückgefunden hat, so darf auch nach der impliziten Medientheorie, wie sie im Doppelmodell des ›Marktes‹ und der ›Hierarchie‹ gegeben ist, gefragt werden. Auch die Agenturtheorie ist medienhistorisch zu verorten. In der Tat sind die typischen ›Agenten‹ in besonderer Weise mediengeschichtlich qualifiziert. Der Anwalt ist Redner, redet für den Angeklagten, der Sekretär ist Schreiber, schreibt für den Kaufmann, der gute Handels- und Versicherungsvertreter nutzt seine Eloquenz und seine Kundenkenntnisse, der Prokurist und der Manager setzen ihre besonderen Kenntnisse in der Sache und der Menschenführung für ihren Prinzipal ein. Selbst für den Arzt und seinen Patienten gilt dies. Wo immer eine ›Agentur‹ angetroffen wird, wendet sie besondere Techniken und besonderes Wissen professionell an. ›Agenten‹ handeln stellvertretend, aber in einem hohen Maße selbstständig und eigeninteressiert. Sie spielen eine ›Rolle‹, gehorchen einer Vorschrift, gestalten diese Rolle aber professionell aus. Die Rollen- und Theatermetapher kommt nicht von ungefähr: Das stellvertretende Spiel nach Vorschrift findet sein Modell in der Arbeit des Schauspielers. Auch hier gilt das für Agenturen anzusetzende Prinzip der Asymmetrie zwischen Auftraggebern und Agenten. Blickt man jedoch auf das erste der umfassend institutionalisierten Medien, das Theater, so zeigt sich, dass bereits hier der Begriff ›Prinzipal‹ eine doppelte Bedeutung gewinnt: Der Theaterdirektor als Prinzipal seiner Schauspieler setzt seine Truppe für einen Prinzipal besonderer Art ein. Er fungiert als Unterhalter für einen Fürsten, einen ›princeps‹. An dessen Stelle tritt im ›bürgerlichen‹ Theater das vage umschriebene Publikum,
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»Postulat wie Kirche«, wie Friedrich Schlegel um 180015 formuliert hat. Der Prinzipal des Wandertheaters wird seinerseits zum ausgewiesenen Fachmann im Sinne einer Theaterbürokratie. Aus dem Repräsentationstheater des Fürsten wird das ›Nationaltheater‹. In die Rolle des Prinzipals als Auftraggeber tritt die ›Öffentlichkeit‹, in deren Namen und Interesse nun die ›Agentur‹ Theater handeln soll, sofern nicht eine marktförmigprivate Struktur (die Form des ›Geschäftstheaters‹, in der der Prinzipal auf eigene Rechnung tätig ist) gewählt wird. Für einen ›Autor‹ dienen Medien als Mittel der ›Veröffentlichung‹, die ›Öffentlichkeit‹ (das ›Publikum‹) wird über das ›Medium‹ hergestellt und ist letztlich die Instanz, der nicht nur das Medium als Kommunikationsorganisation, sondern auch der ›Urheber‹ der Botschaft zu dienen hat. Das jeweilige ›Medium‹, das einen Übergang organisiert, steht also (mindestens) zwischen zwei Auftraggebern: den ›eigentlichen‹ Urhebern und dem ›Publikum‹, gegenüber denen es als Dienstleister auftritt. Damit sind Medien im Sinne der ökonomischen Theorie ›Agenturen‹ besonderer Art. Ihr Status ist, so die These, der einer Agentur mit einem doppelten Prinzipal. Im Druckmedium gibt es, sehr praktisch, seit Anbeginn ›Prinzipale‹ im engeren Sinn, aber auch das ›Publikum‹. Theoretisch ist der Autor Auftraggeber, der sich einen Verleger als Agenten suchen kann. Geht er jedoch einen Vertrag ein, ist er an den Verleger gebunden; er arbeitet, setzt man ›wirkliche‹ Verhältnisse an, letztlich sogar in dessen Auftrag. Hier wird aber, nicht zuletzt zum Schutz des Autors und seines ›geistigen Eigentums‹ im Sinne einer ›Nationalliteratur‹ für das Gesamtsystem des Buch- und Pressewesens ein ›öffentliches Interesse‹ angenommen. Die Rollenverteilung, und damit die Natur der Firma, aber ist, von Anbeginn, nicht eindeutig. Das Pressewesen insgesamt ist heute, oberflächlich gesehen, durchgehend marktförmig organisiert. Zugleich unterliegt es, seit es öffentliche ›Schriften‹ gibt, eingreifenden Regulierungsversuchen seitens kirchlicher und staatlicher Institutionen. Die Druckmedien passen sich mit ihrer materialisierten ›Ware Buch‹ oder ›Ware Zeitschrift/Zeitung‹ in das marktförmige System ein. In den Diskussionen um die ›Pressfreiheit‹ im 19. Jahrhundert, in der Zensurdiskussion der Literatur- und Theatergeschichte, finden sich bereits die klar ausformulierten Gesichtspunkte zu der damit verbundenen Problematik, die auch für die neuere Mediendiskussion fruchtbar gemacht werden können. Dokumente sind die Brief15
Lyceums-Fragment Nr. 35. In: F. S.: Charakteristik und Kritik I (1796–1801). Hrsg. u. eingeleitet v. Hans Eichner. München u. a. 1967 (Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. 2), S. 150.
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wechsel der Autoren mit ihren Verlegern, die sich in den Briefwechseln zwischen Autoren und Fernsehanstalten fortsetzen. Im Sinne der Agenturtheorie kann man unterscheiden zwischen ›öffentlich-rechtlichen‹ und ›privaten‹ Agenturen, die beide in einem Markt im weiten Sinne ihre Dienste anbieten. Der ›eigentliche‹ Auftraggeber der ›öffentlich-rechtlichen Agentur‹ ist schwer fassbar, was die ökonomische Betrachtungsweise unter Kostengesichtspunkten fraglos erschwert. Die Agenturtheorie gibt zwar die Grundstruktur angemessen wieder, die genannten Einschränkungen haben aber konkret immer wieder zu Organisations-, Kosten- und Akzeptanzproblemen geführt. Die Schwäche des Autors im Mediensystem ist eine bekannte Erfahrung. Das ›öffentliche Interesse‹ (die Prinzipalfunktion höherer Ordnung) an den Mediensystemen des ›bürgerlichen Zeitalters‹ wird durch Parteien und ›gesellschaftliche Gruppen‹ wahrgenommen, die selbst ein Eigeninteresse haben. Dies gibt ihnen eine relative Freiheit des Handelns, die nur dort eingeschränkt wird, wo sie sich um Alimentierung ihrer Leistungen beim Prinzipal bemühen muss. Der Grundsatz der Kunstfreiheit ist als oberster Wert allgemein anerkannt; von ihm aus leitet sich die allgemeine Aufgabenstellung ab. Problematisch wird die Aufgabenstellung dann, wenn der Typ einer Agentur der Öffentlichkeit unter die Bedingungen des weiter gefassten ökonomischen Marktbegriffs tritt. Dass für die Medienorganisation selber das ›Hierarchiemodell‹ gilt, ist medienhistorisch also durchaus begründet. Ein ›gleichgewichtiger Vertragspartner‹ auf einem ›Markt‹ ist für Aufgaben wie ›Bildung‹ kaum zu erkennen. ›Information‹ ist keine Ware im üblichen Sinn, auch wenn von einer Pressekonkurrenz gesprochen wird. Eher gilt die Warenform für ›Unterhaltung‹ im Sinne der Buch- und der Filmkonkurrenz. Das Modell der Hierarchie wird dysfunktional offensichtlich dann, wenn seine Prinzipien mit denen eines ›Marktes‹ sich so vermischen, dass eine Kontrolle der Transaktionskosten nicht mehr möglich ist, oder das Entstehen eines Preissystems durch Regulation behindert wird. Umfassenderer ›Markt‹ im weiteren Sinn wird dann als Weg zur besseren Kostenkontrolle gesehen. Aber auch das Gegenteil kann der Fall sein, wie die Argumentationen um die Praxis der gebundenen Endpreise für Bücher (›Buchpreisbindungsgesetze‹) zeigt. ›Monopole‹ lassen sich aus dem Hierarchiemodell allein nicht rechtfertigen. Gerade die ›Vielfalt‹ kann als öffentliches Interesse ausgewiesen werden. Der Agenturbegriff erscheint, wie die wenigen Hinweise zeigen, geeignet, nicht nur im Medienbereich generell, als medienwissenschaftlicher Begriff, zur Analyse eingesetzt zu werden, sondern verspricht auch buch-
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wissenschaftliche Aufklärung. Er hat den Vorteil – als funktionstheoretischer Begriff – mediale Praxen zu beschreiben und, wo notwendig, auch zu kritisieren.
4 Mediendiskurse – Buch-Handlungen Welche grundsätzlichen ›Handlungen‹ sind es, die im Binnenbereich der ›Agenturen der Öffentlichkeit‹, speziell des Buchwesens, zu beschreiben sind? Systematisches Wissen über Prozesse des Drucks, des Verlags, des Vertriebs von Büchern ist traditionell hoch spezifiziert.16 Mediendiskurse nehmen dieses Wissen oft nur metaphorisch, gelegentlich aber mehr metonymisch auf. Ein Teilbereich steht dann für das Ganze von einzelnen in Medien beobachtbaren Prozessen. Behauptet man die paradigmatische Funktion des Wissens von den Büchern für eine Medientheorie, die einen durchgehenden Diskurs über Medien seit Erfindung der Schrift voraussetzt, so kann man eine Diskurstypologie ansetzen, welche die Praxen in jeweiligen Medienkonstellationen und Konfigurationen systematisiert. Man kann in medienwissenschaftlichen Diskussionen Diskurstypen unterscheiden, die immer wieder auf Buchwissen zurückgreifen, auch wenn sie (bewegte) Bilder und Töne betreffen. Diese Diskurstypen sollen in der Folge systematisch abgeleitet und auf ihre praktische Tauglichkeit überprüft werden. Als Ausgangspunkt kann die Schriftrationalität gelten. Auf ihr basiert die Buchrationalität. Schriftrationalität (›Grammatik‹, ›Rhetorik‹) erscheint in ihr als eine Art petitio principii. Medienhandlungen (›publishing‹) sind letztlich als Vertextungsstrategien auszuweisen. So lassen sich, in theoretischer wie auch in praktischer Hinsicht, die Grundoperationen der Vertextung auch auf Medien im Sinne von technisch spezifizierten Kommunikationsorganisationen als Beschreibungskategorien anwenden. These ist, dass sich die Operationen auf der Mikroebene der Vertextung auch auf der Makroebene der Organisation und ihrer Funktionen auffinden lassen. Die Schriftrationalität kennt (wie auch die Mathematik, die Lehre von der Berechenbarkeit) eine basale Systematik ihrer Operationen. Es handelt sich hierbei um die quadripartita ratio, um die vier Grundoperationen der Textverarbeitung überhaupt. Schon die Rhetorik kennt diese Verfahren als mutationes: Adjektion (Hinzufügung), Detraktion (Tilgung), Transmuta16
Vgl. hierzu zusammenfassend: Rautenberg/Wetzel: Buch.
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tion (Verschiebung) und Immutation (Ersetzung). Als linguistische Operationen fungieren sie als Addition, Subtraktion, Permutation und Substitution.17 Auf der Ebene der Rhetorik konstituieren sie bestimmbare Figuren, auf der Ebene der Diskurse bestimmbare Diskurstypen. Im Bereich der Medienwahl, also dem letzten Schritt jeder Vertextung, lassen sie vier Diskurstypen als Medienhandlungstypen entstehen. Der erste der Diskurse (im Sinne einer Adjektion) behauptet die Besonderheit und die Leistungsfähigkeit jedes einzelnen Mediums. Er spricht von einem unumkehrbaren Prozess der Medialisierung und konstituiert spezifische Medialitäten. Neue Medien erbringen zusätzliche, neue Leistungen. Der zweite Diskurs, der auf Detraktionen zurückzuführen ist, beschreibt charakteristische Mediendefizite. Er hält aber, gemäß dem sog. Riepl’schen Gesetz, an einer Ordnung des Nebeneinanders aller Medien fest. Er beschreibt die immer komplexer werdenden Relationen zwischen den ›alten‹ und den ›neuen Medien‹, Verlustgeschichten und ReKonfigurationen im Mediensystem insgesamt. Mediengeschichtlich gesehen ergibt sich Geschichte der sich wandelnden Intermedialitäten. Der dritte Diskurs beruht auf Transmutationen im Mediensystem. Er sieht das ältere Medium in einer Art Vor-Ordnung der ›Neuen Medien‹. Alte Medien werden verfügbar gemacht und als ›Inhalte‹ in neue Positionen verschoben. In diesem Sinne ergibt sich eine Geschichte von Transmedialitäten. Der vierte Diskurs, im Sinne der Immutation, hebt das alte Medium auf, indem er es mit allen anderen fusioniert, in einem neuen Typ des ›Gesamtkunstwerks‹. Dieser Prozess führt zu Medienkonfigurationen mit neuen, auch künstlerischen Qualitäten. Im Sinne der großen Ersetzungsfigur, der Metapher, ergeben sich Medienmetaphern im Sinne von Oberflächen, welche alte Medien simulieren. Es ergibt sich eine Geschichte von Meta- oder Hypermedialitäten. Der erste Diskurstyp grenzt alle anderen Medien definitorisch ab, er blickt auf die spezifische ›Medialität‹ eines Mediums und dessen ›eigentliche‹ Möglichkeiten. Der zweite sieht auf die Relationen zwischen den Medien im Sinne einer immer gegebenen Intermedialität – hier ist kein Medium ohne ein anderes, im Zweifelsfall das ›alte Medium‹, denkbar und funktional. Der dritte Typ macht alle Medien auch zum Inhalt von anderen Medien. Dabei ist die Richtung der Verschiebung von ›Inhalten‹ und 17
Vgl. hierzu Schanze/Kammer: Textverarbeitung; Plett: Systematische Rhetorik.
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›Stoffen‹ gleichgültig. Im vierten Typ überschreitet das neue Medium stets das alte im Sinne einer ›Hypermedialität‹. Der Übergang vom alten zum neuen Medium konstituiert ein radikal ›Neues Medium‹, das alle alten Medien im Hegel’schen Sinn ›aufhebt‹. Alle vier Diskurstypen können hohe Plausibilitäten aufweisen. Unbestreitbar ist, dass der gegenwärtige Medienumbruch eine Dimension aufweist, die allenfalls mit der ›Erfindung des Buchdrucks‹ und mit der ›Erfindung der Bewegtbildmedien‹ vergleichbar ist. ›Das Buch‹ hat seinen Status als Dominanzmedium verloren. Es ist ein Medium unter anderen geworden, dem insofern eine bestimmbare ›Medialität‹ zugeordnet werden kann. Und unbestreitbar erscheint auch, dass noch keines der jeweils ›Neuen Medien‹ ein ›altes‹ wirklich ersetzt hat. Unbestreitbar ist aber auch, dass der Druck nicht ohne Schrift, Bild und Ton, die Audiovisionen nicht ohne die Presse und das Buch, die Digitalmedien nicht ohne Schrift, Bild, Ton, Buch und Presse sowie die Audiovisionen auskommen. Der Prozess der Digitalisierung läuft über die ›alten Medien‹. In der Tat ergeben sich neue Qualitäten nicht nur aus der Differenzierung der Medien, sondern auch, insbesondere in künstlerischer Hinsicht, aus deren Fusion. Mediendynamiken lassen sich als Prozesse der Differenzierung und der Fusion von Medien, als Folge immer neuer Medienkonfigurationen beschreiben. Jedem der Diskurstypen sind bestimmbare Praxen zuzuordnen. Auf das Medium Buch bezogen: der Prozess der Medialisierung selber entdeckt die besonderen medialen Möglichkeiten, welche Gutenbergs Erfindung überhaupt erst konstituiert hat. Die Frage nach der Medialität des Buchs ist insofern nicht nur die erste praktische Frage einen ganzen Branche, sondern auch die der ihr verpflichteten Wissenschaft, der Buchwissenschaft. Sie hat, bei aller Vorsicht mit Substanzbegriffen, nach dem ›Wesen‹ des Buchs zu fragen. Der Prozess der Intermedialität stellt das Buch in den Kontext der anderen Medien, es wird Gegenstand der anderen Medien wie es selbst die jeweils anderen Medien reflektiert. In der Praxis ergibt sich nicht die Frage »Was ist ein Buch?«, sondern vielmehr diese: »Wie mache ich ein Buch«? Der Prozess der Intermedialisierung ist nicht nur zwischen Theater, Forum und Buch, zwischen Theater, Film und Buch, zwischen Film und Fernsehen, zwischen den Audivisionen und den Digitalmedien zu beobachten und zu erforschen, sondern auch ›im Buch‹ selber – und dies höchst prominent. Ein Großteil der gegenwärtigen Buchforschung ist so gesehen Intermedialitätsforschung. Praktisch geht es hier um grundsätzli-
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che Abgrenzungen und um die Bestimmung der ›besonderen Ware Buch‹ in medialen Konstellationen. Der Prozess der Transmedialität ist ebenso in einem dezidierten Sinne buchbasiert. Sind alle neuen Graphien vom Telegraphen bis zum Kinematographien, und damit die sie vereinigenden Audiovisionen Transformationen der Schrift, so setzen alle anspruchsvollen und nicht gerade nur experimentellen Formen der Audivision ein Buch voraus. Das kann, muss aber nicht nur ein ›Drehbuch‹ sein. Der deutsche Begriff ist einer Bewegung geschuldet, die den Kern der neuen Technik bildet. Der englische Begriff hebt einfach auf die Schreibtätigkeit ab: ›screen play written by …‹. Praktisch geht es hier vornehmlich um die Transaktionen bei der Wahrnehmung von ›Nebenrechten‹ und um die Vorbereitung weiterer Verarbeitungsschritte. Das Buch und die ›anderen Medien‹ werden zu Inhalten des Buchs. Es entstehen so Buchbücher, Hörbücher, Filmbücher u. s. f. Am komplexesten in seiner Praxis erscheint der Begriff der Hypermedialität. Als erstes der ›Hypermedien‹ kann die Oper gesehen werden, deren Konstitution in der gedruckten Partitur aufzusuchen wäre. Die neuesten Hypermedien, seit dem Hypertext, operieren auf der gemeinsamen Digitalen Plattform. Beim Hypertext ist es die Frage nach dem Kommunikationssystem gewesen, das die Beschränkungen des Buchs als Wissensmedium sprengen sollte, das Ted Nelson über dem Begriff des ›Dynamischen Textes‹ zum Begriff der ›Hypermedien‹ führte. Aber gerade hier ist die Begrifflichkeit des ›Graphischen Gewerbes‹ von geradezu durchschlagender Bedeutung. Nicht nur ist der Zweig der Informatik, der sich mit den Hypermedien beschäftigt, seit Anbeginn als ›Graphische Datenverarbeitung‹ bezeichnet worden. Auch der Begriff des ›Programms‹ selber verrät seine Herkunft aus dem Paradigma der Schrift und des Lesens. Programme müssen geschrieben, ›eingelesen‹ und – trotz aller anderslautender Versicherungen – sequentiell abgearbeitet werden. Von Files, Libraries, Stapeln ist nicht von ungefähr die Rede. Wenn Horace Newcomb die neueste Entwicklung des Fernsehens als eine von ›Forum‹ zur ›Bibliothek‹ beschreibt,18 so ist das eben nicht nur eine façon de parler, sondern in einem hohen Maße sachhaltig. Dass die ›Hypermedien‹ unübersehbar als ›books‹ organisiert werden, dass ihre sinnvolle Nutzung ›as a book‹ selbst in Lizenzformulierungen Eingang gefunden hat, ist keineswegs zufällig. Die Wiederkehr des Buchs in den Digitalmedien beschreibt deren revolutionäre, und nicht deren evolutionäre Qualität. Dass gerade 18
Vgl. Newcomb: Post-Network Television, S. 33–44.
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Datenbanken und elektronische Bücher heute eine höchst praktische Bedeutung gewonnen haben, trotz ihrer Virtualität, aber als Mittel des Zugangs zu den ›festen Büchern‹, liegt ebenso auf der Hand wie die Notwendigkeit, Bücher mit modernsten, d. h. medientechnisch avanciertesten Mitteln herzustellen und zu vertreiben sowie neue Formen für das Buch im digitalen Zeitalter zu finden. An dieser Stelle kann die Theorie der Medienhandlungstypen einer praktischen Überprüfung unterzogen werden, die allerdings nur sehr abgekürzt vorgenommen werden kann. Im gegenwärtigen Buchwesen, so hier die These, sind alle vier Diskurstypen als Handlungstypen präsent: die Agenturen für die ›guten Bücher‹, die Agenturen für Bücher über Bücher, die Agenturen für Rechte und Nebenrechte, für Filmbücher, Fernsehbücher und Computerbücher, und schließlich die Agenturen für Bücher als ›Neue Medien‹. Auf der Frankfurter Buchmesse werden nicht nur ›Bücher‹ präsentiert, sondern auch ›Buch-Bücher‹, ›Medienbücher‹ und ›Neue Medien‹, wobei, 550 Jahre nach dem repräsentativen Bibeldruck, in grober quantitativer Schätzung, nahezu ein Gleichstand der vier ›BuchHandlungen‹ erreicht ist. Dies ist nicht zuletzt ein Hinweis darauf, dass sich im Buchwesen die neue Medienkonstellation schon weitgehend durchgesetzt hat. In den so abgegrenzten Bereichen wird jeweils hoch spezialisiertes Wissen erfordert; erhalten bleiben aber auch die charakteristischen Asymmetrien, Hierarchien, Kontrollen und Freiheiten, die den Umgang mit der ›besonderen Ware Buch‹ von Anbeginn ausmachten.
5 Medienwissenschaft – Buchwissenschaft: Perspektiven Das Mediensystem ›Buch‹ präfiguriert, so das Ergebnis der kurzen Hinweise, die Probleme der Unternehmen im Zeitalter der Information und Kommunikation, insbesondere der modernen Medienunternehmen selber. Das Modell einer ›Agentur der Öffentlichkeit‹ trifft auf das Buchwesen in genauer, früher und zugleich bis heute maßstabsetzender Weise zu. Reflektieren die Mediendiskurse immer nur einzelne Medienhandlungen, so die Buchdiskurse immer nur einzelne Handlungen, die sich aus dem komplexen Übergang ›vom Manuskript zum Buch‹ ergeben. Was auf der Mikroebene als Vertextungsstrategien ausgewiesen wurde, wiederholt sich auf der Makroebene der Gesellschaft und ihrer Ökonomie. Autor, Verleger, Drucker, der Handel und schließlich auch die Leser bilden ein komplexes Handlungsspiel aus. Hier ergeben sich die Übergangspunkte zwi-
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schen Medienwissenschaft und Buchwissenschaft. Buchwissenschaft erweist sich als spezifizierte Medienwissenschaft und kann, systematisch wie auch historisch, mediale Prozesse material aufklären. Historisch wie systematisch ist ›das Buch‹ das erste ›Massenmedium‹. Es schafft nicht nur ›Öffentlichkeit‹, sondern, in einer ›langen‹ Geschichte von der Erfindung des Buchdrucks bis zur ›Massenpresse‹, auch ein ›Massenpublikum‹.19 Beim gegenwärtigen Übergang vom ›Alten Medium‹ Buch zum ›Neuen Medium‹ wird es nötig, die Medialisierungsprozesse neu zu reflektieren, die Medialität des Buchs überhaupt zu definieren, Intermedialitäten zu bestimmen, Transmedialitäten neu zu bewerten und schließlich auch mit dem Begriff der Hypermedialität dem ›Neuen Medium‹ einen Spielraum zu geben. Dafür wurden und werden wiederum neue Agenturen entwickelt, Spezialisten des Buchs, Spezialisten der ›Gesamtkunstwerke‹, Spezialisten der Textverarbeitung und Spezialisten für Meta- und Hypermedien. Alles dies sind ›Aufgaben‹ im Rahmen einer breit gefassten Buchwissenschaft, und es wäre vermessen, hier nur von der Zukunft in einer Hypermedialität zu sprechen. Für jeden Medienwissenschaftler bietet die Buchwissenschaft als die ›älteste‹ Medienwissenschaft eben das ›Material‹, die ›Dokumente‹, an denen sich Medienprozesse nicht nur modellieren, sondern auch, in faszinierenden Geschichten von Autoren, Druckern, Verlegern, Messen und Buchhändlern konkretisieren lassen. Als der ›Großgermanist‹ Erich Schmidt um 1900 sein ›positivistisches‹ Programm einer neuen, materialen Literaturgeschichte vorstellte, tat er es mit den Worten: Aber als statistische Wissenschaft giebt sie auch eine Übersicht der Production und Consumtion, des Imports und Exports, der Bearbeitungen, der beliebten Stoffe, der Aufführungen, der örtlichen und zeitlichen Vertheilung, der Auflagen und Nachdrucke, der Neudrucke und Sammlungen. Einer verständigen Bibliographie wird der Meßkalender des sechzehnten, das Subscribentenverzeichnis des achtzehnten Jahrhunderts, das Absatzregister der Tauchnitz edition eine Quelle der Erkenntnis.20
Dies ist nichts anderes als der (durchaus eingeschränkte) Ansatz einer ›Literaturgeschichte als Mediengeschichte‹, noch ohne die Komplikation einer gerade beginnenden Geschichte der modernen Audiovisionen oder gar der Digitalmedien. Als Programm jedoch zeigt das Zitat, wie buchwissenschaftliches und literaturwissenschaftliches Wissen in medienwissenschaftlicher Perspektive integriert werden können. Im Kontext einer Erforschung der ›Digitalmedien‹ gewinnen buchwissenschaftliche Erkennt19 20
Vgl. dazu auch Schanze: Rundfunk, Medium und Masse, S. 11–28. Zitiert nach: Schanze: Medienkunde für Literaturwissenschaftler, S. 13.
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nisse eine prinzielle Bedeutung, wie umgekehrt auch medienwissenschaftliche Grundfragestellungen, wie diejenige nach der ›Medialität‹ zur Erweiterung der buchwissenschaftlichen Forschungsperspektiven beitragen.
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Helmut Schanze
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Buch: Medium und Form – in paratexttheoretischer Perspektive 1 2 3 4 5
Der Paratextbegriff in der Diskussion Paratexte im Medienvergleich I: Film und Buch Paratexte im Medienvergleich II: Buch und Film Das Buch: Form im Medium der Peri-Paratexte Literaturverzeichnis
Die folgenden Darlegungen streben einen begrifflichen Vorschlag zur Konzeptualisierung von Buch-Medialität an. Sie laufen auf die These zu, dass sich ein entsprechender Begriff ausgehend von der im Rahmen der Allgemeinen Literaturwissenschaft kurrenten Paratext-Konzeption gewinnen lässt. Dazu bedarf es deren medienwissenschaftlicher Reformulierung. Denn erst vor ihrem Hintergrund ist die buchwissenschaftliche Bedeutung von Paratextualität zu ermessen. In einem ersten Schritt wird also eine Diagnose zum Stand vor allem der literaturwissenschaftlichen Diskussion über Gérard Genettes Paratextualitätstheorem erfolgen. Um dessen Sinn zu erkennen, wird (1) exemplarisch die Konzeption von Typographie als Paratext fokussiert. In einem weiteren Schritt gilt es, die implizite medientheoretische Dimension des Paratextbegriffs zu umreißen, um sie sodann in intermedialer beziehungsweise medienkomparativer Perspektive zu diskutieren. Dies soll (2) in einem Vergleich exemplarischer filmischer Paratexte mit solchen der Bücherwelt geschehen. Sodann stehen (3) Experimente im Vordergrund, die versucht haben, das Buch und sein Impressum für filmische Vorspannformen zu öffnen. Davon ausgehend wird schließlich (4) die These vorgestellt, dass sich Niklas Luhmanns in den Medienwissenschaften diskutierte abstrakte Unterscheidung von Medium und Form mit Hilfe von Genettes Beiwerk- beziehungsweise Peritext-Argument in einer Weise konditionieren lässt, die für die buchwissenschaftliche Begrifflichkeit in der genannten Weise instruktiv sein kann. Sowohl das Desiderat eines Medienbegriffs ›Buch‹ als auch die vertrackte
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Frage nach der Einheit von »Material- und Formalobjekt« Buch1 können auf diesem Weg eine vorschlagsweise Antwort erfahren.
1 Der Paratextbegriff in der Diskussion In der Literaturwissenschaft hat sich die von Genette eingebrachte Paratextualitätskonzeption sowohl in theoretischen als auch methodischen Hinsichten ungewöhnlich schnell eingebürgert. Die Gründe für diesen Erfolg sind nicht zuletzt darin zu sehen, dass der Begriff des Paratextes auf die Nahbeobachtung von Phänomenen ›materialer‹ Textorganisation hin dirigiert. Darin ist er geeignet, auf der einen Seite traditionelle philologische Fragestellungen zu bündeln, auf der anderen Seite aber jenen Forschungsinteressen entgegenzukommen, welche die Frage nach der ›Materialität der literarischen Kommunikation‹ auf die Agenda gesetzt haben.2 Wenn das Konzept nunmehr seit etwa zwanzig Jahren in der Diskussion ist, so ist es allerdings nicht unumstritten zu nennen und wird keineswegs allerseits willkommen geheißen. Probleme, auch Widersprüchlichkeiten sind zwischenzeitlich aufgewiesen worden.3 Hinzu kommt, dass die Kategorie nicht selten als poststrukturalistische aufgefasst wird, auch wenn es sich dabei um eine Fehldeutung handelt. Diese mag auf das Begriffswort, genauer: auf die Vorsilbe »para« zurückgehen:4 ›paradox‹, ›parasitisch‹ … – regelmäßig werden ja so in irgendeiner Weise unordentliche Verhältnisse bezeichnet, Verhältnisse, die im Gegensatz zu wissenschaftlich wünschenswert klarer Klassifizierbarkeit zu stehen scheinen. Wenn also zwar von einem durchaus erstaunlichen Erfolg der Paratextkategorie gesprochen werden kann, so doch nur mit Einschränkungen. Um mit der Buchwissenschaft zu beginnen: Einerseits wird in historischen Beschreibungen etwa im Zusammenhang mit dem Codex und seinen gewichtigen Folgen durchaus auf die evolutionäre Errungenschaft paratextueller Ordnungs- und Gliederungsverfahren hingewiesen.5 Andererseits aber kommt etwa das Wörterbuch des Buches noch in seiner letzten Ausgabe 1 2 3 4 5
Rautenberg/Wetzel: Buch, S. 8. Spätestens seit: Gumbrecht, Hans Ulrich/Pfeiffer, K. Ludwig (Hrsg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft. 750). Siehe zur Diskussion z. B. verschiedene Beiträge in: Kreimeier/Stanitzek: Paratexte in Literatur, Film, Fernsehen. Vgl. Schestag, Thomas: para- Titus Lucretius Carus, Johann Peter Hebel, Francis Ponge – zur literarischen Hermeneutik. München: Boer 1991, Klappentext. Rautenberg/Wetzel: Buch, S. 23 u. 46.
Buch: Medium und Form – in paratexttheoretischer Perspektive
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ohne einschlägiges Stichwort aus.6 Reclams neues und reichhaltiges Sachlexikon des Buches bringt im Gegensatz dazu zwar ein Lemma »Paratexte«, akzentuiert darunter freilich zugleich die literaturwissenschaftliche Provenienz des Begriffs, um dann in der knappen Explikation Genettes hier wichtige allererste grundbegriffliche Unterscheidung – diejenige von Peritext und Epitext – in sinnwidriger Vertauschung wiederzugeben.7 Die Darstellung eines wertgeschätzten Konzepts sähe wohl anders aus. Für die Struktur und Analyse von Paratextualität ist nämlich der Unterschied von ›Peritexten‹ und ›Epitexten‹ von großer Bedeutung: Peritexte sind jene paratextuellen Elemente, welche mit dem jeweiligen Buchkörper gegeben sind. Das heißt, es fallen Buchdeckel und -umschlag, Titel und Verfassername, Impressum, Satzspiegel, Zwischentitel und so fort unter diesen Begriff, weil sie jeweils räumlich in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Text situiert sind, den sie rahmend formen und präsentieren. Epitexte hingegen finden sich in einiger räumlicher – und womöglich auch zeitlicher – Entfernung: Verlagswerbung für ein Buch, Interviews oder briefliche Kommentare des Autors, Autorenporträts, kurz alles, was in einer größeren oder kleineren Öffentlichkeit um ein Werk herum zirkuliert. (Man erkennt leicht, dass etwa Titel und Autornamen unter beide Kategorien, Peri- und Epitexte, fallen können.) In Bezug auf epitextuelle Phänomene hat Genette den Paratextbegriff insofern sehr weit gefasst; er geht sogar so weit, beispielsweise das Wissen um Prousts Homosexualität als Epitext zu dessen Werk zu begreifen. Wenn man in Betracht zieht, dass bereits das Wissen um männliche oder weibliche Autorschaft für Lektüren womöglich keinen kleinen Unterschied macht,8 sollte man seine Bestimmung ernst nehmen. (Wir können sie hier jedoch einklammern.) In der literaturwissenschaftlichen Rezeption sind ebenfalls Abstriche und Vorbehalte zu verzeichnen,9 und sie betreffen auch die begrifflich auf den ersten Blick weniger problematische, die peritextuelle Dimension. Hat man unmittelbar nach Erscheinen von Genettes Seuils noch eingewandt: Paratextualität sei ein überflüssiger Neologismus, weil der Gegenstandsbereich – Buchtitel, Fußnoten, Überschriften, Waschzettel und so 6 7 8 9
Vgl. Hiller, Helmut/Füssel, Stephan: Wörterbuch des Buches. 6., grundlegend überarb. Aufl. Frankfurt a. M.: Klostermann 2002. Rautenberg, Ursula: Paratexte. In: Reclams Sachlexikon des Buches. Hrsg. v. Ursula Rautenberg. Stuttgart: Reclam 2003, S. 396. Vgl. Genette: Paratexte, 1989, S. 14f.; sowie Geitner: Allographie, S. 55–99. Zu einigen Problemen mit der Genette’schen Konzeption sowie darauf bezogenen Lösungsvorschlägen siehe Stanitzek: Texts and Paratexts, S. 27–42.
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fort – von Philologenseite doch immer schon die gemäße Aufmerksamkeit erfahre,10 so ist der Begriff inzwischen doch international gängig, hat sich als griffig referierbar erwiesen. Erkannt ist zumindest, dass der Sinn der Genette’schen Begriffsbildung in der mit ihr eröffneten funktionalen Hinsicht auf den Gegenstand liegt: Paratexte – das »Beiwerk des Buches«, wie es prägnant im Untertitel der kürzlich erschienenen NachdruckAuflage11 heißt –, das sind diejenigen Momente, die einen Text »präsentieren« und so allererst »seine ›Rezeption‹ […] in, zumindest heutzutage, der Gestalt eines Buches […] ermöglichen.«12 Die Buch- als Bezugsform, als Kommunikationsform von Texten zu begreifen, so ließe sich also das Konzeptualisierungsinteresse von Genette reformulieren. Wohl deshalb aber, weil damit auf originelle Weise eine ganz basale operative Größe unserer literarischen Kultur angesprochen ist, begegnet man in der Rezeption dieses Buchs nun eigentümlichen Vorurteilen, abschwächenden Kautelen, auch ganz einfach Missverständnissen. Worauf sie sich richten, lässt sich am besten unter zwei ›peritextuellen‹ Gesichtspunkten verstehen: erstens, beispielhaft, unter dem der Typographie, zweitens, allgemeiner, bezogen auf den Begriff des Rands, Randstücks, Rahmens oder eben Beiwerks – der gewisse unbequeme Probleme mit einem eingebürgerten Textbegriff mit sich bringt.13 Erstens: Literaturwissenschaftliche Stellungnahmen zur Paratextkonzeption erfolgen nicht selten in der Form eines ›Ja, aber…‹. Aber: Es sei darauf zu achten, dass der Begriff nicht überzogen, nicht überdehnt werde. Man scheint eine Art Invasion oder Kontamination des Text- durch den Paratextbegriff zu befürchten. Dies wird besonders deutlich, wenn man ohne weiteres annehmen zu können glaubt, dass es sich bei Typogra10 11
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Thiher, Allen: Rez.: Gérard Genette: Seuils. In: L’esprit créateur 27 (1987), H. 3, S. 100. Genette: Paratexte, 2001; die ursprüngliche Ausgabe der deutschen Übersetzung war hierin noch unentschieden, brachte den Untertitel nur auf dem Schutzumschlag und im Impressum als CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek, nicht jedoch auf dem Titelblatt: Genette: Paratexte, 1989. Die Wahl des Haupttitels geht auf den Verlag, der Untertitel auf den Übersetzer zurück (ich danke Dieter Hornig für seine briefliche Auskunft vom 2. Oktober 2006). – Zur Relevanz des Beiwerkbegriffs für buchwissenschaftliche Forschung siehe beispielsweise: Stackmann, Karl: Die Bedeutung des Beiwerks für die Bestimmung der Gebrauchssituation vorlutherischer deutscher Bibeln. In: De captu lectoris. Wirkungen des Buches im 15. und 16. Jahrhundert, dargestellt an ausgewählten Handschriften und Drucken. Hrsg. v. Wolfgang Milde u. Werner Schuder. Berlin/New York: de Gruyter 1988, S. 271–288. Genette: Paratexte, 1989, S. 9. Zu dessen Hauptdimensionen siehe die übersichtliche Darstellung von Breuer, Ulrich: Schnittstelle Text. Lesarten des Textbegriffs. In: Berührungsbeziehungen zwischen Linguistik und Literaturwissenschaft. Hrsg. v. Michael Hoffmann u. Christine Kessler. Frankfurt a. M. u. a.: Lang 2003 (Sprache – System und Tätigkeit. 47), S. 23–39.
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phie um keinen Paratext handle. Dieses Verständnis ist insofern merkwürdig, als Genette selbst am para-, am ganz handgreiflich peritextuellen Status typographischer Phänomene keinen Zweifel gelassen hat. Zu den »verlegerische[n] Peritexten« rechnet er ausdrücklich die »Wahl des Formats, des Papiers, der Schrift«, also Typographie auch im engeren Sinn der Typenwahl, welche »paratextuellen Wert« besitze,14 insofern »typographische Entscheidungen die Rolle eines indirekten Kommentars zum jeweiligen Text spielen können.«15 Selbst ein im Übrigen so ausgezeichneter Leser wie Jerome McGann hat dem ganz entgegen behaupten können, der Paratextbegriff beziehe sich »nicht auf Sachverhalte wie Tinte, Typographie, Papier«.16 Doch kann an diesem Bezug kein Zweifel bestehen.17 Warum ist aber diese Frage nach dem paratextuellen Status von Typographie von besonderem Interesse? Aus einem alles andere als einfachen Grund, den McGann, zu dessen Ehrenrettung anzumerken ist, dass er sich in dieser Hinsicht zehn Jahre später einigermaßen korrigiert hat, dann folgendermaßen formuliert hat: first, that the apparitions of text – its paratexts, bibliographical codes, and all visual features – are as important in the text’s signifying programs as the linguistic elements; second, that the social intercourse of texts – the context of their relations – must be conceived an essential part of the ›text itself‹ if one means to gain an adequate critical grasp of the textual situation.18
In der Tat ist Typographie paratextuell von solch erheblicher Bedeutung, dass man jüngst mit Gründen zu denken gegeben hat, dass »sich Genettes [peritextuelle] Paratexte weniger durch ihre Funktion als durch ihre schiere
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Genette: Paratexte, 1989, S. 22. Genette, S. 38. McGann, Jerome: Texte und Textualitäten. Übers. v. Roger Lüdeke. In: Texte zur Theorie des Textes. Hrsg. v. Stephan Kammer u. Roger Lüdeke. Stuttgart: Reclam 2005 (Reclam Universal-Bibliothek. 17652), S. 135–153. Man wird die objektive Ironie bemerken, dass Genette an diesem Punkt in seiner These bestätigt wird: Paratexte steuern die Rezeption. Hat er doch in seinem Inhaltsverzeichnis, das einen so typisch strukturalistisch klaren Aufbau zu annoncieren scheint, das Agendum Typographie nicht explizit erwähnt (und ein Begriffsregister vermissen lassen), um die Sache stattdessen im Kleingedruckten eines analytischen Inhaltsverzeichnisses zu versenken: »Satz, Auflagen 38« (Genette: Paratexte, 1989, S. 5). Fast ein Nullbefund also auf dieser paratextuellen Ebene, aus dem selbst literaturwissenschaftliche, wie immer kursorische, so doch professionelle Leser offenbar theoretisch weit reichende Schlüsse ziehen – um auf diese Weise nolens volens, performativ, die Bedeutung der typographisch-paratextuellen Organisation von Text für die Lektüre zu bestätigen. McGann, Jerome: Radiant Textuality. Literature after the world wide web. New York/Basingstoke, Hampshire: Palgrave 2001, S. 11f. – Dazu die Anmerkung: »For good treatments of these matters see Gérard Genette: P a r a t e x t s « (S. 248, Anm. 11).
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typographische Unterscheidbarkeit auszeichnen« könnten.19 Eine solche begriffliche Entscheidung wäre gewiss mit Kosten verbunden; sie sind hier nicht zu diskutieren. Es sollte freilich klar sein, was die Typographie-Frage impliziert: die Tatsache nämlich, dass der Paratext im und mit dem Text ubiquitär gegeben ist. Denn Text ist ohne typographische Dimension schlechterdings nicht vorstellbar. Paratextualität lässt sich also in diesem Fall nicht wie ein räumlicher Rahmen ›am Rand‹ ansiedeln, er ist vielmehr als ›Rahmenbedingung‹ ubiquitär gegenwärtig. Und wie McGanns jüngeres Argument es nahe legt: Damit wird auch der Textbegriff selber tangiert. Die Unterscheidung von Text und Paratext ist keineswegs so einfach zu treffen, wie es für viele Literaturwissenschaftler offenbar wünschenswert scheint. Hier liegt ein Anlass für erhebliche Beunruhigung. Und dies resultiert in literaturwissenschaftlichen Versuchen, den Begriff des Paratextuellen tatsächlich auf Randstücke zu verkürzen, ihn also in Form ›handgreiflicher‹ Randphänomene zu verdinglichen: Titel, Impressum, Widmung, Motto, Vorwort und so weiter. So liest man im einflussreichen Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft: Anstelle des »von Genette ausgedehnten Paratextbegriff[s] [hebt sich] zunehmend ein Konzept ab, das den Terminus Paratext eingrenzt« – und zwar auf »allein die → Textsorten in der Umgebung eines anderen Textes«.20 Beim damit referierten ›Konzept‹ handelt es sich um folgendes: »Mit dem […] Begriff des Paratextes werden die Rahmenstücke eines Textes zusammenhängend erfaßt, die keine Bestandteile von ihm sind«.21 Sicher würde das die Dinge klären – Töpfchen-Text, Paratext-Kröpfchen –, aber damit zugleich wäre das theoretische und analytische, kurz: kritische Potenzial des Begriffs im 19 20
21
So Remigius Bunia unter Rekurs auf die große Arbeit von Susanne Wehde: Bunia: Die Stimme der Typographie, S. 379; vgl. Wehde: Typographische Kultur, S. 125. Moenninghoff: Art. »Paratext«, S. 23; siehe auch die Eingangsexplikation: »Die ›paratextuelle‹ Umgebung eines Textes, die nicht (wie im Drama der → N e b e n t e x t ) zu ihm selbst gehört, aber einen deutlichen Bezug zu ihm herstellt« (Moenninghoff: Art. »Paratext«, S. 22). Umgekehrt wäre die These zu diskutieren, dass es sich bei der – auf Ingarden, Roman: Das literarische Kunstwerk. Mit einem Anhang von den Funktionen der Sprache im Theaterschauspiel. 4. Aufl. Tübingen: Niemeyer 1972, S. 220–222 zurückgehenden – Haupt-/Nebentext- um eine wichtige Vorläuferin der Text/Paratext-Unterscheidung handelt (vgl. Platz-Waury, Elke: Nebentext. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Hrsg. v. Harald Fricke. Bd. 2. Berlin/New York: de Gruyter 2000, S. 693–695). Moenninghoff: Paratexte, S. 349; »Text, der nicht zum eigentlichen lit.[erarischen] Werk gehört« heißt es auch im Art. »Paratext«, in: Gfrereis, Heike: Grundbegriffe der Literaturwissenschaft. Stuttgart/Weimar: Metzler 1999 (Sammlung Metzler. 320), S. 145; und als merkwürdige Nicht-Entsprechung dann im Art. »Text«: »eigentl.[icher] Wortlaut einer Schrift im Ggs. [!] zu den → Paratexten« (Gfrereis: Grundbegriffe der Literaturwissenschaft, S. 205).
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Wesentlichen verschenkt; auch die sich eröffnende Brücke zu medienwissenschaftlichen Fragestellungen der Buchwissenschaften würde so seitens der Literaturwissenschaft eingerissen. Man kann wohl so formulieren: Die Rede vom »Beiwerk« des Buchs im Untertitel der deutschen GenetteÜbersetzung ist gerade insofern präzise, als sie an die parergonale Dimension paratextueller Phänomene erinnert. Bedenkt man Rahmenstücke in ihrer von Jacques Derrida diskutierten parergonalen Dimension, hat man es gerade nicht mit klar vom eigentlichen Text Abgrenzbarem zu tun (wie im Fall eines Eimers und seines Inhalts),22 sondern Rahmenphänomene sind insofern von Bedeutung, als sie im Innern des jeweils Gerahmten wirken, das heißt, es stellt sich mit ihnen je und je unterschiedlich ein ›Ablöseproblem‹.23 Das ›Beiwerk‹ gehört auf wie immer prekäre Weise zum ›Werk‹. Und genau das trägt entscheidend zum intellektuellen Einsatz von Paratextforschung und zur analytischen Produktivität von Paratextlektüren bei. Gerade weil der Paratextbegriff seitens Genette eine – wenn man so will: konservative, ebenso hermeneutische wie strukturalistische – Antwort auf die dekonstruktive Fragestellung gibt, verpasst man die Pointe, wenn man letztere auszuschalten versucht.
2 Paratexte im Medienvergleich I: Film und Buch Hingegen wird in den Medienwissenschaften gegenwärtig der unbefangenste und produktivste Umgang mit dem in Frage stehenden Theorieangebot gepflegt. Zwar findet man speziell in den deutschen Filmwissenschaften ebenfalls Vorbehalte – die sich hier, typisch verschoben, nun weniger auf den Para- als vielmehr gerade auf den Textaspekt von Paratexten richten –, aber in den internationalen Filmwissenschaften versteht man die Anregung.24 Mit Recht hat man von einer für die Medienwissen22
23 24
Kulturtheoretisch handelt es sich bei der fraglichen Begriffsdisposition im Übrigen keineswegs um eine Singularität; man hat sogar allgemein postuliert: »Im Bereich der Kultur gibt es kein inneres Territorium: er ist vollständig an Grenzen gelegen, überall, durch jedes seiner Momente verlaufen Grenzen« (Bachtin, Michail M.: Die Ästhetik des Wortes. Hrsg. u. eingeleitet v. Rainer Grübel, a. d. Russ. übers. v. R. G. u. Sabine Reese. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979 (Edition Suhrkamp. 967), S. 111). Vgl. Derrida: Die Wahrheit in der Malerei, S. 80–84; zur Problemlage siehe beispielsweise Wirth: Das Vorwort, S. 603–628. Vgl. nur Pezzotta, Alberto: Il Paratesto del Film. La soglia del »testo« cinematografico/Le strategie che condizionando la riposta dello spettatore. In: Segnocinema 9 (1990), H. 39, S. 6– 9; Metz, Christian: Pour servir de préface. In: Le Générique de Film. V. Nicole de Mourgues. Paris: Méridiens Klincksieck 1994 (Librairie), S. 7–9; Paech, Joachim: Film, programmatisch.
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schaften allgemein gegebenen »medienkomparatistischen Relevanz« des Konzepts gesprochen.25 Insbesondere stellt es auf jenem unübersichtlich facettenreichen Gebiet der seit den 1990er Jahren unter dem Namen Intermedialität laufenden Forschungen einen prägnanten Gesichtspunkt funktionaler Vergleiche dar. Dass es eine solche Eignung als Leitfaden für medienvergleichende Beschreibungen der Medienevolution gibt, widerspricht nur scheinbar dem Umstand der genannten konservativen Ausrichtung der Begriffsbildung. Wenn die von Genette angestoßene Paratextforschung nach dem Buch fragt und das Buchparadigma ins Zentrum stellt, lässt sich dies darüber hinaus ohne weiteres der apokalyptischen26 Richtung von Medientheorie zurechnen. Jedenfalls scheint es kein Zufall, dass die Paratextkonzeption von einem Autor herrührt, bei dem man bereits in den sechziger Jahren lesen kann: »[W]e cannot go on speaking of literature as if its existence were self-evident«; und zugespitzter, apokalyptischer noch: »Perhaps we are quite simply living through the last days of the Book.«27 Dieses Diktum stammt aus demselben Jahr, in dem Marshall McLuhans Understanding Media erscheint, wo es heißt: »in the TV age, Johnny can’t read because reading, as customarily taught, is too superficial and consumerlike an activity.«28 Und es steht in einer langen Reihe entsprechender Befürchtungen oder Vermutungen, etwa Derridas Diagnose, Prognose oder Deklaration: »a ›text‹ […] is henceforth no longer a finished corpus of writing, some content enclosed in a book or its margins«.29 Zu nennen wären hier des weiteren Roger Chartiers Spekulation, dass »sich der Text als intellektuelle Vorstellung vom Trägerobjekt Buch löst«,30 oder Ivan Illichs ganz parallele Annahme, das Buch sei »nicht mehr die Grundmeta-
25 26 27 28 29 30
In: Paratexte in Literatur, Film, Fernsehen. Hrsg. v. Klaus Kreimeier u. Georg Stanitzek. Berlin: Akademie 2004, S. 213–223; Böhnke, Alexander: Paratexte des Films. Über die Grenzen des filmischen Universums. Bielefeld: Transcript 2007 (Masse und Medium. 5). Nitsche: Wiedergelesen: Genette: Paratexte, S. 388–392. Vgl. Eco, Umberto: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur. A. d. Ital. übers. v. Max Looser. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1994 (Fischer-Taschenbücher. 7367/Wissenschaft). Genette, Gérard: Structuralism and Literary Criticism. In: Modern Criticism and Theory: A Reader. Ed. by David Lodge. London/New York: Longman 1988, S. 63–78; hier S. 76. McLuhan: Understanding Media; S. 168. Derrida, Jacques: Living On. Border Lines. Transl. by James Hulbert. In: Deconstruction and Criticism. Ed. by Harold Bloom and others: London/Henley: Routledge & Kegan Paul 1979, S. 75–176; hier S. 84. Chartier, Roger: Lektüren und Leser im »Ancien Régime«. Ein Gespräch [von Joël Roman] mit R. C. In: Freibeuter 33 (1987), S. 47–57; hier S. 53.
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pher unseres Zeitalters«, sondern trete diese Rolle an den »Bildschirm« ab.31 Ist diese nicht abreißende Kette von Hypothesen durch ihren apokalyptischen Ton charakterisiert, lässt dies leicht übersehen, dass das apokalyptische Moment zugleich ein wichtiges Motiv kühler funktionaler Analyse teilt und voranbringt. Gehört doch zur Methode funktionalen Vergleichens zentral der Kunstgriff des wie immer kontrafaktischen ›Weglassens‹, der komparativen Ersatzprobe. In genau diesem Sinn wirkt eben auch der Rekurs auf das Ende und das künftige Fehlen des Buchs. Und in diesem Sinn vermag die Paratextanalyse, ausgehend von der Frage nach der Bedingung der Möglichkeit von Text als Buch, intermediale Vergleiche anzuregen. Solche Vergleiche werden nicht nur in der synchronen, sondern ebenso in der diachronen Dimension möglich. Genettes These aufgreifend, dass die »allgemeine Geschichte des Paratextes […] vermutlich den Etappen einer technologischen Entwicklung [folgt]«, lässt sich geradezu eine Medien-Evolutionsgeschichte am Leitfaden der Paratextualität skizzieren und ausarbeiten, eine Geschichte »der Substitution, der Kompensation und der Innovation«.32 Als Bezugspunkt des funktionalen Vergleichs wäre in dieser Perspektive ›Kommunikation‹ anzusetzen, die Frage mithin: wie in welchem Medium Paratexte die Kommunikation von Texten ermöglichen. Denn den gefrorenen Anthropomorphismen der (Buch-)Paratextualität ist ja ihre ›substitutive‹ Herkunft noch abzulesen, worauf Horst Wenzel in prägnanter Formulierung aufmerksam gemacht hat: »Träger des Wortes sind zunächst Vater und Mutter, dann aber das Buch, das die Gestalt des vor-bildlichen Anderen, des Vaters, der Mutter oder auch des Lehrers metaphorisch bewahrt und fortsetzt. Dieser Sachverhalt hat sich in den toten Metaphern des Buchwesens bis heute bewahrt. Ein Buch ist ein ›Corpus‹ mit ›Caput‹ und ›Fußnoten‹.«33 Um zu erkennen, dass es sich hierbei um ein Schema der Medien- und mit ihr der Paratextevolution handelt, könnte man – natürlich selbst einigermaßen schematisch – folgendermaßen formulieren: Wie der Korpus des Buchs in seinem paratextuellen Aufbau unter Rückgriff auf Metaphern unmittelbarer kommunikativer Interaktion gefasst wird, so nehmen daraufhin die audiovisuellen Folgemedien Film, Fernsehen und Computer ihrerseits sukzessiv wichtige paratextuelle Elemente der Buchkultur und -meta31 32 33
Illich: Im Weinberg des Textes, S. 9. Genette: Paratexte, 1989, S. 20f. Wenzel: Visibile parlare, S. 149; vgl. auch Müller: Der Körper des Buchs; sowie Hörisch, Jochen: Der Sinn der Sinne. Eine Geschichte der Medien. Frankfurt a. M.: Eichborn 2001 (Die andere Bibliothek. 195), S. 143f.
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phorik in Anspruch. In dieser Perspektive sind etwa die Titelsequenz und der Trailer des Films als äquivalente Substitute biblionomer Elemente wie Titel oder Impressum und Waschzettel zu verstehen; im Fernsehen beerben Ansage und Vorschau die Leseranrede- und Vorreden-Usancen der Bücherwelt; und nicht zufällig fand eine der ersten plausiblen Beschreibungen des hypertextuellen Link unter Rekurs auf den Begriff der Fußnote statt.34 Zudem stehen die audiovisuellen Medien untereinander und zur auf sie folgenden rechnergestützten Kommunikation in einem vergleichbaren Verhältnis paratextueller Anleihe. Dieser evolutionäre Vorgang ist besonders aufschlussreich am Kasus des Titels zu verfolgen – desjenigen Moments der Buchgestalt also, welches im langen Übergang vom skripto- zum typographischen Dispositiv35 zu Beginn der Neuzeit mit der Ausdifferenzierung des Titelblatts eine nachhaltige Umgestaltung erfährt.36 Aufgrund seiner vielseitig variablen Leistungsfähigkeit – titulierende Identifizierung, inhaltliche Anzeige, Werbemaßnahme in Abhängigkeit von unterschiedlichen buchhandels- und verlagstechnischen Bedingungen – erweist es sich als starkes paratextuelles Moment. Und dies ist bis in die Gegenwart der neuesten AV-Medien, -Genres und -Formate zu konstatieren, in Anbetracht des Umstands nämlich, dass der Einstieg in ein noch so immersives Medium wenigstens den Weg über sprach- und in der überwiegenden Regel auch schriftliche Titel zu nehmen hat. Sind im Rahmen von Kunst und Literatur zwar durchaus Bemühungen um Titellosigkeit zu verzeichnen, so haben diese doch zu kaum mehr als wiederum einer Titelkonvention geführt, zum Titel »Ohne Titel«.37 Insgesamt ist hier die antike archivtechnische Funktion des ›protokollon‹ bzw. ›sillybos‹ nach wie vor wirksam, eines ebenso unscheinbaren wie offenbar fundamentalen Etikettierens von Artefakten, das ihr Ordnen, Suchen und Finden ermöglicht. Wie sich der filmische Titelvor- und -abspann im Rahmen dieser Tradition verhält, wie er sie aufnimmt und auf medial spezifische Weise fortführt, ließ sich ausgehend vom Paratextkonzept systematisch und in zugleich wünschenswert mikrologischen Analysen zeigen. Im Ergebnis wird man zumindest bezogen auf diesen Fall festhalten können, dass mit vol34 35 36 37
Vgl. Landow, George P.: Hypertext. The Convergence of Contemporary Critical Theory and Technology. Baltimore/London: The Johns Hopkins University Press 1992. Im Anschluss an die von Wehde: Typographische Kultur, vorgeschlagene Terminologie. Neuber: Ökonomien des Verstehens, S. 183–189. Über die Rolle des Titels in der modernen Kunst: Welchman, John C.: Invisible Colors. A Visual History of Titles. New Haven/London: Yale University Press 1997.
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lem Recht von einer filmischen Paratextualität ausgegangen werden kann. Der Filmvorspann teilt nicht nur gewisse abstrakte Formalia und Funktionen mit dem Buchtitelblatt, sondern integriert auch in der jeweiligen Bildgebung Elemente des Buchs ganz selbstverständlich, indem er sich nämlich ›als Buch‹ präsentiert.38 Im Vorspann trifft mithin der biblionome mit dem filmischen Paratext zusammen – indem dieser, durchaus regelmäßig, Bestandteile der überkommenen peritextuellen Struktur aufgreift und transformiert oder aber indem er, seltener, darüber hinaus die Buchgestalt als solche in das filmische Bild aufnimmt, den mediengeschichtlich älteren Peritext in den neueren mit einbezieht. Eine häufig zu bemerkende Qualität des Filmvorspanns verdient, gesondert herausgestellt zu werden: eine Mediendifferenz, welche vielleicht nicht ›nur‹ mit dem Alter der hier zu vergleichenden medialen Betitelungsweisen zu tun hat. Den Titelvorspann des Films zeichnet ein spezifisch flexibles, variables Interagieren mit dem filmischen Erzählraum aus. Lässt der Vorspann sich in dieser Perspektive mit einem Portal zum Eintritt in die Fiktion vergleichen,39 so wäre dieser Vergleich in dem Sinn fortzuführen, dass bereits dieses Portal Charakteristika des durch es hindurch zu betretenden Areals aufweisen kann. Dafür hat eine virtuose Montage des Designers Kyle Cooper, der viel diskutierte Vorspann zu Se7en (USA 1995, David Fincher) ein eindrückliches Beispiel geliefert. Die Bildgebung bedient sich, neben vielen anderen archaisierenden medialen Sachverhalten, des Buchmotivs (Abb. 1). Eine Besonderheit dieses Vorspanns liegt in seiner Beziehung zur vom Film gebotenen Fiktion: Die hier montierten Bilder nämlich spielen mit einer eigenen Fiktion, der zufolge ihre Urheberschaft – so wie das im Bildzitat gezeigte Buch oder vielmehr handgefertigte Heft – auf den Serienmörder-Protagonisten des Films selbst zurückginge.40 Der Vorspann inklusive seiner ›Titelei‹ erscheint damit in die Fiktion mit einbezogen. Cum grano salis lässt sich auch sagen, hier werde
38
39 40
Siehe beispielsweise: Stanitzek, Georg: Abspann, angeklickt. In: Signale der Störung. Hrsg. v. Albert Kümmel u. Erhard Schüttpelz. München: Fink 2003, S. 261–273; Stanitzek, Georg: Vorspann (› t i t l e s ‹ / › c r e d i t s ‹ , › g é n e r i q u e ‹ ). In: Das Buch zum Vorspann. »The title is a shot«. Hrsg. v. Alexander Böhnke, Rembert Hüser u. G. S. Berlin: Vorwerk 8 2006, S. 8–20; Stanitzek, Georg: Schrift im Film (Vorspann): Was ist das Problem? In: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik (2006), H. 142: Medienmentalitäten, S. 88–111. Odin, Roger: Der Eintritt des Zuschauers in die Fiktion. Übers. v. Isabel Treptow. In: Das Buch zum Vorspann. »The title is a shot«. Hrsg. v. Alexander Böhnke, Rembert Hüser u. Georg Stanitzek. Berlin: Vorwerk 8 2006, S. 34–41. Zur Interpretation im Einzelnen: Böhnke, Alexander: Handarbeit. Figuren der Schrift in SE7EN. In: montage/av. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation 12 (2003), H. 2, S. 9–18.
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Abb. 1: Se7en (USA 1995, David Fincher), Vorspann.
der Titel ›diegetisiert‹; ein Sachverhalt, der mit großer Regelmäßigkeit an Filmvorspannen zu beobachten ist. Mag eine solche Diegetisierung aus systematischen Gründen nie komplett durchführbar sein,41 so erweist sich doch die filmische Titelgebung für solche fiktionalisierenden Bestrebungen als außerordentlich dankbares Medium. In der Welt der Bücher ist eine entsprechende Operation zweifellos nicht nur vorstellbar. Vielmehr gibt es kanonische Realisierungen – allen voran im Bereich der Herausgeberfiktionen. Deren literatur- bzw. buchhistorisches Schicksal gibt freilich zu denken. (Abb. 2 u. 3) Bei der Erstausgabe des Kater Murr von 1820 liegt die Parallele zum Se7en-Vorspann klar zutage: Das Titelblatt erscheint in die Diegese einbezogen; fingiert wird die Autorschaft des Katers, will sagen, die Titelpräsentation ist also in dieser Form weit entfernt, den folgenden Roman nur zu annocieren, ihn einzurahmen. Die Fiktion beginnt vielmehr auf und mit dem Titelblatt selber. Betrachtet man die kurrente Reclam-Ausgabe, auf deren Basis das Buch heute gelesen zu werden pflegt, erscheint diese Differenzqualität eingeebnet, getilgt. Es hat eine klinisch-bibliographische Bereinigung stattgefunden. Im Zuge dessen erscheint der fiktive Verfasser der Originalausgabe, dessen Lebens-Ansichten angekündigt werden, depotenziert, der fiktive Herausgeber hingegen ist zum tatsächlichen Autor aufgerückt. Dies drängt die Fiktion in den ›eigentlichen‹ Text zurück – auf Kosten einer wenn nicht Text-, so doch Paratext-Treue; zugunsten einer einigermaßen starren, um nicht zu sagen erstarrten bibliographischen Konvention, welche den institutionellen Usancen einer regulären Titelaufnahme entspricht. Gemessen an einer solchen Praxis bietet die filmische Titelsequenz zweifellos größere Freiheitsgrade. 41
Vgl. Stanitzek: Schrift im Film, S. 108f.
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Abb. 2: Original-Ausgabe von 1820.
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Abb. 3: Reclam-Ausgabe von 1986.
3 Paratexte im Medienvergleich II: Buch und Film Im Folgenden soll ein weiterer Aspekt dieser Buch/Film-Intermedialität ausgelotet werden, nämlich umgekehrt, vom Buch ausgehend und zugleich von der film- in die buch- und literaturwissenschaftliche Perspektive wechselnd, Filmisches im Buch zum Gegenstand werden. Das Interesse gilt in relativ eng eingestelltem Fokus solchen Büchern, die sich auf Film beziehen, um sich auf diese Weise in einer alternativen Paratextualität zu versuchen. Es handelt sich um Versuche aus der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, womit besonders zwei Kontexte gegeben und zu bedenken sind: Zum einen ist dies ein Zeitraum, in dem die HollywoodvorspannInnovationen des Designers Saul Bass zu eindrücklichen Formen und reicher Nachfolge gefunden haben; zu einer Blüte, die sich in den von Pop-Art und -Mode beeinflussten Vorspannen seitens Maurice Binder, Wayne Fitzgerald und André François besonders prägnant entfaltet hat.
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Zum anderen ist dies die Phase eines ersten Schubs von sogenannter Popliteratur42 (die sich mit den Autorennamen Peter Handke, Elfriede Jelinek, Rolf Dieter Brinkmann und anderen verbindet), einer Popliteratur, die im Übrigen besonders mit der Medientheorie McLuhans in einem von der damaligen kritischen Öffentlichkeit keineswegs gern gesehenen Austausch stand, einer Medientheorie, die sich obendrein selbst in Pop-Experimenten mit der Buch-Paratextualität versucht hat.43 Diese Zusammenhänge sind zu benennen, um 1968 tatsächlich als »Revolution in der Erscheinung des Buches« zu verstehen.44 »Geschrieben 1965 […] – 1968« erscheint 1969 Handkes Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt. Welchem Genre dieses Werk zuzurechnen wäre – Lyrik, poetische Prosa, Anthologie vermischter Schriften und Fundstücke –, ist nicht einfach zu beantworten;45 und dass dies so ist, gehört zum noch heute Faszinierenden dieses Buchs. Was man als 35. der durchnummerierten Stücke in ihm findet – entstanden 1968 –, heißt: »Warner Brothers und Seven Arts zeigen:«.46 Titel wie Text präsentieren eine Präsentation, nämlich die Titelsequenz von Bonnie and Clyde (USA 1967, Arthur Penn), des mit Warren Beatty und Faye Dunaway besetzten Gangsterfilms von 1967. Die Wiedergabe von Titel und Credits-Liste des Filmvorspanns47 ist möglicherweise als Hommage an den Film oder doch jedenfalls an seinen Vorspann zu verstehen (der übrigens vom ›title designer‹ Fitzgerald stammt). Insofern bietet dieser Text, wie manche an-
42 43
44 45 46 47
Vgl. Ullmaier, Johannes: Von Acid nach Adlon und zurück. Eine Reise durch die deutschsprachige Popliteratur. Mainz: Ventil Verlag 2001, S. 47–84. Siehe nur McLuhan, Marshall/Fiore, Quentin: The Medium is the Massage. An Inventory of Effects. San Francisco: HardWired 1996 [»digitally remastered«]; McLuhan, Marshall/Fiore, Quentin: War and Peace in the global village. New York/London/Toronto: Bantam Books 1968. Bohrer, Karl Heinz: Sechs Szenen Achtundsechzig. In: Merkur 62 (2008), H. 5, S. 410–424; hier S. 414. Insofern würde es in Michael Rutschkys bedenkenswerte Sammlung passen: Rutschky, Michael: Bücher ohne Familiennamen. Über Literatur außerhalb von Genres. In: Merkur 55 (2001), S. 117–129. Handke, Peter: Warner Brothers und Seven Arts zeigen:. In: Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt. Von P. H. 6. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974, S. 119–121; hier S. 119. Freilich gibt es eine Reihe von Nicht-Übereinstimmungen, die genauer zu bedenken wären: So wie die eingangs montierte Authentizitäts-Annonce weggelassen wird (»die authentische Geschichte des berühmt-berüchtigten Gangster-Paares Bonnie Parker und Clyde Barrow«), stimmt auch die Reihenfolge der Credits zumindest mit der Vorlage der deutschen Vorspann-Fassung nicht überein – möglicherweise handelt es sich um Abschreib- und Erinnerungsfehler, wie sie aus einer Mitschrift im dunklen Kinoraum resultieren können.
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deren im Band enthaltenen Stücke ein objet trouvé.48 Doch ist von Interesse, wie das objet trouvé angeeignet, wie es umgesetzt und ›gesichert‹ wird. Das heißt, von der operativen Seite her liegt hier eine Transkription vor; die Transkription vom einen in ein anderes Medium.49 (Abb. 4) Und diese gibt sich offenbar nicht mit einer Ab- und Niederschrift des gegebenen Textes zufrieden, sondern versucht eine gewisse Qualität dieses Textes jenseits seiner Wortwörtlichkeit zu erreichen. Es ist ein mimetisches Begehren am Werk, das auf den Buchstaben auch in seiner typographischen Dimension geht. Da fallen die mittige Anordnung auf, des weiteren die differenzierten Satzgrößen, die Wechsel von Normalschrift und Kapitälchen; und schließlich wird man bemerken, dass mit den schattierten Versalien des Filmtitels eine Art filmische Typographie erreicht werden soll. Solche Transkriptionen sind immer unter dem Gesichtspunkt der mit ihnen erzielten Gewinne und Verluste von Interesse. Und gewiss fallen hier zunächst die Verluste ins Auge, das Nicht- oder doch wenigstens nicht in dieser Weise Transkribierbare. So lässt der tatsächliche Filmvorspann beispielsweise die Namen der Hauptdarsteller sich jeweils von Weiß in Rot umfärben, er bringt dann die abwechselnden Titel in weißer – ›seriöser‹ – Schrift auf schwarzem Grund50 und eingeblendete weiß
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Vergleichbares findet sich etwa in Horst Bieneks Poèmes trouvés von 1969; eine Kollegenrezension, die die Abwesenheit eines konventionellen Autors konstatiert, hält fest: »Die Hand des Finders Bienek verrät sich […] in der Typographie.« (Wondratschek, Wolf: Gedichte und (k)ein Autor [Rez.: Horst Bienek: Vorgefundene Gedichte. Poèmes trouvés. München: Hanser 1969]. In: Frankfurter Rundschau 26 (1970), Nr. 26 v. 31.1.1970.) – Sehr ungnädig Rolf Dieter Brinkmann, der insbesondere die Bildbehandlung moniert: »Es ist aber erstaunlich, wie wenig ›Bilder‹ bisher in einem Gedicht gemacht werden, vor allem in der gegenwärtigen deutschen Lyrik. Ich kann mir das nur durch die ›Angst-Szene‹ Kultur erklären, die hierzulande herrscht: m a n i s t l ä n g s t t o t ! M a n s i e h t n i c h t s m e h r ! Die Bilder-(Vorstellungs)armut wird auch nicht behoben, indem ein Autor sich auf ›Objets trouvés‹ verlegt: ob er das ›macht‹ oder was anderes, es wird gemeinhin immer nur das gesehen, was ohnehin bekannt ist! (siehe: Merkur, Heft 3, März 69, darin: Horst Bienek: Vorgefundene Gedichte – und dieser Fall zeigt symptomatisch das Vergorene, was hier sich als zeitgenössische Literatur begreift […]) […]. So, wie es bis jetzt gehandhabt wird, erlischt das Subjekt im ›objet trouvé‹, w i r h a b e n k e i n › B i l d ‹ , w i r b e k o m m e n e i n e I d e e v o r g e s e t z t ! …« (Brinkmann, Rolf Dieter: Anmerkungen zu meinem Gedicht »Vanille«. In: März Texte 1. Hrsg. vom März Verlag. Darmstadt: März 1969, S. 141–147; hier S. 143) Vgl. Jäger, Ludwig/Stanitzek, Georg (Hrsg.): Transkribieren. Medien/Lektüre. München: Fink 2002. Die bereits seit dem frühen Film übliche Präsentationsweise von nicht-diegetischer Schrift: Orosz, Susanne: Weiße Schrift auf schwarzem Grund. Die Funktion von Zwischentiteln im Stummfilm, dargestellt an Beispielen aus Der »Student von Prag« (1913). In: Der Stummfilm. Konstruktion und Rekonstruktion. Hrsg. v. Elfriede Ledig. München: Schaudig, Bauer, Ledig 1988 (diskurs film. Münchner Beiträge zur Filmphilologie. 2), S. 135–151.
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Abb. 4: Handke, Peter: Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt [1969]. 6. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974, S. 119.
gerahmte alte Photographien, wobei jeweils das Klicken eines Photoapparats den ebenfalls historischen Song unterbricht; zwischen Vorspann und Film gibt es dann zwei Fotos der Hauptdarsteller in ihren Rollen, daneben eine Schrift-Legende, welche historische Fakten bringt, danach folgt ein Schnitt auf den Mund von Faye Dunnaway.51 Den Sinn dieser Titelsequenzmontage erläutert sehr präzise eine Anfang 1968 in der Zeitschrift Filmkritik erschienene Besprechung: Zu den »hübschen Dingen, aus denen oder für die [Penn] seinen Film gemacht hat,« rechneten der […] Geist der Familienerinnerungsfotos, die Dokumentarfotos der Farm Security Administration (von beiden sieht man im Vorspann einige Beispiele) […]. Penns Auffassung unterstreicht, daß die Existenz einer Bankräuberbande, die Zeitungen mit Gedichten und Fotos belieferte, schon ihren Zeitgenossen wie durch das Kino vermittelt erscheinen musste.52 51 52
Vgl. Friedman, Lester D.: Bonnie and Clyde. London: bfi Publishing 2000, S. 41f. »Sie haben sich ihren Mythos noch selbst geschaffen, indem sie die Fotos mit den Gedichten, die Bonnie Parker schrieb, an Zeitungen schickten, die sie begierig abdruckten, zum
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Abb. 5: Handke: Innenwelt, S. 120f.
Dass in Handkes Text diese ganze Dimension des Vorspanns verschwindet, ist nicht der einzige zu verzeichnende Verlust. Handke selber scheint ihn übrigens einzuräumen, wenn er auf den folgenden beiden Seiten in Sachen Typographie gewissermaßen klein beigibt; von der mittigen Platzierung abgesehen, wirkt die Wiedergabe der restlichen Credits denn doch eher wie die Präsentation eines ›normalen‹ Gedichts (Abb. 5). Gerade bei aller Faszination und dem durch sie motivierten Versuch, die Titelsequenz ins Buch zu bringen, fällt überdies auf, dass deren Sinn der Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt ganz äußerlich bleibt. Ganz mit Recht hat man den paratextuellen Vorspann – im Zusammenhang mit dem Abspann (der französische Begriff ›générique‹ fasst beides zusam-
Stolz der Bande, die vom Auto aus, wie man sieht, ganz flott die Morgenzeitung aus dem Briefkasten holte und fahrend die Berichte über sich las.« (Linder, Herbert: Bonnie und Clyde. In: Filmkritik 12 (1968), H. 1 v. 1. Januar 1968, S. 57f.).
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men) – als filmisches Impressum bezeichnet.53 Was wir aber mit Handkes »Warner Brothers« vor uns haben, sind drei Seiten in einem Buch, das seinerseits an vergleichbaren Credits nur aufzubringen weiß: »© Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1969. Erstausgabe. Printed in Germany. Alle Rechte vorbehalten […]. Satz, in Linotype Garamond, Druck und Bindung bei Georg Wagner, Nördlingen. Gesamtausstattung Willy Fleckhaus«,54 Angaben also, welche ›grammatisch‹ die Buchreihe, keineswegs das ›individuelle‹ Werk betreffen; kein Hinweis auf den Lektor, auf Quellen oder was auch immer. Statt dessen die Regenbogenreihe Suhrkampedition als renommierter Ort literarischer Intellektualität plus die eine eigene Autorschaft; in einen filmischen Vorspannparatext übersetzt kaum mehr als: ›edition suhrkamp zeigt Handke‹. De facto erscheint der Paratext des anderen Mediums Film einfach in den ihm gegenüber immunen Paratext des Buchs eingepackt. Der ökonomische und der soziale Sinn des Vorspanns bleiben damit ebenso unerreicht wie der erzählerische und ästhetische, der im Filmvorspann zwischen diesen Sinndimensionen vermittelt. Allenfalls wird mit dem zitierten Stück am Glamour des Films partizipiert über seinen Aufruf und den Aufruf der mit ihm verbundenen Namen.55 Immerhin liegt eine gewisse Aufmerksamkeit auf den filmischen Paratext zugrunde56 – und umgekehrt wird sie geweckt. Und immerhin ist festzuhalten, dass ein solcher Versuch zu einem Zeitpunkt unternommen wird, an dem man auch seitens der Literaturtheorie fragt, ob ›Text‹ nicht eine Kategorie darstellen könnte, welche sehr wohl jenseits des Buchs respektive diesseits von Werkeinheiten Aufmerksamkeit verdient. Und es bleibt nicht der einzige Versuch, der zu registrieren ist. Ebenfalls 1969 erscheint in der Frankfurter Reihe Streit-Zeit Bücher
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Schaudig, Michael: »Flying Logos in Typosphere«. Eine kleine Phänomenologie des graphischen Titeldesigns filmischer Credits. In: Schrift und Bild im Film. Hrsg. v. Hans-Edwin Friedrich u. Uli Jung. Bielefeld: Aisthesis 2002, S. 163–183; hier S. 163. Handke: Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt, S. 4. Kein gering zu schätzender Faktor: »When Faye Dunaway showed up in Carneby Street during the London run of Bonnie and Clyde, shop windows already sported gangster-draped dummies with mock machine guns. A youngster shouted, ›Hey, it’s Faye Dunaway.‹ ›You nit,‹ said another, ›it’s Bonnie Parker.‹« (Anonym: The Importance of Being Bonnie. In: Life/Atlantic, 4. März 1968, S. 54f.; hier S. 54.) Die im Zusammenhang mit einem einschlägigen Programm der »Oberhausener Kurzfilmtage« von 1968 zu sehen sein dürfte: vgl. Kreck, Joachim: Spielfilm-Titel. Eine Dokumentation der XIV. Westdeutschen Kurzfilmtage Oberhausen 1968 [»Weg zum Nachbarn«, 31.3.–6.4.1968] aus Anlaß eines Programms mit Beispielen der Titelgestaltung in Spielfilmen. Zusammengestellt v J. K. Hrsg. v. Hilmar Hoffmann u. Will Wehling. Oberhausen: o. V. 1968.
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Abb. 6: Oh Muvie presents Rosa von Praunheim[,] Carla Aulaulu in Oh Muvie. Frankfurt a. M.: Heinrich Heine Verlag 1969 (Streit-Zeit Bücher. 5), Cover.
ein Buch mit dem Titel Oh Muvie, auf dem Buchumschlag versehen mit dem Zusatz »Fotoroman« (Abb. 6). Im Klappentext ist gar vom »erste[n] deutsche[n] Fotoroman« die Rede; weiter heißt es: »Dies ist zwar nur ein psychedelischer Traum, aber Oh Muvie kann Träume real zeigen. Wo der Druck von außen am größten ist, da entsteht das stärkste Bild von der Gegenwelt. Oh Muvies Gegenwelt ist die neue Gesellschaft, die soziale und klassenlose Gesellschaft.«57 Liest oder vielmehr blättert man den Fotoroman durch, wird man eine durchgängige Handlung vermissen; stattdessen werden melodramatische, auch pornographische Szenen und Episoden locker aneinandergereiht. Worauf es uns ankommt, ist die Gestaltung von Titel und Impressum. Hier findet nämlich tatsächlich der Vorsatz zu versehen. Er erstreckt sich über neun rechte/ungerade Seiten
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Oh Muvie presents Rosa von Praunheim[,] Carla Aulaulu in Oh Muvie. Frankfurt a. M.: Heinrich Heine Verlag 1969 (Streit-Zeit Bücher. 5), Klappentext.
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Abb. 7–15: Oh Muvie: ›Vorspann‹ und Beginn des von ihm eingeleiteten ›Textes‹, unpag.
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und bietet eingangs den Haupttitel sowie die ›Hauptdarsteller‹ Rosa von Praunheim und Carla Aulaulu, sodann, neben einer Cast-Liste, TextBildkombinationen bezogen auf einige Funktionen der Produktion: »BILD: OH MUVIE«, »TEXT: ROSA v. PRAUNHEIM«, »KOSTÜME: MADAME PARINI« usw. bis: »BUCH u. IDEE: OH MUVIE« und, einer filmischen Vorspann-Abschlusskonvention entsprechend: »REGIE: ROSA v. PRAUNHEIM ·OH MUVIE« (Abb. 7–15). Auch in diesem Zusammenhang überwiegt gewiss der Glamour-Effekt – mit Underground-Touch –, die Vorspannform als solche wird nicht bis ins Letzte ernst genommen; aber der Filmvorspann prägt sich so doch prägnant in die Buchform ein. Für jede der namentlich kreditierten Funktionen erfolgt eine eigene Bildgebung. Die Urheberschaft wird vorspann-typisch gesplittet präsentiert. An die Stelle der Autor- tritt eine Regisseur-Betonung; aber auch diese wird relativiert. Dass als Produktionsfirma – statt einfach der Verlag – der Projekttitel erscheint, bezeichnet ein gewisses Hindernis einer transkriptiven Umsetzung des ›générique‹ aus der filmischen in die biblionome Organisationsform. Wie auch immer, die dilettantisch-skriptograpisch inszenierte Typographie gewinnt hier eine Plastizität, welche dem Drängen des Textes in Richtung eines Außerhalb seiner üblichen Domäne nachgibt. Mit den konventionellen Paratexten gerät auch die bibliographische Ordnung ins Wanken. Ein wenig ist dies noch heute nachvollziehbar, wenn man sich im Internet anschaut, wie die Deutsche Bibliothek und andere Datenbanken diesen Titel aufgenommen haben: Man muss durchaus produktive bibliographische Phantasie mobilisieren. Wenn es, was den hier intendierten Transport zwischen den Medien angeht, eine systematische Sperre zu überwinden gilt, dann wird sie an einem besonders grandiosen der Ende der 1960er Jahre zu verzeichnenden Entwürfe auch auf besonders lehrreiche Weise erkennbar. Es ist der Buchumschlag des 1968 erschienenen Gedichtbands Die Piloten von Brinkmann (Abb. 16/17).58 Er entfaltet ein Bild von ausgetüftelter Komplexität;
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Brinkmann, Rolf Dieter: Die Piloten. Neue Gedichte. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1968. Hat sich im Zusammenhang mit Paratextforschung, wie oben festgehalten, die Frage nach der leichteren oder schwierigeren ›Ablösbarkeit‹ von Rahmen (Derrida: Die Wahrheit in der Malerei, S. 80–82) als sehr fruchtbarer Analysegesichtspunkt erwiesen, so ist sie im Zusammenhang dieses Beispiels ganz im Wortsinn relevant: Bibliotheken pflegen keinen besonders freundlichen Umgang mit dieser Art Paratext. In ›meiner‹, der Siegener Universitätsbibliothek wurde auch der Piloten-Umschlag unbesehen entsorgt. (Die Abb. 16 u. 17 basieren auf im Marbacher Literaturarchiv angefertigten Diapositiven.) Vgl. zur ›Ausstattungs-Vergessenheit‹ in editionswissenschaftlicher Perspektive: Plachta: Mehr als Buchgestaltung, S. 133–150.
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Abb. 16: Brinkmann, Rolf Dieter: Die Piloten. Neue Gedichte. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1968, Buchumschlag.
Abb. 17: Brinkmann: Die Piloten, Buchumschlag, Ausschnitt.
die paratextuelle Organisation der ›Schwelle‹ zum Text bietet eine ganze Architektur, man ist auch versucht zu sagen: Energie der Kommunikation. Um nur einige Aspekte zu thematisieren: Man erkennt hier nicht nur einen bestimmten End-1960er-Jahre-Stil. Unter Zuhilfenahme von ComicElementen findet vielmehr eine unverhohlene Anknüpfung an jene Bild-
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Montage statt, die das 1967er Sgt. Pepper-Album der Beatles aufweist;59 hinzu kommen möglicherweise Design-Elemente des Animationsfilms Yellow Submarine (UK/USA 1968, George Dunning). Dieser Buchumschlag ist nicht weniger als der Versuch des erklärten Rolling Stones-Fans Brinkmann, den Vorsprung wettzumachen, den die Beatles mit der genannten Platte und mit ihrem Cover zweifellos vor den Stones gewonnen hatten, eine Scharte, die auch das konkurrierende Album Their Satanic Majesties Request nicht auswetzen konnte. Mick Jagger findet sich im Zentrum dieses Bilds (auf dem Buchrücken) – und zwar gleich doppelt, zudem noch unter Geleitschutz von Brigitte Bardot.60 Wenn man genauer hinschaut, erkennt man überdies, dass fast alle Figuren hier in zweifacher Ausfertigung zu sehen sind – ein Pop-Verfahren im Stil Warhols. Das alles dient dem Versuch, Gedichte im Zusammenhang von und unter Rückgriff auf Paratexte der Pop- und Populärkultur zu präsentieren. Neben Pop-Musik und Pop-Art ist es der Film, der die Formen liefert. Dabei sind auch die einmontierten Stars von Bedeutung. Zu erkennen ist etwa Karen (»Alexandra«) Kluge, glamouröse Schauspielerin des Neuen deutschen Films der 1960er Jahre,61 auch sie zweimal. Insbesondere aber ist auf den Titel zu achten: In seiner ›dreidimensionalen‹ Gestaltung der Typographie ist er Filmtitelsequenzen nachgebildet, wie man sie etwa im Kontext von Cine59
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Zu Brinkmanns Aufmerksamkeit auf diesen Typ von Paratext lese man auch: »Und nun habe ich eine andere Platte der DOORS aufgelegt: Strange Days, Produced by Paul A. Rothchild, audio engineering – Bruce Botnick, Sunset Sounds Recorders, Hollywood; disc mastering – Ray Hagerty, Madison Sound, New York; c o v e r c o n c e p t & a r t d i r e c t i o n – William S. Harvey. Elektra EKS 74014 c o p y r i g h t w o r d s a n d m u s i c t o a l l s o n g s b y THE DOORS.« (Brinkmann, Rolf Dieter: Angriff aufs Monopol. Ich hasse alte Dichter. In: Roman oder Leben. Postmoderne in der deutschen Literatur. Hrsg. v. Uwe Wittstock. Leipzig: Reclam 1994, S. 65–77; hier S. 70 [zuerst in: Christ und Welt 21 (1968), Nr. 40 v. 4. Oktober 1968]). – Zum Sgt. Pepper-Album: Stanitzek, Georg: »The plastic people will hear nothing but a noise.« Paratexts in Hollywood, The Beatles, Rolf Dieter Brinkmann, et al. In: Soziale Systeme. Zeitschrift für soziologische Theorie 9 (2003), H. 2: Popular Noise in Global Systems, S. 321–333; Grasskamp, Walter: Das Cover von Sgt. Pepper. Eine Momentaufnahme der Popkultur. Berlin: Wagenbach 2004; und allgemein zu pop-musikalischen Paratexten: Ullmaier: Paratexte im Pop, S. 54–93. Beide korrespondieren Rolf Dieter Brinkmanns eigener dicker Lippe … Vgl. nur Peter Szondi an Gershom Scholem, 4.1.1967, in: Briefe. Von P. S. Hrsg. v. Christoph König u. Thomas Sparr. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, S. 206f. – Die Integration dieses Bilds in die »Piloten«-Umschlagsmontage dürfte zugleich ein kritisches Statement Brinkmanns darstellen, der »Abschied von gestern« (D 1966, Alexander Kluge) wohl ebenso geliebt (vgl. Brinkmann, Rolf Dieter: Keiner weiß mehr. Roman. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1993, S. 30) wie er »Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos« (D 1968, Alexander Kluge) gehasst hat (vgl. Brinkmann, Rolf Dieter: Der Film in Worten. In: Acid. Neue amerikanische Szene. Hrsg. v. R. D. B. u. Ralf-Rainer Rygulla. Frankfurt a. M.: März 1969, S. 381–399; hier S. 383).
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mascope-Breitwand-Filmvorspannen häufig findet. Und dieses graphische Element des Buchumschlags wird in Brinkmanns Buch, als einziges, auch im Innentitel wieder aufgenommen. ›Schrift soll filmisch werden‹, so wäre dies programmatisch zu lesen.62 In seiner einleitenden »Notiz« zu diesem Band, datiert »Köln, Frühjahr 1968«, ist Brinkmann auf die mit dieser Titelgestaltung gegebene Dimension zurückgekommen mit den Worten: »Das alte Rezept und die neue Konzeption, bevor das Licht ausgeht, der Vorspann im Kino, hier bin ich.«63 Warum ist aber hier gleichzeitig eine Art Sperre des Medientransfers bzw. der Transkription zu konstatieren? Man wird, bei aller zuzugestehenden Großartigkeit dieses Buchcovers,64 in der Brinkmann’schen Konzeption zugleich die Ausgeburt einer naiven Größenphantasie erkennen müssen. In einem weiteren Paratext des Piloten-Bands, einer Art Impressum respektive Angabe von Herstellungsdaten heißt es an dessen Ende: »Die Collage des Schutzumschlages wurde vom Autor angefertigt.« Wenn Brinkmann hiermit also einen Umschlag von eigener Hand anbietet, seine Autorschaft mithin auf diese paratextuelle Dimension ausdehnt, so ist Paratextualität an sich doch regelmäßig ein Gegenstand geteilter Autorschaft(en): Verleger als Titelgeber, Fachleute für Typographie und Buch62
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Ein Programm, das Brinkmann wie Handke und von Praunheim mit der Epoche teilt. – In die Reihe der gebotenen Hinweise und Interpretationen wären u. a. aufzunehmen: Chotjewitz, Peter O./Rambow, Gunter: Roman. Darmstadt: Melzer 1968; auch dies eine Art Fotoroman, auf dem das Umschlagtitelbild hinter der filmisch wirkenden Titelschrift einen eine Tür öffnenden Nackten zeigt, der im weiteren Verlauf des ›Textes‹, von der Schrift ›befreit‹ und den Türspalt weiter öffnend, besser zu sehen sein wird (unpag.); Tsakiridis, Vagelis (Hrsg.): Super Garde. Prosa der Beat- und Pop-Generation. Beiträge von Uwe Brandner, Rolf Dieter Brinkmann, Peter O. Chotjewitz, André Domine, Dirk C. Fleck, Hans J. Fröhlich, Uwe Herms, Klingt Knörndel, Gert Loschütz, Ulf Miehe, Helmut Salzinger, Wolfgang Tumler u. Wolf Wondratschek. Düsseldorf: Droste 1969, dessen Buchumschlag zusammen mit Pop- und Filmstars die Autoren als Einzelfilmbilder, gerahmt von Filmtransportstreifen zeigt; Miehe, Ulf: Ab sofort liefern wir folgende Artikel auf Teilzahlung. Eine Politpornographie. Berlin: Klaus Bär 1969, das in seiner Eingangspassage Pinup-Girl-Fotos in ähnlicher Weise montiert (S. 5). Brinkmann, Rolf Dieter: Notiz. In: R. D. H.: Die Piloten, S. 6–9; hier S. 8. – Vgl. auch seinen Bezug auf den Filmvorspann als ausgezeichneten Gegenstand nonverbaler »tagtäglich zu machender sinnlicher Erfahrung« im Nachwort zu »Acid«: »Witze, denen man nicht entkommen kann, zersetzen die abgerichtete Reflexionsfähigkeit, Anzeigen, der Vorspann im Kino.« (Brinkmann: Der Film in Worten, S. 381) – Dazu stimmt, dass Brinkmann 1969 im März-Verlag ein Buch mit dem Titel »Vorspannstücke« plant; siehe: Acid-Anzeige. In: Konkret 12 (1969) v. 2. Juni 1969, S. 33 – Eckhard Schumacher ist für die freundliche Übermittlung dieses Befunds zu danken. Dessen Herstellung ungewöhnlich kostspielig gewesen sein muss; der Verleger erinnert es als »den teuersten Schutzumschlag per dato in der Verlagsgeschichte« (Neven Du Mont, Reinhold: Liebe und Hass im rotten Cologne. Eine Erinnerung an den Autor Brinkmann. In: Kölner Stadt-Anzeiger 128 (2004), Nr. 225 v. 25./26. September 2004, S. 31).
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gestaltung, Marketing- und Werbe-Leute und so fort. Und das gilt in hervorragendem Maß in den Medien der Film- und Musikkultur, die Brinkmann herbeizitiert. Es ist von objektiver Ironie, dass er hier gleichsam heroisch auf eigenhändige Autorschaft setzt; stellt doch gerade der von ihm bewunderte Filmvorspann ein ausdifferenziertes Arbeitsfeld von Spezialisten dar – Vorspann-Autoren, Spezialisten für diese Art paratextueller Kommunikation.65 Vielfalt paratextueller Referenzen meint gerade in diesem Zusammenhang immer auch eine Mehrheit von Sozialreferenzen. Zu dieser Frage der Sozialreferenz gibt das Piloten-Buch einen weiteren Paratext, eine Dedikation, die zugleich eine Lektüre-Anweisung darstellt; Brinkmann schließt seine einführende »Notiz« mit den Worten: Ich widme […] den vorliegenden Gedichtband dem Andenken Frank O’Haras und dann all denen, die sich immer wieder von neuem gern auf den billigen Plätzen vor einer Leinwand zurücksinken lassen. Sie alle sind die Piloten, die der Titel meint.66
Das ist die Situation, die Brinkmann für die Literatur und das Buch herbeiträumt. Auf den billigen, das heißt den Sperrsitzen sitzt man sehr nah, sitzt man zu nah am filmischen Geschehen, das umso näher zugleich um so überwältigender wirkt, dem man auf diese Weise körperlich, ja fast gewalttätig ausgesetzt ist.67 Diese mediale, in idealer Form im Vorspann 65
66 67
Das 1968er Interesse an diesen Verhältnissen war nicht zuletzt ideologiekritisch motiviert. Eine Broschüre des Fernseh- und Filmkritikers Otto F. Gmelin, dessen kritische Fernsehtheorie am Ende der 1960er Jahre sehr einflussreich gewesen ist (vgl. Gmelin, Otto F.: Philosophie des Fernsehens. Heuristik und Dokumentation, Bd. 1: Kapitel I: Phänomenologie des Erfolgs, Kapitel II: Fernsehdokumentation. Pfullingen: Gmelin 1967), bietet in dieser Hinsicht Aufschlussreiches, nämlich eine Kritik der Herausgeber-/Beiträger-Hierarchie eines edition suhrkamp-Bändchens über Herbert Marcuse (Abb. 18). Auf einer Abbildung des Buch-Umschlagtitels wird der Name des Herausgebers Jürgen Habermas durchgestrichen präsentiert (Gmelin, Otto: Rädelsführer 1 oder Emanzipation und Orgasmus. Berlin: Ca Ira Presse 1968, S. 8). Als Klassiker der ideologiekritischen Filmwissenschaft vgl. nur Gardies, André: Am Anfang war der Vorspann. Übers. v. Isabel Treptow. In: Das Buch zum Vorspann. »The title is a shot«. Hrsg. v. Alexander Böhnke, Rembert Hüser u. Georg Stanitzek. Berlin: Vorwerk 8 2006, S. 21–33. Brinkmann: Notiz, S. 9. Vgl. das von Brinkmann beschriebene ›Versuchsarrangement‹: »Bedenkenlos wird beim Film von Schnitten gesprochen, ohne daß noch beachtet wird, was die Erfahrung ist […]/Ich lehne mich im Dunkeln des Kinosaals zurück, ich kneife ein Auge zu, schneide mich aus dem Inhalt damit heraus & halte den Zeigefinger in einigem Abstand vor mir gegen die hin und her treibenden Bewegungen auf der Leinwand hoch/ich konzentriere mich mit dem weiter geöffneten Auge auf die Fingerspitze. Das Gefangengehaltenwerden durch die inhaltliche Abfolge des Filmes habe ich durchbrochen, und während ich mich auf die Fingerspitze konzentriere, erfahre ich S c h n i t t e /an dem heftigen Zucken, das durch meinen Körper rinnt, sobald ein Schnitt erfolgt, ein Vorgang abbricht, zuckendes Licht.« (Brinkmann, Rolf Dieter: Notizen und Beobachtungen vor dem Schreiben eines
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gegebene Situation versucht Brinkmann für das Buch – das die Form eines »Bookmovie«68 annehmen soll – zu mobilisieren. Und das verbindet sich mit der genannten Größenphantasie: Während der Film im Vorspann seine arbeitsteilige Produktion ausstellt, versucht hingegen Brinkmann – in Zuspitzung eines den zeitgleichen Autorenfilm ebenfalls umtreibenden Begehrens –, alle Funktionen in die Einheit seiner Autorschaft einzuholen. Der Traum von einem anderen Paratext des Buchs (und das heißt tatsächlich: von einem anderen Buch) resultiert insofern, paradox, in der Bestätigung, ja in der Forcierung jener biblionomen Tradition, die McLuhan wenige Jahre zuvor folgendermaßen auf den Begriff gebracht hatte: »The book form is not a communal mosaic or corporate image but a private voice.«69 Brinkmann demonstriert paradoxerweise mit Hilfe des auf facettenreiche Kreditierung spezialisierten Vorspannformats das Medium Buch als komplett seiner eigenen Stimme ›verhaftet‹. Es wirkt wie ein abschließender Kommentar hierzu, was sich in einem Text von Ernst Jandl aus dem Jahr 1970, also am Ende der hier thematisierten Periode findet. Omnibus-Bände sind um 1968 beliebt.70 Auch sie weisen diese Phase als eine des Experimentierens mit dem Medium Buch aus. Trägt nun zwar Jandls 1974 erschienene Anthologie den Titel »Für alle«, so macht er gleichwohl klar, dass in diesem Omnibus zwar alle mitfahren mögen. Der Fahrer aber ist der Autor, woran schon das Pop-
68
69 70
zweiten Romans 1970/74. In: Der Film in Worten. Prosa – Erzählungen – Essays – Hörspiele – Fotos – Collagen 1965–1974. Von R. D. B. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1982, S. 275–294, S. 286) – Hier ist an einen Typ Vorspannmontage zu denken, welcher Realfilm mit intermittierenden Schrift-Inserts versieht; so entsteht, ebenfalls quer zu Handlungsverläufen, ein ganz vergleichbarer Effekt. »Bookmovie ist the movie in words, the visual American form« (Kerouac, Jack: Belief & Technique for Modern Prose. In: Evergreen Review 8 (Spring 1959), H. 26, S. 57; zitiert nach Schäfer, Jörgen: Pop-Literatur. Rolf Dieter Brinkmann und das Verhältnis zur Populärkultur in der Literatur der sechziger Jahre. Stuttgart: M & P 1998, S. 99). Zu Brinkmanns 1968er Verhältnis zum Kino aufschlussreich: Töteberg, Michael: Flickers. Rough Cut Establishing Shots oder Dasein heißt Kino. In: Brinkmann. Schnitte im Atemschutz. Hrsg. v. Karl-Eckhard Carius. München: edition text + kritik 2008, S. 88–97. McLuhan: Understanding Media, S. 204. Brinkmann plant ein Buch mit diesem Titel: »Rolf Dieter Brinkmann, OMNIBUS/ca. 240 Seiten, Paperback mit zahlreichen Illustrationen, ca. DM 16,–« (1. März Bibliographie, in: März Texte 1, S. 315); Mayröcker trägt unter diesem Titel zu einer experimentellen Essayanthologie bei: Mayröcker, Friederike: Omnibus. In: Trivialmythen. Hrsg. v. Renate Matthaei. Frankfurt a. M.: März 1970, S. 134–140; Wondratschek betitelt damit eine Essaysammlung: Wondratschek, Wolf: Omnibus. München: Hanser 1972.
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Abb. 18: Gmelin, Otto: Rädelsführer 1 oder Emanzipation und Orgasmus. Berlin: Ca Ira Presse o. J. [1968].
Abb. 19: Jandl, Ernst: für alle. Darmstadt/Neuwied: Luchterhand 1974, Cover.
Design-Cover keinen Zweifel lässt (Abb. 19). Im Buch findet man einen Text, der hier abschließend vorgestellt sei, Titel: »NACHRUF – EIN FILM in schwarzweiss«. Er ist in mehrere Nummern gegliedert, die an ein Skript filmischer Einstellungen denken lassen, und beginnt folgendermaßen:
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1 schwarz die tiefe des weltraums, übersät von sternen verschiedener grösse, spiralnebeln, milchstrassen. keine bewegung – ausser dem funkeln der sterne. 2 aus der mitte des raums taucht, im unteren drittel der bildmitte, ein leuchtender runder flugkörper, erst nur durch seine bewegung, nicht durch seine grösse von den umgebenden sternen unterschieden; im flug von unten auf den bildmittelpunkt zu allmählich grösser werdend, erscheint dieser flugkörper erst vage, dann deutlich, als ein kopf, ein gesicht. es ist das gesicht eines mannes, alterslos, blass, ohne bart71 usw.
Dieses Gesicht macht im Folgenden einige Metamorphosen durch; dann zeigen sich, in »10«: »neptun mit dreizack«, »der nazarener«, eine Taube, die Zahl »3«, die sich in ein »Ω [Omega]« verwandelt, dieses wird als die Kontur eines Hinterns erkennbar, der Krippenfiguren ausscheidet, als letztes »das kind«.72 Erinnert all das strukturell in manchem bereits an einen Vorspann – eher als einen Abspann jedenfalls, den der Titel, »NACHRUF«, erwarten lassen könnte –, so kommt denn schließlich auch ein Titel mit einem Namen ins Spiel: [10] […] wenn das kind im unteren bildrand versunken ist, zeigt das bild im oberen drittel den arsch weiterhin in gleicher stellung, nicht mehr scheissend, und im übrigen den schwarzen weltraum voll funkelnder sterne, die sich nicht von der stelle bewegen, kaum ist der letzte rest des kindes nach unten verschwunden, schiesst, aus dem arschloch, in richtung schräg nach rechts unten, wie ein blitzstrahl der name e r n s t j a n d l in leuchtschrift und bleibt einige sekunden, sich […] schräg nach unten an den rechten bildrand erstreckend, unbewegt stehen, während oben der arsch verdunkelt, bis auch an seiner stelle der schwarze raum mit den sternen da ist. mit einem einzigen mächtigen ruck, während die leuchtschrift weiterhin stillsteht, setzt die bewegung aller sterne ein, etwas rascher als zu beginn, nach hinten, auf einen unendlich fernen zielpunkt zu. das licht der schrift wird noch intensiver. ein beben geht durch die schrift, als wollte sie sich losreissen, dann schiessen die buchstaben, einzeln, in unregelmässiger folge, aus der linie der schrift heraus, jeder in der gleichen richtung, eine kurve nach links, kurz abwärts, dann aufwärts und unerhört rasch, wie leuchtende raumschiffe, in der richtung der sterne hinein in den raum.73
Hier träumt nicht nur das Buch von einer alternativen Paratextualität und mit ihr einer alternativen Textualität schlechthin – hier werden filmische ›special effects‹ imaginiert, die technisch erst gegen Ende der 1970er Jahre mit dem Einsatz digitaler Animationstechnologien im Film – und zunächst gerade auf dem begrenzten Feld des Vorspanns – Wirklichkeit 71
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Jandl, Ernst: NACHRUF – EIN FILM in schwarzweiss. In: für alle. Von E. J. Darmstadt/Neuwied: Luchterhand 1974, S. 192–197; hier S. 192 (zunächst in: Vorletzte Worte. Schriftsteller schreiben ihren eigenen Nachruf. Hrsg. v. Karl Heinz Kramberg. Frankfurt a. M.: Bärmeier & Nikel 1970, S. 105–110). Jandl, S. 196f. Jandl, S. 197.
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zu werden beginnen.74 Was das Buchmedium angeht, geschieht dies bei Jandl allerdings in einer ganz traditionellen Weise; und auf diese Weise demonstriert sich zugleich die Leistungsfähigkeit dieses Mediums. (Von der bei Handke und Brinkmann zu konstatierenden Verkennung der kreditierenden Funktion kann bei Jandl keine Rede sein. Das Impressum des Buchs nennt Ross und Reiter: »lektorat«, »umschlag«, »ausstattung« werden namhaft gemacht.)75 Die Qualität des filmischen Paratexts erreicht Jandl mit vergleichsweise traditionellen literarischen Mitteln, einer imaginativen Bildbeschreibung. Die Behandlung des Autornamens stimmt dazu.
4 Das Buch: Form im Medium der Peri-Paratexte Man hat gelegentlich darauf hingewiesen, dass erstens ein Begriff von Buchmedialität Desiderat ist und dass zweitens ein solcher Begriff möglicherweise gewonnen werden könnte unter Rückgriff auf ein Theorieangebot der Systemtheorie Luhmanns, die ihrerseits modifizierend auf eine begriffliche Disposition der Phänomenologie Fritz Heiders zurückgegriffen hat:76 die Unterscheidung von Medium und Form, deren Potenzial gegenwärtig in medientheoretischen Kontexten verhandelt wird.77 Es kann durchaus eigentümlich erscheinen, dass entsprechende Versuche bis dato nicht ausgearbeitet worden sind. Vielleicht ist dies auf den sehr allgemeinen Charakter dieser Unterscheidung zurückzuführen: Sie ist wirklich hochabstrakt zu nennen – und entsprechend ubiquitär anwendbar;78 ihre
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Vgl. Levitan, Eli L.: Handbook of Animation Techniques. New York/London: Van Nostrand Reinhold Company 1979, S. 165; Paech, Joachim: Der Schatten der Schrift auf dem Bild. Vom filmischen zum elektronischen »Schreiben mit Licht« oder »L’image menacée par l’écriture et sauvée par l’image même«. In: Der Entzug der Bilder. Visuelle Realitäten. Hrsg. v. Michael Wetzel u. Herta Wolf. München: Fink 1994, S. 213–233; hier S. 225. Jandl, Ernst: für alle. Darmstadt–Neuwied: Luchterhand 1974, S. 4; philologisch bliebe in diesem Fall freilich die Frage nach der Autorschaft zu klären – ›geteilt‹ zwischen Autor und Verleger, wie bei vergleichbaren Phänomenen, etwa dem Titel (Genette: Paratexte, S. 75), und wenn ja, zu welchen Anteilen? Rautenberg/Wetzel: Buch, S. 11–13; Heider: Ding und Medium [1926]; Luhmann: Das Medium der Kunst; Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 165–214. Vgl. etwa Krämer, Sybille: Form als Vollzug oder: Was gewinnen wir mit Niklas Luhmanns Unterscheidung von Medium und Form? In: Rechtshistorisches Journal 17 (1998), S. 558–573. Luhmann, Niklas: Schwierigkeiten mit dem Aufhören. In: Archimedes und wir. Interviews. Von N. L. Hrsg. v. Dirk Baecker u. Georg Stanitzek. Berlin: Merve 1987 (Internationaler Merve Diskurs. 143), S. 74–98; hier S. 88f.
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Anwendung bedarf einer präzisen medienspezifischen Reformulierung.79 Vorausgesetzt ist allein, dass es einen Bereich lose gekoppelter Elemente gibt, der als Medium fungiert; als Medium nämlich für Formen, die sich als strikte Kopplungen selektiv in die sich dazu anbietenden lose gekoppelten Elemente einprägen. So die sehr allgemeine Bestimmung dieser Relation und Differenz von Medium und Form. Wichtig ist nun, dass Heider und Luhmann allen Wert drauf legen, dass die genannten Elemente ›körniger‹ Natur sind. Dieser Begriff der Körnigkeit (wohl metaphorisch vom Beispiel des Mediums Sand und der Form Fußspur herrührend) besagt nichts anderes, als dass die Elemente eines Mediums selbst bereits Formen aufweisen. Dass also die zu koppelnden Elemente, welche ein Medium anbietet, selbst bereits einen gewissen Formcharakter haben; eine gewisse Eigenqualität also, welche ihr Aufnahmepotential, ihre Kombinierbarkeit, ihre Anschlussfähigkeit bestimmt. Form prägt sich in ein Medium also nur nach Maßgabe der von den einzelnen im Medium gebotenen spezifischen Formelemente ein. Der begriffliche Vorschlag, der hier zu unterbreiten ist, geht dahin, diese Unterscheidung zu nutzen, um die in Frage stehende Medialität des Buchs probeweise unter Rückgriff auf die von Medium und Form zu reformulieren. Das Medium Buch wäre also zu unterscheiden vom jeweils einzelnen in dieses Medium eingeprägten und so im Medium realisierten Buchform. Wenn aber der Sinn dieser Konzeption darin besteht, dass anzugeben ist, aus welchen ›körnigen‹, spezifisch geformten lose gekoppelten Elementen das Medium besteht: Wie sind die Elemente zu fassen, die das Buchmedium bietet, um Buchformen sich realisieren zu lassen? Hier lohnt es sich, einer These von Remigius Bunia zu folgen:80 Es ist das sogenannte Beiwerk, es ist der Kreis der peritextuellen Paratexte mit ihren jeweiligen Eigenschaften, der die Elemente hergibt. Im Buchmedium stellen so heterogene Größen wie Schriftzeichen, Bilder, typographische Anordnungen, Papier, Deckel und Umschläge, Bindungen und vergleichbare Materialien die lose gekoppelten Elemente dar. »Die rigiden Kopplungen sind dann konkrete Zusammensetzungen von Papier, Buchdeckel etc., […] Zeichen, Bildern und ähnlichem […]. Jedes konkrete Buch ist eine 79
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Vgl. Ernst, Wolfgang: Lose Kopplungen schreiben. Form und Medium im Kontext der Medien(begriffe). In: Form und Medium. Hrsg. v. Jörg Brauns. Weimar: Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften 2002 (['Medien]i. 10), S. 85–111; Leschke: Einführung in die Medientheorie, S. 18. Bunia: Faltungen, S. 284–291. – So wie es sich bei Genettes »Paratextualität« um eine von einem Narratologen entwickelte Konzeption handelt, hat auch Bunia sein Argument im Zusammenhang erzähltheoretisch interessierter Forschungen entwickelt.
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Form im Medium Buch«.81 – »Konstitutive Formen im Medium Buch sind Peritexte.« 82 Im selektiven Zugriff auf sie wird die Buchform, werden die je unterschiedlichen Konkretisierungen als materiale Buchformen möglich.83 Hat Luhmann seine Konzeption dadurch gewonnen, dass er Heiders Begriff des ›Dings‹ in den der ›Form‹ übersetzte, so ließe sich sagen, im Fall des Buchs erhalte die Form wiederum dinglich-materialen Charakter. Doch wenn irgendwo, dann gilt hier, dass das Produkt als »Gespinst«84 sehr unterschiedlicher Qualitäten gegeben ist. Die Materialität beziehungsweise technische, auch ökonomische Bedingtheit der einzelnen Formen, auf die zurückgreifend sich ein Buch konkretisiert, sind in ihrer Bedeutung gewiss nicht zu unterschätzen. Man sollte sie freilich auch nicht überschätzen als etwa allein ausschlaggebende oder auch nur dominante Faktoren der Formbestimmung. Kulturelle oder sozio-ideologische Usancen und Praktiken sind durchgängig in der einen oder anderen Weise mit ihnen verknüpft. Zwischen eine ungerade und die folgende gerade Seite lässt sich kein weiteres Blatt einfügen – eine eindeutige technische Beschränkung. Ab einem bestimmten Seitenumfang wird ein Buch ›unförmig‹, auch gibt es dann Probleme mit der Haltbarkeit von Bindungen, sodass sich Mehrbändigkeit empfiehlt. Ist auch hiermit eine materiell-technisch-dingliche Einschränkung möglicher strikter Kopplungen gegeben, gilt dies hingegen keineswegs für die Frage, was denn tatsächlich zu einem Band zusammengebunden werden kann. Dass nämlich ab einer bestimmten Heterogenität der in einem Buch zusammengeführten Beiträge abfällig von Buchbindersynthesen die Rede ist,85 verdient notiert zu werden. Es basiert auf soziokulturellen Konventionen und agiert sie in gewisser Weise performativ aus. Und jeder, der in Bibliotheken mit Beständen aus dem 17. und 18. Jahrhundert gearbeitet hat, weiß 81 82 83 84 85
Bunia, S. 285. Bunia, S. 287. Für die Buchwissenschaft dürfte die Attraktivität dieses Ansatzes darin liegen, dass den von ihr traditionell besonders aufmerksam betreuten buchkundlichen Aspekten (vgl. Fischer: Sinn und Eigen-Sinn) eine zentrale Rolle zukommt. Bezogen auf die Marx’sche Gebrauchswert/Tauschwert-Unterscheidung: Baecker, Dirk: Das Produkt ist ein Gespinst. In: Organisation und Management. Von D. B. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft. 1614), S. 55–69. »Schwer zu verstehen, warum man […] mit dem Hinweis ›Buchbindersynthese‹ – ein klassisches Kollegenargument – immer so schnell bei der Hand ist, abgesehen von dem vorindustriellen Bild des ›Buchbinders‹, das hier waltet. Wenn das durch zwei Buchdeckel Synthetisierte jeweils gut ist (und es dann auch noch ein Register gibt), was, bitte, ist dann dagegen zu sagen?« (Gauger, Hans-Martin: Hoffen auf die Apokalypse? Schön nüchtern: Aufsätze und Essays von Claudio Magris. In: FAZ 55 (2003), Nr. 36 v. 12. Februar 2003, S. 34).
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wenigstens um die Kontingenz dieser Konventionen und wird vielleicht im Gegenteil gerade solche Bücher zu schätzen wissen, welche die eine oder andere Überraschung ›angebunden‹ mit sich führen.86 Der Impetus der oben genannten Omnibus-Bände ist durchaus eine Variante dieser Art Verständnis von Heterogenität als Reichtum. Der typisch gemischte – technische, ökonomische, soziokulturelle Dimensionen amalgamierende – Charakter der Körnigkeit peritextueller Buchelemente soll an einigen weiteren Peritexten beispielsweise und kurz erläutert sein: Innerhalb konventioneller typographischer Dispositive bereitet es zumindest technische Schwierigkeiten, Fußnoten mit weiteren – und diese wiederum weiteren – Fußnoten auszustatten; und mag dies zu einem gewissen Grad unter Zuhilfenahme besonderer Notationssysteme dennoch möglich sein,87 so bereitet das Zitieren einer Fußnote in ihrer ursprünglich im zitierten Text gegebenen typographischen Gestalt doch fast unüberwindliche Schwierigkeiten und wird in der Regel auch vermieden (es sei denn, um genau diese Schwierigkeiten zu illustrieren). In bestimmten kulturell differenzierten Segmenten der Bücherwelt führen freilich bereits einfache Fußnoten – die als solche natürlich in jedem Buch überall möglich wären – abschreckende Konnotationen mit sich, sodass sie als Endnoten vom übrigen Text separiert oder überhaupt verbannt werden. Und es überrascht, Fußnoten und anmerkungsweisen Text in Gedichte integriert zu finden.88 Ein Motto, das sich über mehrere Seiten 86
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Im Rahmen der Systemtheorie im Stil Niklas Luhmanns korreliert dem die Präferenz für die Organisationsform des Museums vor derjenigen monographischer Ausstellungen (vgl. Luhmann, Niklas: Kommunikation mit Zettelkästen. Ein Erfahrungsbericht. In: Universität als Milieu. Kleine Schriften. Von N. L. Hrsg. v. André Kießerling. Bielefeld: Haux 1992, S. 53–61; hier S. 59). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang freilich einerseits, dass Luhmanns eigene Publikationspraxis der Monographie einen demgegenüber erheblichen Stellenwert eingeräumt hat, andererseits, dass die Edition seines Zettelkastens sehr auf sich warten lässt. Benjamins prophetisches Wort von 1928 hat sich nur in Maßen bewahrheitet: »Und heute schon ist das Buch, wie die aktuelle wissenschaftliche Produktionsweise lehrt, eine veraltete Vermittlung zwischen zwei verschiedenen Kartothekssystemen. Denn alles Wesentliche findet sich im Zettelkasten des Forschers, der’s verfaßte, und der Gelehrte, der darin studiert, assimiliert es seiner eigenen Kartothek.« (Benjamin, Walter: Einbahnstraße. In: Gesammelte Schriften. Von W. B. Hrsg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Bd. 4,1. Hrsg. v. Tillman Rexroth. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 83–148, S. 103) Worauf sich ein ›Künstlerbuch‹ kaprizieren mag, das unter der hier eingenommenen Perspektive vielleicht generell als eine Residualkategorie grenzwertiger Buchformen zu begreifen wäre (vgl. Dworkin: Textual Prostheses, S. 1–24). Zum Beispiel bei Mayröcker, Friederike: Und pflückt den Vogel/eher Winterling. In: Ausgewählte Gedichte 1944–1978. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S. 209–212; hier S. 212; Mayröcker, Friederike: BONANZA oder UNSTERN ÜBER WIEN. In: Blauer
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erstreckt, würde befremden, wäre als solches auch vielleicht gar nicht umstandslos erkennbar, sondern bedürfte einer ausdrücklichen Kennzeichnung. Ein Literaturverzeichnis mit einem Motto zu verbinden, ist typographisch ohne weiteres möglich und stellt gleichwohl eine eher unwahrscheinliche Form-Kombination dar. Danksagungen sind zwar an vielen Stellen eines Werks platzierbar, wenn sie denn für das Zustandekommen des Werks hilfreiche Leistungen annoncieren – diejenigen Personen oder Institutionen namhaft zu machen, die für das Zustandekommen des Werks nicht hilfreich waren, ist hingegen unüblich, wenn nicht unmöglich (es sei denn, um diese Ungewöhnlichkeit herauszustellen).89 In diesem Fall liegt also die Selektivität der Kopplungsmöglichkeiten überhaupt nicht auf der technischen Ebene, sondern ist allein in diskursiven Regularitäten kultureller respektive sozialsystemspezifischer Provenienz begründet. Ein Buch, das im Medium der peritextuellen Formen Gestalt annimmt, ist immer ein komplexes Gefüge von Einzelformen. Jedes der dabei selektiv kombinierten Elemente ist befestigt in einem und als ein Bündel von – mehr oder weniger material verfassten, in praktisch buchmacherischem, verlegerischem und schriftstellerischem Wissen überlieferten – Konventionen. Dass nicht alle möglichen Elemente aufgerufen beziehungsweise in Anspruch genommen werden, gehört zur Selektivität der je spezifischen Buchform im Buchmedium. Ein Motto beispielsweise muss nicht sein; mitunter erfreut gerade sein Ausbleiben. Auch viele Widmungen würde man für eine gelungene Widmungsparodie gern wegschenken.90 Andere Formen hingegen haben einen alles andere als fakultativen Charakter, sind
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Streusand. Hrsg. u. mit einem Nachwort v. Barbara Alms. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1987, S. 117–119; hier S. 119. »And if in the first pages after acknowledging colleages who had helped, I had said: ›Richard C. Jeffrey, on the other hand, did not help.‹ And if I had gone on here (in these later pages) to suggest that the aim had been to make a little joke and incidentally bring awareness to a tacit constraint on acknowledgement writing?« (Goffman: Frame Analysis, S. 18) – »Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft«, heißt es zwar im oben zitierten Band »Paratexte in Literatur, Film, Fernsehen« (S. IV), doch fehlt ein peritextueller Hinweis auf eine von den Herausgebern eingeworbene Analyse des Vorspanns von »Breakfast at Tiffany’s« (USA 1961, Blake Edwards); sie war von einem Gutachter, der über den Druckkostenzuschuss zu befinden hatte, als ›nicht druckfähig‹ eingestuft worden. Epitextuell soll hier hingewiesen sein auf: Hüser, Rembert: Spaced out. In: Poetik und Gedächtnis. Festschrift für Heiko Uecker zum 65. Geburtstag. Hrsg. v. Karin Hoff u. a. Frankfurt a. M. u. a.: Lang 2004, S. 427–435. Siehe nur Schmidt, Harald: Tränen im Aquarium. Ein Kurzausflug ans Ende des Verstandes. O. O.: Fischer Taschenbuch Verlag/Kiwi Paperback/Rowohlt Taschenbuch Verlag 2003, S. 5.
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vielmehr in der einen oder anderen Weise notwendig, ›sedimentiert‹ beziehungsweise standardisiert als einigermaßen starre Module. Man denke an das mathematische Kalkül der ›International Standard Book NumberCodierung‹, welche irreguläre Bezeichnungszahlen wenn auch nicht zu verhindern, so doch erkennbar zu machen geeignet ist.91 Die Erfindung neuer Formelemente und neuer Kombinationsmöglichkeiten ist mit dieser Art Gegebenheiten nicht ausgeschlossen, sondern hat in ihnen den Hintergrund, vor dem sie sich gegebenenfalls abzuheben vermag. Insofern ist jedes der Elemente, die das Buchmedium als Formen für selektive Kombinationen zur Verfügung stellt, mit unterschiedlichen Bedingungen und Graden der Variations-, Auflösungs- und Rekombinationsmöglichkeit versehen. Wenn intermediale Beobachtungen zum Begreifen der spezifischen Beschaffenheit einzelner dieser Elemente Verwertbares beizutragen vermögen, sollten die obigen ein wenig mikrologischen Analysen in diesem Sinn exemplarisch zu einem dem entsprechenden Verständnis der Elemente ›Titel‹, ›Impressum‹ und ›Typographie‹ beigetragen haben. Nachzuvollziehen war hierbei im Wesentlichen, was bereits im Gegenstandsbereich geschieht. Unternehmen doch die zitierten Popliteraturexperimente ebendies: Die Körnigkeit, die Form- und Verform- und Überformbarkeit, die Kombinierbarkeit dieser peritextuellen ›Beiwerk‹-Elemente jeweils einem experimentellen Test auszusetzen. Einem intermedialen Test, der gerade in seinen im Einzelnen durchaus begrenzt zu nennenden Resultaten Aufschluss über die Verfassung der einzelnen medialen Beiwerkelemente zu geben vermag. Insgesamt geht es bei diesen Variationen um Versuche, das Buch mit einem filmischen Vorspann zu versehen, genauer: die im Rahmen des Films medien-evolutionär ursprünglich aus dem Medium Buch – insbesondere mit seinem Impressum – heraus entwickelten Formen des ›générique‹ nunmehr in das Buch rückzuübertragen, das Impressum also in seiner typisch filmisch angereicherten Fassung in das ältere Medium wiedereinzuführen.92 Die dem begegnenden Widerstände sind offenbar erheblich. In gewisser Hinsicht ist die Fassung Rosa von Praunheims noch am überzeugendsten, der als eigentlicher Filmemacher in Hinsicht auf die im Film übliche aufgefächerte Credits- und entsprechende Bild-Vergabe zu 91 92
Vgl. Goettle, Gabriele: Apodiktische Gültigkeit. Mathematiker. In: Experten. Mit Fotografien von Elisabeth Kmölinger. Frankfurt a. M.: Eichborn 2004 (Die andere Bibliothek. 236), S. 140–151; hier S. 149f. In praktisch-literarischer Vorwegnahme jener Perspektive, die Alexander Böhnke unlängst literaturwissenschaftlichen Paratexttheoretikern empfohlen hat (Böhnke: Paratexte des Films, S. 175f.).
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einer konsequenten Lösung findet. Dass der von ihm gebotene Ansatz sich als wenig anschlussfähig erwiesen hat, keine nennenswerte Nachfolge gefunden zu haben scheint, ist jedoch signifikant. Wenn man die anhaltende Konjunktur von mit dem Buch verbundenen Autor-Porträtphotographien berücksichtigt, wird man dies nicht allein dem Medium Photographie, dessen Einsatz in Oh Muvie durch den Photoromancharakter des Textes motiviert ist, zurechnen. Die erwähnte Fassung des Jandl’schen Impressums wäre hier zu bedenken. Nennt es zwar mehrere Beteiligte, nimmt es sich verglichen mit der Referenzvielfalt eines Film-Vor- oder Abspanns doch recht sparsam aus. Diese Kargheit entspricht keineswegs einfach tatsächlichen Produktionsbedingungen, sondern an erster Stelle den Stilisierungsgewohnheiten von Autorschaft im Rahmen unserer literarischen Kultur. Diese Stilisierung von Autorschaft zwingt jedoch bezogen auf die dankenden Nennungen im Buch generell Weiteres zu bedenken: Hier sind medial unterschiedlich ausgeformte rechtliche Rahmenbedingungen von großer Bedeutung. Während die Kreditierung im Film ausgeklügelten Rechtsvorschriften und vertraglich bis in Details gehenden Regelungen folgt,93 fehlt dem ›Credit‹ im Buch eine entsprechend konventionelle Form. Stattdessen gibt es einen gleitenden Übergang zur dankenden Erwähnung. Nicht zufällig kann ein Dank an sehr verschiedenen Stellen im Buch seinen Ort finden; Vorrede, Fußnote, Nachwort, Impressum – selbst eine Widmung kann dankenden Charakter annehmen. Dieser peritextuellen Optionsvielfalt korreliert eine gewisse Freiwilligkeit. Sie wiederum lässt den Dank – darin unterschieden vom ›credit‹ im strikten Sinn, der einfach ein Verdienst bezeichnet – selber als Gabe oder Wohltätigkeit erscheinen.94 Statt als Aufweis von möglicherweise gegebenen multiplen ›Autorschaften‹ zu fungieren,95 wird er der Generosität eines Autors und damit seiner Autorschaft
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Siehe für Hollywood nur: Harris, Adam Duncan: Das Goldene Zeitalter des Filmvorspanns: Die Geschichte des »Pacific Title and Art Studios«. Übers. v. Gaby Gehlen. In: Das Buch zum Vorspann. »The title is a shot«. Hrsg. v. Alexander Böhnke, Rembert Hüser u. Georg Stanitzek. Berlin: Vorwerk 8 2006, S. 128–133. Das heißt, anders als im filmischen ist im Buchmedium der Unterschied »zwischen der Verpflichtung und der nicht unentgeltlichen Leistung einerseits und dem Geschenk andererseits« (Mauss, Marcel: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. Übers. v. Eva Moldenhauer. In: Soziologie und Anthropologie. Von M. M. Bd. 2: Gabentausch – Soziologie und Psychologie – Todesvorstellung – Körpertechniken – Begriff der Person. München: Hanser 1975, S. 9–144; hier S. 94) nicht trennscharf gegeben. Rechtlich abgestuft: »Ideenanreger«, »Gehilfen«, »Miturheber« usf. (Schulze, Gernot: Meine Rechte als Urheber. Urheber- und Verlagsrecht. 3., überarb. Aufl. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1998 (Beck-Rechtsberater. dtv. 5291), S. 62–66).
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Abb. 20: Langhans, Rainer/Teufel, Fritz: Klau mich. Frankfurt a. M./Berlin: edition Voltaire 1968 (Voltaire Handbücher. 2), Cover.
Abb. 21: Albus, Volker/Kriegeskorte, Michael: Kauf mich! – Prominente als Message und Markenartikel. Köln: DuMont 1999, Cover.
zurechenbar,96 die, durchaus in der Art mancher Widmungen, ihre Stärke in überschwänglich-überschüssiger arabesker Verausgabung beweist. Erst recht muss Brinkmanns fulminante Piloten-Erfindung in diesem Zusammenhang gelesen werden: Die Plastizität der biblionomen Peritextualität von Titel, Impressum und Typographie erweist sich hier nicht nur als spezifisch begrenzt. Vielmehr realisiert sich gerade das Unterfangen, eine Vielfalt von Referenzen ins Buch einzuführen, faktisch in fast 96
Kein Zufall wohl, dass gerade starke Autoren ihrem Lektor zu danken pflegen; siehe nur Jelinek, Elfriede: Die Kinder der Toten. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1995, S. 4; Kluge, Alexander: Chronik der Gefühle. Bd. 2: Lebensläufe. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000, S. 1016; Kluge, Alexander: Die Lücke, die der Teufel läßt. Im Umfeld des neuen Jahrhunderts. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 930. In beiden Fällen überschreitet die dem Lektor zugeschriebene Bedeutung immerhin diejenige des Verlags: Elfriede Jelinek folgt Delf Schmidt vom Rowohlt- zum Berlin-Verlag; mit dem Ausscheiden von Christoph Buchwald aus dem Suhrkamp-Verlag avanciert er in Kluges Danksagung vom Lektor zum Mitarbeiter.
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monoman betonter Einzelautorschaft. Sodass das filmische Dispositiv ganz forciert jenem literarischen unterworfen wird, das Heinrich Bosse auf die prägnante Formel: »Autorschaft ist Werkherrschaft« gebracht hat.97 Ob dies das letzte Wort bleiben muss, steht aber dahin. Einerseits liegt 1968 vierzig Jahre zurück. (Abb. 20 u. 21) Andererseits gibt es aktuell die These, dass im Rahmen einer globalisierten projektbasierten Ökonomie der Form des Filmabspanns Vorbildcharakter für Verfahren des Nachweises von – in alle möglichen Produkte eingegangenen – Arbeitsleistungen zukommen könne.98 Die technischen Möglichkeiten des Internets sähen für eine solche gerechtere Produktionswelt die Voraussetzungen vor. Thomas Stäcker hat darauf hingewiesen, dass in informations- und editionswissenschaftlichen Kontexten ›générique‹ als Terminus technicus bereits gut einbürgert sei, wenn es um den Nachweis von mitunter nur zu komplexen Provenienzen elektronischer Dokumente geht.99
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Bosse: Autorschaft ist Werkherrschaft. Vgl. Boltanski, Luc/Chiapello, Ève: Der neue Geist des Kapitalismus. A. d. Frz. übers. v. Michael Tillmann. Konstanz: UVK 2003, S. 425; sowie die instruktive Einzeluntersuchung zu Karrierewegen in Hollywoods Projektökonomie: Faulkner, Robert R.: Music on Demand. Composers and Careers in the Hollywood Film Industry. 2. Aufl. New Brunswick, N. J./London: Transaction Books 1987. Mündlich im Rahmen der von Monika Estermann u. Ursula Rautenberg durchgeführten Konferenz »Buchwissenschaftliche Forschung – Bestandsaufnahme und Perspektiven« (Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel, 9.–11. Oktober 2006).
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5 Literaturverzeichnis Adorno, Theodor W.: Titel. In: T. W. A.: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. Rolf Tiedemann. 3. Aufl. Bd. 11: Noten zur Literatur. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990, S. 325–334. Ammon, Frieder von/Vögel, Herfried (Hrsg.): Die Pluralisierung des Paratextes in der Frühen Neizeit. Theorie, Formen, Funktionen. Berlin: LIT-Verlag 2008. Angele, Michael u. a.: Paratext. In: Das BuchMarktBuch. Der Literaturbetrieb in Grundbegriffen. Hrsg. v. Erhard Schütz u. a. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2005 (Rororo. Rowohlts Enzyklopädie. 55672), S. 289–292. Antonsen, Jan Erik: Textinseln. Studien zum Motto in der deutschen Literatur vom 17. bis 20. Jahrhundert. Würzburg: Königshausen & Neumann 1998 (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft. 258). Barton, Walter: Der Zweck zeitigt die Titel. Kleine Kulturkunde des deutschen Buchtitels. Siegen: Universität 1984 (MuK. Massenmedien und Kommunikation. 26). Bekes, Peter: Poetologie des Titels. Rezeptionstheoretische Überlegungen zu einigen Dramentiteln in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Poetica 11 (1979), S. 394–426. Binczek, Natalie/Pethes, Nicolas: Mediengeschichte der Literatur. In: Handbuch der Mediengeschichte. Hrsg. v. Helmut Schanze. Stuttgart: Kröner 2001 (Kröners Taschenausgabe. 360), S. 282–315. Bosse, Heinrich: Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit. Paderborn u. a.: Schöningh 1981 (UTB. 1147). Brand, Joachim: Der Text zum Bild. Untersuchungen zu den Erscheinungsformen und paratextuellen Funktionen von sprachlichen Bestandteilen zu deutschen graphischen Folgen und Zyklen des Neunzehnten Jahrhunderts. Marburg 1993. [Diss. masch.] Breuer, Ulrich: Schnittstelle Text. Lesarten des Textbegriffs. In: Berührungsbeziehungen zwischen Linguistik und Literaturwissenschaft. Hrsg. v. Michael Hoffmann u. Christine Kessler. Frankfurt a. M. u. a.: Lang 2003 (Sprache – System und Tätigkeit. 47), S. 23–39. Breyl, Jutta: Pictura loquens – poesis tacet. Studien zu Titelbildern und Rahmenkompositionen der erzählenden Literatur des 17. Jahrhunderts von Sidneys »Arcadia« bis Ziglers »Banise«. Hrsg. v. Hans Geulen, Wolfgang Harms u. Nikola von Merveldt. Wiesbaden: Harrassowitz 2006 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung. 44). Bunia, Remigius: Die Stimme der Typographie. Überlegungen zu den Begriffen »Erzähler« und »Paratext«, angestoßen durch die Lebens-Ansichten des Katers Murr von E. T. A. Hoffmann. In: Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft 37 (2005), H. 3–4, S. 373–392. Bunia, Remigius: Bewegliches Fragment. Den zweiten Teil von Musils »Der Mann ohne Eigenschaften« lesen. In: Textbewegungen 1800/1900. Hrsg. v. Matthias Buschmeier u. Till Dembeck. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007 (SfR. Stiftung für Romantikforschung. 35), S. 90–110. Bunia, Remigius: Faltungen. Fiktion, Erzählen, Medien. Berlin: Erich Schmidt 2007 (Philologische Studien und Quellen. 202). Cahn, Michael: Der Druck des Wissens. Geschichte und Medium der wissenschaftlichen Publikation. Wiesbaden: Reichert 1991 (Staatsbibliothek preußischer Kulturbesitz Berlin: Ausstellungskataloge. 41). Cayuela, Anne: Le paratexte au siècle d’or. Prose romanesque, livres et lecteurs en Espagne au XVIIe siècle. Genève: Librairie Droz 1996.
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II Forschungsberichte
OLIVER DUNTZE
Verlagsbuchhandel und verbreitender Buchhandel von der Erfindung des Buchdrucks bis 1700 1 2 2.1 2.2 2.3 3 3.1 3.2 4 4.1 4.2 5 5.1 5.2 6 7 7.1 7.2 7.3
Einleitung Der Buchhandel der frühen Inkunabelzeit Hinweise auf den Handel der Gutenberg-Bibel Schöffers ›Verlegereinbände‹ als Zeugnisse für den Buchhandel der Fust-Schöffer’schen Offizin Die Buchhandelsplakate der Inkunabelzeit als Werbeform des Wanderbuchhandels Die Ausdifferenzierung des Buchgewerbes im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert Druckerverleger und Buchführer in der späten Inkunabelzeit Die Spezialisierung von Buchhandel und Verlagswesen in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts Verlag und Großbuchhandel in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts Der Frankfurter Verlagsbuchhandel Georg Willer und die Messkataloge Der Buchhandel der Barockzeit Buchhändlerische Vertriebsformen im 17. Jahrhundert Bücherkataloge des 17. Jahrhunderts als buchhandelsgeschichtliche Quellen Buchhandelsgeschichtliche Forschung zwischen Fortschritt und Desiderat Literaturverzeichnis Gedruckte, edierte und reproduzierte Quellen (Auswahl) Bibliographien Sekundärliteratur
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Oliver Duntze
1 Einleitung In ihrer Svensson-Lecture des Jahres 1994 konstatiert Lotte Hellinga zum Stand der buchgeschichtlichen Forschung: »[…] all the effort that over the centuries has been put into building the bibliographical record has led to a concentration on the history of book production, at the expense of sufficiently valuing the intellectual force of the booktrade […]«1. Noch deutlicher wird Mark Lehmstedt, der 1996 festhält: »Von allen Hauptzweigen der Buchgeschichtsschreibung ist – zumindest in Deutschland – wohl keiner so marginal entwickelt wie die Erforschung der Geschichte des Buchhandels«2. Das in diesen Zitaten ausgesprochene Diktum zum Stand der Buchhandelsgeschichte kann in seiner Schärfe allerdings nur dann aufrecht gehalten werden, wenn streng zwischen herstellendem und verbreitendem Buchhandel – zwischen Verlag und Sortiment – getrennt wird. Werden, wie in der deutschsprachigen Tradition üblich, Verlag und Sortiment lediglich als zwei Sparten des Buchhandels interpretiert, so steht es um die Aufarbeitung der frühneuzeitlichen Buchhandelsgeschichte vergleichsweise gut, wenngleich sich die Forschung bislang immer noch – darin ist Hellinga und Lehmstedt zuzustimmen – stärker auf den produzierenden (Verlags-)Buchhandel konzentriert. Die hier angesprochene Fokussierung auf die Verlagsgeschichte liegt nicht zuletzt in der Quellenlage begründet. Eine der wichtigsten Quellen für die Geschichte eines Verlags sind die von ihm produzierten Bücher selbst, und diese sind in der Regel bibliographisch gut erschlossen. Für die Frühe Neuzeit, um die es im Folgenden gehen wird, verfügen wir inzwischen über sehr umfassende bibliographische Hilfsmittel, und gerade in den letzten zehn Jahren haben sich die Möglichkeiten der bibliographischen Arbeit durch die zunehmende digitale Bereitstellung zentraler Datenbestände drastisch verbessert. Zu verweisen ist hier für das 15. Jahrhundert auf den Gesamtkatalog der Wiegendrucke (GW) und den Incunabula Short-Title-Catalogue (ISTC), für das 16. Jahrhundert auf das Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts (VD16) und für das 17. Jahrhundert auf das Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des 17. Jahrhunderts (VD17) sowie auf die Hand Press Book Database (HPB), die sich zum Ziel gesetzt hat, alle Drucke der »Handpres1 2
Hellinga: Schoeffer and his organization, S. 69. Lehmstedt: Herausbildung des Kommissionshandels, S. 451.
Verlagsbuchhandel und verbreitender Buchhandel
205
senzeit«, d. h. bis etwa 1830, zu verzeichnen. Die genannten Verzeichnisse sind inzwischen alle online verfügbar, und mit Ausnahme der HPB auch kostenfrei zugänglich. Mit diesen Hilfsmitteln kann die Produktion einer frühneuzeitlichen Offizin sehr schnell überblicksartig zusammengestellt und damit die Ausgangsbasis für weitergehende verlagsgeschichtliche Untersuchungen geschaffen werden. Für die Geschichte des verbreitenden Buchhandels ist die Situation anders gelagert. Hier ist die Forschung überwiegend mit handschriftlichem Quellenmaterial konfrontiert, das zudem eine große inhaltliche und formale Bandbreite aufweist. So sind für die Buchhandelsgeschichte unter anderem handschriftlich geführte Rechnungsbücher und Geschäftsaufzeichnungen als Quellen heranzuziehen, weiterhin aktenkundig gewordene Verträge und Vertragsentwürfe, Gerichtsakten bei geschäftlichen Streitfällen und Inventare einzelner buchhändlerischer Betriebe, die beispielsweise im Zusammenhang mit Erbschaftsfällen oder Konkursverfahren aufgezeichnet wurden. Dagegen sind gedruckte Quellen für die Geschichte des vertreibenden Buchhandels vergleichsweise selten. Zu nennen sind hier vor allem die vielfältigen Formen gedruckter Bücherlisten und -kataloge. Erst vergleichsweise spät, im 17. Jahrhundert, setzt auch eine theoretische Reflexion über den Buchhandel ein, die ihren Niederschlag in gedruckten buchhändlerischen Traktaten und Fachliteratur findet.3 Üblicherweise handelt es sich bei den hier angesprochenen handschriftlichen Quellen um typisches Archivmaterial, das nur durch eine systematische Auswertung der entsprechenden Bestände aufzufinden ist. Anders als Bibliographien und Bibliothekskataloge werden jedoch die dazu notwendigen Hilfsmittel – beispielsweise Findbücher oder Regesten – nur in seltenen Fällen gedruckt oder gar in digitalisierter Form zugänglich gemacht, so dass die Erforschung des verbreitenden Buchhandels einen erheblichen forschungspraktischen Mehraufwand bedeutet. Dass allerdings gerade die systematische Auswertung von Archivbeständen zu wichtigen Ergebnissen für die Buchhandelshistoriographie führen kann, hat in den letzten Jahren Hans-Jörg Künast mit seinen Arbeiten zum Augsburger Buchhandel gezeigt.4 Für das Nürnberger Buchwesen ist neuerdings mit einem umfangreichen Regestenwerk eine wichtige Grundlage 3
4
Als frühe Beispiele sind hier zu nennen: Fritsch: Tractatus De Typographis, Bibliopolis, Chartariis, Et Bibliopegis (1675 in Latein, 1750 in deutscher Übersetzung erschienen), sowie Beier: Kurtzer Bericht von Der Nützlichen und Fürtrefflichen Buch-Handlung (erschienen 1690). Vgl. insbesondere Künast: »Getruckt zu Augspurg«.
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gelegt, 5 und für die buchhandelsgeschichtlich überaus wichtigen, leider zum großen Teil während des Zweiten Weltkriegs zerstörten, Akten des Frankfurter Stadtarchivs liegt neuerdings zumindest eine summarische Übersicht vor. 6 Darüber hinaus bleibt jedoch jede ernsthafte Beschäftigung mit der Geschichte des Buchhandels in jedem Fall auch auf eine Recherche in den zahlreichen gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Archiv für Geschichte des deutschen Buchhandels publizierten Archivfunden angewiesen, auch wenn diese insgesamt eine starke Fokussierung auf die aus den Leipziger Archivbeständen stammenden Quellen aufweisen.7 Vor dem Hintergrund einer durch geographische Zerstreuung, schlechte Erschießung und formale Heterogenität problematischen Quellenlage liegt der Griff zu zusammenfassenden Darstellungen der Buchhandelsgeschichte nahe, zumal wir mit Reinhard Wittmanns 1991 erschienener Geschichte des deutschen Buchhandels und Hans Widmanns aus den 1970er Jahren stammenden Geschichte des Buchhandels vom Altertum bis zur Gegenwart über handliche Zusammenfassungen der Buchhandelsgeschichte verfügen. 8 Darin liegt allerdings die Gefahr, dass die in einführenden Werken notwendigerweise vereinfachte Darstellung unhinterfragt übernommen wird und dabei die Quellen, die uns über die Buchhandelsgeschichte informieren, immer weiter aus dem Blickfeld rücken. Gerade die neueren Buchhandelsgeschichten halten sich zumindest für die Zeit vom 15. bis zum 17. Jahrhundert mit Quellenverweisen sehr zurück.9 Aufgrund ihrer quellennahen Arbeitsweise ist daher die vierbändige von Friedrich Kapp und Johann Goldfriedrich verfasste Geschichte des deutschen Buchhandels (1886–1913) immer noch unersetzt.10 Um so mehr ist zu begrüßen, dass sie 5 6 7
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Diefenbacher/Fischer-Pache: Das Nürnberger Buchgewerbe. Reichel: Urkundliche Überlieferung. Bereits älteren Datums sind die sogenannten Stehlin-Regesten, in denen die archivalische Überlieferung der Basler Archive mustergültig aufgearbeitet ist und die als Quellengrundlage für Pierre L. van der Haegens im Jahr 2000 erschienene Druck- und Verlagsgeschichte Basels dienen (Stehlin: Regesten zur Geschichte des Buchdrucks; Van der Haegen: Der frühe Basler Buchdruck); für die Straßburger Druck- und Verlagsgeschichte hat François Ritter bereits in den 1950er Jahren die einschlägigen Straßburger Archivbestände gesichtet (vgl. Ritter: Histoire de l’imprimerie alsacienne, ergänzend auch Chrisman: Lay culture). In den genannten Fällen steht jedoch jeweils die Geschichte des Buchdrucks und des Verlagswesens im Vordergrund, während der verbreitende Buchhandel kaum Beachtung findet. Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels; Widmann: Geschichte des Buchhandels. Als Ergänzung zu den genannten Darstellungen ist auch Ursula Rautenbergs 1999 erschienener Aufsatz zu den buchhändlerischen Organisationsformen der Inkunabel- und Frühdruckzeit heranzuziehen, in dem der Forschungsstand für das 15. und 16. Jahrhundert aufgearbeitet ist. Vgl. Rautenberg: Buchhändlerische Organisationsformen. Geschichte des deutschen Buchhandels. Bd. 1 u. 2.
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seit dem Jahr 2000 gemeinsam mit einigen weiteren älteren Standardwerken zur Buchhandelsgeschichte in einer digitalisierten Fassung vorliegt.11 Alles in allem bleibt für den deutschen Sprachraum eine Buchhandelsgeschichte, die für die Frühe Neuzeit sowohl den aktuellen Forschungsstand aufarbeitet, als auch die Quellen, auf denen unsere Kenntnis der buchhändlerischen Gepflogenheiten des 15. bis 17. Jahrhunderts beruht, darstellt, eines der größten Desiderate buchgeschichtlicher Forschung. Dieses Desiderat wird der folgende Literaturbericht sicher nicht beheben können, doch soll versucht werden, nicht nur die wichtigsten Forschungsergebnisse der letzten zwei Jahrzehnte darzustellen, sondern auch auf die ihnen zugrunde liegenden Quellenbestände einzugehen.
2 Der Buchhandel der frühen Inkunabelzeit 2.1 Hinweise auf den Vertrieb der Gutenberg-Bibel
Es ist inzwischen ein buchgeschichtlicher Allgemeinplatz, dass Johannes Gutenbergs Erfindung, der Buchdruck mit beweglichen Lettern, die ökonomischen Rahmenbedingungen des Buchhandels von Grund auf veränderte. Zwar ist bereits in der Handschriftenzeit eine professionalisierte Buchproduktion, deren Produkte für den Verkauf bestimmt waren, nachweisbar,12 doch richtete sich diese im Wesentlichen an einen eng umgrenzten und den Buchproduzenten häufig auch persönlich bekannten Kreis von Käufern. Dagegen wurde es mit der Auflagenproduktion des Buchdrucks schlagartig notwendig, neue Verkaufsstrategien zu entwickeln. Denn selbst Kleinauflagen von 150 bis 200 Exemplaren, wie sie für die frühesten Druckerzeugnisse wahrscheinlich sind, konnten nicht mehr mit einem klar definierten, dem Drucker möglicherweise bekannten Publikum rechnen. Sie mussten in jedem Fall auch auf einen anonymen Absatzmarkt ausgerichtet sein, dessen Käuferschaft nur durch neue Werbe- und Absatzstrategien erreichet werden konnte. So interessant die neueren, anlässlich seiner Wahl zum ›man of the millenium‹ erschienen Beiträge zu Gutenberg und seiner Erfindung sein 11 12
Lehmstedt: Geschichte des deutschen Buchwesens. In diesem Zusammenhang ist unter anderem auf der universitäre Pecienbuchhandel in Paris und auf die Schreiberwerkstatt des Diebold Lauber in Hagenau hinzuweisen. Vgl. dazu Rouse/Rouse: Manuscripts and their makers; Saurma-Jeltsch: Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung.
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mögen – für die mit seiner Offizin zusammenhängenden buchhändlerischen Fragen sind wir immer noch weitgehend auf Hypothesen und Spekulationen angewiesen. Einige Hinweise auf den Vertrieb seiner Druckerzeugnisse gibt uns der zuletzt in den 1980er Jahren durch Erich Meuthen publizierte Brief Aenea Silvio Piccolominis an den Kardinal Juan de Carvajal vom März 1455. In ihm beschreibt Piccolomini, dass auf dem Frankfurter Reichstag 1454 Teile einer Bibel gezeigt wurden, von der den Gewährsleuten Piccolominis zufolge 158 oder 180 Stück produziert worden sein sollen.13 Die Forschung ist sich darüber einig, dass dieses Zeugnis mit Sicherheit auf die von Gutenberg hergestellte 42-zeilige Bibel (B42) zu beziehen ist, und Ursula Rautenberg schließt aus ihm auf einen »nicht ungeschickten Versuch einer Direktvermarktung – möglicherweise im Subskriptionsverfahren«. 14 Vermutlich wurden dem zahlungskräftigen Publikum auf dem Reichstag einzelne Lagen des ersten Bibeldrucks als Werbung präsentiert, um so Käufer zu gewinnen. Offenbar war diese Strategie erfolgreich, denn Piccolomini geht in seinem Brief davon aus, dass inzwischen, im Frühjahr 1455, alle Exemplare verkauft worden seien. Ob die innovative Vertriebsform der B42 durch Gutenberg selbst eingeführt wurde, oder durch seinen Finanzier Johannes Fust, geht aus Piccolominis Brief nicht hervor. Der Kunsthistoriker Eberhard König vermutet in seinem anregenden Plädoyer für eine Neubewertung der Rolle Fusts: »Als Notar wird Fust für eine solche Aufgabe geeigneter gewesen sein als der Erfinder.« 15 Weiterhin gibt König in seiner Untersuchung wertvolle Hinweise zur Ausstattung der B42. Einige Indizien deuten darauf hin, dass »Fust zumindest einen Teil der mit seinem Geld gedruckten Auflagen« von einem in Mainz ansässigen Illuminator ausmalen ließ, gewissermaßen als »Verleger-Buchmalerei«.16 Ein auffälliges Stilelement dieses Illuminators, dessen Arbeit sich außer in zwei Exemplaren der B42 später auch in einigen Drucken der Offizin von Fust und Peter Schöffer nachweisen lässt, sind die in das Rankenwerk eingefügten Aststücke (lat. ›fustis‹), mit denen vermutlich auf den Namen Fust angespielt wurde. Möglicherweise – so Königs Schlussfolgerung – initiierte Fust in einigen Fällen die Ausmalung der B42 vor Ort, um den Kunden nicht nur die gedruckten Rohbögen, sondern einen fertig ausgestatteten Buchblock 13 14 15 16
Vgl. Meuthen: Ein neues frühes Quellenzeugnis. Vgl. Rautenberg: Buchhändlerische Organisationsformen, S. 348. König: Für Johannes Fust, S. 290. König, S. 297–298.
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anbieten zu können.17 Die Ausstattung mit einem standardisierten Dekor wäre somit als optionale Service-Dienstleistung der Gutenberg-Fust’schen Offizin anzusehen. Doch trotz der neueren Erkenntnisse bleiben viele Fragen zum Handel mit den Produkten der Gutenberg’schen Offizin ungeklärt. Auf welche Weise, für welchen Preis und an welche Kunden die B42 schließlich verkauft wurde, ist nicht bekannt. Allenfalls kann man aus den frühen Besitzeinträgen sowie möglicherweise aus Rubrikation und Illumination der erhaltenen Exemplare auf den Absatzmarkt der B42 schließen. Beides deutet darauf hin, dass Gutenberg mit seinem Großprojekt einer gedruckten Bibel eher einen lokalen und regionalen Absatzmarkt bediente.18 2.2 Schöffers ›Verlegereinbände‹ als Zeugnisse für den Buchhandel der Fust-Schöffer’schen Offizin
Deutlich besser als über den Vertrieb der Gutenberg’schen Druckerzeugnisse sind wir über den Buchhandel seines ehemaligen Gesellen Schöffer informiert. Dieser arbeitete nach dem Druck der B42 mit Gutenbergs ehemaligen Finanzier Fust zusammen, heiratete später dessen Tochter und führte nach Fusts Tod im Jahr 1466 die Offizin alleine weiter. Unter den neueren Arbeiten zu Schöffer ist hier vor allem auf mehrere einander ergänzenden Untersuchungen Königs und Hellingas zu Buchproduktion und Buchhandel Schöffers hinzuweisen. 19 Neben diesen spezialisierten Untersuchungen finden sich neuere Zusammenfassungen des Forschungsstandes in der Einleitung der 2002 in deutscher Übersetzung herausgegebenen Schöffer-Monographie Hellmut Lehmann-Haupts 20 sowie in einem Ausstellungskatalog des Gutenberg-Museums in Mainz aus dem Jahr 200321; beide Publikationen erschienen anlässlich des fünfhundertsten Todesjahres Schöffers († 1502). Die Forschung zu Schöffers Buchhandel, wie sie Hellinga in den 1990er Jahren zusammenfassend dargestellt hat,22 kann geradezu als methodisches 17 18 19 20 21 22
Vgl. König, S. 312. Vgl. Rautenberg: Organisationsformen, S. 348. Hellinga: Schoeffer and the booktrade in Mainz; Hellinga: Schoeffer and his organization; König: Für Johannes Fust; König: Schöffers Hieronymusbriefe von 1470. Lehmann-Haupt: Peter Schöffer. Die englische Originalausgabe erschien 1950. Schneider: Peter Schöffer. Für eine Zusammenfassung des Forschungsstands vgl. v. a. Hellinga: Schoeffer and his organization.
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Lehrstück einer interdisziplinär ausgerichteten Buchgeschichte gelten. Denn obwohl nur wenige direkte Zeugnisse für Schöffers Buchhandel existieren, kann durch die Synthese druckgeschichtlicher, kunsthistorischer, einbandkundlicher und provenienzkundlicher Forschungen vergleichsweise gut rekonstruiert werden, in welcher Weise er sich als Buchhändler betätigte. Eine wichtige Rolle spielen hierbei die erstmals von Hermann Knaus zusammengestellten ›Verlegereinbände‹ Schöffers. 23 Diese Gruppe von Einbänden wurde durch verschiedene Mainzer Werkstätten hergestellt, die entweder eng mit Schöffer kooperierten oder möglicherweise sogar direkt an seine Offizin angegliedert waren. Ein wichtiges Indiz, das auf die Kooperation dieser Werkstätten mit Schöffer schließen lässt, ist die in den Einbänden verwendete Makulatur, die in vielen Fällen aus seiner Druckwerkstatt stammt. Schöffer vertrieb offenbar nur einen Teil seiner Drucke in der Form, die für die Frühe Neuzeit als typisch angesehen wird, nämlich als rohe, ungebundene Druckbögen, während er einen anderen Teil als gebrauchsfertige, gebundene Bücher auf den Markt brachte. Wie bereits Knaus und im Anschluss an ihn Vera Sack24 und Hellinga nachweisen konnten, finden sich diese Einbände allerdings nicht allein bei Schöffers eigenen Drucken, sondern vor allem auch bei Büchern aus anderen Druckorten in Deutschland, Frankreich und Italien. Schöffer importierte also offenbar im großen Stil die Drucke anderer Offizinen, ließ sie in Mainz einbinden und verkaufte sie dann weiter. Korrekterweise müsste man also eher von ›Buchhändlereinbänden‹ als von ›Verlegereinbänden‹ sprechen. Der Befund zu den Einbänden der Schöffer-Drucke deckt sich auch mit den Untersuchungen zu Rubrizierung, Dekoration und Illustration der Schöffer’schen Produktion. König kommt in seiner Untersuchung zu Schöffers Drucken der Hieronymusbriefe von 1470 zu dem Schluss, dass zumindest ein Teil der Auflage in Mainz, im direkten Umfeld der Offizin Schöffer, mit Lombarden, Initialen und Randleisten ausgestattet wurde.25 König vermutet, dass Schöffer seinen Kunden sogar unterschiedliche Fertigungsstufen anbot: als ›rohe‹ Druckbogen ohne jede Rubrizierung, einfach rubriziert, gegebenenfalls zusätzlich noch mit Lombarden, Initialen, Kolumnentiteln und Randleisten ausgestattet, oder voll gebrauchsfertig illuminiert. Königs Forschungen zur Ausstattung der Hieronymus23 24 25
Knaus: Verlegereinbände. Sack: Verlegereinbände und Buchhandel. Vgl. König: Schöffers Hieronymusbriefe von 1470, S. 141–146.
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Briefe sind auch in Hellingas Gesamtdarstellung des Schöffer’schen Betriebs eingeflossen und konnten dort anhand weiterer Drucke der Schöffer’schen Offizin bestätigt werden. Auch sie gelangten in verschiedenen Ausstattungsstufen und zum Teil bereits fertig gebunden in den Handel, so dass die Käufer je nach finanziellen Mitteln und Vorlieben bei der Buchgestaltung aus dem Angebot auswählen konnten. Insgesamt stellt sich Schöffer damit nach den neueren Forschungen nicht allein als Betreiber einer der leistungsfähigsten Druckwerkstätten der Inkunabelzeit dar. Vielmehr war er Organisator eines buchgewerblichen Großbetriebs, der durch Eigenverlag und Zukauf fremder Drucke ein speziell auf wissenschaftliche und theologische Bedürfnisse ausgerichtetes Sortiment aufbaute und dieses, zum Teil durch Einband und Rubrikation vervollständigt, international vertrieb. Wenngleich das Beispiel Schöffers keinesfalls unkritisch auf den gesamten Buchhandel der Inkunabelzeit übertragen werden kann, so ist es doch beispielhaft für die Frühphase des Buchdrucks. Insbesondere zeigt es, dass die einzelnen Funktionen im Buchgewerbe deutlich weniger klar ausdifferenziert waren, als wir es aus der Gegenwart kennen. Der Betreiber einer frühneuzeitlichen Offizin war in der Regel nicht allein Drucker, sondern zugleich auch als Verleger für die Finanzierung seiner Produkte verantwortlich. Daneben baute er durch Tausch oder Ankauf ein über seine eigenen Verlagsprodukte hinausgehendes Sortiment auf und kümmerte sich um den Vertrieb der Waren als Groß- und Detailhändler. 2.3 Die Buchhandelsplakate der Inkunabelzeit als Werbeform des Wanderbuchhandels
Ein wichtiger und gut erschlossener Quellenbestand für den Buchhandel der Inkunabelzeit sind die gedruckten Buchplakate des 15. Jahrhunderts. Es handelt sich um ein Corpus von knapp 50 Einblattdrucken, 26 die überwiegend aus den 1470er und frühen 1480er Jahren stammen und offenbar vor allem im deutschsprachigen Raum als Vertriebsmittel für gedruckte Bücher eingesetzt wurden. Da die Buchplakate schon länger bekannt und in Reproduktionen leicht zugänglich sind, 27 werden sie in 26 27
Eine Übersicht über die Buchplakate der Inkunabelzeit bieten Pollard/Ehrmann: Distribution, S. 32–39; für Ergänzungen vgl. Vorderstemann: Augsburger Buchanzeigen, S. 56, Anm. 8. Vgl. Burger: Buchhändleranzeigen des 15. Jahrhunderts; Vouillième: Nachträge zu den Buchhändleranzeigen des 15. Jahrhunderts; Velke: Bücheranzeigen Peter Schöffers.
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regelmäßigen Abständen zum Gegenstand verlags- und buchhandelsgeschichtlicher Untersuchungen. Eines der bekanntesten Beispiele ist eine Bücheranzeige Schöffers aus den 1470er Jahren, auf der handschriftlich der Verkaufsort der annoncierten Bücher, die Herberge zum Wilden Mann in Nürnberg, eingetragen ist. Auf dem Plakat werden überwiegend Schöffers eigene Verlagsprodukte angepriesen, doch finden sich auch zwei Ausgaben aus der Offizin Ulrich Zells in Köln. Diese Beobachtung stützt ein weiteres Mal die anhand der ›Verlegereinbände‹ aufgestellte These, Schöffer habe nicht nur eigene Verlagswerke, sondern auch Drucke anderer Offizinen vertrieben. Verkaufslisten wie jene Schöffers werden als wichtiges Zeugnis für den bis in die 1480er Jahre stark verbreiteten Wanderbuchhandel interpretiert, bei dem die durch einen Druckherren angestellten Buchführer mit vergleichsweise kleinen und mobilen Sortimenten über Land zogen und so die Produkte der Offizin (bzw. gegebenenfalls auch weiterer im Sortiment vorhandener Druckereien) überregional verbreiteten. Einen anderen Typus als die bekannte Bücherliste der Schöffer’schen Offizin vertreten die von Hans-Michael Winteroll in seiner 1987 erschienenen Dissertation analysierten Buchanzeigen.28 Winterolls Untersuchung konzentriert sich auf jenes Corpus von Buchplakaten, die nicht in Listenform mehrere Titel verzeichnen, sondern mit einem ausführlicheren Text jeweils nur eine einzelne Ausgabe bewerben. Durch die detaillierte Analyse dieses Corpus von Anzeigen kann Winteroll zeigen, dass derartige Einzelanzeigen keineswegs ein übliches und weit verbreitetes Mittel der Werbung waren, sondern jeweils nur bei besonderen Neuerungen eingesetzt wurden, beispielsweise bei Erstdrucken, redaktionell bearbeiteten Neuausgaben oder Drucken mit besonders aufwendiger typographischer Gestaltung. Weiterhin kann Winteroll in seiner Analyse zeigen, dass sich die frühesten Buchanzeigen in ihrer Argumentationsstruktur an den werbenden Kolophonen orientieren, die sich im Inkunabeldruck des Öfteren nachweisen lassen. Er leitet daraus die These ab, die als Einblattdrucke erschienenen Werbeanzeigen seien aus einer zuvor im gedruckten Buch selbst enthaltenen Form der Textaufbereitung und -anpreisung entwickelt und materiell vom Buch losgelöst worden. In den 1480er Jahren seien sie dann in Form werbender Drucker-, Verleger- oder Herausgebervorreden in das Buch ›reintegriert‹ worden. Damit bietet Winteroll ein schlüssiges
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Winteroll: Summae Innumerae.
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Erklärungsmodell für die Tatsache, dass ab den späten 1480er Jahren nur noch vereinzelt Bücherplakate gedruckt wurden. Neben Winterolls monographischer Untersuchung zu den lateinischen Buchplakaten ist unter den jüngeren Arbeiten zu den Buchhandelsplakaten der Inkunabelzeit noch auf zwei kleinere Aufsätze hinzuweisen: In einem 1997 publizierten Aufsatz setzt sich Jürgen Vorderstemann intensiv mit den Augsburger Buchplakaten auseinander, die mit neun Stück fast ein Fünftel der bisher bekannt gewordenen Buchanzeigen ausmachen.29 Anhand dieses Corpus kann Vorderstemann exemplarisch die verschiedenen Typen und Funktionen der Buchplakate, die jeweils auf verschiedene Formen des Buchhandels schließen lassen, herausarbeiten: Beispielsweise kann Günther Zainers früheste Anzeige aus dem Jahr 1471, in der er explizit auf sein Verkaufslokal in Augsburg verweist, als Indiz für einen überwiegend lokal ausgerichteten Handel angesehen werden, denn im Kontext eines überregionalen Handels wäre der Verweis auf die Augsburger Verkaufsstelle wenig sinnvoll gewesen. Dagegen weist Zainer in seiner Anzeige von 1476 nur noch darauf hin, der Verkaufsort sei unten auf dem Blatt angegeben. Dort konnte handschriftlich ein beliebiges Verkaufslokal eingetragen werden, so dass Zainers Plakat – wie die bekannte Buchanzeige Schöffers – als Zeugnis des frühen Wanderbuchhandels interpretiert werden kann. Auch die enge Kooperation der frühen Druckerverleger kann Vorderstemann am Beispiel der Augsburger Drucker belegen. So bewarb Anton Sorg in seinen beiden »um 1483/84« und »nicht vor 1486« zu datierenden Anzeigen nicht nur eigene Drucke, sondern auch Produkte anderer Augsburger Offizinen, und in Johann Bämlers zweiter bekannter Anzeige (»nicht vor 1487« zu datieren) ist neben verschiedenen Augsburger Offizinen auch die nach heutigem Forschungsstand vermutlich in Straßburg tätige Offizin des »Druckers des Antichrist« vertreten. Mit dem von Vorderstemann untersuchten Corpus überschneidet sich Sylvia Kohushölters 2000 publizierter Aufsatz zu den lateinisch-deutschen Bücheranzeigen.30 Es handelt sich dabei um ein Corpus von nur vier Einblattdrucken, von denen drei aus der Offizin Günther Zainers in Augsburg stammen und daher auch bei Vorderstemann untersucht sind. Die vierte Anzeige stammt aus der Offizin des in Ulm tätigen Johannes Zainer, dem Bruder des Augsburger Druckers. In ihrem Aufsatz weist Kohushöl29 30
Vorderstemann: Augsburger Bücheranzeigen des 15. Jahrhunderts. Kohushölter: Lateinisch-deutsche Bücheranzeigen.
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ter detailliert die in den vier lateinisch-deutschen Anzeigen angebotenen Drucke nach und stellt dabei fest, dass unter den beworbenen deutschsprachigen Titeln überdurchschnittlich häufig Werke des seit 1450 als Arzt in Ulm tätigen Heinrich Steinhöwel, mit dem die Brüder Zainer intensiv zusammenarbeiteten, vertreten sind. Die lateinisch-deutschen Anzeigen legen die Vermutung nahe, dass die in den Anzeigen verzeichneten lateinischen Drucke, die dem Publikum in der Regel bereits bekannte Werke überlieferten, als Vehikel dienten, um auch die neuen und noch wenig bekannten volkssprachlichen Übersetzungen Steinhöwels zu bewerben.
3 Die Ausdifferenzierung des Buchgewerbes im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert 3.1 Druckerverleger und Buchführer in der späten Inkunabelzeit
Während Schöffers ›Verlegereinbände‹ und die überwiegend in die 1470er Jahre fallenden Buchplakate nur indirekt Rückschlüsse auf die Organisation des frühen Inkunabelbuchhandels zulassen, verbessert sich die Quellensituation ab 1480 deutlich. Für die beiden letzten Jahrzehnte der Inkunabelzeit und den Beginn des 16. Jahrhunderts verfügen wir über zwei umfangreichere Quellen, aus denen wir einen Großteil unseres Wissens über das frühe Buchgewerbe und insbesondere den frühen Buchhandel beziehen: Zum einen die in der Baseler Universitätsbibliothek verwahrte Korrespondenz des Baseler Druckerverlegers Johann Amerbach, die die geschäftlichen und privaten Briefe an Amerbach aus der Zeit von 1481 bis zu seinen Tod 1513 umfasst und damit einen facettenreichen Einblick in die Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Wende zum 16. Jahrhundert gibt. Zum anderen das in den 1950er Jahren in der Studienbibliothek Dillingen aufgefundene und nur fragmentarisch erhaltene Rechnungsbuch des Peter Drach in Speyer, das Geschäftsaufzeichnungen aus der Zeit von 1479/80 bis 1504 enthält. Es überliefert zahlreiche Listen von Büchern, die Drach an seine Geschäftspartner lieferte, Übersichten zu den Kosten der gelieferten Bücher, zu Transport und Unterkunft der angestellten Buchführer und Ähnliches mehr. Beide Quellen liegen bereits seit längerer Zeit ediert vor: die Amerbach-Korrespondenz seit 1942, das Drach’sche Rechnungsbuch seit 1964.31 31
Hartmann: Die Amerbachkorrespondenz, Bd. 1; Geldner: Rechnungsbuch des Peter Drach.
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Eine zusammenhängende Interpretation der Amerbach-Korrespondenz, die beispielsweise in detaillierter Form das private und geschäftliche Beziehungsgeflecht Amerbachs und die Organisation von Druck, Verlag und Vertrieb in seiner Offizin rekonstruieren müsste, steht allerdings immer noch aus. Zwar wurden Teile der Amerbach-Korrespondenz durch Oscar von Hase in seiner Monographie zur Nürnberger Offizin Koberger32 ausgewertet, und in der späteren Forschungsliteratur wurden immer wieder einzelne Briefe als Quellen herangezogen. 33 Doch auch bei der jüngsten Publikation zur Amerbach-Korrespondenz handelt es sich lediglich um eine kommentierte und nach inhaltlichen Gesichtspunkten geordnete Teilübersetzung der Briefe ins Englische, wobei sich der Kommentar im Wesentlichen auf die Anmerkungen in Hartmanns Edition von 1942 stützt.34 Deutlich besser ist es um die Erschließung des Drach’schen Rechnungsbuchs bestellt. Mit Hendrik Mäkelers 2005 entstandener wirtschaftshistorischer Magisterarbeit liegt inzwischen eine Monographie zu Drachs Unternehmen vor, in der das Rechnungsbuch intensiv ausgewertet wird. 35 Mäkeler ordnet die im Rechnungsbuch verstreut notierten Geschäftsvorgänge unter systematischen Gesichtspunkten und kann so das weit reichende buchhändlerische Beziehungsgeflecht der Offizin rekonstruieren. Durch die aus dem Rechnungsbuch in akribischer Kleinarbeit rekonstruierten Geschäftskontakte Drachs kann Mäkeler in seiner Untersuchung zeigen, dass Drach einerseits im Detailhandel Kleinkunden in Speyer und der näheren Umgebung bediente. Zu seinen prominentesten Kunden gehörte der in den 1480er und 1490er Jahren in Speyer ansässige Humanist Jakob Wimpheling, weiterhin lassen sich Kleriker in Speyer selbst und den Landdekanaten des Bistums als Kunden Drachs nachweisen, ebenso wie einige Angehörige der Universität im nahe gelegenen Heidelberg. Andererseits betätigte sich Drach als Großhändler und baute ein weit ausgreifendes überregionales Handelsnetz auf, über das er seine Waren vertrieb. Dazu beschäftigte er unselbstständige Buchführer, die den Transport für ihn übernahmen, und baute Kontakte zu Druckern, Buchhändlern und Verlegern in entfernteren Gegenden auf, die seine Waren auf 32 33 34 35
Vgl. Hase: Die Koberger. Hase wertet in seiner Untersuchung u. a. die in der AmerbachKorrespondenz erhaltenen Briefe Kobergers an Amerbach aus. Vgl. z. B. Geldner: Amerbach-Studien. The Correspondance of Johann Amerbach. Mäkeler: Rechnungsbuch.
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eigene Rechnung vertrieben. Zudem richtete er an zentralen Handelsorten Bücherlager ein, um den Handel effizienter organisieren zu können. Dabei hatte Drach nicht nur die Erzeugnisse seiner eigenen Offizin im Angebot, denn nach Mäkelers Berechnungen stammen lediglich etwa 18 % der im Rechnungsbuch erwähnten Titel aus Drachs Offizin. In der im Anhang zu Mäkelers Untersuchung detailliert ausgearbeiteten Titelliste, die auf Geldners Vorarbeiten aufbaut, lassen sich unter anderem Drucke Anton Kobergers, Amerbachs und Schöffers nachweisen. 36 Sie belegen deutlich, dass sich in der Inkunabelzeit ein enges persönliches und geschäftliches Beziehungsnetz unter den großen Druckerverlegern herausgebildet hatte. Gemeinsam ergeben Drachs Rechnungsbuch und Amerbachs Briefwechsel ein detailreiches und zugleich sehr komplexes Bild von Buchproduktion und Buchhandel in der Inkunabel- und Frühdruckzeit. Sehr deutlich zeigen beide Quellen, dass es gerade bei der Herstellung größerer Druckwerke unterschiedliche Finanzierungsmodelle gab. Der Normalfall war, dass der Betreiber einer Druckerei selbst die Finanzierung der Druckwerke übernahm und diese in der eigenen Offizin herstellen ließ, also in Personalunion als Verleger und Drucker tätig war. Daneben lässt sich aber auch die Vergabe von Druckaufträgen an ›externe‹ Offizinen ebenso nachweisen wie die gelegentliche Herstellung von Auftragsdrucken durch einen sonst selbstständig tätigen Druckerverleger. Bei größeren, organisatorisch und finanziell anspruchsvollen Werken war zudem die gemeinsame Finanzierung durch eine aus mehreren Partnern gebildete Verlagsgemeinschaft nicht unüblich. Im Falle Drachs lässt sich beispielsweise die Vergabe eines Druckauftrags an Heinrich Knoblochtzer in Heidelberg nachweisen, der 1495 für Drach eine Vergil-Ausgabe herstellte. 37 Bereits früher, Ende der 1480er Jahre, hatte Drach den Druck von Messbüchern für die Diözesen Prag und Olmütz gemeinsam mit seinem Leipziger Geschäftspartner Johannes Schmidhoffer finanziert. Schmidhoffer hatte zuvor als angestellter Buchführer für Drach gearbeitet und stieg nun in das lukrativere Verlagsgeschäft ein. Für die Herstellung der technisch anspruchsvollen Drucke wurde der Bamberger Drucker Johann Sensenschmidt engagiert, der beim Druck von Liturgica offenbar über ein größeres know-how verfügte als Drach.38 Zumindest in einem Fall wurde Drach aber auch selbst als Auf36 37 38
Vgl. Mäkeler, S. 55–59, sowie die dort als Anhang publizierte Identifizierungsliste der im Rechnungsbuch erwähnten Drucke (dort z. B. Nr. 19, 24, 43, 162, 381 u. ö.). Vgl. Mäkeler, S. 54. Vgl. Mäkeler, S. 51–53.
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tragsdrucker tätig: Auf der Fastenmesse 1496 gab der in Delft ansässige Druckerverleger Heinrich Eckart die Herstellung von 600 Missale Carthusiense in Auftrag, und spätestens Anfang 1497 hatte Drach den Druck beendet.39 Auch in Amerbachs Korrespondenz lassen sich verschiedene Finanzierungsmodelle für die Herstellung größerer Buchprojekte nachweisen. Er kooperierte für die Finanzierung und Herstellung von Druckwerken unter anderem mit verschiedenen Basler Offizinen, mit Koberger in Nürnberg und mit Adolf Rusch in Straßburg.40 Wie die Finanzierung zeichnete sich auch der Vertrieb der Druckwerke durch eine große Vielfalt aus. So ließ Drach sein Sortiment offenbar sowohl über angestellte Knechte vertreiben als auch über selbstständige Buchhändler, die Drachs Bücher entweder erwarben, zum Teil auf Kredit, oder in Kommission nahmen. Sehr deutlich lässt sich hier eine der wichtigsten Entwicklungen in den letzten beiden Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts ablesen: die Entwicklung eines gewerblich selbstständigen Buchhändlerstands, dem ›Buchführer‹. Zwar handelt es sich bei zahlreichen der in Drachs Aufzeichnungen erwähnten Buchführer lediglich um Angestellte, die in seinem Auftrag den Transport von Büchern und die Abrechnung mit seinen Geschäftskunden erledigten. Viele seiner Großabnehmer waren jedoch offenbar gerade nicht in einem Angestelltenverhältnis tätig, sondern erwarben Drachs Bücher, um sie auf eigene Rechnung weiter zu vertreiben. Der Vertrieb konnte mobil im Wanderbuchhandel organisiert sein oder auch stationär an festen Verkaufsplätzen, die regelmäßig mit Büchern beschickt wurden. Aus den Quellen zur Frankfurter Messe wissen wir weiterhin, dass Drach an wichtigen Handelsplätzen (Leipzig, Frankfurt, Straßburg und Köln) Bücherlager unterhielt,41 die zum Ausgangspunkt des überregionalen Buchhandels werden konnten. Auch für die bereits in der Inkunabelzeit wohl kaum zu unterschätzende Bedeutung der Warenmessen in Frankfurt finden wir sowohl in der 39 40
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Vgl. Mäkeler, S. 54. Die Notiz im Rechnungsbuch bezieht sich offenbar auf den Druck ISTC im00634000. Die Kooperation zwischen Amerbach und Koberger ist mehrfach bezeugt (vgl. Hase: Die Koberger, S. 190–202). Zur Zusammenarbeit mit Rusch vgl. z. B. Geldner: AmerbachStudien, Sp. 684–688. Geldner interpretiert hier einige Briefe Amerbachs, die darauf schließen lassen, dass sich Rusch für den von Koberger bei ihm in Auftrag gegebenen Druck einer glossierten lateinischen Bibel aus der Zeit vor 1480 (GW 4282) Drucktypen von Amerbach ausgeliehen hatte. Vgl. Zülch/Mori: Frankfurter Urkundenbuch, S. 43.
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Amerbach-Korrespondenz als auch in Drachs Rechnungsbuch zahlreiche Belege. Die größeren Druckerverleger und Buchhändler der Inkunabelzeit trafen sich bereits regelmäßig auf der Frankfurter Messe, um dort ihre Waren auszutauschen, offene Rechnungen zu begleichen, Geschäfte zu verabreden und vieles mehr. Für Drach war daneben auch die Leipziger Messe von zentraler Bedeutung: Sie war die Zwischenstation für Drachs Handel nach Böhmen und Mähren, der durch seinen Leipziger Geschäftspartner Schmidhoffer organisiert wurde. Neben den großen überregionalen Messen in Frankfurt und Leipzig spielten aber auch die kleineren regionalen Messen und Jahrmärkte eine wichtige Rolle für den Bücherverkauf. So wurden Drachs und Amerbachs Waren beispielsweise auch auf den Nördlinger und Straßburger Messen vertrieben und in Amerbachs Briefen wird mehrfach die Messe in Lyon als wichtiger Treffpunkt der Druckerverleger und als Umschlagsplatz für Bücherlieferungen erwähnt.42 Zusammen sind Drachs Rechnungsbuch und Amerbachs Korrespondenz für die buchhandelsgeschichtliche Forschung eine Fundgrube, deren Quellenwert sicherlich noch nicht vollständig ausgeschöpft ist. Die wichtigsten Tendenzen im Buchgewerbe der späten Inkunabelzeit lassen sich dennoch sehr deutlich aus beiden Quellen ablesen: die überregionale Vernetzung des Buchgewerbes, die Entwicklung eines ›reinen‹, nicht mehr an einen Druckbetrieb gekoppelten Verlagswesens und damit verbunden die Auftragsdruckerei, die Tendenz zu Kooperationen mehrerer Firmen bei größeren, kapitalintensiven Verlagsprojekten, die Entstehung eines gewerblich unabhängig von Druck und Verlag agierenden Buchhandels und die wachsende Bedeutung der Messen. In diesem Zusammenhang bleibt jedoch zu bedenken, dass beide Quellen aus dem Umfeld großer, kapitalstarker und überregional agierender Firmen stammen. Die aus dem Rechnungsbuch und der AmerbachKorrespondenz rekonstruierbaren Informationen können daher keinesfalls auf alle Offizinen der Inkunabelzeit übertragen werden. Gerade bei den zahlreichen im 15. Jahrhundert nachweisbaren Kleinstoffizinen dürften sich die Zustände deutlich unterschieden haben. Sie produzierten kein anspruchsvolles Sortiment, das im Fernhandel vertrieben wurde, sondern spezialisierten sich auf den Druck von kleineren ›volkstümlichen‹ Bro42
Zu Drachs Messebesuchen vgl. die Übersicht bei Mäkeler: Rechnungsbuch, S. 86–97. Die Messe in Lyon wird u. a. mehrfach in den Briefen Kobergers (der in Lyon eine Faktorei unterhielt) an Amerbach erwähnt, vgl. z. B. Hase: Die Koberger, S. 287.
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schüren, Einblattdrucken, kleinen grammatischen Lehrbüchern für den Schulgebrauch und Ähnlichem. Derartige Druckerzeugnisse wurden in der Regel wohl allein lokal oder allenfalls noch im näheren regionalen Umfeld vertrieben. Als ein frühes Beispiel aus den 1470er und 1480er Jahren wäre hier Hans Folz zu nennen, dessen Nürnberger Offizin Rautenberg 1999 eingehend untersucht hat.43 Folz, hauptberuflich Barbier, betrieb seine Offizin offenbar nur als Nebenerwerb und druckte fast ausschließlich seine eigenen literarischen Erzeugnisse wie Spruchgedichte und Fasnachtsspiele. Auf einen groß angelegten Handel mit derartigen Kleindrucken war Folz’ ›Selbstverlag‹ sicherlich nicht eingerichtet. Auch ist fraglich, ob über Nürnberg und seine nähere Umgebung hinaus überhaupt ein Absatzmarkt für die Erzeugnisse aus Folz’ Presse bestanden hätte. Zudem wäre wegen der hohen Transportkosten für die kleinen und billig produzierten Broschüren der Vertrieb im Fernhandel aus ökonomischer Sicht vermutlich wenig sinnvoll gewesen. Dass wir für den Handel der Folz’schen Offizin oder vergleichbarer Betriebe keine so aussagekräftigen Zeugnisse besitzen wie für den Großhandel, liegt auf der Hand. In einem Kleinbetrieb, der seine Waren ohne größeren finanziellen Aufwand herstellte und sie direkt vor Ort an die lokale Kundschaft vertrieb, war es nicht notwendig, die einzelnen Transaktionen in Rechnungsbüchern oder Ähnlichem festzuhalten. Dagegen hätte Drach ohne ein Mindestmaß an Buchführung kaum den Überblick über seine zahlreichen Bücherlieferung, ausstehende Schulden und abgeschlossene Verträge behalten können, ebenso wie es Amerbach ohne seine intensiv geführte Korrespondenz kaum möglich gewesen wäre, seine weit reichenden Handelsbeziehungen aufrecht zu erhalten. 3.2 Die Spezialisierung von Buchhandel und Verlagswesen in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts
Die in der Inkunabelzeit beginnende Entwicklung der Spezialisierung und Differenzierung verschiedener funktionaler Rollen im Buchgewerbe setzt sich im 16. Jahrhundert nahtlos fort. Allerdings kommt es auch weiterhin zu zahlreichen personellen und strukturellen Überschneidungen, so dass über das gesamte 16. Jahrhundert hinweg der buchgewerbliche ›Misch43
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betrieb‹, der mit unterschiedlichen Schwerpunkten Verlag, Druck und Buchhandel vereint, der Normalfall zu sein scheint. Ein sehr interessantes Beispiel, das die Entwicklungstendenzen des Buchhandels im frühen 16. Jahrhundert deutlich illustriert, ist der Buchhändler Johannes Rynmann von Öhringen. Künast und Brigitte Schürmann haben 1997 die wichtigsten Informationen zu seinem buchhändlerischen und verlegerischen Wirken zusammengestellt und dabei nicht nur die ältere Literatur, in der Rynmann schon länger als eine der zentralen Figuren des frühen Buchhandels bekannt ist, herangezogen, sondern auch die umfangreichen Quellenbestände des Augsburger Stadtarchivs ausgewertet.44 Künast und Schürmann zufolge besuchte Rynmann ab 1483/84 die Buchmessen in Frankfurt und Leipzig und betätigte sich offenbar zunächst von Öhringen aus als Wanderbuchhändler. Ab den 1490er Jahren baute er dann von Augsburg aus einen weit verzweigten Handel mit Büchern und anderen Waren auf und besuchte dazu weiterhin regelmäßig die Messen. In Leipzig, das für ihn – ähnlich wie für Drach – das Tor für den Osthandel war, richtete er schließlich einen zweiten Firmensitz ein, mit eigenem Bücherlager und ab 1509 mit einem ständigen Vertreter. Später, ab 1518, beteiligt er sich dort auch an der durch den Leipziger Ratsherren und Weinhändler Augustin Pantzschmann45 ins Leben gerufenen Buchhandelsgesellschaft. Weiterhin pflegte er Geschäftskontakte zu zahlreichen Druckern, Verlegern und Buchhändlern vor allem in den südlichen Reichsgebieten und konnte dadurch ein dichtes Vertriebsnetz für seine Waren aufbauen. Ab 1497, als er bereits mehr als zehn Jahre erfolgreich im Buchhandel tätig war, stieg Rynmann auch in das Verlagsgeschäft ein, und bis 1522 brachte er etwa 240 Werke heraus. Bemerkenswert ist dabei, dass er nach bisherigem Kenntnisstand niemals eine eigene Druckerei betrieb, sondern seine Verlagswerke ausschließlich als Auftragsdrucke herstellen ließ. Seine Druckaufträge vergab er dabei in erster Linie an Heinrich Gran in Hagenau, aber auch an verschiedene andere Offizinen in Augsburg, Nürnberg, Straßburg, Basel und Venedig. Rynmann unterscheidet sich damit deutlich von vielen anderen aus der Inkunabel- und Frühdruckzeit bekannten Großbuchhändlern. Die großen Druckerverleger wie Schöffer, Amerbach, Drach oder Koberger waren zunächst im Druckgewerbe tätig und erschlossen sich von dort aus 44 45
Künast/Schürmann: Augsburger Buchführer. Zu Pantzschmann vgl. Kirchhoff: Pantzschmann’s Buchhandel.
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den Buchhandel, um ihre Produkte zu vertreiben. Zum Teil konzentrierten sie sich dabei verstärkt auf das reine Verlagsgeschäft oder auf den Buchhandel, doch betrieben sie immer parallel dazu auch eine Druckerei. Rynmann hingegen suchte als Kaufmann ein lukratives Betätigungsfeld und fand dieses zunächst im Buchhandel. Erst als er durch den Handel ausreichend Kapital kumuliert hatte, betätigte er sich auch im risikoreicheren Verlagsgeschäft. Als erfahrener Buchhändler wusste er vermutlich sehr genau über die Wünsche und Erwartungen seiner Kundschaft Bescheid und konnte sein Verlagsprogramm dementsprechend ausrichten. Dadurch, dass er keine eigene Druckerei einrichtete, konnte er als Verleger flexibel agieren und seine Druckaufträge je nach Bedarf vergeben. Damit vermied er den kostenintensiven Aufbau einer Offizin und musste sich nicht darum kümmern, dass diese ausgelastet war und gewinnbringend arbeitete. Auch wenn in der Inkunabelzeit bereits vereinzelt ›reine‹ Verleger nachweisbar sind, die keine Offizin unterhielten, so war Rynmann wohl der erste Buchgewerbetreibende in Deutschland, der diese Arbeitsweise professionalisierte und im großen Stil betrieb. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts war die buchgewerbliche Infrastruktur im deutschen Sprachraum so weit ausgebaut, dass er auch ohne eigene Produktionsstätte seinen Verlag aufbauen konnte. Eine ähnliche Entwicklung wie bei Rynmann lässt sich auch bei der Kölner Buchhändler- und Verlegerdynastie Birckmann beobachten, die 1991 im Rahmen der Dissertation Claudia Schnurmanns über den Kölner Englandhandel eingehend untersucht worden ist.46 In ihrer Untersuchung zum Buchhandel der Familie Birckmann geht Schnurmann nicht genuin buchwissenschaftlich vor. Stattdessen stellt sie den Handel mit Büchern im Zusammenhang mit den Handelsbeziehungen zwischen Köln und England dar, die sie beispielhaft auch anhand des Handels mit Wein, Bogenholz, Stahl und Tuchen untersucht. Gerade diese Einordnung in den wirtschaftshistorischen Gesamtrahmen zeigt, dass die Buchhändler und Verleger des frühen 16. Jahrhunderts das Buch nicht als jene »besondere Ware« ansahen, zu der es spätestens seit dem 19. Jahrhundert stilisiert wurde. Der Handel mit Büchern war in erster Linie ein lukratives Geschäft mit hohen Gewinnspannen, das sich nicht substantiell vom Handel mit anderen Gebrauchsgütern unterschied. Wie Rynmann begannen die aus Hinsbeck stammenden Brüder Franz und Arnold Birckmann, die Gründer des Kölner Familienunternehmens, 46
Schnurmann: Kommerz und Klüngel.
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ihre Karriere nicht mit dem Druckgewerbe, sondern bauten zunächst etwa ab 1500 als Kaufleute einen florierenden Buchhandel auf. Eine nicht zu unterschätzende Rolle für den Erfolg des Unternehmens dürfte dabei das Heiratsverhalten der Familie gespielt haben: Franz Birckmann heiratete Agnes Cluyn, die Tochter des Buchhändlers Gerhard Cluyn, sein Bruder Arnold vermählte sich mit Agnes von Gennep, die einer etablierten Kölner Buchdruckerfamilie entstammte. Die Kinder der Brüder setzten diese Tradition fort, so dass die Birckmanns in den 1550er Jahren auch mit den Kölner Verlegerfamilien Hittorp und Quentel verschwägert waren. Mit ihrem Buchhandel erschlossen die Birckmanns vor allem den Absatzmarkt im Nordwesten Europas. Sie erwarben Drucke auf der Frankfurter Messe, welche sie dann über Köln nach Antwerpen transportierten, um sie von dort aus weiter zu vertreiben. Die Bedeutung Antwerpens für die Firma Birckmann zeigt sich unter anderem darin, dass sie dort spätestens ab den 1520er Jahren eine ständig besetzte Außenstelle unterhielten, die von Familienmitgliedern oder loyalen Angestellten geführt wurde. Zudem wurde Antwerpen zur Zwischenstation für den Handel nach England, das im 16. Jahrhundert noch stark auf den Import von Büchern vom Kontinent angewiesen war. Der Buchexport nach England war überaus erfolgreich, so dass sich die Birckmanns als eine der dominierenden Firmen im englischen Buchhandel etablieren konnten. Erst in den 1580er Jahren zog sich die Firma, die inzwischen von Arnold Birckmanns Schwiegersohn Arnold Mylius geleitet wurde, aus dem Englandhandel zurück. Ausschlaggebend waren dabei vor allem die englischen Buchdrucker, die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts verstärkt gegen die ausländische Konkurrenz vorgingen, um sie vom englischen Buchmarkt auszuschließen. Neben dem Buchhandel erschlossen sich die Birckmanns mit dem Verlagsgeschäft ein zweites Standbein im Buchgewerbe. Anfangs spielte der Verlag für die Firma noch eine untergeordnete Rolle 47 und wurde ähnlich wie bei Rynmann über die Vergabe von Druckaufträgen organisiert. Dabei waren die Birckmanns von Anfang an deutlich internationaler ausgerichtet als Rynmann: Ihr Programm richteten sie zum Teil speziell auf den englischen Absatzmarkt aus, auf dem sie sich als Buchhändler bereits etabliert hatten, und ihre Druckaufträge vergaben sie häufig an die leistungsfähigen Lohndrucker in Paris. So kam es beispielsweise, dass zu Beginn des 16. Jahrhunderts ein Missale für die englische Diözese Salis47
Vgl. die Übersicht bei Schnurmann, S. 75.
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bury auf Kosten des in Köln ansässigen Franz Birckmann und seines Schwiegervaters Gerhard Cluyn durch einen Auftragsdrucker in Paris hergestellt wurde. Anders als Rynmann stiegen die Birckmanns schließlich auch in das Druckgewerbe ein. In den 1520er Jahren, nachdem sie mit Handel und Verlag schon ein beträchtliches Vermögen erlangt hatten, richteten sie eine eigene Druckerei in ihrem Kölner Haus »Zur Fetten Henne« ein, in der sie fortan ihre Verlagswerke auch selber herstellen konnten. Obwohl sich damit auch die Firma Birckmann letztlich zu einem buchgewerblichen Mischbetrieb entwickelte, ist doch ein entscheidender Unterschied zu den Drucker-Verleger-Buchhändlern der Inkunabelzeit festzuhalten: Im Falle der Birckmanns wurden die einzelnen Teilbereiche des Buchgewerbes zeitlich aufeinander folgend in den Geschäftsbetrieb integriert, wobei die Buchproduktion, der Druck, am Ende des Prozesses steht. Bei Schöffer oder Drach stand dagegen der Buchdruck am Anfang der Entwicklung und ihre Betätigung im Buchhandel war eine notwendige Folge, damit sie ihre Produkte gewinnbringend absetzen konnten. Das Entstehen kapitalstarker, international agierender Firmen, deren Betreiber in erster Linie Buchhändler und Verleger waren, die ihre Bücher als Auftragsarbeiten in verschiedenen Offizinen herstellen ließen, ist kennzeichnend für die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts. Dennoch sollten die Beispiele Rynmanns und der Brüder Birckmann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die buchhändlerische Landschaft auch im frühen 16. Jahrhundert überaus vielfältig blieb. Das in der Inkunabelzeit entstandene Geschäftsmodell – der Drucker, der seine Druckwerke als Verleger selber finanziert und sich als Buchhändler auch um ihren Absatz kümmert – war auch im 16. Jahrhundert noch vorherrschend, wobei das Spektrum hier von Kleinstoffizinen, die als Ein-Personen-Betrieb geführt werden konnten und deren Produkte kaum über den lokalen Markt hinaus gelangten, bis hin zu großen international agierenden Druckherren reicht.48 Auch die Entwicklung eines Betriebs von der Kleinoffizin mit angeschlossenem Ladenhandel hin zum Großverlag mit überregionalem Vertrieb seiner Waren war durchaus möglich. Als ein Beispiel für diese dyna48
Diesen Befund bestätigt auch eine Durchsicht des von Heinrich Grimm in den 1960er Jahren zusammengestellten Verzeichnisses der bis 1550 im deutschen Sprachraum nachgewiesenen Buchführer. Auch hier zeigt sich eine außerordentliche Bandbreite buchhändlerischer Geschäftsmodelle, die vom international agierenden Großbuchhändler bis zum Krämer, der nur nebenbei mit Büchern handelte, reicht. Vgl. Grimm: Buchführer des deutschen Kulturbereichs.
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mische Entwicklung kann die Straßburger Offizin des Matthias Hupfuff herangezogen werden.49 Hupfuff begann 1498 zunächst mit einer zahlenmäßig sehr umfangreichen Produktion populärer Kleindrucke, wie z. B. gebrauchsfunktional ausgerichteter medizinischer Handbücher, astrologischer Prognostiken, Flugschriften, kleinerer literarischer Werke und Schulgrammatiken. Vieles deutet darauf hin, dass diese Drucke im Wesentlichen für einen lokalen Absatzmarkt produziert wurden und nur in Straßburg selbst und der näheren Umgebung ihre Käufer fanden. Erst im zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts erweiterte Hupfuff sein Programm und druckte nun auch umfangreichere Werke, die er nicht mehr ausschließlich in Straßburg absetzen konnte. Von diesem Zeitpunkt an ist er auch auf der Frankfurter Messe nachweisbar, wo er seine Verlagsprodukte an selbstständig arbeitende Buchführer und Druckerverleger aus anderen Regionen verkaufte.50 Neben dem professionellen Buchhandel, der entweder selbstständig oder an eine Offizin oder einen Verlag angegliedert sein konnte, konnte der Verkauf von Büchern auch nebengewerblich und zum Teil auch ohne regelrechtes Gewinnstreben, sondern überwiegend aus weltanschaulichen oder idealistischen Gründen erfolgen. Als ein interessantes Beispiel für diese letzte Kategorie wäre hier der Zwickauer Stadtschreiber Stephan Roth zu nennen, der uns vor allem durch seinen umfangreichen, bereits 1893 durch Georg Buchwald in Teilen publizierten Briefnachlass aus den Jahren 1517 bis 1545 bekannt ist.51 Mitte der 1980er Jahre hat Holger Nickel erneut auf Roth aufmerksam gemacht und seine buchhändlerische Tätigkeit näher untersucht.52 Nach Nickel importierte Roth vor allem Bücher aus Leipzig, um diese dann in Zwickau und dem Umland weiterzuvertreiben. Offenbar gelang es Roth dabei durch enge Kundenkontakte – Nickel geht sogar davon aus, das sich der Käuferkreis überwiegend aus persönlichen Bekannten Roths zusammensetzte – ein sehr gut auf die Literaturbedürfnisse seiner Käufer abgestimmtes Sortiment aufzubauen. Um große finanzielle Gewinne ging es Roth dabei offenbar nicht, sondern vielmehr um die Versorgung seiner Kunden mit aktueller, insbesondere reformatorischer, Literatur. Durch die hier angeführten Beispiele kann die Vielfalt buchhändlerischer Betriebsformen in der ersten Hälfte des 16. Jahrhundert allenfalls 49 50 51 52
Zu Hupfuff vgl. Duntze: Ein Verleger sucht sein Publikum. Vgl. dazu v. a. die buchhandelsgeschichtliche Interpretation des Hupfuffschen Verlagsprogramms bei Duntze, S. 304–317. Vgl. Buchwald: Stephan Roth in Zwickau. Nickel: Stephan Roths Buchhandel.
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angedeutet werden. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch Künasts Untersuchung zum Augsburger Buchwesen, die eindrucksvoll das Spektrum buchhändlerischer Betriebe der Frühen Neuzeit demonstriert. Allein für Augsburg kann Künast bis 1555 knapp 100 im Buchhandel tätige Personen nachweisen. Neben Großbuchhändlern und Verlegern im Stile Rynmanns finden wir zahlreiche Offizinen mit einem angeschlossenen Buchhandel und Buchbinder, die auch mit Drucken handelten. Neben diesen hauptberuflich im Buchgewerbe tätigen Personen gab es aber auch zahlreiche nebenberufliche Buchhändler wie beispielsweise den Apotheker Johann Heybler oder der Gastwirt Wolfgang Sorg. 53 Künast stellt dazu fest: Eine personelle Aufgabenteilung zwischen Buchproduktion und -handel bahnte sich in Augsburg zwar bereits im 15. Jahrhundert an, wurde aber auch im 16. Jahrhundert nie konsequent verwirklicht. Daher waren zahlreiche Drucker auch ihre eigenen Vertriebsleiter. Hinzu kam, daß die Buchführer – gleich den Druckern – grundsätzlich nicht zunftpflichtig waren, weshalb im Prinzip jedermann das Recht hatte, Bücher zu verkaufen, sofern er dieses Geschäft finanzieren konnte. Deshalb bot Augsburg hinsichtlich des Buchvertriebes ein buntes Bild, das vom Hausierer und Kolporteur bis hin zum Besitzer eines stattlichen Buchgewölbes, vom lokalen Gelegenheitsverkäufer bis zum europaweit agierenden Großsortimenter reichte.54
Diese, hier nur auf Augsburg bezogene, Beschreibung einer überaus vielfältigen buchhändlerischen Landschaft, lässt sich nach unseren bisherigen Erkenntnissen auch auf die weiteren Druck- und Verlagszentren im deutschsprachigen Raum übertragen. Zwar begannen Verlag und Sortiment im späten 15. Jahrhundert auseinander zu treten, doch war ihre Trennung auch im 16. Jahrhundert keinesfalls so streng durchgeführt, wie wir es im modernen Buchhandel gewohnt sind.
4 Verlag und Großbuchhandel in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts Für die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts liegen bereits seit längerer Zeit zahlreiche wichtige buchhandelsgeschichtliche Quellen ediert vor. Zu nennen sind hier beispielsweise das von Rudolf Wackernagel herausgegebene Rechnungsbuch der Baseler Offizin Froben und Episcopius für die Jahre 1557 bis 1564,55 das Messregister der Offizin Feyerabend aus dem 53 54 55
Vgl. Künast: »Getruckt zu Augspurg«, S. 121–128. Künast, S. 119–120. Wackernagel: Rechnungsbuch der Froben & Episcopius.
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Jahr 1565,56 das Nachlassinventar der Frankfurter Verlegerwitwe Margarethe Gülfferich aus dem Jahr 1568, 57 das sogenannte Meß-Memorial des Michel Harder von 1569, das sich als Teil einer Reihe von Verkaufsregistern der Offizin der Erben Weigand Hans herausgestellt hat,58 oder ein Verzeichnis des Feyerabend’schen Wanderlagers in Leipzig aus dem Jahr 1570.59 Als weitere, weniger umfangreiche Quellen sind beispielsweise die von Albrecht Kirchhoff publizierten Lagerverzeichnisse verschiedener Leipziger Sortimentsbuchhändler aus den 1540er bis 1580er Jahren oder das Verzeichnis der Messeeinkäufe des Wittenberger Sortimenter Johann Rühel auf der Frankfurter Fastenmesse des Jahres 159060 zu nennen. Eine weitere wichtige (und bisher noch keinesfalls erschöpfend ausgewertete) Quelle sind die Geschäftsaufzeichnungen der Antwerpener Offizin Plantin-Moretus, in deren »Cahiers de Francfort« detailliert die An- und Verkäufe der Firma auf den Frankfurter Messen dokumentiert sind.61 Die hier genannten Quellen wurden überwiegend bereits im 19. Jahrhundert bekannt gemacht und dabei in der Regel auch zumindest grundlegend ausgewertet, so dass die dabei gewonnenen Ergebnisse in Kapps/Goldfriedrichs Buchhandelsgeschichte verarbeitet werden konnten. In jüngerer Zeit scheinen sie jedoch immer mehr aus dem Blick zu geraten. Symptomatisch für diese Entwicklung ist sicherlich, dass eine so wichtige Quelle wie das Rechnungsbuch der Froben und Episcopius in Wittmanns Darstellung der deutschen Buchhandelsgeschichte keine Erwähnung findet.62 Kritisch ist zu den hier aufgeführten Quellen allerdings anzumerken, dass sie im Wesentlichen den Großhandel auf den Messen widerspiegeln, also die erste Handelsstufe vom Verleger bzw. Druckerverleger zum Groß- oder Zwischenbuchhändler. Wir erfahren, welche Bücher auf den 56 57 58 59 60
61 62
Pallmann: Meßregister. Vgl. dazu Pallmann: Feyerabend, S. 137–145. Kelchner/Wülcker: Mess-Memorial des Frankfurter Buchhändlers Michel Harder Fastenmesse 1569. Zu den früheren Messregistern Harders (Fasten- und Herbstmesse 1568) vgl. Pallmann: Meßregister. Vgl. Kirchhoff: Feyerabend’s Wanderlager. Vgl. Kirchhoff: Leipziger Sortimentshändler; Kirchhoff: Sortimentslager von Christoph Ziehenaus; Kirchhoff: Lesefrüchte aus den Acten des städtischen Archivs zu Leipzig: III. Zu nennen wäre hier auch das von Otto Zaretzky publik gemachte Rechnungsbuch der Kölner Offizin Quentell-Gymnich, bei dem es sich jedoch um ein Privatrechnungsbuch handelt, das neben den Kosten für Kleidung, Hausrat etc. auch die Ausgaben und Einnahmen der Offizin summarisch verzeichnet. Vgl. Zaretzky: Ein Quentellsches Rechnungsbuch aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Vgl. dazu z. B. die von Leon Voet publizierten Übersichten zur Fastenmesse 1579 und zu den Messen 1609 (Voet: Golden Compasses, S. 507–518). Vgl. Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels.
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Messen an die Buchhändler oder auch an andere Verlage verkauft wurden, nicht aber, ob und auf welche Weise diese zu den Endkunden gelangten. Überspitzt formuliert ist die Tatsache, dass ein Verlag bestimmte Titel auf den Messen in großen Stückzahlen absetzen konnte, zunächst einmal ein Zeugnis dafür, dass diese Titel für den Verleger gewinnbringend waren und die Buchhändler davon ausgingen, sie gut absetzen zu können. Ob sie die erworbenen Bücher aber tatsächlich weiterverkaufen konnten, darüber geben uns die genannten Quellen keinen Aufschluss. Ebenso geben Messregister und ähnliche Zeugnisse keinen Hinweis darauf, was im Anschluss an die Messe mit den dort gehandelten Büchern geschah: Wurden sie direkt an die Endkunden oder evtl. auch an weitere zwischengelagerte Handelsstufen weitervertrieben? Gelangten sie über einen stationären Buchhandel im Ladengeschäft an die Kunden, oder durch einen mobilen Handel, beispielsweise durch wandernde Buchführer oder den Verkauf auf regionalen Messen und Jahrmärkten? Zu fragen wäre auch, ob die Käufer die rohen Druckbogen erwarben, oder ob die Bücher auch – und darauf deutet einiges hin – in gebundener Form vertrieben wurden.63 Dennoch findet sich in den Quellen gerade für die Fragen nach Produktionskosten, Auflagenkalkulation und Preisgestaltung der großen Verlage ein kaum überschaubares Untersuchungsmaterial, ebenso wie für die überaus eng vernetzten Handelsbeziehungen der Drucker, Verleger und Buchhändler. Auch für die Frage nach den buchhändlerischen Handelsund Abrechnungsgewohnheiten geben die Quellen wichtige Hinweise: So scheint am Ende des 16. Jahrhundert der Kredithandel die vorherrschende Handelsform gewesen zu sein. Für Tauschgeschäfte, wie sie beispielsweise schon in Drachs Rechnungsbuch belegt sind, finden wir in den Quellen des späten 16. Jahrhunderts keine Belege und auch Kommissionsgeschäfte scheinen – zumindest auf der Messe – nicht üblich gewesen zu sein.
63
Vgl. dazu beispielsweise das Lagerverzeichnis des Christoph Ziehenaus, das neben ungebundenen auch gebundene Bücher umfasst (Kirchhoff: Sortimentslager von Christoph Ziehenaus, S. 9–23). Hierbei handelte es sich zum Teil um antiquarische Bücher, doch hatte Ziehenaus auch neue Bücher in gebundener Form in seinem Lager vorrätig. Für das 17. Jahrhundert sind die Streitigkeiten der Ulmer Buchbinder mit den dort ansässigen Buchdruckern bezeichnend. Wiederholt wollten die Ulmer Buchdrucker durchsetzen, dass sie allein mit gebundenen Büchern handeln dürften. Die Ware, die sie einbanden, bezogen sie dabei offenbar direkt von den Druckern, es handelte sich also auch hier um Neuware, die gebunden in den Handel kam. (Vgl. u. a. die Einleitung bei Schmitt/Appenzeller: Kühn, S. 11–61).
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4.1 Der Frankfurter Verlagsbuchhandel
Eine ganze Reihe der oben genannten Quellen steht im Zusammenhang mit der Frankfurter Offizin Gülfferich – Han – Weigand Han Erben. Diese ist Gegenstand der 1996 erschienenen Dissertation Imke Schmidts und soll hier aufgrund der guten Forschungslage ausführlicher dargestellt werden.64 Die Offizin wurde 1542 durch Hermann Gülfferich gegründet, der in den 1530er Jahren in Mainz eine Buchbinderlehre absolviert hatte. 1540 ließ er sich in Frankfurt nieder, wo er Margarethe Han, die Witwe des Buchbinders Georg Han heiratete. Es ist anzunehmen, dass Gülfferich in Frankfurt zunächst als Buchbinder tätig war, doch stieg er schon bald in das gewinnträchtigere Druck- und Verlagswesen ein. In seiner 1542 gegründeten Offizin stellte er fast ausschließlich eigene Verlagswerke her, überwiegend volkssprachliche und auf einen breiten Abnehmerkreis ausgerichtete Titel. Nach Gülfferichs Tod im Jahr 1554 heiratete seine Witwe 1555 den Buchdrucker Jost Gran, der jedoch die Offizin nur kurzzeitig weiterführte, so dass ab 1556 Gülfferichs Stiefsohn Weigand Han die Leitung der Offizin übernahm. Unter Hans Führung wandte sich die Firma stärker dem reinen Verlagsgeschäft zu, und 1561 verkauften Han und seine Mutter ihre Druckerei an Georg Rab. Mit ihm gingen sie eine Verlagsgemeinschaft ein, in der Gülfferich und Han als Verleger die Beschaffung des Papiers übernehmen sollten, während Rab den Druck besorgte. Die Auswahl der zu druckenden Texte sollte in gemeinsamer Absprache der Geschäftspartner stattfinden. Das Papier konnte Han aus zwei seit etwa 1550 in seinem Besitz befindlichen Papiermühlen, in Sennheim und Alt-Thann im Elsass, beziehen. Wenig später, 1562, starb Han, doch gründete er zuvor gemeinsam mit dem Verleger Sigmund Feyerabend und Rab ein Verlagskonsortium, die sogenannte »Cumpanei«. Nach Hans Tod wurde die Cumpanei durch seine Erben – seine Mutter und seine Söhne Kilian und Hartmann – gemeinsam mit Feyerabend und Rab weitergeführt. Nach Gülfferichs Tod im Jahr 1569 begann die Auflösung der Cumpanei, doch erschienen noch bis 1573 gemeinsame Verlagswerke. 64
Schmidt: Gülfferich – Han – Weigand Han Erben. Daneben existieren zu einer Reihe weiterer Frankfurter Verlage des 16. Jahrhunderts ausführliche Untersuchungen, auf die hier wegen ihres älteren Datums nur kurz verwiesen werden soll; vgl. z. B. Richter: Egenolffs Erben; Pallmann: Feyerabend.
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Parallel zur Cumpanei verlegten die Erben Hans aber auch weiterhin Werke ohne Feyerabends Beteiligung im eigenen Verlag. Diese wurden überwiegend von Rab gedruckt, zum Teil aber auch von Thomas Rebart, der 1565 die Witwe Weigand Hans geheiratet hatte. Nach Rebarts Tod im Jahr 1570 wurde die Offizin durch seine Witwe und seinen Stiefsohn Kilian Han weiterbetrieben, doch in den späten 1570er Jahren traten Han und sein jüngerer Bruder Hartmann nur noch als Verleger, ohne eigene Druckerei, auf. Die hier skizzierte wechselhafte Geschichte der Offizin wurde bereits 1962 durch Eberhard Heinrich Georg Klöss eingehend und unter Einbeziehung der relevanten Urkunden aus dem Frankfurter Stadtarchiv mustergültig aufgearbeitet.65 Daher kann sich Schmidt bei der Darstellung der Verlagsgeschichte im Wesentlichen auf eine Zusammenfassung der bisherigen Forschungsergebnisse und die korrigierende Neuauswertung bekannter Quellen (die Messregister der Offizin und das Nachlassverzeichnis der Witwe Gülfferich) beschränken. Den Hauptteil ihrer Arbeit macht die Untersuchung des Druck- und Verlagsprogramms der Offizin aus. Dabei kann sie zeigen, dass das Programm im Laufe der Jahre durch die verschiedenen Familienmitglieder, die die Firma leiteten, zwar leicht modifiziert wurde, in seiner Grundausrichtung jedoch gleich blieb. Die Offizin spezialisierte sich auf den Druck volkssprachlicher Werke, die in handlichen Quart- und Oktavausgaben ein breites Publikum ansprechen sollten: Romane, Ratgeber für Handel und Handwerk, volkssprachliche Theologica und populärmedizinische Werke. Dagegen erschienen in der Verlagsgemeinschaft mit Feyerabend verstärkt lateinische Werke. Das Ausstattungsniveau der Drucke lag dabei deutlich höher als bei den anderen Verlagswerken der Han-Erben; die Erzeugnisse der Cumpanei erschienen oft als repräsentative Foliodrucke mit hochwertigen Holzschnitten. Die Vermutung liegt nahe, dass die Verlagsgesellschaft speziell zu diesem Zweck gegründet wurde, gemeinsam repräsentative Buchprojekte zu finanzieren und die vergleichsweise hohe finanzielle Belastung und das Risiko auf mehrere Partnerfirmen zu verteilen. Insgesamt gesehen zeigt das Beispiel der Offizin Gülfferich – Han – Han Erben sehr deutlich, wie fließend auch noch in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts die Übergänge zwischen den einzelnen Berufen im Buchgewerbe waren. Gülfferich selbst betätigte sich als Buchbinder, bevor er seine Karriere als Druckerverleger begann, während sein Stiefsohn Wei65
Klöss: Weigand Han.
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gand Han die Entwicklung vom Druckerverleger zum reinen Verleger durchlief und sich zudem als Papierfabrikant betätigte. Auch Hans Erben ließen als Verleger Werke in Lohndruckereien herstellen, betätigten sich aber auch zumindest zeitweise wieder im Druckgewerbe. Der Verkauf der Bücher fand zum einen direkt im Ladengeschäft statt, zum anderen auf den Frankfurter Messen, für deren Bedeutung wir mit den Verkaufsregistern der Offizin für die Jahre 1568/69 eines der interessantesten buchhandelsgeschichtlichen Zeugnisse des 16. Jahrhunderts besitzen.66 4.2 Georg Willer und die Messkataloge
Durch die halbjährlich stattfindenden Messen entwickelte sich Frankfurt in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zum vermutlich wichtigsten Zentrum für Buchhandel und Verlagswesen in Deutschland. Aber auch andernorts entstanden große Handels- und Verlagsfirmen, wie das Beispiel des Augsburger Großhändlers Georg Willer zeigt, dessen Karriere Künast und Schürmann 1997 unter Zuhilfenahme der ihn betreffenden Aktenbestände des Augsburger Stadtarchivs nachgezeichnet haben. Der 1514 in Augsburg geborene Willer baute ab den 1540er Jahren ein weit verzweigtes Vertriebsnetz im Süden Deutschlands auf, durch das er in den 1560er und 1570er Jahren zum wichtigsten Großbuchhändler in Süddeutschland aufstieg. Bis zu seinem Tod 1593 führte er die Firma überaus erfolgreich weiter und gehörte zu den wohlhabendsten Kaufleuten Augsburgs. Nach seinem Tod wurde die Firma zunächst gemeinsam durch seine Söhne Georg d. J. und Elias weitergeführt, doch ab 1599 übernahm Georg allein die Geschäftsführung, während Elias in Frankfurt in das Verlagsgeschäft einstieg. Seine Waren bezog Willer auf der Frankfurter Messe, und in den einschlägigen Zeugnissen zum Messehandel taucht er regelmäßig als Großabnehmer, aber auch als Verkäufer bei den anwesenden Druckerverlegern auf.67 Das dort angekaufte Sortiment vertrieb Willer über Zwischenhänd66 67
Der Verkauf im Ladengeschäft ist z. B. durch das Nachlassregister der Witwe Gülfferich von 1568 belegt (vgl. Klöss: Weigand Han, S. 353). Zu den Messregistern der Jahre 1568/69 vgl. Schmidt: Gülfferich – Han – Weigand Han Erben, S. 40–43, 287–290. So beispielsweise in Sigmund Feyerabends Messregister von 1565 (vgl. Pallmann: Meßregister, S. 19). Willer kaufte zu dieser Messe bei Feyerabend Bücher im Wert von mehr als 300 Gulden. Auch im Rechnungsbuch der Froben und Episcopius taucht Willer regelmäßig als Kunde auf (zu Nachweisen vgl. Künast/Schürmann: Augsburger Buchführer, S. 36, Anm. 81), und in Plantins Rechnungen zur Fastenmesse 1579 ist er als Kunde und Verkäufer verzeich-
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ler weiter, zum Teil lieferte er auch direkt an prominente Kunden wie beispielsweise Erzherzog Ferdinand II. von Tirol oder an die Jesuitenbibliothek in Hall in Tirol.68 Neben seiner buchhändlerischen Tätigkeit wurde Willer auch als Verleger tätig, doch ist sein Wirken in diesem Bereich schwerer zu fassen und bisher noch nicht umfassend aufgearbeitet. Möglicherweise betätigte er sich nur in Ausnahmefällen als Verleger, oder er legte – wie Künast und Schürmann vermuten – keinen Wert darauf, auf dem Titelblatt oder im Impressum seiner Verlagswerke genannt zu werden.69 Ein wesentlicher Grund für Willers Erfolg war die Tatsache, dass er sich beim Handel nicht auf bestimmte Werke oder Gattungen beschränkte, sondern jede Art von Büchern, vom populären Schrifttum in der Volkssprache bis zur gelehrten lateinischen Fachliteratur, im Programm hatte. Auch ließ sich Willer nicht von konfessionellen Fragen beeinflussen. Obwohl selbst Protestant, hatte er auch zahlreiche katholische Titel im Angebot und scheute auch nicht davor zurück, die Jesuiten in Hall mit Literatur zu versorgen. Daneben spielte aber auch die Tatsache eine Rolle, dass Willer mit den sogenannten Messkatalogen ein wichtiges und bis dahin in dieser Form noch nicht bekanntes Werbe- und Vertriebsmittel entwickelte.70 Ab 1564 brachte Willer sie regelmäßig zu den halbjährlichen Messen in Frankfurt heraus. In den Anfangsjahren verzeichneten sie zunächst nur jene Werke, die Willer auf der jeweiligen Buchmesse erworben hatte, und die in seinem eigenen Verlag erschienenen Bücher. Damit konnten sich seine Kunden schnell über das Angebot, das Willer in seinem Großbuchhandel vorrätig hatte, informieren. Ab 1573 erweiterte er die Messkataloge und nahm auch Titel auf, welche in seinem Sortiment nicht vorrätig waren. Vermutlich konnte er diese Titel aber auf Nachfrage spätestens auf der nächsten Buchmesse besorgen. Etwa zwei Jahrzehnte später folgte man auch in Leipzig dem Beispiel Willers, so dass dort ab 1595 ebenfalls Messkataloge
68 69 70
net. Mit einem Einkauf im Wert von über 100 Gulden gehörte er auf dieser Messe zu den wichtigsten Kunden der Firma Plantin (vgl. Voet: Golden Compasses, S. 500). Vgl. Künast/Schürmann: Augsburger Buchführer, S. 33–35. Vgl. Künast/Schürmann, S. 37. Das VD16 (online-Version) verzeichnet inkl. der ab 1564 halbjährlich in Frankfurt gedruckten Messkataloge etwa 90 Drucke in denen Willer oder einer seiner Nachfolger genannt ist. Ohne die Messkataloge sind es nur etwa 30. Willers Messkataloge liegen seit den 1970er Jahren in einer Faksimilie-Edition vor: Fabian: Meßkataloge Georg Willers.
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erschienen. Allerdings handelte es sich bei ihnen zu Beginn lediglich um Nachdrucke der Frankfurter Kataloge.71 Mit der Ausweitung auf Titel, die Willer nicht im eigenen Sortiment anbot, stießen seine Messkataloge auch als allgemeine Neuigkeitenverzeichnisse auf Interesse, doch erhoben sie keinesfalls einen Anspruch auf Vollständigkeit. Diese Situation änderte sich erst, als ab 1598 auf Beschluss des Frankfurter Rats alle auf der Messe angebotenen Bücher in den nunmehr durch den Rat bzw. einen von ihm beauftragten Drucker herausgegebenen Messkatalogen verzeichnet werden sollten. Der bibliographische Wert der Messkataloge wurde schon früh erkannt, so dass sie regelmäßig zum Gegenstand buchhistorischer Forschung geworden sind; zuletzt wurde ihre Geschichte 2003 zusammenfassend dargestellt. 72 Als Quellen für die Buchhandelsgeschichte sind die Messkataloge allerdings keineswegs unproblematisch. Denn es handelt sich bei ihnen nie um weitgehend vollständige, periodisch erscheinende Verzeichnisse, die mit den modernen Buchhandelsverzeichnissen vergleichbar wären. Stattdessen ist ihr erklärter Anspruch lediglich, das auf den Messen vorhandene Buchangebot zu verzeichnen, und selbst hier sind sie nicht immer zuverlässig. Neben den Werken, die auf der Messe gehandelt wurden, gab es aber auch zahlreiche Literaturgattungen, die von vornherein nicht für den Großhandel auf der Messe bestimmt waren, und somit auch nicht in den Messkatalogen erscheinen. Zu nennen sind hier beispielsweise Flugschriften, Dissertationen oder Personalschriften wie Leichenpredigten oder Hochzeitsgedichte usw. Sehr nachdrücklich konnte Anfang der 1980er Jahre David Paisey die Lückenhaftigkeit der Messkataloge nachweisen, indem er für drei Jahrgänge stichprobenartig überprüfte, inwieweit sich die in der British Library vorhandenen Bestände deutscher Drucke auch in den Messkatalogen nachweisen lassen. Seine Ergebnisse deuten darauf hin, dass nur ein Bruchteil der tatsächlich produzierten Drucke auch in den Messkatalogen annonciert wurde. Vor allem Kleindrucke und Einblattmaterialien, Dissertationen, unfirmierte Drucke oder Gelegenheitsdrucke tauchen in den Messkatalogen nicht auf, da sie in der 71
72
Der erste Leipziger Messkatalog liegt als Faksimile-Druck vor: Gabel: Der erste Leipziger Messekatalog. Die späteren Leipziger Messkataloge sind in den 1970er und 1980er Jahren auf Mikrofiche reproduziert worden: Fabian: Meßkataloge des sechzehnten, siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts. Die Mikroficheausgabe soll nach Angaben des Verlags in nächster Zeit digitalisiert werden, einzelne Bände liegen bereits digitalisiert vor (vgl. http://www.olmsonline.de). Vgl. Duntze: Meßkataloge; dort auch zur älteren Literatur.
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Regel nur von lokalem oder regionalem Interesse waren und daher nicht über die international ausgerichteten Messen gehandelt wurden.73 Die Messkataloge können also keinesfalls als Spiegel des gesamten Buchmarkts in einem bestimmten Jahr herangezogen werden. Mit der notwendigen Kritik im Hinterkopf bleiben die Messkataloge aber gerade für das späte 16. und für das 17. Jahrhundert eine der zentralen buchgeschichtlichen Quellen, insbesondere für den Großbuchhandel auf den Messen. Und gerade die bis heute von der Forschung eher vernachlässigten frühen Messkataloge bieten umfangreiches Quellenmaterial, zwar nicht für den gesamten Buchhandel in Deutschland, wohl aber für die Buchhandlung Willers, seine Praktiken und seine geschäftlichen Kontakte.
5 Der Buchhandel der Barockzeit Während für das späte 16. Jahrhundert zumindest für den Messebuchhandel der großen Verlage eine ganze Reihe archivalischer Quellen ediert vorliegen, verfügen wir für das 17. Jahrhundert, das in der Buchhandelsgeschichte in der Regel als das Zeitalter des Tauschbuchhandels etikettiert wird, kaum über größere edierte Quellenbestände wie Messregister, Handlungsbücher und Ähnliches. Dagegen hat die bibliographische Verzeichnung der Druckwerke des 17. Jahrhunderts in den letzten 20 Jahren deutliche Fortschritte gemacht. Insbesondere das VD17, das zwar noch nicht abgeschlossen ist, aber bereits einen sehr umfangreichen Bestand verzeichnet, hat die bibliographische Lage für das 17. Jahrhundert deutlich verbessert. Daneben ist vor allem auf den von Martin Bircher begründeten Monumentalkatalog Deutsche Drucke des Barock, in dem die Bestände der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel aufgearbeitet sind, sowie auf Gerhard Dünnhaupts Personalbibliographien zu den Drucken des Barock hinzuweisen.74
73 74
Vgl. Paisey: Literatur, die nicht in den Meßkatalogen steht. Vgl. Deutsche Drucke des Barock; Dünnhaupt: Personalbibliographien. Ein großer Teil der bei Dünnhaupt verzeichneten Drucke wird derzeit durch die Herzog-AugustBibliothek in Wolfenbüttel digitalisiert; http://diglib.hab.de/?link=017.
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5.1 Buchhändlerische Betriebsformen im 17. Jahrhundert
Durch die verbesserte bibliographische Lage ist die zu Beginn angesprochene Dominanz des druck- und verlagsgeschichtlichen Zugangs in der Forschung zum Buchhandel des 17. Jahrhunderts besonders ausgeprägt. So sind in den letzten zwei Jahrzehnten eine Reihe beispielhafter Untersuchungen erschienen, die neben einer Zusammenstellung des Druck- bzw. Verlagsprogramms einer Offizin auch eine Darstellung der Firmengeschichte und eine inhaltlich orientierte Auswertung der Buchproduktion bieten. Zu nennen ist hier beispielsweise Birgit Boges 1993 erschienene Dissertation zum Kölner Drucker, Verleger und Buchhändler Wilhelm Friessem. 75 Nach Boges Darstellung begann der um 1600 in Lechenich geborene Friessem in den 1620er Jahren in Köln eine Lehre als Buchdrucker in der Offizin des Konrad Bütgen. Die Offizin war bereits in den 1550er Jahren von Theodor Baum gegründet worden, wurde nach dessen Tod im Jahr 1588 zunächst von seiner Witwe weitergeführt und 1596 von Balthasar Clippaeus übernommen. Clippaeus stand der Offizin bis zu seinem Tod 1604 vor, danach ging sie in den Besitz Bütgens über. Als Bütgen 1628 starb, führte seine Witwe den Betrieb weiter, doch wurde sie in dieser Zeit vermutlich bereits von Friessem unterstützt, in dessen Besitz die Offizin schließlich 1638 überging. Bis zu Friessems Tod 1668 entwickelte sich die Offizin zu einem der größten Buchhandels- und Verlagsunternehmen in Köln, und in seinem Verlag erschienen in dieser Zeit nach Boges Angaben mindestens 250 Drucke. Vermutlich waren es sogar noch deutlich mehr, da Boge auf bibliographischem Weg noch mehr als 150 weitere Drucke nachweisen kann. Mit seinem Verlag verfolgte Friessem eine sehr klar konturierte konfessionelle Programmbildung, indem er überwiegend katholische Frömmigkeitsliteratur und zahlreiche kontroverstheologische Werke verlegte. Neben dem Verlag betätigte sich Friessem auch im Buchhandel und betrieb parallel zu seiner Offizin in der Kölner Tranckgasse eine Buchhandlung. Sie wurde 1648 zum Firmenhauptsitz, dessen Adresse Friessem von nun an auch im Impressum seiner Verlagswerke angab. Weiterhin besaß Friessem mindestens eine weitere Verkaufsfiliale in Aachen, möglicherweise wurden dort auch Bücher gedruckt. Darüber hinaus lassen sich 75
Boge: Literatur für das »Catholische Teutschland«; vgl. zusammenfassend auch Boge: Friessem und Hänlin.
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Geschäftsverbindungen nach Süddeutschland nachweisen: In einem Friessem-Druck des Jahres 1663 wird darauf hingewiesen, dass der Druck beim Aschaffenburger Buchhändler Timotheus Laubenberger erhältlich sei, und mit der ebenfalls streng katholisch ausgerichteten Ingolstädter Offizin Haenlin tauschte Friessem offenbar regelmäßig Drucke aus.76 Aus buchhandelsgeschichtlicher Perspektive ist Friessem jedoch vor allem dadurch bemerkenswert, dass er neue Wege bei der Werbung für sein Verlagsprogramm bzw. sein buchhändlerisches Sortiment beschritt: Zum einen gab er separat gedruckte Sortimentskataloge als Broschüren im Oktavformat heraus. In ihnen verzeichnete er die in seinen Buchhandlungen vorhandenen Titel und bot in der Vorrede an, nicht vorhandene Titel von auswärts zu beschaffen.77 Diese Art der Werbung ist auch aus anderen Offizinen bekannt und hebt sich noch nicht von den üblichen Werbemitteln des 17. Jahrhunderts ab. Zum anderen druckte Friessem – und damit unterscheidet er sich von anderen Offizinen – in einigen der von ihm verlegten Werke Teilverzeichnisse seines Buchangebots ab. Leider differenziert Boge in ihrer Untersuchung nicht hinreichend genau zwischen Verlag und Sortiment und verwendet offenbar beide Begriffe synonym. So verzeichnen die von ihr als »Teilsortimentsverzeichnisse« bezeichneten Titellisten überwiegend Verlagswerke Friessems, während es sich bei den von ihr untersuchten selbstständigen »Verlagsverzeichnissen« um Sortimentskataloge handelt, die auch fremde Verlagswerke, die in Friessems Buchhandlung erworben werden konnten, enthalten. Boges Analyse der unselbstständig erschienenen »Teilsortimentsverzeichnisse« zeigt, dass Friessem hier überaus planvoll vorging. Die in ihnen beworbenen Texte stellten in der Regel eine inhaltliche Ergänzung zu den dem Leser vorliegenden Werken dar; zum Teil wurden sie in der Vorrede zum Katalog auch explizit als solche beworben. Zum Beispiel verwies Friessem in mehreren Werken des Benediktiners Louis de Blois auf weitere Werke desselben Autors, die er in seiner Offizin im Angebot hatte. In den meisten Fällen wurden die Titellisten an den Haupttext angehängt – möglicherweise konnten auf diese Weise sonst unbedruckt gebliebene Seiten sinnvoll genutzt werden. Zum Teil integrierte Friessem die Werbung jedoch auch zwischen die Vorstücke und den Beginn des Haupttexts, so dass die Leser sie kaum ignorieren konnten.
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Vgl. Boge: Literatur für das »Catholische Teutschland«, S. 47. Vgl. Boge, S. 77.
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Für den deutschen Sprachraum stellt diese Art der Buchwerbung eine Neuerung dar, die zunächst offenbar keine Nachahmer fand. Zwar sind bereits im 15. und 16. Jahrhundert vereinzelt werbende Hinweise auf einzelne Werke in Drucken nachweisbar, doch scheint Friessem im deutschen Sprachraum der erste Druckerverleger gewesen zu sein, der diese Form der Werbung systematisch einsetzte.78 Trotz der aufschlussreichen Analyse Boges wirft das hier geschilderte Beispiel der Offizin Friessem auch einige Fragen zum Buchhandel auf. Es ist anzunehmen, dass Friessem als Verleger regelmäßig die Frankfurter Messen besuchte, um dort seine Verlagswerke im Großhandel zu verkaufen oder gegen die Verlagsprodukte anderer Offizinen einzutauschen. Ungeklärt ist jedoch, ob er das so aufgebaute Sortiment nur lokal in seiner Kölner Buchhandlung und der Aachener Filiale zum Verkauf anbot, oder ob noch weitere Vertriebswege, beispielsweise der Handel auf regionalen Messen oder Jahrmärkten, benutzt wurden. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Friessem in einigen seiner Kataloge Festpreise für die beworbenen Werke angibt. Die Angaben werden teils in verschiedenen regional gültigen Währungen (u. a. im Kölnischen Albus), teils aber auch in überregional gültigen Reichstalern gemacht. 79 Friessem rechnete also auf jeden Fall mit einem überregionalen Absatz seines Sortiments, doch bleibt unklar, ob der Vertrieb von ihm selbst, oder durch andere selbstständig arbeitende Buchhändler übernommen wurde. Trotz dieser ungeklärten Fragen kann Friessem als Beispiel für den im 17. Jahrhundert verbreiteten Buchhändler-Typus des Sortimenterverlegers dienen. Kennzeichnend für die Sortimenterverleger ist vor allem der Betrieb großer lokaler Buchhandlungen, die mit einem inhaltlich breit gefächerten Sortiment von Druckwerken primär den lokalen Markt bedienten. An die Buchhandlung angeschlossen war eine Druckerei, in der entweder eigene Verlagswerke oder Auftragsdrucke hergestellt wurden. Diese wurden im eigenen Buchladen zum Verkauf angeboten, dienten vor allem aber auch als Tauschmaterial auf der Frankfurter Buchmesse. Dort verstachen die großen Sortimenterverleger ihre Verlagsproduktion, d. h. die rohen (ungebundenen) Druckbogen wurden gegen die Drucke anderer 78
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In Italien sind bereits im späten 16. Jahrhundert vergleichbare Kataloge nachweisbar, und in England, den Niederlanden und Frankreich gehörten sie im späten 17. Jahrhundert zur gängigen Werbepraxis. Vgl. Hauke: Buchwerbung, S. 95–100. Möglicherweise macht sich im Falle Friessems die geographische Nähe zu den Niederlanden, wo die Verlagswerbung im Buch weiter verbreitet war, bemerkbar. Zu den Preisangaben in Friessems Drucken vgl. Boge: Literatur für das »Catholische Teutschland«, S. 53–60.
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Offizinen eingetauscht. So konnten die großen Buchhändler ihre Sortimente ergänzen und ihre Verlagswerke erreichten überregionale Verbreitung. Wenngleich diese Geschäftsorganisation für Friessem nicht in allen Einzelheiten nachweisbar ist, muss doch davon ausgegangen werden, dass sie im Wesentlichen dem hier skizzierten Modell folgte. Der Sortimenterverlag, wie er von Friessem und zahlreichen anderen finanzkräftigen Firmen betrieben wurde, war im 17. Jahrhundert allerdings nur eines der möglichen Geschäftsmodelle. Daneben existierten verschiedene weitere Geschäftsmodelle, die hier an einigen Beispielen dargestellt werden sollen. Eine weitere Arbeit Boges aus dem Jahr 2001 beschäftigt sich mit der Offizin Haenlin, die 1610 durch Gregor Haenlin in Dillingen gegründet wurde.80 1617 siedelte Haenlin nach Ingolstadt über, wo er die Offizin bis zu seinem Tod im Jahr 1650 weiterführte. Danach übernahm sein Sohn Georg die Leitung des Geschäfts und führte die Offizin noch knapp zwei Jahrzehnte weiter, bevor er sie 1669 an Simon Kalb verkaufte. Anders als Friessem betätigten sich die Haenlins offenbar nicht als Verleger, sondern ausschließlich als Buchdrucker. Beim überwiegenden Teil ihrer Produktion handelt es sich um kleine Akzidenzdrucke, für die eine Auftragssituation wahrscheinlich ist, beispielsweise Disputationen der Ingolstädter Jesuitenuniversität, Periochen zu den Dramen des örtlichen Jesuitengymnasiums oder die vom Eichstädter Domkapitel herausgegebenen Hochstiftskalender.81 In seltenen Fällen wurde Gregor Haenlin auch als Auftragsdrucker für Verleger tätig, beispielsweise für den Ingolstädter Sortimenterverleger Georg Satorius oder für Wolfgang Endter in Nürnberg. Ob die Haenlins auch im Buchhandel tätig wurden, ist fraglich. Die von Boge in ihrer Untersuchung ausgewerteten Akten geben keinen Hinweis darauf. Allerdings kann Boge einige Haenlin-Drucke in den Sortimentskatalogen der Kölner Offizin Friessem nachweisen. Sie gelangten also auch in den überregionalen Handel, doch ist nicht zu klären, wie dieser überregionale Vertrieb organisiert wurde. Aus buchhandelsgeschichtlicher Perspektive ist die Offizin Haenlin vor allem auch ein Beleg für die im 17. Jahrhundert stärker verfestigte 80 81
Boge: Drucke der Offizin Haenlin. Konsequenterweise bezeichnen sich die Haenlins in den Drucken stets als ›Buchtrucker‹ oder ›Typographus‹, und im Impressum der Bücher tauchen stets Formulierungen auf, die lediglich auf eine Druckertätigkeit schließen lassen: ›getruckt von‹, ›ex typographeo‹ oder ›typis Gregori Haenlin‹.
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funktionale Ausdifferenzierung im Buchgewerbe. Ihr Beispiel zeigt, dass im 17. Jahrhundert der Betrieb einer reinen Druckerei, die ausschließlich im Auftrag von Verlegern oder privaten Auftraggebern tätig wurde, auch über mehrere Jahrzehnte hin möglich war, wobei allerdings nur kleinere Gewinnspannen möglich waren als bei Sortimenterverlegern wie Friessem. Eine Zwischenstellung zwischen dem Sortimenterverlag der Offizin Friessem und der reinen Auftragsdruckerei der Haenlins nimmt die von 1637 bis 1736 tätige Offizin Kühn in Ulm ein. Ihre Druck- und Verlagsproduktion wurde 1992 in einer von Elmar Schmitt und Bernhard Appenzeller zusammengestellten Bibliographie aufgearbeitet. 82 In der vorangestellten druck- und buchhandelsgeschichtlichen Einführung ist eine Fülle archivalischer Materialien aufgearbeitet, die auch allgemeine Hinweise auf den Buchhandel im 17. und 18. Jahrhundert geben. So lässt sich am Beispiel des Ulmer Verlagswesens der für den Aufbau eines Großsortiments in dieser Zeit vorherrschende Tauschhandel auf den Buchmessen nachvollziehen,83 und es lässt sich vermuten, dass die im 17. Jahrhundert in Ulm offenbar ständig schwelenden Auseinandersetzungen zwischen Druckern und Buchbindern um das Recht auf den Handel mit gebundenen Büchern auch in anderen Städten in ähnlicher Form stattgefunden haben. Die hier vorgestellten Untersuchung zu Kühn, Friessem und der Offizin Haenlin liefern zahlreiche Mosaiksteine, die sich in unser Bild des barocken Buchhandels einpassen lassen. Insgesamt bleibt das 17. Jahrhundert jedoch eine der am schlechtesten erforschten Epochen der Buchhandelsgeschichte. Hier ist die Forschung in jedem Fall auch auf ältere Untersuchungen angewiesen, beispielsweise auf Friedrich Oldenbourgs 1911 publizierte Monographie zur Nürnberger Drucker-, Verleger- und Buchhändlerdynastie Endter oder Hans Dumreses 1956 erschienene Untersuchung zum Sternverlag in Lüneburg.84 5.2 Bücherkataloge des 17. Jahrhunderts als buchhandelsgeschichtliche Quellen
Ein überaus wichtiger und in den letzten Jahren erneut in den Fokus der Forschung geratener Quellenbestand für die Buchhandelsgeschichte des 17. Jahrhunderts sind die zahlreichen gedruckt erschienenen Bücher82 83 84
Schmitt/Appenzeller: Kühn. Vgl. Schmitt/Appenzeller, S. 48. Vgl. Oldenbourg: Endter; Dumrese: Sternverlag.
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verzeichnisse und -kataloge. Auf einige frühe, vor dem 17. Jahrhundert entstandene Beispiele für diese Quellengattung wurde bereits hingewiesen. Die große Zeit der buchhändlerischen Kataloge fällt jedoch eindeutig in das 17. und 18. Jahrhundert: Hier sind an erster Stelle die Messkataloge zu nennen, die, auch nachdem ihr ›Erfinder‹ Willer ihren Druck aufgegeben hatte, über das gesamte 17. Jahrhundert hinweg sowohl in Leipzig als auch in Frankfurt halbjährlich erschienen. Trotz ihrer bereits angesprochenen Mängel stellen sie eine der zentralen Quellen für die Frage nach dem Buchangebot im 17. Jahrhundert dar. Neben den Messkatalogen sind aber vor allem die kleineren Kataloge einzelner Firmen von Interesse. Sie weisen formal und typologisch eine kaum überschaubare Vielfalt auf: Formal ist zu differenzieren zwischen den Katalogen in Plakatform, die vermutlich für den Aushang am Messestand oder im Buchladen gedacht waren, und den in Quart oder Oktav gedruckten Katalogheften, die auch als langlebigere Informations-, Vertriebs- und Werbemittel eingesetzt werden konnten. Inhaltlich ist zu unterschieden zwischen Verlagskatalogen, die lediglich die Produktion eines einzigen Verlags verzeichnen, und Sortimentsverzeichnissen von Buchhändlern, die ein aus verschiedenen Verlagen zusammengestelltes Bücherangebot präsentieren. Des Weiteren finden wir Spezialverzeichnisse wie Lagerkataloge, Neuheitenkataloge oder thematische Teilsortimentskataloge, daneben Kataloge für spezielle Anlässe wie die großen Messen in Frankfurt und Leipzig oder kleinere Märkte wie die Münchener Jakobidult und schließlich – etwa ab der Mitte des 17. Jahrhunderts – auch Auktionskataloge.85 Die Kataloge in Plakatform, die nur bis etwa 1630 nachweisbar sind, sind bereits seit den 1960er und 1970er Jahren durch die Arbeiten Günther Richters und Rolf Engelsings bibliographisch gut erschlossen und liegen zum Großteil als Faksimile reproduziert vor.86 Dass hier aber immer noch mit
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Eine Anfang der 1980er Jahre in der Wolfenbüttler Herzog-August-Bibliothek abgehaltene Konferenz zum Thema »Bücherkataloge als buchgeschichtliche Quellen« hat die Vielfalt der buchhändlerischen Kataloge deutlich gemacht und eine Reihe interessanter methodischer Ansätze zu ihrer Auswertung aufgezeigt. Vgl. Wittmann: Bücherkataloge als buchgeschichtliche Quellen. Vgl. Richter: Sammlung von Drucker-, Verleger- und Buchführerkatalogen; Richter: Verlegerplakate des XVI. und XVII. Jahrhunderts; Richter: Bibliographische Beiträge zur Geschichte buchhändlerischer Kataloge im 16. und 17. Jahrhundert; Richter: Buchhändlerische Kataloge vom 15. bis um die Mitte des 17. Jahrhunderts; Engelsing: Deutsche Verlegerplakate des 17. Jahrhunderts; Engelsing: Deutsche Bücherplakate des 17. Jahrhunderts.
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Neufunden zu rechnen ist, hat erst letztens Christian Coppens gezeigt, der 2003 auf vier bisher unbekannte Buchhandelsplakate hinweisen konnte.87 Auch bei den buchhändlerischen Katalogen in Heftform hat sich die bibliographische Lage inzwischen deutlich verbessert, seit Marie-Kristin Hauke im Anhang ihrer Erlanger Dissertation von 1996 etwa 1300 buchhändlerische Kataloge des 17. und 18. Jahrhunderts dokumentiert hat. 88 Zwar ist in jedem Fall mit Ergänzungen zu Haukes Verzeichnis zu rechnen, doch ist mit ihrer Arbeit ein solider Grundstein für weitere bibliographische Arbeiten zu den Buchhandelskatalogen der Frühen Neuzeit gelegt. In der Auswertung ihrer umfangreichen Materialsammlung konzentriert sich Hauke vor allem auf den werbenden Aspekt der Kataloge und stellt sie in den Bezugsrahmen der weiteren im 17. und 18. Jahrhundert verfügbaren Werbemittel: So werden nicht allein die Kataloge, sondern auch die Bücheranzeigen in der frühen periodischen Presse, die Beitexte im Buch selbst (Vorreden, Kaufaufrufe etc.), der Aushang von Buchplakaten und Titelblättern an Messeständen und Buchläden, Subskriptionslisten, Werbebriefe u. Ä. in ihrer Funktion als buchhändlerische Werbemittel dargestellt und analysiert. Sehr aufschlussreich sind dabei die Ergebnisse zum Aufkommen neuer Werbeformen gegen Ende des 17. Jahrhunderts, die Hauke unter anderem durch den Tauschhandel und die mit ihm einhergehende Tendenz zur Bildung großer Sortimentslager in Beziehung setzt. Nach Hauke sahen sich die Buchhändler in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts gezwungen, neue Wege zu finden, um ihr kaum noch überschaubares Buchangebot abzusetzen. So sind noch in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts einerseits messebezogene Werbemittel zu finden wie die offiziellen Messkataloge und Plakate, die für den Aushang auf der Messe bestimmt waren, andererseits Sortimentskataloge einzelner Buchhandlungen. Doch nach dem Dreißigjährigen Krieg setzte Hauke zufolge eine stärkere Differenzierung der Katalogformen ein: Beispielsweise wurden nun mit Fachverzeichnissen zu medizinischen, juristischen oder theologischen Werken bestimmte Teile eines Sortiments beworben und damit gezielt ein wissenschaftliches Fachpublikum angesprochen. Mit Messsortimentskatalogen, in denen die Händler die auf den Messen erstandenen Neuigkeiten ihres eigenen Sortiments anzeigten, wurde das wachsende Bedürfnis nach aktueller Information über das verfügbare Literaturange87 88
Vgl. Coppens: Five unrecorded German Booksellers’ Catalogues. Neben den vier Plakaten enthält der von Coppens beschriebene Sammelband einen weiteren, in Heftform gestalteten, Katalog. Hauke: Buchwerbung.
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bot befriedigt, und mit Lokalmesskatalogen konnte sich das Publikum vorab über das Buchangebot auf einer kleineren Messe oder einem Jahrmarkt informieren. Weiterhin kann Hauke zeigen, dass etwa zeitgleich die Buchhändler verstärkt damit begannen, durch Anzeigen in der periodisch erscheinenden Presse für ihr Angebot zu werben, und damit eine weitere Möglichkeit erschlossen, die Kunden über ihr Angebot zu informieren. Haukes Untersuchung zeichnet im Großen die Entwicklungslinien des Buchkatalogs und anderer Werbemittel des Buchhandels im 17. und 18. Jahrhundert nach. Detailuntersuchungen zu einzelnen Katalogen, in denen das in ihnen verzeichnete Buchangebot genauer analysiert wird, fallen bei Haukes methodischem Ansatz aus und wären bei der Menge des von ihr zusammengetragenen Materials auch allenfalls stichprobenartig möglich. Dass aber auch derartige Detailuntersuchung überaus interessante Ergebnisse liefern können, zeigt die bereits angesprochene Arbeit Boges zum Sortimenterverleger Friessem, in der die verschiedenen Kataloge der Offizin als zentrale Quelle ausgewertet werden konnten. Als weitere Beispiele für die Analyse einzelner Kataloge sollen hier noch zwei weitere Arbeiten vorgestellt werden: ein 1997 erschienener Aufsatz Franz M. Eybls 89 und Christiane Duschls Diplomarbeit über zwei Kataloge des Stuttgarter Buchhändlers Gottfried Zubrodt.90 Eybl wertet in seinem Aufsatz zum österreichischen Buchhandel unter anderem ein gedrucktes Sortimentsverzeichnis des Salzburger Buchhändlers Johann Baptist Mayr aus, das dieser zum Linzer Ostermarkt im Jahr 1664 publizierte. Die Tatsache, dass der in Salzburg ansässige Mayr sein Sortiment, beziehungsweise Teile davon, auf dem Linzer Ostermarkt vertrieb, zeigt deutlich, dass der Markthandel im 17. Jahrhundert immer noch ein wichtiger Vertriebswege war. Der Besuch regionaler Messen und Jahrmärkte ist beispielsweise auch für die in Nürnberg ansässigen Endter nachweisbar, die ihre Waren unter anderem auf der Münchener Jakobidult und dem Ingolstädter Nikolaimarkt anboten. 91 Gerade in ländlicheren Gegenden war der Markthandel als Vertriebsform für die letzte Handelsstufe bis ins 18. Jahrhundert hinein von Bedeutung. Weiterhin kann Eybl in seiner Analyse zeigen, dass Mayr in Linz ein thematisch aufgefächertes Buchangebot zur Verfügung stellte und dass es – über alle konfessionellen und politischen Grenzen hinweg – auch in der 89 90 91
Eybl: Kleinräumigkeit und Internationalität. Duschl: Zubrodts Catalogus Librorum. Vgl. Oldenbourg: Endter, S. 77.
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österreichischen Provinz kein größeres Problem darstellte, Bücher aus dem gesamten deutschen Sprachraum zu beziehen. Mayr hatte unter anderem Bücher aus Bremen, Hamburg, Braunschweig, Magdeburg, Breslau, Leipzig, Dresden, Wittenberg, Köln, Frankfurt am Main, Frankfurt an der Oder, Zwickau, Straßburg, Basel, Ulm, Augsburg und Nürnberg im Angebot. Es waren also keinesfalls nur Bücher aus den katholischen, sondern auch aus den protestantischen Reichsteilen, die Mayr in Linz verkaufte. Eybls Analyse zeigt damit sehr eindrucksvoll, wie leistungsfähig die Literaturversorgung im 17. Jahrhundert war, und dass auch in der österreichischen Provinz eine gute Anbindung an den gesamten deutschsprachigen Buchmarkt bestand. Duschls 2002 entstandene Diplomarbeit widmet sich zwei Messsortimentskatalogen des Stuttgarter Buchhändlers Zubrodt. In ihnen sind jene Bücher zusammengestellt, die Zubrodt auf der Frankfurter Fastenbzw. Herbstmesse des Jahres 1677 erworben hatte und die in seiner Stuttgarter Sortimentsbuchhandlung käuflich zu erwerben waren. Anders als bei Mayrs Katalog für den Linzer Ostermarkt handelt es sich also nicht um eine Vorankündigung, welche Werke auf einer zukünftigen Messe (bzw. einem Jahrmarkt) angeboten werden sollten, sondern um eine nach den Frankfurter Messen entstandene Novitätenliste, die vermutlich vorwiegend der Information der lokalen Stuttgarter Kundschaft Zubrodts diente. In ihrer Untersuchung kann Duschl in akribischer bibliographischer Kleinarbeit etwa 80 % der insgesamt über 800 in Zubrodts Katalogen verzeichneten Werke in der entsprechenden Ausgabe nachweisen. Ihrer Auswertung zufolge weist Zubrodts Angebot eine für das 17. Jahrhundert durchaus typische Zusammensetzung auf: beim größten Teil handelt es sich um lateinische Theologica und volkssprachliche Erbauungsliteratur; dem Stuttgarter Publikum entsprechend sind hierbei überwiegend protestantische Schriftsteller vertreten. Daneben bot Zubrodt juristische, medizinische, historische, politische, geographische sowie einige wenige belletristische Werke an. Auch einige italienische und französische Titel finden sich in seinem Angebot. Bemerkenswert ist die von Duschl erstellte Übersicht zu den Verlegern und Verlagsorten der in Zubrodts Katalogen angebotenen Bücher. Zwar überwiegen Drucke, die in den Messestädten Frankfurt und Leipzig erschienen sind, doch darüber hinaus finden sich Ausgaben aus dem gesamten deutschsprachigen Raum. Bücher aus Hamburg, Kiel oder Rostock waren in Zubrodts Stuttgarter Sortimentsbuchhandlung ebenso er-
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hältlich wie Ausgaben aus Basel, Nürnberg oder Regensburg.92 Sehr aufschlussreich ist auch Duschls Vergleich des in Zubrodts Katalogen verzeichneten Sortiments mit dem in den Messkatalogen verzeichneten Angebot. Leider legt Duschl dabei nicht die Messkataloge selbst zugrunde, sondern Gustav Schwetschkes Codex nundinarius,93 eine im 19. Jahrhundert entstandene kumulative Auswertung der Messkataloge. Zwar kann sie daher keinen Abgleich einzelner Titel vornehmen, doch bereits in der summarischen Auswertung zeigt sich, dass Zubrodt offenbar mehr Titel in seinen Katalogen verzeichnete, als die Messkataloge selbst. Weiterhin erscheinen in Zubrodts Katalogen Werke aus zahlreichen Druckorten, die in den Messkatalogen bzw. Schwetschkes aus ihnen kumulierten Codex nundinarius nicht verzeichnet sind. Duschls Analysen zeigen damit ein weiteres Mal, wie unzuverlässig die Messkataloge als bibliographische Quelle sind. Die hier genannten Arbeiten zeigen deutlich das Potential, das gedruckte Bücherkataloge als Quellen für die Erforschung der Buchhandelsgeschichte besitzen. Gerade die Detailanalyse einzelner Kataloge, die Untersuchung der inhaltlichen Zusammensetzung des in ihnen verzeichneten Sortiments und der Herkunft der angebotenen Werke, erlauben neue Einblicke in die Organisation des Buchmarkts im 17. Jahrhundert. Auch hier macht sich die in den letzten Jahren verbesserte bibliographische Erschließung der Druckwerke des 17. Jahrhunderts positiv bemerkbar. Sie eröffnet neue Möglichkeiten, die in den Katalogen nachgewiesenen Titel zu identifizieren und so beispielsweise die geographische Zusammensetzung buchhändlerischer Sortimente genauer zu bestimmen oder die überregionale Verbreitung einzelner Werke besser nachzuvollziehen.
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Dabei ist allerdings zu bedenken, dass vermutlich nicht alle der in den Katalogen genannten Verleger selbst auf der Frankfurter Messe anwesend waren. Möglicherweise wurden die Bücher durch Großhändler nach Frankfurt transportiert. Schwetschke: Codex nundinarius.
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6 Buchhandelsgeschichtliche Forschung zwischen Fortschritt und Desiderat Der vorangegangene Überblick zu neueren Arbeiten im Bereich der Buchhandelsgeschichte zeigt, dass die eingangs zitierten Urteile zum Forschungsstand zumindest in Teilen zu revidieren sind. In den letzten zwei Jahrzehnten sind zahlreiche wichtige Beiträge zu verschiedenen buchhandelsgeschichtlichen Einzelfragen erschienen, die unser Bild vom Buchhandel des 15. bis 17. Jahrhunderts um neue Facetten bereichern konnten. Mit verschiedenen methodischen Ansätzen wurden dabei unter anderem archivalische Quellen wie Geschäftsaufzeichnungen oder Briefe, Exemplarspezifika wie die Verlegereinbände Schöffers, die Programme zahlreicher Verlage oder die in gedruckten Bücherkatalogen dokumentierten Sortimente einzelner Buchhandlungen ausgewertet. Dieser methodische Pluralismus scheint gerade im Bereich der Buchhandelshistoriographie unerlässlich, da nur ein flexibler methodischer Zugang ermöglicht, die unterschiedlichen Quellenbestände im Hinblick auf ihre buchhandelsgeschichtliche Aussagekraft hin zu interpretieren. Insgesamt bleibt allerdings festzuhalten, dass gerade die Erforschung des Buchhandels im engeren Sinne, des verbreitenden Buchhandels, immer noch hinter dem Verlagsbuchhandel zurücksteht. Wie anfangs beschrieben befördert gerade die im letzten Jahrzehnt drastisch verbesserte bibliographische Erschließung vor allem eine verlagsgeschichtlich orientierte Forschung. Die Erschließung und Auswertung archivalischer Quellen zum Buchhandel hat deutlich geringere Fortschritte gemacht, so dass hier noch immer zahlreiche Ansatzpunkte für buchhandelsgeschichtliche Fragestellungen bleiben. Das größte Desiderat bleibt allerdings weiterhin ein aktueller Ersatz der Kapp-Goldfriedrich’schen Geschichte des deutschen Buchhandels. Dieser müsste nicht allein den aktuellen Forschungsstand zusammenfassen, sondern auch sowohl die altbekannten als auch die seit Kapps und Goldfriedrichs Arbeit neu erschlossenen Quellen zur Buchhandelsgeschichte systematisch darstellen und auswerten. Nur so könnte der Buchhandel in seiner kaum zu unterschätzenden Bedeutung für die kulturelle und intellektuelle Entwicklung der Frühen Neuzeit hinreichend gewürdigt werden.
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7 Literaturverzeichnis 7.1 Gedruckte, edierte und reproduzierte Quellen (Auswahl) Die Amerbachkorrespondenz. Bearb. u. hrsg. v. Alfred Hartmann im Auftrag der Kommission für die öffentliche Bibliothek der Universität Basel. Bd. 1: Die Briefe aus der Zeit Johann Amerbachs. 1481–1513. Mit Register und sechs Handschriftenproben. Basel: Verlag der Universitätsbibliothek 1942. Das Anschreibebuch des Peter Diethelm. In: Mühlemann, Simone: Ländlicher Buchhandel um 1700. Frauenfeld: Verlag des Historischen Vereins des Kantons Thurgau 1997 (Thurgauer Beiträge zur Geschichte. 113), S. 87–110. Becher, Johann Joachim: Politischer Discurs von den eigentlichen Ursachen deß Auf- und Abnehmens der Städt, Länder und Republicken, in specie, wie ein Land Volckreich und Nahrhaft zu machen […]. Frankfurt a. M.: Zunner 1668. [Faksimile-Ausgabe. Düsseldorf: Verl. Wirtschaft und Finanzen 1990 (Klassiker der Nationalökonomie).] Beier, Adrian: Kurtzer Bericht von Der Nützlichen und Fürtrefflichen Buch-Handlung und Deroselben Privilegien. Jena: Meyer 1690. [Faksimile in: Wittmann, Reinhard (Hrsg.): Das Buchwesen im Barock. München: Kraus 1981 (Quellen zur Geschichte des Buchwesens. 1), S. 333–387.] Briefbuch der Koberger. In: Hase, Oscar: Die Koberger. Eine Darstellung des buchhändlerischen Geschäftsbetriebs in der Zeit des Überganges vom Mittelalter zur Neuzeit. 2. Aufl. Leipzig: Breitkopf & Härtel 1885, S. I–CLIV. Buchwald, Georg: Stadtschreiber M. Stephan Roth in Zwickau in seiner literarischbuchhändlerischen Bedeutung für die Reformationszeit. In: AGDB 16 (1893), S. 6–246. Burger, Konrad (Hrsg.): Buchhändleranzeigen des 15. Jahrhunderts. In getreuer Nachbildung. Leipzig: Hiersemann 1907. Conway, Melissa: The Diario of the Printing Press of San Jacopo di Ripoli. 1476–1484. Commentary and Transcription. Firenze: Olschki 1999 (Storia della tipografia del commercio librario. 4). The Correspondance of Johann Amerbach. Early Printing in its Social Context. Selected, translated, with commentary by Barbara C. Halporn. Ann Arbor: University of Michigan Press 2000 (Recentiores. Later Latin texts and contexts). Diefenbacher, Michael/Fischer-Pache, Wiltrud (Hrsg.): Das Nürnberger Buchgewerbe. Buch- und Zeitungsdrucker, Verleger und Druckhändler vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Bearb. v. Manfred H. Grieb. Mit einem Beitrag v. Peter Fleischmann. Aus den Archiven zusammengestellt v. Lore Sprohan-Krempel (†) und Theodor Wohnhaas. Nürnberg: Selbstverlag des Stadtarchivs Nürnberg 2003 (Quellen und Forschungen zur Geschichte und Kultur der Stadt Nürnberg. 31). Engelsing, Rolf: Deutsche Bücherplakate des 17. Jahrhunderts. Wiesbaden: Pressler 1971. Estienne, Henri: Francofordiense Emporium, Der Frankfurter Markt, The Frankfort fair, La Foire de Francfort. Jubiläumsausgabe anläßlich der 20. Frankfurter Buchmesse. Frankfurt a. M.: Frankfurter Buchmesse 1968. Fabian, Bernhard (Hrsg.): Die Meßkataloge Georg Willers. 4 Bde. Faksimiledrucke. Hildesheim/New York: Olms 1972–1978 (Die Meßkataloge des sechzehnten Jahrhunderts. 1–4). Fabian, Bernhard (Hrsg.): Die Meßkataloge des sechzehnten, siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts. Microfiche-Edition. Hildesheim/New York: Olms 1977–1986.
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MONIKA ESTERMANN
Buchhandel, Buchhandelsgeschichte und Verlagsgeschichtsschreibung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Ein Überblick über Quellenlage und Forschungsliteratur 1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 2 3 4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 5 6 7 8 8.1 8.2 8.3 8.4
Einleitung Bibliographien Gesamtdarstellungen Gedruckte Quellen Archive Briefe 18. Jahrhundert 19. Jahrhundert 20. Jahrhundert Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs Fallbeispiel Eugen Diederichs Verlag Wissenschaftliche Verlage Drittes Reich Bundesrepublik und DDR Langzeitgeschichten Andere Sparten Desiderate Literaturverzeichnis Quellen Bibliographien Firmenschriften Forschungsliteratur
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Monika Estermann
1 Einleitung Die Forschungssituation der buchhandelsgeschichtlichen Literatur zum 18. bis 20. Jahrhundert unterscheidet sich deutlich von der der vorhergehenden Jahrhunderte, die Oliver Duntze behandelte. War die Darstellung dort wegen der Quellenlage vor allem auf die Produktion von Büchern konzentriert, so öffnet sich nach 1700 langsam der Blick auf ein größeres Panorama, das auch die Distribution umfasst. Gegenüber dem umfassenden Literaturbericht von Horst Meyer aus dem Jahr 1987 über die buchhandelsgeschichtliche Forschung zum 18. bis 20. Jahrhundert oder Reinhard Wittmanns Überblick von 1981 über die Erforschung des Literarischen Lebens im 19. Jahrhundert − gemeint war der Zeitabschnitt von 1830 bis 1880 − ist die Zahl der relevanten wissenschaftlichen Titel auf diesem Gebiet sprunghaft angestiegen. Wittmanns Beitrag stand noch am Beginn der Thematisierung der Buchhandelsgeschichte, die zu der Zeit nur als Teil der Germanistik in der Funktion einer Hilfswissenschaft gesehen wurde. Er wies auf die Defizite hin, beklagte vor allem die fehlenden bibliographischen Grundlagen und Detailstudien zu den Themenbereichen Autor, Publikum und eben − Buchhandel. Hier fehlten speziell die Informationen zu einzelnen Verlagen: »Nicht wenige für das literarische Leben ihrer Zeit höchst bedeutsame Firmen, ja ganze Kommunikationssysteme, bleiben auf diese Weise im Quellendunkel.«1 Meyer dagegen stellte losgelöst von der Verengung der Buchhandelsgeschichtsschreibung auf ihren Nutzen für die Literaturwissenschaft die gesamte Breite der damaligen Forschung vor, kam aber bei der Benennung der Fehlstellen zu den prinzipiell gleichen Ergebnissen.2 Konnte Meyer noch die wichtigste Literatur seit 1500 weitgehend vollständig vorstellen, so ist die Zahl der Titel durch die Emanzipation der Buchwissenschaft aus ihren literaturwissenschaftlichen Anfängen und die Intensivierung der Forschung zur Buchhandelsgeschichte im Rahmen der neu entstandenen Disziplin rapide angestiegen. Der vorliegende Beitrag versucht deshalb die Forschungsschwerpunkte aufzuzeigen, die wichtigsten Monographien und Aufsätze in diesem Sinne zu gewichten sowie die gerade auf diesem Gebiet ständig nachwachsende vorwissenschaftliche Literatur wie Firmen- und Gelegenheitsschriften beiseite zu lassen. Sie zu erfassen ist die Aufgabe der bibliographischen Berichterstattung. 1 2
Wittmann: Die bibliographische Situation, S. 187. Meyer: Buchhandel, S. 199–205.
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1.1 Bibliographien
Die bibliographische Berichterstattung befindet sich zur Zeit in einem Übergangsstadium. Seit 1976 enthielten die Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte kontinuierlich einen bibliographischen Anhang, der sich ab 1982 als Bibliographie der Buch- und Bibliotheksgeschichte (BBB) verselbständigte, die mit dem Jahrgang 22/23 im Jahr 2003 ihr Erscheinen einstellte.3 Eine retrospektive Bibliographie liegt mit der Wolfenbütteler Bibliographie zur Geschichte des Buchwesens im deutschen Sprachgebiet (WBB) seit 1999 abgeschlossen vor. Sie erfasst die selbstständig zwischen 1840 und 1980 erschienene Literatur in einer tief gestaffelten, aber relativ komplizierten Systematik, in der der Geschichte des Buchhandels ein eigener Band zukommt.4 In jüngster Zeit ist ein neues Forum entstanden, das die vorhandenen gedruckten Bibliographien digitalisiert und im Verbund mit der Bibliographie des Münchner Bucharchivs seit Mai 2007 als Internetportal b2i anbietet (www.b2i.de)5. 1.2 Gesamtdarstellungen
Überblickshafte und damit oberflächliche kursorische Darstellungen zur Geschichte des Buchhandels gibt es zahlreiche, z. B. von Christian Uhlig in Handbuch Lesen von 19996. Eine fundierte und umfassende Darstellung blieb seit der Geschichte des deutschen Buchhandels von Friedrich Kapp und Johann Goldfriedrich,7 erschienen zwischen 1886 und 1913, ein Desiderat. Die Historische Kommission des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels hat bereits 1983 mit der Diskussion eines Nachfolgeprojekts begonnen. Nach langer Vorbereitung kamen die ersten Bände der Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert 2001 und 2003 heraus.8 Ihre Herausgeber sind Georg Jäger, der zusammen mit Dieter Langewiesche und Wolfram Siemann die Struktur der Bände entwickelte, die Ernst Fischer, Stephan Füssel, Siegfried Lokatis sowie Reinhard Wittmann weitgehend für die anderen Bände übernommen haben. Die Bände folgen in ihrer Gliederung den politischen Einschnitten, Kaiserreich, Weimarer Republik, Drittes Reich, DDR und eventuell Bundesrepublik. Sie sind 3 4 5 6 7 8
Meyer: Bibliographie der Buch- und Bibliotheksgeschichte. Weyrauch: Wolfenbütteler Bibliographie zur Geschichte des Buchwesens, Bd. 4. Vgl. den Beitrag von Capellaro/Duntze in Bd. 2. Uhlig: Buchhandel. Vgl. dazu: Estermann: Buchhandelsgeschichte. Vgl. den Artikel über die Historische Kommission in diesem Band.
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Monika Estermann
handbuchartig angelegt und geben den Kenntnisstand zu einzelnen Sparten in der Chronologie der Darstellung wider, verzichten aber auf eine kritische Untersuchung. 1991 veröffentlichte Wittmann seinen einbändigen Überblick Geschichte des deutschen Buchhandels auf der Basis seiner Münchener Vorlesungen. Er behandelt die Zeit von Gutenberg bis zur Gegenwart aus einer weitgehend literaturwissenschaftlichen Perspektive9. Mark Lehmstedt veröffentlichte im Jahr 2000 diese Buchhandelsgeschichte in digitalisierter Form zusammen mit dem ›Kapp-Goldfriedrich‹, Friedrich Schulzes Deutsche Buchhändler und die geistigen Strömungen der letzten hundert Jahre von 192510 und dem Lexikon von Rudolf Schmidt Deutsche Buchhändler, deutsche Buchdrucker 11 von 1902 bis 1908. Er bereicherte dies mit einer Sammlung von rund 1 500 Abbildungen. Diese CD-ROM erschließt den wegen seiner Anlage schwer zugänglichen ›Kapp-Goldfriedrich‹ und die Fülle der darin verarbeiteten archivalischen Quellen, bei Schulze und Schmidt jedoch zementiert sie den oft veralteten Kenntnisstand. Parallel dazu entstand die von Norbert Bachleitner, Franz M. Eybl und Ernst Fischer verfasste Geschichte des Buchhandels in Österreich.12 Diese einbändige Geschichte aus dem Jahr 2000 erschien als siebter Band der Reihe europäischer Buchhandelsgeschichten, von denen u. a. die über die Niederlande, Ungarn, Russland und Italien vorliegen. Die österreichische Buchhandelsgeschichte hat – im Unterschied zu den meisten anderen dieser Reihe – ebenso wie die französische Histoire de l’édition française,13 die bereits 1982 abgeschlossen war, oder die Cambridge History of the Book in Britain,14 ihren Ursprung in der sozialgeschichtlichen Wende. Sie erreichte Deutschland erst in den späten 1970er Jahren, erwies sich aber für den Emanzipationsprozess des alten ›Buchwesens‹ zur Eigenständigkeit als außerordentlich hilfreich. – In der Reihe Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur etwa enthalten die jeweiligen Epochenbände ein einleitendes Kapitel zum Buchmarkt oder der Literaturvermittlung. Im Band Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit von 2004 behandelt Jan-Dirk Müller die Formen literarischer Kommunikation,15 wobei eine seiner Quellen der erste Band der Geschichte des deutschen Buchhandels von Friedrich Kapp war, während im 9 10 11 12 13 14 15
Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels. Schulze: Der deutsche Buchhandel. Schmidt: Deutsche Buchhändler, deutsche Buchdrucker. Bachleitner/Eybl/Fischer: Geschichte des Buchhandels in Österreich. Chartier/Martin: Histoire de l’édition française. McKenzie/McKittertic/Willison: Cambridge History of the book in Britain. Müller: Formen literarischer Kommunikation.
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Band zum 17. Jahrhundert von 1999 das Kapitel von Peter Cersowsky den alten Namen »Buchwesen« trägt, sich weitgehend auf einige der Titel von Wittmanns Reprintsausgaben der Quellen zur Geschichte des Buchwesens stützt16. Im Band über die Aufklärung von 1984 legt Wolfgang von Ungern-Sternberg seinem Kapitel über Schriftsteller und literarischer Markt nicht nur Band drei der Geschichte des deutschen Buchhandels von Goldfriedrich zugrunde, sondern die inzwischen angewachsene Forschungsliteratur17, was bereits ein Indikator für die Ungleichgewichtigkeit des wissenschaftlichen Interesses ist. Füssel bietet im Band über Naturalismus und Jahrhundertwende von 2000 den verengten Blickwinkel auf das Autor-VerlegerVerhältnis mit einer schmalen Quellenbasis18, während Hannes Schwenger 1996 für die Genese des Buchmarkts der Nachkriegszeit und der Bundesrepublik Deutschland19 Quellenerschließungen wie z. B. Ernst Umlauffs Der Wiederaufbau des deutschen Buchhandels20 verwenden konnte. 1.3 Gedruckte Quellen
In der Traditionslinie von Hans Widmanns Der deutsche Buchhandel in Urkunden und Quellen von 196421, der erstmals die wichtigsten Überlieferungszeugnisse vom Beginn des Buchdrucks bis weit ins 20. Jahrhundert zugänglich gemacht hatte, legte Wittmann 1981 eine elfbändige Sammlung von Schriften zum Buchhandel des 18. Jahrhunderts im Reprint vor. Diese Quellen, meist kaum auffindbare Denkschriften oder Pasquillen, hatten die Schwerpunktthemen Zensur, Buchmarkt oder Bibliothekswesen, auch wurde der meist stiefmütterlich behandelte »Buchmarkt in der Habsburger Monarchie« bedacht.22 Als weitere Reprints der Reihe Quellen des deutschen Buchwesens publizierte Wittmann das zweibändige Neue Archiv für Gelehrte, Buchhändler und Antiquare von 1795 sowie die Berichte der allgemeinen Buchhandlung der Gelehrten von 1781 bis 1784.23 Fischer veröffentlichte 1986 weitere Quellen, konzentrierte sich aber auf den Buchmarkt der Goethezeit im 16 17 18 19 20 21 22 23
Cersowsky: Buchwesen. Ungern-Sternberg: Schriftsteller und literarischer Markt. Füssel: Das Autor-Verleger-Verhältnis. Schwenger: Buchmarkt und literarische Öffentlichkeit. Umlauff: Der Wiederaufbau. Widmann: Der deutsche Buchhandel in Urkunden und Quellen. Wittmann: Quellen zur Geschichte des Buchwesens. Wittmann: Neues Archiv für Gelehrte, Buchhändler und Antiquare. – Wittmann: Berichte der allgemeinen Buchhandelung der Gelehrten.
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weitesten Sinne. Seine Schwerpunkte waren die Monopolierung des Leipziger Buchhandels, der ›Reichsbuchhandel‹ sowie die Reformversuche im frühen 19. Jahrhundert bis zur Gründung des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler 1825.24 Damit erhielt die Beschäftigung mit der Buchhandelsgeschichte dieses Zeitabschnitts erstmals seit den Tagen Goldfriedrichs wieder ein Fundament für die Darstellung der Selbstreflexionen. 1.4 Archive
Neben den gedruckten Quellen haben die im Internet zugänglichen Archivalien inzwischen große Bedeutung gewonnen. In Leipzig, dem einstigen Zentralplatz des deutschen Buchhandels, finden sich trotz der Kriegsverluste im Deutschen Buch- und Schriftmuseum sowie im Sächsischen Staatsarchiv zahlreiche buchhandelsgeschichtlich relevante Archivalien. Lange Zeit waren die Materialien aus dem Archiv des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels schwer zugänglich oder galten aus taktischen Gründen als verschollen. Das vollständig erhaltene, inzwischen im Besitz des Buch- und Schriftmuseums in der Deutschen Nationalbibliothek buchhändlerische Archiv, enthält eine komplette Sammlung von Geschäftsrundschreiben des 18. und 19. Jahrhunderts. Diese Circulare sind für Firmengeschichten von großer Bedeutung. Sie sind inzwischen erschlossen und zugänglich unter: http://bermudix.ddb.de/dbsm/cgi-bin/ gr.pl. Das Staatsarchiv in Leipzig, das zu DDR-Zeiten westdeutschen Benutzern gegenüber eher restriktiv war, hat inzwischen die Findbücher zum Bestand des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler zu Leipzig auf CD-ROM digitalisiert25 und weitere Verlagsarchive zugänglich gemacht, wie etwa das von Brockhaus, das noch in den 1980er Jahren als verloren galt.26 Durch das Projekt der Historischen Kommission, die Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert bearbeiten zu lassen, wurde die Beschäftigung mit buchhandelsgeschichtlichen Themen insgesamt intensiviert; sie erfuhren eine erhöhte Aufmerksamkeit. Auf Herbert G. Göpfert ging die Anregung zurück, verschiedene Archivtypen, Staatsarchive oder Stadt- und Landesarchive nach buchhandels- oder verlagsgeschichtlichen Quellen zu durchforsten. Aus bescheidenen Anfängen ent24 25 26
Fischer: Der Buchmarkt der Goethezeit. Findbücher Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig. Vgl. Meyer: Buchhandel, S. 204.
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stand das heute im Deutschen Buch- und Schriftmuseum in Leipzig angesiedelte Inventar archivalischer Quellen zur Geschichte des deutschen Buchhandels und Verlagswesens im 19. und 20. Jahrhundert. Auch dessen Ergebnisse sind inzwischen im Internet zugänglich: http://www.d-nb.de/Sammlungen/dbsm/ kataloge/buchh_quellen.htm. An anderen Stellen sind die Sammlungen von buchhandelsgeschichtlich wichtigen Archivbeständen ebenfalls angewachsen, wie etwa im Deutschen Literaturarchiv in Marbach/N.27 Seit der Übernahme des umfangreichen Cotta Archivs als Stiftung der Stuttgarter Zeitung 1961 werden hier nicht nur literarische Nachläse in steigender Anzahl aufbewahrt, sondern auch »selbständige Einzelarchive von Verlagen, Zeitschriften, Redaktionen und literarischen Institutionen«28. So haben z. B. die Nachlässe von S. Fischer, Eugen Diederichs, Langen-Müller, Claassen-Goverts, Luchterhand oder Reinhard Piper u. a. in Marbach Aufnahme gefunden. Das Verzeichnis von Ingrid Kussmaul in der erweiterten Auflage von 1999 gibt hinreichend darüber Auskunft. In Marbach wurden auch häufig Ausstellungen zu Gründungsjubiläen einzelner Verlage gezeigt, etwa 1985 zu S. Fischer.29 Zu solchen Anlässen erscheinen regelmäßig handbuchartige Ausstellungskataloge, eine besondere Erschließungsform auf höherer Stufe als die Repertorien. Zu den Publikationen aus den Beständen des Literaturarchivs gehört auch die Reihe der Marbacher Magazine, die sich z. T. einzelnen Verlagen widmen, wie etwa der von Hans-Albert Walter bearbeitete Katalog Fritz H. Landshoff und der Querido Verlag 1933–1950.30 1992 publizierte z. B. Karl-Heinz Fallbacher in dieser Reihe den Katalog Taschenbücher im 19. Jahrhundert 31, der u. a. die Frühgeschichte des Bibliographischen Instituts (Joseph Meyer) und von Anton Philipp Reclam enthält. Auch diese Quellen sind über das Internet abfragbar: http:// www.dla-marbach.de/opac_kallias/index.html. Nachlässe insgesamt sind über das Handbuch der Nachlässe in deutschen Bibliotheken von Ludwig Denecke und Thilo Brandis zu ermitteln. Dies gibt z. B. Auskunft über den Verbleib des Nachlasses von Korfiz Holm (1872–1942), dem langjährigen Geschäftsführer des Langen Verlags in München; er wird in der Staatsbibliothek München aufbewahrt.32 Diese Art von Informatio27 28 29 30 31 32
Vgl. dazu den Beitrag von Bendt in Bd. 2 . Kussmaul: Die Nachlässe und Sammlungen, Vorwort S. XI Pfäfflin/Kussmaul: S. Fischer, Verlag. Walter: Fritz H. Landshoff und der Querido Verlag. Fallbacher: Taschenbücher im 19. Jahrhundert. Denecke/Brandis: Handbuch der Nachlässe, S. 161.
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nen sind heute abrufbar unter: http://www.bundesarchiv.de/zdn/. Unter dieser Adresse sind auch weitere Archive zu erreichen wie das Document Center in Berlin. Der Umgang mit Verlagsarchivalien in öffentlichem oder privatem Besitz hat sich in den vergangenen 20 Jahren insgesamt grundlegend verändert, da ihre Bedeutung eine andere Bewertung erhalten hat. Nicht nur die Erschließung und Zugänglichkeit öffentlicher Archive hat deutlich zugenommen, auch private Archive werden nicht mehr als ein Arkanum betrachtet, das es zu schützen gilt. Ältere Verlage mit großen Archivbeständen haben sich geöffnet, wie F. A. Brockhaus, Bertelsmann oder Springer. Zur ›Wiederentdeckung‹ des Springer-Archivs veröffentlichte Michael Davidis33 1985 den Katalog Wissenschaft und Buchhandel mit Briefen und Dokumenten, von Autoren wie Ferdinand Sauerbruch, Rudolf Diesel oder Max Planck. Auch das Archiv des Verlags von Walter de Gruyter, in den durch Zukauf Vorgängerfirmen wie Georg Joachim Göschen, J. Guttentag, Georg Andreas Reimer, Karl J. Trübner sowie Veit & Comp. mit ihren Archiven übergegangen waren, erlebte 1980 eine Renaissance durch eine Ausstellung in der Universitätsbibliothek Berlin. Der Katalog Aus dem Archiv des Verlages Walter de Gruyter 34 zeigte ebenfalls Briefe und Dokumente, so Reimers Briefkopierbücher, Briefe u. a. von August Wilhelm Schlegel, Ludwig Tieck, Königin Luise von Preußen, Wilhelm Grimm, Karl Lachmann, Max Planck, Theodor Heuß oder Martin Heidegger. Durch die zunehmende wissenschaftliche Beschäftigung mit der jüngeren Buchhandelsgeschichte stieg auch das Bewusstsein des Quellenwerts der Archive. Lange Zeit galten die Verzeichnisse der Produktion eines Verlags als einzige Quelle für seine Geschichte analog zu den Werkverzeichnissen literarischer Autoren. An ihnen ließ sich das Profil und die öffentliche Wirkung eines Unternehmens wie die eines Schriftstellers deutlich ablesen. Bei der Positionierung der Verlagsgeschichte als Teil der Literaturgeschichte war die jeweilige Verkoppelung aussagekräftig, da auf diese Weise auch die öffentliche Bedeutung des Autors beschrieben wurde. Durch die Loslösung vom Bezugsfeld der literarischen Wertung fand die neue Buchhandelsgeschichte ihren Ort in der gesellschaftlichen Bedeutung, d. h. sie wurde zum Objekt der Historiker verschiedenster Richtung. Dadurch veränderten sich auch die Fragestellungen.
33 34
Davidis: Wissenschaft und Buchhandel. Fouquet-Plümacher/Wolter: Aus dem Archiv des Verlages Walter de Gruyter.
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1970 z. B. publizierte Hilde Claassen, die Witwe des Verlegers Eugen Claassen, eine Auswahl von Briefen ihres Mannes: In Büchern denken.35 Die Edition glich eher einem Denkmal. Sie enthielt Briefe an Autoren in alphabetischer Reihenfolge, Texte von Claassen selbst und die Grabrede auf ihn von Ernst Schnabel. Die Dissertation von Anne-Margret Wallrath-Janssen36 z. B. über den Verlag Henry Goverts (und Claassen) im Dritten Reich stützte sich erstmals auf die Kenntnis des gesamten (soweit erhaltenen) und in 140 Kästen aufbewahrten Verlagsarchivs in Marbach. Sie zeigte ein differenzierteres Bild der übertriebenen Vorsichtsmaßnahmen, ängstlichen und letztlich unproduktiven Anpassungsstrategien an das NS-Regime. Das Beispiel verdeutlicht bereits eine der charakteristischen Tendenzen der Entwicklung in den letzten 20 Jahren: Eine vorrangig betriebene Sicherung und Sichtung der Quellen, auch der ungedruckten, um der Buchhandelsgeschichte wie der Geschichte ein solideres Fundament zu geben. 1.5 Briefe
Die Tendenz zur Verwissenschaftlichung wird besonders bei der Behandlung von Verleger-Autoren-Briefen deutlich. Sie galten lange als eine Quellenart neben anderen und wurden nicht weiter hervorgehoben, so in Meyers Literaturbericht von 1987. Dabei sind sie die zentrale buchhandelsgeschichtliche Quelle für den eigentlichen Produktionsprozess, sie geben über die Genese eines Buchs oder das Scheitern eines Plans Auskunft. Gleichzeitig reflektieren sie die Außenwelt, indem sie auf eine öffentliche Stimmungslage oder eine Marktlücke hinweisen. Wie es der frühere dtv-Verleger Heinz Friedrich beschrieb, sagen Briefe oft mehr aus über die kulturellen Aktivitäten […] einer Epoche als die literarische Produktion selbst. Um so unbegreiflicher erscheint die Tatsache, dass Dokumente dieser Art von der Öffentlichkeit meist nur als zeitgeistiges Beiwerk hingenommen werden, was besagt, dass sie de facto von ihr weitgehend ignoriert werden. Editionen von Verlegern gelten als buchhändlerische Insider-Memorials und erleiden das gleiche Schicksal wie Festschriften: Sie werden in Bibliotheken eingestellt.37
Autor-Verleger-Briefe haben in der Hierarchie der Verlagsquellen also einen höheren Stellenwert als die Verlagsbibliographie, die nur das endgültig fertig Gewordene festhält oder die Konto- oder Hauptbücher, die die 35 36 37
Claassen: In Büchern denken. Wallrath-Janssen: Der Verlag H. Goverts. Friedrich: J. C. Witsch – Briefe, S. 76.
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Investitionen und die Reaktionen des Markts durch den Absatz wiedergeben. Die Skala der behandelten Themen in den Briefen zwischen Autoren und Verlegern ist breit gefächert, sie reicht vom sachlich-geschäftlichen Stil über den freundschaftlich-familiären Plauderton, der Suche nach Trost und Beistand, Gesprächen zum entstehenden Werk und seiner Ausstattung38 bis hin zu Honorarfragen, Abrechnungsfeinheiten oder gewinnträchtigen Neuauflagen. Fragen zum Inhalt oder Stilistik werden – soweit ich sehe – fast nie thematisiert, außer, dass ein Verleger einmal ein Thema anregt, was meist nicht angenommen wird. Oft sind es die Verlage selbst, die Briefausgaben in Auftrag geben. Sie wollen damit in der Öffentlichkeit mit ihrem symbolischen Kapital, d. h. mit ihren Autoren, prunken. Der Rekurs auf den literarischen Wert oder das Ansehen des Autors soll die eigene Bedeutung in der Gesellschaft unterstreichen. Briefeditionen sind abhängig von der Überlieferungssituation, entweder in Verlagsarchiven, in öffentlichen Archiven oder in Privatbesitz. Die Intention einer Edition ist entsprechend unterschiedlich, sei es ein Jubiläum, sei es die eigenen Bestände zu erschließen und zugänglich zu machen, sei es das Bild eines Autors und seines Verleger in der Öffentlichkeit durch eine Ausgabe deutlicher werden zu lassen. Die Briefe sind das Fundament für Verlagsgeschichten, in deren Mittelpunkt nicht nur der Autor, als vielmehr sein Manuskript und dessen Metamorphose in ein Buch und seine Verbreitung stehen. Im Folgenden können nur einige exemplarische Formen von Briefeditionen vorgestellt werden. Die abstrakteste Form ist das Repertorium. Helmuth Mojem39 präsentierte 1997 den gesamten Briefwechsel Johann Friedrich Cottas in Regestform. Er erfasste 4 366 Briefe, alle Schreiben von und an Cotta, unabhängig davon, ob sie bereits veröffentlicht sind oder nur als Handschrift vorliegen, mit Datum und Quelle, was den gezielten Zugriff sehr erleichtert. In die Chronologie sind auch die erschlossenen Briefe integriert. Es handelt sich hier um eine besondere Leistung, denn Cottas Handschrift gilt als sehr schwer lesbar. Er schrieb alles selbst, meist »in Eile!«. »Nur bei wenigen Adressaten – wie Lichtenberg oder Goethe – hat er sich durchgehend um eine korrekte Orthographie und eine saubere Hand bemüht«.40 Von diesem dichten Netz an Korrespon38 39 40
Vgl. Sarkowski: Wenn Sie ein Herz. Mojem: Der Verleger Johann Friedrich Cotta. Mojem, S. 17.
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denzen und Informationen ist der Schritt zu einer Verlagsgeschichte nicht weit. Sie könnte den betreffenden Teil der Geschichte des Cotta Verlags von Liselotte Lohrer ersetzen.41 Auch Füssel erschloß 1996 den Briefwechsel Göschens in Regestform als Band 3 seiner Studien zur Verlagsgeschichte.42 Für sein Repertorium der Verlagskorrespondenz stand er vor weitaus größeren Schwierigkeiten, denn anders als bei Cotta ist das Göschen-Archiv verloren. Aus unterschiedlichsten Quellen konnte er einen Anteil von 4 283 Briefen zusammentragen, eine Zahl, die vergleichbar mit Mojems Repertorium der Cotta-Korrespondenz ist. – Die Briefe des Archivs von de Gruyter mit Vorgängerfirmen wie Reimer reichen in ihrer Überlieferung ins frühe 19. Jahrhundert zurück. Sie sind seit 1999 ebenfalls in einem Repertorium zugänglich, wenn auch nur in einer Auswahl, die als erster Einstieg aber sehr hilfreich sein kann.43 Verlegerbriefe hatten in der Wissenschaftstradition nur einen geringen Stellenwert. So ist es bezeichnend, dass die Korrespondenz der Klassiker möglichst rasch publiziert wurde, wie der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, der 1828 bis 1829 herauskam, also noch vor Goethes Tod.44 Der Briefwechsel mit ihren Verlegern aber konnte sich lange Zeit keiner Beachtung erfreuen. So erschien die erste vollständige Ausgabe des Briefwechsels von Johann Wolfgang von Goethe mit seinem (Haupt)Verleger Cotta erst in der Marbacher Edition von 1979 bis 1983.45 Dorothea Kuhn veröffentlichte die 621 Briefe in einer dreibändigen textkritischen und ausführlich kommentierten Ausgabe, wobei die Texte Goethes nahezu genau soviel Raum einnahmen wie der Kommentar. − Zu den Marbacher Ausgaben gehört u. a. auch die Edition des Briefwechsels zwischen Karl August Varnhagen von Ense und dem Cotta Verlag von 2006.46 Bei einem literarischen Autoren des 19. Jahrhunderts, wie zum Beispiel Theodor Storm, wird die Korrespondenz mit seinen Verlegern, Gebrüder Paetel in Berlin, inzwischen als homogener Teil des gesamten Briefwechsels angesehen und hat Aufnahme in die kritische Briefausgabe47 gefunden. Briefe von Verlegern und Autoren wurden von einigen Unternehmen bereits vor dem Ersten Weltkrieg publiziert, nicht aus wissen41 42 43 44 45 46 47
Vgl. Lohrer: Cotta. Füssel: Studien zur Verlagsgeschichte und zur Verlegertypologie, Bd. 3: Repertorium der Verlagskorrespondenz Göschen. Ziesak: Repertorium der Briefe aus dem Archiv von Walter de Gruyter. Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe. Goethe – Cotta. Briefwechsel. Varnhagen von Ense und Cotta. Storm/Gebrüder Paetel. Briefwechsel.
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schaftlichen Gründen, aber, wenn es sich um einen berühmten Autor handelte, um das Renommee in der Öffentlichkeit zu unterstreichen. Die Sammlung von Briefen Gustav Freytags an Salomon Hirzel und seine Familie von 1902 ist ein solches Beispiel. Der Band kam als Privatdruck zu dem Zeitpunkt heraus, als Freytag ein angesehener Autor war.48 In jüngerer Zeit erschienen neue Briefausgaben zur Hirzel-Korrespondenz, so 1994 bis 2000 die Briefe Freytags an die Verlegerfamilie Hirzel49, 2007 der Briefwechsel mit den Brüdern Jacob und Wilhelm Grimm50, den Herausgebern des Deutschen Wörterbuchs. Die Briefausgaben beziehen hier ihren Wert aus der literarischen Reputation der Briefpartner. Die Korrespondenz eines großen Unternehmens wie F. A. Brockhaus hat mehrere Interessenten gefunden. 1987 veröffentlichte Gerhard K. Friesen eine Auswahl aus dem Briefwechsel des Verlags mit dem Schriftsteller Karl Gutzkow von 1831 bis 1878. Bereits 1981 publizierte Friesen eine Auswahl aus dem Schriftverkehr mit Otto Janke, mit dem der finanziell stets klamme Autor noch eine weitere Verlagsbeziehung anknüpfen wollte.51 Die Auswahl aus den insgesamt 2 269 Briefen in der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt a. M. zeigen das Auf und Ab in dieser Beziehung, die das Zitat verdeutlicht: »Der Verleger ist des Schriftstellers Beichtvater.«52 − 1997 befaßten sich gleich zwei Autoren mit der komplizierten Beziehung von Arthur Schopenhauer zum Verlag F. A. Brockhaus und der Druckgeschichte seines Hauptwerks Die Welt als Wille und Vorstellung.53 Die Briefe, einmal eingebettet in den Kontext und einmal als reine Textedition wiedergegeben, dokumentieren den Konflikt zwischen einem selbstbewussten Autor und einem Verlag, der sich an die Grenzen der Wirtschaftlichkeit gedrängt sah. Dichter als zum 19. Jahrhundert sind die Publikationen von AutorVerleger-Briefwechseln an der Wende zum 20. Jahrhundert, als nach der Gründerzeit junge Unternehmen sich der Literatur der Gegenwart zuwandten, wie S. Fischer, der Insel Verlag u. a. Bereits 1966 publizierten Bernhard Zeller und Ellen Otten den Briefwechsel eines Verlegers, eine Auswahl von Briefen Kurt Wolffs aus der Zeit von 1911 bis 1963.54 Das Interesse an Wolff gehörte in den Umkreis der Wiederentdeckung des Expres48 49 50 51 52 53 54
Freytag: Freytag an Hirzel. – Vgl. dazu Estermann: Der Verlag Salomon Hirzels. Freytag: Briefe an die Verlegerfamilie Hirzel. Grimm: Briefwechsel der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm. Friesen: »Es ist eine schwere Sache mit der Belletristik.« Friesen: »Der Verleger ist des Schriftstellers Beichtvater.« Estermann: »Mit großem Verlangen«. – Lütkehaus: Das Buch als Wille und Vorstellung. Wolff: Briefwechsel.
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sionismus,55 dem er seinen Verlag in der frühen Phase geöffnet hatte. Der Band bietet u. a. Briefe von und an Gottfried Benn, Franz Kafka, Oskar Kokoschka, Thomas Mann oder René Schickele. Der Briefwechsel aus verschiedenen Provenienzen, nicht zuletzt einem Bestand von über 4 000 Briefen, die Wolff selbst 1948 der Yale Library übergeben hatte, enthält vor allem die des Verlegers selbst, während die von Autoren wie Kafka oder Georg Trakl bereits für Kritische Ausgaben der Autoren verwendet worden waren. Eine erweiterte Taschenbuchausgabe erschien 1980, was bei Verlegerbriefen eine Seltenheit ist. − 2007 publizierte Friedrich Pfäfflin ein schmales Segment der Briefe Wolffs: Zwischen Jüngstem Tag und Weltgericht, der Briefwechsel mit Karl Krauss von 1912 bis 1921.56 1989 kam der voluminöse Band von Samuel und Hedwig Fischer Briefwechsel mit Autoren heraus. Die 955 Briefe von 42 Autoren wie Henrik Ibsen, Gerhart Hauptmann, Thomas Mann, Hugo von Hofmannsthal, Hermann Hesse oder Robert Musil setzen 1888 ein, also zwei Jahre nach der Verlagsgründung. Sie reichen über den Tod des Verlegers in Jahre 1934 hinaus, richten sich dann an die Witwe und enden 1949.57 Diese Edition von Dierk Rodewald und Corinna Fiedler ist chronologisch nach Autoren geordnet: »die Folge wird bestimmt vom Datum des jeweils ersten abgedruckten Briefes. In der Regel bilden der früheste und der späteste erhaltene Brief den Rahmen. […] Bei der Auswahl wurde darauf geachtet, dass alle Phasen geschäftlicher und persönlicher Beziehungen zwischen Autor und Verleger deutlich werden«58. Die abgedruckten Briefe stammen aus zwei Überlieferungen: derjenigen, die das Exil überstand und sich heute in der Lilly Library, Bloomington, befindet und der, die im Berliner Verlagshaus ausgelagert war und heute im Deutschen Literaturarchiv in Marbach aufbewahrt wird. Auch die Ausgabe von Gottfried Bermann Fischers und Brigitte Bermann Fischers Briefwechsel mit Autoren von 1990,59 ist in gleicher Weise angelegt. Beide haben den Charakter einer Anthologie, einem Begriff aus der Literaturwissenschaft, der hier durchaus anwendbar ist. Buchhandelsgeschichtlich gesehen sind sie von eingeschränktem Quellenwert, da durch das Abschneiden des Kontexts der literarische Autor in den Vordergrund geschoben wird. Die Bände dienen mehr der repräsentativen Außenwirkung.
55 56 57 58 59
Vgl. dazu den Katalog: Expressionismus. Wolff: Zwischen Jüngstem Tag und Weltgericht. S. Fischer/H. Fischer: Briefwechsel mit Autoren. S. Fischer/H. Fischer, S. 828. G. Bermann Fischer/B. Bermann Fischer: Briefwechsel mit Autoren.
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Anthologischen Charakter hat z. B. auch die Auswahl des Verlags Reinhard Piper, Briefwechsel mit Autoren und Künstlern 1903 bis 1953 von 1979, der die ersten 50 Jahre der Verlagsarbeit zeigt. Wolfram Göbel überschrieb seine Einleitung programmatisch mit »Verlags- und Lebensgeschichte [Reinhard Pipers] in Briefen«.60 Auch hier sind die Briefe chronologisch geordnet und stammen zum großen Teil aus dem Verlagsarchiv. Dieses unterlag wie in anderen Häusern einem natürlichen Schrumpfungsprozess, da die Raumfrage Reduzierungsmaßnahmen erforderte. Wie Piper schrieb: »Es ist im Verlag aber nicht Platz, hunderte von Ordnern nebeneinanderzustellen. Infolgedessen werden alle paar Jahre die Brief aus den Ordnern genommen und in Pakete gebunden.« Diese wurden noch weiter einreduziert bis die Korrespondenzen, die mit »anderen dem Verleger als sammelnswert erscheinenden Dokumenten verwahrt« wurden.61 Die 61 Autorenbriefe stammen von Schriftstellern wie Arno Holz, Hugo von Hofmannsthal oder Carl Sternheim, von Künstlern wie Wassily Kandinsky, Edvard Munch oder Ernst Barlach oder Wissenschaftlern wie Julius Meier-Graefe, Karl Eugen Neumann oder Richard Benz. Die beigegebenen Abbildungen von Autoren oder von Autographen unterstreichen die Bedeutung des eigenen Hauses. Intensiver ist der Gehalt, wenn ein Verlag sich der Briefe nur eines seiner Autoren annimmt wie etwa der Briefwechsel zwischen Barlach und Piper von 1900 bis 1937.62 Es ist wohl das Ergebnis des Einreduzierungsprozesses von Archivalien, dass für diesen relativ langen Zeitraum von fast 40 Jahren nur 252 Briefe inklusive Karten und Telegrammen übrig blieben. Der Herausgeber unterstreicht in seinem Vorwort das tiefe Verständnis der beiden so verschiedenen Persönlichkeiten für einander, Barlachs Einblicke in die »Bitternis des Lebens«, Barlach als einen der »bedeutendsten Briefschreiber seiner Zeit« oder dessen »metaphysische Einsamkeit«.63 Auf die Verlagsbeziehung wird fast nicht eingegangen. In den Briefen selbst wird lediglich 1936 die Außenwelt mit der Münchner Ausstellung »Entartete Kunst«, bei der auch Barlachs Werke gezeigt wurden, und das Verbot der Zeichnungen thematisiert.64 Trotz der Substanz der Briefe bewegt sich die Edition in buchhandelsgeschichtlicher Hinsicht in einem luftleeren, besser realitätsfernen Raum. 60 61 62 63 64
Piper: Briefwechsel mit Autoren und Künstlern, S. 7. Piper, S. 513. Barlach/Piper: Briefwechsel. Barlach/Piper, S. 28, 35 u. 40. Barlach/Piper, S. 429f.
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In seltenen Fällen sind Autor-Verleger-Briefe von langer Lebensdauer in einem Verlagsprogramm. Dies ist der Fall bei Rainer Maria Rilke, dessen Werk- und Einzelausgaben, Briefe und Tagebücher seit seinem Tod im Jahre 1926 in immer neuen Auflagen im Insel Verlag herauskamen, wie an Heinz Sarkowskis akribischer Bibliographie abzulesen ist.65 So erschienen bereits seit 1934 die von Ruth Sieber-Rilke, der Tochter, herausgegebenen Briefe Rilkes an Anton Kippenberg. 1954 gab Bettina von Bomhard den Briefwechsel ihrer Mutter, Katharina Kippenberg, mit Rilke heraus. Erst 1995 jedoch wurde der vollständige Briefwechsel mit 384 Briefen publiziert, nachdem durch den langen Abstand zu Rilkes Tod viele Briefe aus Privatbesitz zugänglich geworden waren. Einen anderen Weg als die bisher vorgestellten Ausgaben beschritt Gerhard Schuster 1985 bei seiner Edition des Briefwechsels Hugo von Hofmannsthals mit dem Insel Verlag von 1901 bis 1929.66 Diese in München von Göpfert betreute Dissertation geht mit einer 50-seitigen Einleitung weit über das übliche Maß hinaus. Schuster reduziert den Briefwechsel, der − anders als bei Rilke − deutliche Differenzen mit dem Verleger aufscheinen lässt, nicht auf literarische Höhepunkte, sondern präsentiert die 1 192 Nummern in einer Mischung von Volltext und Regest. Damit berücksichtigt er anders als die Anthologien den arbeitsteiligen Charakter des Verlagsbetriebs, denn Hofmannsthal verhandelte nicht nur mit Kippenberg, sondern auch mit anderen Abteilungen. »›Chef-Korrespondenz‹ und ›Geschäftsverkehr‹ mussten vom Autor gleichzeitig bewältigt werden. Bei chronologischer Darbietung des Materials sind also Kreuzungen unvermeidlich«.67 Auf diese Weise sind die sonst so gern vorgeführten ›substanziellen‹ Schreiben nicht von den Alltagsbriefen getrennt. Die Korrespondenz wird damit zu einer buchhandelsgeschichtlichen Quelle besonderer Art. Der Briefwechsel eines Verlegers mit seinen Autoren kann auch testamentarischen Charakter haben, wie etwa der von Joseph Caspar Witsch von 1977.68 Die Auswahl aus den etwa 35 000 überlieferten Briefen setzt im Dezember 1948 ein mit einem Brief an Claassen, in dem es um die Verlagerung des Kiepenheuer Verlags von Weimar nach Westen, zu der Zeit Hagen, ging und endete mit einem Brief an Manès Sperber vom April 1967, kurz vor dem Tod von Witsch aus dem Krankenhaus geschrieben. Zu den Briefpartnern gehörten neben Sperber auch Jean Giono oder 65 66 67 68
Sarkowski: Der Insel-Verlag. Schuster: Hugo von Hofmannsthal. Schuster, Sp. 99. Witsch: Briefe.
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Henry de Montherlant, Erich Kästner, Friedrich Sieburg oder Heinrich Böll. Sie spiegeln die Nachkriegsliteratur in Westdeutschland in intensiver Weise. Sein buchhändlerisches Engagement z. B. für die in dieser Zeit kontrovers diskutierte Idee des Deutschen Taschenbuch Verlags blieb von der Edition ausgeschlossen, sie »würde allein einen Band füllen; um ihn zu edieren, ist die Sache, um die es ging, noch nicht Historie genug.«69 Eine andere Funktion wiederum hat die dreibändige Brief-Anthologie des Aufbau Verlags in Berlin, zwischen 1991 und 1994 erschienen, die dieses Unternehmen nach der Wende als Teil der eigenen Historisierung herausgab. Elmar Faber, der Verleger zu DDR-Zeiten, und Carsten Wurm edierten die Briefwechsel nach Zehnjahresschritten. Im ersten Teil von 1945 bis 1949 z. B. verdeutlichten die Briefe die Profilsuche des Verlags ebenso wie die Neuorientierung etlicher Autoren, die nach Krieg und Exil eine neue Bleibe für ihre Werke suchten wie etwa Hans Henny Jahnn, Lion Feuchtwanger oder Ernst Wiechert.70 Der Aufbau Verlag positionierte sich damit nicht nur als bedeutendster Literaturverlag der DDR, sondern auch im Hinblick auf seine Kontinuität. In jüngster Zeit hat auch der Suhrkamp Verlag in Frankfurt damit begonnen, Autoren-Briefwechsel aus seinem Archiv zu edieren. 1999 erschien die vollständige Korrespondenz von Uwe Johnson mit Siegfried Unseld71, dem folgte 2006 der zwischen Wolfgang Koeppen und dem Verleger72, 2007 der zwischen Unseld und Peter Weiss73. Neu ist hier der geringe zeitliche Abstand, denn die chronologisch geordneten Briefe reichen wie z. B. bei Koeppen bis ins Jahr 1995. Die Editionsprinzipien wurden gegenüber anderen genannten Ausgaben ergonomischer gestaltet, es gibt nur einen kurzen Zeilenkommentar und ein Personenregister mit knappen Annotationen. Auf diese Weise ließen sich bei Johnson 769, bei Koeppen 482 und bei Weiss 537 Briefe leicht in den jeweiligen Band unterbringen. Bei den genannten Briefausgaben handelte es sich überwiegend um die Korrespondenz von Verlegern und literarischen Autoren. Briefe von Verlagen mit anderen Programmbereichen sind erheblich seltener. Als Ausnahmen sind zu nennen die Korrespondenz mit Musikalienverlagen wie etwa der Briefwechsel von Edvard Grieg mit C. F. Peters von 1863
69 70 71 72 73
Friedrich: J. C. Witsch – Briefe, S. 77. Faber/Wurm: »Allein mit Lebensmittelkarten …«. Johnson/Unseld: Briefwechsel. Estermann/Schopf: »Ich bitte um ein Wort …«. Unseld/Weiss: Briefwechsel.
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bis 190774 von 1997 oder für die spätere Zeit die Korrespondenz von Kurt Weill mit der Universal Edition75 in Leipzig von 2002.
2 18. Jahrhundert Um die bibliographische Verzeichnung der Buchproduktion des 18. Jahrhunderts ist es ähnlich schlecht bestellt wie in den vorhergehenden Jahrhunderten. Nach wie vor dienen die Messkataloge und der Codex nundinarius trotz ihrer bekannten Mängel als erste Orientierungshilfe. Erst zu Ende des Jahrhunderts setzte eine Veränderung der Situation mit den 1797 beginnenden Hinrichs’schen Halbjahreskatalogen ein. In Vorbereitung ist bereits ein Katalog für das 18. Jahrhundert, ein VD18, nach dem Vorbild des 16. (VD16) und 17. Jahrhunderts (VD17). Für das späte 18. und besonders das 19. und 20. Jahrhundert sind die Fragen der Produktionsverzeichnung von geringerer Relevanz, da hier der Kenntnisstand durch individuelle Verlags- und Werkverzeichnisse besser ist. Über die buchhandelsgeschichtliche Situation des 18. Jahrhunderts geben andere Quellen differenziertere Auskunft als die bloßen Titel, die sich über das weitgehend vernachlässigte Thema der Distribution ohnehin ausschweigen. Für die Epoche der ansteigenden Buch- und Zeitschriftenproduktion sind Spezialkataloge aussagekräftiger wegen der beträchtlichen Unterschiede bei der Buchproduktion und Verbreitung in Nord- und Süddeutschland, gekennzeichnet durch die Begriffe wie ›Tauschhandel,‹ ›Reichsbuchhandel‹ oder ›Nettohandel‹. 1984 hat bereits Ernst Weber in einer ausführlichen Studie auf die Bedeutung seltener Sortimentskataloge aus dem 18. Jahrhundert hingewiesen. Diese Individualkataloge einzelner Buchhändler sind in mehrfacher Hinsicht wichtig: Sie verzeichneten eine Auswahl aus der Produktion, dienten weniger der kommerziellen Werbung oder dazu den Überschuss abzusetzen, »sondern den messe-fernen Leser umfassend über ihn interessierende Literatur zu unterrichten und deren Erwerb zu ermöglichen.« Die Titellisten berücksichtigten die lokale Konkurrenz ebenso wie die sozialen Gegebenheiten, d. h. sie nahmen auf die Vorlieben der Kunden Rücksicht. Sie sind deshalb Spiegel der »kollektiven Rezeption«76, die nicht nur die in einer Region hergestellte Literatur anbot, vielmehr durch den Messeverkehr weit darüber hinausgreifen 74 75 76
Grieg: Briefwechsel mit C. F. Peters. Weill: Briefwechsel und die Universal Edition. Weber: Sortimentskataloge, S. 211.
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konnte. Diese Kataloge führen unmittelbar in die sozialgeschichtliche Situation, bieten natürlich aber nur einen mikroskopischen Ausschnitt aus dem Gesamtsystem der Distribution von Schriften aller Art. Wegen der besonderen politischen und »bibliopolischen« Struktur Deutschlands sind zumindest für das 18. Jahrhundert regionalhistorische Studien besonders aussagekräftig. Wie die Literaturversorgung einer mittleren Stadt wie Münster in Westfalen organisiert wurde, zeigt z. B. die Arbeit von Hans-Erich Bödeker.77 Der Buchhandel in den überschaubaren Verhältnissen der Haupt- und Residenzstadt des Fürstentums verlief über einheimische Firmen, die ihre Ware über Kölner Unternehmen oder aus Holland bezogen, andere hatten Beziehungen zur Leipziger Messe und konnten die Bevölkerung auch mit neuen literarischen Titeln versorgen. Die wissenschaftlichen Schriften stammten aus dem Umkreis der Universität und waren ohne überregionale Bedeutung. Wirtschaftlich gesehen aber waren die Buchhändler schlecht gestellt, sodass sich für viele die Eröffnung einer Leihbibliothek als Ausweg anbot. Wie aus anderen Studien deutlich wird,78 war diese provinzielle, eher selbstgenügsame Literaturversorgung für weite Teile Deutschlands charakteristisch. Der herstellende Buchhandel deckte weitgehend den Eigenbedarf, während der verbreitende nur durch den Zugang zum Messebuchhandel von Bedeutung wurde. Verlagsgeschichten basieren in der Regel auf Verlagsbibliographien, im besten Falle auf Briefen. Für die Frühzeit des 18. Jahrhunderts ist hier jedoch die Quellenlage dürftig. Sie ist wohl auch daher ein wenig betretenes Gebiet in der Buchhandelsgeschichte geblieben. Zudem reichen noch die Fäden des komplizierten, polyhistorischen 17. Jahrhunderts hinein. Dabei wurde die polyhistorische Gelehrsamkeit, die eine große Affinität zum Buchhandel hatte, von Helmut Zedelmaier in seiner Studie Bibliotheca universalis über die Ordnungsstrukturen des »gelehrten Wissens«79 thematisiert. Ein zentrales buchhändlerisches Projekt der Frühaufklärung wie Zedlers Univerallexikon, das bis tief ins 18. Jahrhundert wirkte, hat seit der Arbeit von Gerd Quedenbaum80 von 1977 erst wieder 2006 Beachtung gefunden. Zum 300. Geburtstag des Verlegers erschien der von Ulrich Johannes Schneider herausgegebenen Ausstellungskatalog Seine Welt wis-
77 78 79 80
Bödeker: Der Buchhandel in Münster. Vgl. dazu etwa: Graf: Buch- und Lesekultur in Braunschweig; Jentzsch: Verlagsbuchhandel und Bürgertum um 1800. Zedelmaier: Bibliotheca universalis. Quedenbaum: Der Verleger Johann Heinich Zedler.
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sen.81 Bei einem Leipziger Arbeitsgespräch zu dem Thema von 2006 wurden auch die buchhandelsgeschichtlichen Aspekte diskutiert.82 Der Beitrag einer Veranstaltung in Halle im Jahr 1993 zu diesem Themenbereich wurde erst 2008 publiziert.83 Christine Haug untersuchte den buchhandelsgeschichtlichen Aspekt des großdimensionierten Hallenser Lexikonunternehmens, seine problematische Entstehungsgeschichte, die Schwierigkeiten, sich nicht nur auf einem überfüllten Markt zu behaupten, sondern auch gegenüber der kapitalstarken Leipziger Konkurrenz verteidigen zu müssen, der es aber schließlich unterlag. Zum Zedler fehlen gerade die verlegerisch relevanten Materialien, sodass Haug nur bekanntes verwenden konnte,84 dieses leider nicht immer korrekt. Trotz der Kritik an den Messkatalogen lässt sie z. B. Halle 1740 zur »zweitgrößten Druckerstadt Deutschlands« werden durch die unkritische Übernahme der Zahlen aus Goldfriedrich, der sich auf Gustav Schwetschke stützte.85 Eine buchhandelsgeschichtlich relevante Annäherung an den Zedler und vor allem seinen Gönner Johann Peter Ludewig, der schon lange ein Thema der Publizistik86 ist, steht leider immer noch aus. Ein Glücksfall wäre es, wenn archivalische Funde hier den Horizont erweitern könnten. – Nur am Rande sei auf die Studie von Robert Darnton über die Encyclopédie française (1755–1800) hingewiesen, wie sie kontrastreicher kaum sein könnte: Er stützt sich auf reiche Archivbestände, die über Preise, Vertriebswege und Käuferschichten Auskunft geben in einem Zentralstaat wie Frankreich. Zu Recht heißt deshalb auch der deutsche Titel der Übersetzung: Glänzende Geschäfte.87 Die Studie Haugs über das hessische Verlagsunternehmen Krieger 1725−1825 leidet nicht an diesem Quellenmangel. Aber auch sie beschränkte sich notwendigerweise auf die regionalgeschichtliche Sicht, zu der aber die Archivalien aus dem Staatsarchiv Marburg oder dem Universitätsarchiv Gießen reichliche Unterlagen lieferten. Hier wird wie bei Bödeker sichtbar, dass Einzelbetriebe oder gar ein Sortiment nicht lebensfähig, da die Absatzgebiete zu klein waren. Johann Christian Konrad Krie81 82 83 84 85 86 87
Schneider: Seine Welt wissen. Johann Heinrich Zedler und sein Lexikon. Estermann: Memoria und Diskurs. Neben Quedenbaum, auch Schneider: Zedlers Universal-Lexikon. Haug: Das »Universal-Lexikon«, S. 308. − Dass das Waisenhaus in erster Linie sein Geld mit Bibeldrucken verdiente und darauf erst seinen Verlag installieren konnte, dies und weiteres fehlt. Vgl. dazu: Estermann: Memoria und Diskurs, wo besonders auf Ludewig eingegangen wird. Darnton: Glänzende Geschäfte.
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ger unterhielt einen Mischbetrieb, der nur in der Kombination von Verlag, Buchhandel, Leihbibliothek und Buchdruckerei überleben konnte. Durch die Verbindung der Unternehmen jedoch konnte Krieger auf verschiedenen Wegen modernes Gedankengut vermitteln und unterschiedliche Zielgruppen in einem Gebiet erreichen, das nicht zu den zentralen Regionen der deutschen Aufklärung gehörte. Die Beschäftigung mit der Geschichte von Verlagen des 18. Jahrhunderts hat seit den 1980er Jahren von dem intensivierten Interesse an der Aufklärung als Folie einer aufstrebenden Gegenwart profitiert. So ist es nicht verwunderlich, dass viele (meist) junge Forscher dieses Feld abgegrast haben. Auffallend ist, dass nicht nur die Zahl der Verlagsgeschichten gestiegen ist, sondern dass auch einige Verleger mehrfach behandelt wurden, häufig zu Verlagsjubiläen, wenn die Erwartung besteht, von einer größeren als der Fachöffentlichkeit wahrgenommen zu werden. Ein Beispiel dafür sind die beiden Dissertationen von Hazel Rosenstrauch aus Tübingen und Mark Lehmstedt aus Leipzig über den Buchhandelsreformator Philipp Erasmus Reich (1717–1787), die in zwei politischen Systemen entstanden, die in gegenseitiger Abneigung verbunden waren. Beide Autoren arbeiteten auf den 200. Todestag Reichs hin. Dieser, der Inhaber des großen Weidmann’schen Verlags in Leipzig, der so bekannte Autoren wie Christoph Martin Wieland, Christian Fürchtegott Gellert, Gotthold Ephraim Lessing oder Johann Kaspar Lavater betreute, setzte mehrere wichtige Entwicklungen in Gang: Die Aufgabe des Besuchs der Frankfurter Messe durch die Leipziger Buchhändler, die allmähliche Abkehr vom Tauschhandel zugunsten des Barverkehrs und den ersten (gescheiterten) Versuch einer buchhändlerischen Organisation. Rosenstrauch88 stellt Reich in ihrer sozialgeschichtlich fundierten Arbeit in das lokale Leipziger Umfeld mit seinem Beziehungsgeflecht zu Autoren und Verlegern. Sie berücksichtigt seine Korrespondenz, auch die archivalisch überlieferte. Lehmstedt betont deutlicher Reichs literarische Buchhandelsbeziehungen, seinen Kampf gegen den Nachdruck. Die zahlreichen Brieffunde belegen u. a. die Beziehungen zu seiner Filiale in Warschau. Diese Arbeit, keine diskursive Prosa im üblichen Dissertationsstil, ist ein reich bebilderter Katalog für eine Ausstellung über Reich, die in Leipzig, Frankfurt und Hannover gezeigt wurde.89
88 89
Rosenstrauch: Buchhandelsmanufaktur und Aufklärung. Lehmstedt: Philipp Erasmus Reich.
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Die größte Aufmerksamkeit hat jedoch der Berliner Verleger Friedrich Nicolai (1733–1811) auf sich gezogen, der 1983 seinen 250. Geburtstag und dessen verlegerisches Nachfolgeunternehmen 1988 sein 275. Firmenjubiläum feierte. Bereits 1974 hatte sich der Historiker und Schüler Thomas Nipperdeys, Horst Möller, in Aufklärung in Preußen90 eingehend mit Nicolai als Verleger, Publizist und Geschichtsschreiber beschäftigt. Nicolai war ein besonderer Fall, denn er verkörperte eine Doppelrolle als Verleger und als sein eigener Autor. Er ist also das Objekt der Buchhistoriker wie der Literaturwissenschaftler, eine Ambivalenz, die einigermaßen problematisch ist, da der streitbare Autor zwangsläufig auf der Folie des Verlegers gesehen wird, der erfolgreiche Verleger aber auf der des Autors. Diese Konstellation erklärt das Erscheinen von einer Verlagsbibliographie,91 Briefausgaben,92 Ausstellungskatalogen93, einer begonnenen, aber offensichtlich wegen nachlassenden Interesses ins Stocken geratenen kritischen Werkausgabe94 und zwei wissenschaftlichen Darstellungen. Für die Literaturwissenschaftler gehört Nicolai trotz seiner zeitkritischen Romane wie Sebaldus Nothanker (1773−1776), aber gerade wegen seiner GoetheSatire Freuden des jungen Werthers (1775) oder seiner Kantkritik zu den spätaufklärerischen Autoren der zweiten Reihe. So kommentierte Möller denn auch das Erscheinen der ›Berliner Ausgabe‹ mit der griffigen Formulierung: »Rehabilitation durch Edition?«95 Als Verleger aber, in dessen Nachlass in der Staatsbibliothek zu Berlin sich allein rund 18 600 Briefe an ihn befinden, knapp 400 von ihm, stellt er eine Herausforderung an die Forschung dar. In ihrer Mainzer Dissertation über Nicolais Rezensionszeitschrift Allgemeine Deutsche Bibliothek96 (ADB) setzt Ute Schneider an einem wissenschaftsgeschichtlichen Ansatz an, wobei ihr die Kenntnis des umfangreichen Briefwechsels, die ADB betreffend, sehr hilfreich war. Durch die Sichtung zahlreicher Auktionskataloge konnte sie zusätzlich die Verbreitung dieser Zeitschrift rekonstruieren. Ihr geht es um die Redaktionspolitik Nicolais, um die von ihm vertretenen aufklärerischen Normen und die daraus entstandenen Konflikte, weniger aber um die verlegerische Seite 90 91 92 93 94 95 96
Möller: Aufklärung in Preußen. Raabe: Friedrich Nicolai. Zum Beispiel Nicolai, Friedrich: Verlegerbriefe. Zum Beispiel Raabe in Wolfenbüttel (Raabe: Friederich Nicolai) und Becker in Berlin (Becker: Friedrich Nicolai). Nicolai: Sämtliche Werke, Briefe, Dokumente. Möller: Friedrich Christoph Nicolai. Schneider: Friedrich Nicolais »Allgemeine Deutsche Bibliothek«.
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der im Laufe ihres langen Erscheinens durch die sinkende Auflage wirtschaftlich immer problematischer werdenden Zeitschrift. Die von Robert Darnton betreute Dissertation von Pamela E. Selwyn über Friedrich Nicolai as bookseller and publisher stellt zeitlich parallel dazu den Verlags-Buchhändler Nicolai in den Vordergrund. Neben den bekannten Problemen wie Privilegien, Raubdruck und Zensur, der Verlagsarbeit mit dem Herzstück seines Programms, der ADB, befasst sich Selwyn in alltagsgeschichtlicher Sicht mit Nicolais Arbeit als Buchhändler mit Ladengeschäft in bester Berliner Lage. Sie behandelt den Umgang mit den Kunden, für die er z. B. durch ›standing orders‹ auch Neuerscheinungen aus England beschaffte. Sogar die Gehilfen und Markthelfer finden Beachtung. Selwyn versteigt sich allerdings nicht zu der Behauptung Paul Raabes, dass der Buchhandel für Nicolai wichtiger gewesen sei als das Verlegen.97 Zur Verlagsgeschichte des 18. Jahrhunderts erschienen außerdem, gänzlich unspektakulär und ohne äußeren Anlass weitere Arbeiten, auch sie regional zentriert und weitgehend auf der Verlagskorrespondenz aufbauend. Elisabeth Willnat z. B. arbeitete über Johann Christian Dieterich in Göttingen.98 Wie zu seiner Zeit üblich, führte Dieterich sein Unternehmen als Universalverlag, der auch Georg Christoph Lichtenberg und Gottfried August Bürger als ortsansässige Schriftsteller im Programm hatte. Sie erarbeitete ebenfalls eine ausführliche Verlagsbibliographie, die den Schwerpunkt Dieterichs auf den akademischen Schriften deutlich macht. − Thomas Bürger99 untersuchte in Aufklärung in Zürich den Verlag Orell, Gessner & Füssli, der weitgehend auf den deutschen Markt orientiert war. Die typographischen Bemühungen der Schweizer ließen zudem den italienischen Einfluss erkennen. Diese Studie basiert auf zahlreichen Archivalien in der Schweiz und in Leipzig und ist durch eine Verlagsbibliographie abgerundet. − Des weiteren sind zu nennen die Arbeit von Thomas Jentzsch über Vieweg in Braunschweig100 oder von Michael Winter über Georg Philipp Wucherer in Wien.101 Erwähnt werden sollte, dass Barbara Lösel die Rolle der Frau im Buchhandel am Beispiel der Verlegerin Anna Vandenhoeck102 thematisierte, auch ein Beitrag zu den Genderstudies. 97 98 99 100 101 102
Selwyn: Friedrich Nicolai, S. 132. Willnat: Johann Christian Dieterich. Bürger: Aufklärung in Zürich. Jentzsch: Verlagsbuchhandel und Bürgertum. Winter: Wucherer. Lösel: Die Frau als Persönlichkeit.
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3 19. Jahrhundert Der Übergang zum 19. Jahrhundert hat inzwischen auch größeres buchhandelshistorisches Forschungsinteresse gefunden, denn er wurde in dieser Zeit des Umbruchs und der Modernisierung zu einem »Hauptträger« der Bildung und kam »in seiner Bedeutung der Schule sicher«103 gleich, wie Wittmann meint. Für die Buchhandelsgeschichtsschreibung bedeutet die ›Modernisierung‹, dass sich die vorherrschende regionalgeschichtliche Perspektive des 18. Jahrhunderts erweiterte. Ein Zeichen der Veränderung vollzog sich auch auf der organisatorischen Ebene durch die Gründung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, des Börsenblatts für den Deutschen Buchhandel, des Adressbuchs für den deutschsprachigen Buchhandel u. a. Diese sind durch die im Jahre 2000 erschienene Festschrift zum 175. Jubiläum des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels104 weitgehend aufgearbeitet. Für eine wichtige Gestalt wie Johann Friedrich Cotta, der von 1787 bis 1832 den Verlag führte, liegt das bereits erwähnte Briefrepertorium von Mojem vor105. Bernhard Fischer106 publizierte zudem eine dreibändige, ausführlich annotierte Verlagsbibliographie, die auch Beilagen eines Titels, seine Ausstattung und Auflagenhöhe erfasst, ebenso die Rezensionen, also Informationen, die weit über die üblichen bibliographischen Daten hinaus gehen. Daran wird deutlich, dass Cotta alles andere als nur der Verleger der Klassiker war, deren Werke in seinem Verlagsprogramm einen kleinen Teil ausmachten. Eine Verlagsgeschichte ist nach solchen Vorarbeiten geradezu überfällig. Fischer hat auch die Verlagsstrategie Cottas und seine Marktanalyse untersucht, wobei Cotta seine Reputation als Verleger der Klassiker einsetzte.107 Die Geschichte des Verlags von Friedrich Christoph Perthes, lange Zeit trotz vieler gescheiterter Versuche ein Desiderat, ist inzwischen Gegenstand einer der fast 700 Seiten umfassenden Dissertation geworden. Dirk Moldenhauer108 behandelt Perthes in der Spannung zwischen Geschichtswissenschaft und Buchmarkt, den Verleger, der für sein Programm und seine bürgerliche Existenz die Idee der Nation mobilisierte. Der Schock der endgültigen Niederlage gegen Napoleon wurde durch das Bedürfnis kompen103 104 105 106 107 108
Wittmann: Überlegungen zum Stand, S. 8. Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels 1825–2000. Mojem: Der Verleger Johann Friedrich Cotta. Fischer: Der Verleger Johann Friedrich Cotta. Fischer: Verlegerisches »Know how«. Moldenhauer: Geschichte als Ware.
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siert, »die nicht vorhandene, vorbildlose, religiös überhöhte Nation mittels historischen Vergleichs zu ›erfinden‹«.109 So entwickelte er die Vorstellung von der kulturellen und nationalen Mission des Buchhandels, die »der eigenen Branche eine neue, ideologisch überhöhte Identität« verschaffen sollte.110 Seine Programmschrift von 1816 über den Deutschen Buchhandel als Bedingung des Daseyns einer deutschen Literatur und die Vorstellung des Buchhandels als eines ›National-Instituts‹, weisen Perthes als einen der großen (idealistischen) Theoretiker des Buchhandels aus. − Diese Positionen haben nicht nur während des 19. Jahrhunderts das buchhändlerische Selbstverständnis bestimmt. Bei Fragen der Berufsausbildung etwa erwies sich die Schere zwischen idealistischer Theorie und alltäglicher Praxis als große Hemmschwelle, wie Alexandra-H. Grünert aufgezeigt hat.111 Eine andere wichtige Figur der Übergangszeit hat inzwischen intensive Beachtung gefunden durch Füssels112 dreibändige Studie über Georg Joachim Göschen. Fokussierte Moldenhauer Perthes als Verleger der romantisch-konservativen Geschichtsschreibung, so behandelt Füssel Göschen als Verleger der Klassiker, besonders aber dessen Spezialgebiet, die lange vernachlässigte Typographie. Göschen kämpfte auf dem literarischen Markt für die Rechte seiner Autoren und gegen den immer noch grassierenden Nachdruck. Die Herkunft der Arbeit aus der Literaturwissenschaft ist schon durch die Terminologie nicht zu übersehen, leider werden Fragen nach Göschens unternehmerischer Leistung und seiner Stellung auf dem Markt nicht gestellt. − Als zeitversetzte Folie sei das Buch des Verlegers Unseld genannt, der 1991 das Verhältnis Goethes und seiner Verleger untersuchte. Anders als in den wissenschaftlichen Darstellungen zog er immer wieder Parallelen zu seinen eigenen Erfahrungen und Autorkontakten mit Martin Walser, Max Frisch oder Heiner Müller, was eine völlig andere Perspektivierung ermöglichte.113 Die dritte Verlegergestalt des frühen 19. Jahrhunderts ist der Berliner Verleger Georg Andreas Reimer, mit dem sich ebenfalls mehrere Arbeiten beschäftigten. Doris Fouquet-Plümacher z. B. untersuchte 1987 die Probleme Reimers mit der preußischen Zensur wegen der Memoiren Napoleons.114 Bei den jüngeren Arbeiten wirkten sich wie bei Nicolai äußere 109 110 111 112 113 114
Moldenhauer, S 155. Moldenhauer, S. 610f. Grünert: Die Professionalisierung. Füssel: Studien zur Verlagsgeschichte und zur Verlegertypologie. Unseld: Goethe und seine Verleger, z. B. S. 678. Fouquet-Plümacher: Jede neue Idee kann einen Weltbrand anzünden.
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Faktoren aus: ein gut erhaltenes und erschlossenes Verlagsarchiv mit Briefen und Kontobüchern und das 250. Firmenjubiläum. Aus diesem Anlass erschienen das erwähnte Briefrepertorium115 sowie die Firmengeschichte von Anne-Katrin Ziesak116. Beide behandeln Reimer als Teil der langen Verlags-Vorgeschichte des heutigen Verlags de Gruyter. Doris Reimer117 widmet sich ausschließlich Georg Andreas Reimer und seinen verlegerischen Aktivitäten und Autoren wie Friedrich Schlegel oder Friedrich Schleiermacher u. a. Sie thematisiert das Angebot dieses Universalverlags, der besonders auf Schulbücher spezialisiert war. Trotz der erwähnten Verträge und Kalkulationen bleibt die Biographie des Verlegers im Mittelpunkt. Durch die erhaltenen Quellen wie Reimers Hauptbuch wird der verlagswirtschaftliche Aspekt deutlicher betont als bei anderen Arbeiten, ohne ihn jedoch konsequent durchzuführen. Die Korrespondenzen und andere Materialien werden auf einer CD-ROM mitgeliefert. − So hat sich denn auch Kurt-Georg Cram118 mit ihrer Interpretation von Reimers Eintragungen zu Tieck im Hauptbuch kritisch auseinandergesetzt. Zu mehreren Unternehmen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gibt es schon seit den 1970er Jahren Darstellungen ihrer Geschichte. Edda Ziegler119 veröffentlichte 1976 die Geschichte des Verlags von Julius Campe in Hamburg, ganz auf Heinrich Heine bezogen, mit einem Anhang zu den gedruckten und handschriftlichen Archivquellen und einer Verlagsbibliographie für die Zeit von 1823 bis 1867. 1983 kam die eher schlichte und unübersichtliche Verlagsbibliographie von Bernd Steinbrink zu Hoffmann und Campes 200-jährigen Bestehen heraus, in die Heines Werke integriert sind.120 − Die Geschichte des Bibliographischen Instituts von Joseph Meyer veröffentlichte Sarkowski121 1976 zum 150. Firmenjubiläum. Anders als bei der Festschrift von Johannes Hohlfeld122 von 1926 zum 100. Bestehen konnte er sich wegen der Kriegsverluste nicht mehr auf das Archiv mit Briefen oder anderen Zeugen stützen, die z. B. über Joseph Meyers turbulente Frühzeit oder seine Versuche, in Amerika Fuß zu fassen, Auskunft geben konnten. Dafür gab Sarkowski seiner Darstellung eine informative Bibliographie der gesamten Verlagsproduktion von 1826 bis 1976 bei. 115 116 117 118 119 120 121 122
Ziesak: Repertorium der Briefe aus dem Verlag von Walter de Gruyter. Ziesak: Der Verlag Walter de Gruyter. Reimer: Passion & Kalkül. Cram: »Des Lebens Überfluß«. Ziegler: Julius Campe. Steinbrink: Hoffmann und Campe. Bibliographie. Sarkowski: Das Bibliographische Institut. Hohlfeld: Das Bibliographische Institut.
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In die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts fällt 1835 die Gründung von Velhagen & Klasing in Bielefeld. Martin Tabaczek123 untersucht in seiner Dissertation die Anfangsphase dieses Unternehmens bis 1870. Er wählte vier Beispiele aus, die fremdsprachige und theologisch-religiöse Literatur, die Ratgeber wie das Kochbuch von Henriette Davidis sowie die Zeitschrift Daheim, an denen er seinen konsumgeschichtlichen Ansatz exemplifizierte. Ihm ging es weniger um Fragen des Programms wie bei anderen Verlagsgeschichten als vielmehr um die Aufnahme der Produkte auf dem Markt, die vom Inhalt und vom Preis abhängen. Dazu waren ihm das erhaltene Firmenarchiv und vor allem die Verlagsstrazzen behilflich, die über die tatsächlich verkauften Bücher, die Gewinne und Verluste Auskunft geben, was selten der Fall ist, wie etwa bei Reimer. Es liegt in der Logik seiner Arbeit, dass Tabaczek auf eine Verlagsbibliographie seiner Zeitspanne verzichtet. − Horst Meyer124 hat bereits 1985 eine Verlaufsgeschichte Velhagen & Klasings vorgelegt, die die gesamte Zeitspanne von 125 Jahren darstellt, die Expansion der Firma, die Verkäufe und den heutigen Zustand. In der ersten Jahrhunderthälfte, 1842, gründete auch Julius Springer in Berlin seinen Verlag. Sarkowski125 hatte das Glück, das bis ins Jahr 1858 zurückreichende Verlagsarchiv zur Verfügung zu haben, das etwa den dreifachen Umfang des Marbacher Cotta-Archivs hat.126 Für die Tätigkeit des Verlags auf verschiedensten Gebieten, anfangs auch der Literatur, sodann Geschichte, Medizin, Jurisprudenz oder Technik fand der Autor überreichlich Material vor, Briefwechsel mit Autoren, technische Zeichnungen, Abrechnungen oder Entwürfe zur Einbandgestaltung. Der Band reicht bis 1945, den zweiten zu verfassen, behielt sich die Geschäftsleitung vor127, womit ein Grundproblem von Firmengeschichten sichtbar wird. Verlagsgeschichten wie die von Sarkowski sind wegen ihrer Themenstellung und der Archivlage äußerst selten. − Die schmalere Darstellung zum hundertsten Jubiläum des 1894 erstmals erschienen Lehrbuch der Botanik Eduard Strasburgers im Gustav Fischer Verlag ist damit nicht zu vergleichen, erhebt aber auch nicht den Anspruch darauf.128
123 124 125 126 127 128
Tabaczek: Kulturelle Kommerzialisierung. Meyer: Velhagen & Klasing. Sarkowski: Der Springer-Verlag. Vgl. dazu: Sarkowski: »Sehr geehrter Herr!« Götze: Der Springer-Verlag. 100 Jahre Strasburgers Lehrbuch.
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Das ›kurze 19. Jahrhundert‹ zwischen Nachmärz und Reichsgründung ist gekennzeichnet durch eine weitgehende Stagnation, die sich auch auf den Buchmarkt auswirkte. Erst mit dem ›Klassikerjahr‹ 1867, dem Wegfall der Privilegien, setzte ein Boom von Klassikerausgeben ein. Eine der Überlebenden des harten Konkurrenzkampfs war Reclams UniversalBibliothek, die zu billigsten Preisen Texte der Weltliteratur für jedermann zugänglich machte. Zu ihrem 125-jährigem Bestehen 1992 wählte der Reclam Verlag in Stuttgart keine lineare Geschichtsdarstellung, sondern einen Sammelband mit verlags- und kulturgeschichtlichen Aufsätzen,129 so von Jäger über die Erfolgsfaktoren der Programmpolitik bis zum Ersten Weltkrieg. Die Ursprünge des Verlags lagen im Jahr 1828, zu dessen 150. Jubiläum hatte Reclam bereits 1978 Daten, Bilder und Dokumente zur Verlagsgeschichte veröffentlicht.130 − In diesen Umkreis gehört auch die Gründung der Philosophischen Bibliothek von 1868 durch Julius Hermann von Kirchmann. Sie richtete sich ebenfalls an ein gebildetes Publikum, dem die Hauptwerke der Philosophie zu niedrigen Preisen in wöchentlich erscheinenden Heften angeboten wurden. 1911 ging die Philosophische Bibliothek in den Besitz von Felix Meiner über. Rainer A. Basts Geschichte dieses Unternehmens hat vor allem bibliographisch-positivistischen Charakter, während das buchhandels- und wissenschaftsgeschichtliche Umfeld in den Hintergrund tritt.131 Reinhard Wittmanns Geschichte des Metzler Verlags in Stuttgart132 von 1982 behandelt zwar die ungewöhnlich lange Zeitspanne von 300 Jahren. Der Schwerpunkt liegt jedoch auf dem 19. Jahrhundert, als der Verlag mit seinen Zeitungen und Zeitschriften wie der Germania und seinen großen Autoren, Johann Heinrich Voß, Joseph Görres, Wilhelm Hauff oder dem belieben Josef Viktor Scheffel eine Blütezeit erlebte. Der umfangreiche Band zeigt die wechselvolle Geschichte der schwäbischen Buchhandelslandschaft anhand von Archivalien aus Stuttgart, Berlin und Marbach sowie von Briefsammlungen aus privatem und öffentlichem Besitz. Die Verlagsbibliographie von 1682 bis 1848 gehört zum Standard eines solchen Bands. − Parallel dazu, wenn auch ein weitaus geringeres Zeitsegment betreffend, ist die bei Göpfert erarbeitete Studie von Michael Davidis133 über den Verlag von Wilhelm Hertz, ebenfalls von 1982, zu 129 130 131 132 133
Bode: Reclam. 125 Jahre Universal-Bibliothek. 150 Jahre Reclam. Daten, Bilder und Dokumente. Bast: Die Philosophische Bibliothek. Wittmann:. Ein Verlag und seine Geschichte. Davidis: Der Verlag von Wilhelm Hertz.
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sehen, dessen Wirkungszeit in Berlin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lag. Diese Arbeit, die sich besonders der Verbreitung der Werke von Paul Heyse, Theodor Fontanes oder Gottfried Kellers widmet, betont auch den buchwirtschaftlichen Aspekt durch die Berücksichtigung von Zahlen zu Deckungsauflagen, der Beigabe von 35 Verlagsverträgen (aus dem Cotta-Archiv in Marbach) oder Briefen von Fontane und Keller an Hertz sowie einer Übersicht über die Verlagsproduktion.
4 20. Jahrhundert 4.1 Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs
Jüngere Verlagsgeschichten können als Fest- oder Jubiläumsschriften von Firmen in Auftrag gegeben oder aber davon unabhängig als wissenschaftliche Studien erscheinen. Vorstufen dazu sind oft Verlagsalmanache als Informations- und Werbeträger. Ulrike Erber-Bader hat eine Bibliographie der Deutschsprachigen Verlagsalmanache des 20. Jahrhunderts zusammengestellt, in der sie nahezu 1 500 Titel nachgewiesen hat.134 Eingeschränkten Quellencharakter haben die autobiographischen Schriften von Verlegern, Erinnerungsbände, die die Geschehnisse oft selektiv darstellen, z. B. Klaus Pipers Erinnerungen Lesen heißt doppelt leben135 von 2000. Die Verlagsgründungen der Jahrhundertwende, S. Fischer, Insel, Diederichs, Langen, Piper oder Kurt Wolff haben wegen ihrer innovativen Programme mehr Beachtung gefunden als die Unternehmen der Kaiserzeit. Die um 1900 gegründeten Unternehmen gaben zu ihrem Hundertsten verschiedenste Firmen- und Festschriften heraus oder präsentierten sich in Ausstellungen. Zu S. Fischer erschien 1985 der schon erwähnte Marbacher Ausstellungskatalog136 mit reichem Bildmaterial, der aus dem Verlagsarchiv erarbeitet war, im Unterschied zu Peter de Mendelssohns137 opulentem Band von 1970, der mehr ›erzählen‹ wollte und daher bei langen Briefpassagen oder anderen Zitaten auf Quellenangaben verzichtete. − Die Geschichte des Insel Verlags von den Anfängen 1899 bis 1964, dem Jahr des Verkaufs an Suhrkamp, verfasste wiederum der bewährte Buchhandelshistoriker Heinz Sarkowski, der auch die DDR-Insel mit 134 135 136 137
Erber-Bader: Deutschsprachige Verlagsalmanache. Piper: Lesen heißt doppelt leben. Pfäfflin/Kussmaul: S. Fischer, Verlag. Mendelssohn: S. Fischer.
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einbezog. Auch hier konnte er sich wiederum auf die Verlagsarchivalien stützen, aus dem Bundesarchiv in Berlin, den Marbacher Beständen sowie dem Goethe-und Schiller-Archiv in Weimar. Die Phase bis zur Wende und zur Zusammenführung der beiden Verlage wurde von Wolfgang Jeske nur noch annalistisch, mit Nennung der produzierten Titel, vorgestellt.138 – Von Sarkowski erschien die detaillierte, überarbeitete Bibliographie des Insel Verlags von den Anfängen bis 1969, auch zum Entzücken der Sammler, die dieser Verlag als einer der wenigen erzeugt hat.139 − Die Verlage von Albert Langen140 und Reinhard Piper141 ließen zu ihrem Hundertjährigen qualitativ unterschiedliche Verlaggeschichten erscheinen. Der 1913 gegründete Verlag von Kurt Wolff wurde zwischen 1913 bis 1930 zu einem bedeutenden literarischen Verlag, gern etikettiert als ›Verleger des Expressionismus‹. Wolfram Göbels Studie142 von 1977, als Dissertation bei Herbert G. Göpfert entstanden, gehört in die Frühzeit der Beschäftigung mit den zwanziger Jahren. Göbels umfassende Darstellung des Verlags basiert auf den zu seiner Zeit kaum aufgearbeiteten Quellen, u. a. auf der Briefausgabe von 1966143. Sie enthält eine sorgfältige Bibliographie der Verlagsproduktion, auch die seines zeitweiligen Partners Ernst Rowohlt. Die Arbeit zeigt neben der Vielfalt der literarischen Produktion, zu der auch zahlreiche Almanache gehörten, die wechselnde Einschätzung seines Verlags in der Öffentlichkeit, die komplexen Beziehungen zu Autoren oder konkurrierenden Verlagen und nicht zuletzt das wirtschaftliche, durch die Inflation immer weicher werdende finanzielle Fundament. Individualverlage wie der Wolffs altern offensichtlich anders als Familienunternehmen wie Brockhaus oder größere Unternehmen im Status einer Kommanditgesellschaft. 1917, auf dem Höhepunkt seines Schaffens, schrieb Wolff hellseherisch an Rilke: »Wir Verleger bleiben, haben wir überhaupt je gelebt, nur kurze Jahre lebendig«.144 2007 wurde dem Verleger eine Ausstellung gewidmet mit dem irreführenden Titel Kurt Wolff. Ein Literat und Gentleman.145 – In das Umfeld der literarischen Unternehmen gehören auch die beiden Berliner Verleger Paul146 und Bruno Cassirer147, 138 139 140 141 142 143 144 145 146
Der Insel Verlag, 1899–1999. Sarkowski: Der Insel Verlag. Abret: Albert Langen. Ziegler: 100 Jahre Piper. Göbel: Der Kurt Wolff Verlag. Vgl. Wolff: Briefwechsel. Zitiert nach Göbel: Der Kurt Wolff Verlag, Sp. 920. Weidle: Kurt Wolff. Caspers: Paul Cassirer und die Pan-Presse; Feilchenfeld/Brandis: Paul Cassirer Verlag.
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die sich teilweise auch als Kunstverlage betätigten und zu denen mehrere Arbeiten vorliegen. 4.2 Fallbeispiel Eugen Diederichs Verlag
Am Eugen Diederichs Verlag lassen sich die Entwicklungslinien der Buchhandelsgeschichtsschreibung der letzten zwanzig Jahre deutlicher als an anderen Unternehmen ablesen. Er bietet sich als Projektionsfläche verschiedenster Sichtweisen geradezu an. 1896 gegründet, gehörte er zu den neuen Verlagen um die Jahrhundertwende, die Person Diederichs’ verkörperte in einzigartiger Weise den Typus des ›Kulturverlegers‹. Nach seinem Tod im Jahr 1930 ging das Unternehmen an die Söhne Peter und Niels über. Wegen allzu großer Nähe zum Dritten Reich bekamen sie in Jena nach 1945 keine Wiederzulassung. Die beiden Verleger konnten aber im Westen ihre nun getrennten Unternehmen in Düsseldorf und Köln neu aufbauen. 1988 wurde der inzwischen wieder zusammengeführte Verlag von der Enkelgeneration an Hugendubel in München verkauft, der ihn seit 1999 als Imprint Verlag führt. Das Bild des Verlags hat viele Facetten, es wird vor allem bestimmt durch die Persönlichkeit des Gründers, der als Autodidakt ein sehr breites kulturelles Programm aufgebaut und zugleich eine starke Position auf dem Buchmarkt erobert hatte. Ulf Diederichs, der Enkel, gab 1967 auf der Basis des geretteten Firmenarchivs, heute in Marbach, zum hundertsten Geburtstag des Firmengründers die Anthologie Eugen Diederichs. Selbstzeugnisse und Briefe von Zeitgenossen148 heraus, wodurch Diederichs wieder in das öffentliche Bewusstsein trat. Göpfert,149 Cheflektor bei Hanser, später Initiator der Münchener Buchwissenschaft, reagierte auf die Veröffentlichung mit einem Essay, in dem er zwar kritische Fragen stellte, der aber im Ganzen von dem tiefen Eindruck bestimmt war, den er selbst als junger Mann von Diederichs’ bei dessen 60. Geburtstag 1927 gewonnen hatte. Schon hier wird ein Grundproblem der jüngeren Verlagsgeschichtsschreibung deutlich, dass sie sich auf Quellen unterschiedlichster Art stützen muss, nicht nur verlagsimmanent wie Briefe oder andere Archivalien oder die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, sondern als Korrektiv
147 Abele: Der Bruno Cassirer Verlag; Sarkowski: Bruno Cassirer. Ein deutscher Verlag. 148 Diederichs: Eugen Diederichs: Selbstzeugnisse. 149 Göpfert: Vom Autor zum Leser, S. 26.
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auch auf die Erinnerungen von Zeitgenossen. Dies ist für die Buchhandelsgeschichtsschreibung auf weite Strecken des 20. Jahrhunderts relevant. Die akribische, auf 1 000 Seiten detailüberfrachtete Dissertation von Irmgard Heidler über Eugen Diederichs entstand über Jahrzehnte bei Göpfert, wurde aber erst sehr verspätet 1998 publiziert.150 Als Matrix dient die Biographie des Verlegers, angelehnt an die Methoden der Germanistik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie unterscheidet sich weit von dem literatursoziologischen Ansatz, den z. B. Reinhard Wittmann in seinem Sammelband Buchmarkt und Lektüre151 in mehreren Beiträgen exemplifiziert hatte. In einem sehr erweiterten Sinn trifft hier die Feststellung von Doris Reimer zu, die die biographische Methode so charakterisierte: »Gerade im Fall der großen ›Programmverleger‹ hat die Verlegerpersönlichkeit den Verlag gemacht und nicht das Programm.«152 Dies würde etwa ein Zitat von Diederichs belegen, der 1910 an seinen neuen, aber noch schwankenden Autor Hermann Löns über den historisch-heroischen Heimatroman Der Wehrwolf schrieb: »Wenn ich mich einmal mit einem Verlagsplan getragen habe und er anfängt, in mir zu arbeiten, so wird es mir immer schwer, wieder darauf zu verzichten. Denn bei dem nahen Verhältnis, das ich zu meinen Büchern habe, wird dann jedes Verlagswerk ein Titel von mir selbst.«153 Aufgrund der positiven Fixierung auf die Person Diederichs diskutiert Heidler auch den Vorwurf des ›Präfaschismus‹ nicht, den z. B. 1981 Gary D. Stark gegen den Verlag erhob. Er stellte Diederichs in eine Reihe mit anderen Verlagen, die für die Verbreitung des Neokonservativismus von Bedeutung waren: F. J. Lehmanns, die Hanseatische Verlagsanstalt, Gerhard Stalling und Heinrich Beenken.154 Das unüberschaubare, teils widersprüchliche Programm von Diederichs mit Titeln wie der Lagarde-Auswahl Deutscher Glaube, Deutsches Vaterland, Deutsche Bildung oder der Katalog Von deutschem Blut und Boden bestimmte zunehmend die Wahrnehmung des Verlags. Die 1988, also früher als Heidler erschienene, aber später entstandene Freiburger Dissertation von Erich Viehöfer155 Der Verleger als Organisator stellte Diederichs erstmals in dem Umkreis der bürgerlichen Reformbewegungen der Jahrhundertwende. Die Aufbruchstimmung in der Zeit vor 150 151 152 153 154 155
Heidler: Der Verleger Eugen Diederichs. Wittmann: Buchmarkt und Lektüre im 18. und 19. Jahrhundert. Reimer: Methoden der Verlagsgeschichtsschreibung, S. 51. Zitiert nach Heidler: Der Verleger Eugen Diederichs, S. 755. Stark: Der Verleger als Kulturunternehmer. Viehöfer: Der Verleger als Organisator.
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1914 drückte sich gerade in den Reformbewegungen aus, die alle Bereiche des Lebens verändern wollten, vom Sofakissen bis zum Städtebau. Diederichs publizierte Schriften zur Köperkultur, Reformpädagogik, Jugendbewegung oder zum Werkbund. Auch Viehöfer orientierte sich an der Biographie des Verlegers, besonders seiner autobiographischen Schrift Lebensaufbau von 1927, aber nur zu dem Zweck, »in der verwirrenden Vielfalt der verschiedenen Reformbewegungen ein strukturierendes Element« zu haben.156 Mit der kulturwissenschaftlichen Wende in den neunziger Jahren fand der Diederichs Verlag mit seinem scheinbar inkohärenten Programm, das den Vorwurf des Präfaschismus nahe legte, ein neues Interesse bei Historikern wie Gangolf Hübinger oder Justus H. Ulbricht. Besonders Hübinger157 machte 1987 einen ersten Schritt, das Unternehmen im Kontext der Suchbewegungen und antimodernen Bestrebungen der Jahrhundertwende zu stellen. Die weitere Annäherung an diesen chameleonhaften Verleger und sein Unternehmen leistete der Sammelband zum hundertsten Verlagsjubliäum von 1996, den Hübinger158 unter dem Titel Versammlungsort moderner Geister herausgab, dem Motto Diederichs’. Andreas Meyer159 thematisierte darin den plakativen gebrauchten Begriff des ›Kulturverlegers‹ und das Handwerk des Verlegens. Dieses verschwindet meist hinter dem geradezu propagandistisch vorgetragenen Selbstbild, auf das sich viele Autoren immer wieder beziehen. − Der programmgeschichtliche Beitrag von Justus H. Ulbricht über »Weltanschauung und Verlagsprogramm«, der sich wiederum an der Biographie des Verlegers orientiert, zeigt einen zentralen Aspekt, die Affinität zu kulturkritischen, deutschnationalen und völkischen Ideologemen.160 Als Ausdruck dessen sind die Sammlung Thule, die Deutschen Volksbücher oder Das alte Reich anzusehen. Hübinger hat 1996 »Wissenschaftskritik, Lebensreform und völkische Bewegung«161 als zentrale Themen der Verlagsarbeit hervorgehoben. Danach wurde der Verlag im späten Kaiserreich zu einer der »führenden kulturpolitischen Institutionen«, glaubte den Prozess der Moderne steuern zu können, »war aber trotz der Erfolge auf lebensreformerischem Gebiet den ideologischen Anfälligkeiten« am meisten ausgesetzt.162 Dieser unlösbare 156 157 158 159 160 161 162
Viehöfer, S. 5. Hübinger: Kulturkritik und Kulturpolitik. Hübinger: Versammlungsort moderner Geister. Meyer: Der Verlagsgründer und seine Rolle als »Kulturverleger«. Ulbricht: »Meine Seele sehnt sich«, S. 337. Hübinger: Der Verlag Eugen Diederichs in Jena. Hübinger, S. 32.
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Konflikt unterscheidet Diederichs z. B. von einem Verlag wie Siebeck, der den rationalen Wissenschaftsdiskurs förderte, während Diederichs umgekehrt den nicht-rationalen »Überschuß an religiösem, ästhetischem oder erotischem Bewusstsein aktivieren« wollte,163 auch um der Rationalisierung der Gegenwart eine ›zweite Moderne‹ entgegenzusetzen. Hübinger und viele andere Autoren thematisierten Diederichs’ Programm in kulturgeschichtlicher Perspektive, die eigentlichen buchhandels- und verlagsgeschichtlichen Aspekte oder aber Fragen der Verbreitung werden meist vernachlässigt. Weitere Publikationen widmeten sich auch der zweiten Generation und deren Programmgeschichte.164 Florian Achthaler165 thematisierte die Zeit nach 1930, als die Söhne Niels und Peter Diederichs den Verlag übernahmen. Er zeigt die Kontinuitäten und Veränderungen wie die Einstellung unrentabler Reihen oder die Vergrößerung des belletristischen Segments. Die beiden Verleger waren 1933 nur zu wenigen Kurskorrekturen gezwungen, vielmehr passten Reihen wie Deutsche Volkheit oder Sammlung Thule durchaus in die neue Zeit. Nach Achthaler waren die Verleger daran orientiert, mit möglichst großem Gewinn und ohne aufzufallen die Zeit zu überstehen. Dies erreichten sie durch die Publikation von Bestsellerautoren wie Edwin Erich Dwinger mit seinen blutrünstigen, antisemitisch und deutlich antislawisch geprägten Büchern. Ihn hatte z. B. selbst der rechtslastige Langen Verlag abgelehnt mit der Begründung des Mitinhabers Reinhold Geheeb: »Diese Häufung der Greuelszenen, diese widerwärtigen sexuellen Partien haben mich einige Male derart angeekelt, dass ich einfach nicht mehr weiterlesen konnte«.166 Durch sein umsichtiges Marketing konnte der Verlag von 1933 bis 1940 seinen Umsatz um 400 % steigern. Diederichs gehörte zwar nicht in die erste Reihe der NS-Verlage, war doch im Umfeld angesiedelt, was nicht zuletzt daran abzulesen ist, dass es bis zum Ende des Kriegs keine Probleme mit der Papierzuteilung gab, ein beliebtes Mittel, um die Arbeitsmöglichkeit zum Erliegen zu bringen. Der Aufsatz war ein erster Schritt auf ein noch unbekanntes Feld, wobei sich Achthaler mit Wertungen über die Nachfolger sehr zurück hielt. Er argumentierte wirtschaftsgeschichtlich, denn die Verleger, die nicht wie ihr Vater den Gestus des Kulturverlegers pflegten, befanden sich geradezu in einer »Goldgräberstimmung«.167 163 164 165 166 167
Hübinger, S. 33. Ulbricht/Werner: Romantik, Revolution und Reform. Achthaler: Der deutsche Mensch. Nach Achthaler, S. 239. Achthaler, S. 244.
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Fast parallel zu dieser Veröffentlichung erschien 1999/2000 der dreiteilige empirische Bericht von Ulf Diederichs über seinen Vater und Onkel, die Verleger im Schatten.168 Seine personen- und familiengeschichtlich perspektivierte Arbeit über die Zeit zwischen 1929 bis 1949 steht im Kontext seiner zahlreichen Beiträge zum Diederichs Verlag, die er in den 1980er und 1990er Jahren publizierte.169 Intensiver als Achthaler konnte er aufgrund des eigenen Familienarchivs detailliert die Arbeitsweise, die Entscheidungsfindung, das soziale Umfeld und die Autorenpflege rekonstruieren. Die Innenperspektive lässt anhand von Tagebuchaufzeichnungen oder Erinnerungen von Familienmitgliedern die Einschätzung der eigenen Arbeit erkennen.170 Diederichs liefert auch detaillierte betriebswirtschaftliche Daten, etwa zu den Honoraren. So bezog der Bestsellerautor Dwinger zwischen 1929 und 1943 über 1 200 000 RM. Der Titel der Darstellung jedoch – Verleger im Schatten – deutet eine weitere Dimension an, nämlich, dass die beiden Verleger nicht aus dem Schatten ihres dominanten Vaters heraustreten konnten. Der Verlag verlor an Ansehen und an intellektueller Substanz, weil die beiden Söhne das kulturelle Kapital Eugen Diederichs weitgehend verspielten. Auch die Konstanzer Dissertation von Florian Triebel befasst sich mit der zweiten Generation.171 Anders als Ulf Diederichs behandelt Triebel das Thema rein unternehmensgeschichtlich. Er setzt sich von dem vorherrschenden »kulturorganisationellen Ansatz« neuerer Verlagsgeschichten ab und versteht Verlage »als privatwirtschaftliche Unternehmen verfasste Wirtschaftssubjekte«.172 Der Verlag wird jedoch nur an diese eindimensionale Wirtschaftslogik gekoppelt, damit fallen aber alle Fragen nach der Anpassung an die Diktatur, des kulturellen Umfelds oder der gesellschaftlichen Funktion von vornherein weg. So kann Triebel leichtfüßig behaupten, dass die Programmveränderungen nach 1933 − ohne die Bücherverbrennungen, die Verbotslisten, die »Arisierungen« oder die Emigrationen auch nur zu erwähnen − so motiviert waren: »Die Verlagsleitung griff in ihren Publikationen dominante Meinungsbilder innerhalb der Gesellschaft auf und strukturierte das Programm deutlicher nach den Wünschen des Markts. In ihren Planungen schenkte sie dem jeweils herrschenden Geist der Zeit und den Gestaltungsmöglichkeiten, die die jeweilige staatliche 168 169 170 171 172
Diederichs: Verleger im Schatten. Zum Beispiel: Diederichs: Was heißt und zu welchem Ende wird man Kulturverleger? Diederichs: Verleger im Schatten, T. 1, S. B 96. Triebel: Der Eugen Diederichs Verlag 1930 bis 1949. Triebel, S. 23.
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Ordnung bot, größte Aufmerksamkeit«.173 Durch die Publikation von »zeitnäheren Titeln«, gemeint sind wohl die Titel von Dwinger, Blunck, Berens-Totenohl oder Miegel, konnte der Verlag wirtschaftlich wieder erfolgreich werden. Für ihn stellt sich diese Verlagsgeschichte so dar: »Das Kulturunternehmen Eugen Diederichs Verlag agierte zwischen 1930 und 1949 auf der Grundlage betriebswirtschaftlichen Kalküls und fungierte von diesem Fundament aus, angeregt und beschränkt durch Einflüsse aus der Umwelt, als Impulsgeber für Kultur und Gesellschaft seiner Zeit«.174 Triebel vermeidet jeden Vergleich mit zeitgenössischen Unternehmen wie etwa der Hanseatischen Verlagsanstalt. Sein simplifizierender Zugriff orientiert sich an Staat und Markt, wobei er aber nicht thematisiert, dass es sich um einen staatlich gelenkten, von Verboten eingeengten Markt handelte, sich ein freies Marktgeschehen also nicht entwickeln konnte. Die hohen Verkaufszahlen der Deutschen Reihe z. B. erklären sich durch ihre Absatzmöglichkeit auf weiteren Teilmärkten, wie dem Schulbuchhandel und dem Frontbuchhandel. Im Reich konnten die Käufer wegen der Mangelwirtschaft bald nicht mehr frei wählen, sodass die Verkaufserfolge nicht den wirklichen Bedarf spiegeln. Nebenbei sei angemerkt, dass Triebel selbst auf die Meldungen aus dem Reich als buchhandelsgeschichtliche Quelle175 hingewiesen hat, in denen über geradezu groteske Buchkäufe neuer und alter Titel auf den nahezu leeren Markt berichtet wurde. ›Kultur und Gesellschaft‹ des Dritten Reichs werden auf diese Weise nicht thematisiert. Dazu wäre auch die Berücksichtigung der Inhalte der verlegten Bücher notwendig gewesen. Für die positive Beurteilung der Diederichs-Titel aus der Sicht der nationalsozialistischen Kulturpolitik ist z. B. die Übersicht von Theodor Langenmaier von 1938 interessant, die Triebel nicht kennt. Miegel wird darin als »Vorkämpferin des volksdeutschen Gedankens« bezeichnet, Löns als Vertreter der »Heimat- und Stammesdichtung«, besonders sein Roman Der Wehrwolf, aus dem Langenmaier zitiert: »Besser fremdes Blut am Messer als fremdes Messer im eigenen Blut!«176 In Triebels unternehmensgeschichtlichem Ansatz hält die tragende Stütze seiner Argumentation, der Markt, den historischen Realitäten nicht stand. Diese Reduzierung führt zu ähnlichen Schieflagen wie bei den rein geistesgeschichtlichen Perspektivierungen.
173 174 175 176
Triebel, S. 297. Triebel, S. 302. Triebel: Die »Meldungen aus den Reich«. Langenmaier: Deutsches Schrifttum unserer Zeit, S. 38f.
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Am Beispiel Diederichs schält sich die zentrale Frage nach dem Objekt des Buchhandels heraus, dem Buch. Das Buch hat Warencharakter, den bedienten Nils und Peter Diederichs reichlich; es hat auch gesellschaftliche, literarische, wissenschaftliche oder andere Funktionen, auf die Eugen Diederichs abzielte. Als materielles Objekt erhielt es durch die Bemühungen um die Buchkunst eine besondere Gestaltung. Diese Aspekte finden sich in der von Ursula Rautenberg vorgeschlagenen Definition des Buchs wieder, als ein »materielles Objekt der Alltagskultur«, aber auch als ein »materielles oder ideelles Objekt […] ein Produkt der Gesellschaft, und als solches in zahlreiche Prozesse eingebunden, die zu seiner Herstellung, Verbreitung und Nutzung führen, die ihm Werte oder Erwartungen attribuieren«.177 Diese Polyvalenz von Büchern ist der eigentliche Gegenstand buchhandelsgeschichtlicher Darstellungen. 4.3 Wissenschaftliche Verlage
Bei den Verlagsgeschichten zum 20. Jahrhunderts sind die der literarischen Verlage in der Überzahl. Andere Bereiche wurden eher stiefmütterlich behandelt, was wenig über ihre Bedeutung besagt. Offenbar sind sie nur für eine eingeschränkte Öffentlichkeit interessant, dies gilt für die akademischen Arbeiten ebenso wie für die von Wissenschaftlern im Auftrage eines Verlags verfassten Werke. Besonders die Wissenschaftsverlage stehen im Windschatten. Zu einem so bedeutenden Leipziger Musikalienverlag wie C. F. Peters erschien im Jahr 2000 die Geschichte des Unternehmens von Irene Lawford-Hinrichsen178, die die Zeit von 1800 bis zur Emigration und der Wiederbegründung in Frankfurt darstellte. Sie konnte dazu zahlreiche Briefe von Anton Bruckner, Richard Wagner, Johannes Brahms oder Edvard Grieg179 aus dem Firmenarchiv verwenden, die den freundschaftlichen Kontakt mit Max Abraham und Henri Hinrichsen verdeutlichen. − Auch ein weithin unbekannter Verlag wie Gombart180 in Basel und Augsburg, bei dem z. B. Erstdrucke von Mozart und Beethoven erschienen, wurde erstmals mit seiner Geschichte präsentiert.
177 178 179 180
Rautenberg/Wetzel: Buch, S. 10. Lawford-Hinrichsen: Publishing and Patronage. Vgl. Grieg: Briefwechsel mit C. F. Peters. Rheinfurth: Musikverlag Gombart.
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Die wissenschaftlichen Verlage sind ein Desiderat der Buchhandelsgeschichte. Wolfgang J. Mommsen181 veröffentlichte 1996 einen programmatischen Aufsatz über die Verleger Paul und Oskar Siebeck und Max Weber. Er kristallisierte in dieser Beziehung die geradezu ›maieutische‹ Funktion des Verlegers heraus, die bewirkte, dass ohne die ständige und geduldige Begleitung Siebecks, das Werk Webers »niemals die Gestalt angenommen haben würde, in der wir es heute vor uns haben«182 Dieses Verhaltensmuster, das dem mancher literarischer Verlage ähnelt, findet sich besonders auch bei kleineren Unternehmen in Familienbesitz. − Auf der Geschichte des Springer Verlags von Sarkowski aufbauend widmete sich Frank Holl183 der Beziehung des Physikers Max Born zu seinem Verleger Ferdinand Springer in der Zeit von 1913 bis 1970. Die vielen zitierten Briefe belegen einen intensiven Kontakt, der aber nicht mit der von Mommsen beschriebenen Konstellation vergleichbar ist. In dieser bei Jäger angefertigten Dissertation erarbeitete Holl auch ein systemtheoretisches Modell für das »Informationsvermittlungssystem der Wissenschaft«. In der Vermittlung zwischen dem System der Wissenschaft und dem System des wissenschaftlichen Buchhandels, zu dem der Autor, der Verlag, der verbreitende Buchhandel und der Käufer gehören, entwickelt sich danach die nach oben verlaufende Spirale wissenschaftlicher Erkenntnis. Dieses Modell an einer so langen Verlagsbeziehung, die von mehreren Umbrüchen beeinflusst war, in der Praxis darzustellen, erwies sich streckenweise als problematisch. Zu dem Thema Wissenschaftsverlage erschien 2007 der Tagungsband184 einer Wolfenbütteler Veranstaltung über ihre Position im Spannungsfeld von Professionalisierung und Popularisierung, in dem die offenen Fragen gebündelt wurden. Der Beitrag von Ute Schneider thematisierte die Bedeutung der Mathematik im Verlag von B. C. Teubner,185 Sigrid Stöckel die Medizinjournale als »Foren der scientific community oder verlageigener Publikationspolitik«186, Volker Remmert die Zensurprobleme bei mathematischer Literatur zwischen 1933 und 1945.187 Stöckel188 edierte 2002 bereits einen Band über Die »rechte Nation«, den schon 181 182 183 184 185 186 187 188
Mommsen: Die Siebecks und Max Weber. Mommsen, S. 30. Holl: Produktion und Distribution. Estermann/Schneider: Wissenschaftsverlage. Schneider: Mathematik. Stöckel: Medizinjournale. Remmert: »Zensor für die mathematische Literatur?«. Stöckel: Die »rechte Nation«.
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mehrfach erwähnten, sehr komplexen J. F. Lehmanns Verlag in der Zeit von 1890 bis 1979, der sich besonders im Dritten Reich als Propagator rassenkundlicher Ideen hervortat. Helen Müller189 untersuchte in ihrer bei Hübinger in Frankfurt a. d. O. abgeschlossenen Dissertation den Verlag von Walter de Gruyter als Wissenschaftsverlag in der Zeit um 1900, wobei sie sich nicht nur auf die reichlich vorhandenen Archivalien des Verlags stützen, sondern auch mit großem Nutzen die Feldtheorie von Pierre Bourdieu anwenden konnte. − Silke Knappenberger-Jans190 konnte ebenfalls ein intaktes Verlagsarchiv benutzen für ihre Studie über den im Kulturprotestantismus beheimateten Verlag von Mohr (Siebeck) im frühen 20. Jahrhundert. Sie stellte auch die Probleme dar, die der Erste Weltkrieg für den Verlag mit sich brachte. − Auch andere Verlagstypen wurden untersucht, so von Rainer Stamm der Folkwang Verlag, der sich bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts Themen wie der Photographie und Ethnologie widmete,191 oder von Ulrich Faure192 über den Malik Verlag und seine Zusammenarbeit mit George Grosz und Wieland Herzfelde. Thomas Seng193 widmete seine 1994 erschienene Dissertation dem 1909 gegründeten Otto Reichl Verlag, der sich besonders weltanschaulichen Themen zuwandte und bis 1954 überlebte. 4.4 Drittes Reich
Für den Übergang in die 1920er und 1930er Jahre ist die Studie von Andreas Meyer194 von 1989 über die Fusion zweier ehemals liberaler Verlage, Albert Langen, dem Verlag des Simplicissimus, und Georg Müller, dem Verlag bibliophiler Ausgaben der Weltliteratur, symptomatisch. Beide kamen nach den gesellschaftlichen und finanziellen Einschnitten der Nachkriegszeit und Inflation unter das Dach des rechtslastigen Gewerkschaftskonzerns des Deutschnationalen Handlungsgehilfenverbands (DHV). Meyer hat seiner Arbeit eine ausführliche Bibliographie der Auswirkungen der Fusion der beiden Häuser von 1927 bis 1933 beigegeben.
189 190 191 192 193 194
Müller: Wissenschaft und Markt um 1900. Knappenberger-Jans: Verlagspolitik und Wissenschaft. Stamm: Der Folkwang Verlag. Faure: Im Knotenpunkt des Weltverkehrs. Seng: Weltanschauung als verlegerische Aufgabe. Meyer: Die Verlagsfusion Langen-Müller. Auch diese Arbeit von Göpfert betreut.
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Thematisch schließt die Untersuchung von Siegfried Lokatis195 aus dem Jahr 1992 über die Hanseatische Verlagsanstalt (HAVA) direkt an Meyer an, denn nach 1933 wurde der DHV von der HAVA übernommen. Durch die Fusionen wurde die HAVA zu einem Konzern, der Belletristik für den nationalsozialistischen Massenmarkt produzierte, sich aber wegen der Nähe zum Regime auch einige Nischen leisten konnte. Da jüngere Arbeiten wie die schon erwähnte von Wallrath-Janssen196 über den Verlag H. Goverts oder die über Diederichs den Forschungsstand weitgehend zusammengefasst haben, kann hier aus der Fülle der erschienen Titel nur auf wenige verwiesen werden. Die zweibändige Arbeit von Volker Dahm197 Das jüdische Buch im Dritten Reich von 1979 bis 1981 hatte Signalwirkung. Der erste Band befasste sich mit der Ausschaltung der jüdischen Schriftsteller, Verleger und Buchhändler, während im zweiten die Folgen für den Verlag von Salman Schocken exemplifiziert wurden. Mit dem Thema Der Schocken Verlag/Berlin198 beschäftigte sich 1994 ein Essayband, der von Dahm eingeleitet wurde. Dahms Forschungen folgte bereits 1993 – wenn auch nicht im Zentrum unserer Fragestellung liegend – Jan-Pieter Barbians199 Untersuchung über Literaturpolitik im Dritten Reich in der auch die den Buchhandel betreffenden Maßnahmen diskutiert wurden. Beide Arbeiten erschienen wegen des neuen thematischen Zugriffs in einer zweiten, überarbeiteten Auflage. Wurden die 1930er Jahre und das Dritte Reich vor 20 Jahren noch als ›finstere Zeiten‹ gemieden, in Verlagsgeschichten oder Verlegermemoiren auf nur wenigen Seiten abgehandelt, so ist der Kenntnisstand heute gut, vor allem für Firmen, die nicht mehr auf dem Markt sind wie eben Diederichs. Für Verlage wie J. Springer oder S. Fischer, die von Verboten oder Emigration betroffen waren, sind die Quellen weitgehend aufgearbeitet. Anders verhält es sich mit denen, die durch Anpassung diese Zeit überstanden. Viele von ihnen halten ihre Archive verschlossen in der Furcht vor unangenehmen Überraschungen und der Erkenntnis von Kontinuitäten in der Nachkriegszeit, denn die Karrieren gingen auch hier wie in allen anderen Bereichen weiter. Das Schicksal des S. Fischer Verlags von 1933 bis 1950, unter der Leitung Gottfried Bermann Fischers, hat Irene Nawrocka200 darstellt in ihrer 195 196 197 198 199 200
Lokatis: Die Hanseatische Verlagsanstalt. Wallrath-Janssen: Der Verlag H. Goverts. Dahm: Das Jüdische Buch im Dritten Reich, Bd. 2: Salman Schocken und sein Verlag. Schreuder: Der Schocken Verlag/Berlin. Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich«. Nawrocka: Verlagssitz.
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Studie mit dem bezeichnenden Titel Verlagssitz: Wien, Stockholm, New York, Amsterdam, den Stationen des Verlags, der unter großen Verlusten versuchte, vor der Verfolgung auszuweichen und nach dem Krieg in Europa wieder Fuß zu fassen. Diese Studie, die auch auf die finanzielle Verflechtung von Bonnier und Querido eingeht wie auf den Transfer von Verlagsrechten, ist weit entfernt von der Eigenschau des Verlegers Gottfried Bermann Fischer201 in seinen Erinnerungen Bedroht – Bewahrt von 1967. Sie fußt auf den komplexen Überlieferungen in den Archiven nicht nur in Deutschland, sondern auch in Stockholm oder New York. − Unter welchen Bedingungen die Verleger in der Emigration arbeiten, welche zahlreichen politischen Rücksichten sie nehmen mussten, zeigt die Untersuchung über die Anthologie The Heart of Europe, die Klaus Mann und Hermann Kesten (ohne Erfolg) in Bermann Fischers New Yorker Verlag veröffentlichten.202 − Die Geschichte der Trennung Gottfried Bermann Fischers von seinem ›Statthalter‹ Peter Suhrkamp im Jahr 1950, lange Zeit auf beiden Seiten voller Emotionen dargestellt, thematisiert Nawrocka nicht. Zu den Firmen, die die Zeit des Dritten Reichs überdauerten, gehört Bertelsmann in Gütersloh.203 Die Firmengeschichte des heutigen Medienkonzerns über seine Rolle im Dritten Reich verdankt ihr Entstehen nicht wissenschaftlichem Impetus, sondern Verlagsinteressen. Die Verlagsleitung berief 1999 eine »Unabhängige Historische Kommission zur Erforschung der Geschichte des Hauses Bertelsmann im Dritten Reich« bestehend aus dem Historiker Saul Friedländer, dem Zeithistoriker Norbert Frei, dem Theologen Trutz Rendtorff sowie dem Literatur- und Buchhandelshistoriker Wittmann. Das Unternehmen stellte den Forschern großzügige finanzielle Mittel zur Verfügung und gewährte ihnen uneingeschränkten Zugang zu allen erhaltenen Archivalien. Um der amerikanischen Kritik entgegenzuwirken und sich von dem lange gepflegten (unrichtigen) Selbstbild eines verdeckten Widerstandsverlags zu befreien, gab Bertelsmann diese Studie in Auftrag. Das Ergebnis ist eine zweibändige Darstellung der Zeit von 1930 bis 1950 mit unterschiedlicher Methodik, nicht nur der biographischen und betriebswirtschaftlichen, sondern sie bezieht »den Kontext der politischen, geistig-ideologischen und verlagshistorischen Entwicklung in Deutschland«204 mit ein. Der Querschnitt durch alle Programmbereiche zeigt einen hohen Grad von Anpassung, sodass 201 202 203 204
Bermann Fischer: Bedroht – Bewahrt. Schlawin: The Heart of Europe. Friedländer u. a.: Bertelsmann im Dritten Reich. Friedländer, S. 10.
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hier ebenfalls, besonders im Kriege, wie bei Diederichs und anderen »Goldgräberstimmung« herrschte.205 Leider haben die Herausgeber sich entschlossen, trotz der Zugänglichkeit aller Materialien, die betriebswirtschaftlichen Unternehmensdaten an den Schluss zu verbannen und sie nicht in den Darstellungsteil zu integrieren. − Eine besondere Quelle für den Wirtschaftsboom vieler belletristischer Verlage in den vierziger Jahren waren die Feldpostausgaben, denen Hans-Eugen und Edelgard Bühler206 eine Dokumentation widmeten. Trotz der Papierknappheit und der Drosselung des Heimatmarkts wurden für die Wehrmacht schätzungsweise 30 Millionen handliche Bändchen hergestellt und sicherten damit vielen Unternehmen das Überleben durch ein risikoloses Geschäft. Sie wurden im Offsetverfahren gedruckt und hatten eine eigene Logistik für den Vertrieb. In ihnen kann man sicherlich eine der Vorformen der späteren Taschenbücher207 sehen. Ein Beispiel für das Überstehen im Dritten Reich ohne Zugang zu einer Goldader war der Gustav Kiepenheuer Verlag. Ihm widmete Cornelia Funke208 1999 eine Arbeit über die Zeit von 1909 bis 1944. Sie stellt die Verlagstätigkeit in den zwanziger Jahren dar, z. B. die Reihe LiebhaberBibliothek, das Kunstprogramm sowie die Tätigkeit des Lektors Hermann Kasack. 1944 wurde der Verlag mit dem Ausschluss Kiepenheuers aus der Reichsschifttumskammer stillgelegt. − Im Unterschied zu Funke behandelt Sabine Röttig209 den Zeitausschnitt von 1933 bis 1949. Sie geht auf die Schwierigkeiten des Kiepenheuer Verlags ein, die nach 1933 die Marktbeherrschung durch die NS-Verlage ebenso mit sich brachten wie das Zurückdrängen der linken und bürgerlichen Verlage. Die Arbeit orientiert sich an den Quellen, vor allem an Briefen, stellt aber den Verleger und seine Aktivitäten in den Vordergrund, etwa die Konkurrenz des Aufbau-Verlags, wodurch nach dem Krieg ein Neuanfang behindert wurde. Sie thematisiert auch die Zusammenarbeit mit Joseph Caspar Witsch und den Umzug des Verlags von Weimar nach Hagen, wo Witsch 1949, dem Todesjahr Kiepenheuers, ein neues Unternehmen startete, das ab 1951 den Doppelnamen führte.
205 206 207 208 209
Friedländer, S. 409f. Bühler: Der Frontbuchhandel, S 125. Vgl. Estermann: »Buch und Masse«. Funke: »Im Verleger verkörpert sich das Gesicht der Zeit«. Röttig: »… bleiben Sie wie bisher getrost in Dichters Landen ….«.
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4.5 Bundesrepublik und DDR
Die Situation der Nachkriegszeit und der jungen Bundesrepublik spiegelt sich auch in den Verlagsgeschichten. Gab es bei der Währungsreform rund 850 Verlage mit einer Lizenz der Alliierten, so war 1955 davon bereits ein Drittel verschwunden.210 Es blieben die Altverlage bestehen, wenn auch nach teilweise empfindlichen Trennungsprozessen, sei es wie bei S. Fischer und Suhrkamp oder Kiepenheuer & Witsch oder aber bei den Parallelverlagen, die unter dem gleichen Namen in der DDR und im Westen firmierten wie Reclam oder Insel. Firmengeschichten über die Zeit der Bundesrepublik sind eine Seltenheit. Zum 25. Jubiläum von Kiepenheuer & Witsch 1949 bis 1974211 erschien z. B. ein Band mit Beiträgen von Verlagsautoren, einer unpräzisen und verschleiernden Firmengeschichte sowie einer Liste von Verlagstiteln. Zum Vierzigsten von Suhrkamp212 wurde 1990 eine reich bebilderte Verlagschronik mit annotierten Titeln publiziert, zum Dreißigsten von dtv213 1991 eine kurze Programmgeschichte, eine Verlagschronik, Bilder von Mitarbeitern und von Umschlägen sowie ein Gesamtverzeichnis der Titel. Beliebt sind auch Verlagsalmanache, die stolz das Erreichte präsentieren, wie z. B. Stationen. Piper-Almanach 1904 bis 1964.214 Diese Publikationen, häufig jährlich erscheinend, dienen vorrangig der Außenwirkung der Verlage. So ist es nicht verwunderlich, dass erloschene Verlage wie der von Willi Weismann215, der von 1946 bis 1954 bestand oder der von Paul Steegemann216, der nach seinem Neubeginn 1949 bis 1955 arbeitete, Gegenstand kleinerer Untersuchungen wurden. Waren diese angesehenen Unternehmen Opfer der ersten ›Bücherkrise‹ und der sich verändernden Marktstruktur, so lag der Fall bei Kurt Desch anders. Sein Verlag wurde 1973 unrühmlich verkauft und ging in einer Flut von Prozessen und Konkursanträgen unter. Die Frühzeit dieses Verlags, die Zeit von 1945 bis 1950, untersuchte Bernd R. Gruschka217 in der von Jäger betreuten Dissertation. Durch sein geschicktes Taktieren erhielt Desch, obwohl selbst tief in das NS-System ver210 211 212 213 214 215 216 217
Vgl. Schwenger: Buchmarkt und literarische Öffentlichkeit; Umlauff: Der Wiederaufbau. Kiepenheuer & Witsch 1949 bis 1974. Suhrkamps Verlagsgeschichte. 30 Jahre Deutscher Taschenbuch Verlag. Piper: Stationen. Piper-Almanach. Meyer: Broch, Canetti, Jahnn. Meyer: Paul Steegemann Verlag. Gruschka: Der gelenkte Buchmarkt.
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strickt, die erste Lizenz in Bayern und konnte mit materieller Unterstützung amerikanischer Stellen schneller als andere sein neues Unternehmen starten. Gruschka stellt seiner Studie ein systemtheoretisches Kapitel zur »Theorie der Kontrolle buchmedialer Kommunikation« voran, in dem er einen »hypothetischen Zusammenhang zwischen der amerikanischen Kommunikationskontrolle und der Entwicklung des Verlags Kurt Desch« konstruiert.218 In diesem Sonderfall eines kontrollierten Buchmarkts, bei dem mehrere Komponenten eines freien Markts von vornherein wegfallen, ist die Anwendung dieser Theorie durchaus stringent. Bis zur Wende war die Verlagslandschaft der DDR kein Thema, Meyers Literaturbericht von 1987 erwähnt sie erst gar nicht. Dennoch waren beide Buchhandelssysteme nicht hermetisch von einander abgeschnitten, wie es politisch den Anschein haben konnte. Walter Janka, Leiter des Aufbau-Verlags bis zu seiner Verhaftung 1956, berichtete z. B. in seinen Erinnerungen, dass bereits Suhrkamp in den 1950er Jahren von den Brecht-Ausgaben 2 000 bis 3 000 Exemplare in Leipzig mitdrucken ließ, die dann auf den westdeutschen Markt kamen. Dem komplizierten ›innerdeutschen Literaturaustausch‹ widmete sich 1996 die Tagung über Das Loch in der Mauer.219 Hier ging es um die unterschiedlichen Institutionen, die Verlagsbeziehungen von Parallelverlagen wie Rütten & Loening, die Autorenkontakte oder ihre Rezeption in den beiden Staaten mit dem Fazit, dass die Durchlässigkeit der Mauer weitaus größer war als angenommen, etwa auf den Messen, dem Buchhandelsverkehr, der Zusammenarbeit mit westdeutschen Verlagen oder den großen Editionsunternehmen wie der Schiller-Nationalausgabe. Dennoch ist die Situation für die Buchhandelsgeschichtsschreibung der DDR eine völlig andere als die der Bundesrepublik: Zum einen unterlag der Buchhandel in der DDR der zentralen staatlichen Kontrolle, zum anderen hat sich durch den Zusammenbruch des politischen Staats auch die Verlagslandschaft verändert. Neue Besitzverhältnisse oder Verlagsauflösungen haben ihre Ablagerungen in den Archiven hinterlassen. Anders als im Westen ist nach dem Ende des Bestehens der DDR die Benutzung von Verlagsarchivalien einfacher, denn die Skala der nach Privatinteressen abgestuften Zugänglichkeit ist hier nicht gegeben. Im Osten liegen die Archive nach der Auflösung bzw. Umstrukturierung vieler Verlage offen,
218 Gruschka, S. 36f. 219 Lehmstedt/Lokatis: Das Loch in der Mauer.
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wie etwa bei Volk und Welt220, dessen Unterlagen 1989 an die Akademie der Künste Berlin-Brandenburg übergeben wurden. Neben kleineren Studien z. B. zum Greifenverlag221 in Rudolstadt, der von 1919 bis 1993 arbeitete und dessen Spezialgebiet unter dem Geschäftsführer Karl Dietz die Wandervogelliteratur war, später Exilliteratur und das ›Literarische Erbe‹, wurde vor allem der Aufbau-Verlag thematisiert. Besonders Carsten Wurm widmete sich intensiv diesem bedeutenden Literaturverlag mit mehreren Studien. 1995 publizierte er zum 50-jährigen Bestehen des Verlags Jeden Tag ein Buch 222, in dem er neben der Programmgeschichte auch auf die besseren Startbedingungen in Berlin einging, wo es z. B. größere ungenutzte Druckkapazitäten gab als in Leipzig. 1996 veröffentlichte Wurm223 eine Studie über den frühen Aufbau-Verlag von 1945 bis 1961, der im Widerstreit zwischen dem Bestreben nach Selbstständigkeit der Verlage in der DDR und der Kulturpolitik der Partei stand. Die Situation der wissenschaftlichen Verlage und ihre Abhängigkeit hat Lokatis224 1996 am Beispiel des Akademie Verlags demonstriert. Hier konnte sich keine Autor-Verleger-Beziehung entwickeln, wie sie Wolfgang J. Mommsen225 für die Siebecks und Weber beschrieben hat. Für die Verlagsgeschichtsschreibung der DDR stellt sich also generell nicht die Frage nach der Bedeutung der ›Verlegerpersönlichkeit‹ und ihrem Einfluß auf das Programm: »Die Rolle des Verlegers trat in diesem System gegenüber der Bedeutung bürokratischer Verfahren und undurchsichtiger Entscheidungssprozesse in den Hintergrund, auch wenn im Dickichte des Gerangels von Parteiinstanzen und staatlichen Stellen informellen Faktoren, persönlichen Kontakten und Einflusschancen mehr denn je entscheidendes Gewicht zukam«226. Das bedeutet, dass im Unterschied zur Geschichte der Verlage in der Bundesrepublik hier keine reine Programmgeschichte geschrieben werden kann, sondern dass die Kontrollinstanzen verschiedenster Art stets mit einbezogen werden müssen. Dies belegt der Sammelband Jedes Buch ein Abenteuer! 227 deutlich an vielen Beispielen. Besonders die Verlagsgeschichte ist dann immer auch Zensurgeschichte. Hier 220 221 222 223 224 225 226 227
Vgl. Barck/Lokatis: Fenster zur Welt, S. 24f. Wurm/Henkel/Ballon: Der Greifenverlag. Wurm: Jeden Tag ein Buch. Wurm: Der frühe Aufbau Verlag. Lokatis: Wissenschaftler und Verleger. Vgl. Mommsen: Die Siebecks und Max Weber. Lokatis: Wissenschaftler und Verleger, S. 46. Barck/Langermann/Lokatis: »Jedes Buch ein Abenteuer«.
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liegt der Unterschied der Buchhandelsgeschichten in den beiden deutschen Staaten. Verlage in der DDR verstanden sich in erster Linie nicht als Wirtschaftsbetriebe. Dass die verzögerte Manuskriptabgabe an die Druckereien, deren Produktionsrhythmus wiederum von der Papierzuteilung abhängig war, durch die langen Prüfungen zu großen Verzögerungen führen konnte, liegt auf der Hand. Im Akademie Verlag z. B. fielen »1960 […] im Bereich Geisteswissenschaften von 128 geplanten Titeln 82 aus. Die Redaktion Philosophie musste von 15 geplanten Titeln 9 streichen«228. Dennoch bestand ein ökonomischer Zwang, dem sich auch der Verlag anpasste, indem er notwendige Eingriffe in die Forschungspläne eines Instituts mit politischen Argumenten begründete. Nicht nur beim Akademie Verlag bestand das grundsätzliche Dilemma: »Insgesamt konterkarierten die vom Verlagswesen ausgehenden wirtschaftlichen Zwänge alle wissenschaftspolitischen und ideologischen Vorgaben der Zentrale«.229 Dass es aber in dieser komplizierten Konstellation möglich war, ein breites Programm an Weltliteratur zu realisieren, belegt der Band Fenster zur Welt.230 Die Herausgeber Simone Barck und Lokatis versuchten anhand der Lektoratsstruktur des Verlags Volk und Welt eine Programmgeschichte vorzustellen, indem sie andere Fragen wie die ökonomischen Aspekte in den Hintergrund treten ließen. Es kam ihnen zugute, dass nicht nur das Verlagsarchiv zur Verfügung stand, sondern auch das komplette Bucharchiv, das sich heute in Eisenhüttenstadt befindet.
5 Langzeitgeschichten In seiner Verlagsgeschichte über die 150 Jahre von Velhagen & Klasing von 1985 stellte z. B. Horst Meyer231 die Zeit von 1953 bis 1985 lediglich als »Zeittafel und Ereignisse« dar. Zu nah war offensichtlich der Chronist an den Geschehnissen. Neuere Verlagsgeschichten von Firmen mit langer Lebensdauer enthalten in der Regel Kapitel über das frühe 20. Jahrhundert, das Dritte Reich, die Bundesrepublik oder auch die DDR und die Wiedervereinigung. Diese Zeitabschnitte sind Teil der Verlaufsgeschichte, können also weniger intensiv behandelt werden. Als Auftragsarbeiten 228 229 230 231
Lokatis: Wissenschaftler und Verleger, S. 54. Lokatis, S. 61. Vgl. Barck/Lokatis: Fenster zur Welt. Meyer: Velhagen & Klasing.
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haben sie auch eine andere Perspektivierung. Das unterscheidet sie von den bisher vorgestellten Studien. Wittmann232 z. B. geht in Hundert Jahre Buchkultur in München, 1993 im Auftrag von Hugendubel erschienen, speziell auf die regionalgeschichtliche Situation ein, von der Prinzregentenzeit vor dem Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart. Er thematisiert besonders auch das Münchner Sortiment. Die Kapitel sind unterschiedlich gewichtet, was der Quellenlage entspricht. − Wurm233 stellt in seiner Geschichte 150 Jahre Rütten & Loening von 1994 erstmals die Kontinuität des 1844 in Frankfurt gegründeten Verlag des Struwwelpeter dar, der über Potsdam nach Berlin wanderte und als Parallelverlag in der DDR überlebte. (Der westdeutsche Rütten & Loening Verlag erlosch 1992.) Nach seinen liberalen Anfängen wandte sich der Verlag der jüdischen Selbstbesinnung zu, überlebte das Exil und wurde in der DDR Teil der Aufbau-Gruppe. Die Archivalien vor 1945 sind verloren, die für die spätere Zeit konnte Wurm ungeschränkt benutzen, sodass seine Geschichte gerade für die letzten Jahrzehnte ein klares Bild der Verlagsarbeit unter den Bedingungen der SED dieses kleinen Unternehmens bietet. − Edda Zieglers234 Band 100 Jahre Piper von 2004 behandelt vor allem die Programmgeschichte dieses literarischen Verlags, mit Rekursen auf die jeweilige Zeitstimmung. Ihr Zugang zu den Archivalien ist unterschiedlich dicht. In dem von Thomas Keiderling235 herausgegebenen Band F. A. Brockhaus 1905 bis 2005 zum 200-jährigen Bestehen des Unternehmens dagegen kann wegen der anderen Programmausrichtung und der dichteren Quellenlage mit umfangreichen Archivalien, Protokollen und Geschäftsberichten konkreter auf die Arbeit an den verschiedenen Lexikonauflagen und anderen Verlagswerken eingegangen werden. Er stellt den Verlag in allen Epochen des 20. Jahrhunderts, einschließlich der DDR und der Wiedervereinigung dar. Hier sind auch die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen der Verlagsarbeit in der konjunkturellen und politischen Entwicklung detailliert berücksichtigt, ein Vorgehen, das bei den meisten Verlagsgeschichten fehlt oder nicht möglich ist. Dass ein Verlag wie F. A. Brockhaus lange Zeit als Familienunternehmen geführt werden konnte, zeigt, dass diese Form für die relativ kleinteilige Struktur der deutschen Verlagslandschaft besonders geeignet war. Um die Dignität dieses Unternehmens zu 232 233 234 235
Wittmann: Hundert Jahre Buchkultur in München. Wurm: 150 Jahre Rütten & Loening. Ziegler: 100 Jahre Piper. Keiderling: F. A. Brockhaus, 1905–2005.
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untersteichen, wurde die Verlagsgeschichte von Heinrich Eduard Brockhaus von 1905 als Reprint beigegeben.− Den größten Umfang nimmt die Zeit der Bundesrepublik in Wittmanns236 Geschichte des Carl Hanser Verlags 1928 bis 2003 von 2005 ein, da das Unternehmen sich in seiner Frühzeit vor allem werkstattkundlichen und technischen Themen widmete, die nur kurz berührt werden. Das Schwergewicht liegt auf dem Verlag der Klassiker, der Gegenwartsliteratur und den fremdsprachigen Autoren, während die anderen Programmbereiche wie der Kinderbuch-, Sachbuch- und Fachbuchverlag geringeren Raum einnehmen. Leider dominierte hier die Programmgeschichte, was eine bestimmte Reihung von Titeln und Namen nach sich zieht. Es wird aber auch ein besonderes Problem der jüngeren Verlagsgeschichtsschreibung deutlich, die hier an ihre Grenzen stößt, wenn die wirtschaftlichen Daten nicht zugänglich gemacht werden. In seiner jüngsten Verlagsgeschichte über 150 Jahre Oldenbourg Verlag von 2008 ging Wittmann237 einen anderen Weg. Nach der Darstellung der Geschichte des vor allem auf Schulbücher spezialisierten Verlags wählte er drei Fallbeispiele, um die Arbeit des Unternehmens intensiver vorzustellen: Schriften zur Raumfahrt in den 1920er und 1930er Jahren, die beiden Periodika Corona und Historische Zeitschrift im Dritten Reich sowie die Oldenbourg-Fibel Mein Buch, die über Jahrzehnte erscheint. Wittmann stand das komplette Verlagsarchiv zur Verfügung, er konnte z. B. bei den Zeitschriften ganze Redaktionsvorgänge rekonstruieren, etwa den Streit um den Niederländer Johan Huizinga, dessen Artikel der Herausgeber der Historischen Zeitschrift, Friedrich Meinecke, 1933 gegen den Einspruch des Auswärtigen Amts abdruckte, wenn auch am Ende eines Hefts238. Die Anpassung an das NS-Regime bei scheinbar harmlosen Themen wie Schulbüchern wird deutlich herausgearbeitet. Es ist geradezu erfreulich, dass diese Verlagsgeschichte auf eine erschöpfende Gesamtbibliographie verzichtete. Der Auftragscharakter vieler Verlagsgeschichten (Hanser, Piper, Oldenbourg) dieser Art wird daran sichtbar, dass die Unternehmen offensichtlich großen Wert auf die Präsentation der Gegenwart legen, sei es durch die Beigabe von Bildern und Listen der Mitarbeiter, sei es von Statements über Zukunftspläne, die den Charakter von Werbetexten annehmen können. Dies lässt manchmal Zweifel an ihrer Unabhängigkeit aufkommen. 236 Wittmann: Der Carl Hanser Verlag. 237 Wittmann: Wissen für die Zukunft. 238 Wittmann, S. 260f.
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6 Andere Sparten Gegenüber der überwältigenden Fülle der Verlagsgeschichten hat die Menge der Untersuchungen zum verbreitenden Buchhandel höchstens die Größe eines Bonsai-Bäumchens erreicht. − Wie Lehmstedt239 1996 feststellte, ist die eigentliche Literaturvermittlung wenig untersucht worden. Dies hat sich bis heute kaum geändert. Aufgrund akribisch recherchierter Archivalien konnte Lehmstedt nachweisen, dass die Ursache für die Entstehung des Kommissionsbuchhandels im späten 18. Jahrhundert darin lag, dass viele Verleger-Sortimenter wie Orell & Gessner in Zürich oder Trattner in Wien den mühsamen Messebesuch scheuten und andere Firmen damit beauftragten, um an der Zirkulation von neuen Titeln teilnehmen zu können und den Transfer der Waren zu beschleunigen. Der daraus entstandene Kommissionsbuchhandel verbesserte den qualitativen wie finanziellen Umschlag von Büchern seit dem späten 18. Jahrhundert erheblich. Den Modernisierungsprozess des Leipziger Kommissionsbuchhandels in der Zeit von 1830 bis 1888 untersuchte Keiderling.240 Dieser buchhändlerische Geschäftszweig entsprach im 19. Jahrhundert dem Bedürfnis nach Rationalisierung und Zentralisierung. So stieg die Zahl der Kommissionsgeschäfte von 49 im Jahr 1830 auf 140 im Jahr 1888.241 Aufgrund der archivalischen Quellen in Dresden und Leipzig konnte Keiderling auch nachweisen, dass die Zentralisierung auch für die Zensur vereinfachte Bedingungen bot. − Für die jüngere Zeit hat Jürgen Petry die Geschichte des Leipziger Kommissions- und Großbuchhandels untersucht.242 Der Sortimentsbuchhandel dagegen ist nach wie vor ein Stiefkind der Buchhandelsgeschichte, hier ist die Quellenlage am schlechtesten, denn selten haben die Geschäftsunterlagen von Sortimenten den Weg in die Archive gefunden. Dabei war das Sortiment die erste Stufe für den Eintritt in den Beruf. Bedeutende Verleger wie Hertz z. B. eröffnete 1846 in bester Berliner Lage eine Sortimentshandlung, auf der er später seinen Verlag aufbaute, ähnlich wie schon Nicolai im 18. Jahrhundert.243 Ernst Fischer244 z. B. befasste sich mit der Gründung eines unabhängigen Sortiments durch Perthes im Jahre 1796 in Hamburg. Dieser Versuch war offensicht239 240 241 242 243 244
Lehmstedt: Herausbildung des Kommissionsbuchhandels. Keiderling: Die Modernisierung. Keiderling, S. 201. Petry: Das Monopol. Davidis: Der Verlag von Wilhelm Hertz, Sp. 1276–1280. Fischer: »Was bisher noch niemand wagte.«
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lich nicht sehr erfolgreich, denn Perthes gründete bereits 1799 einen eigenen Verlag, um ein weiteres Standbein zu haben. Autobiographische Schriften oder Berichte von Zeitgenossen sind eine ergiebige Informationsquelle für diesen Buchhandelszweig. Hans Benecke z. B. zeichnete 1995 seine Erinnerungen an Eine Buchhandlung in Berlin im Dritten Reich auf. Nur mit einer Ausnahmegenehmigung ausgestattet führte er die Amelang’sche Buchhandlung bis zu ihrer Zerstörung 1944.245 − Godula Buchholz berichtete 2005 über die Arbeit ihrer Eltern in einer großen Buchhandlung in Berlin und den Aufbau von Niederlassungen von Kunst- und Buchhandlungen im Ausland, besonders in Spanien und Südamerika.246 Darstellungen über Sortimentsbuchhandlugen sind ebenso selten, hier hatte Wittmann in seiner Hugendubelstudie bereits vorgearbeitet. Sarkowski stellte 1995 zum 150-jährigen Bestehen die Geschichte der Buchhandlung Weiland in Lübeck zusammen, ohne autobiographischen Bezug.247 Es wurde deutlich, wie dieses Unternehmen durch seine Aktivitäten, und kulturellen Veranstaltungen das literarische Leben der Stadt belebte. − Ein ähnliches Vorhaben realisierte mit ihren engagierten Bemühungen die Berliner Buchhändlerin Tilly Meyer, die mit ihrer Bücherstube in Dahlem ein kleines kulturelles Zentrum aufbauen wollte und damit scheiterte, wie 2007 Martin Hollender schiderte.248 Den Leihbuchhandel als eigenes Feld entdeckt zu haben, ist das Verdienst von Alberto Martino und Jäger. Jägers Forschungen über die Leihbibliothekskataloge flossen in Martinos über 1000 Seiten starke Studie über die Geschichte dieser Institution ein.249 − Haug hat sich den Reisebuchhandel erschlossen, dem sie neben zahlreichen Veröffentlichungen ihre Mainzer Habilitationsschrift widmete.250
245 246 247 248 249 250
Benecke: Eine Buchhandlung in Berlin. Buchholz: Karl Buchholz. Sarkowski: Gustav Weiland Nachf. Hollender: An Ideen fehlt es mir ja nie. Martino: Die deutsche Leihbibliothek. Haug: Reisen und Lesen im Zeitalter der Industrialisierung; Haug: »Das halbe Geschäft beruht auf den Eisenbahnstationen.«
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7 Desiderate Trotz der großen Fortschritte, die in den letzten 20 Jahren auf dem Gebiet der Buchhandelsgeschichte gemacht wurden, bleiben dennoch einige Wünsche offen. Zu wünschen wäre, dass neben der Dominanz der Programmgeschichte der zahlreichen literarischen Verlage auch die Geschichte anderer Verlagstypen erarbeitet würde, auch des verbreitenden Buchhandels mit allen seinen Zweigen. Dazu wäre eine verbesserte Übersicht über die Standorte von Archivalien nicht nur im öffentlichen Besitz, sondern auch in Privathand eine wichtige Voraussetzung. Wichtig wäre überdies, eine verstärkte Betrachtung von Verlagen als Wirtschaftsunternehmen, die sich am Markt im Umfeld ihrer Konkurrenten behaupten müssen, denn sie bestimmen als Mitbewerber indirekt auch das Programm. Dies setzt eine vergleichende Untersuchung mehrerer Verlage oder Verlagstypen voraus, um die wissenschaftliche, kulturelle und intellektuelle Physiognomie einer Epoche zu analysieren. Dadurch kann in Längsschnitten auf die Wirkung von Büchern zurück geschlossen werden. Der über lange Zeit, aus der Literaturwissenschaft übernommenen personengeschichtlichen Ansatz, wirkt hier kontraproduktiv. Für die Verlage gilt immer noch die Meinung Werner Sombarts: »Das Gewinnstreben wird, wie ich es nenne, objektiviert. Wir können also sagen: die kapitalistische Unternehmung hat ihren eigenen Willen.«251 Es wäre angebracht, die Arbeitsweise dieser doppelpoligen, materiellen und ideellen ›kapitalistischen Unternehmung‹ zu untersuchen und zu vernetzen. Dazu wurden bereits mehrere Ansätze und Versuche mit jeweils eigenen Methoden gemacht. Besonders erwähnt sei hier Jägers Versuch einer systemtheoretischen Annäherung, die jedoch nur wenig (außer bei Holl und Gruschke) angewandt wurde.252 Da die ›kapitalistische Unternehmung‹ aber alle Bereiche des Buchhandels mit einschließt, den herstellenden und wie den verbreitenden, ist ihr ›eigener Wille‹ auch nur in einer entsprechenden kulturellen Umwelt zu realisieren. Das bedeutet, die Wirkung und Wechselwirkung dieser Unternehmung im Bereiche der Rezipienten und Käufer ebenso zu untersuchen wie die in der medialen Umwelt. Die Zusammenarbeit der Historischen Kommissionen des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels mit der ARD und ihre Schriftenreihe Buch, Buchhandel und Rundfunk 253 oder die Kooperation mit der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte haben 251 Sombart nach Tabaczek: Kulturelle Kommerzialisierung, S. 299. 252 Jäger: Keine Kulturtheorie. 253 Vgl. die Reihe: Buch, Buchhandel und Rundfunk.
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erste, noch nicht immer befriedigende Ansätze gezeigt. Daraus sollte eine Erweiterung der Perspektive auf die Buchhandelsgeschichte der europäischen Nachbarländer erwachsen, die nicht nur monolithisch nebeneinander stehen, sondern untereinander in weitaus größerem Maße verbunden sind als allgemein angenommen wurde. Damit kann eine einseitige Fokussierung und Verengung auf den deutschen Buchmarkt mit seinen kleinteiligen Wirtschaftsstrukturen geöffnet werden. Der zukünftigen Buchhandelsgeschichte bleiben noch viele Aufgaben.
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Monika Estermann
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BEATE MÜLLER
Zensurforschung: Paradigmen, Konzepte, Theorien 1 2 3 4 5 6 7 8
Einleitung Geschichte und Landschaft der Zensurforschung Empirisch-historische Zensurforschung: Zensurgeschichten Bandbreite der empirisch-historischen Forschungsliteratur Fragen statt Antworten: Zensur als ›doppelte‹ Kommunikation Theoretische Zensurforschung Desiderate Literaturverzeichnis
1 Einleitung Zensur ist ein »transepochales Kulturphänomen«.1 Zensorische Kommunikationskontrolle erstreckt sich potentiell auf Musik und darstellende Kunst, auf Wissenschaft und Lehre, auf Literatur, Theater und Film, auf Printmedien, Hörfunk und Fernsehen – kurzum, auf alle für ein Publikum bestimmten kommunikativen Äußerungen, ob schriftlicher oder mündlicher, visueller oder akustischer Natur. Je nach Definition von ›Zensur‹ sind selbst nicht-öffentliche soziale Interaktionen zwischen Menschen von zensurartigen Mechanismen geprägt. Hier zeigen sich schon Art und Ausmaß der Schwierigkeiten, mit denen die Zensurforschung konfrontiert ist: Erstens erfordert die Fülle der verschiedenen Epochen und Länder, in denen Zensur auftritt, kontextspezifische Analysen, deren Ergebnisse sich dann aber wiederum nur erschwert auf andere Kontexte übertragen und mit diesen vergleichen lassen. Die Stärke der auf einen konkreten historischen Rahmen, auf individuelle Zensurfälle bezogenen Untersuchung – nämlich die Genauigkeit des Zugriffs auf historische Spezifika – ist zugleich ihre Schwäche, weil die Gefahr besteht, dass die historische und/oder auf Einzelfälle bezogene 1
Aulich: Elemente einer funktionalen Differenzierung, S. 183.
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Studie nicht direkt relevant ist für andere Kontexte und sich ihr Autor gar nicht erst die Mühe macht, die eigenen Ergebnisse in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Daher bleibt der Horizont insofern beschränkt, als der historische Zugriff die Sicht auf systematische, übergeordnete Relationen verstellen kann. Zweitens bedeutet die Tatsache, dass Zensur so viele unterschiedliche kommunikative Kontexte betreffen kann, dass der disziplinäre Hintergrund der Wissenschaftler, die sich mit Zensur auseinandersetzen, äußerst divers ist. Wo Musik zensiert wird, arbeiten Musikwissenschaftler über Musikzensur; Zensur in der darstellenden oder bildenden Kunst ruft Kunsthistoriker auf den Plan; wo Medien zensiert werden, engagieren sich Medienwissenschaftler; Literaturzensur wird von Literaturwissenschaftlern aufgearbeitet usw.; zudem untersuchen Historiker, Politologen, Soziologen, Kulturwissenschaftler, Psychologen, Theologen und Juristen verschiedene Bereiche, in denen Zensur zutage tritt. Diese Polydisziplinarität der Zensurforschung klingt spannend, aber mancher schreckt auch »vor dem interdisziplinären Umfang des Gegenstandes zurück«,2 welcher zudem Probleme des Wissenstransfers mit sich bringt, denn zum einen haben die genannten Einzeldisziplinen ihre eigenen epistemologischen Interessen, Konzepte und Traditionen, so dass der Austausch über Fachgrenzen hinweg konzeptionell schwierig sein kann; und zum anderen ist die Rezeption von Forschungsergebnissen oft primär fachspezifisch, so dass wichtige Beiträge aus Nachbardisziplinen nicht unbedingt zur Kenntnis genommen werden. Erdmann Weyrauch urteilt: »Die Disziplinen sind, was das Studium der Zensur anbelangt, alles in allem, auf ihren angestammten Kathedern geblieben.«3 Außerdem wirken sich – wie bei anderen Forschungsgebieten auch – Sprachbarrieren nachteilig auf den wissenschaftlichen Austausch aus. Drittens – und dies ist meines Erachtens das wichtigste Problem der Zensurforschung – ist man sich nicht allenthalben einig darüber, was nun den eigenen Gegenstandsbereich eigentlich ausmacht: »in the realm of theory, there seems no longer to be any consensus about what censorship is«, befindet Sophia Rosenfeld.4 Ergo variieren Definitionen und Konzepte von Zensur, weshalb der eine als ›Zensur‹ bezeichnet und untersucht, was für den anderen gar keine ist und deshalb auch keiner wissenschaftlichen Betrachtung bedarf.
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Breuer: Stand und Aufgaben der Zensurforschung, S. 37. Weyrauch: Zensur-Forschung, S. 476. Rosenfeld: Writing the History of Censorship, S. 117.
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Daher gibt es auch keine generell etablierten Paradigmen und akzeptierten analytischen Instrumentarien für die Arbeit an der Zensur. Angesichts der ideologischen, epistemologischen ebenso wie methodischen Divergenzen, die sich hier offenbaren, sollte man meinen, in der Zensurforschung würden heftige Grundsatzdebatten geführt. Dem ist aber nicht so. Die historisch geneigten Pragmatiker überlassen die ›querelle‹ den Theoretikern, und diese jenen das weite Feld der Fakten und Details. In einem Gebiet, in dem noch nicht einmal Konsens über den eigentlichen Gegenstandsbereich besteht, käme es jedoch ganz besonders auf gründliche, einzelfall- und epochenübergreifende Methodenreflexion an. Dieser Beitrag konzentriert sich daher nicht auf die Zensurgeschichte in deutschen Landen, nicht in erster Linie auf Einzelfall- und epochenbezogene Studien, sondern auf einen systematischen Überblick über die Forschungslandschaft zur Zensur mit besonderer Berücksichtigung solcher Arbeiten, die die Forschung methodisch bereichert haben oder sie bereichern könnten. Die Bibliographie ist nicht enzyklopädisch, sondern exemplarisch angelegt – notgedrungen, denn wer in der Deutschen Nationalbibliografie online das Stichwort ›Zensur‹ eingibt, erhält mehr als 700 Einträge; grenzt man die Suche auf Publikationen nach 1985 ein, sind es noch fast 400, und nur ein kleinerer Teil davon bezieht sich auf die Notengebung und ist hier ergo irrelevant.5 Da es in diesem Handbuch um neuere Entwicklungen der letzten 20 bis 25 Jahre gehen soll, werde ich auf ältere Publikationen nur eingehen, wenn sie richtungweisend für die Forschung gewesen sind. Ausdrücklich möchte ich deshalb auf die zahlreichen Lektürehinweise aufmerksam machen, die sich in Klaus Kanzogs Standardartikel zur Zensur im Reallexikon von 1984 sowie in einem Aufsatz von Dieter Breuer zur Zensurforschung von 1988 finden; für den angelsächsischen Sprachraum ist Frank Hoffmanns kommentierte Bibliographie von 1989 hilfreich.6 Ich werde auch Beiträge nicht-germanistischer Provenienz vorstellen, weil viele der interessantesten und viel versprechendsten Ansätze in der jüngeren Vergangenheit nicht aus dem deutschsprachigen, sondern dem angelsächsischen und französischen Raum kommen: Neben der Systemtheorie können hier schon die Kanonforschung, der amerikanische ›New Censorship‹, Pierre Bourdieus Feldtheo-
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Deutsche Nationalbibliothek: http://www.d-nb.de/ [05.12.2007]. Kanzog: Zensur, literarische; Breuer: Stand und Aufgaben der Zensurforschung; Hoffmann: Intellectual Freedom and Censorship.
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rie und Michel Foucaults machtphilosophische und diskursanalytische Überlegungen als Hauptimpulsgeber identifiziert werden.
2 Geschichte und Landschaft der Zensurforschung Die Zensurforschung ist – zumindest im deutschsprachigen Raum – bedeutend jünger als ihr Gegenstand. Mitte des 19. Jahrhunderts waren es zunächst Historiker und Literaturhistoriker, die sich mit der Zensur, und zwar vor allem mit Literaturzensur und Pressepolitik, auseinandersetzten.7 Im Zuge des Fin de siècle rückten skandalträchtige Zensurfälle und damit einhergehende öffentliche Diskussionen um Kunstfreiheit, wie sie sich beispielsweise an den umstrittenen Aufführungen von Gerhart Hauptmanns Die Weber oder von Arthur Schnitzlers Der Reigen entzündeten, die Zensur stärker ins allgemeine Bewusstsein.8 Weyrauch konstatiert, »daß eine wissenschaftlich betriebene Zensurforschung erst zum Ende des letzten Jahrhunderts eingesetzt hat.«9 Er gliedert die historische Zensurwissenschaft in drei Abschnitte: Wir unterscheiden 1. den Beginn der wissenschaftlichen Zensurgeschichtsforschung in der Geschichte des deutschen Buchhandels von Friedrich Kapp und Johann Goldfriedrich; 2. eine Phase der populärwissenschaftlichen Ausbreitung umfassender Materialien und Abhandlungen zur Zensurgeschichte und einzelnen Zensurfällen, vor allem durch Heinrich Hubert Houben, sowie schließlich 3. das Einsetzen der modernen, systematischen Zensurgeschichtsschreibung und -forschung mit teilweise interdisziplinären Forschungs- und Analyseansätzen. Wollte man diese drei Phasen zeitlich fixieren, ergäben sich folgende Abschnitte: ca. 1870–1914; 1918–1940; ca. 1960ff.10
Impulsgebend für die germanistische Zensurforschung waren die überwiegend in den 1920er Jahren verlegten Bücher von Houben – Kanzog urteilt: »Das Interesse an Einzelfällen und die Neigung zur anekdotischen Darstellung blieben nach Houbens Vorbild überhaupt ein Kennzeichen der Z.forschung.«11 Dieser Einschätzung kann heute jedoch nur noch bedingt zugestimmt werden. Zwar ist es richtig, dass viele Publikationen zur 7 8 9 10 11
Siemann: Normenwandel auf dem Weg zur »modernen« Zensur, S. 63. Zum juristischen Hintergrund der Berliner »Weber«-Aufführung vgl. Hauptmann: Die Weber. – Zum »Reigen«-Prozeß von 1921 vgl. Pfoser/Pfoser-Schewig/Renner: Schnitzlers Reigen. Weyrauch: Zensur-Forschung, S. 476. Weyrauch, S. 476f. Kanzog: Zensur, literarische, S. 1003. Die wichtigsten Publikationen von Houben sind: Hier Zensur – wer dort?; Houben: Der gefesselte Biedermeier; Houben: Verbotene Literatur; Houben: Der ewige Zensor. Näheres zu Houbens Forschungen s. Weyrauch: ZensurForschung, S. 479f. sowie Breuer: Stand und Aufgaben der Zensurforschung, S. 40–43.
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Zensur sich nach wie vor der Aufarbeitung konkreter Zensurfälle verschreiben, und eine Tendenz zur Nacherzählung rekonstruierter Abläufe kann nicht geleugnet werden.12 Daneben gibt es jedoch – vor allem seit den 1980er Jahren – andere Entwicklungen. Zum einen hat vor allem die deutsche Zensurforschung Auftrieb bekommen durch die Fülle an Materialien, die nach dem Fall der Mauer zugänglich wurde. Das Interesse an der Zensur in der DDR passt zunächst einmal zur Vorliebe von Zensurforschern für eher repressive politische Kontexte wie dem Vormärz oder dem Wilhelminischen Kaiserreich.13 In solchen Epochen tritt die Zensur besonders deutlich zutage, weshalb ihre Erforschung besonders ergiebig ist. Darüber hinaus aber sorgte das starke politische und öffentliche Interesse an der Aufarbeitung von DDRGeschichte dafür, dass sich die Reihen der etablierten Zensurforscher erweiterten und dass neue, bisher unerprobte Zugänge zum Thema zu einer Neubelebung der Disziplin führten. Hinzu kommt eine generelle Tendenzwende: Was für die geisteswissenschaftliche Debatte in den 1960er Jahren die Hinwendung zum Leser und zur Rezeptionsästhetik sowie kurz darauf zu geschlechtsspezifischen Fragestellungen war, leistet gegenwärtig der medien- und kulturwissenschaftliche ›turn‹,14 nämlich Erkenntnisgewinn durch Perspektiverweiterung. Wo bis noch vor wenigen Jahren fast ausschließlich literaturhistorisch an der Zensur gearbeitet wurde, zeigt ein Blick in jüngere Publikationen eine Zunahme an Untersuchungen, deren Zugriff nicht nur entweder regional oder temporal begrenzt, nicht nur auf einzelne Autoren beschränkt ist, sondern sich durch die Anwendung von (zumindest für die Zensurforschung) neuen methodischen Mitteln auf spezifische Aspekte der Zensur auszeichnet. Die Hauptsparten, denen sich die neueren, hier im Vordergrund stehenden Beiträge zur Zensur zuordnen lassen, ergeben sich sowohl thematisch, d. h. aus dem untersuchten Kontext bzw. Gegenstand, als auch aus der Methodik. In der Zensur12
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Dies gilt vor allem für das eher populärwissenschaftlich-journalistische Ende des Spektrums, wo durch aneinander gereihte exemplarische Zensurfälle Autorenschicksale in den Vordergrund gestellt werden und weiterreichende Analysen unterbleiben; vgl. z. B. Serke: Die verbrannten Dichter; Schütz: Verbotene Bücher; Kogel: Schriftsteller vor Gericht; Schäfer: Zensierte Bücher. Breuer konstatierte 1988, also kurz vor dem Ende der DDR: »B e v o r z u g t e E p o c h e n sind die theresianische und josephinische Zeit, die Zeit nach dem Zusammenbruch des Alten Reiches, insbesondere die Zeit des Vormärz, die Zeit nach 1848 […], die Wilhelminische Ära, das Hitler-Regime, die Nachkriegszeit im Bereich der Bundesrepublik Deutschland.« Breuer: Stand und Aufgaben der Zensurforschung, S. 49 (Hervorhebung im Original). Dazu Bodo Plachta: »In den letzten Jahren ist Zensur verstärkt aus einer medienhistorischen und kulturwissenschaftlichen Perspektive betrachtet worden.« Plachta: Zensur, S. 11.
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forschung dominieren nunmehr folgende Problemkomplexe und Themen: Typologien von Zensur (Vor- und Nachzensur, Selbstzensur, zensierte Bereiche oder Gattungen, Motivationen und Argumente der Zensoren als Klassifikationsmerkmal), Zensurdefinitionen, Geschichte der Zensur in einem bestimmten Land oder einer bestimmten historischen Epoche, konkrete Einzelfälle zensorischer Eingriffe, Zensur und Nachbarphänomene (Kanon, freiwillige Selbstkontrolle), Ästhetik der Zensur, Anwendung diverser Theorien auf die Zensur (Psychologie, Diskursanalyse, Machttheorien, Feld-Theorie).
3 Empirisch-historische Zensurforschung: Zensurgeschichten Die Zensur ist ein »historischer Gegenstand«,15 weshalb auch ein Großteil der wissenschaftlichen Zensurforschung empirisch-historischen Charakter hat. Die Leistungen der so orientierten Zensurforschung sind beträchtlich: Zu wichtigen Epochen und politischen Kontexten gibt es sowohl überblicksartige als auch detail- und einzelfallorientierte Studien, die – oft unter Auswertung unveröffentlichter Quellen – Zensurgeschichte aufarbeiten. Insgesamt gesehen setzt sich das Gros der Forschung mit der Zensur im modernen deutschen Kulturraum ab dem 18. Jahrhundert auseinander. Versuche, Zensurgeschichte über große Zeiträume hinweg zusammenhängend darzustellen, sind dabei aber selten; sie tendieren – dies typisch für die deutschsprachige Zensurforschung überhaupt – zudem dazu, sich auf die Entwicklung der Literaturzensur zu konzentrieren. Zwei solcher literaturbezogener, epochenübergreifender Zensurgeschichten, die im Abstand von fast 25 Jahren erschienen sind, seien kurz miteinander verglichen, um Konstanten und Varianten im Ansatz zu demonstrieren: Breuers Geschichte der literarischen Zensur in Deutschland (1982) und Bodo Plachtas Buch Zensur (2006).16 Breuers Band deckt eine historische Spanne von der Erfindung des Buchdrucks bis zur (alten) Bundesrepublik ab. Im Einleitungskapitel, das der Klärung des Zensurbegriffs dient, werden einige zentrale Merkmale der Zensur herausgestellt. So betont Breuer die Bedeutung gesellschaftlicher Normen und ihres Wandels für die Zensurgeschichte, insofern als die Zensur religiöse, moralische oder politische Normen zu wahren sucht und 15 16
Weyrauch: Zensur-Forschung, S. 475. Breuer: Geschichte der literarischen Zensur; Plachta: Zensur.
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entsprechend (ver)urteilt. Für Breuer stellt der normkritische, »antithetische Charakter von Poesie« eine Konstante in der Zensurgeschichte dar, weshalb Literaturgeschichte als Zensurgeschichte begreifbar werde; ferner sieht Breuer Medien- und Zensurgeschichte dadurch verbunden, »daß die Entwicklung der Kontrollinstitutionen der Entwicklung der Medien folgt.«17 Breite Berücksichtigung findet Ulla Ottos Monographie Die literarische Zensur als Problem der Soziologie der Politik, der Breuer Zensurdefinitionen, Klassifikationen von Argumenten der Zensur sowie Differenzierungen zwischen verschiedenen Formen von Zensur entlehnt.18 Nach einigen eher spekulativen Äußerungen zur Wirkung der Zensur hebt Breuer abschließend die Besonderheit deutscher Kleinstaaterei hervor, was sich auf die Zensur entschieden ausgewirkt habe: territoriale Divergenzen bei relativer Machtlosigkeit auf übergeordneter Ebene, ein Nebeneinander punktueller Zensur und systematischer Verfolgung. Eine gründliche Auseinandersetzung mit der Zensurforschung erfolgt nicht. Die genannten Zensurmerkmale kommen im Hauptteil des Buchs verschiedentlich wieder zur Sprache, allerdings ohne dass die Kerngedanken der Einleitung zu Paradigmen der Analyse würden oder dass andere entwickelt würden. In 38 meist ganz kurzen, chronologisch angeordneten Kapiteln werden im Wechsel zwischen historisch-politischen Entwicklungen und Einzelbeispielen zensorische Kommunikationskontrollen in deutschen Landen aufgezeigt, die hier nicht im einzelnen nachgezeichnet werden können. Zu kritisieren ist Breuers erzählender Duktus, der eine klare Argumentationsstruktur ersetzt und den Blick auf Ergebnisse erschwert, auch deswegen, weil alle Abschnitte aneinandergereiht statt in hierarchische Verhältnisse bzw. thematisch zusammenhängende Kapitel geordnet werden. Die jedem Abschnitt folgenden Literaturangaben sind eher spärlich und (heute) größtenteils veraltet – die meisten stammen aus den 1960er und 1970er Jahren, teils sind sie jedoch noch beträchtlich älter. Insgesamt ergibt sich ein oft verwirrendes Bild territorial bedingter Varianten und ortsgebundener Komplexitäten. Breuer bemüht sich, aus konkreten Beispielen auch für andere Kontexte relevante Beobachtungen abzuleiten, doch bleiben diese Brückenschläge zu oft Behauptungen, die in historischen Details untergehen. Auch Plachta stellt zunächst einige grundsätzliche Überlegungen zur Zensur an. Die Wort- und Begriffsgeschichte bildet den Auftakt, gefolgt 17 18
Breuer: Geschichte der literarischen Zensur, S. 14. Otto: Die literarische Zensur als Problem der Soziologie.
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von knappen Ausführungen zu verschiedenen Definitionsversuchen aus psychologischer, soziologischer, juristischer und literaturhistorischer Sicht. Vorsichtig plädiert er (hierin Klaus Petersen folgend) für ein »erweitertes Verständnis von Zensur als ›Kommunikationsbehinderung‹«.19 In Übereinstimmung mit Grundfesten der Forschung unterscheidet Plachta drei Grundformen von Zensur: formelle und informelle Zensur sowie Selbstzensur; er macht ferner darauf aufmerksam, dass Träger von Zensur entsprechende Machtbefugnisse haben müssen zur Ausübung zensorischer Kontrolle. Plachta übernimmt Reinhard Aulichs triadisches Modell zensorischer Handlungen, das zwischen Zensur zur Kontrolle der Genese von Literatur, zur Kontrolle literarischer Distribution und zur Kontrolle literarischer Diffusion differenziert,20 ein Modell, dessen besonderen Vorzug Plachta darin sieht, dass sich mit diesen Kategorien auch die zensorischen »Argumentationsmuster und -strategien systematisieren« ließen, »die als religiöse, moralische und politische Paradigmen wie Gotteslästerung, Verleumdung, Sittenlosigkeit, Hochverrat, Häresie und Obszönität im Kontext jeweils aktueller Rechtsnormen in Erscheinung treten« und »auch spezifischen Zensurträgern zugeordnet werden« könnten.21 Mit der Aussage, Zensur widerspräche pluralistischen Gesellschaftsprinzipien und sei »nur im Kontext von Normenkontrolle und Normenwandel adäquat zu betrachten«,22 pflichtet Plachta weit verbreiteten Ansichten über die Zensur bei. Er unterscheidet drei Erscheinungsformen von Zensur: erstens das Prinzip des Bücherverbots, wie es sich im Index librorum prohibitorum und den tridentinischen Indexregeln manifestiert, zweitens die Inquisition und drittens die Bücherverbrennung. Inwiefern diese Zensurformen mit Aulichs Modell in Verbindung zu bringen wären, diskutiert Plachta jedoch nicht. Der historische Teil des Buchs beginnt mit den Kontrollen, die nach der Erfindung des Buchdrucks eingesetzt wurden, skizziert wesentliche Aspekte der Zensur im Zeitalter der Aufklärung, während der Französischen Revolution und der Restauration, des Deutschen Bunds nach 1848, dem Wilhelminischen Kaiserreich, der Weimarer Republik, dem nationalsozialistischen Deutschland sowie den beiden deutschen Staaten nach 1945. Im Gegensatz zu Breuer räumt Plachta den großen, deutlich identifizierten Entwicklungslinien der Zensurgeschichte Priorität ein und benutzt Einzelfälle nur, um die erläuterte Historie zu veranschaulichen. 19 20 21 22
Plachta: Zensur, S. 18. – Gemeint ist Petersen: Zensur in der Weimarer Republik. S. Aulich: Elemente einer funktionalen Differenzierung, S. 215–217. Plachta: Zensur, S. 24. Plachta, S. 25f.
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Das Ergebnis ist ein sehr lesbares und informatives Buch, das eine ganze Reihe von Forschungsbeiträgen referierend verarbeitet – jedoch leider ohne selbst in der Auseinandersetzung mit dem ›state of the art‹ neues Wissen zu produzieren oder auch nur wirklich neue Perspektiven auf Altbekanntes anzubieten: Die Geschichte der Zensur im Alten Reich als eine der Verschiebung von kirchlichen zu staatlichen Zensurträgern, von der Bekämpfung von Häresie zur Instrumentalisierung zensorischer Kontrolle zwecks Aufrechterhaltung der Staatsräson zu beschreiben, ist schließlich kein Novum, sondern schon bei Breuer (und andernorts) verbürgt. Originalität ist aber legitimerweise auch gar nicht Ziel und Anliegen der Zensurgeschichten von Plachta und Breuer. Das Zerfallen historischer Studien zur Zensur in einen knappen theoretischen und einen geschichtlichen, eher auf Information denn Innovation angelegten Hauptteil ist Standard in empirisch-historisch orientierter Zensurforschung und spiegelt das Erkenntnisinteresse der Autoren. Plachta bezeichnet eine umfassende Geschichte der Zensur in deutschen Landen als wissenschaftliches Desiderat.23 Angesichts der offenkundigen Darstellungsprobleme, die auftreten, wenn eine umfassende Zensurgeschichte geschrieben werden soll, von der unübersehbaren Fülle einzelner Zensurfälle über die viele Jahrhunderte umfassende Zeitspanne im noch dazu lange Zeit territorial zersplitterten deutschsprachigen Kulturraum, bis hin zur Vielzahl potenziell relevanter Untersuchungsperspektiven und thematischer Schwerpunkte, ist zweifelhaft, ob ein solches Mammutunterfangen je in befriedigender Weise wird realisiert werden können. Realistischer ist das, was die gegenwärtige Zensurforschung ohnehin schon betreibt: die Aufarbeitung kleinerer Stücke vom großen Kuchen, ob die Beschränkung nun epochen-, regionen- oder themenspezifisch ist.
4 Bandbreite der empirisch-historischen Forschungsliteratur Es kann hier nicht darum gehen, eine ausführliche Bibliographie einschlägiger Publikationen zu liefern; vielmehr möchte ich im Folgenden einige Beispiele für Monographien anführen, die in den letzten rund 20 Jahren erschienen sind und die mir geeignet erscheinen, das Spektrum zensorischer Untersuchungen zu demonstrieren. 23
Plachta, S. 11.
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Zur Zensur im Alten Reich habe ich keine den ganzen Zeitraum umfassenden Studien gefunden; kürzere Zeiträume und enger definierte Kontexte behandeln beispielsweise die Arbeiten von Agatha Kobuch, Wolfgang Wüst, Thomas Sirges und Ingeborg Müller.24 Speziell zum 18. Jahrhundert hat Plachta Bahnbrechendes geleistet, weil er nicht nur regional (Zensur auf Reichsebene, in Österreich und in Preußen), sondern auch gattungs- und institutionengeschichtlich forscht (Theaterzensur, Zensur von Leihbibliotheken und Lesegesellschaften) sowie auch zeitgenössische Debatten um die Pressefreiheit erörtert.25 Den gut erforschten Zensurverhältnissen des Vormärz, von Breuer als »eine Art Paradigma der Zensur in Deutschland« bezeichnet,26 gehen beispielsweise Edda Ziegler und Hubert Wolf zusammen mit Wolfgang Schopf nach.27 Während Ziegler mit ihren Dokumenten und Ausführungen zur Pressefreiheit, zur Zensurgesetzgebung und -praxis sowie zu widerständigem Verhalten von Buchhandel und Schriftstellern die Steuerungsmechanismen in den Anfängen der modernen Literaturgesellschaft aufdeckt, konzentrieren sich Wolf und Schopf auf Heine als Beispiel für die enge Zusammenarbeit des Metternichschen Österreich und der römischen Kurie im Kampf gegen revolutionäres Gedankengut. Für die Weimarer Republik ist Petersens Monographie zu nennen, in der die Zensur aller wichtigen Medien der Zeit in ihrem sozialund mentalitätsgeschichtlichen Kontext untersucht wird.28 Zur Musikzensur unter dem Hakenkreuz arbeiten Michael Meyer und Erik Levi; von den anläßlich des 50. Jahrestags der Bücherverbrennung erschienenen Werken sei lediglich auf den Ausstellungskatalog der Akademie der Künste hingewiesen.29 Lange Zeit nicht sehr beachtet wurde die unmittelbare Nachkriegszeit unter den Alliierten; hier haben David Pike und Peter Strunk für Abhilfe gesorgt, allerdings beide mit Bezug auf die sowjetische Besatzungsmacht.30 Die meisten neueren Publikationen beziehen sich auf zensorische Verhältnisse in der DDR. Standardwerke zum Thema sind diejenigen von Simone Barck, Martina Langermann und Siegfried Lokatis,
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Kobuch: Zensur und Aufklärung in Kursachsen; Wüst: Censur als Stütze von Staat und Kirche; Sirges/Müller: Zensur in Marburg. Plachta: Damnatur – Toleratur – Admittitur. Breuer: Stand und Aufgaben der Zensurforschung, S. 49. Ziegler: Literarische Zensur in Deutschland 1819–1848; Wolf/Schopf: Die Macht der Zensur. Petersen: Zensur in der Weimarer Republik. Meyer: The Politics of Music; Levi: Music in the Third Reich; »Das war ein Vorspiel nur …«. Pike: The Politics of Culture; Strunk: Zensur und Zensoren.
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David Bathrick und Joachim Walther.31 Der Bundesrepublik widmen sich Silke Buschmann sowie Michael Kienzle und Dirk Mende, der Ära Adenauer Stephan Buchloh.32 Zu den wissenschaftlich interessanten neueren Aufsatzsammlungen zur Zensur im modernen deutschsprachigen Kulturraum gehört Zensur und Selbstzensur in der Literatur von Peter Brockmeier und Gerhard R. Kaiser: Der Band ist deshalb bemerkenswert, weil er – trotz seines auf die Literatur verweisenden Titels – insofern über den eigenen Tellerrand hinwegschaut, als er auch Beiträge zur Zensur in Musik und Malerei sowie einen sehr informativen Grundsatzartikel eines Juristen (Helmut K. J. Ridder) zum Zensurverbot des Grundgesetzes enthält; zudem erweitern Kapitel zur Zensur unter Stalin, in Lateinamerika und Frankreich das Spektrum, und mehrere Autoren setzen sich mit verschiedenen Aspekten von Selbstzensur auseinander.33 Auch John A. McCarthy und Werner von der Ohe haben eine interdisziplinäre Mischung von Aufsätzen vorgelegt, in denen neben traditionellen Fallstudien beispielsweise auch die ansonsten oft sehr vernachlässigte Frage von Zensur und Geschlechterverhältnissen oder die Zensur des Bilds in Kunst, Film und Presse thematisiert werden.34 In Herbert G. Göpferts und Weyrauchs »Unmoralisch an sich…« stehen historisch sowie auch thematisch ausgerichtete Beiträge zur Zensur im 18. und 19. Jahrhundert neben übergreifenden, theoretisch orientierten.35 In Beate Müllers Aufsatzsammlung finden sich neben Aufsätzen zur Literaturzensur auch solche zur ›re-education‹ im deutschen Theater nach 1945, zur Ballettzensur oder zum politischen Kabarett in der DDR.36 Ferner sei auf den Band Zensur im Jahrhundert der Aufklärung von Wilhelm Haefs und York-Gothart Mix hingewiesen.37 Wertet man jüngere Publikationen zur Zensur thematisch aus, ergibt sich eine Verschiebung: Wo früher vor allem die Literaturzensur und die Pressefreiheit im Vordergrund des Interesses gestanden haben (und natürlich auch immer noch häufig Untersuchungsgegenstand sind), erscheinen mittlerweile viele Studien zur Filmzensur, zur Musikzensur, zur Zensur im 31 32 33 34 35 36 37
Barck/Langermann/Lokatis: »Jedes Buch ein Abenteuer«; Lokatis: Die Zensur- und Publikationspraxis in der DDR; Bathrick: The Powers of Speech; Walther: Sicherungsbereich Literatur. Buschmann: Literarische Zensur in der BRD; Kienzle/Mende: Zensur in der Bundesrepublik; Buchloh: »Pervers, jugendgefährdend, staatsfeindlich«. Brockmeier/Kaiser: Zensur und Selbstzensur. McCarthy/von der Ohe: Zensur und Kultur. Göpfert/Weyrauch: »Unmoralisch an sich …«. Müller: Zensur im modernen deutschen Kulturraum. Haefs/Mix: Zensur im Jahrhundert der Aufklärung.
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Kontext der neuen Medien (Internet), zu rechtlichen Fragen zensorischer Praxis und auch – seit der Öffnung der Archive des Vatikans im Jahre 1998 – zur Zensur durch die katholische Kirche.38 Hier wäre besonders das auf zwölf Jahre angelegte DFG-Projekt »Römische Inquisition und Indexkongregation« unter der Leitung von Wolf zu nennen, das dem Kirchenhistoriker 2003 den Leibniz-Preis der DFG, ein Jahr später den Communicator-Preis und 2006 den Gutenberg-Preis beschert hat39. In sieben Bänden haben Wolf und seine Mitarbeiter ihre Forschungsergebnisse zum Zeitraum von 1814 bis 1917 vorgelegt: der erste Band stellt eine (viersprachige) Einleitung dar, der zweite eine Edition der Verbotsplakate (›Bandi‹) und Urteile sowie eine Bibliographie der verhandelten Schriften, Band 3 und 4 – Systematisches Repertorium betitelt – sind Findmittel zu den Sitzungsprotokollen von Inquisition und Indexkongregation, Band 5 und 6 liefern eine Prosopographie mit fast 800 biobibliographischen Einträgen zu den an der römischen Bücherzensur Beteiligten, und der letzte Band ist ein Register. Wolfs Projekt ist in einer Rezension der FAZ zu Recht als »›Goldmine‹ an Quellen zum Thema katholisches Christentum und moderne Welt« gelobt worden.40 Doch ungeachtet der vorbildlichen Gründlichkeit und Systematik sowie des beeindruckenden Materialreichtums ist das Großprojekt von der Forschung teilweise kritischer aufgenommen worden: In einer Rezension lobt Siegfried Lokatis zwar die »mit unerhörtem Aufwand« erstellte Bibliographie verbotener Bücher und sieht in dem Repertorium ein »vorzüglich kommentiertes Findbuch«, bemängelt aber, der »wissenschaftliche Neuigkeitswert […] für Zensurforscher und Buchwissenschaftler« sei, »solange der zentralen Aufgabe einer Institutionsgeschichte ausgewichen wird, vorläufig noch gering.«41 Man mag sich auch fragen, warum Wolf nicht chrono38
39
40 41
Wenige Neuerscheinungen mögen zur Illustration genügen: Hoeren/Meyer: Verbotene Filme; Kasperek: Staatlich induzierte Selbstkontrolle; Binz: Filmzensur in der deutschen Demokratie; Wehrli: Verteufelter Heavy Metal; Eisel: Politik und Musik; Zelger: Zensur im Internet; Hüper: Zensur und neue Kommunikationstechnologien; Nessel: Das grundgesetzliche Zensurverbot; Pfeifer: Zensurbehütete Demokratie; Godman: Die geheimen Gutachten des Vatikan; Wolf: Inquisition, Index, Zensur; Wolf: Verbotene Bücher. Vgl. die Projektwebsite unter: http://www.buchzensur.de/ [12.05.08]. Dort findet sich neben bibliographischen Einzelnachweisen der siebenbändigen ›Grundlagenforschung‹ zur römischen Buchzensur zwischen 1814 und 1917 auch eine Liste weiterer einschlägiger Monographien von Wolf und seinen Mitarbeitern; Aufsätze sind leider nicht aufgeführt. – Zur Prämierung vgl. http://www.gutenberg-gesellschaft.de/index.html?gutenberg_preis/ gutenberg_preis_akt.html~main [16.05.2008]. Reinhard: Wie ein gewaltiger Fels. Lokatis: [Rezension zu] Wolf, Hubert: Römische Inquisition und Indexkongregation.
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logisch vorgegangen ist und mit den Anfängen der Kirchenzensur im Tridentinum angefangen hat. Dennoch steht zweifelsfrei fest, dass hier echte Grundlagenforschung betrieben worden ist, die für zukünftige Studien von großem Wert sein wird.
5 Fragen statt Antworten: Zensur als ›doppelte‹ Kommunikation Die Leistungen und Ergebnisse der hier nur exemplarisch angeführten historisch orientierten Zensurforschung auf einen Nenner zu bringen, der dem Detailreichtum und der Spezifik der Untersuchungen gerecht würde, ist unmöglich. Der von Kanzog beklagte Mangel an vergleichender Zensurforschung42 gründet vermutlich in dieser Perspektive auf Resultate. Doch zusammen genommen liegt das größte Potenzial der empirischhistorischen Studien für die Zensurforschung im Allgemeinen vielleicht gar nicht in erster Linie in ihren Einzelantworten, sondern in ihren Fragen: Welche Perspektiven eröffnen sich, wenn man statt der Antworten die Fragestellungen der Arbeiten miteinander vergleicht? Welche Kernfragen werden für jede der untersuchten Epochen gestellt? Ähneln sie sich, oder sind sie kontextspezifisch? Beeinflusst die Spezifik der Zensur in den diversen Epochen die Wahl der Methode, die Vorgehens- oder die Darstellungsweise? Diese Überlegungen zu den epistemologischen Orientierungen der Sekundärliteratur können aufschlussreich sein für die Zensurforschung überhaupt. Die Fragen, die immer wieder gestellt werden, sind beispielsweise diejenigen nach den Zensurträgern, nach den jeweiligen rechtlichen Bestimmungen zur zensorischen Kontrolle, den Arten und Ausmaßen des zensorischen Eingriffs, den Zensoren, den bevorzugten Objekten ihrer Aufmerksamkeit und deren Inhalt sowie medialen Eigenschaften, den Auseinandersetzungen um ein solches zur Zensur anstehendes Artefakt, den ins Feld geführten Argumenten für und gegen das zu Zensurierende, nach dessen Urhebern und Adressaten sowie nach den Auswirkungen der Zensur auf beide, nach dem politischen Kontext sowie nach den ökono-
42
Kanzog: Zensur, literarische, S. 1003. – Ein knapper Abriss zensorischer Verhältnisse in Deutschlands europäischen Nachbarländern findet sich bei Fügen: Zensur als negativ wirkende Institution, S. 627–631. Eine europäische Perspektive bietet auch: Der Zensur zum Trotz. Einen juristischen Vergleich leistet Gornig: Äußerungsfreiheit und Informationsfreiheit als Menschenrechte.
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mischen und technischen Bedingungen für die Produktion und Distribution des fraglichen Gegenstands. Systematisiert man diese Fragen mit Hilfe des Kommunikationsmodells, so wird klar, dass wir es bei zensorischer Kommunikationskontrolle mit einer Art ›doppelter‹ Kommunikation zu tun haben: Der Sender der Botschaft, die nicht nur die intendierten Empfänger, sondern auch (bzw. u. U.: stattdessen) den Empfänger-Zensor erreicht, wird selber zum Empfänger einer Antwort-Botschaft des Sender-Zensors (eines Urteils, eines Gutachtens o. ä.) auf die ursprüngliche Botschaft. Damit wird die Komplexität der Rollen, die die Involvierten spielen, ebenso deutlich wie die Vielschichtigkeit der Kommunikationsakte. Es wäre zu überlegen, ob sich das Kommunikationsmodell als Raster zur Ordnung der diversen Fragen und gewählten Schwerpunkte in der Zensurforschung eignet.43 Zumindest sollte ein solches Muster den Vergleich analog orientierter Studien von Zensur in verschiedenen Epochen und Kontexten erleichtern und damit einen Baustein liefern für die von Kanzog geforderte vergleichende Zensurforschung. Und nicht nur empirisch-historische Forschung, sondern auch eher theoretisch ausgerichtete Beiträge zur Zensur lassen sich auf diese Weise erfassen, so dass es möglich werden sollte, hauptsächlich systematische mit primär historischen Studien über ihre jeweiligen kommunikationstheoretischen Schwerpunkte miteinander in Verbindung zu bringen.
6 Theoretische Zensurforschung Neben der Aufarbeitung historischen Materials enthalten empirischhistorische Studien zur Zensur selbstverständlich auch allgemeinere oder theoretisch relevante Gesichtspunkte, und gerade in jüngerer Zeit ist auch der methodische Zugriff interessanter geworden. In den stärker theoretisch ausgerichteten Untersuchungen werden diese Aspekte natürlich in der Regel detaillierter behandelt. Wenn also im Folgenden von ›theoretischer Zensurforschung‹ die Rede ist, so verstehe man dies nicht als schroffe Polarisierung der Forschung, sondern als Chiffre für Publikationen mit für theoretische Auseinandersetzungen relevanten Inhalten. Diese Inhalte gehören entweder in den Kontext von Klassifikationsversuchen, die sich meist um verschiedene Arten und Funktionen von Zensur sowie um ihre Begründungszusammenhänge drehen, oder sie sind Teil von Er43
Vgl. hierzu Müller: Über Zensur, S. 16–26.
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örterungen, die Ansätze und Erkenntnisse aus Nachbardisziplinen fruchtbar machen für die Analyse der Zensur. Für beide Spielarten der theoretischen Zensurforschung seien nachfolgend wichtige Beispiele genannt. Zunächst einmal sind Studien anzuführen, die sich der Zensur soziologisch-funktional nähern. Das Standardwerk wäre hier Ottos Monographie Die literarische Zensur als Problem der Soziologie der Politik (1968), die auch deshalb originell ist, weil sie neben Systematisierungsversuchen praktischer Erscheinungsformen von Zensur eine phänomenologische Theorie der Literaturzensur unter Hinzuziehung von Konzepten Vilfredo Paretos (1848–1923) aufstellt. Paretos Differenzierung zwischen drei Elementen aller Handlungen – Derivate (äußerer Handlungsablauf), Residuen (Handlungskonstanten) und Derivationen (deren pseudologische Rationalisierung) – ermöglicht der Autorin, Zensurverfahren, Motivationen der Zensur und vorgebrachte Argumentationen der Zensoren nicht nur typologisch aufzulisten, sondern auch zueinander in Beziehung zu setzen, um Zensur als »Herrschaftsmittel« der Eliten zu charakterisieren.44 Das klingt vielversprechend, aber Aulich konstatiert eine »relative Abstinenz der Zensurforschung gegenüber Ottos Studie.«45 Er begründet diese sicher nicht ganz falsche Einschätzung folgendermaßen: »Anscheinend sieht es mit der historischen Einlösbarkeit der von Otto erarbeiteten Phänomenologie nicht zum besten aus; sie erfährt zwar aufgrund konkret geführter historischer Untersuchungen rückwirkend ihre Bestätigung, jedoch ohne zuvor als Interpretationsraster genutzt worden zu sein.«46 Dies mag stimmen, sagt möglicherweise aber mehr über die Verfasser historischer Studien aus als über die Brauchbarkeit von Ottos Systematik. Aulichs Anliegen ist es, hier anzuknüpfen und auf der »Suche nach einer sinnstiftenden Einheit von Prozess und System« vorhandene »Perspektiven zu einer methodischen Systematik« der Zensur »zu verdichten«.47 Er plädiert dafür, historische Bezüge »zunächst auf ihre Funktionalität hin« zu überprüfen, also »auf ihre seinerzeit intendierten sowie tatsächlich erwirkten Folgen«, woraus sich »Funktionszusammenhänge« zu erkennen gäben, »die nicht mit Strukturen identisch sind, wohl aber auf solche schließen lassen«; zensorische Praktiken werden vorrangig »als eine 44 45 46 47
Otto: Die literarische Zensur als Problem der Soziologie, S. 137. – Eine ausführliche, kritische Darlegung von Ottos Leistung findet sich bei Aulich: Elemente einer funktionalen Differenzierung, S. 192f. u. S. 202–205. Aulich, S. 205. Aulich, S. 205. Aulich, S. 185 u. 192.
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Funktion der sozialen Kontrolle« verstanden.48 Aulich unterscheidet »drei grundlegende Funktionen literarischer Zensur«: erstens »Zensur als Kontrolle der Genese literarischer Produktion«, d. h. Sanktionen erstrecken sich »auf den Autor, ggf. seine Mitwisser und auf die Eradation seines Geistesprodukts in Form einer Hinrichtung«, die auch symbolisch erfolgen könne, wie z. B. bei der Bücherverbrennung; zweitens »Zensur als Kontrolle der literarischen Distribution«, bei der die Zensur beabsichtigt, »mögliche Auswirkungen eines bestimmten Gedankenguts zu begrenzen«, weshalb sie sich »an die Multiplikatoren« richte und »als Filter wirken« wolle; drittens »Zensur als Kontrolle der literarischen Diffusion«, bei der »mit Mitteln der Propaganda und der Meinungslenkung« versucht wird, »schon vorhandene Auswirkungen eines bestimmten Gedankenguts zu entkräften«.49 Aulich zieht aus diesen drei Funktionen von Zensur Rückschlüsse auf die jeweilige »Struktur und Flexibilität des geistigen Überbaus«, auf Art und Grad der »Einbindung des Individuums in die kollektive Ordnung« sowie auf Arten von Verhaltenssteuerung.50 Plachta befindet: »Mit diesen Kategorien lassen sich Zensurakte nicht nur exemplarisch erfassen, sondern auch deren Argumentationsmuster und -strategien systematisieren, die als religiöse, moralische und politische Paradigmen […] im Kontext jeweils aktueller Rechtsnormen in Erscheinung treten.«51 Aulichs Ansatz scheint in der Tat viel versprechend zu sein, zumal er flexibel genug ist, um in verschiedenen historischen Kontexten Anwendung zu finden; Aulichs funktionale Trias ist in der neueren Forschung bereits aufgegriffen worden.52 Auch die in vielen Veröffentlichungen zu lesende Betonung der Normenkontrolle durch Zensur ließe sich in Aulichs Modell integrieren. Als weiteres Beispiel systemtheoretisch-funktional orientierter Zugriffe auf die Zensurtheorie sei ein Aufsatz von Armin Biermann angeführt.53 Biermann konzentriert sich insofern nicht nur auf ›eigentliche‹ Zensurakte, als er die in einem gegebenen politischen System vorkommenden ›funktionalen Äquivalente‹ der Zensur mitberücksichtigt: »Von der faktischen Gegebenheit einer institutionellen Ausübung von Zwang oder physischer Gewalt auszugehen erlaubt […], Zensur von ihren funktionalen Äquiva48 49 50 51 52 53
Aulich, S. 206f. (Hervorhebung im Original). Aulich, S. 215–217. Aulich, S. 216f. Plachta: Zensur, S. 24. Zum Beispiel Guggenbühl: Zensur und Pressefreiheit. Biermann: »Gefährliche Literatur«.
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lenten ›Unterlassung von Zensur‹ (›Zensur der Zensur‹) und ›Abschreckung durch Zensur(gesetze)‹ (›Selbstzensur‹) abzugrenzen.«54 Entsprechend versteht Biermann unter Literaturzensur die »Gesamtheit institutionell vollzogener und strukturell manifestierter Versuche […], durch legale – oder unrechtmäßige – Anwendung von Zwang oder physischer Gewalt […] gegen Personen oder Sachen schriftliche Kommunikation zu kontrollieren, zu verhindern oder fremdzubestimmen«.55 Biermann betrachtet Zensurgeschichte im Kontext der Entwicklung moderner, funktional ausdifferenzierter Gesellschaften, deren politische Systeme physische in symbolische Gewalt umformen, sich durch entpersonalisierte, d. h. symbolische Macht stabilisieren und in denen ehemals allgemeinverbindliche Wertordnungen und daraus resultierende Handlungen sowie deren Rechtfertigungen ersetzt werden durch Rechtssysteme und Ideologien: »Die Geschichte der literarischen Zensur ist […] die Geschichte der tendenziellen Ersetzung von physischer Gewalt- und Zwanganwendung durch – legitimationsmächtigere – funktionale Äquivalente.«56 Wenn man akzeptiert, dass die eigentliche Machtausübung zur Aufrechterhaltung der Ordnung einen Mangel an wirklicher Macht bedeutet, weil es dem Machthaber »nicht gelingt, seine Entscheidung zur Prämisse der Handlungswahl des Machtunterworfenen zu machen«, erscheint tatsächlich ausgeübte Zensur als »Symptom von zuwenig – und nicht von zuviel – ›Macht‹. Wo ›Macht‹ funktioniert, erübrigt sich Zensur.«57 In sich klingt das logisch, doch vergegenwärtigt man sich Zensurverhältnisse in den zensurintensiveren Epochen der deutschen Geschichte, fällt es schwer, beispielsweise den bücherverbrennenden, deportierenden und gleichschaltenden Nationalsozialisten einen Mangel an Macht zu attestieren … Biermann ist nicht allein mit seinem Ansatz, Zensur und Macht mit Hilfe systemtheoretischer Überlegungen zur funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft in Teilsysteme und Rollenzusammenhänge zu erklären. Die politische Soziologie erklärt totalitäre Systeme mit Hilfe der Systemtheorie,58 und einschlägige Veröffentlichungen zur Zensur in der DDR sehen im ›Leseland‹ ein literarisches ›Feld‹ am Werk, das konzeptio54 55 56 57 58
Biermann, S. 3 (Hervorhebung im Original). Biermann, S. 3 (Hervorhebung im Original). – Guggenbühl kritisiert an Biermanns Definition »terminologische[n] Unschärfen«. Vgl. Guggenbühl: Zensur und Pressefreiheit, S. 29. Biermann: »Gefährliche Literatur«, S. 4. Biermann, S. 13. Vgl. Meuschel: Legitimation und Parteiherrschaft in der DDR.
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nell letztlich ein systemtheoretisches gesellschaftliches Teilsystem ist.59 In Anlehnung an die Feldtheorie des französischen Soziologen Pierre Bourdieu beschreibt Holger Brohm die in der DDR in Zensurprozesse eingebundenen und von ihnen betroffenen Menschen – z. B. Autoren, Leser, Verlagsangestellte, Funktionsträger in der Kulturadministration – als im literarischen Feld handelnd und durch dieses Feld kontrolliert: Das literarische Feld […] als die besondere soziale Welt, in der Autorinnen und Autoren existieren und handeln, ist der Raum des Möglichen, der […] das Handeln des einzelnen Akteurs dadurch organisiert, daß ihm mögliche Positionen (im Sinne von Optionen) offeriert werden. Mit der Wahrnehmung einer Möglichkeit – im doppelten Sinne als Auffassen und Ausführen zu verstehen – positioniert sich der Akteur und nimmt zu anderen Positionen Stellung. […] Durch die Unterscheidung von heteronomen und autonomen Kräften im literarischen Feld wird es möglich, kulturpolitische Äußerungen und Sanktionen sowie die Stellungnahmen von Autoren in ihren Werken, aber auch die unterschiedlichen Reaktionen auf literarische Texte in Form von Kritiken und von Gutachten im Prozeß der literarischen Zensur als aufeinanderbezogene Handlungen im Feld zu beschreiben. […] Auf diese Weise können Zusammenhänge gezeigt werden, die den Akteuren kaum einsehbar waren und dennoch ihr Handeln entscheidend mitbestimmten.60
Brohms Vorschlag klingt viel versprechend, und zwar nicht nur für die Zensur in der DDR, denn sein Ansatz ermöglicht es, Handlungsoptionen und Rollenkonflikte verschiedener Agierender in einem literaturhistorischen Kontext als Widerstreit zwischen ›orthodoxen‹ und ›häretischen‹ Kräften (Bourdieu) zu begreifen, deren Konsens bei allem Dissens in der Überzeugung besteht, das Feld an sich lohne den Kampf.61 Durch Auseinandersetzungen zwischen den im Feld Handelnden können sich Machtverhältnisse verschieben, wodurch Macht als instabil und veränderlich beschrieben wird. Ein solches Machtkonzept ist für die Zensurforschung interessant, weil es die Arbitrarität von Zensurentscheidungen und -argumenten erklären helfen kann. Das Problem mit Bourdieus Feldkonzept liegt für mich darin, dass Bourdieu von der Autonomie und Selbstregulativität des Felds ausgeht. Ganz krass formuliert er: »The metaphor of censorship should not mislead: it is the structure of the field itself which governs expression by governing both access to expression and the 59 60 61
Vgl. z. B. Brohm: Die Koordinaten im Kopf; Wölfel: Literarisches Feld DDR. Brohm: Die Koordinaten im Kopf, S. 12f. u. 17f. Vgl. Bourdieu zu dieser feldtypischen Dynamik: »Es wird oft vergessen, daß Kampf die Übereinkunft der Antagonisten über das voraussetzt, was […] den Kampf wert ist, das heißt über alles, was das Feld selbst ausmacht […]. Wer sich am Kampf beteiligt, trägt zur Reproduktion des Spiels bei, indem er dazu beiträgt, den Glauben an den Wert dessen, was in diesem Feld auf dem Spiel steht, je nach Feld mehr oder weniger vollständig zu reproduzieren.« Bourdieu: Über einige Eigenschaften von Feldern, S. 109.
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form of expression, and not some legal proceeding which has been specially adapted to designate and repress the transgression of a kind of linguistic code.«62 In vielen politischen Kontexten wird das Feld der Literatur jedoch gerade nicht seinen Eigengesetzen überlassen, sondern von ›außen‹ und ›oben‹ kontrolliert: Der Literaturbetrieb der DDR war eben »fremdbestimmt wie zuletzt in der feudalabsolutistischen Gesellschaft 250 Jahre zuvor.«63 Henning Wrage fragt denn auch nicht zu Unrecht, »ob Bourdieus Theorie nicht eine ausdifferenzierte Gesellschaft voraussetzt, oder genauer, selbst eine der Ausdifferenzierung ist. Dann wäre offenbar auch die Theorie des sozialen Feldes nur bedingt auf die DDR [und andere, entdifferenzierte politische Kontexte, B. M.] anwendbar.«64 Trotz dieser grundsätzlichen Bedenken ist Bourdieu sehr wichtig geworden für die Zensurforschung, und zwar vor allem für die Schule des sogenannten ›New Censorship‹ US-amerikanischer Prägung, die in der Zensur ein in jeglichen Diskursen omnipräsentes Phänomen erblickt. Bourdieu gewinnt der Zensur insofern etwas Positives ab, als er argumentiert, jeder Diskurs bedürfe einer Steuerung, welche den Diskurs erst ermögliche. Zensur wird nicht als Kehrseite des Diskurses gesehen, sondern als eines seiner konstitutiven Elemente. Diskurse erscheinen als Produkt eines Kompromisses zwischen einem Ausdrucksinteresse und einer Zensur, die schon durch die Struktur des diskursiven Felds vorgegeben sei.65 Die damit einhergehende ›zensorische‹ »Euphemisierungsarbeit« sorge dafür, dass das Sagbare die dem Kontext angemessene Form erhalte und grenze das »Unsagbare« sowie das »Unnennbare« aus.66 Es geht Bourdieu und seinen Anhängern weniger um konkrete politische Systeme und ihre Zensurpraktiken, als vielmehr um diskursive Prozesse und ihre Spielregeln. Der Zensurbegriff ist hier also extrem ausgeweitet worden. Entsprechend wird der Terminus ›Zensur‹ manchmal sogar ersetzt durch Ausdrücke wie ›restriction‹, ›regulation‹ oder ›silencing‹. Vertreter des ›New Censorship‹ beschäftigen sich nicht mehr ausschließlich mit Vor-, Nach- oder Re-Zensur durch staatliche oder kirchliche Einrichtungen, sondern befragen Themen wie freie Meinungsäußerung oder ›political correctness‹ sowie Auswirkungen von Kunstförderung, rechtliche Schritte gegen Verfechter der ›Auschwitz-Lüge‹, moderne Öffentlichkeit oder Debatten um Porno62 63 64 65 66
Bourdieu: Censorship and the Imposition of Form, S. 138. Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, S. 42. Wrage: Feld, System, Ordnung, S. 57. Vgl. Bourdieu: Censorship and the Imposition of Form, S. 137. Bourdieu: Die Zensur, S. 131 u. 133.
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graphieverbote nach ihren zensorischen Elementen.67 Es sind diese (und andere) in der deutschsprachigen Forschung weniger intensiv diskutierten Problembereiche, die den ›New Censorship‹ interessant machen, auch wenn der sehr lax gehandhabte Zensurbegriff nicht mehr trennscharf ist. Denn viele Beiträge bestechen dadurch, dass sie die Auseinandersetzungen um Zensur in aktuelle Auseinandersetzungen um moderne politische Philosophie einschreiben: Neben Bourdieus Werk sind vor allem Michel Foucaults Machttheorien und (seltener) Jürgen Habermas’ Arbeiten über politische Öffentlichkeit wichtige Referenzpunkte. Somit wird die Zensur im Kontext zweier ihrer Kernparadigmen betrachtet – schließlich geht es bei der Zensur ganz entschieden um Macht und Öffentlichkeit. Dass es produktiv ist, sich der Zensur von der Rekonstruktion der Spezifika der jeweilig kontextuellen Öffentlichkeit her zu nähern, haben beispielsweise Studien zur sozialistischen oder schweizerischen Öffentlichkeit gezeigt.68 Foucaults Überlegungen zur Macht als einer produktiven, instabilen, sowie Diskurse, politische Praktiken und Wissen formierenden Kraft können für die Zensuranalyse fruchtbar gemacht werden, und zwar aus mehreren Gründen: Erstens hilft ein Begreifen von Macht als produktiv dabei, die Ablehnung von Macht als Negativum zu überwinden, so dass – vorurteilsfreier – gefragt werden kann, welche positiven Eigenschaften Macht hat und wie sie sich zur Zensur verhält; zweitens – und hier berühren sich Foucault und Bourdieu – bewahrt einen die Einsicht in die Volatilität von Machtverhältnissen davor, Zensoren und Zensierte schematisch als Macht ›haber‹ und Macht ›lose‹ zu kontrastieren, wodurch Interaktionen der Involvierten als strategische Operationen zur Optimierung der eigenen Lage analysiert werden können; und drittens erlaubt Foucaults Diskursanalyse eine Zusammenschau zensurbezogener Handlungen, ihrer diskursiven Manifestationen (z. B. in Zensurgutachten) und der Rolle von Information, Desinformation und Wissenskonstitution in diesem Kontext.69 Müller adaptiert einige Foucault’sche Beobachtungen für zensori67 68
69
Vgl. den einschlägigen Reader von Post: Censorship and Silencing; das Sonderheft Literature and Censorship der PMLA 109.1 (Januar 1994; darin vor allem Holquists Einleitung: Corrupt Originals, S. 14–25); sowie Burt: The Administration of Aesthetics. Vgl. Bathrick: The Powers of Speech; Silberman: Problematizing the ›Socialist Public Sphere‹; Müller: Stasi – Zensur – Machtdiskurse. Ausführlich analysiert Guggenbühl die Rolle der helvetischen Öffentlichkeit in Zensur und Pressefreiheit. Mark Lehmstedt und Lokatis konzentrieren sich zwar nicht auf die Zensur, doch ist in ihrem Buch Das Loch in der Mauer vieles für die Buchgeschichte und den innerdeutschen Literaturaustausch Wichtiges zu finden. Lehmstedt/Lokatis: Das Loch in der Mauer. Vgl. bes. folgende Werke Foucaults: Archäologie des Wissens; Überwachen und Strafen; Sexualität und Wahrheit. Bd. 1: Der Wille zum Wissen.
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sche Gegebenheiten im sozialistischen Deutschland: Für sie ist Foucaults These, die im 19. Jahrhundert in abendländischen Gesellschaften angeblich unterdrückte Sexualität sei »in Wirklichkeit diskursiv ausgestaltet und dadurch politisch regulierbar« geworden, auf »die Behandlung von Opposition in der DDR übertragbar,«70 weil auch im sozialistischen Deutschland – trotz zweifelsohne bestehender repressiver Politik – das als oppositionell Konstituierte in vielfältiger Weise besprochen und reguliert wurde und dadurch auch Identität und Konturen erhielt: [D]as hochentwickelte System zur Bewältigung der Aufgaben im Literaturbetrieb erforderte diskursive Pflege, ja wurde sogar erst durch die Diskursivierung des Gegenstandsbereichs möglich. Wie sollte wohl beispielsweise Zensur funktionieren ohne Auseinandersetzung mit dem zu Zensierenden durch Gutachten, Besprechungen, Berichte, Vorschläge, Einschätzungen u. a. m.? Die notwendige diskursive Praxis trieb auch Beurteilungskriterien, analytische Kategorien und Handlungsmaßstäbe hervor, wodurch das Gebiet des solcherart zu Kontrollierenden gewissermaßen abgesteckt und vermessen wurde. Dadurch konstituierte sich das Territorium teilweise erst als konturiertes Phänomen, und die Existenz dessen, was hatte unterdrückt werden sollen, trat als epistemologischer Gegenstand zutage.71
Jede zensorische Regulierung unterwirft nicht nur ihr Objekt, sondern formt es auch mit, und außerdem entwickelt sie sich selbst unter seinem Einfluss. Die schon beschriebene Wechselwirkung zwischen Aktion und Reaktion trifft sowohl auf Zensoren und Zensierte als auch auf Handlungen und Produkte beider zu. Dieser Einsicht (ebenso wie – in Analogieschluss – der Aufwertung von Macht in post-Foucault’scher Lesweise) folgend, ist in der Zensurforschung gelegentlich gefragt worden, ob der Zensur insofern ein ›positives‹ Potenzial attestiert werden könne, als sie nicht nur zu verstümmelnder Selbstzensur von Autoren führe, sondern eventuell deren Kreativität stimulieren könnte, wenn Schriftsteller sich ästhetische Verfahren ausdenken, um der Zensur ein Schnippchen zu schlagen. Michael Levine bringt diese Ambivalenz der Zensur auf einen Nenner, indem er ihr »a condition of writing that is at once crippling and enabling« bescheinigt.72 Zu diesem Themenbereich der ›Ästhetik‹ von Zensur (inklusive ihrem Gegenstück, der ›Selbstzensur‹) gibt es nicht so viele Studien, obwohl der Topos von der ›äsopischen Schreibweise‹ oder dem ›Platz zwischen den Zeilen‹ ein gängiger ist und diverse »forms of oblique communication«73 schon häufig als Kennzeichen des äsopischen 70 71 72 73
Müller: Stasi – Zensur – Machtdiskurse, S. 38. Müller, S. 42. Levine: Writing through Repression, S. 2. Patterson: Censorship, S. 905.
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Schreibens identifiziert worden sind. Denn erstens kommt man schon durch die Fragestellung nach ästhetischen Manifestationen von Zensur im Zensierten in den Geruch politisch verdächtiger Apologetik systematischer Repression;74 und zweitens ist es methodisch äußerst schwierig, beispielsweise einen literarischen Text nach zensurbedingten Elementen abzuklopfen, weil der Kausalitätsnachweis in der Regel nicht zu erbringen ist, vor allem bei älterer Literatur, deren Autoren man nicht mehr befragen kann. Von DDR-Schriftstellern hingegen gibt es durchaus Äußerungen zur Sache. So spricht Joachim Seyppel vom »Porzellanhund«, einer bewusst in den Text eingebauten, aber nicht essenziellen Provokation des Zensors, die dazu diente, vom wahren Anliegen des Manuskripts abzulenken: Der Porzellanhund war so beschaffen, daß man eine Sache derart in der Darstellung übertrieb, daß sie beim Zensor keine Chance hatte. Aber um diese Sache ging es einem gar nicht. Die Sache, um die es einem ging, war anderswo dargestellt, doch nicht derart übertrieben. Kam nun Lektor, Verlagsleiter oder Frau Borst vom Ministerium für Kultur, eine liebenswerte, hübsche Zensorin, und sagte, diese Sache sei ja derart übertrieben, daß sie im Manuskript gestrichen werden müsse, raufte man sich das Haar, tobte, erklärte, dann könne das ganze Buch nicht erscheinen, und drohte mit Mitteilung an die Westpresse. Das brachte die hübsche, liebenswerte, blonde Frau Borst in Rage, nun war sie es, die drohte, und am Ende einigten sich beide Seiten, daß diese maßlos übertriebene Darstellung gestrichen werden würde – und sonst nichts! Der eingebaute ›Porzellanhund‹ war zerschmissen worden, dazu war er ja auch da, und die Stelle, um die es einem eigentlich ging, war gerettet. Heute frage ich mich, in wie weit da die Zensur notgedrungen ein ihr bekanntes Spiel mitspielte?75
Analog spricht Walther von »Jacken, die ich in den Text gehängt hatte.«76 Doch Selbstaussagen von Autoren, die im übrigen eine eigene Studie wert wären, ergeben noch keine Phänomenologie. Brohm versucht, Spuren von Zensur in der polyphonen Mehrdeutigkeit von Texten zu verorten, die eine einsinnige Lektüre unmöglich mache und das Schmuggeln versteckter Botschaften ermögliche.77 Elana Gomel betrachtet »allegorical strategies as an element of what might be called the poetics of censorship: a collocation of the ways of reading and writing that are born out of external sociopolitical pressures exerted upon literature.«78 Das offensichtliche Problem mit diesem Ansatz liegt darin, dass der Umkehrschluß nicht funktio74 75 76 77 78
Theo Mechtenberg konstatiert: »Wer vom poetischen Gewinn der Zensur spricht, setzt sich dem Vorwurf des Zynismus aus.« Mechtenberg: Vom poetischen Gewinn der Zensur, S. 977. Wichner/Wiesner: Zensur in der DDR, S. 25. Wichner/Wiesner, S. 26. Brohm: Der andere Text. Gomel: The Poetics of Censorship, S. 88.
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niert: Nicht jeder polyphone oder allegorische Text ist Produkt von Zensur oder Selbstzensur, und wie soll man philologisch sauber differenzieren zwischen einem wegen ästhetischer Präferenzen des Autors mehrdeutigen Text und einem ähnlich ambivalenten Text, der diese Wesensart dem zensorischen Kontext verdankt, in dem er entstanden ist? Magdalena Michalak-Etzold differenziert zwischen bewusster und unbewusster Selbstzensur und befindet: »der Vorgang der unbewußten Selbstzensur [kann] kaum nachvollzogen werden, denn nur Zensurakte, die der Autor bewußt vornahm und thematisierte, können für die literarische Forschung erschlossen werden. […] Denk- und Schreibverbote, die Autoren über sich selbst verhängen, werden oft tabuisiert.«79 Kanzog macht einen interessanten Vorschlag, der allerdings eine ideale Materiallage voraussetzt: Er regt an, den Beweis für Selbstzensur zu erbringen durch ein »Syntagma der Zensurstreichungen« sowie die »Ordnung und Klassifikation des Gesamtbestandes aller Zensurstreichungen«, auf deren Basis sich thematische Zusammenhänge der vorgenommenen Streichungen – und daher sowohl die Logik der Zensur als auch deren Einfluss auf den literarischen Schreibprozess – feststellen lassen.80 Ergebnis der Magisterarbeit von Sabine Laußmann über Hauptmanns Die Ratten sei gewesen, dass »die drei Hauptaufmerksamkeitsfelder der Zensur – Politik, Moral und Religion – Orientierungsmuster für die Streichungen bilden.«81 Müller arbeitet komparatistisch und thematisch, um anhand des Zensurmotivs Zensurästhetik zu erkunden. In einem Vergleich von zwölf Gegenwartsromanen aus Ost und West hat sie herausgefunden, dass die erzählte Zensur je nach Gesellschaftssystem, in dem die Verfasser lebten, unterschiedlich ausgestaltet worden ist: In den Westromanen bedroht die thematisierte Zensur die weitere Rezeption von Klassikern, wohingegen es in den Osttexten um die Behinderung der Fertigstellung eines Textes geht, sich also die von den Autoren in sozialistischen oder totalitären Ländern real erfahrenen Probleme mit der Veröffentlichung von Literatur in der spezifischen Gestaltungsweise des Zensurmotivs niedergeschlagen haben.82 Franz Huberth untersucht literarische Repräsentationen der Stasi in Texten aus DDR und BRD.83 Zu den »Zeichen- und Kodierungsmöglichkeiten […], mit Hilfe 79 80 81 82 83
Michalak-Etzold: Literarische Selbstzensur in Deutschland, S. 582. Kanzog: Textkritische Probleme der literarischen Zensur, S. 310 u. 319. Kanzog, S. 319. Müller: Spannung durch Zensur. – ›Ost‹ und ›West‹ sind hier natürlich als Chiffren für politische Systeme zu verstehen, nicht als geographische Bezeichnungen. Huberth: Aufklärung zwischen den Zeilen.
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derer die ›Stasi‹ bereits zu DDR-Zeiten Eingang in die Literatur und in deren Sub-Texte fand«, zählt Huberth den Rückgriff auf Mythen, historisches Erzählen, Science Fiction, Kinder- und Jugendliteratur, Doppeldeutigkeit, Polysemie und Polyvalenz.84 Ursula Heukenkamp behandelt den Zusammenhang von Kriegsliteratur und Zensur in der DDR.85 Ein Buch, das schon mehr als zwanzig Jahre alt ist und dennoch in der deutschsprachigen Zensurforschung so gut wie gar nicht rezipiert worden ist, ist Lev Loseffs dem Russischen Formalismus verbundene systematische Studie der äsopischen Schreibweise in der modernen russischen Literatur.86 Loseff geht von der Überlegung aus, dass die äsopische Sprache ein Modus des Schreibens ist, der der Existenz der Zensur (und also außerliterarischen Faktoren) entspringt und der sich als ein System konsistenter Textveränderungen äußert.87 Letztere sind ›metastilistischer‹ Natur, weil sie als Kontrast zu einer bestehenden sozio-ideologischen Situation in einen Text eingefügt werden, der selber bereits literarisch, d. h. stilistisch markiert ist.88 Die äsopische Äußerung kann daher nur durch Bezugnahme auf den außerliterarischen Kontext entschlüsselt werden, was nicht nur bedeutet, dass der Schriftsteller den Leser auf den Text zwischen den Zeilen aufmerksam machen muss, um das gewünschte Textverständnis zu erzielen, sondern es muss sich bei den äsopischen Stellen um Formulierungen für Inhalte handeln, die dem Leser bereits bekannt sind, weil die Botschaft sonst nicht entschlüsselt werden könnte: »the Aesopian writer alludes to information, or rather a body of information, which is already known to the reader by experience, rumor, or such other channels as foreign radio broadcasts,« denn »all that is Aesopian in literary art rests precisely upon the joint possession by author and reader (sender and receiver) of one and the same piece of information. Otherwise not a single one of the Aesopian devices […] (screens and markers) would succeed.«89 Loseff konstatiert daher eine »enormous disproportion between the structural sophistication, the multiplicity of the code’s forms and the restricted scope, monotony, and customary vagueness of the content.«90 Wenn Loseff recht hat und die äsopische Sprache nur Altbekanntes transportiert, warum befleißigen die Autoren sich ihrer überhaupt? Loseffs Antwort 84 85 86 87 88 89 90
Huberth, S. 108–132, 360f., passim. Zitat auf S. 108. Heukenkamp: Unerwünschte Erfahrung. Loseff: On the Beneficence of Censorship. Loseff, S. 6f. Loseff, S. 23. Loseff, S. 26, 219f. Loseff, S. 217.
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lautet, die ambivalente, äsopische Äußerung ersetze die direktere Kritik, die der Zensor gestrichen hat, und sichere durch ihre oft (im Bachtin’schen Sinne) karnevalesken Mittel, die das vom Staat Hochgehaltene verlachen, eine komische Katharsis beim Leser.91 Loseff untersucht sowohl die Markierungen (›markers‹) und Abschirmungen (›screens‹), die das Äsopische als solches kennzeichnen bzw. verstecken, als auch die Typologie der poetischen Mittel, in der es sich manifestiert.92 Dabei differenziert Loseff zwischen Gattungen, Leserschaft und Formen ambivalenten, äsopischen Sprechens: eine Parabel kann z. B. dadurch ›abgeschirmt‹ werden, dass die Handlung in einem historischen, exotischen oder fantastischen Kontext situiert wird; ein Buch, das sich anscheinend an Kinder oder an ein Spezialpublikum richtet, kann in Wahrheit für die allgemeine Leserschaft geschrieben worden sein; und auf der Äußerungsebene »virtually every type of trope, rhetorical figure, and poetic device is encountered«, z. B. Allegorie, Parodie, Umschreibung oder Ellipse.93 Im zweiten Teil seiner Monographie diskutiert Loseff den Einfluss äsopischen Schreibens auf die Struktur ausgewählter Werke, auf die Formierung eines individuellen poetischen Schreibstils und auf Literatur, die sich zum Schein an Kinder wendet. Damit darf diese Studie als die bisher ausführlichste zum Thema zensurinduzierter Ästhetik gelten, auch wenn Elemente ihrer äsopischen Typologie andernorts bereits identifiziert worden sind und natürlich auch außerhalb äsopischer Texte vorkommen. Eine methodisch interessante Annäherung an die Ästhetik der Zensur und an Selbstzensur stammt von Levine. In einem an Poststrukturalismus, Dekonstruktion und Psychoanalyse geschulten Zugriff untersucht Levine in Writing through Repression die konfliktreichen Wechselwirkungen und Interdependenzen zwischen Schreiben und Repression in Literatur und Psychoanalyse: »what kind of writing, what style and grammar, what habits of collaboration and co-dependency does the imposition of censorship and, more particularly, its self-imposition make possible?«94 Ausgehend von Sigmund Freuds Traumdeutung, in der der Psychoanalytiker sich bekanntlich der Metapher der Zensur bedient, um die für die Wunschverschleierung notwendige Traumentstellung zu veranschaulichen,95 betont 91 92 93 94 95
Loseff, S. 45 u. 221. Loseff, S. 51 sowie Kap. III. Loseff, S. 61. Levine: Writing through Repression, S. 2 (Hervorhebung im Original). Freud: Die Traumdeutung, S. 173. – Zur Kritik an Freuds metaphorischer Verwendung des Begriffs der Zensur für die Beschreibung der Widerstände, denen die Psychoanalyse bei der Traumdeutung gegenübersteht, s. Harrison: Circles of Censorship.
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Levine den oft übersehenen, ja verdrängten literarischen Charakter von Freuds Texten, der es seinem Autor erst ermöglicht habe, Beobachtungen zu verschriftlichen, die sich auf ausschließlich deskriptiv-denotativer Ebene nicht erschlossen hätten.96 Damit wird der Stil von Freuds Texten auch epistemologisch konstitutiv für ihre Inhalte – und umgekehrt. Wie der Traum durch seine (verschlüsselten) Bilder Sinn sowohl versteckt als auch entfaltet, sind in Psychoanalyse und Literatur (vor allem in zensierter sowie selbstzensierter) ähnliche Verfahren zu beobachten. In dieser Perspektive verliert die Psychoanalyse ihren Status als Hort gesicherten Wissens, das auf Literatur interpretierend angewandt werden kann, und die Literatur erhält als Quelle psychoanalytischen Vokabulars (›Ödipus-Komplex‹ etc.) eine Schlüsselposition für die Befragung der Psychoanalyse aus literarischer Sicht. Eine literarische Lektüre fragt »not only ›how Freud said what he did‹ but moreover how his text does more than it says it is doing.«97 Die Parallelen zur Analyse zensierter Literatur sind offensichtlich – es kommt nicht nur auf die bewusst angewandten äsopischen Kunstkniffe des in zensorischen Kontexten wirkenden Schriftstellers an, sondern auch auf die ihm unbewussten, der Selbstzensur geschuldeten ästhetischen Verfahren und Inhalte, auf das ›Mehr‹ eines Textes, dessen Grenzen, Genese, Identität und Autorschaft frag-würdig sind: »censorship inevitably raises questions about discursive boundaries and their transgression.«98 Wie Levine den privilegierten Subjektstatus der Psychoanalyse als Instrument objektiv-wissenschaftlicher Analyse unter Hinweis auf die literarische Performanz dieser Disziplin kritisch hinterfragt, hat der ›New Historicism‹ der Historiographie narrative Elemente nachgewiesen und daraus geschlossen, Geschichtswissenschaft sei ultimativ fiktionalen Charakters.99 Ist Geschichte lediglich »eine Erzählung unter anderen«, wie Roger Chartier es zugespitzt formuliert?100 Eine solche Sicht schießt über das Ziel hinaus, denn die notwendige Selektion, Deutung und Darstellung historischen Materials in Form eines erzählenden Textes ist nicht gleichbedeutend mit dessen Fiktionalität. Doch haben Postmoderne und ›New Histo96 97 98 99
Levine: Writing through Repression, S. 14–16. Levine, S. 13. Levine, S. 6. So spricht Hayden White (White: Historical Emplotment, S. 393) vom »emplotment«, dem seines Erachtens notwendigen Rückgriff auf poetische und rhetorische Verfahren für die narrative Vermittlung historischer Fakten, in denen er »generic story patterns« zu erkennen glaubt, die die »plots« der zu vermittelnden Geschichte bereitstellen. In diesem Band auch zahlreiche weitere Texte zur Auseinandersetzung zwischen Postmoderne und Geschichtswissenschaft. 100 Chartier: Die unvollendete Vergangenheit, S. 36.
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ricism‹ zu einer nützlichen Reflexion von Rolle, Praxis und Verantwortung des Historikers geführt. Der Glaube an die Möglichkeit, ja an den Wert einsinniger Rekonstruktion von Vergangenheit ist ins Wanken geraten. Das hat Konsequenzen auch für die historische Zensurforschung, arbeitet sie doch viel mit Quellenmaterial und historischen Darstellungsformen. Wenn Breuer auf seine Frage »Woraufhin soll der Zensurhistoriker seine Quellen auswerten?« mit dem Verweis auf »systemtheoretische Erklärungsmöglichkeiten nicht nur der gesellschaftlichen Normenkontrolle, sondern auch des historischen Normenwandels« antwortet, sieht er die Tragweite seiner Frage nicht ganz.101 Denn empirisches Material kann, wie Sigrid Roßteutscher klarstellt, zu ganz unterschiedlichen Auslegungen führen: »history serves as a huge quarry providing empirical proof for highly diverging accounts.«102 Der Zweifel an der Fähigkeit des Historikers, Vergangenes zuverlässig zu rekonstruieren, liegt einerseits im Misstrauen des interpretatorischen Tuns des Wissenschaftlers begründet, hat aber andererseits mindestens ebenso viel mit der Tatsache zu tun, dass heute historisches Quellenmaterial selber als Konstrukt beargwöhnt wird, anstatt als ›Steinbruch‹ der Wahrheit. Natürlich ist schon immer quellenkritisch gearbeitet worden, doch diente dies stets der Gewinnung einer verläßlichen Materialbasis durch Identifikation und Relegation des als faktisch weniger zuverlässig Erscheinenden. Im Zuge des ›textual turn‹ jedoch werden Quellen nicht mehr primär auf ihre Stichhaltigkeit, auf ihren faktischen Weltbezug, auf ihre Verwendbarkeit als Beweismaterial hin bewertet; vielmehr stehen ihre textuellen Eigenschaften im Vordergrund: Gattung, Stil, Diskurs, Metaphorik, Motivik, Rhetorik usw. – kurzum, Konstruktcharakter und Machart der Texte, die Funktion der Gestaltungsweise für die jeweilige Argumentation sowie intertextuelle Relationen im fraglichen Aktenbestand. Kanzog spricht angesichts des gesteigerten Interesses an »Argumentationen der Gutachter« von einem editorischen »Nachholbedarf«: »Vollständige Akten-, bzw. Gutachtenpublikationen stehen nicht in gebotenem Maße zur Verfügung.«103 In der jüngeren Zensurforschung werden Textzeugen zensorischer Auseinandersetzungen mittlerweile intensiver als bisher auf ihre Argumentationen und Diskurse hin befragt, 101 Breuer: Stand und Aufgaben der Zensurforschung, S. 58. 102 Roßteutscher: Competing Narratives, S. 63. 103 Kanzog: Textkritische Probleme der literarischen Zensur, S. 320. – Zensur-Dokumente werden beispielsweise vollständig und in großem Umfang reproduziert in: Mix: Ein »Oberkunze darf nicht vorkommen«; Müller: Stasi – Zensur – Machtdiskurse; Plachta: Damnatur – Toleratur – Admittitur (dort allerdings – wenig leserfreundlich – auf beigefügtem Microfiche); Ziegler: Literarische Zensur in Deutschland 1819–1848.
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anstatt in erster Linie als Grundlage für Rekonstruktionen historischer Abläufe zu dienen.104 Die Vorteile eines solchen Ansatzes liegen auf der Hand: Er entlastet den Wissenschaftler von der oft unmöglichen Aufgabe, Fakt von Fiktion zu trennen, hebt die Analyse über das geschichtliche Puzzlespiel hinaus, erlaubt die Wahrnehmung der Texte als solche, und bietet somit vor allem den Literaturwissenschaftlern unter den Zensurforschern die Chance, das zu tun, was sie gut können, nämlich interpretierend mit und an Texten zu arbeiten. Das Nachdenken darüber, was Geschichtsschreibung leisten kann, hat auch den Umgang mit Archivalien und die Eigenarten von Archiven in den Blickpunkt gerückt. Zu den einschlägigen Studien von Philosophen, Kultur- und Medienwissenschaftlern gehören diejenigen von Wolfgang Ernst und Cornelia Vismann, die das Funktionieren des Gedächtnismediums Archiv behandeln; Vismann entwirft eine ›Grammatologie‹ von Aktentexten.105 Vismanns genaue Auseinandersetzung mit den Wesenszügen der Akte wäre dazu geeignet, auch die Interpretation von Zensurakten zu bereichern. Die genannten Arbeiten über Archive stehen im Kontext eines allgemeinen, aktuellen Interesses an den Zusammenhängen zwischen Medien, (Schrift)Kultur und Gedächtnis. Da im Zuge dieser Debatte Manifestationen und Traditionen des kulturellen Gedächtnisses erforscht werden, gehört der Kanon als Hüter der Überlieferung zu den wichtigen Untersuchungsgegenständen: »Kanon soll […] ein Oberbegriff für alle Versuche sein, gesellschaftliche Einheit und kulturelle Stabilität mit Normierungen und institutionellen Mitteln zu sichern.«106 Die sowohl in Deutschland als auch im angelsächsischen Raum lebhaft geführte Kanondebatte ist für die Zensurforschung deshalb relevant, weil ihr die Zensur als Kontrastfolie oder Pendant für den Kanon dient.107 Es ist leicht einzusehen, warum: Schließlich sind kanonrelevante Selektionshandlungen, Abgrenzungen und Normierungsversuche auch zensurtypisch. Aleida und Jan Assmann, Herausgeber eines für die Kanonforschung sehr wichtigen Bands, betrachten »Kanon und Zensur als korrelative Begriffe«.108 Das ist jedoch ein wenig irreführend, denn Zensur impliziert zwar die Existenz 104 Beispielhaft seien folgende Studien genannt: Brohm: Die Koordinaten im Kopf; Lee: Geständniszwang und »Wahrheit des Charakters«; Müller: Stasi – Zensur – Machtdiskurse. 105 Ernst: Das Rumoren der Archive; Vismann: Akten. Medientechnik und Recht. 106 Schulze: Kanon und Pluralisierung in der Frühen Neuzeit, S. 317 (Hervorhebung im Original). 107 Ausführlicher als hier zur Relevanz der Kanondebatte für die Zensurforschung vgl. Müller: Über Zensur, S. 11–14. 108 Assmann/Assmann: Kanon und Zensur als kultursoziologische Kategorien, S. 19.
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eines Kanons, aber das Vorhandensein eines Kanons bedeutet noch lange nicht, dass es auch Zensur gibt. Die Assmanns differenzieren zwischen drei Einrichtungen, die als »Wächter der Überlieferung« kanonische kulturelle »Permanenz« herstellen: Zensur, Textpflege und Sinnpflege.109 Die Zensur bekommt die Rolle des Schwarzen Peter zugeschoben: Zur Zensur gehört neben der Abgrenzung gegen das Fremde, Unechte, Falsche auch die Immunisierung gegen den Wandel. Diese Aufgabe ist spezialisierten Institutionen übertragen, die wir unter den Begriffen der ›Textpflege‹ und der ›Sinnpflege‹ zusammenfassen wollen. Im Gegensatz zu der wesentlich negativen Stoßkraft der Zensur, die ausscheidet, herabmindert und verhindert, fällt den beiden anderen Institutionen eine vornehmlich konservative bzw. kreative Funktion zu.110
Das ist jedoch zu schematisch und abstrakt gedacht. Denn in der zensorischen Praxis wird nicht nur ›ausgeschieden‹, ›herabgemindert‹ und ›verhindert‹, sondern auch erlaubt oder mit Variationen zugelassen. Das solcherart verlegte Buch ist ja ungeachtet der zensorischen Interventionen ein kreatives Werk, und schon durch den Legitimationseffekt zensorischer Imprimatur-Entscheidungen zeigt sich die Zensur von ihrer ›konservativkreativen‹ Seite: »Gewiß wird man nur schwerlich argumentieren können, bei einem Placet des Zensors liege eigentlich gar keine Zensur, sondern Text- oder Sinnpflege vor, wohingegen es sich bei einer verweigerten Druckerlaubnis derselben Institution um Zensur handele.«111 Die strenge Abspaltung der Zensur von der Text- und Sinnpflege wird von den Assmanns denn auch nicht durchgehalten, impliziert ihre Unterscheidung dreier Zensurtypen doch konzeptionelle Überschneidungen, weil Typ zwei der Textpflege ähnelt und Typ drei der Sinnpflege: »Wir unterscheiden 3 idealtypische Grundformen der Zensur: die Zensur zur Bewahrung der Macht gegen das Subversive, die Zensur zur Profilierung des Kanons gegen das Apokryphe (Profane, Heidnische) und die Zensur zur Bewahrung des Sinns gegen das Häretische.«112 Unzweifelhaft bestehen Parallelen zwischen Kanon und Zensur: Beide trennen Kulturgut in rezeptionswürdige und rezeptionsunwürdige Werke, beide können zur kulturellen Sinnstiftung und Traditionsbildung beitragen, beide spiegeln Eigenschaften des Kulturbetriebs, (kultur)politischer Machtverhältnisse sowie der kulturellen Praxis einer Gesellschaft, mit bei109 110 111 112
Assmann/Assmann, S. 11. Assmann/Assmann, S. 11f. Müller: Über Zensur, S. 12. Assmann/Assmann: Kanon und Zensur als kultursoziologische Kategorien, S. 26 (dort Anm. 11).
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den kann Macht ausgeübt werden. Damit hören die Gemeinsamkeiten jedoch auf, und essenzielle Unterschiede zwischen Kanon und Zensur springen ins Auge: Die für die Ausübung von Zensur unverzichtbare institutionelle, verfahrenstechnisch-bürokratische und legale Verankerung kontrastiert mit vielen Erscheinungsformen des Kanons, die durchaus nicht ›von oben verordnet‹ zu sein brauchen, wie es freilich u. a. bei schulischen Curricula der Fall ist, nicht jedoch bei solchen Kanones, die auf den (natürlich auch durch Vermarktung gesteuerten) Vorlieben eines Zielpublikums basieren, z. B. in der Musikbranche. Im Gegensatz zur ›monologischen‹ Zensur gibt es beim Kanon Pluralismus insofern, als verschiedene Kanones in verschiedenen Kontexten nebeneinander existieren: »Nur in kleinen Gruppen und in der offiziellen Kultur totalitärer Gesellschaften gelingt es, einen einzigen Kanon ›von oben‹ oder wenige homogene Kanones durchzusetzen. Differenzierte moderne Kulturen verfügen über konkurrierende Autoren- und Werkkataloge, die sich nur zum Teil überschneiden.«113 So gibt es in der Rockmusik ganz andere Vorstellungen davon, was kanonisch ist, als z. B. beim Jazz oder Musical. Grenzt ein Kanon ein Werk zugunsten eines anderen aus, so lässt er das Zurückgewiesene selber unangetastet; die Zensur hingegen greift entweder schon in die Entstehungs- und Produktionsphase ein oder behindert aktiv die Verteilung und Rezeption des fraglichen Werks. Langermann und Thomas Taterka stellen Kanon und Zensur einander gegenüber; sie sprechen von der DDR, doch treffen die beschriebenen Mechanismen auch auf andere politische Welten zu: Kanon war ein Machtmittel, um Ziele auf Konsensbasis zu erreichen, Handeln durch Selbsttätigkeit in eine intendierte Richtung zu treiben. Wenn aber die handlungsleitende Funktion des Kanons Formen der Anerkennung voraussetzt, muß seine Existenz gerade da vermutet werden, wo er oberflächlich nicht wahrnehmbar und, im Sinne erfolgreicher Vermittlung von Interessen, wie ›selbstverständlich‹, gewissermaßen naturhaft, anwesend und wirksam war. In genauem Gegensatz dazu steht die Zensur: Zensurfälle markierten eine nicht-erfolgreiche Vermittlung. Zensur erscheint in dieser Perspektive nicht als schlichtweg negierender, abschneidender Akt. Sie gibt vor allem ein Scheitern sonst ›gelungener‹ vorgängiger Vermittlungen zu erkennen, das Scheitern von Kanonisierungsversuchen, das nach dem Selbstverständnis des institutionellen Systems nun die krude Intervention, das offene Eingreifen, notwendig machte.114
Es wird klar, dass Kanon und Zensur ineinander greifen. Wer von beiden der kulturgeschichtlich wirkungsmächtigere Faktor ist oder war, werden Kanonforscher und Zensurforscher unterschiedlich (und nicht ganz un113 Grübel: Wert, Kanon und Zensur, S. 619. 114 Langermann/Taterka: Von der versuchten Verfertigung einer Literaturgesellschaft, S. 17.
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eigennützig) beantworten: Wo Breuer »Literaturgeschichte als Zensurgeschichte« sieht, ist für Schulze die »europäische Frühe Neuzeit […] ganz allgemein durch die Dialektik von Kanon und Pluralisierung zu charakterisieren«.115 Eins steht jedoch fest: Was Robert Post der traditionellen Zensurforschung attestiert – nämlich Langeweile116 – hat sich verflüchtigt, und zwar nicht nur aufgrund der Öffnung bisher unzugänglicher Archive, ob in der ehemaligen DDR, Osteuropa oder Vatikanstadt.
7 Desiderate Statt einer Zusammenfassung seien zum Abschluß einige wichtige Forschungslücken aufgezeigt, die im Haupttext dieses Beitrags noch nicht oder noch nicht adäquat als solche identifiziert worden sind. Dem Grundtenor dieses Aufsatzes entsprechend beziehen sich die nachfolgenden Ausführungen weniger auf Desiderate in der historischen Zensurforschung als auf untererforschte Probleme theoretischer, systematischer oder thematisch übergeordneter Natur. –
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Wenn es schon einem einzelnen Autor – oder selbst einem Autorenteam – nicht zuzumuten ist, eine umfassende deutsche Zensurgeschichte zu schreiben, könnte eine wissenschaftlich angelegte Enzyklopädie, die die thematische Breite der gegenwärtigen Zensurforschung spiegelt, Abhilfe schaffen. Die von Derek Jones herausgegebene ist hier kein besonders gutes Vorbild, weil die Einträge in ihrer Qualität sehr unterschiedlich sind und theoretische Belange völlig unterrepräsentiert sind – es gibt noch nicht einmal Stichwörter zur Zensurtheorie oder zur Zensurdefinition.117 Sowohl von der Zensur Betroffene als auch Verfasser von Sekundärliteratur tendieren dazu, sich metaphorisch zur Zensur zu äußern. Da ist die Rede vom Maulkorb, von der Schere im Kopf, vom »Gedankenkindermord« (nach Heine), der Amputation, der Entmündigung durch Zensur, deren Richtschwert usw. In diesen und anderen Formulierungen drücken sich Werturteile und Vorstellungen über die Funktionsweise von Zensur aus, denen diskursanalytisch nachzuforschen sehr interessant wäre, etwa wenn man die bildstiftenden Berei-
115 Breuer: Stand und Aufgaben der Zensurforschung, S. 43; Schulze: Kanon und Pluralisierung in der Frühen Neuzeit, S. 317f. 116 Post: Censorship and Silencing, S. 1. 117 Jones: Censorship. A World Encyclopedia.
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che systematisierte und ihre Verwendung historisierte, um auf der Basis von Konstanten und Varianten geistesgeschichtliche oder durch unterschiedliche politische Systeme bedingte Entwicklungen des Bilds von der Zensur nachzuzeichnen. Die Aussage, ein Buchverbot sei eine gute Reklame für das betroffene Werk und seinen Schöpfer, ist ein Gemeinplatz in der Forschung; Brohm befindet gar, »daß ein Publikationsverbot wie ein Adelstitel wirken« kann.118 Doch fehlt es an fundierten Untersuchungen, die die komplexe Beziehung zwischen Zensur und Markt erhellen. Das hängt selbstverständlich auch damit zusammen, dass es unmöglich ist, aus den schwarzen Zahlen, die ein beispielsweise in der DDR verbotenes, aber in der BRD erfolgreich verlegtes Buch erzielt hat, ›normale‹ Verkaufszahlen abzuleiten, die das Buch hätte erzielen können, wenn es nicht verboten worden wäre. Doch ›Markt‹ ist ja nicht gleichbedeutend mit ›Umsatz‹, und so kann man andere marktrelevante Aspekte erforschen, z. B. Werbetexte für Bücher, Profile von Verlagsprogrammen, Messekataloge, oder auch verlegerische Deliberationen über Absatzchancen und Verkaufsstrategien, wie sie in Firmenunterlagen und Korrespondenz zutage treten (auch wenn einschlägiges Material nicht (mehr) unbedingt vorhanden oder frei zugänglich ist). Die Aufarbeitung der Geschichte einzelner Institutionen des Literatur- oder Kulturbetriebs und ihres Verhaltens in zensorischen Kontexten ist weiter voranzutreiben: Verlage, Buchhandlungen, Buchmessen, Börsenvereine, Bibliotheken,119 Theater, Museen, Schriftstellerund Künstlerverbände etc. haben alle Anteil an der Mediation zwischen Kulturschaffenden, Kulturgütern, der Kulturadministration und dem Publikum. Nicht zuletzt aufgrund der vergleichsweise guten Materiallage sind solche Untersuchungen für Teile des Kulturbetriebs der DDR bereits geleistet worden – ich verweise exemplarisch auf die Arbeiten von Barck und Lokatis zum Verlag Volk und Welt sowie auf den buchwissenschaftlich und kulturgeschichtlich hochinteressanten Band Das Loch in der Mauer.120 Ein sehr unterforschter Gegenstandsbereich ist der Zusammenhang zwischen Zensur und Übersetzung. Damit ist nicht in erster Linie die Steuerung der Lektüre durch selektive Übersetzung kanonischer
118 Brohm: Die Koordinaten im Kopf, S. 19. 119 Vgl. hierzu Kellner: Der »Giftschrank«. 120 Barck/Lokatis: Fenster zur Welt; Lehmstedt/Lokatis: Das Loch in der Mauer.
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fremdsprachiger Werke, wie es in der DDR Kulturpolitik war, gemeint,121 sondern die ideologisch motivierte Aussparung ›brenzliger‹ Stellen im übersetzten Text. Wenn in A Model Childhood, der amerikanischen Übersetzung von Christa Wolfs Roman Kindheitsmuster (1976), fast alle Passagen, die sich kritisch mit dem Vietnam-Krieg auseinandersetzen, schlicht fehlen, kann das kein Zufall sein.122 Wenig systematische Beachtung haben Diskrimierungen (z. B. mit Bezug auf Geschlechterverhältnisse) im Kontext der Zensur gefunden, zumindest im deutschsprachigen Raum. Es wäre zu prüfen, ob sich das, was Barbara Becker-Cantarino ›Geschlechtszensur‹ nennt,123 auf andere Bevölkerungsgruppen übertragen läßt: Sind Zensurentscheidungen – auch in post-aufklärerischen Zeiten – mitabhängig vom ethnischen, kulturellen, religiösen Background der Zensierten?124 Wurden also beispielsweise in der DDR die von jüdischen Schriftstellern, von Opfern des Faschismus vorgelegten Manuskripte mit einer anderen Elle gemessen als die Werke anderer Autoren? Das Thema Zensur müßte für den Schulunterricht didaktisch besser aufbereitet werden. Bernd Ogans einschlägige Veröffentlichung bei Reclam Literaturzensur in Deutschland ist ein löbliches Unterfangen, doch mittlerweile schon 20 Jahre alt.125 Und im Internet-Zeitalter, in dem Pornographie, terroristische Anleitungen zum Bombenbau oder Websites zum illegalen Herunterladen von Musik immer nur einen Mausklick weit weg sind, wäre eine Einbeziehung auch solcher hochaktueller Problemkreise sehr lohnenswert, nicht zuletzt im Interesse einer Erziehung zum mündigen Bürger im 21. Jahrhundert.
121 Dazu s. Giovanopoulos: Die amerikanische Literatur in der DDR. 122 Übers. v. Ursule Molinaro und Hedwig Rappolt. New York: Farrar, Straus und Giroux 1980. – Ich bedanke mich bei Georgina Paul von der Universität Oxford für diesen Hinweis sowie für die gestattete Einsichtnahme in einen Brief Christa Wolfs an Paul in dieser Sache. 123 Becker-Cantarino: Geschlechtszensur. 124 Zu Zensur und Religion in der DDR vgl. Bräuer/Vollnhals: »In der DDR gibt es keine Zensur.« 125 Ogan: Literaturzensur in Deutschland.
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SONJA GLAUCH/JONATHAN GREEN
Lesen im Mittelalter. Forschungsergebnisse und Forschungsdesiderate 1 2 3 3.1 3.2 3.3 3.4 4 4.1 4.2 4.3 5 5.1 5.2 5.3 6 7
Einführung Eine kurze Geschichte der Geschichte des Lesens im Mittelalter Lesen im Mittelalter zwischen Antike und Renaissance: Brüche und Kontinuitäten, gesellschaftliche Spannungsfelder Das Weiterleben der antiken Lesekultur im Mittelalter: Der Einfluss der klassischen Grammatik und Rhetorik Die Umbrüche des 11./12. Jahrhunderts: Das Spannungsfeld Kloster vs. Universität Die Spannungsfelder Klerus vs. Laienstand, Latein vs. Volkssprache und Männer vs. Frauen Vom Mittelalter in die Neuzeit: Lesen in der Stadt Mediengeschichtliche Ansätze I: Materielle Grundlagen des Lesens Layout und Lesen Interpunktion, Spatium und die Kontroverse um leises Lesen Marginalienforschung Mediengeschichtliche Ansätze II: Lesen als Kulturtechnik Mündlichkeit und Schriftlichkeit Lesen und Sehen, Text und Bild. Lesen als Aspekt der ›visuellen Kultur‹ des Mittelalters Lesegeschichte als Kognitionsgeschichte Ausblick und Forschungsdesiderate Literaturverzeichnis
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1 Einführung Das Lesen zu erforschen ist schon auf den ersten Blick kein leichtes Unterfangen, und dies aus zwei Gründen: denn wenn man unter ›Lesen‹ den Prozess der Interpretation von visuellen Zeichen versteht, so scheint dieser Prozess weder direkt beobachtbar zu sein, noch steht von vornherein fest, welche Ebenen dieser Interpretation zum Lesen gerechnet werden sollen: Wird als Lesen nur eine Umsetzung von Zeichen in Sprachlaute und in Gedanken verstanden oder auch ein erfolgreiches Textverständnis und seine kulturellen Folgen? Im Blick auf historische Phänomene ist die erste Schwierigkeit besonders folgenschwer, und man mag zur Abhilfe auf das materielle Pendant des Lesens, das Buch, verweisen. Aber obwohl das Lesen an das Buch gekoppelt scheint, könnten sich zwei Forschungsgegenstände kaum stärker unterscheiden. Während Bücher in Bibliotheken und Museen betrachtet und angefasst, aufgeschlagen und gelesen, gewogen und gezählt werden können, scheint der Umgang der Leser mit dem Buch immateriell, ephemer und zu großen Teilen undokumentierbar. Überdies ist das Lesen wiederum nicht dasselbe wie der Umgang mit Büchern oder mit Schriftdokumenten im weitesten Sinn. Es ist zugleich mehr, weil in jeder Gesellschaft Dinge ›gelesen‹ werden, die nicht in den Bereich der Schrift allein fallen, und zugleich weniger, weil Lesen ein privilegierter, aber nicht der einzige Umgang mit Büchern ist: das Buch als Ware, das Buch als Status- und Sammlerobjekt wird nicht gelesen.1 Wie kann das ›Lesen‹ also beobachtet werden? Anders als viele kulturelle Praktiken, die ihrem Wesen nach poietisch sind, produziert das Lesen nichts von Dauer und hinterlässt nur in Ausnahmefällen materielle Spuren. Der momentane Lesevorgang ist ebenso wie die längerfristige Prägung des Lesers durch seine Lektüre und die ›Bildung‹ der lesenden Gesellschaft etwas Prozessuales, Flüchtiges, das zunächst nur in den Köpfen stattfindet. Leseforschung kann daher meist nur von bloßen Indizien ausgehen, von zufällig dokumentierten Bekundungen von Lesern über ihre Lektüre, Rezeption von Texten in anderen Texten, Analysen des Büchermarkts, des Buchlayouts und der Schriftgestaltung. Selbst die Messung der Augen- und Hirntätigkeit beim Lesen – für historische Fragestellungen ohnehin vergebens – kann nicht das ›Lesen‹ an sich sichtbar
1
Zu den Zweitfunktionen des Buches im Mittelalter, siehe Bridges: Mehr als ein Text, sowie McKitterick: The Carolingians and the Written Word, S. 155–164.
Lesen im Mittelalter. Forschungsergebnisse und Forschungsdesiderate
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machen, sondern nur isolierte kognitive Mechanismen, die das Lesen begleiten. In der Handschriftenkultur des Mittelalters stehen aber Buch (als ein materielles Objekt) und Lesen (als ein immaterielles Tun) zueinander weniger deutlich in Opposition als in der Ära des Drucks. Jedes einzelne Buch wird hier im Zuge eines individuellen Lesevorgangs geschrieben,2 das Lesen im Sinn einer Aneignung von Texten geht oft mit der schriftlichen Sammlung von Lesefrüchten einher, und der studierte Leser hat nicht selten einen Griffel oder eine Feder in der Hand, um ›Fehler‹ auszubessern oder Notizen für sich und andere anzubringen. Insofern dokumentiert jedes handgeschriebene Buch die Arbeit von Lesern. Dennoch ist Lesen im Mittelalter ein schwer zu fassender Gegenstand. Schon die Bezeichnungen für ›Schreiben‹, ›Malen‹, ›Diktieren‹, ›Verfassen‹, ›Lesen‹, ›(ein Bild) Betrachten‹ und ›Vorlesen‹ können im Lateinischen und in den mittelalterlichen Volkssprachen verwirrend inkonsistent sein. Mit lateinisch ›legere‹ oder mittelhochdeutsch ›lesen‹ wurden auch Tätigkeiten bezeichnet, die heute nicht mehr zum Begriff des Lesens gerechnet werden.3 Eine Problematisierung des nicht unumstrittenen Konzepts ›Mittelalter‹ kann nicht Aufgabe dieses Berichts sein. Eine chronologisch ausgerichtete Lesegeschichte sieht sich primär mit der Aufgabe konfrontiert, die Brüche und Kontinuitäten zwischen Antike und Mittelalter einerseits und zwischen Mittelalter und Neuzeit andererseits zu beschreiben (siehe Kap. 3). Die Epochengrenze zwischen Mittelalter und Neuzeit ist für die Lesegeschichte deshalb von besonderer Bedeutung, weil diese Periodisierung seit jeher auch als eine mediengeschichtlich legitimierte aufgefasst wurde: eben die medienhistorische Umwälzung, die in der Ablösung der Handschrift durch den Buchdruck begriffen liegt, prägt unser Bild von Mittelalter und Neuzeit entscheidend mit. Die Frage ›Wer liest?‹ bildet einen wichtigen Aspekt einer Lesegeschichte, die sich lange fast ausschließlich mit dem Alphabetisierungsgrad von verschiedenen Bevölkerungsschichten befasst hat, bevor sie stärker von sozialhistorischen Ansätzen geprägt wurde. Die Lesesoziologie des 2 3
Vgl. Hamesse: Das scholastische Modell der Lektüre, S. 159. Illich: Im Weinberg des Textes, kann als ausführliche, aber zugleich zugängliche und aufschlussreiche Darstellung des ›lectio‹-Begriffs im Kontext des Klosters und der Universität im 12./13. Jahrhundert gelesen werden (siehe Kap. 3.2). Weiter zur Begriffsgeschichte: Hamesse: Das scholastische Modell der Lektüre, S. 160f. Dem Begriffsinventar der deutschsprachigen Schriftkultur des Mittelalters gewidmet ist Dicke: Im Wortfeld des Textes.
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Mittelalters will nicht nur die Lesefähigkeit von unterschiedlichen Ständen und sozialen Gruppen ermitteln, sondern die Funktion des Lesens im Rahmen der Strukturen der mittelalterlichen Gesellschaft beschreiben. Anscheinend fundamentale Kategorien, wie z. B. das Geschlecht, und Institutionen, die für das Mittelalter als konstitutiv angenommen werden, wie z. B. das Klosterleben, offenbaren sich bei näherer Betrachtung als Spannungsfelder, wo Identität errungen, erneuert und untermauert wird. Neue Forschungsansätze entdecken das Lesen als identitätsstiftende Kulturtechnik in einer dynamischen mittelalterlichen Gesellschaft. Lesegeschichte ist nur am Rande die Geschichte des Gelesenen, obwohl Texte wesensmäßig Widerspiegelungen von Leseakten sind, vergangenen wie zukünftigen. Intertextualität als Spätfolge des Lesens, Rezeptionsästhetik als Blick auf den Text unter dem Aspekt seines Gelesenwerdens, die Steuerung des antizipierten Leseakts durch den Text selbst – man denke an den ›impliziten Leser‹ der Erzähltheorie –, all dies ist vor allem der Gegenstand einer Literaturwissenschaft und Literaturgeschichte, die selten den Zugriff auf den realen Leser und seine tatsächlichen Lesevorgänge sucht. Demgegenüber ist die Lesegeschichte stark geprägt von der Paläographie und der Kodikologie, also von Wissenschaften, die sich vor allem der äußeren Beschaffenheit eines geschriebenen Texts widmen. Das Buch als physischer Textträger bildet die materielle Grundlage einer Lesegeschichte, die das Layout einer Handschrift als eine Anpassung an implizierte Lesepraktiken sieht, aber auch empirische Indizien für reale Lesepraktiken in den Lesespuren aus vergangenen Jahrhunderten sucht (siehe Kap. 4). Vergangene kulturelle Praktiken werfen das epistemologische Problem jeder historischen Forschung auf: Analogieschlüsse von der Gegenwart auf die Vergangenheit können Trugschlüsse sein. Die Geschichte der Kommunikation und ihrer Medien hat, gerade im Hinblick auf das europäische Mittelalter, in den letzten Jahrzehnten viele Gegenstände in ein neues und teils nachgerade befremdendes Licht gerückt: weder ›Bild‹ noch ›Text‹ noch ›Stimme‹ noch ›Geste‹ bedeuten in der vormodernen Kultur dasselbe wie in der Neuzeit oder der Gegenwart. Es konnte nicht ausbleiben, dass auch das Lesen als Kulturtechnik in diesen breiteren medienhistorischen Fragestellungen der Mediävistik neu reflektiert wurde (siehe Kap. 5). Die Erforschung des Lesens im Mittelalter erhält zunehmend starke Impulse von den überaus umfassenden Fragestellungen und Paradigmen der mediävistischen Kulturwissenschaft. Dazu gehören beispielsweise die Fragen nach Mündlichkeit und Schriftlichkeit, nach der Ritualität
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und Performativität der mittelalterlichen Kommunikation, nach der Kultur der Präsenz. Ein thematisch engumschriebener Forschungsbericht kann diesen Perspektiven freilich nicht gerecht werden; es ist unmöglich, an diesem Ort umfassend über die Forschungen zur Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Mittelalter zu orientieren. Auch wenn der Bezug des Lesens im Mittelalter zur Schreibtätigkeit und zum körperlichen Handeln im allgemeinen, zum materiellen Buch und zur Gesellschaft beträchtliche Unterschiede zum modernen Lesevorgang ans Licht bringt, kommen hier nur solche wissenschaftlichen Arbeiten in Betracht, die sich mit dem Lesen im engeren, d. h. modernen Sinn auseinandersetzen. Der Großteil der Arbeiten zur Geschichte des Buchs oder der Schriftkultur im Mittelalter, oder zu den verschiedenen Zweigen der Kulturgeschichte, muss darum ausgespart bleiben. Dieser Forschungsbericht bekennt sich zudem zu seinem unvermeidlichen germanistischen Übergewicht. Es wird angestrebt, die Forschung zum deutsch- und englischsprachigen Raum gründlich und gleichberechtigt abzudecken, wohingegen die romanistische und latinistische Leseforschung sich – gemessen an ihren Erträgen – mit Recht unterrepräsentiert fühlen wird. Auch das mediävistisch hochaktuelle Thema der Verschriftlichung von Musik – denn auch musikalische Notation wird ja ›gelesen‹, und liturgischer (Lese-)Vortrag war im Mittelalter oft zugleich gesungener Vortrag – muss in diesem Bericht gänzlich außen vor bleiben. Die folgenden Kapitel orientieren sich an Eckpunkten der Lesegeschichte des Mittelalters, die sich in den letzten Jahrzehnten etabliert haben. Viele wissenschaftliche Arbeiten in diesem Forschungsfeld überschreiten aber in der Regel eine oder mehrere Grenzen, die in diesem Forschungsbericht zwischen Teilbereichen gezogen werden. Eine grundlegende Abhandlung wie z. B. Ivan Illichs Im Weinberg des Textes nimmt Einflüsse aus vielen Forschungsbereichen auf und übt ihrerseits Einfluss auf Wissenschaftler in den vielen Disziplinen, aus denen das interdisziplinäre Forschungsfeld der Lesegeschichte besteht; um Illichs Werk gerecht zu werden, müsste man es in fast jedem Kapitel erwähnen. Trotzdem werden wissenschaftliche Arbeiten möglichst nur einmal erwähnt, und zwar an dem Ort, der dem Kernergebnis des Werks am nächsten liegt, also im Fall von Im Weinberg des Textes in der Diskussion um das Spannungsfeld Kloster – Universität bzw. monastische und scholastische Lesepraktiken (siehe Kap. 3.2). Obwohl Teil eines Handbuchs zur ›Buchwissenschaft in Deutschland‹, macht der vorliegende Forschungsbericht mit Absicht keinen Versuch, die
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deutsche Forschung isoliert darzustellen. Lesen im Mittelalter ist ein gesamteuropäischer Gegenstand: so überspielt die lateinischsprachige Buchkultur der mittelalterlichen Universität die nationalen Prägungen von deren einzelnen Angehörigen oft weitgehend. Auch sind Handschriftenbestände heute oft in alle Welt zerstreut. Gerade mit Blick darauf überrascht es nicht, dass die deutsche Forschung sich ebensowenig auf das ›deutsche‹ Mittelalter beschränkt wie sie ohne ein ständiges, intensives interdisziplinäres und internationales Gespräch arbeiten kann.
2 Eine kurze Geschichte der Geschichte des Lesens im Mittelalter Lesegeschichte des Mittelalters wurde schon geschrieben, bevor bewusst darüber nachgedacht wurde, wie man das Lesen im Mittelalter wissenschaftlich untersuchen und beschreiben kann. Schon im späten 19. Jahrhundert findet man eine populärwissenschaftliche Darstellung, die den gesellschaftlichen, kulturellen und literaturgeschichtlichen Stellenwert des Lesens im Mittelalter behandelt.4 Erst in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts widmen sich Wissenschaftler indes in größerer Zahl den methodologischen Fragen, wie man Lesen historisch erschließen könne, welche Arten von Indizien sich heranziehen lassen und welche Art der Geschichtsschreibung erstrebenswert sei. Die meisten neueren Aufsätze zur Lesegeschichte greifen diese Fragen mindestens ansatzweise auf, doch fehlt es auch nicht an spezifisch theoretisch-methodologischen Abhandlungen, obwohl die Besonderheiten des Mittelalters als Forschungsfeld bisher in den Grundsatzdiskussionen oft vernachlässigt worden sind. In den 1980er Jahren lässt sich beobachten, wie sich Forschungsansätze für die historische Leseforschung herauskristallisieren. Für brauchbare Ansätze zur historischen Leseforschung werden, wenn nicht einstimmig, so doch weithin die folgenden gehalten: sich rezeptionsästhetisch oder rezeptionsgeschichtlich mit dem Text auseinanderzusetzen, das Bildungswesen und die Institutionen des geschriebenen Worts zu erforschen, die Leser und die kulturellen Rahmenbedingungen des Lesens soziologisch zu beschreiben, die im Buchaufbau und in der Seitengestaltung implizierten Leseweisen zu untersuchen und schließlich die Lesespuren am
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Vgl. Richter: Lesen und Schreiben im Mittelalter.
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Buchkörper selbst auszuwerten. In einer primär auf das 18. Jahrhundert fokussierten Überlegung hat Paul Raabe schon 1982 über den möglichen Beitrag der historischen Bibliothekswissenschaft zur Lesegeschichte nachgedacht.5 Für Raabe ist die historische Leserforschung noch in erster Linie eine Sozialgeschichte des Lesers, aber auch eine Erforschung von Lesegewohnheiten, auch noch eine Untersuchung der gelesenen Lektüre. Als mögliche Quellen nennt Raabe Lesespuren in Büchern, literarische Zeugnisse, Bücherkataloge und andere Information über Buch- und Bibliotheksbenutzung; zumindest teilweise sind diese auch relevant für die Lesegeschichte des Mittelalters. Eine ähnliche Argumentation aus Sicht eines Bibliothekars, jedoch stärker auf das Mittelalter gerichtet, bringt dann im Jahre 1985 Kenneth W. Humphreys.6 Im selben Jahr fordert Brigitte Schlieben-Lange eine historische Leseforschung, die Ansätze der literaturwissenschaftlichen Rezeptionsästhetik, der empirischen Rezeptionsforschung, der Buchgeschichte und der Sprachpsychologie zu verbinden in der Lage wäre.7 Als mögliche Quellen betrachtet Schlieben-Lange unter anderem das Buch und seine Gebrauchsspuren als historische Artefakte sowie Aussagen von Lesern und Autoren.8 Robert Darnton legt ein Jahr darauf fünf Erste Schritte zu einer Geschichte des Lesens vor, wobei er ähnliche Quellen in Betracht zieht: Man könne untersuchen, wie das Lesen als kognitiver und physikalischer Prozess vorgestellt wurde, wie und wo man es lernte und lehrte, und wie Leser ihre Leseerfahrungen darstellten sowie in Marginalien festlegten. Dazu kämen die Fragen, inwiefern der implizierte Leser der Rezeptionsästhetik sich mit historisch erschließbaren realen Lesern vergleichen lasse und welche Lesepraktiken im Buchlayout impliziert seien.9 Georg Jägers Überlegungen vom Jahre 1987 zur »historischen Lese®forschung« stimmen weitgehend mit Darnton überein. In welcher Weise diese Ansätze für die Mediävistik fruchtbar gemacht werden konnten, ist in den folgenden Kapiteln dieses Forschungsberichts darzustellen. In Betracht kommen hier vor allem Arbeiten, die nach oder im Umfeld dieser reflektierenden Forschungsdiskussion entstanden sind. Diese zeitli5 6 7 8
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Raabe: Bibliotheksgeschichte und historische Leserforschung. Humphreys: The Book and the Library in Society. Vgl. Schlieben-Lange: Einleitung. Schlieben-Lange: Geschichte des Lesens, behandelt etwas ausführlicher das Potenzial einer Geschichte der Lesepraktiken, obwohl in diesem Fall mit spezifischem Bezug auf das 18. Jahrhundert. Wissenschaftsgeschichtlich hilfreich, aber ebenfalls weitgehend auf spätere Jahrhunderte fokussiert sind die Beiträge in dem von Roger Chartier herausgegebenen Sammelband »Histoires de la lecture. Un bilan des recherches«. Darnton: Erste Schritte.
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che Grenze fällt zusammen mit dem Erscheinen einiger grundlegender Studien, in denen Traditionen gipfeln oder die neue Debatten ausgelöst haben: Walter Ongs Orality and Literacy (1982), Paul Saengers Aufsatz Silent Reading. Its Impact on Late Medieval Script and Society (1982), und Manfred Scholz’ Hören und Lesen. Studien zur primären Rezeption der Literatur im 12. und 13. Jahrhundert (1980). Als Forschungsfeld bietet die Lesegeschichte demjenigen, der eine erste Einführungslektüre sucht, eine überraschende Vielzahl falscher Fährten. Alberto Manguels A History of Reading wird in wissenschaftlichen Arbeiten zitiert und als Einführung empfohlen, denn der Titel verspricht genau diesen erwünschten Einstieg in das Thema; aber das Werk selbst erhebt keinen solchen Anspruch und bietet stattdessen einen anregenden Spaziergang durch einige wichtige, aber auch manche nebensächlichen Stationen der Lesegeschichte. Manguels Werk gehört vielmehr zur Gattung der kreativen Fachliteratur, indem es kunstvoll und geistreich, aber unsystematisch, einige Aspekte der Lesegeschichte mit Episoden aus dem Leben des Autors vereint, ohne auf historische Chronologie als Ordnungsprinzip Rücksicht zu nehmen. Er schreibe nicht die Geschichte des Lesens, sondern nur eine Geschichte des Lesens, konstatiert der Verfasser im letzten Kapitel, wo er ausführlich beschreibt, wie ein Werk mit dem erstgenannten Titel aussehen könnte.10 Darüber hinaus sorgt für Irritation, dass zwei fast gleichnamige Werke erschienen sind, Hans-Joachim Grieps Geschichte des Lesens (2005) und Steven R. Fischers A History of Reading (2003), die einen Überblick über das Lesen von der Vorzeit bis in die Moderne bieten wollen, von denen aber weder das eine noch das andere eine bessere Alternative zu Manguel darstellt. In beiden Werken fallen die Kapitel über Entwicklungen zwischen römischer Antike und dem 16. Jahrhundert weitgehend oberflächlich aus. Da beide Werke für ein Laienpublikum zugeschnitten sind, dem z. B. der Unterschied zwischen Konsonanten und Vokalen erklärt werden muss,11 taugen beide Werke nur in begrenztem Maße als wissenschaftliche Einführungslektüre. Peter Steins Schriftkultur ist thematisch breiter angelegt als eine reine Geschichte des Lesens, indes referiert diese anschauliche und überschaubare Monographie neuere Forschungsergebnisse und setzt sich mit den aktuellen wissenschaftlichen Diskussionen auseinander, so dass sie den Bedürfnissen eines wissenschaftlichen Publikums am ehesten entspricht. 10 11
Manguel: A History of Reading, S. 309–319. Fischer: A History of Reading, S. 208.
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Zwischen den Arbeiten, die sich nur einige wenige, allzu oft oberflächliche und pauschalisierende Worte zum Lesen im Mittelalter im Kontext einer zeitübergreifenden Lesegeschichte leisten, und denjenigen, die sich detailreich einem eng umgrenzten Sonderthema widmen, liegt ein Raum für Überblick schaffende, aber zugleich fundierte Darstellungen, der in den letzten Jahren erfreulicherweise nicht leer geblieben ist. Beispielsweise trifft man auf kurze Abschnitte zum Lesen im Mittelalter in Gesamtdarstellungen der Lesegeschichte von der Antike bis heute, so etwa in David Finkelsteins und Alistair McCleerys Introduction to Book History. Das Mittelalter wird ausführlich behandelt in Erich Schöns Beitrag Geschichte des Lesens im Handbuch Lesen sowie in Hans-Martin Gaugers gleichnamigem Kapitel in Schrift und Schriftlichkeit. Der Beitrag von Gauger zeichnet sich dadurch aus, dass ihm eine ausführliche Diskussion der Methoden und Fragestellungen der Lesegeschichte vorausgeht, bevor sich zwei von insgesamt sechs Kapiteln den früh- und hochmittelalterlichen Lesekulturen widmen. Armando Petruccis Aufsatzsammlung Writers and Readers in Medieval Italy, die wesentliche Werke eines herausragenden Paläographen einem internationalen Publikum zugänglich macht, widmet ein ganzes Kapitel der Geschichte des Lesens im Mittelalter.12 Als womöglich wichtigste Veröffentlichung der letzten Jahrzehnte für die Lesegeschichte als wissenschaftliche Disziplin gilt Die Welt des Lesens, da die Verfasser der einzelnen Kapitel kaum weniger als die Herausgeber, Chartier und Guglielmo Cavallo, Wissenschaftler ersten Ranges auf internationaler Ebene sind. Für die Lesegeschichte des Mittelalters äußerst bemerkenswert ist die Tatsache, dass vier von insgesamt dreizehn Kapiteln Aspekte des Lesens im Mittelalter ansprechen: klösterliches Lesen, die Lesepraktiken der Scholastiker, Lesen im Spätmittelalter und Lesen in den jüdischen Gemeinden Europas. In einer vor kurzem erschienenen Zusammenfassung der Ergebnisse der neueren Leseforschung nimmt das Mittelalter wenig mehr Platz ein als die Verfasserin dafür braucht, Die Welt des Lesens ausführlich zu loben.13 Dagegen steht das Mittelalter im Mittelpunkt des Aufsatzes von Charles F. Briggs, Literacy, Reading, and Writing in the Medieval West, der historiographisch die Wissenschaftsgeschichte der Erforschung des Lesens im Mittelalter darstellt, wobei der Schwerpunkt auf englischsprachigen Werken in den letzten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts 12 13
Ein weiterer Beitrag aus der Romanistik, der das ganze Mittelalter von der Spätantike bis ins 16. Jahrhundert ins Blickfeld nimmt und Forschungsergebnisse bis in die 1970er zusammenfasst ist Martin: Pour une histoire de la lecture. Vgl. Price: Reading, S. 309f.
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liegt. Marco Mosterts New Approaches to Medieval Communication macht allein die ausführliche Bibliographie zu einer unverzichtbaren Quelle für lesegeschichtliche Forschung, die durch die disziplinengeschichtliche Orientierung in der Einführung von Michael Clanchy noch wertvoller wird.
3 Lesen im Mittelalter zwischen Antike und Renaissance: Brüche und Kontinuitäten, gesellschaftliche Spannungsfelder Die Frage nach einem spezifisch ›mittelalterlichen‹ Lesen ist nicht loszulösen von der Frage, mit welchem Recht sich ein ›Mittelalter‹ als geschlossene historische Periode ansetzen lasse. Die verschiedensten politischen, institutionengeschichtlichen und kulturellen Entwicklungen und Umbrüche werden gemeinhin der Abgrenzung des Mittelalters zugrunde gelegt; dass aber die Lesepraktiken sich im präzisen Gleichlauf mit diesen Umbrüchen gewandelt haben sollen, ist durchaus nicht selbstverständlich. Auch wenn die einschneidenden gesellschaftlichen, bildungsgeschichtlichen und institutionellen Veränderungen, die die Umbrüche am Ende der Antike und am Beginn der Neuzeit kennzeichnen, sich auf die Lesefähigkeit der Menschen und den Stellenwert von Schriftlichkeit ausgewirkt haben müssen, ist doch nicht damit zu rechnen, dass beispielsweise auch die Lesetechniken sich synchron damit im selben Maße verändern mussten. Der bekannteste lesegeschichtliche Periodisierungsversuch etwa, der von Rolf Engelsing, rechnet das gesamte Mittelalter – so wie den ganzen Zeitraum vor dem 18. Jahrhundert – zur ›Periode der intensiven Lektüre‹. Dies macht aber zugleich dieses Modell für die Mediävistik unbefriedigend, weil in ihm das Mittelalter völlig ohne Konturen bleiben muss. Jedoch auch da, wo die neuere Forschung zur mittelalterlichen Lesekultur die Entwicklung des Lesens im Mittelalter seither immer genauer präzisiert und problematisiert hat, rückt man immer weiter davon ab, die tiefgreifendsten Änderungen zeitlich auf den Beginn oder das Ende dieser etwa tausendjährigen Periode zu legen. So ist es bemerkenswert, dass stattdessen aus mehreren Forschungsperspektiven übereinstimmend ein profunder Umbruch der Lesekultur diagnostiziert wurde, der in einem relativ kurzen Zeitabschnitt im 11./12. Jahrhundert stattgefunden haben dürfte. Zudem gelangt die neuere Lesegeschichte zunehmend darüber hinaus, sich vor allem als Lesergeschichte zu verstehen und sich deshalb primär mit einer historischen und soziologischen Differenzierung verschiedener Lesergruppen zu befassen. Dennoch bleiben Beiträge auf diesem Gebiet
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weiterhin vonnöten, denn eine Lesekultur kann nicht ohne lesende Menschen existieren; auch eine theoretische Kognitionsforschung bedarf eines Modells der Gesellschaftsstrukturen und eines Verständnisses für den bildungsgeschichtlichen Rahmen.14 Die ständische Gesellschaft des europäischen Mittelalters bestimmt also weitgehend die Spannungsfelder, die in Beiträgen zur Lesergeschichte auszuleuchten oder auch zu problematisieren sind, zumal diese Spannungsfelder in vielen Fällen miteinander verzahnt sind. Der Gegensatz zwischen einem lesenden Klerus und einem ungebildeten Laienstand ist einerseits übertrieben, andererseits noch weiter verstärkt durch die mit ihm vielfach korrespondierenden benachbarten Spannungsfelder Kloster vs. Hof und Latein vs. Volkssprache. Einige der wichtigen Beiträge zur Lesergeschichte präzisieren diese Gegensätze oder stellen ihre Gültigkeit in Frage.15 Ein ähnlicher Wandel vollzieht sich in der Erforschung der Lesefähigkeit im Mittelalter. Auch wenn die Frage nach dem Grad der Alphabetisierung noch nicht in allen Hinsichten geklärt ist, bahnt sich vorerst keine grundlegende Revision an; es erscheinen noch Zusammenfassungen der bisherigen Ergebnisse oder auch neue und detaillierte Arbeiten zu spezifischen Gesellschaftsbereichen, aber der Brennpunkt gilt nicht mehr der prozentualen Lesefähigkeit in verschiedenen Gesellschaftsschichten, sondern der kulturellen Rolle der Lesefähigkeit. Die Schriften von Engelsing zu Alphabetisierung und Analphabetentum waren über die 1970er Jahre hinaus einflussreich, obwohl sie sich vor allem mit der Frühen Neuzeit befassen; das Mittelalter bildet nur den Ausgangspunkt der Betrachtungen.16 In den letzten Jahrzehnten sind neuere Zusammenfassungen erschienen von Ulrich Knoop und – etwas detaillierter und mit Einzelkapiteln zu weltlichen Herrschern, Klerus, Rittern und Kaufmannschaft – von Alfred Wendehorst; trotz der Einwände von Rosamond McKitterick (siehe Kap. 3.1) hält Knoop noch die fränkischen Adeligen für Analphabeten und Schriftlichkeit für die exklusive Domäne des Klerus im Frühmittelalter.17 Uwe Neddermeyer hat den Versuch unternommen, das Lesepublikum vom Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit hinein quantitativ zu erfassen. Die Leistung seines Doppelbands Von der 14 15 16 17
Ausführlich zur mittelalterlichen Bildungsgeschichte ist Boehm: Erziehungs- und Bildungswesen; zum Lesen im bildungsgeschichtlichen Kontext, S. 151–158. Siehe z. B. Grotans: Reading in Medieval St. Gall, S. 16. Vgl. Engelsing: Analphabetentum und Lektüre, S. 1–14. Vgl. Wendehorst: Wer konnte im Mittelalter lesen und schreiben?; Knoop: Entwicklung von Literalität und Alphabetisierung in Deutschland.
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Handschrift zum gedruckten Buch besteht darin, die Diskussion um Lesefähigkeit und Buchproduktion im Mittelalter auf das Fundament einer breiten Datenbasis zu bringen. Neddermeyers Arbeit richtet sich vor allem auf das späte Mittelalter und die Frühe Neuzeit, so dass die Jahrhunderte vor ca. 1300 außer Acht bleiben.18 Neddermeyers Datenmenge bietet eine breite Angriffsfläche und hat Anlass gegeben, die Richtigkeit der Basisdaten zu kritisieren.19 Buchbesitz und Lesepraktiken der Venezianer im Zeitraum vor der Etablierung des Buchdrucks untersucht Anselm Fremmer anhand einer umfassenden Quellen- und Datenauswertung.20 Weitere Einzelstudien zu geographisch oder zeitlich weniger umfangreichen Räumen, wie sie z. B. Jocelyn N. Hillgarths Arbeit über Leser und Buchbesitz auf dem spätmittelalterlichen Mallorca oder Helmut Gneuss’ Untersuchung von Lesestoff, Bildungswesen und Lesefähigkeit im England des 10. Jahrhunderts darstellen,21 geben zu hoffen, dass sich das Wissen über den Gesamtraum Europa zukünftig noch deutlich präzisieren und detaillieren lässt. Vorerst haben aber qualitativ-kulturwissenschaftliche Forschungsansätze die Führung übernommen (siehe Kap. 4 u. 5). 3.1 Das Weiterleben der antiken Lesekultur im Mittelalter. Der Einfluss der klassischen Grammatik und Rhetorik.
Man wird wenig Widerspruch erfahren, wenn man den Anfang des Mittelalters mit dem Verfall der römischen Verwaltung in Westeuropa, der Entstehung der fränkischen Nachfolgerstaaten und der Etablierung der christlichen Kirche als führender Kulturinstitution gleichsetzt. Im Blick auf die Lesegeschichte hat die Forschung jedoch eher den Fortbestand der römischen Lesekultur während dieser Frühperiode als einen markanten Bruch betont. Die neueren Werke von Brian Stock z. B. befassen sich vor allem mit der Schlüsselrolle des Augustinus als Vermittler zwischen antiken und mittelalterlichen Lesetraditionen, vor allem in Bezug auf die Rolle von Ethik und Emotionen in der Lektüre als Methode zur Selbsterkenntnis und Selbstdarstellung.22 In den frühen 1970ern hatte Malcolm Parkes 18 19 20 21 22
Für das späte Mittelalter siehe insbesondere Neddermeyer: Von der Handschrift, S. 163– 307. Eine ausführliche Auswertung bietet Zedelmaier: Das Buch als Recheneinheit. Vgl. Fremmer: Venezianische Buchkultur. Vgl. Hillgarth: Readers and Books in Majorca; Gneuss: Bücher und Leser in England im zehnten Jahrhundert. So z. B. Stock: Augustine the Reader; Stock: After Augustine.
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konstatiert, dass Schriftlichkeit vom 6. bis ins 12. Jahrhundert nahezu ausschließlich der professionellen geistlichen Schreibzunft zuzuordnen sei; die Wende hin zu einer laikalen Lesekultur, die mit einem Wechsel vom Latein zur Volkssprache einherging, sei erst im 12. Jahrhundert unter dem anglonormannischen Adel erfolgt, eine wachsende Mittelschicht habe dann die spätere Schriftlichkeit immer stärker geprägt.23 McKitterick aber trat dieser These entschieden entgegen; nach ihrer Auffassung war Lesefähigkeit nicht nur an der Spitze der fränkischen Laiengesellschaft der Karolingerzeit zu finden, sondern auch in anderen sozialen Schichten.24 Die Schriftlichkeit des fränkischen Adels sah sie außerdem nicht als Innovation, sondern als Fortsetzung der römischen Bildungs- und Verwaltungskultur der Merowingerzeit. McKitterick untermauerte ihre Thesen zur Bildung und Schriftlichkeit unter dem fränkischen Adel durch eine Analyse von Gesetzestexten, Urkunden, Quellen zum Bücherbesitz, Bibliothekskatalogen, Studien der fränkischen Bildungstradition und literarischen Zeugnissen.25 Im klösterlichen Milieu dieser Periode hat Karl Suso Frank eine ambivalente Einstellung zum Lesen vor allem anhand monastischer Regelwerke konstatiert.26 Die Nachwirkung der antiken Bildungstradition auf die Lesekultur des Mittelalters zeigen Arbeiten über die postantike Rhetorik. Für Rita Copeland sind Rhetorik und Hermeneutik Gegenkräfte, deren gespanntes Verhältnis schon in der Antike eine Übersetzungsliteratur hervorgebracht hatte, aber erst im Mittelalter eine Fülle an Komplexität erreichte, als im entscheidenden Moment der Geistesgeschichte des Mittelalters das gelehrte Schrifttum mitsamt seiner Autorität in die volkssprachige Schriftlichkeit übersetzt wurde.27 Suzanne Reynolds zieht eine direktere Verbindung von den gelehrten Traditionen der Rhetorik und Grammatik zur Lesegeschichte. Ihre Analyse von glossierten Horaz-Handschriften aus dem nordeuropäischen Raum des 12. Jahrhunderts betrachtet Glossen als Indizien für neue Lesepraktiken und eine neue Lesesituation, als die Klassikerhandschriften nicht nur im Kloster, sondern nun auch im Leseunterricht gebraucht wurden.28 Anna Grotans konnte in Reading in Medieval St. Gall zeigen, wie glossierte Handschriften aus dem Milieu der St. Galler Klos23 24 25 26 27 28
Parkes: Literacy of the Laity, S 276. McKitterick: The Carolingians and the Written Word, S. 271–273. Weitere Aufsätze zur laikalen Lesefähigkeit erschienen in McKitterick: The Uses of Literacy in Early Mediaeval Europe. K. Frank: Lesen, Schreiben und Bücher im frühen Mönchtum. Copeland: Rhetoric. Siehe auch Reynolds: Reading, Literacy and Grammar in the Twelfth Century.
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terschule um Notker Labeo (ca. 950–1022) Verständlichkeit sowohl für das Auge als auch für das Ohr anstreben, um den Lateinschülern die Lesepraktiken der ›lectio‹ und ›enarratio‹ zu ermöglichen.29 Den Wandel in der Forschungsdiskussion veranschaulicht Parkes’ Forschungsresümee über Lesen im frühen Mittelalter, das ein Vierteljahrhundert nach seiner Abhandlung zur Laienschriftlichkeit erschien. Nun beschreibt Parkes das Lesen im Mittelalter gegenüber der Antike als eine Fortsetzung der klassischen Bildung, die im Rahmen der christlichen Erziehung jedoch einem viel weiteren Kreis eröffnet wurde.30 Eine Reihe von Veränderungen sieht Parkes als Folgen von Interferenzen zwischen der geschriebenen Sprache der Texte und der – noch kaum geschriebenen – Muttersprache bei christianisierten Völkern, die Latein als grundverschieden von ihren germanischen und keltischen Muttersprachen empfinden mussten. Zu den Folgen gehörten unter anderem das Aufkommen von leisem Lesen, die ersten volkssprachigen Aufzeichnungen, die Entstehung eines von der Rede unabhängigen Textbegriffs und die Herausbildung einer ›Grammatik der Lesbarkeit‹, in der die Buchstabenformen verfestigt wurden, der Gebrauch von Interpunktion sich durchsetzte und Worte getrennt geschrieben wurden. In einem weiteren Spätwerk untersucht Parkes, wie ›lectio‹, ›emendatio‹, ›enarratio‹ und ›iudicium‹ sich zueinander verhalten und wie diese Praktiken der Gelehrsamkeit auf Lektürepraktiken in der Volkssprache einwirken.31 3.2 Die Umbrüche des 11./12. Jahrhunderts: Das Spannungsfeld Kloster vs. Universität
Lässt sich der Anfang des Mittelalters zeitlich nur schwer mit Veränderungen in der Lesekultur Europas in Verbindung bringen, erweist sich gerade das hochmittelalterliche 11./12. Jahrhundert als eine Zeit der radikalen Umbrüche. Viele Stimmen der Forschung weisen wiederholt für diesen Zeitraum auf neue Lesergruppen (siehe Kap. 3.3–3.4), eine neue Gestaltung des Textes (siehe Kap. 4.1) und neue Lesepraktiken hin (siehe Kap. 4.1, 4.2 und 5.2). Eine detaillierte Untersuchung der Schriftkultur in dieser Periode liefert Stock mit The Implications of Literacy. Von der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Mündlichkeit und Schriftlichkeit 29 30 31
Siehe besonders Grotans: Reading in Medieval St. Gall, Kapitel »Medieval Reading«, S. 15–47. Parkes: Klösterliche Lektürepraktiken im Hochmittelalter, S. 138. Parkes: How the Anglo-Saxons read.
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ausgehend (siehe Kap. 5.1), erweitert Stock den binären Gegensatz mündlich – schriftlich um den Begriff von ›textuality‹, denn eine Kultur könne von Texten Gebrauch machen, ohne sich die innere Logik des geschriebenen Worts zu eigen zu machen. ›Schriftlichkeit‹ bezieht sich in diesem dreigliedrigen Modell nicht auf das Medium der Kommunikation, sondern auf einen Modus der Interpretation, der den Regeln des geschriebenen Textes anstelle der mündlichen Tradition verpflichtet ist. Die Häresie- und Reformbewegungen des 11. Jahrhunderts sind für Stock die Paradebeispiele der entstehenden europäischen Schriftkultur.32 Diese Gruppen seien ›textual communities‹, das heißt Gemeinschaften, die sich in Bezug auf die zentrale Rolle und die Interpretation eines Textes zu einem gemeinsamen Standpunkt verpflichten; nicht jedes einzelne Mitglied der Gemeinschaft braucht lesefähig zu sein, tatsächlich konnte in vielen Fällen als einziger ein Textinterpret lesen, dessen Autorität von der Gemeinschaft anerkannt wurde, so dass auch Ungebildete an einer hoch entwickelten Schriftkultur teilnehmen konnten.33 In der erweiterten Form von ›discourse community‹ ist Stocks Begriff in den angloamerikanischen Geisteswissenschaften allgegenwärtig geworden.34 Auf den Übergang von den Lesepraktiken des Klosters zu denen der Universitäten wird immer wieder in lesegeschichtlichen Forschungen hingewiesen, denn ihm wird der Status als grundlegendste aller Änderungen in der Lesekultur der letzten zwei Jahrtausende eingeräumt. Etwas zugespitzt lässt sich sagen: vorher ist man nicht allzu weit von der Antike entfernt, nachher ist die Moderne sichtbar.35 Die postulierten Umbrüche im 11./12. Jahrhundert und die gesellschaftlichen Formationen und Institutionen, die sie tragen oder von ihnen betroffen sind, werden in vielen Untersuchungen behandelt, sei es chronologisch, soziologisch oder wissensorganisatorisch (siehe Kap. 4.1). Dem Lesen zwischen Mönchtum und Scholastik widmen sich zwei der lesegeschichtlichen Standardwerke, der Aufsatz von Jacqueline Ha-
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Schon 1931 hatte Helga Hajdu eine Verbindung zwischen Häresie, Reform und Schriftlichkeit im Mittelalter postuliert, wenn auch vor allem in einer späteren Periode (12.–15. Jahrhundert) und mit einer Kargheit an Detail, die heute als oberflächliche Pauschalisierung wirkt. Zuletzt zu diesem Thema: Biller/Hudson: Heresy und Literacy. So Stock: Implications of Literacy, S. 522. Siehe auch Stock: Listening for the Text, S. 23f. Vgl. Briggs: Literacy, S. 405. Siehe z. B. Hamesse: Das scholastische Modell, S. 166; Illich: Im Weinberg des Textes, S. 1; Grotans: Reading in Medieval St. Gall, S. 2; Curschmann: Epistemological Perspectives, S. 7f., Clanchy: From Memory to Written Record, S. 1–3.
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messe in Die Welt des Lesens und Illichs Im Weinberg des Textes.36 In fast jeder Hinsicht, so Hamesse, unterscheidet sich die klösterliche ›ruminatio‹ von der scholastischen ›lectura‹. Auch wenn weiterhin in Gemeinschaften gelesen werden konnte, so nun zu Unterrichtszwecken im Lesesaal der Universität und nicht mehr ausschließlich als spirituelle Übung im Kloster. Der Mönch habe sich langsam, wiederholt und intensiv mit der Heiligen Schrift befasst, während es dem Studenten um schnelle Wissensbeschaffung aus vielen Texten gegangen sei. Aus diesem Grund seien Handschriften für die schnelle Informationssuche strukturiert worden, was aber auch dazu geführt habe, dass nicht mehr das ganze Werk gründlich gelesen worden sei, sondern nur die Schlüsselstellen, die ›auctoritates‹, die in Anthologien und Kompilationen gesammelt wurden. Dem Universitätsstudenten sei es um Wissen gegangen, dem Mönch aber um Weisheit. Erbringt Hamesse einen fundierten Überblick über die Veränderungen in den Lektürepraktiken des Hochmittelalters sowie über ihren bildungsgeschichtlich-soziologischen und materiell-handschriftlichen Kontext, so geht Illich von einer detaillierten, ja fast intimen Auseinandersetzung mit einem einzigen Text und den Beziehungen und Abgrenzungen zwischen dessen Worten und Wortfeldern aus, um einen tiefen Einblick in die sich wandelnden Leseweisen dieser Periode zu gewinnen. Im Weinberg des Textes ist in vielen Hinsichten eine Begriffsgeschichte des Lesens im 12. Jahrhundert anhand des um 1128 geschriebenen Didascalicon des Hugo von St. Victor, einer Abhandlung über Erziehung und Bildung im klösterlichen Milieu. Im Weinberg des Textes thematisiert Wörter, die modernen Lesern vertraut wirken: ›auctoritas‹, ›studium‹, ›remedium‹, ›disciplina‹, ›persona‹, ›symbolon‹, ›historia‹, ›artes‹, ›memoria‹, ›cogitatio‹, ›meditatio‹, ›exemplum‹, ›aedificatio‹, ›verbum‹, ›scriptura‹, ›littera‹, ›correctio‹, ›dictatio‹, ›compositio‹, ›philosophari‹, ›illuminatio‹, ›illustratio‹, um nur einige zu nennen. Illich erläutert Hugos Begriff der ›lectio‹ in der Konstellation dieser Wörter, um zu zeigen, wie sie eine spezifische Bedeutung im klösterlichen Rahmen hatten, die in den Generationen nach Hugo verloren ging, so dass der scheinbar selbstverständliche Begriff des Lesens erstmals wortarchäologisch ausgegraben werden muss. Der klösterliche Vorleser, so Illich, »liest die Wörter von den Textzeilen auf und schafft eine öffentliche, soziale Hörumgebung. Alle, die mit dem Vorleser in dieses Hörmilieu eingetaucht sind, sind vor dem Klang der Stimme gleich. Es ist nicht von Belang, wer liest, so wie es nicht von 36
Ebenfalls erwähnenswert für das Lesen im klösterlichen Milieu sind die Aufsätze in Kasper/Schreiner: Viva vox und ratio scripta.
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Belang ist, wer die Glocke läutet«.37 Nach fünfzig Jahren habe sich eine gründliche Änderung schon so weitgehend vollzogen, dass der Leser nicht mehr für die Ohren der Gruppe, sondern primär für seine eigenen Augen liest. 3.3 Die Spannungsfelder Klerus vs. Laienstand, Latein vs. Volkssprache und Männer vs. Frauen
Lesen und Schreiben in der Volksprache sind das ganze Mittelalter hindurch, jedoch in abnehmendem Maße, ein Randphänomen gegenüber dem Lesen und Schreiben in der eigentlichen Sprache der Schriftkultur, dem Lateinischen. Nachzuzeichnen, wie und in welchen Phasen die europäischen Vulgärsprachen eine eigene – literarische wie pragmatische – Schriftkultur ausbilden, ist vor allem Aufgabe der jeweiligen Literaturgeschichtsschreibung. Den Versuch, dies umfassend und komparatistisch für alle europäischen Sprachen und im Hinblick auf die institutionellen Ermöglichungsbedingungen des Schreibens darzustellen, macht Karl Bertau 2005 mit Schrift – Macht – Heiligkeit in den Literaturen des jüdisch-christlichmuslimischen Mittelalters. In dieser eigenwilligen, kleinschrittigen und dennoch überblicksartigen Geschichte des Lesens und Schreibens wird sichtbar, wie ungemein wirksam die Vorgaben der etablierten Schriftkulturen für die Entwicklung der volkssprachigen Schriftlichkeit über Jahrhunderte hin blieben. Die Opposition Latein vs. Volkssprache ist eng an die Opposition Klerus vs. Laienstand gekoppelt. Bis ins 12. Jahrhundert konnte man überhaupt das Schreiben und Lesen nur am Lateinischen lernen; und »nur wer lateinisch lesen und schreiben gelernt hatte, konnte dann gelegentlich auch Worte, Sätze, Verse der Volkssprachen aufzeichnen, die von allen anderen nur gesprochen und gehört, nicht geschrieben und gelesen wurden.«38 Herbert Grundmann hat in seinem fundamentalen und materialreichen Aufsatz über die Begriffsgeschichte von ›litteratus‹ und ›illitteratus‹ (1958) die Auflösung dieser Koppelung im 12./13. Jahrhundert in vielen Feldern beschrieben: Bettelorden, Laien- und Frauenfrömmigkeit, städti37
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Übersetzt nach Illich: In the Vineyard of the Text, S. 82: »The monastic reader […] picks the words from the lines and creates a public social auditory ambience. All those who, with the reader, are immersed in this hearing milieu are equals before the sound. It makes no difference who reads, as it makes no difference who rings the bell«. Grundmann: Litteratus – illitteratus, S. 4.
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sche und kaufmännische Kultur. Die Forschung der letzten Jahrzehnte hat zu diesem Bild vor allem die Zwischen- und Überlagerungsbereiche nachgetragen, indem sie weniger nach der Lesefähigkeit des Einzelnen als der ›literacy‹ der Gesellschaft fragt.39 Franz H. Bäuml arbeitet die Bedeutung einer ›illiterate literacy‹ bzw. ›quasi-literacy‹ heraus, womit er den im Mittelalter alltäglichen Fall von lese- und lateinunkundigen Individuen – vor allem Personen des Adels – meint, die gleichwohl vollen Zugang zur Schriftlichkeit hatten.40 Im Zuge der starken Genderdebatte der letzten Jahrzehnte hat auch die Erforschung der Lesekultur des Mittelalters zunehmend Unterschiede zwischen Männern und Frauen akzentuiert. Auch dieses Spannungsfeld steht mit der Leitopposition Latein vs. Volkssprache in Verbindung: Frauen mit profunden Lateinkenntnissen waren Ausnahmefälle; als die ihnen allenfalls gemäße Schriftlichkeit wurde die Volkssprache empfunden. Weil Frauen aus vielen Bereichen der Schriftlichkeit ausgeschlossen waren (Klerus, Universität, professionelle Kanzleitätigkeit), sucht man die lesende Frau vor allem in der Laienspiritualität und im spätmittelalterlichen städtischen Familienalltag. Bis zum Ende des Mittelalters beschränkt sich Frauenlektüre und privater weiblicher Buchbesitz weitgehend auf Stundenbuch und Psalter.41 Wie Klaus Schreiner gezeigt hat, spielte die verbreitete Vorstellung der Gottesmutter als Leserin eine entscheidende Rolle für die Bewertung der Lektürepraxis und Lesefähigkeit von Frauen: »Prediger und Theologen des Mittelalters machten Maria zum Vorbild der lesenden Frau, das zur Nachahmung verpflichtete«.42 Einzeluntersuchungen widmeten sich etwa Frauenkonventen im deutschen Sprachraum und besonders den Schwesternbüchern südwestdeutscher Dominikanerinnenklöster,43 dem England des 15. Jahrhunderts44 sowie der ›devotio moderna‹.45 In diesem Forschungsfeld entstanden gerade in jüngster Zeit viele Detailstudien, auch in interdisziplinären Kontexten (siehe Kap. 5.2 zu frauenbezogener Andachts- und Visionsliteratur). 39 40 41 42 43 44 45
Stein: Schriftkultur, S. 149 fasst die Kritik an der zu scharfen Trennung zwischen dem l i t t e r a t u s und dem i l l i t t e r a t u s zusammen. Vgl. Bäuml: Varieties and Consequences. Vgl. Signori: Die lesende Frau. Schreiner: Marienverehrung, Lesekultur, Schriftlichkeit, S. 368. Vgl. Thali: Beten – Schreiben – Lesen; Lewis: By women, for women, about women. Vgl. Krug: Reading Families, über Margaret Paston, Margaret Beaufort, Lollarden in East Anglia und Birgittinerinnen in Syon Abbey; vgl. auch die Aufsätze des Sammelbandes Meale: Women and Literature in Britain, 1150–1500. Vgl. Bollmann: Frauenleben und Frauenliteratur in der Devotio moderna.
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Unser gegenwärtiges Verständnis der mittelalterlichen Laienschriftlichkeit als Ausnahmeerscheinung ruht auf der materiellen Grundlage der Pergament- und Papierhandschriften, die über Jahrhunderte hinweg gesammelt und aufbewahrt wurden, sowie auf der Bezeugung von Inschriften, die im deutschsprachigen Raum erst im 13. Jahrhundert einsetzte. Die Zufallsfunde der Archäologie können gelegentlich aber ein ganz anderes Bild malen. Auf Holz eingeritzte Briefe von Stadtbürgern aus Nowgorod und Bergen im Mittelalter bezeugen einen pragmatischen und selbstverständlichen Umgang mit der Schrift in Bevölkerungsschichten, die fern von Hof und Kloster standen.46 Angesichts dessen konstatiert Clanchy, diese Funde würfen Fragen auf, die noch nicht zu beantworten sind.47 Auch für die norddeutschen Dörfer des Spätmittelalters muss die Annahme eines nahezu ausschließlichen Analphabetentums revidiert werden.48 Ob viel mehr Menschen im Mittelalter lesen und schreiben konnten, als die Handschriften bisher vermuten ließen, ist eine Frage, die sich erst durch weitere Funde klären lässt. Weiterhin möglich bleibt, dass die Geschichte des volkssprachigen Lesens im Mittelalter gründlich revidiert werden muss.49 3.4 Vom Mittelalter in die Neuzeit: Lesen in der Stadt
Den Ausgang des Mittelalters hat man genau wie seinen Anfang nach verschiedensten Kriterien definiert, die zeitlich eine große Spannbreite bedeuten. Eine klare Grenze lässt sich nicht ziehen, denn je eindeutiger die Trennung zwischen Mittelalter und Neuzeit, desto heftiger lässt sie sich anfechten. Mit der Eroberung von Konstantinopel, der Erfindung des Buchdrucks, dem Aufkommen des Humanismus und der Reformation dürften einige Ereignisse benannt sein, die zur Übergangsepoche zwischen dem späten Mittelalter und der Frühen Neuzeit gehören. Just der Buchdruck scheint von den vielen ›Anfängen der Neuzeit‹ derjenige zu sein, der zugleich für einen genuinen Wendepunkt der Lesegeschichte zu gelten hat, denn lange hielt man den Buchdruck für den Auslöser von leisem Lesen als neuer Lesepraktik. Von diesem Standpunkt musste man aber inzwischen abrücken (siehe Kap. 4.2). Obwohl der Buchdruck die Buch46 47 48 49
Vgl. Garrison: »Send more Socks« (mit weiterführender Literatur). Clanchy: Introduction, S. 9. Vgl. Lorenzen-Schmidt: Schriftliche Elemente in der dörflichen Kommunikation, S. 186f. Vgl. Garrison: »Send more Socks«, S. 99.
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produktion und den Buchvertrieb revolutionierte, haben neuere Arbeiten die ehemals postulierte tiefgehende Veränderung der Lektürepraktiken als Folge des Buchdrucks zurückgewiesen. Stattdessen stellt Helmut Zedelmaier fest, dass »die Geschichte der Lesepraktiken eine relative Eigengesetzlichkeit besitzt. Sie ist weitgehend unabhängig von den technischen Transformationen der Buchproduktion«.50 Was das spätmittelalterliche Lesen von früheren Lektürepraktiken unterscheidet, beruht also weniger auf einer neuen Technik der Buchproduktion – denn diese wirkte sich erst sehr langfristig auf die Lesepraktiken im 15. und 16. Jahrhundert aus –, sondern vielmehr auf dem Aufblühen der Stadt und ihrer Lebensformen im Spätmittelalter. Die Verstädterung ist mit sozialen Entwicklungen und Grenzverwischungen verbunden, die das Spätmittelalter kennzeichnen: neue Bildungswege eröffneten sich Männern und Frauen außerhalb des Klosters, Latein und die Volkssprache erschienen als gleichberechtigte und manchmal austauschbare (wenn noch nicht gleichwertige) Sprachformen in zwei- oder mehrsprachigen Konstellationen, und es entwickelten sich neue Formen des klerikalen Lebens und der Volksfrömmigkeit, die den bipolaren Gegensatz zwischen Klerus und Volk durch ein Spektrum religiöser Lebensformen ersetzten.51 Die Urbanisation stellte eine gründliche Umwandlung der herkömmlichen Gesellschaftsstruktur dar, die sich auch auf die Leser und die Textherstellung auswirkte. Umso bedauerlicher, dass der Beitrag von Saenger zum Lesen im Spätmittelalter in Die Welt des Lesens sich vor allem mit Worttrennung und leisem Lesen beschäftigt (siehe Kap. 4.2) sowie mit lesegeschichtlichen Innovationen, die zum Teil auch schon in anderen Kapiteln des Buchs zu früheren Zeitperioden behandelt worden waren.52 Laurel Amtowers Engaging Words greift einige wichtige Themen der spätmittelalterlichen Lesegeschichte auf, bleibt jedoch weitgehend auf Literatur und literaturwissenschaftliche Fragestellungen sowie den englischen Raum fokussiert. Da eine Gesamtdarstellung des urbanen Lesens im Spätmittelalter fehlt, muss man Ergebnisse in anderen Beiträgen suchen.53 50 51 52 53
Zedelmaier: Lesetechniken, S. 13. Wichtig für die Erforschung der Stadtkultur des Spätmittelalters sind die Sammelbände Moeller/Patze/Stackmann: Studien zum städtischen Bildungswesen; Kock/Schlusemann: Laienlektüre und Buchmarkt. Vgl. Saenger: Lesen im Spätmittelalter. Chrisman: Lay culture, untersucht die Lesekultur Straßburgs auf der Basis von bibliographisch-statistischen Auswertungen. Maas: Lesen – Schreiben – Schrift, stellt für die Verbreitung der Schriftlichkeit unter städtischen und kaufmännischen Schichten im Norddeutschland des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit fest, dass gesellschaftliche und
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4 Mediengeschichtliche Ansätze I: Materielle Grundlagen des Lesens Die Buchgeschichte und die Geschichte des Lesens sind Teil der Mediengeschichte. Das ließe sich leicht übersehen bei Medientheorien, die sich vor allem den neuen und neuesten Medien widmen. Doch einige wenige Wissenschaftler haben versucht, den Umgang mit dem alten Buch und mit den Handschriften des Mittelalters in eine breit ausgelegte Mediengeschichte einzureihen. Wolfgang Raibles Medien-Kulturgeschichte umgreift die gesamte Entwicklung der Medien vom Piktogramm bis zum Internet und stellt sie in den Kontext einer Grundsatzdiskussion um Semiotik und die Historiographie der Mediengeschichte. Das Werk kann deshalb nur sparsam auf lautes und leises Lesen und die Veränderungen des 12. Jahrhunderts eingehen.54 Werner Faulstichs mehrbändige Geschichte der Medien würdigt das Mittelalter mit einem ganzen Band und kann darum dank eines breiten Medienbegriffs auf Medien wie Glasfenster und Hofnarren, aber auch auf Medien im traditionellen Sinn wie geschriebene Blätter, Briefe und Bücher eingehen. Faulstichs idiosynkratischem Medienbegriff ist es zuzuschreiben, dass seine ambitionierte Arbeit kontrovers aufgenommen wurde. Andere Wissenschaftler untersuchen den Umgang mit dem Buch im Mittelalter anhand der Begriffe von ›Multimedia‹ oder ›Intermedialität‹,55 vor allem in Bezug auf das Zusammenwirken von Text und Bild (siehe Kap. 5.2). Auch werden die Lesewelten des Mittelalters vermehrt anhand des Begriffsinventars der Kommunikationswissenschaft analysiert.56 Das Potenzial des Mittelalters für die Mediengeschichte ist noch lange nicht ausgeschöpft worden. 4.1 Layout und Lesen
Die Medien in unserem technologisierten Zeitalter unterliegen einem ständigen Miniaturisierungsprozess, der dem Anschein nach in ihrer vollständigen Selbstauflösung enden müsste: man redet von dem flächende-
54 55 56
ideologische Innovationen die bestimmenden Faktoren waren und dass der Buchdruck erst sekundär eine Rolle spielte. Williams-Krapp: »Alles volck wil in yetziger zit lesen und schreiben«, behandelt Einstellungen zur volkssprachigen Schriftlichkeit im 15. Jahrhundert. Vgl. Raible: Medien-Kulturgeschichte, S. 105–109. Siehe z. B. Curschmann: Epistemological Perspectives; Ott: Multi-media in the Middle Ages. Zuletzt erschienen ist der Sammelband von Spieß: Medien der Kommunikation im Mittelalter.
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ckenden Ersatz des Papiers durch Elektronen, der Fernseher kommt der Zweidimensionalität immer näher, Opas klobiges Radio verschwindet allmählich im Gehörgang des I-Pod-Benutzers. Doch auch die neuesten Formen der Medien werden physisch antastbare Gegenstände bleiben, und die materielle Beschaffenheit jedes Mediums bietet Aufschlüsse über den intendierten Gebrauch und den impliziten Wahrnehmungsmodus des Empfängers. So auch mit dem Buch, dem Leseobjekt des Mittelalters schlechthin. Aus der Anlage eines Manuskripts können Rückschlüsse auf die intendierte Art der Benutzung auch dann gezogen werden, wenn es keine Spuren einer tatsächlichen Lektüre gibt. Für literarische Handschriften des hohen Mittelalters ist dieser implizite Zugang fast der einzig mögliche, weil Lesezeugnisse weitestgehend fehlen. Zu bedenken ist dabei allerdings, dass gerade diejenigen Exemplare, die die meisten Lesespuren aufwiesen (›zerlesene Handschriften‹), am ehesten makuliert worden sein dürften. Repräsentationscodices sind möglicherweise auch für eine besondere Form der Lektüre angelegt worden; sie können nicht von vornherein für die Lesekultur ihrer Entstehungszeit sprechen. Einen repräsentativen Querschnitt werden deshalb die erhaltenen Exemplare unter dem Gesichtspunkt ihrer Leseeignung nicht bieten, so dass eine andere Argumentation als eine statistische gesucht werden muss. Einige der einflussreichsten Arbeiten der 1970er Jahre untersuchten Berührungspunkte zwischen dem Seitenaufbau mittelalterlicher Handschriften und den mentalen Prozessen des Informationszugangs – d. h. Lesen –, denen die Handschriften entgegenkamen, vor allem im 13. Jahrhundert. Mary und Richard Rouse verfassten von den 1970ern bis in die 1990er mehrere Aufsätze, die sich nicht nur mit Änderungen im Aufbau und Layout des Codex auseinandersetzten, sondern auch mit den Implikationen für den Gebrauch von solchen Codices.57 Nach ihrer Analyse hingen z. B. das alphabetisierte Themenregister, die Bibelkonkordanz und der Bücherkatalog mit dem Aufkommen von drei Technologien der Informationsbeschaffung zusammen: dem Alphabet als ordnungsstiftendem System, der arabischen Ziffer und der Kapiteleinteilung. Diese Innovationen seien den Bedürfnissen neuer Textgebrauchssituationen entgegengekommen, vor allem unter Predigern und Universitätsangehörigen, die darüber hinaus mit einer neuen Einstellung zum Text zusammenhingen: Einzelne Kapitel eines Werks reichten nicht mehr aus, das ganze Oeuvre musste man heranziehen, aber zugleich sich rasch einen Überblick schaffen und 57
Die gesammelten Aufsätze von Rouse/Rouse: Authentic Witnesses.
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schnell Zugang zu einem beliebigen Abschnitt finden können. Dieselben Neuerungen im Handschriftenlayout des 13. Jahrhunderts untersuchte Parkes unter der Rubrik von ›ordinatio‹ und ›compilatio‹,58 aber auch, wie Rouse/Rouse, bezüglich des Übergangs von monastischen zu scholastischen Lesepraktiken (siehe auch Kap. 3.3). Auch wenn sich das Alphabet als wissensorganisatorisches Ordnungsprinzip schon während des Hochmittelalters unter gebildeten Handschriftenschreibern und -lesern durchsetzen konnte, mussten Drucker noch im späten 15. Jahrhundert ihren Lesern das alphabetisierte Register sowie seine Handhabung zur schnellen Informationsfindung erklären, beispielsweise in einer Straßburger Ausgabe von Werner Rolewincks Fasciculus temporum.59 Es ist das Verdienst von Illich und Barry Sanders in Das Denken lernt schreiben, die allmähliche Verbreitung dieser und anderer Innovationen unter breiteren Bevölkerungsschichten sowie deren Auswirkungen auf populäre Denkformen verfolgt zu haben. Dass die Analyse des Handschriftenlayouts für die Lesegeschichte äußerst fruchtbar sein kann, erkennt man in der fortgesetzten Bezugnahme auf die frühen Aufsätze von Parkes und von Rouse/Rouse, die vor fast bzw. mehr als 30 Jahren veröffentlicht worden sind. Barbara Frank bietet eine klar strukturierte Übersicht über die semiotische Wirksamkeit der Seitengestaltung im Mittelalter und erweitert das Untersuchungsspektrum um die romanischen Volkssprachen.60 Ihr Hauptinteresse gilt primär dem Schreiben, aber ihre Forschung nimmt auch Bezug auf die Gebrauchssituation. Die primäre Ausrichtung auf die Schriftproduktion ist nicht untypisch für Arbeiten in den Fußstapfen von Rouse/Rouse und Parkes; es fehlt nicht an fundierten und grundlegenden Arbeiten zum Layout in Bezug auf Handschriftenproduktion und Schriftkultur,61 aber ein spezifisches Eingehen auf das Verhältnis Layout – Lesen im mittelalterlichen Buch ist seltener. Nigel Palmer hat Handschriftenlayout und Lesen in einer anderen Hinsicht aufeinander bezogen, wobei er nicht auf Wissensorganisation und Kognitionsprozesse eingeht, sondern eine ältere Forschungsdiskus58 59 60 61
Vgl. Parkes: The Influence of the Concepts. Rolewinck, Werner. Fasciculus temporum [Deutsch] Eyn burdlin der zeyt [Straßburg: Johann Prüß, nach dem 7. Nov. 1492]. ISTC ir00282000; HC 6940*. B. Frank: Die Textgestalt als Zeichen, insbesondere S. 88–94; eine knappe Zusammenfassung des Werks ist B. Frank: Zur Entwicklung der graphischen Präsentation mittelalterlicher Texte. Zum Thema siehe auch Raible: Semiotik der Textgestalt. Hervorzuheben sind Gumbert: Zur »Typographie« der geschriebenen Seite; Palmer: Kapitel und Buch; Parkes: Pause and Effect.
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sion um die Aufführungspraktiken der deutschen Literatur des Mittelalters wieder aufnimmt. Den Gebrauch von Interpunktionszeichen nach dem Muster der lateinischen liturgischen Handschriften sowie die Verwendung von liturgischen Formeln wie ›Amen‹ und ›Tu autem‹ in volkssprachigen Handschriften des 12. und frühen 13. Jahrhunderts interpretiert Palmer vorsichtig als Hinweis darauf, dass diese Handschriften der Gebrauchssituation des öffentlichen Vortrags mit Gesangs- oder Sprechstimme entgegenkamen. Auch der Übergang zu abgesetzten Versen bei gereimten Texten in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts hänge mit einer neuen Auffassung der sprachlichen Struktur der erzählenden Verstexte zusammen, indem der poetische Text nicht mehr als eine ungebrochene Serie von Kurzzeilen wahrgenommen, sondern als Zusammenspiel von gereimten Zweizeilern und Textsyntax visuell dargestellt wurde.62 4.2 Interpunktion, Spatium und die Kontroverse um leises Lesen
Etliche Beiträge zur Forschungsdiskussion um Layout und Lesen beziehen Stellung in einem andauernden wissenschaftlichen Streit über Saengers Buch Spaces between Words. Seine breit rezipierte, zuerst in den 1970er und frühen 1980er Jahren vorgestellte und bis zur Buchveröffentlichung im Jahre 1997 weiter ausgearbeitete These besagt, dass nicht erst der Buchdruck im 15. Jahrhundert, sondern schon der allmähliche Übergang von der ›scriptura continua‹ der Antike und des frühen Mittelalters zur Worttrennung mittels Leerraum ab dem 8. Jahrhundert das leise Lesen ermöglichte sowie weitreichende Veränderungen in seinem Gefolge hatte. Die endgültige Durchsetzung der Worttrennung gehöre zu den wesentlichen Innovationen in der Schriftkultur des 12. Jahrhunderts. Die Worttrennung durch Spatium habe nicht nur das leise Lesen begünstigt, sondern auch eine neue Nähe zwischen Autor, Buch und Leser gestiftet, in deren Folge das Diktat als bevorzugter Modus der Textkomposition durch die eigenhändige Niederschrift des Autors verdrängt wurde. Nicht wenige Wissenschaftler haben Saengers Thesen begrüßt, z. B. hat Andrew Taylor dargestellt, inwiefern leises Lesen und die Anlage architektonischer Privaträume die Verbreitung von meditativen Praktiken der Andachtslektüre förderte.63 Wie jedes bahnbrechende Werk hat Spaces between Words gegen62 63
Palmer: Manuscripts for Reading, S. 90f. Taylor: Into his Secret Chamber, S. 43.
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sätzliche Kritik erfahren, einmal, weil es seine Schlussfolgerungen übertreibe, dann wieder, weil es sich in dieser Hinsicht zu sehr zurückhalte.64 Nicht selten hat man kritisch eingewendet, dass Formen der Worttrennung schon in der Antike geläufig waren. Dieser Kritik war Saenger zuvorgekommen, indem er auf die Worttrennung in nichtwestlichen Schreibsystemen eingeht und auf die besondere Funktion des Leerraums als Worttrennungszeichen hinweist: nur das Spatium ermögliche das rasche Erkennen eines ganzen Worts anhand seines äußeren Umrisses, der sogenannten ›Bouma-Form‹, während die Worttrennung durch Trennungszeichen dies nicht gewährleiste. Die visuelle Wahrnehmung der Wortgrenze beim Lesen ist für Saenger ein Schlüsselargument, das die Einbeziehung von Erkenntnissen aus der Lesepädagogik und der Neuropsychologie verlangt, und gerade darin setzt Spaces between Words neue Maßstäbe; auch die Lesegeschichte des Mittelalters darf die moderne Neuro- und Kognitionsforschung nicht mehr ignorieren. Andererseits könnte ausgerechnet die Einbindung der Neuropsychologie für Saengers Argument zur Achillesferse werden, denn der derzeitige Stand der Forschung in der Lesepsychologie spricht dem äußeren Umriss des Worts eine viel geringere Bedeutung für die Worterkennung zu, als Saenger sie für seine Thesen zur Rolle der Worttrennung voraussetzt. Nach Saenger heißt Befassung mit der Lesegeschichte des Mittelalters vor allem Befassung mit der Entwicklung der optischen Gestalt der Wörter, denn sie sei der Auslöser gewesen für die einschneidendste Veränderung im Verhältnis des Lesers zum Buch seit der Antike und die Voraussetzung für den modernen Lesevorgang.65 Aber die Schlüsselrolle der Wortform im Leseprozess war immer kontrovers, und man hat zu Recht beklagt, dass Saenger keine neue einschlägige Literatur zitiert. 1984 wurde die Bedeutung der ›Bouma-Form‹ als Faktor im Lesevorgang experimentell in hohem Maße infragegestellt.66 Diese Skepsis hat den Weg in die Handbücher gefunden: »Die Worterkennung basiert […] nicht auf einem ganzheit64 65
66
Vgl. Hanna: Rezension. Saenger: Spaces between Words, S. 18–20: »While the paleographer’s principal focus has been on the classification of individual letter forms, the student of the history of reading in the medieval West is primarily concerned with the evolution of word shape, and letter forms are important only to the degree that they play a role in determining that shape«; »Thus the most crucial change in the relationship of the reader to the book from antiquity to modern times was the consequence of the medieval evolutionary process through which space was introduced into text. This change … produced word shape, the prerequisite for the modern reading process.« Vgl. Paap/Newsome/Noel: Word Shape’s in Poor Shape.
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lichen visuellen Mustererkennungsmodell«67; »overall word shape plays no important role in visual word recognition«68. Stattdessen hat die Lesepsychologie in den letzten Jahrzehnten vor allem Lesemodelle entwickelt, nach denen die visuelle Wahrnehmung der einzelnen Buchstabenteile erst in Zusammenarbeit mit semantischen, morphologischen und phonologischen Verarbeitungssystemen zur Worterkennung führt.69 Die Erkenntnisse der neueren Lesepsychologie relativieren also die Bedeutung des Spatiums, das in Saengers Arbeit eine gewichtige Rolle spielt. Dass Saengers Thesen zum Teil revidiert werden müssen, mindert keineswegs die Richtigkeit und Wichtigkeit seiner Einsicht, dass die Erkenntnisse der Kognitionswissenschaften und der Paläographie sich ergänzen können und müssen. 4.3 Marginalienforschung
Erweitert man den Lesebegriff von der engen Bedeutung des mechanischen Buchstabierens auf alle Prozesse der Sinnbildung durch den Leser,70 so eröffnen sich neue Möglichkeiten für eine historische und zugleich empirische Leseforschung, wenn diese sich mit Spuren befasst, die Lektüre und sonstiger Buchgebrauch am Buchkörper selber hinterlassen haben. Michel de Certeau hat die Wege des modernen Lesers durch seine Texte mit den Spaziergängen des Flaneurs durch die Stadt verglichen: ein Buch, ein Text, auch eine Stadt geben eine feste Struktur vor, aber den Weg durch Häuser- und Textzeilen bestimmt der Mensch nach eigenem Ermessen und im Dienst seiner eigenen Zwecke.71 Für de Certeau ist das Lesen frei, es wird nicht vom Verfasser oder durch den Text bestimmt, sondern der Leser selbst erschafft das Buch und seine Bedeutung. »Die Geschichte der Reisen des Menschen durch seine eigenen Texte bleibt zum größten Teil unbekannt«72, so de Certeau; der Marginalienforschung 67 68 69 70 71
72
Christmann/Groeben: Psychologie des Lesens, S. 149. Pollatsek/Lesch: The Perception of Words and Letters, S. 961. Lupker: Visual Word Recognition, fasst den derzeitigen Forschungsstand zusammen. Wie z. B. in den Definitionen des Lesens bei Jäger: Leser, S. 5 und Schön: Geschichte des Lesens, S. 406; siehe auch Gauger: Geschichte des Lesens, S. 67. So de Certeau: Kunst des Handelns, S. 297–301. Konkrete Indizien für diese ›flanierende‹ Art des Lesen in der Frühen Neuzeit beschreibt J. Green: Marginalien und Leserforschung, S. 216–233, anhand Lesespuren in der Schedelschen Weltchronik. Gegen die Auffassung von Texten als »authoritative maps« für passive Leser im Mittelalter argumentiert Carruthers: The Book of Memory, S. 186. Certeau: Kunst des Handelns, S. 301.
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kommt es zu, die von diesen Reisen verbliebenen Spuren aufzusuchen und somit einen einmal durchlaufenen Weg zu rekonstruieren. Die Grundsatzdiskussionen darüber, welche Fragen eine historische und trotzdem empirische Geschichte des Lesens sich stellen muss, wenn die Lesegeschichte mehr als eine Sozialgeschichte des Lesens oder eine Textgeschichte sein will (siehe Kap. 2), lassen daher die Untersuchung des Buchkörpers als einen aussichtsreichen Weg erscheinen, um auswertbare Spuren eines früheren Lesevorgangs zu finden. Dieser lesegeschichtliche Ansatz bleibt aber zu einem gewissen Grad umstritten. Als Antwort auf Schlieben-Langes Überlegungen schlägt Chartier eine Methodik vor, die sich vor allem mit den durch das Buchlayout implizierten Lesepraktiken befasst, denn Chartier zweifelt daran, dass eine ausreichende Quellenbasis vorhanden sei, um die tatsächlichen Leseweisen realer Leser zurückgewinnen zu können; die vielfachen Praktiken der realen Leser vergangener Jahrhunderte seien für immer unzugänglich.73 Bei der Untersuchung von Randnotizen ist die Spurensicherung tatsächlich mühevoll und die Interpretation schwierig und oft nicht eindeutig, aber man muss doch fragen: wenn die Analyse des gelesenen Objekts anerkanntermaßen sinnvoll und wichtig ist, kommt es dann nicht einer Kapitulation gleich, die Spuren des realen Lesers dabei auszuklammern? Dass die Lektüre allein oder weitgehend vom Text bestimmt und gesteuert werde, wird heute kaum vertreten; die Mitwirkung des Lesers an der Bedeutungskonstruktion ist ein Gemeinplatz geworden. Für das Buchlayout gilt ähnliches. So wie der Stadtplan mögliche Wege zwischen zwei Punkten, nicht aber den tatsächlichen Weg eines einzelnen Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt beschreibt, kann die Analyse von Buchlayout und Seitengestaltung Aufschluss darüber geben, welche Lesepraktiken als dem Text geeignet empfunden wurden, aber nicht über den eigentlichen Gebrauch eines Codex. Dass ein Text eine bestimmte Lesepraktik nahelegt oder dass eine Handschrift besonders auf eine Zugangsmethode zugerichtet ist, muss nicht bedeuten, dass reale Leser diesem Angebot tatsächlich gefolgt sind. Marginalienforschung als lesegeschichtlicher Forschungsansatz kann zumindest zeigen, dass das implizierte Lesen eines Buchs genau so viel oder so wenig mit den vielfältigen tatsächlichen Lesepraktiken zur Deckung kommt wie der implizite Leser eines Textes mit den realen Lesern. Stellvertretend für andere verwirft Anthony Grafton die Resignation vor der Flüchtigkeit des Lesens mit einem Hinweis auf die größtenteils 73
Chartier: Ist eine Geschichte des Lesens möglich?, S. 265.
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noch unausgeschöpften Möglichkeiten der Marginalienforschung und der Erforschung von Randnotizen und anderen Lesespuren, wie sie viele Leser des Mittelalters und der Frühen Neuzeit in ihren Büchern hinterließen.74 In Randnotizen kann man Leserreaktionen in einer Fülle und Vielfalt ohnegleichen finden. Trotzdem eröffnen Marginalien keinen unmittelbaren Blick auf die Praktiken und Reaktionen eines Lesers. Auch das Marginalienschreiben ist kein spontanes Tun, sondern unterliegt einer kulturellen Tradition75 und muss im Rahmen seines kulturellen Umfelds interpretiert werden. Außerdem sollten die Grenzen des Ansatzes im Bewusstsein bleiben: wo es verpönt oder verboten wird, in Bücher zu schreiben, findet man wenig oder nur vereinzelte Marginalien.76 Einen konkreten Vorschlag zur Auswertung von Marginalien macht Gerd Dicke, für den auch die einfachsten Anstreichungen eine Bedeutung gewinnen können: »Ausgewertet nach der Häufigkeit ihres Erscheinens neben bestimmten Texten oder Textpassagen, informieren diese Markierungen verläßlich über die ›Brennpunkte‹ des Leserinteresses [...]«.77 Das heißt, in der Masse der Marginalien kann man die Meinung der Massen zu den einzelnen Passagen eines Buchs finden. Henrik Otto vertritt einen anderen Ansatz, wenn er Randnotizen und Gebrauchspuren in frühen Tauler-Editionen untersucht, um die Rezeption des Mystikers und Predigers in der Frühen Neuzeit anhand von empirischen Zeugnissen des Lesevorgangs zu erforschen.78 Wenn man aber Einsicht in mehr als ›Interesse für bestimmte Themen‹ bekommen will, wenn es um Lesepraktiken und die Wege des Menschen durch das Buch geht, muss man statt der Masse den Einzelnen betrachten; für vergangene Jahrhunderte liefern Marginalien nicht immer die sichersten, sehr oft jedoch die einzigen Spuren. Vorbildhaft für die Erforschung des alten Buchs als Leseartefakt sind auch mehrere Aufsätze in der Sammlung De captu lectoris. Hans Lülfings Einstellung zum Quellenwert von Marginalien mag als stellvertretend für die anderen Aufsätze gelten: »Wenn sich die Marginalien später bei wechselnden Besitzern oder Benutzern mit der Zeit fortsetzten oder anreicherten, können sie über das nächstliegende provenienz- und bibliotheksgeschichtliche Interesse hinaus von der geistigen Arbeit der Leser, vom Ideenwandel im Gange neuerer Epochen und Bestrebungen zeugen. […] 74 75 76 77 78
Grafton: Is the History of Reading a Marginal Enterprise?, S. 155. Wie Jackson: Marginalia, vor allem für englische Bücher vom 18.–20. Jahrhundert gezeigt hat. Vgl. Taylor: Into his Secret Chamber, S. 51f. Dicke: Heinrich Steinhöwels »Esopus« und seine Fortsetzer, S. 341. Otto: Vor- und Frühreformatorische Tauler-Rezeption.
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Die Erfahrungen der Leser bei der Rezeption der Überlieferung und die Ansätze der damit beginnenden Variation können erkennbar werden«.79 Wolfgang Milde hat an anderer Stelle einen Vorschlag zu einer dreistufigen Methode gemacht, die die Untersuchung des Textes und der Marginalien, die Ermittlung von biographischen Daten über Leser und Buchbesitzer und die Erschließung des kulturellen Kontexts des Buchs und der gesellschaftlichen Stellung des Lesers vorsieht.80 Generell sind es meist Forschungen zur Lesekultur der Frühen Neuzeit, die sich mit Marginalien und Lesespuren auseinandersetzen, und die Mehrzahl der Beiträge in De captu lectoris befassen sich mit Druckwerken. Trotzdem bildet der Sammelband eine Brücke zwischen den Forschungsansätzen zum ausgehenden Mittelalter und zur Frühen Neuzeit, denn die Aufsätze behandeln das Buch nicht als Massenware für ein anonymes Publikum, sondern als den konkreten Gegenstand der Beschäftigung eines Individuums.81 Den Skeptikern zum Trotz entwickeln auch Mediävisten empirisches Interesse an Lesepraktiken und Lesespuren. So wie die Sprach- und die Literaturgeschichte sich schon lange mit Handschriften befasst hatten, bevor die Seitengestaltung lesegeschichtlich erschlossen wurde, so werden auch jetzt neue Möglichkeiten in dem alten Feld der Glossenforschung entdeckt. So zieht z. B. Sylvia Huot die Handschriften des altfranzösischen Roman de la Rose heran, um u. a. aus Randnotizen und anderen Gebrauchspuren zu erschließen, wie das Gedicht im Mittelalter verstanden wurde, welche Passagen besondere Reaktionen auslösten und wie die Leser den Text einordneten.82 Eamon Duffy analysiert Lesespuren in Stundenbüchern im Kontext der Entwicklung einer Privatsphäre und einer individuellen Verinnerlichung der Religion im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit.83 Mary Carruthers beschreibt die Ränder einer Handschrift als den Ort, wo die ›memoria‹ des Lesers sich am aktivsten entfalten kann, für Michael Camille sind die Ränder ein Ort der Auseinandersetzung und Berührung zwischen Körper und Geist.84 Die Beschäftigung mit Annotationen ermöglicht, so Stephen Nichols, die Betrachtung der mittelalterlichen Literatur nicht als ahistorischen Text, sondern als Kulturartefakt im Kontext der vorgutenberg’schen Materialität.85 John Dagenais’ Studie The Ethics of Reading in 79 80 81 82 83 84 85
Lülfing: Textüberlieferung – Marginalienforschung – Literärgeschichte, S. 193. Vgl. Milde: Metamorphosen, S. 29. Vgl. Milde: De captu lectoris, S. 25. Weiter dazu: Milde: Metamorphosen. Vgl. Huot: The Romance of the Rose and its Medieval Readers, S. 8. Duffy: Marking the Hours. Vgl. Carruthers: The Book of Memory, S. 245; Camille: Glossing the Flesh, S. 246. Nichols: On the Sociology of Medieval Manuscript Annotation, S. 47.
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Manuscript Culture: Glossing the Libro de buen amor, die nicht nur in der Romanistik Aufmerksamkeit gefunden hat, setzt sich ein doppeltes Ziel. Zum einen stellt sie das Lesen im Mittelalter unter den Begriff der Ethik und zeichnet an einer didaktischen Schrift des Spätmittelalters den Prozess eines Lesens nach, das urteilend, wählend, Stellung beziehend und persönlichen Nutzen schöpfend sich ständig auf das soziale Wertesystem rückbezieht. Zum anderen sucht Dagenais das Lesen anstatt des Schreibens als das zentrale Paradigma für die Schriftlichkeit des Mittelalters zu etablieren und einen Textualitätsbegriff zu entwerfen, der die physisch konkrete Einzigartigkeit jedes Manuskripts in Analogie zur Unwiederholbarkeit der mündlichen Aufführung stellt. Für Dagenais bieten Glossen und Randnotizen nicht nur Hinweise darauf, wie Leser im Mittelalter aktiv an der Sinngestaltung teilnahmen, sondern die Marginalien sind physische Reste des Lesevorgangs selber.86 Diese und andere Beiträge tragen dazu bei, dass die Seitenränder der Handschrift in den letzten Jahrzehnten nicht mehr als theoretische Leerräume betrachtet werden, sondern als Neuland der Literaturwissenschaft erschlossen worden sind.
5 Mediengeschichtliche Ansätze II: Lesen als Kulturtechnik Das Mittelalter ist für die Mediengeschichte deswegen von Belang und Interesse, weil sich in ihm ein Umbruch von einer allein im mündlichen Medium kommunizierenden Kultur zu einer ›schriftlichen‹ Kultur vollzogen hat. Die übergeordnete Fragestellung, wie nämlich der Mensch zum Schreiben und Lesen kam, die in den Überschneidungsbereichen von Literaturund Kulturtheorie, Literatur- und Kulturgeschichte liegt, ist Gegenstand einer Reihe von wegweisenden Untersuchungen aus verschiedenen historischen Disziplinen, die zum Teil schon vor dem Berichtszeitraum dieses Beitrags erschienen sind, wie die von Marshall McLuhan und Eric Havelock. Einflussreich war vor allem die Erkenntnis, dass Schriftlichkeit keine äußerlich hinzutretende neue Kulturtechnik war, sondern dass sie das Selbst- und Weltverständnis des Menschen in einschneidender Weise transformiert habe. Geschriebenes und gelesenes Wissen sei grundlegend verschieden von gehörtem Wissen und begründe ganz neu- und andersartige Kommunikations- und Gesellschaftsstrukturen. Dasselbe gelte für Textualität, Episteme und kollektives wie individuelles Gedächtnis, die einer Ge86
So Dagenais: The Ethics of Reading in Manuscript Culture, S. 27.
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meinschaft zur Verfügung stehen. Der Aufweis des epistemischen Bruchs zwischen einem oralen und einem literaten Kulturzustand verbindet sich vor allem mit den Namen Milman Parry, Albert Lord, Havelock, Jack Goody und Ong, deren einflussreiche Studien meist nicht mehr in den zeitlichen Rahmen dieses Berichts fallen. Die Diskussion um Mündlichkeit und Schriftlichkeit und die Erfindung der Schrift als Kulturtechnologie erreichte 1982 einen vorläufigen Höhepunkt mit Ongs Orality and Literacy. Seither ist die Diskussion auch bemüht, die Ideologielastigkeit und binäre Logik des ›great divide‹ zu relativieren.87 Joyce Coleman weist etwa darauf hin, dass der mündliche Vortrag in der volkssprachigen literarischen Kultur weniger als ein Übergangsbehelf gegen eine eingeschränkte Lesefähigkeit gewertet werden dürfe, sondern dass man vielmehr noch im 14. Jahrhundert zumindest am Hof vorlesen ließ, weil man es genoss.88 Dass erst die Neuzeit mit der breiten Ablösung einer oral-visuellen durch eine literate Kultur einherging, dürfte zu den Gemeinplätzen der Kulturgeschichte gehören. Das Spezifikum der vorneuzeitlichen medialen Kultur besteht mithin darin, dass die Schrift und das Lesen in spannungsvollen Wechselbeziehungen mit der oral-auralen Vermittlung und der visuellen Rezeption von kulturellen Inhalten stehen.89 In diesen Kontext gehören Arbeiten, die in einem primär bildungsgeschichtlichen Sinn die Rolle des Bilds als eines ›Buchs‹ für die nicht lesefähige Laiengesellschaft thematisieren.90 Michael Curschmann, der beide Wechselbeziehungen in wichtigen Aufsätzen beleuchtet hat,91 betont, dass »der Prozeß, in dem die Volkssprache in zunehmendem Umfang zur Schriftlichkeit übergeht, an der Wurzel ebenso wie in der weiteren Verzweigung eng mit einem Bedürfnis nach Visualisierung zusammenhängt.«92 Dementsprechend breit angelegt sind die Fragestellungen, die das Lesen in diesem Hinblick thematisieren. 87 88 89 90
91 92
Vgl. Goetsch: Der Übergang von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit. Coleman: Public Reading and the Reading Public. Bäuml: Autorität und Performanz (mit Literatur), handelt überblicksartig über die Abhängigkeit beider Medien (Bild und geschriebener Text) von mündlicher Performanz. Curschmann: Pictura laicorum litteratura?; Camille: Seeing and Reading; Duggan: Was Art Really the ›Book of the Illiterate‹?, nimmt an, dass es als selbstverständlich galt, dass die Bilder den Analphabeten durch einen Leser oder Erzähler erläutert werden mussten; Schupp: Pict-Orales, befragt die Möglichkeiten der Vermittlung höfischer Erzählstoffe, die von freiem Nacherzählen und insbesondere von Wandmalereien und Bildteppichen ausgegangen sein könnte. Curschmann: Pictura laicorum litteratura?; Curschmann: Hören – Lesen – Sehen; Curschmann: Wort – Schrift – Bild. Curschmann: Wort – Schrift – Bild, S. 380.
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5.1 Mündlichkeit und Schriftlichkeit
Mit den Begriffen Mündlichkeit (›orality‹) und Schriftlichkeit (›literacy‹) werden verschiedene Ebenen eines kulturellen Spannungsfelds bezeichnet. Dies ist der Klarheit der Diskussion nicht immer zuträglich. Wulf Oesterreichers begriffliche Unterscheidung von Verschriftung (Übergang vom phonischen zum graphischen Medium) und Verschriftlichung (Übergang von konzeptionell mündlicher Äußerung zu konzeptionell schriftlicher Äußerung) hat hier zur Klärung beigetragen.93 Neben der medialen und der konzeptuellen Schriftlichkeit wäre als dritte Ebene Schriftlichkeit als Kulturzustand und -phase anzusetzen, die die mündliche Traditionskultur nichtalphabetisierter Gesellschaften von Schriftkulturen unterscheidet. Im Hinblick auf das europäische Mittelalter, das weder als eine rein orale noch als eine ausgeprägt schriftliche Kultur gelten kann, wurden zahlreiche Versuche unternommen, den historisch spezifischen Zwischenzustand und die funktionalen Differenzen zwischen mündlichen und schriftlichen Kommunikationsformen zu beschreiben und terminologisch sowie medientheoretisch zu fassen.94 Man hat von Semi-Oralität gesprochen, von »quasi-literacy« (Bäuml), »group literacy« (Curschmann), »textuality« (Stock) sowie von einem »intermediate mode of reception« (D. Green). Terminologisch einflussreich war auch Ursula Schaefers Vorschlag, die mittelalterliche Amalgamierung von mündlicher und schriftlicher Zirkulation von Wissensbeständen nicht als Oralität – dieser Begriff solle vorschriftlichen Kulturen vorbehalten bleiben –, sondern, mit einem Begriff Paul Zumthors, als Vokalität zu bezeichnen.95 Die Beschäftigung mit der ›Mündlichkeit‹ des mittelalterlichen Textes hat mit der ›oral-formulaic theory‹ und dem ›unfesten Text‹ (›mouvance‹) zwei Paradigmen hervorgebracht, die trotz ihrer enormen Tragweite hier ausgeblendet werden müssen, weil sie stärker mit der Produktion von Texten bzw. mit dem Begriff des Textes überhaupt als mit ihrer Rezeption befasst sind. ›Mündlichkeit und Schriftlichkeit‹ sind für die Frage des mittelalterlichen Lesens vor allem in einer Hinsicht thematisiert worden: inwieweit die Handschriften bereits vorwiegend visuell, individuell und fern von der Gemeinschaft rezipiert wurden (›gelesen‹ im modernen Sinne) oder in93 94 95
Oesterreicher: »Verschriftung« und »Verschriftlichung«. Überblicksartig D. Green: Orality and Reading. Vor allem Schaefer: Vokalität. Einen Abriss der jüngeren Terminologiegeschichte gibt Schaefer: Zum Problem der Mündlichkeit.
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wieweit sie noch in eine Performanzkultur und ein Gemeinschaftserlebnis integriert waren, d. h. ihre Lektüre der laute Vortrag vor einer Zuhörerschaft war. Damit hängt die Frage zusammen, welche Textsorten (Lyrik, Epik) und Textformen (Vers, Prosa) in welchen Zeiträumen auf welche Rezeptionsweise abzielten. In der Germanistik hat sich gegenüber der einhelligen Meinung der älteren Forschung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts – mittelalterliche Dichtung sei Hördichtung, d. h. ihre Mündlichkeit sei, wenn auch schriftkonserviert, authentisch96 – in den letzten Jahrzehnten eine starke Tendenz zur ›Literarisierung‹ bemerkbar gemacht.97 Vor allem in der materialreichen Studie von Manfred Scholz (Hören und Lesen, 1980) bildet sich dieser Umschwung ab. Scholz’ Interpretation der Belege, die den öffentlichen Vortrag von geschriebenen Texten zu wenig ins Kalkül zieht, hat jedoch Kritik erfahren98 und wurde in vielem von Dennis H. Greens Monographie Medieval Listening and Reading (1996) korrigiert. Außerhalb der Germanistik sind allerdings seit je die Stimmen lauter, die die ›longe durée‹ der Rezitationskultur betonen: so beispielsweise Schaefer99 und Zumthor100, der betonte, »daß in der europäischen Tradition jeder dichterisch-fiktive Text vor dem 15. Jahrhundert auf mündlicher Überlieferung beruht« und »jeder Umgang mit dem Text [...] als Performanz aufgefaßt werden«101 muss. Auch die mediengeschichtlich und kulturwissenschaftlich ausgerichtete germanistische Forschung betont, dass die Literatur größtenteils durch Vorlesen ihr Publikum erreichte, und rückt den Begriff der Performanz stärker in den Mittelpunkt.102 Das Mittelalter als eine Zeit des Übergangs zur Schriftlichkeit kann dabei nicht statisch gesehen werden. D. Green weist darauf hin, dass der epochale mediale Umbruch in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, jener »switch from the acoustic to the visual dimension«103 nicht quasi 96 97 98 99 100 101 102
103
Literaturbericht bei Scholz: Hören und Lesen, S. 14–34. Das Lesen gegenüber dem Hören vertritt im Bereich der mittelhochdeutschen Lyrik besonders exponiert Cramer: Waz hilfet âne sinne kunst? Vgl. Kartschoke: Rezension; Lebsanft: Hören und Lesen (aus romanistischer Perspektive); D. Green: On the Primary Reception; Curschmann: Hören – Sehen – Lesen, S. 220–225. Schaefer: Vokalität. Zumthor: La lettre et la voix. Zumthor: Mittelalterlicher »Stil«, S. 484. Als Studien zu einer einzelnen Textgattung seien hier noch erwähnt: Gruber: Singen und Schreiben, der an der provenzalischen Lyrik des 12. Jahrhunderts zeigt, welche Bedeutung dem Einhören und Einsingen als Aneignungsform zugekommen sein dürfte, sowie Rieger: »Senes breu de parguamina«?, der dagegen stärker für die Schriftlichkeit der provenzalischen Lyrik votiert. D. Green: Orality and Reading, S. 279.
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über Nacht eingetreten sein kann, sondern dass der Erfolg des gedruckten Buchs sich schon lange zuvor in der zunehmenden Lesefähigkeit und Lesebereitschaft eines spätmittelalterlichen Laienpublikums vorbereitet haben muss.104 5.2 Lesen und Sehen, Text und Bild. Lesen als Aspekt der ›visuellen Kultur‹ des Mittelalters
Das Verhältnis von Text und Bild in der mittelalterlichen Manuskriptkultur ist seit längerem ein zentraler Gegenstand der mediävistischen Forschung. Einige umfangreiche Sammelbände reflektieren die Vielfalt der untersuchten Text-Bild-Symbiosen.105 Allerdings waltet hier oft ein primär produktionsästhetischer Blickwinkel, so dass vor allem die Planung der Bildzyklen oder der Informationsaustausch zwischen Schreiber und Illustrator untersucht werden106; wie das dynamische Ineinander der Medien dagegen den Vorgang des Lesens und Betrachtens steuert, wird seltener eigens thematisiert. Untersuchungen der »Bildgrammatik«107 einzelner Handschriften, die für untypische und individuelle mediale Lösungen stehen und somit zwar kaum das Leserverhalten ihrer Zeit, geschweige denn ›die‹ mittelalterliche Rezeption, repräsentieren können, vermögen dennoch das Spektrum unserer Kenntnisse erheblich zu erweitern. Es ist unmöglich, hier mehr als wenige exemplarische Fälle zu nennen. Anzuführen wären beispielsweise Studien zu den Figurengedichten des lateinischen Frühmittelalters und zur ›Visuellen Poesie‹ im weiteren Sinne.108 Ein singuläres Erscheinungsbild eines mittelhochdeutschen Versromans bietet der München-Nürnberger ›Willehalm‹ aus dem 13. Jahrhundert. Der fragmentarisch erhaltene, einst umfangreiche bebilderte Codex hat schon lange die Aufmerksamkeit auf sich gezogen, weil die Illustrationen nicht allein die erzählte Geschichte, sondern streckenweise auch das Agieren des Erzählers Wolfram von Eschenbach abbilden. Kathryn Starkey hat den Codex zuletzt zum
104 105 106 107 108
Vgl. Spriewald: Literatur zwischen Hören und Lesen. Harms: Text und Bild, Bild und Text; Meier/Ruberg: Text und Bild. Zum Beispiel Joslin: Illustrator as Reader. Ott: Mise en page, S. 48. Ernst: Kreuzgedichte des Hrabanus Maurus; Ferrari: Hrabanica (Forschungsbericht). Ulrich Ernst (Wuppertal) leitet eine Forschungsstelle Visuelle Poesie mit dem Schwerpunkt auf den Figurengedichten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit.
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Gegenstand einer lesegeschichtlichen Studie gemacht,109 die von der Frage nach dem Zusammenwirken von Wort, Bild und Performanz ausgeht und dabei die These formuliert, hier werde die narrative Schichtung von ›Stimmen‹ (Erzähler- und Figurenrede) und Perspektiven für ein Publikum offengelegt, das auditiv und visuell literat war, jedoch weniger vertraut mit der Rezeption eines geschriebenen Texts. Weil jedoch die Bilder ihrerseits auf den Wortlaut der Erzählung Bezug nehmen, verortet Starkey die Handschrift in einem Überschneidungsfeld von mündlicher und schriftlicher Textkultur. Wie auch Starkeys Studie zeigt, hat man auf den Ansätzen der TextBild-Forschung seit den 1990er Jahren aufgebaut und öffnet sich zunehmend auch im deutschsprachigen Diskurs gegenüber benachbarten Disziplinen, um einen breiteren medialen Horizont zu erschließen.110 Neben der weltlichen höfischen Literatur, die in der Germanistik traditionell im Vordergrund steht, hat sich auch geistliche Andachtsliteratur, die sich vor allem an Frauen richtete, als ein Bereich medialer Innovationen erwiesen. »Das Frauengebetbuch löst Bild und Text aus dem liturgischen Zusammenhang und verbindet sie zu neuer Einheit im vom Bild gesteuerten narrativ-devotionalen Vollzug der Passion oder der Heilsgeschichte im Ganzen.«111 Auch von Seiten der Kunstgeschichte bzw. der historischen Bildwissenschaft wurde der geistlichen Frauenlektüre zwischen Bild und Text Aufmerksamkeit zuteil.112 Wo sich die Forschung auf die Begriffe der Audiovisualität oder der ›visual culture‹ bezieht, erscheinen das Lesen von Büchern und Texten ebenso wie das Zusammenspiel von Bild und Text als Teilaspekte der Aufnahme von kommunikativen Inhalten. Diese Ansätze berühren sich in ihrem Anliegen mit der Geschichte der Wahrnehmung (siehe unten Kap. 5.3). Sie thematisieren das Lesen jedoch nicht im engeren Sinn als Sehen, sondern als nur einen Modus, der an der intermedialen Konstitution von Bedeutung in der mittelalterlichen Kultur teilhat: »The reception of images, objects, and performance involved writing, reading, seeing, watching, visualizing, and imagining – processes that were not perceived as mutually exclusive but as intersecting and influencing one another as modes of visual perception.«113 Besonders die Berliner Arbeiten 109 Starkey: Reading the Medieval Book. 110 Vgl. die methodologische Kritik von Ott: Word and Image. 111 Curschmann: Wort – Schrift – Bild, S. 393, mit einem Überblick über die Forschung zu einzelnen Handschriften. 112 Siehe z. B. Hamburger: The Visual and the Visionary. 113 Starkey: Visual Culture, S. 3. Vgl. Camille: Seeing and Reading.
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aus der Schule von Horst Wenzel sind von Seiten der Germanistik in diesem Zusammenhang zu nennen; nicht wenige davon beziehen sich auf das Text-Bild-Verhältnis in den Handschriften der mittelhochdeutschen Versdidaxe des Thomasin von Zirklaere (›Der Welsche Gast‹).114 Vor allem in der Folge von Wenzels ambitionierter Monographie Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter von 1995 sind im Kontext des Sonderforschungsbereichs ›Kulturen des Performativen‹ und im Austausch mit der amerikanischen Mediävistik (Stephen Jaeger, Starkey, Jeffrey Hamburger) zahlreiche Beiträge erschienen.115 So lebendig und ergiebig die interdisziplinäre und grenzüberschreitende Diskussion um visuelle Kultur gewesen ist, so deutlich erscheint sie aus der Perspektive der Buchwissenschaft als mit etwas befasst, das man ein Randphänomen nennen könnte. Die Sonderrolle der volksprachigen Handschriften ist im Kontext der Germanistik durchaus begründet, aber im Rahmen einer mediävistischen Lesegeschichte bleibt zu bedenken, dass die Lesekultur des Mittelalters um ein Vielfaches stärker von der lateinischen Schriftlichkeit geprägt war. Auf ähnliche Weise läuft eine primär literaturwissenschaftliche Lesegeschichte Gefahr, die Rezeption von erzählenden Texten als Musterbeispiel von Lesen oder als das Lesen schlechthin zu verstehen, obwohl die ›Klassiker‹ der mittelalterlichen Erzählliteratur im Vergleich zu anderen – seien es geistliche, seien es pragmatische – Handschriftensorten eher eine Seltenheit waren. Der Begriff ›visuelle Kultur‹ ermöglicht Anknüpfungspunkte zwischen Literaturwissenschaft und anderen Disziplinen, bevorzugt indes an sich die Ausnahmeerscheinungen unter den literarischen Zeugnissen des Mittelalters, die bebilderten Codices,116 gegenüber schlichteren Gebrauchshandschriften. Darüber hinaus erfasst die dichotome Formulierung ›Wort und Bild‹ die Materialität des mittelalterlichen Buchs nicht vollständig; folgenreiche Änderungen in der Handschriftengestaltung betreffen schließlich das Layout und die Seitenorganisation durch sinnstrukturierende Mittel, was weder mit ›Wort‹ noch mit ›Bild‹ zu umschreiben ist (siehe Kap. 4.1).
114 So etwa Wenzel: Beweglichkeit der Bilder; Stolz: Text und Bild im Widerspruch?; Wenzel/ Lechtermann: Beweglichkeit der Bilder, mit 12 Beiträgen zum »Welschen Gast«. 115 Zum Beispiel die Sammelbände: Wenzel/Jaeger: Visualisierungsstrategien; Starkey/Wenzel: Visual Culture and the German Middle Ages; Starkey/Wenzel: Imagination und Deixis. 116 Auch Curschmann: Epistemological Perspectives, S. 2, weist darauf hin.
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5.3 Lesegeschichte als Kognitionsgeschichte
Versteht man unter ›Kognition‹ alle mentalen Prozesse der menschlichen Informationsgewinnung, -strukturierung, -speicherung und -bearbeitung, so ist das Lesen ohne Zweifel unter dem Kognitionsbegriff einzuordnen. Zugleich gilt die Erschließung der menschlichen Kognition als eines der größten Ziele der neuzeitlichen Hirnforschung. Die Möglichkeit einer Zusammenarbeit zwischen Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften liegt auf der Hand, und erste Bezugnahmen von jeder Richtung aus lassen sich beobachten. Jedoch liegen die Methoden und Argumentationsweisen der Buchwissenschaft und der Kognitionswissenschaft voneinander weit entfernt. Man muss damit rechnen, dass lesegeschichtliche Betrachtungen zu Kognitionsprozessen von Kognitionswissenschaftlern als unzureichend empfunden werden, während kognitionswissenschaftliche Darstellungen der Lesegeschichte aus Sicht des Buchwissenschaftlers eine vereinfachte oder verzerrte Vorstellung von Lesetechniken wahrnehmen lassen.117 Das lesepsychologische Handbuch The Science of Reading schmückt sich auf seinem Einband mit dem lesenden St. Ivo – einem Ausschnitt aus einem Gemälde Rogiers van der Weyden (ca. 1450) – und zitiert so die geschichtliche Dimension des Lesens an, ohne dass jedoch die Beiträge ein historisches Interesse erkennen ließen.118 Hartmut Günther hat für das Mittelalter einen ersten Versuch gemacht, kognitive Prozesse beim Lesen anhand des Handschriftenlayouts im breiten Rahmen der Neurolinguistik zu beschreiben,119 aber der knappe Abriss stellt keinen Fortschritt im Vergleich zu den Arbeiten von Parkes und Rouse/Rouse dar. Methodologischer Konsens zwischen den relevanten Disziplinen ist ein fernes Ziel, obwohl die jeweiligen Ergebnisse für das andere Fach an Bedeutung gewinnen. Auch wenn Chartier und Schlieben-Lange eine Geschichte der mentalen Prozesse des Lesens oder eine innere Geschichte des Lesens gefordert und für aussichtsreich erachtet haben, stieß dieses Ansinnen gleichwohl auf grundsätzliche Kritik. In seiner Abhandlung Von den Möglichkeiten einer inneren Geschichte des Lesens sammelt Matthias Bickenbach aus Antike, Früher Neuzeit und Moderne – das Mittelalter wird nur im Vorbeigehen berührt – literarische Darstellungen des Lesens und Stellungnahmen von 117 So z. B. Zedelmaiers Kritik an Grüssers Darstellung der neurobiologischen Entwicklungsgeschichte des Lesens, Zedelmaier: Schwierige Lesegeschichte, S. 82 Anm. 20. 118 Snowling/Hulme: The Science of Reading. 119 Günther: Aspects of a History of Written Language Processing.
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Autoren zu – gewünschten und abgelehnten – Lesepraktiken. Am Ende einer reichhaltigen Diskursgeschichte des Lesens kommt er allerdings im Sinne der Dekonstruktion zu dem provokanten Schluss, es könne keine innere Geschichte des Lesens geben, weil »Lesen keine Identität mit sich selbst kennt, sondern in sich von sich selbst differiert«.120 In den letzten Jahrzehnten ist die mediävistische Kognitionsgeschichte sehr produktiv gewesen, vor allem in der Befassung mit ›memoria‹ und den Gedächtniskünsten des Mittelalters, die auch im Lesevorgang impliziert sind. Mit der Fokussierung auf das Gedächtnis ist der Wandel vollzogen von der Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen oder materiellen Rahmenbedingungen des Lesens zu den neurologischen Vorgängen selber. Das Gedächtnis erscheint als Gegenposition zur Schriftlichkeit in Clanchys From Memory to Written Record, das inzwischen zu einem Klassiker der Mediävistik geworden ist. Clanchys Quellenbasis sind vor allem Urkunden in England, deren Produktion im Zeitraum 1066 bis 1307 gegenüber früheren Perioden um ein Vielfaches zunimmt und die aus allen Bevölkerungsschichten stammen. Clanchy sieht darin einen Beleg für (und auch einen Auslöser für) den Wandel von einer mündlichen, auf das Gedächtnis gestützten Gesellschaft zu einer auf Schriftlichkeit basierenden Mentalität, die alle Gesellschaftsschichten durchdringt. Am Anfang des behandelten Zeitraums müssen wichtige Informationen noch zu Gehör gebracht werden, um Vertrauen schaffen zu können; zwei Jahrhunderte später müssen sie als Text gesehen werden, um als vertrauenswürdig zu gelten. Jedoch verliert das Gedächtnis nicht seine Funktion, sobald Wissensinhalte vorwiegend schriftlich rezipiert werden. In Carruthers ebenfalls fundamentaler Arbeit The Book of Memory steht das Gedächtnis nicht im Gegensatz und in Konkurrenz zum geschriebenen Wort, sondern es nimmt eine ausgesprochen wichtige Rolle in den Lesepraktiken des Mittelalters ein. Das Gedächtnis im modernen Sinn ist vor allem ein Speichermedium, in dem Erlebtes und Gelesenes passiv aufbewahrt werden. Dagegen wurde die ›memoria‹ des Mittelalters vorgestellt als ein Ort des produktiven Bearbeitens, der sowohl geschriebene als auch mündliche Texte aufnahm und vereinte. Das Lesen brachte Texte und anderes Wissen in die Reichweite der ›memoria‹ und war insofern ein ethisches Handeln, als in der ›memoria‹ ein Dialog zwischen dem Erinnerungsvermögen des Lesers und dem Gedächtnis des Verfassers stattfand. Auch andere 120 Bickenbach: Von den Möglichkeiten einer »inneren« Geschichte des Lesens, S. 256–260. – Eine ausführliche Kritik an Bickenbach ist Zedelmaier: Schwierige Lesegeschichte.
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Arbeiten machen darauf aufmerksam, dass sich Textrezeption im Mittelalter nicht im ›Lesen‹ im modernen Sinn (als Ablesen von Schrift) erschöpfte, sondern oft zum Einverleiben in die ›memoria‹ führen sollte. Eckart Conrad Lutz geht etwa von der ›lectio‹ geistlicher Texte und der davon angeregten Meditation aus und entwirft in Analogie dazu für den Tristan Gottfrieds von Straßburg das Modell einer Leseweise semiliteraten Zuschnitts. Dieser gebildete Umgang mit dem Roman habe sich im höfischen Gespräch bewähren und zu einer Durchdringung und dauerhaften Aneignung eines Textes führen sollen.121 Klaus Grubmüller erläutert die Funktion von versifizierten Lehrbüchern und betont ihre Verankerung in der mündlichen Vollzugsform des mittelalterlichen Schulunterrichts, in dem Lesen, Diktieren, Auswendiglernen und Erinnern einen Zusammenhang bilden.122
6 Resümee Was haben die letzten 30 Jahre der mediävistischen und buchwissenschaftlichen Forschung über das Lesen im Mittelalter erbracht? Zum einen dürften sie deutlich eine Vervielfältigung der Perspektiven und damit eine Erweiterung des Lesebegriffs gezeitigt haben. So hat die Befassung mit dem Lesen immer auch Teil an den allfälligen texttheoretischen, editionswissenschaftlichen und medienhistorischen Paradigmenwechseln. Zum anderen schließt die jüngste Forschung durchaus ohne revolutionäre Neigung an einige wichtige Erkenntnisse an, die zu Beginn dieses Zeitraums ins Blickfeld getreten sind. Was die Periodisierung der mittelalterlichen Lesegeschichte angeht, ist von einem markanten Bruch zwischen dem geistigen Erbe der Antike und der Lesekultur des Frühmittelalters kaum mehr die Rede; gleichzeitig haben Arbeiten zu den mittelalterlichen Traditionen der Grammatik und der Rhetorik das Wesen der Kontinuität präzisieren können. Untersuchungen aus verschiedenen Fachrichtungen möchten vielmehr vielfältige Erneuerungen im 11./12. Jahrhundert entdecken, die sowohl die Konstitution des Lesepublikums und dessen Lesepraktiken als auch den institutionellen Rahmen des Lesens und die Gestaltung des Lesestoffs betreffen. Im Einzelnen lassen sich Plädoyers für lesegeschichtliche Wendepunkte vom 121 Lutz: lesen – unmüezec wesen. Vgl. auch Gruber: Singen und Schreiben, zur provenzalischen Lyrik. 122 Grubmüller: Mündlichkeit, Schriftlichkeit und Unterricht.
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9. bis zum 16. Jahrhundert finden. Die veränderte Lesekultur des späten Mittelalters gegenüber der früheren Periode hat man in Verbindung gebracht mit der Ablösung der Klöster durch die Universitäten als den führenden Institutionen der Ausbildung der geistigen Elite und mit dem Übergang von einem gemurmeltem Lesen in der Gemeinschaft zum leisen Lesen des Einzelnen. Die neuen Lesepraktiken und der neue institutionelle Rahmen des Lesens lassen sich nach Ansicht vieler Wissenschaftler an der Gestalt von Handschriften ablesen, die neue Wege des Informationszugangs ermöglichen. Ein markanter Umbruch im Humanismus oder mit dem Buchdruck zeichnet sich dagegen weniger ab – was nicht bedeuten muss, dass geistige und technologische Entwicklungen keinerlei Einfluss auf das Lesen im späten Mittelalter hatten. Dass die Etablierung des Buchdrucks nicht der Motor, sondern vielmehr die Folge eines schon in der Handschriftenzeit im 14. und 15. Jahrhunderts stark steigenden Bedarfs nach geschriebenen Büchern und sich wandelnder Lektürepraktiken war – dies eine schon ältere These –, untermauern auch weiterhin einige Einzelstudien. Neue Schwerpunkte hat die mediävistische Forschung zuletzt, so scheint es, an den Rändern des Phänomens Lesen gesetzt. Im Gleichlauf mit einer konzeptuellen Interessenverlagerung vom ›Buch‹ zum ›Medium‹ und zur ›Kommunikation‹ wurde das Lesen zunehmend als eine Rezeptionstechnik akzentuiert, die Übergänge zu und Überlagerungen mit anderen Rezeptionstechniken aufweist. Vor allem Forschungen zur Oralität, Visualität und Performativität der mittelalterlichen Kultur – angestoßen und getragen zu nicht geringem Anteil von den Sonderforschungsbereichen ›Mündlichkeit und Schriftlichkeit‹ (Freiburg, 1985–1996) und ›Kulturen des Performativen‹ (Berlin, 1999–2010) – ließen etwa sichtbar werden, dass das mittelalterliche Lesen (auch) eine besondere Form des Schauens, Bild-Text-Synthesen besondere Gegenstände des Lesens waren, und dass die Ausbreitung des stillen und privaten Lesens auf Kosten der oralisierten Lektüre kein gerichteter Prozess war, weil alle zwischen Vokalität und Visualität angesiedelten Spielarten des Lesens das gesamte Mittelalter hindurch praktiziert wurden. Neben diesen eher konzeptuellen Fragestellungen haben jedoch mit der Untersuchung von Marginalien und sonstigen konkret-manifesten Lesespuren auch betont empirische Studien in den letzten Jahren bedeutende Resultate verzeichnen können. Diese eher literaturwissenschaftlich orientierten Arbeiten richten den Blick auf individuelle – wenn auch oft repräsentative – Fallbeispiele für Buchlektüre. Die im engeren Sinne
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buchwissenschaftliche Forschung hat in diesem Zeitraum jedoch auch die älteren empirischen Ansätze der bibliometrischen Statistik weitergeführt. Bei aller Kontroverse bleibt Neddermeyers wuchtige Arbeit zur Buchproduktion und Lektüre im späten Mittelalter und in der Frühdruckzeit hier ohne Parallele. Als zukunftsweisend, aber dennoch erst am Anfang stehend muss der Ansatz einer historischen Kognitionswissenschaft gelten, die Erkenntnisse der modernen Neuro- und Kognitionspsychologie, der Paläographie und Typographie sowie der Kultur- und Textwissenschaften interdisziplinär aufeinander bezieht. Die methodologischen Aporien dieser schwierigen Allianz sind abzulesen an der immer noch virulenten Kontroverse um Saengers These zur Rolle des Leerraums für die Geschichte des Lesens.
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ARNO MENTZEL-REUTERS
Das Nebeneinander von Handschrift und Buchdruck im 15. und 16. Jahrhundert
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Vorspiel Herbert Marshall McLuhan Exkurs: Paul Saenger Michael Giesecke Ivan Illich Uwe Neddermeyer Interdisziplinäre Einzelstudien Desiderate Literaturverzeichnis Literatur Rezensionen
Vorspiel Als Mephisto von seinem Opfer Faust »ein paar Zeilen« – d. h. einen Vertrag – verlangt, gerät dieser in Rage, lobpreist das »Manneswort« und setzt antithetisch abwertend jedwede Schriftlichkeit dagegen: Allein ein Pergament, beschrieben und beprägt, Ist ein Gespenst, vor dem sich alle scheuen. Das Wort erstirbt schon in der Feder, Die Herrschaft führen Wachs und Leder. Was willst du böser Geist von mir? Erz, Marmor, Pergament, Papier? Soll ich mit Griffel, Meißel, Feder schreiben? Ich gebe jede Wahl dir frei.1
Hier haben wir in klassischer Formulierung den medialen Gegensatz der Oralität zur Schriftlichkeit, während »beschrieben und beprägt« und alle nur denkbaren Beschreibstoffe für Johann Wolfgang Goethe keine 1
Goethe: Faust V. 1726–1733 (HA III S. 57f.).
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Gegensätze bilden und anscheinend auch kein Konfliktpotential einschließen. Die Kategorien jedoch, in denen sich die jüngere Forschung zur Buchgeschichte bewegt, werden gänzlich ignoriert.2 Es mag sein, dass der Faust als ein episch-theatralisches Werk seiner Natur folgt, wenn er auf das gesprochene Wort pocht. Doch nicht nur literarisch-ästhetisch, sondern auch als Zeitgenosse eines mediengeschichtlichen Übergangs ist Goethe von enormem Interesse: Ohne die zu seinen Lebzeiten entwickelten und von seinem Verleger Johann Friedrich Cotta (1765–1807) nach Deutschland gebrachten Schnellpressen wäre seine enorme Wirkung nicht denkbar. Die Frage, ob dies auf Zufall basiert oder auf historischem NichtVerstehen, um Desinteresse von seiten Goethes oder um einen Hinweis auf fundamentale Fehler im aktuellen Diskurs, werde ich am Ende dieser Übersicht angehen.
1 Herbert Marshall McLuhan Die von Goethe nicht beachteten Kategorien, in denen man heute gleichwohl die Mediensituation der Frühen Neuzeit beschreibt, begreifen Handschrift und Buchdruck als Opponenten. Auf eine Epoche der handgeschriebenen Bücher folgt eine neue, in der die Handschrift verdrängt wird und der Buchdruck herrscht.3 Die Gegenwart wird dabei als ein neues Zeitalter der Schriftlichkeit beschrieben, in welchem die elektronische Datenverarbeitung ihrerseits den Buchdruck verdrängt. Als Erster hat der kanadische Anglist Marshall McLuhan (1911–1980)4 dieses Geschichtsbild beschrieben. 1962 publizierte er The Gutenberg-Galaxy, the Making of Typographic Man. Erstmals in deutscher Sprache erschien das 1968 im EconVerlag. Die deutsche Ausgabe verwendete einen erheblich modifizierten Untertitel: Das Ende des Buchzeitalters. Damit wird die Erwartung des Lesers direkt auf die Möglichkeit einer profanen Eschatologie gelenkt. McLuhans Buch ist tatsächlich eine Kulturgeschichte der Menschheit von den Anfängen bis in die nähere Zukunft. So besehen möchte es an die Stelle der Universalgeschichte im Sinne eines Arnold J. Toynbee (1889–1975) treten, ist jedoch methodisch ganz anders angelegt. McLuhans Darstellung ist 2 3 4
Goethe macht auch keinen Gebrauch davon, dass Faust gelegentlich in Verwechslung mit Fust als Erfinder der Buchdruckerkunst dargestellt wurde. Diese Gliederung hat ihre Vorläufer in humanistischen Epochenvorstellungen, etwa von Guillaume Fichet; vgl. Green: Medieval Listening, S. 3; zur Kritik dieser Metaphern vgl. Fink: Das Auge kann hören, S. 15–20. Zu ihm vgl. Baltes: Marshall McLuhan.
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thesenhaft und auf wenige Belege zugespitzt. Sie sind aus einem ebenso intensiven wie selektiven Literaturstudium gezogen und über die Gesellschaftstheorie des ebenfalls in Toronto lehrenden Wirtschaftswissenschaftlers Harold Adams Innis (1894–1952) gespannt.5 McLuhan unterteilt die Menschheitsgeschichte in vier Phasen: »orale Stammeskultur«, »literale Manuskriptkultur«, »Gutenberg-Galaxis« und das gerade anbrechende »elektronische Zeitalter«. Den Gegensatz von Mündlichkeit und Schriftlichkeit stellt er naturgemäß früh heraus, jedoch zurückgezogen auf die Sinnesorgane, die dabei – seiner Meinung nach – primär beansprucht werden: Auge und Ohr, die damit zu Antagonisten eines kulturgeschichtlichen Dualismus werden. In einer historisch nicht verorteten Ur-Kultur oder Stammesgesellschaft sind alle Sinne vereint. Durch die Schrift werden sie gespalten und müssen natürlich am Ende wieder alle zusammenkommen – wir haben ein schulmeisterlich durchgeführtes dialektisches Geschichtsbild. Vorerst sind wir, so McLuhan, in einer alphabetischen und mechanistischen Entfremdung gefangen. Wenn auch das antike und mittelalterliche Lesen, das hier als ausschließlich lautes Lesen gedacht wird, noch Auge und Ohr verbindet, so hat es doch bereits durch ein lineares Speichermedium die Linearität des Denkens erzwungen (das Alphabet ist das Grundsystem einer mechanischen Kultur). Mit der ›Gutenberg-Galaxis‹, dem Buchdruck mithin, wird die Linearisierung total, der Mensch wird eindimensional dem Auge unterworfen. John Freund, ein früher Bewunderer der Gutenberg-Galaxis fasste es so zusammen: Ich habe bereits angemerkt, daß der Einfluß des Auges auf den Geist des westlichen Menschen das Hauptthema des Buches ist. Genauer, der umfassende Gebrauch, der seit Gutenberg vom Druckmedium gemacht wurde, verstärkte um ein Vielfaches die visuellen Neigungen, die die Aneignung des phonetischen Alphabets in der Wahrnehmung des Menschen bewirkt hatte. [...] Klären wir gleich, daß es nicht der Inhalt der Bücher, die aus den ersten Druckpressen hervorgingen, ist, in dem McLuhan die Kraft für so tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen entdeckt. Inhalte blieben noch zwei Jahrhundert nach Erfindung der Druckpresse in ihren wesentlichen Zügen mittelalterlich. Im Medium selbst ist die aktive Ursache zu sehen.6
Das ist die Paraphrase des bekannten McLuhan’schen Diktums »The medium is the message«7, das er in Understanding Media prägte. Die Willkür solcher Vorstellungen kann man bereits dadurch erweisen, dass sich mit gleichen Mitteln ebenso willkürlich Gegenbeispiele finden lassen, da sie damit keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit oder Autoevidenz mehr 5 6 7
Vgl. Patterson: History. Freund: Gutenberg-Galaxis, S. 170f. Hier zitiert nach: McLuhan: Essential McLuhan, S. 151.
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erheben können. Auch hier werden wir bei Goethe fündig. Er wird – ohne dass er selbst dieses Wort verwendet hätte – gerne als ›Augenmensch‹ bezeichnet8, doch zieht er stets das laute Lesen vor, das es doch bei dem ›typographischen Menschen‹, den es nach McLuhan seit Gutenberg gibt, gar nicht mehr geben dürfte. Ich nenne nur eines von zahlreichen Beispielen: Verzeiht! Ich hör’ Euch deklamieren; Ihr last gewiss ein griechisch Trauerspiel? In dieser Kunst möcht’ ich was profitieren, Denn heutzutage wirkt das viel.9
McLuhans Technik- und Gesellschaftskritik kann man bei Zeitgenossen wie Lewis Mumford10 oder natürlich Herbert Marcuse weit schärfer finden, aber nur bei McLuhan wird das Schriftsystem als beherrschende Kulturtechnik thematisiert und attackiert. Weit weniger bekannt und meist nicht rezipiert ist, was McLuhan über das Auftreten neuer Medien sagt. »Jede von Menschen erfundene und ›veräußerlichte‹ Technik, hat das Vermögen das menschliche Bewusstsein während der ersten Zeit ihrer Einbeziehung zu betäuben«.11 Diese Einsicht entspringt einer genauen Beobachtung der Wirkung von Telegraphie, Rundfunk und Fernsehen. »Betäubung« (im Original: »paralysation«) ist eine Schutzreaktion des Bewusstseins auf die Möglichkeiten des neuen Mediums, sie macht jedes angemessene Reden über das neue Medium unmöglich. Als Folgen der Paralyse nennt McLuhan für das 15. und 16. Jahrhundert: Die Handschrift bleibt neben dem Buchdruck bestehen, der Buchdruck reduziert sich zeitweilig auf die Funktionalitäten der Handschrift, ehe er seine eigentliche Wirkung entfaltet: das Prinzip der Segmentierung von Handlungen, Funktionen und Rollen […]. Die Gutenberg-Technik erweiterte dieses Prinzip auf die Schrift, die Sprache, die Kodifizierung und Übermittlung jeder Art von Wissen.12
Karl Marx hatte all dies weit zutreffender als Entfremdung der Arbeit beschrieben – aber immerhin, McLuhan durchbricht die mit dem stereotypen Lob des Buchdrucks verbundene Fortschrittseuphorie.13 Für ihn 8 9 10 11 12 13
»Das Auge war vor allen anderen das Organ, womit ich die Welt faßte«, Goethe: Dichtung und Wahrheit II 6 (HA IX S. 224); ähnlich Goethe: Geschichte der Farbenlehre (HA XIV S. 253). Goethe: Faust V. 522–525 (HA III S. 24). Mumford versucht ein Gesamtbild der Entwicklung des Menschen zu zeichnen, sowohl der Kultur wie der vermeintlichen Fortschritte. McLuhan: Gutenberg-Galaxis, S. 191. McLuhan, S. 193. Diese auch in jüngster Zeit ungebrochen bei Füssel: Gutenberg, S. 126–129.
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galt das traditionelle Geschichtsbild nicht mehr, nach dem der Buchdruck zusammen mit der Reformation ein neues freies Zeitalter einläutete.14 Der Buchdruck wird von McLuhan erstmals auch als Beschränkung menschlichen Könnens begriffen und deren Überwindung durch neue Medien postuliert. Aber, so sagt McLuhan in seiner Streitschrift Culture is our business: »Fish does not know water exists untill beached.«15 McLuhan hatte die These vom ›Ende des Buchzeitalters‹ aufgeworfen, aber als kanonische Antwort darauf war sein Lebenswerk zu sprunghaft und zu populistisch angelegt und aus der Sicht der letzten beiden Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts auch schon zu alt. Die jetzt für jeden Produzenten oder Rezipienten von Texten spürbare Veränderung und die offenbar als noch beunruhigender empfundenen medientechnischen Umbrüche nach der Etablierung des World Wide Web erzeugten nachgerade eine Sehnsucht nach einer wissenschaftlich gesicherten Interpretationsfolie.16 Diese sollte die Frühdruckforschung liefern. Gutenberg avancierte zum ›Mann des Jahrtausends‹. Paradoxerweise waren es gerade die ›Neuen Medien‹ des Fernsehens und des Internets17, die ihn dazu machten und ihm zu einer ungeahnten Popularität zu einer Zeit verhalfen, in der Fachwissenschaftler darüber klagten, dass die Mediävistik ihren ›Sitz im Leben‹ verloren habe.18 All dem hatte die Inkunabelforschung um 1990 nichts entgegenzusetzen. Zwar konnten Studien zur Technik- und Handelsgeschichte der Frühen Neuzeit den Horizont gegenüber Konrad Haeblers Klassiker von 1925 erheblich erweitern, doch war es der Frühdruckforschung – anders als der von der öffentlichen Hand massiv geförderten Kodikologie – trotz 14 15 16
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Zu dieser Wechselwirkung kritisch Stein: Schriftkultur S. 190–195. McLuhan: Essential McLuhan, S. 35–59, hier S. 35. Vgl. Krawietz: Grußwort, S. 12: »Unser Bild von Gutenberg ist nicht zu trennen von der Tatsache, dass wir in einer Zeit vergleichbarer Umwälzungen leben. Die so genannte zweite Medienrevolution verändert unseren Umgang mit Informationen sowie die Formen und Möglichkeiten von Kommunikation in einer Weise, wie dies zuvor nur der Buchdruck getan hat.« Die Zählung ist problematisch. Als ›erste‹ Medienrevolution wäre, wenn der Begriff überhaupt einen Sinn macht, die Erfindung der Schrift anzusprechen. Vgl. die Darstellung »Ein Mann des Jahrtausends«, die im Zusammenhang mit der ZDFFernsehserie Unsere Besten Gutenberg als »Mann des Jahrtausends« vorstellt: »›Ohne Gutenberg keine Bibel und keine Bücher, kein Wissen, keine Aufklärung und auch keine Demokratie‹, sagt ›heute‹-Moderatorin Petra Gerster über den Mainzer und seine Erfindung. Johannes Gutenberg entwickelte die beweglichen Lettern und ermöglichte mit dem Buchdruck die Reproduzierbarkeit von Wissen, das nun in die ganze Welt getragen werden konnte.« Recht unkritisch bedient diese durch und durch falschen Vorstellungen auch mancher wissenschaftliche Beitrag, wie z. B. Rothmann: »Das trojanische Pferd der Deutschen«. Knapp: »Chevalier errant«, S. 5.
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bedeutender Einzeluntersuchungen nicht vergönnt, sich als Hilfswissenschaft für die textorientierte historische oder philologische Forschung interdisziplinäre Anerkennung zu verschaffen.19 Fragen der Typenzuweisung, der Wasserzeichen und der Einbandkunde bestimmen denn auch ihr wichtigstes Fachorgan, das Gutenberg-Jahrbuch, bis weit in das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts.20 Veränderungen gegenüber älteren Epochen sind vor allem an der Diskussion des Bild-Text-Verhältnisses spürbar, die (ohne dass dies intendiert war) ein dämmerndes neues mediales Bewusstsein markieren.21
2 Exkurs: Paul Saenger Die von McLuhan präsentierte Vorstellung, dass »die Lesenische des mittelalterlichen Mönches [...] in Wirklichkeit eine Singzelle« gewesen sei, deren auditive Welt durch den Buchdruck in eine visuelle verwandelt worden sei,22 ist eine Konstante der Betrachtung der ›Medienrevolution‹ geworden. Zum Beweis dieser sehr problematischen Vorstellung führt McLuhan absurderweise das 48. Kapitel der Regula Benedicti23 aus dem 6. Jahrhundert an, wo es im 5. Abschnitt heißt, die Brüder sollten sich nach der Sext »cum omni silentio« auf ihr Lager legen: »post sexta autem surgentes a mensa pausent in lecta sua cum omni silentio aut forte, qui voluerit legere sibi, sic legat, ut alium non inquietet«.24
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Möglichkeiten und Grenzen einer auf den Frühdruck als solchen beschränkten Forschung lassen sich – ohne dass dies Gegenstand des vorliegenden Beitrages sein kann – am Sammelband Bünz: Bücher, Drucker, Bibliotheken ablesen. Zur Parallelität zwischen Handschrift und Druck trägt der Band nichts bei. Vgl. Füssel: Gutenberg-Forschung. Vorsichtige Ausbrüche versuchen zwei Altmeister: Milde, Wolfgang: Metamorphosen im Jahrgang 70 (1995) und Brandis, Tilo: Handschrift zwischen Mittelalter und Neuzeit im Jahrgang 72 (1997). Im gleichen Band wurde die Rubrik ›Neue Medien‹ eingeführt, die sich primär mit Fragen der Digitalisierung alter Drucke beschäftigte. Der Jahrgang 73 (1998) bringt mit den kurzen Beiträgen von Lotte Hellinga und Steingrímur Jónsson Beiträge zum ›Medienwechsel‹ von 7 bzw. 5 Seiten; zwei Jahre später folgt als erster ausgearbeiteter Beitrag Kurt Flasch mit »Ideen und Medien. Oder: Gehört Gutenberg in die Geschichte der Philosophie?« mit immerhin 13 Seiten. Das GJ 76 (2001) räumt erstmals der Frage breiteren Raum ein (vgl. vor allem die Beiträge von Hellinga, Raabe und Duggan). Dabei wird die Vorstellung einer ›Ablösung‹ der Handschrift durch den Druck nicht hinterfragt. Sehr schön hierzu Selig: Inkunabelillustration. McLuhan: Gutenberg-Galaxis, S. 116. Vgl. insgesamt Weissenberger: Die Regula Magistri, S. 51–62. Benedictus de Nursia: Regula Benedicti, S. 184f: »will aber einer für sich lesen, dann lese er so, daß er keinen anderen stört«.
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Nur scheinbar führten die Forschungen von Saenger hier zu größerer Klarheit. Saenger bemühte sich, die älteren Forschungen von Henry J. Chaytor und Lynn White durch quellengestützte Analysen des Übergangs vom lauten zum leisen Lesen zu ersetzen. Dass es überhaupt einen solchen signifikanten Übergang gegeben hat, stellt er nicht in Frage, obschon doch die Regula Benedicti schon für das 6. Jahrhundert die Praxis des stillen Lesens verbürgt25 und man eher von einem Nebeneinander der Lesepraktiken ausgehen sollte. Umgekehrt ist auch nach der Durchsetzung einer graphischen Worttrennung und selbst nach der Verbreitung des Buchdrucks das laute Lesen eine Selbstverständlichkeit. Dies gilt nicht nur für rituell bedingte Öffentlichkeit wie in der Messfeier oder der Verlesung von Proklamationen und Erlassen. Die Epen von Friedrich Gottlieb Klopstock, Christoph Martin Wieland oder Goethe sind zu keinem anderen Zweck geschaffen worden, und auch Friedrich Schillers Glocke eignet sich besser zum Deklamieren als zum stillen Lesen. So muss man sich in beiden Richtungen von McLuhans Vorstellung verabschieden: ostentatives lautes Lesen gab es auch in der Neuzeit, stilles Lesen war auch in Spätantike und Mittelalter wohl geübte Praxis. Eine adäquate Auflösung dieses Komplexes bleibt jedoch Forschungsdesiderat. Doch abgesehen von dieser allgemeinen Kritik ist Saengers Darstellung von einer erschreckenden Unkenntnis des kontinentalen Handschriftenerbes geprägt. Er will die Worttrennung durch das Spatium, die er für den analysierten Prozess für maßgeblich hält, ab der zweiten Hälfte des 10. Jahrhundert durch die angelsächsische Mission eingeführt sehen.26 Es wäre müßig, hier eine Liste von karolingischen Handschriften des frühen 9. Jahrhunderts aus St. Bertin27, Reims oder St. Gallen28 abzudrucken, die
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Saenger: Space between words, S. 202, erwähnt eher beiläufig, dass im 10. Jahrhundert angelsächsische Handschriften der »Regula« bzw. verwandter monastischer Regeln wegen der in ihnen verwandten Wortrennung »private prayers« und »individual reading« auch auf dem Kontinent verstärkt hätten. Die pragmatische Schriftlichkeit, die für die Geschichte des Lesens unerlässlich ist, bleibt ohnehin unberücksichtigt. Vgl. Saenger: Space between words, S. 120–130, unter der Überschrift »The Origins of Continental Word Seperation, 950–1300«. Westphal: Wolfenbütteler Psalter, S. 211–246, zeigt Abbildungen nicht nur der Herzog August Bibliothek (HAB) Wolfenbüttel, Cod. guelf. 81.17 Aug. 2° aus dem frühen 9. Jahrhundert, sondern auch von Vergleichshandschriften der Zeit. Das einzige Beispiel von ›scriptura continua‹ findet sich auf S. 231, Abb. 93, im sog. Burkhard-Evangeliar der UB Würzburg (M. p. th. fol. 68). Es ist insularen Ursprungs. Vgl. den Abbildungsteil bei von Scarpatteti: Schreiber-Zuweisungen, nach S. 48 mit Urkundenschriften des 8. und 9. Jahrhunderts, von denen keine auch nur im Ansatz Unsicherheit im Gebrauch des Spatiums verrät. Vielmehr herrscht eine hohe Ausdrucksvarietät
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ohne Einschränkung eine voll entwickelte Worttrennung durch Spatien verwenden. Ich nenne als Übergangsform mit noch inkonsistenter Worttrennung die in einer merowingischen Halbunziale abgefasste Konzilienhandschrift SBPK Berlin, Ms. Phill. 1745 aus dem 7./8. Jahrhundert.29 Damit dürfte klar sein, dass die Worttrennung durch Spatien weder eine insulare Erfindung war noch von dort in die Nachfolgestaaten des Reiches Karls des Grossen importiert wurde.
3 Michael Giesecke Die Habilitationsschrift von Giesecke über den Buchdruck in der frühen Neuzeit verstand sich – so der Untertitel – als »historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien«. Die bearbeitete zweite (Taschenbuch-)Ausgabe ist als die maßgebliche anzusehen (die Erstausgabe erschien 1991). Obschon mit fast 1000 Seiten kein Objekt für eilige Leser traf sie doch den Nerv der Zeit. Sie schien insgesamt dazu angetan, die Erforschung des Frühdrucks zu einer universellen kulturhistorischen Relevanz zu führen und damit die vom ›Medienumbruch‹ des späten zwanzigsten Jahrhunderts gestellten Fragen zu beantworten. Damit dürfte der Arbeit ein wahrlich nicht geringfügiges wissenschaftsgeschichtliches Verdienst anzurechnen sein. Die Frühdruckforschung erhob hier erstmals den Anspruch auf umfassende kulturgeschichtliche Bedeutung, nachdem sie sich über ein Jahrhundert lang auf nach außen nur schwer vermittelbare Detailfragen konzentriert hatte. Möglicherweise erschöpft sich die Bedeutung von Gieseckes Buch jedoch genau darin, dass es eine stille und bis dahin wenig beachtete (und vielleicht auch wenig geachtete) Forschungsdisziplin ins Rampenlicht brachte. Die Fachwissenschaften selbst waren skeptisch; ihre Rezensenten haben manche harten Dinge gesagt.30 Ich greife die pointierte Besprechung heraus, die Ulrich Knoop31 1995 in der Zeitschrift für deutsches Altertum und
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gegenüber dem modernen Schriftbild, da die Worte kalligraphisch aufeinander bezogen werden können und zusätzlich neben dem Spatium auch eine Punktation möglich ist. Abbildung bei Degering: Die Schrift, Tafel 34. Alle späteren dort gegebenen kontinentalen Schriftbeispiele verwenden eine saubere Spatiensetzung. So Green: [Rezension zu Giesecke, Buchdruck]. Weitere Rezensionen wurden in Auswahl vom Autor auf seiner Webseite zusammengestellt unter http://www.michael-giesecke.de/ giesecke/dokumente/buchinfo/3/buchdrez.html [27.07.2007]. Der Verfasser gehört nicht dem engeren Kreis der Buch- und Handschriftenforschung an. Als Professor für Deutsche Sprache und Literatur des Mittelalters an der Albert-LudwigsUniversität Freiburg ist er besonders mit Beiträgen zur historischen Dialekt- und Wortfor-
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deutsche Literatur veröffentlichte. Sie galt zwar der ersten Auflage des Buchs, hat jedoch nicht entscheidend auf den späteren Neusatz eingewirkt. Knoop räumt ein, Giesecke könne »zu einer umfassenderen, weiter ausgreifenden Erklärung beitragen, als es bislang mit den binnenphänomenologischen Betrachtungen geleistet worden ist«, nach einer knappen Inhaltsübersicht sagt er sogar: »Ein interessanter Entwurf ist gegeben.«32 Doch ist dies wohl nur rhetorisch zu verstehen, denn er fügt gleich seinen Zweifel an: Übertragungen moderner auf ältere Verhältnisse sind von hohem Risiko. Sie erfordern eine präzise Begrifflichkeit und eine interpretatorische Feinfühligkeit; vorausgesetzt werden also profunde Kenntnisse der jeweiligen Sachverhalte und Zusammenhänge. Ob das überhaupt zu leisten ist, sei dahingestellt.33
An einer Reihe von Beispielen macht Knoop klar, dass Gieseckes Darstellung hier Defizite aufweist und kommt zu einem harten Schluss: Gieseckes Darstellungen und Wiedergaben wissenschaftlicher Ergebnisse und seine Schlussfolgerungen bilden insgesamt ein Knäuel halbrichtiger bis falscher Angaben zu allem, was er angeht, so dass er ganz unwillkürlich bei einem Behauptungsgestus für seine innovativ gemeinten medientheoretischen Betrachtungen ankommt. Dieser wird am Ende des Buches fast beschwörend, wenn er in zahlreichen Argumentationsschleifen immer noch einmal und noch einmal zusammenfaßt [...] und schließlich auch damit erst eine ›Ahnung‹ von der typographischen Kultur geben will. Dieser Behauptungsgestus resultiert aus einer erheblichen Unsicherheit im Umgang mit den Voraussetzungen und Erfordernissen einer wissenschaftlichen Darstellung.34
Eine Reihe von Beispielen kann auch das erläutern: »Das alles ist mehr als ärgerlich; es zeigt, dass Gieseckes Angaben nicht verlässlich sind, ja in Teilen unsolide.«35 Es wäre sinnlos, alle Vorwürfe hier noch einmal zu referieren; nur soviel: Die Ergebnisse der Alphabetisierungsforschung, Leseforschung, Auflagen- und Stückzahlbestimmung ignoriert Giesecke weitgehend; bei der Bestimmung der DruckTagesleistung ergeben sich unsinnige Summen (Bogen/Seitenverwechslung; keine Einrichte- und sonstige Bearbeitungszeiten, S. 329). Ist der Buchdruck eine Medienrevolution? Später ja, aber nicht zur Zeit seiner Erfindung.36
Der wichtigste Kritikpunkt bei Georg Jäger und anderen Rezensenten war, so denke ich, dass Giesecke so ziemlich alle kulturgeschichtlichen
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schung und zum mittelhochdeutschen Tagelied hervorgetreten. In die Nähe der Buchgeschichte trat er durch: Baurmann/Günther/Knoop: Homo scribens. Alle Zitate: Knoop: [Rezension zu Giesecke, Buchdruck], S. 463. Knoop, S. 463. Knoop, S. 466. Knoop, S. 467. Knoop, S. 467. Noch abwehrender Stein: Schriftkultur S. 174f.
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Prozesse seit 1450 auf die eine Technik des Drucks mit beweglichen Lettern zurückführt, nicht zuletzt die Reformation und das Nationalbewusstsein der europäischen Völker. Diese Vorstellung basiert – ohne dass dies in gebührender Form kenntlich gemacht würde – auf McLuhan. Giesecke bemüht sich allerdings, McLuhans essayistische Beschreibung durch eine wissenschaftliche zu ersetzen. Darum wird der nach Science-Fiction schmeckende Terminus einer ›Gutenberg-Galaxis‹ durch den (pseudo-) humanistischen Begriff des ›Typographaeums‹ ersetzt, dem als dialektisches Alter Ego das ›Skriptorium‹ gegenübertritt. Im Bereich der Adjektive wird das Gegensatzpaar ›typographisch – skriptographisch‹ kreiert. Auch sonst ist Gieseckes Sprache gewöhnungsbedürftig und in den Rezensionen oft als unangemessen angegriffen worden, da sie sich aus der seinerzeit aktuellen, zwischenzeitlich jedoch oft bereits wieder obsoleten, ITTerminologie speist.37 Umgekehrt konnte diese Sprachverschiebung in den meist euphorischen Besprechungen der Feuilletons starken Beifall evozieren. Doch ist nicht nur die sprachästhetische Anlage des Buchs fragwürdig; mehr noch ist es eine methodische Grundentscheidung, die ernstliche Zweifel an der Wissenschaftlichkeit des Gesamtwerks aufkommen lassen muss: Da weniger das Weiterbestehen mittelalterlicher Strukturen als vielmehr deren kommunikative R e f o r m a t i o n beschrieben werden soll, konnte – zumindest für den deutschsprachigen Bereich – auf lateinische Quellen weitgehend verzichtet werden. Es gibt bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts keine informationstechnische Innovation, bei der nicht (auch) auf die Volkssprache zurückgegriffen wurde. Das häufig zu hörende Argument, das volkssprachliche Schrifttum sei zahlenmäßig so gering gewesen, daß seine Wirkung nicht so erheblich sein könne, steht empirisch auf wackligem Grund und liegt neben der Fragestellung dieser Arbeit: Es geht hier um die Hefe, nicht um das Mehl.38
Die Wortkette ›Mittelalter – Latein – Mehl‹ bzw. dazu im Gegensatz die Kette ›kommunikative Reformation – Volkssprache – informationstechnische Innovation‹ – sind ideologisch fundiert39 und von der Sprachenrealität des frühen 16. Jahrhunderts, und zwar ebenso der geschriebenen wie 37
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Knoop, S. 464, spricht von bereits wieder veralternden ›Plastikwörtern‹. Behringer: [Rezension zu Neddermeyer: Von der Handschrift], S. 480, moniert, dass Giesecke »jede Banalität in seinen zwischen Kybernetik und Postmoderne angesiedelten newspeak zu übersetzen« bemüht sei. Giesecke: Buchdruck, S. 25. Vgl. Fink: Das Auge kann hören, S. 15–20 (nicht ganz fehlerfrei). Hinzu tritt die traditionelle lutherische Geschichtsbetrachtung, die mit der Reformation eine weltgeschichtliche Zäsur ansetzt und – im völligen Widerspruch zu den Ansichten Luthers oder Melanchthons – die vermeintlich der Reformation näher stehende gedruckte volkssprachliche Literatur der vermeintlich katholisch-reaktionären lateinischen Literatur voranstellt.
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der gedruckten weit entfernt. Mit dem von Giesecke konstruierten ahistorischen Ausdruck »kommunikative Reformation« im Gegensatz zu »mittelalterlichen Strukturen« wird die historische, kirchliche Reformation vor den Karren einer Kulturentwicklung gespannt, deren Wirklichkeit doch erst zu beweisen wäre. Hier fällt Giesecke weit hinter McLuhan zurück. Der Buchdruck ist auch nicht primär durch die deutsche volkssprachliche Literatur vorangetrieben worden: wie hätten sonst Druckorte wie Paris, Venedig oder Lyon so rasch und dauerhaft etabliert werden können. Gerade weil Giesecke eine Technik untersuchen will, ist ein sprachliches Selektionskriterium auch ganz und gar unzulässig. Und gerade weil er fast 90 % der zwischen 1450 und 1550 geschriebenen oder gedruckten Texte ohne jede sachliche Prüfung alleine aufgrund einer Phrase von Hefe und Mehl ausschließt, steht seine eigene Untersuchung »empirisch auf wackligem Grund«. Da hilft es wenig, wenn er selbstkritisch anfügt: Manches Mal werde ich Informationen als repräsentativ behandeln, die sich bei späterer Prüfung und aus der Sicht von Forschern, die einen etwas anderen Zugang gewählt haben, als einseitig und peripher herausstellen. 40
Als eine zentrale historische Aussage tritt hervor, dass Giesecke glaubt, der Buchdruck habe ein weit größeres Publikum erreicht als gemeinhin angenommen. Es habe eben nicht nur aus auf Lateinschulen ausgebildeten Klerikern, Adligen, Großkaufleuten und Universitätsangehörigen (i. w. S.) bestanden […]. Zum Normalfall des Empfängers typographischer Informationen wird der ›gemein man‹ oder ›yederman‹, wie man sich im deutschen Sprachraum in der frühen Neuzeit ausdrückte.41
Als Beleg hierfür wird die enorm steigende Zahl von Titeln der Wissensliteratur, ja von Wissenschaftlichkeit überhaupt herangezogen. Aber beginnt diese Entwicklung wirklich erst nach der Erfindung des Buchdrucks oder nicht viel früher? Anders herum, und damit nahe an der Kritik, die Jäger geäußert hat, war die Wissenschaftlichkeit des 15. und 16. Jahrhunderts Voraussetzung oder Folge der Ausbreitung des Buchdrucks? Welche Rolle misst Giesecke den Handschriften nach Gutenberg bei? Eher gelegentlich und ohne die in seiner Aussage enthaltene Hierarchisierung zu thematisieren, bemerkt er bei der Analyse der komplexen Arbeitsschritte der Drucktechnik: »Das Typographaeum kennt ebenfalls nur eine Eingabeform: das Manuskript. Es setzt insoweit Schreibstuben, zumindest deren Minimalform, das Einmannskriptorium, voraus.«42 Aber ist bei einer 40 41 42
Giesecke: Buchdruck, S. 25. Giesecke, S. 404. Giesecke, S. 89.
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solchen fundamentalen Abhängigkeit überhaupt eine Trennung der ›Medien‹ sinnvoll? Giesecke hebt ja auch zu Recht hervor, dass die Rezeption handgeschriebener und gedruckter Texte gleichermaßen als ›Lesen‹ bezeichnet wird (was für die Epigraphik aber auch gilt, die er nicht berücksichtigt). Diesen Befund weiß er zu beseitigen, indem er – wie McLuhan vor ihm43 – darauf verweist, »daß vor der Einführung des Buchdrucks überwiegend ›lautierend‹ gelesen wurde. Man nutzte, wie noch heute jedes Kind beim ›Buchstabieren‹, im Erstleseunterricht, die Artikulationsorgane im Dekodierungsprozeß.«44 Abgesehen davon, dass hier unzulässig Lautier- und Buchstabiermethode als Erstlesemethoden durcheinander geworfen werden, ist eine Bindung des Wechsels vom lauten bzw. murmelnden Lesen zum stillen Lesen an den Buchdruck quellenmäßig nicht belegt, sogar eher unwahrscheinlich – ich erinnere an die Regula Benedicti. Man sieht jedenfalls klar, dass das Lesen handschriftlicher Texte in Gieseckes Welt (ohne dass dies thematisiert würde) als etwas untergeordnetes gilt, und demnach schon im 16. Jahrhundert Merkmal einer vergangenen Zeit gewesen sein müsste. An anderer Stelle verweist Giesecke auf Augsburg, wo »in dem Augsburger Stift Sankt Ulrich und Afra«45 Skriptorium und Druckerei nebeneinander betrieben wurden und wo der Abt Melchior von Stammheim den Streit mit den Vertretern der Schreiberzunft zu schlichten wusste. Ein guter Hinweis, aber es folgt nichts daraus. Giesecke wechselt zum Sponheimer Abt Trithemius, der »einer der wenigen« gewesen sei, »der im ausgehenden 15. Jahrhundert noch eine Lanze für die alten Medien brechen mochte« – eine stumpfe Lanze überdies, wie Giesecke in Übereinstimmung mit Hans Widmann befindet.46 Handschriften spielten also, so darf man auch aus diesem kurzen Exkurs folgern, keine Rolle mehr. Im Gefolge Gieseckes sind mehrere Versuche unternommen worden, Gutenbergs Erfindung und die Verbreitung von Ablassbriefen in eine 43
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McLuhan wird bei Giesecke: Buchdruck, S. 706 (also im Anmerkungsteil) breit zitiert, in der hier maßgeblichen S. 714 Anm. 41 aber nicht; vgl. demgegenüber McLuhan: Gutenberg-Galaxis, S. 116–119. Zur Frage allgemein: Saenger: Silent Reading; Scholz: Hören und Lesen; Curschmann: Hören – Sehen – Lesen; Bäuml: Varieties and Consequences; Wenzel: Partizipation. Giesecke: Buchdruck, S. 89f. Giesecke, S. 182. Bei St. Ulrich und Afra handelt es sich jedoch um kein Stift, sondern um eine Benediktinerabtei, was schon daran zu erkennen ist, dass sie von einem Abt geleitet wurde. Der genannte Melchior von Stammheim (Abt 1458–1474), der möglicherweise Günther Zainer nach Augsburg holte, war ein entschiedener Vertreter der Melker Reform. Vgl. insgesamt Künast: Die Augsburger Frühdrucker. Giesecke, S. 182–184.
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kausale Verbindung zu bringen und dabei Nikolaus von Kues zu treibenden Kraft zu erheben.47 Dabei wird mit sprachgeschichtlich unhaltbaren48 Hypothesen gearbeitet, die einmal mehr die Bedenklichkeit der gesamten Methode zeigen. Die Wortgeschichte des lateinischen Verbes ›exprimere‹, das bereits in frühmittelalterlichen Papsturkunden mit der Bedeutung ›herausbringen‹ und dementsprechend ›veröffentlichen‹ verwendet wird, und so auch auf die Herausgabe neuer Bücher oder Ablassbriefe übertragen wurde, bedeutet im 15. Jahrhundert nicht ›drucken‹, sondern nimmt diesen Nebensinn erst allmählich an.
4 Ivan Illich Eine völlig abweichende Position nimmt der Essay In the vineyard of the text von Illich ein. Im französischen Buchmarkt wird das Bändchen unter dem Titel L’ere du livre vertrieben, auf deutsch fügte man einen erklärenden Untertitel hinzu: Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand.49 Illich legt die Zäsur zwischen einem eher liturgischen – und darum mit murmelndem Selbstvortrag verbundenen – Lesen und dem modernen Textverständnis, dem sich das leise Lesen zugesellt, ins frühe zwölfte Jahrhundert, eine Bindung an den Buchdruck lehnt er entschieden ab. Da seine klugen Darlegungen eng an den Prolog zum Didascalion des Hugo von Saint-Victor angelehnt sind, kommt ihnen ein höherer Überzeugungswert zu als den meist aus zufälliger Sekundärliteratur genährten Thesen McLuhans oder Gieseckes. »Wenn ich recht habe«, so Illich, »war die Erfindung der beweglichen Lettern das auffälligste Ereignis innerhalb einer übergreifenden Epoche, des Zeitalters des biblionomen Textes.«50 Es geht um die Abstraktion eines ›Textes‹, der unabhängig vom jeweiligen Überlieferungsträger existiert. Dieser ›Text‹ ist eine platonische Idee, ein Universalium im scholastischen Sinne. Damit traten nach Illich die Buchstaben des Alphabets von der Bindung an die lateinische Sprache zurück, die Volkssprache wurde auch aufschreibbar. Auch wenn ich diese These für allzu verkürzt halte (volkssprachliche Texte gibt es bereits im 9. Jahr47 48 49 50
Sprenger: »volumus tamen« und Emmrich: St. Viktor. Über die Bekanntschaft von Gutenberg und Cusanus spekuliert schon Kapr: Johannes Gutenberg, S. 57–60. Ausführlich hierzu Mentzel-Reuters: [Rezension zu Sprenger: »volumus tamen«]. Ausführlich hierzu Mentzel-Reuters: [Rezension zu Sprenger: »volumus tamen«], S. 287. Obschon Illichs Essay 1991 erstmals publiziert wurde, erwähnt Giesecke das Werk auch in der erweiterten Fassung seines ›Buchdrucks‹ von 1998 nicht. Illich: Im Weinberg, S. 123f.
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hundert, volkssprachliche Glossen seither immer), demontiert sie indirekt ein weiteres Kernstück des McLuhan’schen System – und damit auch des Giesecke’schen, die sich auf die Verbreitung der Volkssprache durch den Buchdruck viel zugute halten.
5 Uwe Neddermeyer Bei so viel spekulativer Grundlagenforschung war es nur eine Frage der Zeit, dass sich der Positivismus der Frage annahm. Dieser trat in Gestalt des Kölner Historikers Uwe Neddermeyer auf den Plan. Seine 1998 in der Reihe des Deutschen Bucharchivs in München erschienene Habilitationsschrift Von der Handschrift zum gedruckten Buch. Schriftlichkeit und Leseinteresse im Mittelalter und in der frühen Neuzeit bringt es auf 972 Seiten, wobei nicht ganz die Hälfte davon von Tabellen, Abbildungen und Registern gefüllt werden. Bei der Breite der Darstellung und der aufgeworfenen Themen und Thesen ist es nicht leicht, eine zentrale Aussage des Werks zu formulieren. Heike Talkenberger nimmt folgende Kernthese an: Der durchschlagende Erfolg des Buchdrucks ist vor allem darauf zurückzuführen, daß Bücher nun billiger, leichter verfügbar und schneller herstellbar waren. Der größte Teil der Erstdrucke war dabei lateinisch, Hauptabnehmer […] war noch immer der Klerus. […] Mit der Reformation […] veränderte sich das Gefüge des Buchmarkts grundlegend […] Lesen wurde zur Christenpflicht, Bücher immer mehr zur Gebrauchsware. […] Dabei war die Lesefähigkeit der Rezipienten bereits vorher vorhanden, wie Neddermeyer nachweist, wurde also nicht erst – wie oft behauptet wird – durch die Reformation erzeugt. […] Die wohlbegründete Hauptthese Neddermeyers, daß Gutenbergs Erfindung keine kulturelle Revolution darstellte, sondern nur eine wesentliche Beschleunigung der Entwicklung des Buchs zum Gebrauchsgegenstand brachte, verdient große Beachtung, vor allem angesichts einer Tendenz zur Überbetonung des technischen Faktors für die historischen Abläufe.51
Dem wird kaum jemand widersprechen. Derartige Einsichten sind jedoch nicht erst seit Neddermeyer bekannt. ›Das Buch‹ war zum einen schon lange Gebrauchsware (wie anders soll man die bis zur Unleserlichkeit verkürzten und gedrängten Sammelhandschriften des fünfzehnten Jahrhunderts charakterisieren?) und blieb zum anderen bis zum heutigen Tag 51
Talkenberger: [Rezension zu Neddermeyer: Von der Handschrift], S. 441. Talkenberger stützt sich auf Neddermeyer: Von der Handschrift, S. 457, wonach Gutenberg keine neue Entwicklung begründete, sondern den »Kulminationspunkt eines langfristigen Aufschwungs« markiert.
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Repräsentationsobjekt – eben weil ›das Buch‹ ein sehr problematischer Sammelbegriff für schriftlich niedergelegte Information ist, der nicht einmal durch die Codexform hinreichend beschrieben werden kann.52 Neddermeyers Untersuchung ist oft rezensiert und dabei als beruhigender Kontrast zu Gieseckes sprachlichen Eigentümlichkeiten empfunden worden.53 Dennoch gibt es gewichtige Kontinuitäten. Wie McLuhan und Giesecke setzt Neddermeyer ein ›Manuskriptzeitalter‹ an. Er setzt diesen Terminus zwar in Anführungszeichen, verwendet ihn aber ohne weitere Diskussion synonym mit der »Buchkultur vor Erfindung des Buchdrucks«54. Ein Weiterleben über diese Erfindung hinaus scheint fraglich. Der Hang zur schematischen Epochengliederung belastete schon frühere Untersuchungen des Autors zu diesem Thema.55 Wenngleich auch hier gelegentlich ein aufgeblasenes kommunikationstheoretisches Arsenal zum Einsatz kommt, ist Neddermeyer vor allem darauf aus, exakte – bzw. als exakt deklarierte – Mengengerüste zu präsentieren und so die Kopflastigkeit zu reduzieren. Er will zeigen, wie sich die Handschriftenproduktion entwickelte, wie sie gegen und neben dem Buchdruck bestand bzw. zurückging, und dies keineswegs pauschal, sondern auf bestimmte Werkgruppen aufgeteilt. Dieser Ansatz ist zweifellos interessant – aber das Ergebnis stimmt wenig zufrieden. Der statistische Ansatz ist zum Scheitern verurteilt, weil sich keine verlässlichen Zahlen ermitteln lassen. Diese Unmöglichkeit wurde gleich doppelt nachgewiesen: Einmal von Günther Görz und Ursula Rautenberg aufgrund einer Kritik der angewandten stochastischen Methode: Das Inventar der statistischen Methoden bleibt auf die deskriptive Statistik beschränkt, das statistische Instrumentarium ist traditionell. Hinzu treten nicht unproblematische Hochrechnungen. Auf S. 69 wird z.B. ein Faktor 15 als Verlustrate angegeben; die Begründung ›hauptsächlich wegen der größeren Anschaulichkeit‹ ist aber wohl kaum als stichhaltig zu bezeichnen. Allgemein fällt auf, daß das Datenmaterial weitreichend interpretiert wird, wo doch strikte statistische Testverfahren einschließlich einer Fehlerbetrachtung – eine solche ist nirgendwo zu finden – einzusetzen gewesen wären.56
52 53 54 55 56
Vgl. Rautenberg: Buch, S. 84. Vgl. etwa Behringer: [Rezension zu Neddermeyer: Von der Handschrift], S. 480. Neddermeyer: Von der Handschrift, S. 300 und passim im Abschnitt »Manuskripte und Drucke« (S. 308–388). Neddermeyer: Buchzeitalter. Görz/Rautenberg: Medienwechsel.
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und von mir aufgrund einer Analyse der zugrunde gelegten Quellenwerke: Vieles, das uns in den Handschriftenabteilungen und ihren Katalogen entgegentritt, gilt uns aber nur deshalb auch als ›Buch‹, weil bis weit ins 16. Jh. hinein die Grenze zwischen einer Textabschrift und ›Manuskripten‹ im modernen Sinn nicht ausgebildet war. Vor allem bei juristischen oder historiographischen Texten selbst größeren Umfangs ist jedoch nach 1450 damit zu rechnen, daß sie heute gar nicht als ›Buch‹, sondern als Archivalie verstanden werden und damit aus dem Blickfeld des Buchwissenschaftlers (als der sich N. versteht) entschwinden. Selbst bei nicht-pragmatischer Schriftlichkeit gibt es diesen Veränderungsprozeß. Er macht eine rein quantitative Vergleichung von ›Handschriftenproduktion‹ und ›Druckproduktion‹ unmöglich.57
Hanns Peter Neuheuser, der von allen Rezensenten Neddermeyers Arbeit noch am positivsten wertet, hat beide Kritikpunkte vorweggenommen, jedoch mit begütigenden Formeln beseite geschoben: »Zweifellos hat Neddermeyer diese Problematik aber hochsensibel angefasst und sein Werk auf ein Fundament langwieriger Auszählarbeit und sonstigen mit Fleiß behafteten Vorarbeiten gebaut, das kaum überschätzt werden kann«. Der Fleiß kann aber die Haltbarkeit der gemachten Behauptungen nicht garantieren und die Tauglichkeit der ausgewerteten Quellen nicht erhöhen; vollends auf der Flucht ist der Rezensent, wenn er etwa eine Spalte später ausführt: »Hoffentlich setzt sich der Autor mit seinem vom Rezensenten nicht überprüften Zahlenwerk nicht allzu sehr einer mathematischstatistischen Kritik aus.«58 Die mathematisch-stochastische Überprüfbarkeit ist a priori die Natur eines Zahlenwerks – oder es ist wertlos. So verrennt sich Neddermeyer in absurde Zahlengerüste, die allesamt auf unhaltbaren Grundwerten beruhen. Viele Einzelbeobachtungen verdienen ganz ohne Zweifel eine weitere Verfolgung, aber als Ganzes ist die Untersuchung mehr schädlich als nützlich, weil sie falsche Gewissheiten suggeriert. Dementsprechend war die Kritik, die über Neddermeyer hereinbrach, harsch und abweisend. Ihr ist es auch wohl zuzuschreiben, dass der Untersuchung nach anfänglich guter Aufnahme eine vergleichsweise schwache Rezeption in der Forschung zuteil wurde. Eine Ausnahme bildet das Buch Schriftkultur von Peter Stein, der die ›exakten‹ Prozentzahlen von Neddermeyer unkommentiert heranzieht, daraus jedoch Schlüsse zieht, mit denen er sich weit entfernt von dem, was Neddermeyer selbst beabsichtigte: Nach dem Höhepunkt von 1470 ging die Produktion von Handschriften bis 1490 um ca. 70 % zurück und betrug nach 1520 nur noch ca. 10–15 % des Niveaus der 1460er Jahre. Vom Beginn des 16. Jh. an war der Begriff ›Manuskript‹ nicht mehr die Bezeichnung für ein (handgeschriebnes) Buch, sondern nur noch für die Vorform eines 57 58
Mentzel-Reuters: [Rezension zu Neddermeyer: Von der Handschrift], S. 137. Neuheuser: [Rezension zu Neddermeyer: Von der Handschrift], S. 112.
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gedruckten Buches. Damit war das Ende des Manuskript-Zeitalters erreicht: Die klösterlichen Skriptorien gingen ein bzw. wurden […] in Druckereien umgewandelt.59
6 Interdisziplinäre Einzelstudien Von kaum abschätzbarem Wert für die Bewertung spätmittelalterlicher Buchproduktion ist die Arbeit von Lieselotte Saurma-Jeltsch über die oberrheinische Werkstatt von Diebold Louber (oder Lauber). Die Werkstatt wird traditionell als Beleg für die einsetzende Frühindustrialisierung verstanden, die in mancher Hinsicht bereits die Produktions- und Vertriebstechniken des Buchdrucks vorwegnahm. Insofern kam Louber eine wichtige Funktion bei der Festlegung der geraden Entwicklungslinie vom nicht kommerzialisierten handschriftlichen zum ausschließlich gewerbsmäßig vertriebenen gedruckten Buch zu; eine Erschütterung dieser These muss unweigerlich auch auf das Gesamtbild Auswirkungen haben. In ihrem Untersuchungsteil kann Saurma-Jeltsch zeigen, dass es sich nicht, wie bisher angenommen, um eine von 1420 bis 1474 kontinuierlich bestehende ›Werkstatt‹ gehandelt hat, sondern um wesentlich freiere Strukturen, die sich erst aus der Analyse der komplizierten Fertigungsprozesse rekonstruieren lassen. Dabei muss offen bleiben, ob es sich während des (für eine einzelne Leitungspersönlichkeit bedenklich langen) Zeitraums von fünfzig Jahren stets um den gleichen Organisator handelte und ob die Produktionsstätte kontinuierlich am gleichen Ort angesiedelt war; selbst die zentrale Organisation als solche kann nicht für den gesamten Zeitraum nachgewiesen werden. Das Bemühen um eine ›Verortung‹ der Buchherstellung führt Saurma gelegentlich zu fragwürdigen Ergebnissen. Da keine Louber betreffenden Archivalien überliefert sind, muss sich die Rekonstruktion alleine auf die erhaltenen Handschriften stützen und sich damit bescheiden, dass nicht genau zu ermitteln ist, wie die Unternehmensstrategie konzipiert und umgesetzt wurde. Sätze wie »Man könnte hier von einer Art Teilvorratsproduktion insofern sprechen, als die Werke mit einem ungefähr berechenbaren Risiko für eine zwar nicht namentlich, aber zahlenmäßig und als soziale Schicht bekannte Kundschaft hergestellt wurden«60 haben eine gewisse Plausibilität, müssen aber immer mit dem Vorbehalt versehen werden, dass es auch ganz anders gewesen sein könnte. 59 60
Stein: Schriftkultur, S. 175; als Quelle ist einzig Neddermeyer angegeben. Saurma-Jeltsch: Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung, Bd. 1, S. 108.
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Der zweite Band wird von einem Katalog der erhaltenen Handschriften gefüllt, der die Quellenorientierung der Untersuchung eindrucksvoll unterstreicht. Es werden ca. 90 Handschriften beschrieben, die der ›Werkstatt‹ Lauber zuzuordnen sind. Die Beschreibungstechnik entspricht den Prinzipien von Katalogen illuminierter Handschriften, die Literaturangaben sind sehr breit angelegt, der Abbildungsteil ist schlichtweg hervorragend. Im Zusammenhang mit einem solchen werkstattbezogenen Katalog ist die akribische Bestimmung der Wasserzeichen, die sonst eher skeptisch zu beurteilen wäre, unabdingbar. Folgerichtig kann im Untersuchungsteil aus der Diskontinuität der anliefernden Papiermühlen ein Hinweis auch auf die Diskontinuität der Werkstatt gewonnen werden.61 Eine Synthese unterschiedlicher Ansätze versucht Hans E. Braun, früherer Leiter der Bodmeriana in Genf-Cologny.62 Es handelt sich um einen Überblick, dem man manche Vereinfachung zugute halten muss – so zitiert er zwar die Arbeit von Saurma im bibliographischen Apparat, referiert aber im Text das ungebrochene traditionelle Bild »einer manuellen, gewinnorientierten, seriell arbeitenden Buchwerkstätte«.63 Zum engeren Thema dieses Beitrags weist Braun darauf hin, dass es »anfangs [...] Überschneidungen von Chirographie und Typographie«64 gab, »Drucke mussten handschriftlich ergänzt werden, weil der Zweifarbendruck [...] zu aufwendig war«, ja »Drucke wurden, wohl aus Kostengründen, handschriftlich rückkopiert«, schließlich verweist er noch auf »eindrückliche Symbiosen [...] aus der Zusammenarbeit von Druckern und Buchmalern«65, wie sie neuerdings von kunstgeschichtlicher Seite weiter untersucht wurde.66 Es bleibt für Braun aber ein unaufhaltsamer, linearer Prozess: »Die Überlagerungsphase von Handschriftlichkeit und Buchdruck war nur eine Verzögerung des unaufhaltsamen Medienwandels«, der aus immanenten Mängeln der Handschriftenkultur erklärt wird: »Chirographische Kultur war am Schreiber orientiert, welcher unter großer Mühe [...] und mit Abkürzungen, auf jeden Fall im Hochmittelalter mit leserunfreundlichen Verfahren sein Unikat vollendete. Das weniger anstrengende Drucken dagegen richtete sich aus auf den Verbraucher, dem das Produkt
61 62 63 64 65 66
Vgl. Saurma-Jeltsch, Bd. 1, S. 76. Braun: Von der Handschrift. Braun, S. 229. Braun, S. 233. Braun, S. 234. Vgl. im Sammelband Jensen: Incunabula and Their Readers, die Beiträge Winn: Illustrations in Parisian Books und Armstrong: Hand Illuminiation.
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in Vielzahl, übersichtlich und leicht nachvollziehbar zur Verfügung gestellt wurde«67. Statt mit globalen Lösungen, die oft nur zur Verifizierung einer bereits vorgefertigten Kulturtheorie angestrebt werden, haben Vertreter zahlreicher beteiligter Einzeldisziplinen mit kleineren Untersuchungen den Themenbereich dieses Literaturberichts durchleuchtet. Wegen der enormen Breite und Fülle solcher Untersuchungen können hier nur einige herausgegriffen werden. Wenn diese Auswahl also auch subjektiv ist, so mag sie doch die Vielfalt und Breite der gewählten Ansätze demonstrieren. Sie argumentieren theoriefern und haben nicht primär das Ganze im Sinn, sondern wollen Einzelaspekte der Textverbreitung oder -überlieferung analysieren. Dabei kommen dann eben jene Einzelergebnisse zustande, die m. E. geeignet sind, die groß angelegten Entwürfe zu korrigieren und vielleicht auch einmal zu einem neuen Gesamtentwurf führen. Der Sammelband Die Gleichzeitigkeit von Handschrift und Buchdruck, 2003 von Gerd Dicke und Klaus Grubmüller herausgegeben, bringt breit gefächerte Ansätze aus den Jahrestagungen 1997 und 1998 des Mediävistischen Arbeitskreises der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Hier kann nur eine Zusammenfassung versucht werden. Holger Flachmann, Handschrift und Buchdruck bei Martin Luther, liefert ein differenziertes Bild über Luthers Sicht des Buchdrucks, den Luther selbst als Beförderer seiner kirchenpolitischen Anliegen bezeichnete. Damit gewinnen wir eine hochrangige zeitgenössische Quelle. Wir sehen nicht nur, dass Luther sich die Hauspostille als Vorlesebuch dachte, sondern auch, dass die Handschrift für katechetische Zwecke sowohl in der Schule wie an der Universität hoch angesehen war: »Unterstreichet, bitte! Notiret, bitte!« wird Luther zitiert.68 Die ›Schreiberey‹ wird als Element der staatlichen Ordnung gesehen – also der pragmatischen Schriftlichkeit, schließlich ist die Predigt noch von der Handschrift abhängig. Damit kann Flachmann auf die »funktionale Differenzierung der beiden Medien« verweisen, die bei Luther »modern und effizient«69 gewesen sei. Diese Begrifflichkeit sollte als Grundgerüst für die weitere Diskussion der Frage beachtet werden. Im gleichen Band wirft Felix Heinzer eher beiläufig die Frage auf: »Gibt es trotzdem so etwas wie eine Hierarchie zwischen Druck und Handschrift?«70, wobei er zumindest bei den von ihm untersuchten Gra67 68 69 70
Braun: Von der Handschrift, S. 236f. Flachmann: Handschrift und Buchdruck, S. 131. Flachmann, S. 138. Heinzer: Handschrift und Druck, S. 158.
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fen von Zimmern eher eine Vorliebe für die Handschrift erkennen will. Auch Rautenberg, die sich mit »Medienkonkurrenz und Medienmischung. Zur Gleichzeitigkeit von Handschrift und Druck im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts in Köln« befasst, moniert, dass »das Schicksal des handgeschriebenen Buches nur peripher Aufmerksamkeit gefunden« habe71 und kann auffällige Beispiele von Mischformen vorführen, die natürlich auch außerhalb Kölns von repräsentativer Bedeutung sind. »Gemeinsamkeiten oder Verschiedenheiten« sucht Martin Staehelin zwischen der allgemeinen Buchproduktion und den Musikalia in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts.72 Sein Resumée spricht von einer »Reduktion der Handschriftenproduktion«, die er aber für nicht quantifizierbar und auch von »Rückschlägen« betroffen nennt.73 Dabei sieht er durchaus Verluste an Typen und Funktionen der Musikalien, die »im säuberlichen und zweckmäßigen Bild der Drucke einigermaßen nivelliert« wurden.74 Ich möchte bezweifeln, dass diese quantitative Einschätzung richtig ist. Da die Zahl sowohl der nur musizierenden wie auch der selbst komponierenden Dilettanten vom 16. Jahrhundert an deutlich steigt, kann man keineswegs davon ausgehen, dass die Handschrift als musikalisches Medium ›zurückgeht‹, sie dürfte in dem sich beständig erweiternden Markt vielmehr gegenüber den früheren Jahrhunderten weiter gewinnen. Im quantitaven Verhältnis zwischen gedruckter und geschriebener Musik wird sicher eine ständige Zunahme des Anteils gedruckter Musikalia zu verzeichnen sein und vor allem eine formale Rückwirkung der Erscheinungsformen der Drucke auf die Handschriften: wann aber – falls überhaupt – die Zahl der neu geschaffenen Musik-Drucke jene der Musik-Buchhandschriften überstiegen hat, bleibt ohne sorgfältige Ermittlung gänzlich offen. In der Überlieferung einzelner Komponisten – Staehelin nennt Monteverdi – mag das rasch geschehen sein, im Ganzen aber führten auch Musikhandschriften ein zähes Leben. Zum Abschluss des ergiebigen Tagungsbands beschäftigt sich Hans Eideneier nicht bloß, wie der Titel suggeriert, mit »griechischer Volksliteratur als Vorlesestoff für Hörer«, sondern greift in einer weit ausholenden Introduktion viele Aspekte der mediävistischen Leseforschung auf, indem er z. B. Germanisten wie Kurt Ruh und Joachim Bumke zu Wort kom71 72 73 74
Rautenberg: Medienkonkurrenz, S. 167. Staehelin: Musikhandschrift und Musikdruck. Staehelin, S. 240. Staehelin, S. 239. An gleicher Stelle gibt er eine interessante Liste dieser Typen und Funktionen.
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men lässt. Er will in seinem engeren Thema eine »allgemeine europäische Entwicklung vom Hörer zum Leser«75 sehen, die er vorsichtig mit »dem Weg von der Handschrift zum Druck«76 in Deckung bringt. Die darin implizierte Linearität sollte angezweifelt werden. Als besonders aufschlussreich und aktuell hebe ich Werner WilliamsKrapps Aufsatz, Die süddeutschen Übersetzungen der ›Imitatio Christi‹. Zur Rezeption der Devotio moderna im oberlant, hervor, der 2006 in einem Sammelband über Thomas von Kempen erschien. Thomas war für lange Zeit einer der meistgedruckten Autoren und diese erstaunliche Erfolgsgeschichte führte schon Neddermeyer zur Buchgeschichte. Die Einzelergebnisse, die Williams-Krapp aufzeigen kann, spielen in unserem Zusammenhang keine Rolle, es ist vielmehr die ruhige und vorurteilslose Art, mit der Williams-Krapp handschriftliche und gedruckte Überlieferungsformen auswertet, die den Beitrag auch in unserem Zusammenhang so lesenswert macht. Williams-Krapp lässt die Dinge eben so stehen, wie er sie vorfindet und sucht nicht nach der Formel für den ›Medienwandel‹ und er weiß sehr wohl, dass nach 60 Jahren handschriftlicher Verbreitung auch »Käufer und Leser der ab 1486 erscheinenden frühneuhochdeutschen Druckausgaben [...] miteinbezogen werden«77 müssten – aber er behauptet nicht, diese zu kennen. Er zitiert bibliotheksgeschichtliche Belege und würdigt anhand der Drucker und Übersetzer das überkonfessionelle Interesse an diesem Text. So würde man sich noch viele Untersuchungen zu Texten im 15. und 16. Jahrhundert wünschen. Bemerkenswert bleibt, wie die Forschung fast überall die Handschriftenproduktion aus dem Blick verliert, sobald die Etablierung des Buchdrucks als vollzogen angesehen wird. Dabei steigt sie quantitativ kontinuierlich mindestens bis ins 20. Jahrhundert hinein. Allein die Verbesserung der Schulsituation, die stetig zunehmende Zahl von Studenten lässt von Jahrzehnt zu Jahrzehnt mehr Buchhandschriften entstehen als zuvor. Natürlich sind es »funktional aufgegliederte Bereiche« im Sinne Flachmanns78, wo dies geschieht. Es ist auch eine Frage der Medienhierachie, denn wir achten Schulhefte und Vorlesungsmitschriften gering. Und noch geringer achten wir die Verschriftlichung der Verwaltung. Was in der Alten Geschichte durch die Arbeiten von Jan Assmann als monumentaler kultureller ›Gedächtnisspeicher‹ bestaunt wird, gilt uns in der Frühen 75 76 77 78
Eideneier: Späte Handschriften, S. 275. Eideneier, S. 279. Williams-Krapp: Die süddeutschen Übersetzungen, S. 69. Flachmann: Handschrift und Buchdruck, S. 138.
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Neuzeit als nicht mehr beachtenswert für die Mediengeschichte. Am ergiebigsten, wenn auch keineswegs erschöpfend, ist auf diesem Feld immer noch der Sammelband De captu lectoris von Wolfgang Milde und Werner Schuder79, dessen Beiträge allerdings durchweg sehr knapp gehalten sind. In seiner Rezension des Sammelbands von Grubmüller und Dicke mahnt Gert Brinkhus ein umsichtigeres Denken an: Es ist nicht möglich und auch nicht nötig, alle Phänomene des ausgehenden 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts in feste Kategorien einzuordnen, vielmehr sollten wir immer noch in erster Linie beobachten und beschreiben. Könnte man nicht in der (kunst-)handwerklichen Überarbeitung des Missale eine Individualisierung des Drucks sehen, wie sie durch Rubrizierung und Illuminierung von Druckwerken im 15. Jahrhundert ganz selbstverständlich durchgeführt wurden?80
In diesem Zusammenhang wäre auch eine gründliche Untersuchung wert der sogenannte ›Vorlesungsdruck‹, wie er in Leipzig und Wittenberg gepflegt wurde. Es handelt sich hierbei um Druckwerke mit besonders breitem Zeilendurchschuss, der die handschriftliche Glossierung eines normierten gedruckten Textes ermöglichen soll. Andreas Gößner weist in seinem Beitrag für den buchgeschichtlichen Sammelband von Enno Bünz auf Wittenberger Fragmente hin, geht der Sache aber faktisch nicht nach.81 Die Neubewertung der Handschriften neben und nach Gutenberg würde allerdings etwas voraussetzen, von dem wir noch weit entfernt sind. Anders als die Druckwerke dieser Zeit, an deren Erschließung mit viel Liebe und Akribie seit hundert Jahren gearbeitet wird, sind die Handschriften nach 1450 nicht adäquat erschlossen. Gänzlich unbekannt, ja verachtet, sind die ›frühneuzeitlichen Buchhandschriften‹ nach 1525. Die Richtlinien Handschriftenkatalogisierung der DFG würdigen sie zu Nachlassmaterialien herab.82 Die Arbeiten von Giesecke oder Neddermeyer lassen keine nähere Kenntnis von solchen Handschriftenbeständen erkennen. Aus dem Katalog der Tübinger Handschriften wurden aufgrund dieser Richtlinien Beschreibungen mit Material zur frühneuzeitlichen Mischung von Handschrift und Druck herausgestrichen – und dann separat veröffentlicht.83 Zu dem besonderen Gehalt dieser Stücke habe ich dabei angeführt, hier seien ursprünglicher Druck und handschriftliche Bearbeitung und Ergänzung auch so eng miteinander verwoben, daß etwas Einzigartiges entstanden ist. Bei solchen Stücken 79 80 81 82 83
Es sei verwiesen auf die Beiträge von Hans Lülfing und Otto Mazal, die im Literaturverzeichnis aufgeführt sind. Brinkhus: Handschrift und gedrucktes Buch, Absatz [35]. Vgl. Gößner: Anfänge des Buchdrucks, S. 145 und Abb. 1. u. 2 (S. 138f.). Vgl. Richtlinien Handschriftenkatalogisierung, S. 35–41. Vgl. Mentzel-Reuters: Misceallanea Tubingensia. Zum Vorgang, S. 11–13.
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versagt die reine bibliographische Verzeichnung (die immer eine typographische Verzeichnung ist). Man kann sie nur mit den Mitteln der Handschriftenbeschreibung erfassen.84
In anderer Weise habe ich – allerdings an einer aus buchwissenschaftlicher Sicht entlegenen Stelle – wenigstens in Ansätzen eine neue Bewertung dieser Schriftprodukte und ihres Bezugs zum Buchdruck versucht. In Stadt und Welt. Danziger Historiographie des 16. Jahrhunderts (2005) musste ich der Frage nachgehen, warum bis zum Ende des 16. Jahrhunderts nur eine einzige preußische Landeschronik gedruckt wurde, wohingegen ein immens kompliziertes und von der Forschung kaum entwirrtes Geflecht handschriftlicher Bearbeitungen eng verwandter Chronikkomplexe überliefert ist. Dabei fiel auf, dass regionale oder gar lokale Historiographie bis ins 19., ja 20. Jahrhundert hinein eine handschriftliche Domäne blieb – man denke an all die Dorf- und Pfarrchroniken, die in Buchhandschriften vorliegen. »Wo nicht ein politischer Wille den Druck forderte und finanziell förderte, wurde die Chronik grundsätzlich als ein individuell zu gestaltender, typischer Text für das Medium ›Handschrift‹ empfunden«85. Hier wird also von Gattungsfragen ausgegangen, hinzu kommt das Kriterium der Normierungsabsicht. Letztere begünstigte den Druck, wohingegen individuelle freie Textgestaltung die Domäne der Handschrift blieb – bis hin zum Poesiealbum, dem persönlichen Brief oder dem Tagebuch, die ja heute noch der Handschrift zugeordnet sind. Eher beiläufig und keineswegs so durchgeführt, wie ich es heute tun würde, wird hier auch darauf hingewiesen, dass die pragmatische Schriftlichkeit – also das Verwaltungsund Urkundenwesen, die Protokolle und Briefe, bis zur Verbreitung der Schreibmaschine im späten 19. Jahrhundert nahezu vollständig handschriftlich blieb. Würde man diesen Gedanken ausführen – und für eine ›Geschichte des Lesens‹, die ja nicht auf Belletristik und Fachliteratur beschränkt sein darf, wäre dies unerlässlich – so müsste man massiv in Frage stellen, welche innere Berechtigung der Terminus ›Medienwechsel‹ im 15. oder 16. Jahrhundert hat. Dies tat in gewisser Weise Thomas Haye in seinem Beitrag zum Wolfenbütteler Kolloquium von 1997, der jedoch nicht im Sammelband von Grubmüller und Dicke, sondern separat im Archiv für Geschichte des Buchwesens veröffentlicht wurde.86 Eine aggressive Streitschrift des venezianischen Schreibers Filippo della Strada kehrt das konventionelle Lob des 84 85 86
Mentzel-Reuters, S. 12. Mentzel-Reuters: Stadt und Welt, S. 105. Haye: Filippo della Strada.
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Buchdrucks aus Humanistenkreisen um und beklagt einen dramatischen Verlust der Schreibkultur. Hayes Resumée jedoch fällt moderat aus: Filippos Plädoyer, besser gesagt, seine Philippika gegen den Buchdruck ist nicht zuletzt deshalb ohne Folgen geblieben, weil die apokalyptische Vision vom Ende der Schreibkultur in dieser Schärfe nie Realität geworden ist. Während des gesamten 16. und noch bis weit in das 17. Jahrhundert hinein sind nicht nur handschriftliche, sondern auch gedruckte Texte systematisch abgeschrieben worden; Druck und Handschrift haben noch lange Zeit in friedlicher Symbiose gelebt.87
Man könnte es sogar noch krasser formulieren: Der Buchdruck blieb bis zur frühen Goethezeit ein Produktionszweig für adlige und bürgerliche Eliten, wohingegen der überwiegende Teil der europäischen Bevölkerung, so er überhaupt mit Schriftlichkeit in Berührung kam, neben wenigen wirklich populären Druckerzeugnissen wie Luthers Hauspostille oder dem Katechismus fast ausschließlich mit handschriftlichen Erzeugnissen (nämlich Akten und Briefen) zu tun hatte. Hier hatte nie ein ›Wechsel‹ stattgefunden.
7 Desiderate Damit komme ich zum letzten Abschnitt, der sich mit Forschungsdesideraten befassen soll. Ich würde mir zunächst einmal eine klarere und historisch korrektere Sprache wünschen. Wir sind, dass ist mit McLuhan zu betonen, nach wie vor von dem neuen Medium, das uns getroffen hat, paralysiert. Das zeigt sich z. B. daran, dass bisher praktisch übersehen wird, dass zumindest der textverarbeitende Computer ein Kind der Schreibmaschine ist, der elektronische Text folglich ein Kind des ›Typoskripts‹, welches wiederum dem ›Manuskript‹ viel näher steht als dem ›Typographaeum‹. Das will sagen: Das ›Manuskript‹ hat sich als Medium gewandelt und sich wieder stärker in unser Bewusstsein geschoben. Es hat aber kein Ende der Handschriften gegeben. Wir müssten vielmehr danach fragen, warum für die Zeit nach 1400 der riesige Komplex der pragmatischen Schriftlichkeit einfach aus jeder ›Geschichte des Lesens‹ ausgeblendet wird. Für die Geschichte vor 1400 ist sie selbstverständlicher Teil der Darstellung. Wie kommt es ferner, dass wir die Buchhandschriften der Frühen Neuzeit zu belanglosen ›Manuskripten‹ (d. h. Vorformen für die Drucklegung) degradiert haben. Nur am Rande sei bemerkt, dass auch die Bedeutung eines weiteren Mediums praktisch ganz übersehen wird. Ich 87
Haye, S. 295f.
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meine die Epigraphik, die im Alltag seit Jahrtausenden wichtiger ist als die Buchwelt und heute in Werbung und graphischer PC-Oberfläche geradezu ubiquitär ist. Ihre Erkundung wird aber als esoterische Hilfswissenschaft betrieben; in einer Geschichte des Lesens kommt sie nicht vor. Hier hilft das McLuhan’sche Konstrukt von der Bedienung der Sinnesorgane wenig. Natürlich gab es hier Unterschiede, aber man muss sie anhand der konkreten Gebrauchssituationen und gattungsspezifisch untersuchen. Wie und warum wurde vergessen, dass es Druckerzeugnisse gab, die für das laute Lesen gedacht waren: z. B. die Epik des 18. Jahrhunderts von Klopstock, Wieland und Goethe. Das Faust-Zitat, das am Beginn dieser Untersuchung steht, ist ein beredtes Zeugnis dieser Lesekultur. Handschrift oder Druck sind als Denkkategorien dabei nebensächlich. Wichtig ist in diesem Umfeld das Deklamieren. Man kann das sehr schön an den Studierzimmer-Szenen des Faust zeigen. Zunächst wendet sich der alternde Dozent einem »geheimnisvollen Buch« zu, »von Nostradamus eig’ner Hand«.88 Dass es eine frühneuzeitliche Handschrift ist, wird damit ausdrücklich gesagt. Goethe kannte solche Handschriften nicht zuletzt aus den Bibliotheken in Weimar und Jena, denen er vorstand, und für die er Beschreibungsrichtlinien entworfen hat.89 Doch wirft der beschworene Erdgeist Faust rasch wieder auf seine Bücher zurück: Du gleichst dem Geist, den du begreifst, Nicht mir.90
Bald darauf bemüht sich Faust um die Übersetzung des johanneischen »Logos«. Nacheinander setzt er hierfür »Wort«, »Sinn«, »Kraft« und schließlich »Tat« ein.91 Auch das ist ein Bekenntnis zum Sprechen. Es ist als Arbeit mit einem Druck vorzustellen, möglicherweise mit der Bibelausgabe des Erasmus (handschriftliche griechische Bibeln gab es nach 1530 praktisch nicht mehr92). Es wechseln, so kann man vorsichtig als Hilfssatz folgern, weniger die Medien als die Ansichten über die Medien und die Hierarchien, in denen wir Medien sehen. Das Lob eines Mediums wie der Fluch dagegen gehen 88 89 90 91 92
Goethe: Faust, V. 419f. (HA III S. 21). Vgl. Erstabdruck des Goethe’schen Schemas zur Beschreibung von Handschriften bei Schüddekopf: Goethe. Allgemein Wesche: Monumenta Germaniae Historica, S. 15f. Goethe: Faust, V. 521f. (HA III S. 24). Goethe: Faust, V. 1224–1237 (HA III S. 44). Hier ist ein echter Fall von ›Verdrängung‹ der handschriftlichen Überlieferung durch die gedruckte zu beobachten, doch werden im Gegenzug gerade gedruckte Bibeln durch handschriftliche Kommentierung oder wenigstens Eintrag von Stammbäumen und dergleichen individualisiert; vgl. Mentzel-Reuters: Miscellanea Tubingensia, S. 15f. u. 21.
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meist mit Selbsttäuschungen einher.93 Für die weitere Forschung dürfte der von Flachmann eingeführte Begriff einer ›funktionalen Differenzierung‹ der Medien Handschrift und Buchdruck weiterführend sein. Das Medium Handschrift geht nach 1450 weder unter noch wird es primär ›verdrängt‹. Die Entscheidung für das eine oder andere Medium dürfte funktional bestimmt gewesen. Das neue Medium des Buchdrucks schuf sich eigene Operationsgebiete und Märkte, deren Expansion mit dem rudimentären Buchmarkt früherer Jahrhunderte nicht zu vergleichen ist. Dessen Formen gehen jedoch, ebenso wenig wie das Medium Handschrift, keineswegs verloren: Neben der Textschöpfung, für die der Buchdruck völlig untauglich war und blieb, sind es individualisierte bzw. auf lokale Gegebenheiten zugeschnittene Gebrauchssituationen, die einer steigenden Handschriftenproduktion über Jahrhunderte hinweg genügend Raum gab.
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Hierzu sei nochmals auf Fink: Das Auge kann hören, S. 15–20, verwiesen.
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Leser, Leserschichten und -gruppen, Lesestoffe in der Neuzeit (1450–1850): Konsum, Rezeptionsgeschichte, Materialität 1 2 3 4 5 6 7
Forschungsgegenstand und zeitliche Eingrenzung Entdeckung des Lesers und der Lektüre Methoden und Quellen Überblick der Lesergeschichte 1450 bis 1850 Alphabetisierung und Literarisierung ohne Buch Lesebilder Literaturverzeichnis
Der folgende Forschungsüberblick stellt den Versuch dar, die Geschichte des Lesens im neuzeitlichen Europa zwischen 1450 und 1850 in großen Zügen darzustellen und u. a. den Fragen nachzugehen, wer las, welche Lesestoffe vorhanden waren, wie die Lesenden sich diese aneigneten bzw. erwarben, welche unterschiedlichen Formen des Lesens (stummes Lesen, lautes individuelles Lesen, Vorlesen) es gab und wie die Leser und Leserinnen das Gelesene auffassten und begriffen. Eine so verstandene Geschichte des Lesens erlaubt es uns, erklären zu können, wie Ideen zirkulierten und wie sie sich in dieser Zirkulation zugleich veränderten. Die Entwicklung der westlichen (Ersten und Zweiten) ebenso wie die der Dritten Welt ist ohne Aufkommen und Verbreitung der Kulturtechnik Lesen einerseits und der ungeheuren Zunahme von Lesestoff durch den Buchdruck nicht zu verstehen. Dadurch fand auch eine Verdichtung von Information statt und das Feld des Sagbaren wurde erweitert, Rezeptionsprozesse wurden beschleunigt (auch dank der Beweglichkeit und Mobilität des Mediums ›Buch‹) und neue, innovative Gedanken konnten massenhaft verbreitet und individuell angeeignet werden. Eine solche Geschichte des Lesens bildet den Kern einer neuen, im Entstehen begriffenen Kulturgeschichte. Als ›Forschungsprojekt‹ ist sie interdisziplinär und international angelegt; dem soll in den folgenden Ausführungen auch gebührend Rechnung getragen werden.
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1 Forschungsgegenstand und zeitliche Eingrenzung In den letzten 40 Jahren hat sich aus der Buchgeschichte, aus der Bildungsgeschichte und der Geschichte der Institutionen eine Geschichte des Lesers entwickelt. Louis Trénard verband in einem programmatischen Artikel die Hoffnung, durch ein interdisziplinäres Projekt, welches die genannten Disziplinen zusammenführt, die Grundlagen für eine Geschichte der kollektiven Mentalitäten bzw. eine social history of ideas zu begründen.1 Er – wie übrigens später auch Rudolf Schenda in Volk ohne Buch (1970) – ging von Robert Escarpit aus, der in seiner Sociologie de la littérature (1958) den Doppelcharakter des Buchs postulierte.2 Es ist einerseits ein materielles, arbeitsteilig hergestelltes und gehandeltes Objekt, andererseits ein Werk, das Ideen, Konzepte bzw. Informationen oder Narrative vermittelt. Und während Literatur das Resultat einer Produktion ist, einer intellektuellen des Autors und einer materiellen der Buchherstellung, ist die Lektüre eine Konsumation. Ähnlich begriff eine Göttinger Arbeitsgruppe von Volkskundlern in ihrer »Planskizze zu einer Sozialgeschichte des Lesens« (1976) Lesen als Teil der gesamten literarischen Kommunikation, die die »Bereiche Produktion, Produkt, Distribution und Rezeption«3 umfasst. Ein entwickeltes Konzept einer »historischen Lese(r)forschung« bot Georg Jäger in der Festschrift zum 60. Geburtstag Paul Raabes.4 Er unterscheidet aktuell vier Fragestellungen, die eine Geschichte des Lesens begründen: Sie frage nach dem Leser als Bedeutungsgeber von Texten (1), nach der Wirkung von Texten auf Leser (2), nach der Korrelation zwischen Text und Lesergruppen (3) und schließlich nach dem Leser als Käufer, Entleiher und Benutzer von Büchern (4).5 Brigitte Schlieben-Lange wiederum bezog in ihre Forschungsskizze auch das Schreiben ein. Eine Geschichte des Lesens hat »nach den Prozessen des Lesens und Schreibens selbst und nach ihren historischen Modifikationen« zu fragen, und dabei nicht so sehr: »Wer hat was gelesen, sondern: wie wurde gelesen?«6 Ebenso hat nach Robert Darnton eine Geschichte des Lesens nach der sich im Laufe der Geschichte verändernden Beziehung zwischen Leser und Text zu forschen: »[E]ven if their texts [of au1 2 3 4 5 6
Vgl. Trénard: L’histoire des mentalités collectives. Vgl. Escarpit: Sociologie de la littérature. Behrens u. a.: Sozialgeschichte des Lesens, S. 252. Jäger: Historische Lese(r)forschung. Vgl. Jäger, S. 486f. Schlieben-Lange: Geschichte des Lesens.
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thors who lived centuries ago] have come down to us unchanged – a virtual impossibility, considering the evolution of layout and of book as physical objects – our relation to those texts cannot be the same as that of readers in the past. Reading has a history.«7 Nach Henri-Jean Martin ist eine Geschichte des Lesens Teil einer Geschichte des Buchwesens. In seinem Überblicksartikel der französischen Forschung zur Geschichte des Buchs zeichnet er nach, wie sich das Interesse vom Buch zum Leser hin verschoben hat und wie Historiker wie Roger Chartier neben Büchern auch andere Zeugnisse sammeln, um diese mit einem neuen Blick zu prüfen und zu begreifen, »wie sie zu ihrer Zeit aufgenommen worden sein könnten.«8 Gegen das Postulat, Texte transportierten den immer gleichen, in ihnen enthaltenen Sinn, behauptet Chartier, »dass die Bedeutungen von Texten, welche auch immer, durch die Leseweisen unterschiedlich geschaffen werden.«9 Kurz: Das Projekt einer Geschichte der Lektürepraktiken zielt darauf, »die zentralen Dimensionen zu ermitteln, die demselben Text verschiedene Bedeutungen verleihen können.«10 Im Laufe der etwas mehr als 20 Jahre zwischen 1968 und 1991 hat sich damit der Gegenstandsbereich einer Lesergeschichte konstituiert, indem er sich aus dem größeren Felde der Buchgeschichte herauszulösen begann, mit dieser aber weiterhin in einem Spannungsfeld der gegenseitigen Erhellung steht. Wesentlich hierfür waren in der Hauptsache die literaturwissenschaftliche Rezeptionstheorie der Konstanzer Schule (Hans Robert Jauß, Wolfgang Iser) und die Ansätze der new bibliography (Donald F. McKenzie). Auf sie ist weiter unten (siehe Kap. 2 und 3) einzugehen. Es bleibt noch, den Zeitrahmen der Frühen Neuzeit abzustecken und zugleich zu fragen, wie weit dieser mit den besonderen Epochen und Entwicklungsabschnitten der Lesergeschichte in dieser Zeit übereinstimmt oder nicht. Wolfgang Behringer schlägt vor, für die Frühe Neuzeit den Beginn mit der Erfindung des Buchdrucks 1450 und das Ende mit der Einführung des Eisenbahnnetzes um 1850 anzusetzen.11 Damit konkurrieren allerdings die Einteilung der Zeitepochen für Lesekulturen, wie sie etwa Hans-Martin Gauger vornimmt. Nach ihm erstreckt sich die frühneuzeitliche Lesekultur von 1300 bis 1800;12 Erich Schön wiederum lässt 7 8 9 10 11 12
Darnton: First steps towards a history of reading, S. 155. Martin: Geschichte des Buchwesens aus französischer Sicht, S. 39. Chartier: Ist eine Geschichte des Lesens möglich? S. 251. Chartier: Lesewelten, S. 17 (Hervorhebung im Original). Vgl. Behringer: Frühe Neuzeit, Sp. 80. Vgl. Gauger: Die sechs Kulturen in der Geschichte des Lesens, S. 36–38; Gauger: Geschichte des Lesens, S. 70.
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im Handbuch Lesen (2001) auf die Frühe Neuzeit (1445/1450 bis 1600) die Zeit »Vom Barock zur Aufklärung« (17. und frühes 18. Jahrhundert) und dieser das 18. Jahrhundert folgen.13 Während dieser letzte Versuch einer zeitlichen Gliederung der Lesergeschichte selber äußerlich bleibt, hat Gaugers Vorgehen das Argument für sich, »die frühneuzeitliche Medienrevolution«14 (Michael Giesecke) und die damit einhergehenden Veränderungen der Rezeptionsmodi zwischen 1445/1450 bis 1530 einerseits und den »Mentalitätswandel um 1800«15 – so der Untertitel von Schöns wichtigem Werk von 1987 – zu berücksichtigen. Trotzdem bleibt kritisch anzumerken, dass Gauger zu stark und zu ausschließlich die quantitative Zunahme des Lesepublikums als Kriterium im Auge hat und diesem gegenüber die Veränderung der Rezeptionsmodi (etwa lautes Lesen versus stilles Lesen), wie es für die Zeit von 1750 bis 1850 zu beobachten ist, vernachlässigt. All dies berücksichtigend, halten wir es deshalb für sinnvoll, die frühneuzeitliche Lesekultur Europas mit der Erfindung des Buchdrucks in der Mitte des 15. Jahrhunderts beginnen16 und 1850 enden zu lassen.
2 Entdeckung des Lesers und der Lektüre Neue Impulse für eine Geschichte des Lesens kamen in den 1970er Jahren von den verschiedenen Disziplinen wie Geschichtswissenschaft und Literaturwissenschaft. Beispielhaft aus historischer Sicht ist Carlo Ginzburgs Buch Il formaggio e i vermi (1976). Es erzählt die Geschichte eines Müllers aus Norditalien, der 1599 auf dem Scheiterhaufen als Häretiker verbrannt wurde. Die Quellen, die das Verfahren gegen Domenico Scandella – genannt Menocchio – dokumentieren, befinden sich in den Archiven der Inquisition der Region Friaul. »[…] der Buchtitel bezieht sich auf Menocchios Überzeugung, dass die Welt aus dem Chaos entstanden ist, ›gerade so, wie der Käs aus Milch gemacht wird, und es erscheinen Würmer in ihm, und die Würmer sind die Engel‹ […].«17 Wie aber kam dieser zu solchen Vorstellungen? Das Augenmerk Ginzburgs richtete sich vor allem auf die ›wilde Lektüre‹ Menocchios. Nach seiner Verhaftung ließ der Generalvikar die Wohnung 13 14 15 16 17
Schön: Geschichte des Lesens, S. 15–38. Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, S. 63–66. Schön: Der Verlust der Sinnlichkeit. »La prima delle trasformazioni che interessano le pratiche della lettura nell’età moderna è di natura tecnica: essa revoluziona, alla metà del secolo XV, i modi di riproduzione dei testi e di produzione del libro.« Cavallo/Chartier: Introduzione, S. XXIX. Ginzburg: Über die dunkle Seite der Geschichte, S. 32.
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Menocchios durchsuchen. Die dabei gefunden Bücher schienen jedoch unverdächtig, so dass ihre Titel nicht festgehalten wurden. Erst im Verlauf des ersten Prozesses erwähnte der Müller acht Bücher, nämlich: »die Bibel in Volgare« (1); »Il fioretto della Bibbia« (ein Chronicon von Isidor, das Elucidarium des Onoré de Autun und eine beträchtliche Anzahl apokrypher Evangelien) (2); »Il Lucidario« (= Rosario) della Madonna«, eigentlich Il Rosario della gloriosa Vergine Maria des Dominikaners Alberto da Castello (3); »Il Lucendario (eigentlich Legendario de santi)«, eine Übersetzung aus dem Lateinischen ins Italienische der bekannten Legenda aurea des Jacopo da Varagine, herausgegeben von Niccolò Malermi unter dem Titel Legendario delle vite de tutti li santi (4); »Historia del Giudicio«, ein Kurzepos eines anonymen Verfassers des 15. Jahrhunderts (5); »Il cavalier Zuanne de Mandavilla«, Sir John Mandevilles Reisen auf Italienisch (6); »Ein Buch, das Zampollo heißt«, eigentlich »Il sogno dil Caravia« (Venedig 1541) (7); »Il Supplimento delle cronache«, eine aus dem Lateinischen ins Italienische übersetzte Chronik, die der Augustinermönch Jacopo Filippo Foresti aus Bergamo redigiert hatte (8); »Lunario al mondo di Italia calculato composto nella città di Pesaro dale eccmo dottore Narino Camillo de Leonardis« (9); »Das Decameron von Boccaccio in einer unzensierten Ausgabe«18 und »[e]in nicht weiter mit Titel angegebenes Buch, hinter dem ein Zeuge […] den Koran vermutete (von ihm kam 1547 eine italienische Übersetzung in Venedig heraus).«19 Wie war der Müller zu seiner kleinen Bibliothek gekommen? Erworben hatte er nur Nr. 2 (»das ich in Venedig für zwei Soldi kaufte«); geschenkt wurde ihm Nr. 8, ausgeliehen Nr. 1, 3, 4, 6, 7 und 10 und zu drei, Nr. 5, 9 und 11, gibt es keine Angaben.20 Dabei ging Ginzburg kritisch vor, d. h. er reflektiert beständig den Umstand, dass wir über die zahlreichen Informationen nur jeweils indirekt, über die Protokolle der Verhöre durch die Inquisition, verfügen.21 Wie aber las der Müller? Jeder Versuch, diese Bücher als ›Quellen‹ im üblichen Sinne zu betrachten, bricht angesichts der angriffslustigen Originalität, die Menocchios Art zu lesen kennzeichnet, zusammen. Wichtiger als der Text erscheint also der Chiffrierschlüssel beim Lesen, das Raster, das Menocchio unbewusst zwischen sich und den gedruckten Text legte: ein Raster, das gewisse Abschnitte beleuchtet, während es andere verdeckte, und das die Bedeutung eines Wortes zuspitzte, indem es vom Kontext abgesondert wurde – ein Raster, das auch die Erinnerung formte, bis hin zur Verzerrung des Wortlauts der Texte.22 18 19 20 21 22
Ginzburg: Der Käse und die Würmer, S. 53. Ginzburg, S. 58. Vgl. Ginzburg, S. 59. Vgl. Ginzburg, S. 61. Ginzburg, S. 62.
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Im Einzelnen machte Ginzburg folgende Feststellungen: »Eine Einzelheit wurde so schließlich zum Zentrum der Erörterung, veränderte dabei aber den gesamten Sinn.«23 »Das Raster im Erinnerungsvermögen Menocchios verwandelte die Schilderung Varagines in ihr Gegenteil.«24 »Die Lektüre […] war offensichtlich einseitig und willkürlich […].«25 Ginzburg schreibt zusammenfassend: »Nicht das Buch als solches, sondern das Aufeinandertreffen von schriftlichem Text und mündlicher Kultur formte im Kopf Menocchios eine explosive Mischung.«26 Der Leser Menocchio wurde so zu einem Paradigma, das sich als »Macht des Lesers über den Text« beschreiben ließe.27 Aus den zahlreichen Bezugnahmen auf Ginzburgs Untersuchung seien drei heraus gegriffen. Nach Martin brachte Ginzburg damit in Erinnerung, »dass ein Buch nur in dem Maße lebt, wie es gelesen wird, und dass eine jede Lektüre aus der persönlichen Kultur des Lesenden hervorgeht.«28 Was für Chartier wiederum Menocchio als ›populären Leser‹ charakterisiere, sei nicht das Korpus, auf das sich seine Lektüre erstrecke, sondern wie er sich das Gelesene aneigne: »Ce qui caractérise Menocchio en tant que lecteur ›populaire‹ n’est donc pas le corpus de ses lectures mais sa manière de lire, de comprendre et d’utiliser au service d’une cosmologie originale les texts qu’il s’approprie.«29 Hans-Jürgen Lüsebrink begreift die ›häretischen Lektüren‹ wie die eines Menocchios schließlich als den Versuch »der Entmachtung überlieferter Kommentartraditionen, ihrer Diskurse, Träger und Institutionen, die sich – einem Definitionsvorschlag Michel Foucaults in L’ordre du discours [1971] entsprechend (wo er auf die Formen und Funktionen des ›Commentaire‹ eingeht) – als System interner und externen Prozeduren der Sinneingrenzung und -kontrolle beschreiben lassen.«30
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Ginzburg, S. 64. Ginzburg, S. 65. Ginzburg, S. 66. Ginzburg, S. 84. »Das Buch [d. i. »Il formaggio e i vermi«] wurde veröffentlicht, es war ein großer Erfolg, und dann machten die Leser es sich zu eigen und benutzten es für ihre eigenen Zwecke. […] Das Verrückte daran ist ja, dass das Buch genau denselben Vorgang untersucht, nämlich wie sich Menocchio die Schriften anderer aneignet, die Macht des Lesers über den Text.« Ginzburg: Über die dunkle Seite der Geschichte, S. 34. Martin: Geschichte des Buchwesens aus französischer Sicht, S. 39 u. 50. Chartier: Lectures, lecteurs et littératures »populaires« en Europe à la Renaissance, S. 147. Vgl. ebenso Chartier: Letture e lettori »popolari« dal rinascimento al settecento, S. 319. Lüsebrink: »Häretische Lektüren« und Traditionsbruch, S. 387.
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Die Problematik des genannten Paradigmas (die Macht des Lesers über den Text) ist eine Zweifache. Der Fall Menocchios hat einen singulären Charakter (was seiner Beliebtheit als geschichtliches Exemplum offenbar nicht im Wege steht). Der Grund ist der Mangel geeigneter Quellen, die die individuelle Aneignung von Lektüren dokumentieren. Sie lässt sich meist nur indirekt in Diskursen, in Selbstzeugnissen (Tagebucheinträge, Lesernotizen in Büchern) oder in der literarischen Verarbeitung gelesener Texte aufspüren. Hinzu kommt zweitens der Umstand, dass Ginzburg nur über ein rudimentäres Modell verfügt, die Aneignungsformen zu beschreiben. Er geht nach wie vor von einem ›Sinn‹, der einem Buch eignet, aus. Dieser aber wird in der ›eigensinnigen‹ Lektüre Menocchios willkürlich verändert oder in sein Gegenteil verwandelt. Was Ginzburg fehlt, ist so etwas wie eine Hermeneutik der Lektüre. Diesem Mangel vermag bis zu einem gewissen Grad die Rezeptionstheorie bzw. -ästhetik abzuhelfen, wie sie Iser in drei Texten: Die Appellstruktur der Texte (1970), seine Antrittsvorlesung, Der implizite Leser (1972) und schließlich Der Akt des Lesens (1976), und Jauß in Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik (Bd. 1, 1977) entwickelt haben. Der Rezeptionstheorie war und ist ein großer Erfolg beschieden, der sich auch daran ablesen lässt, dass das an fiktionalen Texten der Schönen Literatur entwickelte Modell auch auf andere Formen künstlerischer Rezeption (bildende Kunst, Musik, Film usw.) übertragen wurde. Und sie ist bis heute nicht überzeugend in Frage gestellt worden. Nach ihr sind Bedeutungen literarischer Texte »das Produkt einer Interaktion von Text und Leser.«31 Jauß hat auf die »unerkannte Vorgeschichte« der Rezeptionstheorie hingewiesen, so auf Thomas von Aquin (»Quidquid recipitur ad modum recipientis recipitur.« [Was auch immer aufgenommen wird, kann nur in der Weise des Empfängers aufgenommen werden.]32) und auf Michel de Montaigne (»Un suffisant lecteur descouvre souvant ès escrits d’autruy des perfections autres que celles que l’autheur y a mises et apperceües, et y preste des sens et des visages plus riches.« [Ein gebildeter Leser entdeckt in den Texten oft andere Vollkommenheiten als solche, die der Autor selbst in sie gelegt oder an ihnen bemerkt hat. Und derart verleiht der Leser dem alten Text immer reichere Bedeutungen und Gesichter.]33). Nachzutragen bleibt, dass Nicolas Roubakine, ein Freund Leo Tolstois, unseres Wissens 31 32 33
Iser: Die Appellstruktur der Texte, S. 7. Jauß: Die Theorie der Rezeption, S. 10. Einen guten Überblick bietet auch Simon: Rezeptionstheorie. Montaige: Œuvres completes, S. 126 (Essais, livre I, chap. XXIV).
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als erster in den frühen 1920er Jahren betonte, dass das Buch vor allem eine »Kommunikationsmaschine« sei, »deren Struktur und Wirkungen man untersuchen müsse.«34 Bereits die Entmächtigung und Totsagung des Autors (Roland Barthes, Foucault) ist bei Roubakine vorgedacht. Nach ihm ist [d]er relevante Text […] nicht der vom Autor verfasste, vielmehr der vom Leser rezipierte Text. Das Verstehen eines Textes kann vom Autor nur ermöglicht, nicht durchgesetzt werden, es ist ganz und gar Sache des Lesers, der je nach seiner Disposition – Bildungsstand, Erwartung, Vorurteil, Stimmungslage usw. – ein hochkomplexes und dezidiert subjektives Verständnis herstellt, das der Absicht des Autors durchaus widersprechen und dennoch richtig sein kann.35
Günther Blaicher zitiert in seiner wichtigen Arbeit, Freie Zeit – Langeweile – Literatur. Studien zur therapeutischen Funktion der englischen Prosaliteratur im 18. Jahrhundert (1977) einen weiteren Vorläufer, Ernest E. Kellert und seine Fashion in literature. A study of changing taste aus dem Jahr 1931.36 Und Richard Hoggart wies 1957 nach37, dass »die unterentwickeltsten Bevölkerungsschichten in Großbritannien nur einen ›schiefen Blick‹ auf die Magazine warfen, die ihnen gewidmet waren und überhaupt nicht die Schlussfolgerungen zogen, die der Text ihnen vorzuschlagen schien.«38 Die Etablierung der Rezeptionsästhetik in den 1970er Jahren war allerdings etwas komplizierter. Nach Jean-Louis Dufays waren es in Deutschland Jauß und Iser, in Frankreich Michel Charles, Michel Riffaterre, Victor Renier, Tzvetan Todorov und in Italien Umberto Eco, die in verschiedenen Untersuchungen zum Schluss kamen, dass die Quelle der Sinnproduktion weniger der Text als der rezipierende Adressat sei.39 Dufays unterscheidet in seinem Überblicksartikel zwischen internen und externen Theorien. Die internen Theorien gehen davon aus, dass die Lektüre durch den Text vorgegeben, programmiert, gelenkt bzw. kontrolliert ist – durch den Modelleser. Diesen Ansatz haben Charles in Rhétorique de la
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Martin: Geschichte des Buchwesens aus französischer Sicht, S. 47. Vgl. Roubakine: Introduction à la psychologie bibliologique. Ingold: Der letzte Enzyklopädist, S. 22. Kellert: Fashion in literature, S. 6: »No writer lives for him alone; his book is for reader and writer. Nay, in a very true sense it is written by the reader, who must collaborate with the writer if the book is to achieve any sort of real existence. Even if the writer finds no one else to read it, he has been two persons in producing it. He has made it and he has read it; he has prepared the meal and he has tasted it. No mistake is more far reaching than that which conceives of a book as something merely written. Unless it is read it is a maimed thing, or rather nothing at all.« Vgl. Hoggart: The uses of literacy. Martin: Geschichte des Buchwesens aus französischer Sicht, S. 39 u. 50. Vgl. Dufays: Les théories de la lecture.
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lecture (1977), Eco in Lector in fabula (1979)40 und Riffaterre in La production du texte (1979) vertreten.41 Auch Iser spricht von einem ›impliziten Leser‹; dieser vermag sich aber nicht in jedem Falle gegen den wirklichen, den empirischen Leser durchzusetzen. Vielmehr ›rechnet‹ ein Text einerseits mit Lesern, die sich kontrollieren lassen; die ›Leerstellen‹ im Text aber bedürfen andererseits seiner aktiven Mitarbeit – hier ist der Leser produktiv. Iser zählt nach Dufays zu den Vertretern einer externen Theorie. Für Iser ist der »Text nur eine Partitur«, die durch die »individuell verschiedenen Fähigkeiten der Leser« instrumentiert wird.42 Im Lesevorgang spielen »ständig modifizierte Erwartungen« durch den Leser und seine »erneut abgewandelte[n] Erinnerungen« vom bisher Gelesenen ineinander.43 Anders als in der Alltagswahrnehmung gehorcht der Text eines Romans nicht dem Prinzip einer good continuation, sondern durchbricht diese bewusst, was eine »verstärkte Kompositionsaktivität des Lesers« erfordert, »der nun die kontrafaktisch, oppositiv, kontrastiv, teleskopierend oder segmentierend angelegten Schemata – oftmals gegen eine entstehende Erwartung – kombinieren muss.«44 Der gute Roman betreibt auf der Ebene der Handlung und auf der Ebene der Erzählstrategie eine systematische Vorstellungserschwerung, worauf der Leser mit eigenen Vorstellungen reagieren muss.45 Die von den Leerstellen »verursachten Aussparungen« werden »als Antrieb für das Vorstellungsbewusstsein des Leser« wirksam.46 Jean-Marie Goulemot hat den Versuch unternommen, die Rezeptionstheorie für eine Geschichte des Lesens fruchtbar zu machen. Lesend entnimmt der Lesende dem Buch nicht Sinn (›schöpft‹ also nicht ›Wasser‹, gleich Sinn, aus der ›Quelle‹, d. h. dem Buch), sondern konstruiert diesen vielmehr. Ausgehend von der Polysemie eines (jeden) Textes, verwickelt dieser den Lesenden beim Lesen in ein Spiel, in ein Hin und Her, ein Geben und Nehmen (»un donné et un acquis«47): »[…] ce sont les jeux de connotation que produit la lecture, sans qu’elle commande pour autant un 40 41 42 43 44 45 46 47
Die dt. Übersetzung erschien 1987; vgl. Eco: Lector in fabula. Vgl. Dufays: Les théories de la lecture, S. 117–121. Iser: Der Akt des Lesens, S. 177. Iser, S. 182. Iser, S. 288. Vgl. Iser, S. 291. Iser, S. 301. Goulemot: De la lecture comme production de sens, S. 99. Die Polysemie des Textes erklärt sich für Isabel-Dorothe Otto aus dem Kontextverlust, indem eine ›reale‹ in eine literarische Situation übertragen wird; die Polysemie wird jetzt durch keinen realen Kontext mehr eingeschränkt; vgl. Otto: Leser, Sp. 172.
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discours critique et mette en œuvre un métalange.«48 Es handelt sich beim Leseakt also nicht darum, einen vom Autor intendierten Sinn zu finden.49 Die Lektüre selber schafft die Bedeutung(en), den Sinn eines Textes: »Lire, c’est donc constituer et non pas reconstituer un sens.«50 Aus lesergeschichtlicher Sicht bleibt allerdings nachzutragen, dass alle diese rezeptionstheoretischen und -ästhetischen Modelle an fiktionaler Literatur gewonnen wurden, der Lesealltag hingegen sich schlichter präsentierte. Der Anteil an nichtfiktionaler Literatur (Zeitungen etc.) war immer hoch. Sabine Gross hat Lesen als einen Vertrag dargestellt, dabei sind »Lesestrategien, geistige Modelle und Erwartungen […] auf Wahrscheinlichkeit berechnet.«51 Und für nichtliterarische Texte sind diese Lesemechanismen, die Mehrdeutigkeit in Eindeutigkeit verwandeln, angemessen. »Selbst unsinnige Texte werden von LeserInnen, wenn irgend möglich, schlüssig gemacht.«52 Hier, im nichtliterarischen Bereich, beruht die Kommunikationswirkung »auf der Komplementarität und dem Wechselspiel von Lesestrategien und Textstrategien.«53 Welches aber sind die Voraussetzungen beim Lesen, die der Lesende mit sich bringt, und welches sind die Bedingungen, die bei einem konkreten Leseakt eine Rolle spielen? Nach Goulemot ist jeder Lektüreakt durch seine Physiognomie, seine Geschichtlichkeit und durch die ›imaginäre Bibliothek‹ des Lesenden definiert. Unter der Physiognomie der Lektüre sind Körperhaltung und Körperlage beim Lesen, Leseorte, Tageszeit der Lektüre, laute, leise oder stumme Lektüre, öffentliche oder private Lektüre, Leserituale usw. zu verstehen. Sie folgt Moden, Konventionen und individuellen Vorlieben. Mitunter ist es das Buch, das des Inhalts oder des Formats wegen einen bestimmten Lektüremodus erzwingt. Der Körper selber ist im weitesten Sinne an der Lektüre beteiligt, willkürlich und unwillkürlich.54 Zur Physiognomie des Lesens tritt seine Geschichtlichkeit:
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Goulemot: De la lecture comme production de sens, S. 91. Goulemot, S. 91: »Ce n’est pas retrouver le sens voulu par un auteur, ce qui impliquerait que le plaisir du texte s’origine dans la coïncidence entre le sens voulu et le sens perçu, en une sorte d’accord culturel, comme on l’a parfois prétendu dans une optique dont le positivisme et l’élitisme n’échapperont à personne.« Goulemot, S. 91. Gross: Lese-Zeichen, S. 22–25, hier S. 22. Gross, S. 23. Gross, S. 24. »[…] le corps lisant est un libre choix et une contrainte, car il relève d’attitudes modèles ou types (semblables aux modèles de la distinction), de determinismes biologiques, d’un dispositif proper au genre du livre lui-même, mais aussi d’une liberté où intervient, dans une
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Der Lesende lebt in einem kulturgeschichtlichen, in einem politischen und in einem sozialen Kontext. Sie alle bestimmen seine Lektüre mit und beeinflussen seine individuelle Sinnproduktion. Bestimmte Bücher bzw. Texte werden von jeder Generation anders gelesen. Und Goulemot schreibt: »On pourrait de cette façon écrire l’histoire des générations à travers celle de leurs lectures des grands textes littéraires et reprendre avec un nouveau contenu, les thèses déjà anciennes de Thibaudet, non plus sur les générations d’âge des écrivains, mais cette fois sur celles des lecteurs et du travail du sens.«55 Zur Kulturgeschichte, politischen Geschichte und Sozialgeschichte kommt noch ein kollektives Geschichtswissen (»histoire mythique«) mit ihren »lieux de mémoire« – Goulemot nennt für Frankreich u. a. die Marseillaise, die Résistance, Napoléon, Jeanne d’Arc –, das sich selber im Laufe der Geschichte wandelt. »Chaque régime constitue sa mémoire historique.«56 Neben der Physiognomie der Lektüre, ihrer Geschichtlichkeit bzw. Kontextabhängigkeit wird sie drittens bestimmt durch die ›imaginäre‹ Bibliothek des Lesers oder der Leserin (»[…] c’est-à-dire la mémoire des lectures antérieures […]«57). In diesem Sinne ist Lektüre immer eine vergleichende Lektüre, die das Gelesene in Beziehung zu anderen Büchern setzt.58 Das Prinzip der Dialogizität (Mikhail M. Bakhtin) und der Intertextualität (Julia Kristeva) spielt nach Goulemot nicht nur beim Verfassen eines Textes eine Rolle, sondern auch bei seiner Lektüre. Und mit jeder weiteren Lektüre verändert sich die imaginäre Bibliothek des schon Gelesenen.59 Zugleich stimmt uns die herrschende Kultur auf eine bestimmte Rezeption eines Textes ein und gibt uns einen bestimmten narrativen Code, um ihn zu entschlüsseln, an die Hand.60 Goulemot verwahrt sich abschließend gegen eine mögliche Konsequenz seines Modells, auf den Text komme es im Grunde gar nicht an. Es ist seine Unveränderlichkeit, die, bei einer gegebenen Qualität, immer neue und andere Bedeutungen bzw. Sinnebenen ermöglicht. Von Goulemot ist übrigens 1991 eine Untersuchung über Leser und Lektüre pornographischer Literatur im 18. Jahrhundert erschienen (»Ces livres qu’on ne lit que d’une main«),
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messure qui lui est proper, et qu’il ne peut s’agir de quantifier, le singulier.« Goulemot: De la lecture comme production de sens, S. 92f. Goulemot, S. 94. Goulemot, S. 95. Goulemot, S. 96. »[…] toute lecture est une lecture comparative, mise en rapport du livre avec d’autres livres.« Goulemot, S. 95. »A chaque lecture, le déjà lu change de sens, devient autre.« Goulemot, S. 99. Vgl. Goulemot, S. 96.
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welche in dieser Art von Lektüre das verborgene Modell für jede fiktionale Literatur erkennt.61 Einen weiteren theoretischen Ansatz, der historisch orientiert ist, bietet der Jesuit Michel de Certeau. Er hat im ersten Band seiner L’invention du quotidian (1980) dem Lesen ein eigenes Kapitel gewidmet (»Lesen heißt wildern«).62 Er spricht von der »Ideologie der ›Information‹ durch das Buch«63. Das »gesellschaftliche und technische Funktionieren der gegenwärtigen Kultur« hierarchisiere die beiden Tätigkeiten Schreiben und Lesen. »Schreiben bedeutet, den Text zu produzieren; lesen bedeutet, den Text des Anderen zu rezipieren, ohne ihm einen eigenen Stempel aufzudrücken, ohne ihn neu zu gestalten.« Darin erkennt de Certeau die gesellschaftliche Hegemonie durch die orthodoxe Kirche des Mittelalters.64 »Die gesellschaftliche Hierarchisierung verdeckt also die Realität der Lesepraxis oder macht sie unkenntlich.« Und umgekehrt nahm die »Kreativität des Lesers […] in dem Maße [zu], wie die Institution, die sie kontrollierte, verschwand.«65 Und er fährt weiter: »Was man in Frage stellen muss, ist leider nicht diese Arbeitsteilung (sie ist nur zu real), sondern die Gleichsetzung von Lektüre und Passivität.«66 Wenn aber das Buch ein Resultat (eine Konstruktion) des Lesers ist67, so muss die Arbeit des Lesers »als eine Art lectio betrachtet« werden. »Er erfindet in den Texten etwas anderes als das, was ihre ›Intention‹ war. Er löst sie von ihrem (verlorenen oder zufälligen) Ursprung. Er kombiniert ihre Fragmente und schafft in dem Raum, der durch ihr Vermögen, eine unendliche Vielzahl von Bedeutungen zu ermöglichen, gebildet wird, Un-Gewusstes.«68 De Certeau vermutet, dass dieser aktive Lektüremodus sich nicht nur auf die gelehrte Literaturkritik beschränkt, sondern sich vielmehr auf den ganzen kulturel-
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»Sans doute déréalise-t-il en faisant perdre le sens des valeuers morales, en induisant à l’excès, en enfermant le lecteur dans le domaine étroit des passions et en lui faisant oublier la diversité du monde. Mais n’est-il pas aussi, par ce besoin physiologique qu’il fait naître, un retour au réel si fort qu’il demande sa satisfaction quasi immediate? Négation du monde moral, le roman érotique est l’affirmation brutale de la réalité du monde physique, fût-il réduit au seul corps désirant du lecteur, tendu vers l’écoute de soi et l’autarcie de la jouissance.« Goulemot: Ces livres qu’on ne lit que d’une main, S. 72. Zitiert nach der deutschen Ausgabe: Certeau: Kunst des Handels, S. 293–311. Certeau, S. 294. Certeau, S. 299. Certeau, S. 304. Certeau. S. 299. Charles: Rhétorique de la lecture, S. 61. Certeau: Kunst des Handels, S. 299f.
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len Konsum erstreckt.69 Lesen sei zwar nur »ein Teilaspekt des Konsums, aber ein fundamentaler.«70
3 Methoden und Quellen Der Lektüreakt bzw. die mentale Aneignung des Gelesenen sind überaus flüchtige Momente, und die Dokumente erlaubten äußerst selten – so Darnton – einen unmittelbaren Blick auf den Leser (»[…] for the documents rarely show readers at work […].«71). Man ist aus diesem Grund auf Quellen angewiesen, die es in größerem oder kleinerem Umfange erlauben, diesen Lektüreakten auf die Spur zu kommen. Die Buchproduktion, die Messlisten und Messkataloge, die Listen verkaufter Bücher oder das französische Dépot legal, ebenso die Distribution der Lesestoffe über den Buchhandel, den Kolportagehandel erlauben lediglich eine erste Annäherung.72 Eine Form der Vergesellschaftung der Lektürebeschaffung sind die Lesegesellschaften.73 Otto Dann sieht ihr Aufkommen und ihre Verbreitung im »Zusammenhang der Herausbildung moderner, bürgerlich geprägter Gesellschaften in Europa«, und zwar sowohl in der konstitutiven Bedeutung der Lesekultur als auch in den neuen Formen gesellschaftlicher (Selbst-)Organisation.74 Für die Lesergeschichte spielt die Rekonstruktion der kommerziellen Leihbibliotheken und Lesekabinette, die nach der Mitte des 18. Jahrhunderts sowohl in Haupt- und Universitätsstädten als auch in Landstädten entstehen, eine wichtige Rolle.75 Die Leihbibliotheken verdanken ihre Existenz den in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hohen Buchpreisen. Zentrale Quelle ihrer Rekonstruktion sind sowohl die Zeitungsinserate als auch, und zwar hauptsächlich, die gedruckten oder handschriftlichen Bücherkataloge der einzelnen Leihbibliotheken. Den Forschungsstand reflektieren in einem Problemaufriss der Leihbibliothek 69 70 71 72 73 74 75
Vgl. Certeau, S. 300. Certeau, S. 297. Darnton: First steps towards a history of reading, S. 157. Vgl. Schenda: Volk ohne Buch; Spufford: Small books and pleasant histories, S. 111–128; Messerli: Der Bauer und der Büchermann. Vgl. Fretz: Die Entstehung der Lesegesellschaft Wädenswil; Speich: Une société de lecture; Dann: Lesegesellschaften und bürgerliche Emanzipation; Ziessow: Ländliche Lesekultur im 18. und 19. Jahrhundert; Bachmann: Lektüre, Politik und Bildung. Dann: Lesegesellschaften und bürgerliche Emanzipation, S. 9. Vgl. Sirges: Die Bedeutung der Leihbibliothek für die Lesekultur; vgl. vor allem Martino: Die deutsche Leihbibliothek.
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als »literarische Institution im 18. und 19. Jahrhundert« Jäger und Jörg Schönert.76 Der Literaturbericht von Hermann Staub bietet eine sehr gute Einführung in die Thematik.77 Eine lesergeschichtliche Quelle von unschätzbarem Wert sind Ausleihbücher wie die der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel, die Auskunft über die Bücher geben, die entliehen wurden, und über die Entleiher. Mechthild Raabe hat sie für die Jahre 1714 bis 1799 ausgewertet. Die Resultate liegen in vier Bänden vor und geben eine Transkription der Ausleihbücher, eine Liste der 1 648 Leser und Leserinnen, eine Zuordnung von Berufs- und Standesgruppen zu Büchern nach Fachgruppen und eine Liste der entliehenen Bücher (alphabetisch und nach einer Fachsystematik).78 Aus einem Rezensionsvorhaben Alberto Martinos dieser großangelegten Studien ist endlich ein eigener Band geworden, als »berichtigende, im wesentlichen ergänzende Auswertung des vorgelegten Datenmaterials«79. Die Daten erlauben es, eigentliche Leserbiographien zusammenzustellen.80 Aber auch im Vergleich unterschiedlicher Privatbibliotheken einzelner Bürger lassen sich Aussagen zur Lesekultur und Leserbiographie machen.81 Demgegenüber erlauben Untersuchungen zur Anschaffungspolitik einzelner Bibliotheken nur allgemeine Aussagen.82 Subskribenten- und Pränumerantenverzeichnisse sind eine weitere wichtige Quelle zur Lesergeschichte. Zum historischen Sachverhalt und zu ihrer Verwendung als Quelle hat Reinhard Wittmann einen informativen Artikel (»Subskribenten- und Pränumerantenverzeichnisse als Quellen zur Lesergeschichte«) geschrieben.83 Ulrike Weckel hat für ihre umfangreiche Untersuchung zu den ersten deutschen Frauenzeitschriften im späten 18. Jahrhundert diesen Quellentypus erfolgreich verwendet.84 Individueller Buchbesitz lässt sich durch Bücherlisten, Nachlassinventare85, Testamente, 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85
Jäger/Schönert: Die Leihbibliothek als literarische Institution. Staub: Leihbibliotheken im 18. und 19. Jahrhundert. Vgl. Schön: Geschichte des Lesens, S. 42f. Vgl. Raabe: Leser und Lektüre im 18. Jahrhundert. Martino: Lektüre und Leser in Norddeutschland, ohne Paginierung (»Redaktionelle Vorbemerkung«). Vgl. Martino, S. 484–491. Vgl. Yamanouchi: Bürgerliche Lesekultur im 19. Jahrhundert. Zur Rezeption der Aufklärung in den deutschsprachigen katholischen Ländern zwischen 1750 und 1800 vgl. Breuer: Die Aufklärung in den deutschsprachigen katholischen Ländern 1750–1800. Wittman: Buchmarkt und Lektüre im 18. und 19. Jahrhundert, S. 46–68. Vgl. Darnton: First steps towards a history of reading, S. 163f. Vgl. Weckel: Zwischen Häuslichkeit und Öffentlichkeit, S. 318–372. Vgl. Quarthal: Leseverhalten und Lesefähigkeit in Schwaben.
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Auktionskataloge oder Bevölkerungsverzeichnisse rekonstruieren.86 Exemplarisch hat Hans Medick den Buchbesitz der Ortschaft Laichingen für die Zeit 1748 bis 1820 aufgrund von Heirats-, Nachlass- und Eventualteilungsinventarien untersucht.87 Seit den 1980er Jahren ist die Rede von der Materialität des Buchs. Das Layout, die Schrifttype und Schriftgröße, der Zeilendurchschuss, die kleinen oder großen Abschnitte und die Kapiteleinteilung, das Papier und die Druckqualität sind Lese- und Verstehenshilfen, die, zusammen mit den Textsignalen, Rückschlüsse auf den Leseprozess und das avisierte Lesepublikum erlauben. Aber auch das Buchformat ist ein wichtiger Indikator für Gebrauchsweisen. »Autoren schreiben keine Bücher«88, sie schreiben Manuskripte, die erst in einem komplexen und arbeitsteiligen Arbeitsprozess zu gedruckten Objekten (Einblattdrucken, Flugschriften, Büchern, Broschüren, Zeitschriften, Zeitungen) werden. Jeder Text präsentiert sich in einer bestimmten materiellen Form, die nachhaltig das Verständnis (mit-)bestimmt. Die jeweilige historische Verbindung zwischen Text, typographischem Objekt und Lektüre führt zu Bedeutungsveränderungen eines bestimmten Textes.89 Verleger und Drucker nehmen bei der Buchherstellung auf die unterschiedlichen Lesebedürfnisse Rücksicht. Das erklärt die unterschiedlichen Editionsformen eines Textes, entsprechend dem erwarteten und intendierten Publikum. Das bedeutet: Die Bücher selber, ihre konkrete Gestalt und Gestaltung, sind eine wichtige Quelle für die Lesergeschichte. Chartier hat das am Beispiel der französischen Bibliothèque bleue gezeigt.90 Individuelle Rezeptionsspuren finden sich als handschriftliche Marginalien in Büchern. Auf diese Weise kann die Rezeption eines bestimmten Autors für eine bestimmte Zeitspanne untersucht werden, etwa die Rezeption Johann Taulers anhand handschriftlicher Bemerkungen in Drucken zwischen 1498 bis 1508,91 oder die Art des Lesens bei englischen Lesern in der Zeit der Romantik (1790–1830).92 Auch Zensoren waren Leser von 86 87 88 89 90 91 92
Zum Buchbesitz auf der Zürcher Landschaft im 17. und 18. Jahrhundert vgl. WartburgAmbühl: Alphabetisierung und Lektüre. Medick: Ein Volk »mit« Büchern. Chartier: Lesewelten, S. 12. Vgl. Chartier, S. 13. Vgl. Chartier: Livres bleus et lectures populaires. Vgl. Otto: Vor- und frühreformatorische Tauler-Rezeption. Vgl. Jackson: Romantic readers. Vgl. ebenso Jackson: Marginalia; Sherman: Used books. Marking readers in Renaissance England; Brayman Hackel: Reading material in early modern England, S. 137–195; für Deutschland: Harms: Das Buch im Sammelzusammenhang. Für die British Library existiert sogar ein Katalog: Alston: Books with manuscripts.
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Romanen: Für die Zeit von 1730–1744 waren in Paris 38 Zensoren in 400 Fällen von Entscheidungen bezüglich Romanen tätig.93 Zentral für eine Lesergeschichte ist die Frage, wie die Leute lesen gelernt haben. Darüber geben schulgeschichtliche Quellen wie Schulenquêten, Visitationsberichte, Schülerlisten, Stundenpläne, Methodenbücher für Lehrer, aber auch die schulischen und außerschulischen Lesestoffe wie Abc-Fibeln94 und Lesebücher Auskunft. Hausbesuchungen auf der Zürcher Landschaft (zwischen 1634 und 1790) informieren über den Grad der literacy von Kindern und Erwachsenen, d. h. wie gut sie lesen und schreiben können.95 Hierher gehört auch die Auswertung von Unterschriften bzw. die Untersuchung, ob eine Person mit ihrem eigenen Namen auf Teilungsakten, Testamenten, Zivilstandsakten (Braut und Bräutigam plus die Eltern) unterschreiben konnte. Dieser Quellentypus (»signatures au mariage«) ist für Frankreich für das 17. bis 19. Jahrhundert von François Furet und Jacques Ozouf vorgestellt und teilweise ausgewertet worden.96 Diese französischen Forschungsansätze wurden in den 1990er Jahren in Deutschland von Hans Erich Bödeker und Ernst Hinrichs, zusammen mit einer Gruppe junger Forscher, bei einer im Vergleich zu Frankreich eingeschränkteren Quellenlage, übernommen und angewendet.97 Lesetechniken können […] selbst zum Gegenstand der Repräsentation in Wort und Bild werden. Auf dieser Meta-Ebene ist es nicht mehr die Zufälligkeit der Befunde, die uns den Zugang zu den Lesetechniken gestatten; die Autoren wählen selber aus und typisieren. Dabei kann die explizite Thematisierung des Lesens beiläufig erfolgen oder aber im Fokus der stilisierenden Aufmerksamkeit des Beobachters oder des Gestaltungswillens des literarischen Autors oder des Malers stehen.98
Visuelle Repräsentationen und ihre methodologischen Implikationen sollen weiter unten vorgestellt werden (siehe Kap. 6); ihnen verdanken wir Einsichten über das unterschiedliche Prestige, das dem Buch eignet, die Lesestoffe und die sich verändernde Körperhaltung beim Lesen, aber auch die Orte und Räume des Lesens, der Tages- und der Jahreszeit.99
93 94 95 96 97 98 99
Vgl. Hobohm: Roman und Zensur, S. 271–278. Vgl. Grömminger: Geschichte der Fibel. Vgl. Wartburg-Ambühl: Alphabetisierung und Lektüre. Furet/Ozouf: Lire et écrire; Furet/Sachs: La croissance de l’alphabétisation en France (XVIIIe–XIXe siècles). Vgl. Bödeker/Hinrichs: Alphabetisierung und Literalisierung. Vgl. auch die älteren Arbeiten: Hinrichs: Wie viele Menschen konnten um 1800 lesen und schreiben; Hinrichs: Lesen, Schulbesuch und Kirchenzucht im 17. Jahrhundert. Schlieben-Lange: Geschichte des Lesens, S. 264. Vgl. Darnton: First steps towards a history of reading, S. 167.
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Bei den schriftlichen Repräsentationen kommen einerseits »beiläufige Erwähnungen« von Leseakten in Betracht, wie sie Briefe von Lesern an Verleger enthalten und die Darnton für seine Rekonstruktion der lecture rousseauiste verwendet hat100, ebenso die »Antworten der Informanten des Abbé Gregoire, die sich auf das Lesen beziehen«101, andererseits Reiseberichte wie Joachim Heinrich Campes Briefe aus Paris zur Zeit der Revolution geschrieben (1790), die über unterschiedliche semiliterarische Rezeptionsakte berichten.102 Ein weiterer Quellentypus sind Selbstzeugnisse wie Autobiographien, Tagebücher oder Briefe. Für die Lesergeschichte interessieren darin diejenigen Stellen, die vergangene Leseakte einerseits und die dadurch ausgelösten Reflexionen des Autobiographen103, aber auch den Erwerb seiner eigenen Lesefähigkeit in informellen oder institutionellen Prozessen104 und das Vorkommen von Lesestoffen überhaupt festhalten. Solche Selbstzeugnisse, die Leseakte beschreiben, sind uns nicht nur von ›hommes de lettres‹, von Schriftstellern, überliefert, sondern auch von plebeijschen Autoren wie Karl Philipp Moritz, Ulrich Bräker (1735–1798), Jacques-Louis Ménétra (1738–1812) oder Valentin Jamerey-Duval (1695– 1775). Auf der Grundlage spiritueller Autobiographien untersuchte etwa Margaret Spufford Bildungsprozesse der Unterschicht im England des 17. Jahrhunderts105, und Ursula Brunold-Biegler wertete die Autobiographie Jakob Stutz’ (1801–1877) aus, um die Verbreitung populären Lesestoffe zu rekonstruieren.106 Yoshiko Yamamouchi untersuchte auf der Grundlage von Autobiographien Mentalität, Haltung und Ideal der bürgerlichen Lektüre im 19. Jahrhundert von Kindern und Jugendlichen.107 Nach Helmut Puff dürfen allerdings Selbstzeugnisse wie die Autobiographie Thomas Plattners (1499–1582), die dieser aus einem Abstand 55 bis 65 Jahren auf seine Kindheit und Jugend niederschrieb, »keineswegs nur als treue Protokolle eines bestimmten Lebensweges«108 verstanden werden. Aufgabe des Literaturwissenschaftlers und des Historikers sei es, »das Inszenierungspotential dieser Beschreibungen freizulegen, weil genau diese Insze100 101 102 103 104 105 106 107 108
Darnton: Rousseau und seine Leser. Darnton, S. 265. Vgl. Schlieben-Lange: Promiscue legere und lecture publique. Vgl. Pleticha: Lese-Erlebnisse 2; Weber-Kellermann: Was die Großen lasen, als sie noch Kinder waren; Rutschky: Die Lesewut. Vgl. Hébrard: Comment Valentin Jamerey-Duval apprit-il à lire? Vgl. Spufford: First steps in literacy. Vgl. Brunold-Bigler: Jakob Stutz (1801–1877). Vgl. Yamanouchi: Bürgerliche Lesekultur im 19. Jahrhundert, S. 160–174. Puff: Leselust, S. 141.
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nierungen an das Objekt des Interesses, das Subjekt«,109 heranführten. Das Maß an retrospektiver Konstruktion ist bei Autobiographien im Vergleich zu Briefen und Tagebüchern ungleich größer, indem sie das, was war, im Lichte dessen, was ist, erzählend deuten. Leselisten als eine besondere Form von Selbstzeugnissen sind demgegenüber weniger literarisch überformt.110 Nach Schlieben-Lange ist vielleicht die gewichtigste Quelle zur Rekonstruktion von Lesetechniken deren Verarbeitung in fiktionalen Texten.111 Es handelt sich dabei um eine dritte Art von Authentizität: »Wenn […] Leser literarische Protagonisten werden, so als Repräsentanten von zu einer bestimmten Zeit zentralen Möglichkeiten, die Konflikte und Zwänge, die diesen Möglichkeiten innewohnen, erproben.«112 An literarischen Texten wird auch der Versuch einer Rekonstruktion der ›inneren‹ Geschichte des Lesens versucht,113 die uns nach dem »who«, »what and where« zur zentralen Frage des »why« and »how« führen.114 Eine letzte Quellengruppe umfasst Lesediätetiken115 und Schriften, die das Lesen zu normieren und steuern versuchen. Sie bilden nach Jäger die Grundlage für eine Soziologie der literarischen Geschmacksbildung: »[S]ie dokumentieren die Einstellung der führenden Bildungsschicht gegenüber Lesestoffen, Leseverhalten und Lesergruppen. In ihnen werden Wertsetzungen festgelegt und Funktionsbestimmungen vorgenommen.«116 Dabei hat besonders die deutsche Forschung möglicherweise zu einseitig aus diesen Debatten um das Lesen die Kritik am Lesen – die Stichworte sind »Lesewut«, »Lesefieber«, »Les(e)begierde« – herausgefildert und thematisiert117 und darüber die positiven Einschätzungen, die sich ebenso finden 109 Puff, S. 142. Erich Schön sieht die Autobiographie für eine problematische Quelle an, um die Art des Lesens zu rekonstruieren; vgl. Schön: Der Verlust der Sinnlichkeit, S. 308–311. 110 Peter H. Kamber untersuchte die Leseliste des jungen Luzerner Casimir Pfyffer (1794– 1875); Kamber: Bibliotheken und ihr Publikum im Helvetischen Luzern. Leselisten sind auch von der Fürstin Luise von Anhalt-Dessau (1750–1811) überliefert; Raschke: Privatbibliothek und Lektüre, S. 215–217. 111 Vgl. Schlieben-Lange: Geschichte des Lesens, S. 265. 112 Schlieben-Lange, S. 265. 113 Bickenbach: Von den Möglichkeiten einer »inneren« Geschichte des Lesens. 114 Darnton: First steps towards a history of reading, S. 170f. 115 Vgl. Schön: Der Verlust der Sinnlichkeit, S. 317–322; Schmidt-Hannisa: Kritik der lesenden Vernunft; Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 393–430. 116 Jäger: Historische Lese(r)forschung, S. 504. 117 Vgl. u. a. Erning: Das Lesen und die Lesewut; König: Lesesucht und Lesewut; Bausinger: Aufklärung und Lesewut. Mit der Übersetzung von Reinhard Wittmanns Beitrag in der Storia della lettura von Cavallo und Chartier ist die Lesewut als »furore di leggere« auch in die italienische Sprache eingeführt worden; vgl. Wittmann: Una »rivoluzione della lettura«, S. 350–357.
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lassen, vernachlässigt. Margareta Östmann kommt in ihrer Untersuchung Les précepteurs muets. Etude sur l'utilité morale du roman en France 1699–1742, worin sie Literaturkritiken, literaturwissenschaftliche Abhandlungen und Romaneinleitung aus diesem Zeitraum auswertete, zu anderen Schlüssen. Und auch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lassen sich Lesediätetiken und literarische Ratgeber finden, die Romane grundsätzlich positiv beurteilen: Diese vermitteln anschauliches Wissen und Kenntnisse und erlauben – freilich im Medium des Buchs – Erfahrungen im Umgang mit höheren sozialen Klassen, die man im ›wirklichen‹ Leben zu machen nie im Stande wäre. Eine Ursache dieses Diskurses ist gewiss die mangelnde Einsicht in das, was Lesen ist und die sich als pädagogische Allmachtsphantasie beschreiben lässt, »mit Büchern das kindliche Geistes- und Gemütsleben direct zu formen und zu kontrollieren«118. Der Diskurs einer angemessenen Lektüre richtet sich an unterschiedliche Adressaten (an Frauen119, Mädchen120, Kinder121, an den ›gemeinen Mann‹ etc.); es lassen sich Teildiskurse wie medizinischer Diskurs, theologischer Diskurs oder pädagogischer Diskurs unterscheiden.122 Die darin verwendeten Metaphern, Vergleiche und sprachlichen Bilder verdienen eine gesonderte Untersuchung, wie sie Paul Goetsch für den Motivkomplex »Lesen und Essen« vorgelegt hat.123 Franz M. Eybl etwa hat die kirchlichen Argumentationsmuster in Predigten des 18. Jahrhunderts untersucht.124 Wolfgang Martens hat in dieser Weise die »Formen bürgerlichen Lesens«, wie sie in den deutschen Moralischen Wochen-
118 119 120 121 122
123
124
Darnton betont hingegen beide Seiten, die zu berücksichtigen seien: »First, I think it should be possible to learn more about the ideals and assumptions underlying reading in the past.« Darnton: First steps towards a history of reading, S. 171. Eine Zusammenstellung mit anschaulichen Quellenbelegen bei: Martino: Die deutsche Leihbibliothek, S. 14–19. Rutschky: Die Lesewut. Vgl. Sauder: Gefahren empfindsamer Vollkommenheit; ausführlich Nasse: Die Frauenzimmer-Bibliothek des Hamburger ›Patrioten‹ von 1724. Vgl. Barth: Mädchenlektüren. Vgl. Brüggemann: Das Kind als Leser. Boutan: Pour une histoire de la lecture schlägt, in Anlehnung an Anne-Marie Chartiers und Jean Hébrards »Discours sur la lecture (1880–1980). Études et recherches, Bibliothèque publique d’information Centre Georges-Pompidou« (Paris 1989) die Unterteilung in »discours de l’Église«, »discours des bibliothécaires« und »discours de l’école« vor. Goetsch: Von Bücherwürmern und Leseratten. Vgl. auch Messerli: Lesen und Schreiben 1700 bis 1900, S. 157–161. Eine Zusammenstellung kulinarischer Metaphern für den Akt des Lesens finden sich bei Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 142– 144 (»Speisemetaphern«) und Hart Nibbrig: Warum Lesen, S. 195–207. Zum Bild des Lesens als sammeln bei Seneca (»Wir müssen die Bienen nachahmen«) vgl. Bickenbach: Von den Möglichkeiten einer ›inneren‹ Geschichte des Lesens, S. 99–105. Vgl. Eybl: Die Rede vom Lesen; vgl. ebenso Elfriede Moser-Raths Untersuchung zu den Lektüreanweisungen in katholischen Predigten der Barockzeit: Moser-Rath: Lesestoff fürs Kirchenvolk.
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schriften fassbar werden, untersucht.125 Illustrierende Angaben »zu den Formen und Weisen des Lesens« finden sich darin allerdings nicht eben häufig. Und Martens fährt weiter fort: »Wenn wir uns ihnen zuwenden, so ist überdies zu betonen, dass der Aussagewert dieser Angaben in Hinblick auf die zeitgenössische Leserealität nur sehr vorsichtig zu berechnen ist. Die Schilderungen eines vorbildlichen, tugendhaften oder eines unvernünftigen, ›lasterhaften‹ Leseverhaltens bedienen sich eines Lehrhaften Schwarz-Weiß, aus dem sich die Konturen der historischen Wirklichkeit nicht ohne weiteres erschließen lassen.«126
4 Überblick der Lesergeschichte 1450 bis 1850 Der Zeitraum 1450 bis 1850 zeichnet sich für die Lesergeschichte durch bedeutsame Ereignisse aus. Er umfasst einmal das mit der Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg (Gensfleisch) um 1445/50 zunehmende quantitative Angebot an Büchern. Reformation und Gegenreformation sind die großen Ereignisse, die sich auch auf die Geschichte des Lesens auswirken, ebenso wie die überseeischen Entdeckungen. Im Laufe der vierhundert Jahre nimmt weiter die Forderung eines allgemeinen Schulunterrichts (der in der Hauptsache die Kulturtechnik Lesen vermitteln soll) Gestalt in Form von Grundschulen in Städten und auf dem Land an. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird dann der Schulunterricht obligatorisch. Vor und nach 1800 änderten sich weiter die Lesepraktiken: Das laute individuelle Lesen wich dem schnelleren stummen Lesen, die Wiederholungslektüre der extensiven Lektüre immer neuer Bücher. Und in dieser Zeit nahm auch die Zahl der Lesenden enorm zu. In der Forschung geht man davon aus, dass der Buchdruck auf eine gesteigerte Nachfrage nach Texten reagiert hat. Die Handschriftenproduktion hatte seit der Mitte des 14. Jahrhunderts erstaunliche Ausmaße angenommen. Nach groben Schätzungen erschienen im 15. Jahrhundert im deutschen Sprachraum zwischen 500 und 600 gedruckte Titel, im 16. Jahrhundert bereits 100 000 und im 17. Jahrhundert zwischen 150 000 und 200 000.127 Während die quantitative Textproduktion durch den Buchdruck zunahm, hatte andererseits (und das hing mit den hohen Produktionskosten und den damit verbundenen Risiken zusammen) nur ein ge125 Vgl. Martens: Formen bürgerlichen Lesens. 126 Martens, S. 55. 127 Vgl. Schön: Geschichte des Lesens, S. 17.
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ringer Teil der 5 000 Werke deutscher Literatur, die als Manuskripte verfügbar waren, eine Chance gedruckt zu werden. In den ersten 50 bis 60 Jahren »wurden […] höchstens 10 % davon gedruckt, dann, ca. 1520, war der Medientransfer abgeschlossen.«128 Durch den Buchdruck veränderten sich allmählich die Formen der Wissensvermittlung. Anstelle des learning by doing trat ein learning by reading. Das zeigt sich sowohl bei der Andachtsliteratur, wodurch nun jedes Haus zu einer ›Kirche‹ wurde. Das Selberlernen trat damit in Konkurrenz mit formellen Formen des Unterrichts (Schule, Universität). Giesecke hat für das 16. Jahrhundert besonders auf die volkssprachliche, mit Holzschnitten versehene Fachliteratur hingewiesen, die jede Art von Sachwissen zu vermitteln vermochten. Diese Bücher wurden »von den Bürgern nicht so sehr als Helfer, sondern als Hilfe zur Selbsthilfe aufgefasst.«129 Wie viele Menschen konnten um 1500 in Deutschland lesen und übten diese Aktivität auch aus? Darüber gab es bisher unterschiedliche Schätzungen. So geht Manfred Sauer von 13 Millionen Einwohnern aus; davon lebten 1,2 Millionen in Städten, von denen lediglich 5 % lesen konnten.130 Bei dieser Rechnung verteilen sich die 6 000 000 Inkunabeln auf lediglich 75 000 Personen. Nach Uwe Neddermeyer kämen so, selbst wenn man eine »Exportquote« von 15 Prozent abzieht, noch immer 60 Bücher auf eine Person. »Diese sehr hohe Zahl scheint unter Berücksichtigung der Buchpreise kaum wahrscheinlich, auch wenn einzelne Gelehrte weit umfangreichere Bibliotheken zusammentragen konnten.«131 Wittmann geht noch von einer tieferen Zahl von Lesern aus, nämlich von 60 000 Personen in Deutschland.132 Dadurch würde der durchschnittliche Buchbesitz noch höher ausfallen. Um zu verlässlicheren und realistischeren Zahlen zu kommen, schlägt Neddermeyer vor, exemplarische Einzelfälle zu untersuchen. Er geht von den verkauften Produkten, den Büchern, aus, um dann auf die Leser zu schließen. Er wählt für seine Berechnung die Legenda aurea aus. Das umfangreiche und anspruchsvolle Werk diente sowohl der religiösen Erbauung, als auch der historischen Bildung und war ebenso spannende Unterhaltungsliteratur. »Andererseits konnte man dem Werk auch die Vita des jeweiligen Ta128 129 130 131 132
Schön, S. 16. Vgl. Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, S. 322. Giesecke, S. 543. Vgl. Sauer: Die deutschen Inkunabeln. Neddermeyer: Von der Handschrift zum gedruckten Buch, S. 458. Vgl. Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels, S. 40.
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gesheiligen entnehmen, die in der klösterlichen Gemeinschaft vorgelesen wurde.«133 Diese Vielfalt möglicher Nutzungsformen der Legenda aurea garantierte in den Anfangsjahren des Buchdrucks ihren großen Erfolg. Der Einbruch des Absatzes zu Beginn des 16. Jahrhunderts erklärt Neddermeyer durch einen gesättigten Markt. Das ergibt für Neddermeyer die einmalige Gelegenheit, »von der Zahl der absetzbaren Bücher der Legenda aurea auf die Größe des qualifizierteren Leserpublikums um die Wende zum 16. Jahrhundert zurückzuschließen.«134 Die Marktsättigung wurde mit über 100 Nachdrucken erreicht, was weit über 70 000 verkauften Exemplaren entspricht. Hinzukommen noch mindestens 10 000 Manuskripte der Legenda aurea aus dem 14. und 15. Jahrhundert. Daraus schließt Neddermeyer auf weit über 100 000 qualifizierte Leser schon in der Mitte des 15. Jahrhunderts und auf 300 000 um das Jahr 1500. Damit müssten die bisherigen Annahmen, die für das Jahr 1500 von einem Prozent Lesefähiger unter den Erwachsenen ausgingen, korrigiert werden. Ihre Zahl war weit größer und umfasst gegen 3 % der erwachsenen Bevölkerung. Schön geht für die Zeit um 1500 von 2 % aktiver Leser, für das Jahr 1600 von höchstens 4 % aus.135 Das Lesepublikum vor der Reformation gliedert Neddermeyer in die fünf folgenden Gruppen: 1. Weltklerus, Mönche und Nonnen (als Individuen), Kirchen, Klöster und Konvente (als Institutionen), 2. Beamte, Gelehrte Räte, Sekretäre, Notare, Stadt- und Ratsschreiber usw., 3. Universitäten bzw. Universitätsangehörige: Magister und Studenten der Artes, der Theologie, Jurisprudenz und Medizin, 4. Lateinschüler, Schulmeister und Lehrer, 5. Volkssprachliche Leser: Der Adel, insbesondere weibliche Standesangehörige, sowie Teile der bürgerlichen städtischen Oberschicht, Nonnen und Konversen.136 Fragt man nach den Rezipienten von volkssprachlicher Unterhaltungsliteratur um 1500 (die zu diesem Zeitpunkte allerdings nur einen verschwindend kleinen Teil der Buchproduktion ausmacht), ist der Befund nicht grundsätzlich anders. Ursula Hess hat in einer Studie zur Text- und Über133 134 135 136
Neddermeyer: Von der Handschrift zum gedruckten Buch, S. 459. Neddermeyer, S. 459. Vgl. Schön: Geschichte des Lesens, S. 18. Vgl. Neddermeyer: Von der Handschrift zum gedruckten Buch, S. 463.
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lieferungsgeschichte der frühhumanistischen Prosanovelle Heinrich Steinhöwels, der Griseldis, versucht, Buchbesitzer und Leser zu identifizieren. Als Grundlage zur Klärung der Rezeptionsschichten ging sie von neun Sammelhandschriften, zahlreichen Drucken sowie zwei literarischen Anspielungen und einigen zeitgenössischen Bibliotheksinventaren aus, die jeweils Rückschlüsse auf ihre Besitzer zuließen.137 Zu den Lesern der Griseldis zählten »[n]eben höfisch-adeligen Publikumsschichten […] zweifellos in größerem Ausmaß als in den Handschriften nachweisbar, Patrizier, ratsfähige und akademische Stadtbürger, Ärzte, Juristen, Kommunalbeamte und Kaufleute, die sich in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts mehr und mehr zu Büchersammlern großen Stils entwickeln«.138 Den breiten unteren Schichten fehlten hingegen bis weit ins 16. Jahrhundert die ökonomischen Möglichkeiten und auch die Bildungsvoraussetzungen; als Hauptkonsumenten von Prosaliteratur in der Art der Griseldis kamen sie, und das für lange Zeit, nicht in Frage.139 Diese Schichten kamen mit dem Griseldis-Stoff im Laufe des 16. Jahrhunderts durchaus in Kontakt, allerdings über andere Kanäle als dem Buch, im Medium der Mündlichkeit und des Bildes als Fresko oder als Holzschnitt. Hans Sachs hat gleich mehrfach die Steinhöwelsche Fassung der Griseldis dramatisiert, und wir haben auch Kenntnis von Laienaufführungen an Danziger Schulen.140 Bob Scribner hat die Frage aufgeworfen, wie der gemeine Mann in Kontakt mit reformatorischem Gedankengut gekommen sei.141 Nach Scribner kam dafür die selbständige individuelle Lektüre nicht (oder nur in Ausnahmefällen) in Frage. Die nichtlesefähigen Unterschichten der Reformationszeit rezipierten Buchinhalte durch Vorlesen, durch Gerücht, Gesang, Predigt, durch Flugblattillustrationen und durch Schauspiel: »Kurz gefasst, geschah das vielseitig: durch Hören, Schauen, Lesen, Diskussion und Aktion.«142 Alphabetisierte Mediatoren ›übersetzten‹ die Texte ins umgangssprachliche Idiom bzw. in dialektale Sprachvarianten.143 Mo137 138 139 140 141 142 143
Vgl. Hess: Steinhöwels »Griseldis«, S. 62f. Hess, S. 74. Vgl. Hess, S. 82. Vgl. Bolte: Das Danziger Theater des 16. und 17. Jahrhunderts, S. 14 u. 16. Vgl. Scribner: Flugblatt und Analphabetentum. Scribner, S. 76. Dazu Schenda: »Lesekönnen blieb dabei Privileg der Oberschicht, auch im Reformationszeitalter, in welchem, wie in jeder Krisenzeit, ungewöhnlich viel Gedrucktes auf die Märkte geworfen wurde und zahlreiche Stadtbürger diese schwierige Kunst des Lesens erlernten. Mag sein, dass ein Viertel der Großstadtbevölkerung des 16. Jahrhunderts leselustig und lesefähig
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nika Rössing-Hager konnte nachweisen, dass Flugschriften aus dieser Zeit in Hinblick auf ihre Oralisierung um eine »intonationsgerechte Syntax«144 bemüht waren. Diese audiovisuellen Vermittlungsmodi aber gelten auch für literarische Stoffe und nichtfiktionale Texte wie das Zeitungslied.145 Am Beispiel Thomas Platter (1499–1582) versucht Puff zu verstehen, wie sich autodidaktische und gelehrte Lesepraktiken biographisch herausbilden. Die Analyse der von Platter zwischen dem 28. Januar und dem 12. Februar 1572 verfassten Autobiographie ergibt, dass das Lesen für Platter keineswegs eine »weltabgewandte, asoziale, sondern […] eine höchst soziale Aktivität«146 war. Als »verspäteter Schüler«, der aus ärmlichbäuerlichen Verhältnissen stammte, paukte er noch 18-jährig an der berühmten Schlettstadter Schule die Anfangsgründe der Grammatik, »um dann später in Basel verlegerisch tätig zu sein und 1541 zum Rektor am dortigen Gymnasium zu avancieren.«147 Puff spricht zu Recht von einer humanistischen Bilderbuchkarriere. Seine Biographie deutet Platter in seiner literarischen Selbstdarstellung als einen Weg zur Buchkultur. In seiner Jugend aber herrschte ein Mangel an Büchern; an der Schule in Breslau (1515) besaß nur der Präzeptor einen gedruckten »Terentium«, während die Griechischschüler sich mit Abschriften begnügen mussten. Auf der Suche nach Hinweisen zu konkreten, historischen Lesevorgängen stößt Puff in der Autobiographie auf die Verben »lesen«, meist in der Bedeutung von »vorlesen«, und »conferieren«, das Platter wiederholt in der befremdlichen Konstruktion »mit sich selbst conferieren« verwendet. Darunter verstand man im 16. Jahrhundert eine Zusammenkunft mehrerer Personen, um aus bestimmtem Anlass über etwas zu sprechen, sich mit jemandem zu beraten oder sich zu unterreden. Für Platter aber war »mit sich conferieren« ein Gespräch bzw. die buchgestützte Unterredung mit dem Autoren.148 Beim Vorlesen hingegen wird dieser Gesprächscharakter durch die verteilten Rollen und die Reoralisierung szenisch realisiert: Im allgemeinen schließt sich das Bedeutungsspektrum von ›lesen‹ im sechzehnten Jahrhundert […] noch eng an das lateinische lectio, die Vorlesung, an, bei der einige Personen einer anderen oder einer Gruppe von Menschen laut einen Text vorträgt,
144 145 146 147 148
war; die Landbevölkerung, 90 Prozent der Gesamtpopulation, blieb von dieser Art des Gedankenaustausches nahezu unberührt; […].« Schenda: Zur Geschichte des Lesens, S. 17. Rössing-Hager: Nicht-lesekundiger Rezipient. Vgl. Brednich: Die Liedpublizistik im Flugblatt des 15. bis 17. Jahrhunderts. Puff: Leselust, S. 137. Puff, S. 138. Puff, S. 150.
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einen Bibeltext etwa, ein Schulbuch oder ein Drama von Terenz. Mithin meint ›lesen‹ eine Unterrichts- und Kommunikationssituation, an der mehrere Personen beteiligt sind und der Lesestoff laut vorgetragen wird.149
Beide Lektürepraktiken finden sich im 16. Jahrhundert, ohne dass die eine die andere ablösen oder gar verdrängen würde. An Beispiel Martin Luthers lässt sich sogar ein dritter Lektüremodus, die kursorische schnelle Lektüre nachweisen, die aber noch ganz im Dienst eines »nachfolgend dann intensiven Textstudiums« stand.150 Puff schließt daran die Überlegung, das Innenleben Platters ließe sich als Fortsetzung seines Außenlebens verstehen, indem eine »innere wie äußere Interpersonalität« den Platz einnehme, was später, bezogen auf das modere Individuum, die Bezeichnung ›Reflexion‹ erhalten werde.151 Auch im 17. Jahrhundert war Dichtung ein Randphänomen mit einem äußerst beschränkten Adressatenkreis. »[E]s handelte sich um die literarische Kultur einer kleinen Oberschicht, […] mit Frauendominanz, die aus dem Adel und Patriziat bestand.«152 Die übrige Bevölkerung, insofern sie überhaupt las, las Kalender, Flugblätter, Volksbücher und religiöses Schrifttum, »all das, was vom Adel und von den Patriziern noch zusätzlich gelesen wurde.«153 Richard Alewyn hat in seiner Studie zu Johann Beer die populären Lesestoffe, die in dessen dichterischem Werk (und in einem bürgerlichen Kontext) Erwähnung finden, zusammengestellt.154 Aussagen über die Lesefähigkeit im ständischen Bereich lassen sich auch für das 17. Jahrhundert generell nicht machen. Anhaltspunkte geben aber auch hier exemplarische Untersuchungen eines bestimmten Lesepublikums, wie dies Hans Dieter Gebauer am Beispiel von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen getan hat155: Das Publikum der simplicianischen Schriften ist […] auf die Bildungsschichten des Bürgerstandes und auf den höfischen Bereich beschränkt gewesen. Schon die errechenbare Zahl der Buchexemplare (12 000 Exemplare zwischen 1668 und 1671 bei 8 Millionen erwachsenen Einwohnern im Reich bzw. 490 000 erwachsenen Städtern) verbietet es hier, von Massenliteratur zu sprechen. Auch liegt der Buchpreis so hoch, dass nur Wohlhabende sich den Simplicissimus, ein als Unterhaltungsliteratur angesehenes Werk, leisten konnten.156
149 150 151 152 153 154 155 156
Puff, S. 151. Flachmann: Martin Luther und das Buch, S. 28 Puff: Leselust, S. 151. Gauger: Geschichte des Lesens, S. 76. Gauger, S. 76. Vgl. Alewyn: Johann Beer, S. 266–272 (»Zeugnisse zu den Volksbüchern«). Zum Folgenden vgl. Breuer: Apollo und Marsyas, S. 35–36. Breuer, S. 35.
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Als neuer Lesestoff trat im Laufe des 17. Jahrhunderts die Zeitung, im 18. Jahrhundert die Moralische Wochenschrift auf. Am Ende des 17. Jahrhunderts gab es in Deutschland zwischen fünfzig und sechzig Zeitungen, um 1800 bereits 200 Zeitungstitel, was 300 000 Zeitungsexemplaren entsprach. Als Leser kamen Personen der Unterschicht erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Frage, zumal die Abonnementspreise überaus hoch waren, und man sich bis 1800 auch in wohlhabenden Kreisen eine Zeitung gemeinsam mit anderen hielt (was etwa bei Zeitungen, die wöchentlich erschienen, bedeutete, dass man jeweils nur einen bestimmten Wochentag für die Lektüre einsetzen durfte; dann musste man sie an einen der übrigen Teilhaber weitergeben).157 Die prozentualen Anteile der deutschen und der lateinischen Titel veränderten sich zwischen 1600 und 1800 dramatisch: Waren um 1600 lediglich 21 % der Titel in deutscher Sprache, so verdrängten die deutschsprachigen Titel im Laufe des 17. Jahrhunderts immer mehr die lateinischen (allerdings mit Schwankungen). 1700 waren bereits 62 % der Titel in deutscher Sprache und um 1800 96 %.158 Die Buchproduktion verzeichnete, durch den Dreißigjährigen Krieg verursacht, große Einbrüche. Sie fiel »[v]on 1239 Titeln als durchschnittliche Jahresproduktion 1610– 1619 auf nur 470 in den Jahren 1632–1642«159, um sich dann nur allmählich zu erholen. Erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts entstand ein wirkliches Lesepublikum und damit auch eine Lesekultur. Es waren in der Hauptsache soziale Veränderungen, die die Entstehung dieser Lesekultur ermöglichten. Durch die Delegierung häuslicher Arbeiten an Dienstpersonal gewinnen die Frauen des Bürgertums mehr Zeit, über die sie selber verfügen können.160 Überhaupt wird nun strenger zwischen Arbeitszeit und Freizeit unterschieden (Departementalisierung der Zeit); und die bisher ›unproduktive‹ Nacht wird als Zeit des Lesens entdeckt und erschlossen. Mit der zunehmenden Romanlektüre im 18. Jahrhundert, vor allem in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts von Frauen praktiziert, ist auch der sich schnell durchsetzende Lesemodus des stillen bzw. stummen Lesens verbunden.161 Als die übliche Art der Literaturrezeption reicht sie, nach 157 158 159 160
Vgl. Messerli: Lesen und Schreiben 1700 bis 1900, S. 398–409. Schön: Geschichte des Lesens, S. 20. Schön, S. 19. Vgl. Gauger: Geschichte des Lesens, S. 77. Zum Verhältnis von Arbeitszeit und Freizeit vgl. Schön: Der Verlust der Sinnlichkeit, S. 236, 244–249, 260, 264f., 269, 271, 274f., 278. 161 Nach Michael Hadley erschienen zwischen 1750 und 1800 4 741 deutsche Romane, jedes Jahr im Durchschnitt 92,9 Romane (die Jahresproduktion schwankte allerdings zwischen 9 und
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übereinstimmendem Urteil der historischen Leseforschung, kaum 250 Jahre zurück. Noch bis zum Beginn der Leserevolution in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts las man laut, entweder für sich allein oder für andere, wenn man einmal von der verschwindend kleinen Gruppe der Gelehrten absieht, die das stille Lesen schon im 16. Jahrhundert mit dem Effekt beschleunigter Informationsaufnahme für sich entdeckt hatten. Der nun einsetzende Rückzug aus der gemeinsamen Rezeption im familiären, nachbarschaftlichen Vorlesekreis und die immer häufiger stattfindende individuelle stille Lektüre schuf um 1800 eine neue Situation. Wie kam es dazu? Man wollte sich die Literatur nicht durch schlechte Vorleser und unpassende Kommentare der Zuhörenden vermiesen lassen und man wollte in der Auswahl der Texte autonom sein. Wenn der stillen Lektüre ein von der damaligen Gesellschaft wahrgenommenes asoziales Moment eignete, so war sie auch Flucht aus dem paternalen und autoritativen ›Gefängnis‹ des Familienverbands und des Dorfs. Zugleich erwuchs aus der stillen Lektüre ein zweifacher Vorteil: Man ergab sich der Suggestivkraft des Lesens in der ›Stilllegung der Körpermotorik‹. Man vergaß darüber die diätetisch-medizinischen Grundsätze, wonach Erzählen, Nacherzählen, Vorlesen oder lautes Lesen unterhaltsamer Geschichten als eine Art Körpergymnastik bzw. Körperhygiene den Lesenden und als mentales Training den Hörenden vor Melancholie und Krankheit bewahre. Andererseits gewann man durch das stille Lesen an Konzentration und an Lesetempo. Die Lesegeschwindigkeit ist nach Matthias Bickenbach die verkannte Größe in der Geschichte des Lesens.162 Der still Lesende vermag schneller zu lesen als der laut Lesende, da bei der lauten Artikulation der Lesegeschwindigkeit Grenzen gesetzt sind. Die Lesepraxis des stillen Lesens erfuhr 1735 durch den Leipziger Schulmann und späteren Professor für klassische Philologie Johann Matthias Gesner (1691–1761) in der Unterscheidung von »statarischem«, das heißt verweilendem, und »kursorischem«, das heißt die Zeilen rasch durcheilendem, Lesen ihre theoretische Begründung.163 Nach ihm hat die kursorische Lektüre, die den Text ganz durchliest, der bislang vorbildlichen Lektüreform einer statarischen Lesung vorausgehen. Das Konzept, das Gesner, ganz unpädagogisch, in der Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Romanlektüre entwickelte, geht davon aus, dass nur durch kursorische Lektüre der Text als Ganzes in 375 Titeln; deutliche Zunahmen sind 1764/65, zwischen 1779 und 1781 und zwischen 1790 und 1792 zu verzeichnen); vgl. Hadley: Romanverzeichnis, S. XX; Schön: Weibliches Lesen. 162 Vgl. Bickenbach: Von der Möglichkeit einer »inneren« Geschichte des Lesens, S. 137–141. 163 Vgl. Bickenbach, S. 142–147.
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seinem Zusammenhang erfahrbar und damit als Medium von Sachwissen und pragmatischem Wissen für den Alltag tauglich werde. Helmut Zedelmaier hat in einer ausführlichen und gründlichen Besprechung mehrfach Einspruch gegen Bickenbach erhoben. Gegen die »Reduzierung des gelehrten Ideals der Lektüre auf das langsame Lesen« spreche eine große Zahl von Texten und Textstellen der Frühen Neuzeit, »in denen Lektüretechniken zur schnellen und effektiven Wissensaneignung propagiert werden.«164 Und auch die von Bickenbach zitierten Ausführungen Herders ließen sich eben nicht auf den Gegensatz langsames versus kursorisches Lesen reduzieren. Und weiter: »Herders Gegensatz kontinuierliche/einfühlende versus diskontinuierliche/distanzierte Lektüre profiliert vielmehr eine Technik des Textumgangs, die sich gegen die gelehrte Tradition des pragmatischen Ausschöpfens von Texten absetzt (gegen das isolierende, den Textzusammenhang zugunsten bloßer Informationsstrategien ignorierende Stellenlesen etwa […]).«165 Die Situationen präsentierten sich im 18. Jahrhundert in der Schweiz (und in Europa) überaus heterogen. Drei unterschiedliche Lesepraktiken koexisierten miteinander. Die erste Szene ist in den späten 1750er anzusiedeln. Heinrich Boßhard (geb. 1748), Sohn eines Tagelöhners von Rümikon bei Winterthur (Kanton Zürich), beschreibt in seiner Autobiographie, wie er, ohne in die Schule zu gehen, lesen lernte, indem sein Vater »an den Sonntagen sehr viel, und überlaut in der Bibel las«.166 Boßhard suchte dann die Worte selber in der Bibel auf und wiederholte jedesmal das Gehörte, bis er selber lesen konnte. Bald las er, im Verborgenen und leise die Bibel: »Aber mein Leiselesen lag meinen Eltern gar nicht recht; sie schlugen mich: ›Ich soll laut lesen‹. Das konnt ich nicht; denn ich wollte den Nachbarsweibern durchaus nicht zum Gelächter werden. Endlich ließ man mich doch den Sonntag ruhig über meiner Bibel sitzen, und ich unterhielt mich auf eine ganz eigene Art mit ihr.«167 Man ist geneigt, nach den kritischen Einwänden Zedelmaiers, die älteren Erklärungsmodelle für die Leserevolution des 18. Jahrhunderts, wie sie Rolf Engelsing in den 1970er Jahren entwickelt hatte, nämlich seine Unterscheidung in intensive Lektüre und extensive Lektüre, wieder zu erwägen.168 Während die intensive Lektüre nur wenige Lesestoffe kennt, die immer wieder ge164 165 166 167 168
Zedelmaier: Schwierige Lesegeschichte, S. 93. Zedelmaier, S. 96. Boßhard: Eines schweizerischen Landmannes, Lebensgeschichte, S. 1f. Boßhard, S. 4. Vgl. Engelsing: Zur Sozialgeschichte deutscher Mittel- und Unterschichten; Engelsing: Analphabetentum und Lektüre; Engelsing: Der Bürger als Leser.
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lesen werden (und am Schluss fast auswendig reproduziert werden können), bedient sich die im 18. Jahrhundert massenhaft auftretende extensive Lektüre immer neuer Lesestoffe (in der Hauptsache Zeitungen und Romane), die nun nur noch einmal gelesen werden. Dabei ist der Begriff der Wiederholungslektüre dem der intensiven Lektüre vorzuziehen, da jene frei von »offene[n] oder verborgene[n] Wertimplikationen« ist.169 Die zweite Situation entnehme ich den Lebenserinnerungen von Jakob Stutz (geb. 1801) von Isikon bei Hittnau im Zürcher Oberland. Er kam, nachdem er seine Eltern verloren und auf einer Mühle gearbeitet hatte, mit achtzehn Jahren für einige Zeit ins Pfarrhaus, um Unterricht in der deutschen Sprache zu erhalten. Eines Tages überreichte ihm der Pfarrer ein Geographiebuch der Schweiz und forderte ihn auf, darin zu lesen. Stutz setzte sich ans Fenster und las sehr laut – denn anders zu lesen wusste er nicht: Der Pfarrer hustete mehrmals und die Frau Pfarrer ächzte. Endlich rief der Pfarrer: ›Weist du nicht, wie man lesen muß?‹ Ich erschrak, weil ich meinte, ich spreche die Worte nicht ganz nach der neuen Lehre aus und gleich las ich mit verstärktem Ton und sehr gedehnt: Dain, main u. s. w. ›Halt’s Maul!‹ rief endlich der Pfarrer wieder, ›und lies leise, man kommt ja fast um’s Gehör, und ohnedieß störst du mich an meiner Arbeit.‹ Beschämt begann ich leise zu lesen und flüsterte außerordentlich fleißig und ernstlich fort, so daß es zischte und pfiff, als ob der Bisiwind [sc. Nordwind] durch die Spalten wehe. Der Pfarrer hustete wieder und scharrte mit den Füßen – Frau Pfarrer warf ihr Buch auf den Tisch und fing an zu spinnen, daß es knurrte und surrte. Aber mein Lispeln, Flistern und Zischen brach sich Bahn durch alles Geschnarr, Geknurr, und Gesurr hindurch und gelangte in Aller Ohren hinein. Dem Pfarrer ging die Gedult aus, er stellte sich vor mich hin und ahmte spottend mein Lesen nach. Ob man so närrisch thun müsse? Ob ich nicht wisse, daß man auch mit geschlossenem Mund, ohne einen Laut zu hören, die Worte nur in Gedanken lesen könne? – Das soll ich mir ein für alle Mal gesagt sein lassen, weder laut noch leise zu lesen, wenn es mir nicht ausdrücklich befohlen sei.170
Die dritte Situation ist dem Räisonierenden baurengespräch, über das bücher lesen und den üßerlichen gottesdienst entnommen, einem Theaterstück, das Bräker (geb. 1735) 1777 verfasste, und das die Probleme verhandelt, die das Lesen im Toggenburg, einer frühen protoindustriellen ländlichen Region, mit sich brachte.171 Darin kritisiert eine Grete das »büchernaschen« ihres Mannes. Sie hatte ihn »vor dem mittagessen ob das hauß, hinter ein gebüsch«172 in Beaumonts Kindermagazin lesend angetroffen und Krach geschlagen. Was sie ihrem Manne vorwirft, ist seine Pflichtvergessenheit, die 169 170 171 172
König: Geschichte und Sozialstruktur, S. 136. Stutz: Sieben Mal sieben Jahre aus meinem Leben, S. 517f. Vgl. Sauder: Die Bücher des Armen Mannes, S. 175. Bräker: Sämtliche Schriften, Bd. 4, S. 139.
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bei den kargen ökonomischen Verhältnissen, wo vorerst die »notdurfft«173 befriedigt werden musste, um so schwerer wog. Darüber hinaus deutet sie das stille Lesen ihres Mannes als eine Form verweigerter Kommunikation: »dennk doch, wann du ein weib wärst; und dein mann würde dich immer fliehn, […] oder mit einem buch dahoken, kein wort sagen, kein mund regen, kein aug bewegen, als wann du ein stummer hund wärest: würd dir dein leben nicht saur, und ewig langweilig seyn.«174 Die drei Situationen sind deshalb aufschlussreich, weil hier jeweils eine Lektürepraktik als befremdlicher Anlass zu einer Auseinandersetzung führte. Wenden wir uns zuerst den nicht-modernen Lesern und Leserinnen zu. In unseren drei Beispielen sind das die Eltern Boßhards, Stutz und die Grete. Es sind im Lesen wenig geübte Personen, die das stumme oder leise Lesen anderer mit Beunruhigung und Abneigung vermerken, denn es stimmt nicht mit ihrer Vorstellung bzw. Erwartung von Lesen überein. Für sie ist »Lesen, das ist Sehen und Hören einerseits und Verstehen andererseits, eine dreifaltige Einheit«.175 Ihnen war das laute Lesen, bei dem sie die Klanggestalt eines Worts oder eines Satzes hörend erfuhren, unverzichtbare Verstehenshilfe.176 Die Gründe dafür liegen in ihrer eigenen Lesesozialisation. Laut lesend haben sie lesen gelernt und haben diese Lektürepraktik nicht mit einer anderen (dem leisen Lesen, dem stummen Bewegen der Lippen oder der Stilllegung des Körpers) vertauscht. In den Grundschulen war bis um 1800 die Praxis des individuellen lauten Lesens vorherrschend. Die Haupttätigkeit des Lehrers bestand in der Zuteilung individueller Lektionen und in der Kontrolle des Auswendiggelernten, der erhaltenen Memorierpensa oder »Letzgen« (das heißt Lektionen); der einzelne Schüler las die ihm aufgegebene Lektion während der Stunde laut, um sich dann anschließend wenige Minuten vom Lehrer überhören (abhören) zu lassen.177 Dieses gleichzeitige Lesen unterschiedlicher Lektionen wurde von den aufgeklärten Kritikern des Individualunterrichts um 1800 als »Gesummse«, »Geplärr« und »Gewinsel« beschrieben, das man vernehme, sobald man sich einer Grundschule nähere. In den zahlreichen Beschreibungen dieser Grundschulen alten Typus wurde auch öfters der Vergleich mit Judenschulen bemüht. Aber gehen wir etwas genauer auf den Vorwurf des ›Büchernaschens‹, des ›Allerleilesens‹ ein, den die Grete gegenüber ihrem Ehemann formuliert. 173 174 175 176 177
Bräker, S. 139. Bräker, S. 144f. Balogh: »Voces Paginarum«, S. 95. Vgl. Baumgärtner: Lesen, S. 135. Vgl. Messerli: Lesen und Schreiben 1700 bis 1900, S. 258–266.
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Günter Erning hat die Argumentationsfigur gegen die ›Lesesucht‹ überzeugend als eine behauptete »Gefährdung der vom ›ganzen Haus‹ repräsentierten Ordnung«178 analysiert. Nicht nur würden der unnötige finanzielle Aufwand durch Bücherkäufe und Leihgebühren und die mit Lesen versäumte Zeit das Wirtschafts- und Lebensgefüge in Mitleidenschaft ziehen. Die »in der Struktur der extensiven Lektüre angelegte Absonderung«179 und Vereinzelung der Lesenden und der raschere Umlauf der Lesestoffe führt zu divergierenden Leseerfahrungen und zum Ende eines in der Wiederholungslektüre immer gleicher Texte gesicherten, für die Angehörigen des ›Hauses‹ identischen und verbindlichen Orientierungshorizontes: »Die dadurch eingeleitete Subjektivierung der Rezeption unter dem Anspruch der Gültigkeit eröffnete dem einzelnen Leser Orientierungs- und Informationsmöglichkeiten, die die Konformität der Ordnungsvorstellungen durchbrechen und eine Abgrenzung des einzelnen vom Gefüge des ›ganzen Hauses‹ begünstigen konnten.«180 Die Lesenden erschlossen sich mit ihrer Lektüre Bereiche, die die »enge, durch soziale Unterdrückung, räumliche und seelische Begrenztheit gekennzeichnete Wirklichkeit«181 sprengten. Dass diese durch den solitären Leser eingeleitete soziale Fragmentierung und Individualisierung, ob nun eingebildet oder real, bei den Zeitgenossen Ängste auszulösen vermochte, darf nicht verwundern. Unter anderem führte das solitäre Lesen immer neuer und anderer Lesestoffe durch meist junge Leute und die entsprechenden Lektüreerfahrungen zu einem neuen Wissen, an dem nicht alle gleich partizipierten. Dieser Verlust eines gemeinsamen Wissens (cognitive sharing) durch den selbstverständlichen Medienumgang der jüngeren Generation wurde von der älteren als Generationenkonflikt wahrgenommen.
5 Alphabetisierung und Literarisierung ohne Buch Es wird meist davon ausgegangen, dass es sich beim Vorlesen um eine »Literalisierung ohne Alphabetisierung« handle, indem sich unter den Zuhörenden Analphabeten befanden. Das ist jedoch von Fall zu Fall abzuklären. Vorlesen musste durchaus nicht aus der Not geschehen sein, dass die Zuhörenden selber nicht lesen konnten. Wenn es an etwas fehlte, so war es der Lesestoff. Der Fall, dass man sich vorlesen ließ, weil man es 178 179 180 181
Vgl. Erning: Das Lesen und die Lesewut, S. 86–88. Erning, S. 86. Erning, S. 87. Catholy: Karl Philipp Moritz, S. 134.
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nicht selber konnte, konnte noch im 18. Jahrhundert und zu Beginn des 19. Jahrhunderts vereinzelt vorkommen. Dabei handelte es sich fast ausschließlich um das Vorlesen von Handschriften. Vorlesen als Dienstleistung wird etwa für Meisterkappel (Kanton Luzern) erwähnt. So kostete im Jahre 1702 einen Brief lesen helfen 25 Schilling.182 Bei der Rekonstruktion des Lektüremodus ›Vorlesen‹ wird es denn vor allem darum gehen, die Quellen kritisch zu prüfen (literarische Stilisierung versus Faktizität). Die Analyse hat der sozialen Zugehörigkeit der Rezipienten Rechnung zu tragen. Die jeweilige, nach Religionszugehörigkeit unterschiedliche Sozialisation oder die Berufe der Zuhörenden führen zu unterschiedlichen kulturellen Praktiken. Bauern und Bäuerinnen, Heimarbeiter und Heimarbeiterinnen, Bedienstete, Handwerker (›Professionisten‹), Manufaktur- und Fabrikarbeiter, kleine Fabrikanten, Händler oder Beamte zeichnen sich durch unterschiedliche Erwartungshaltungen gegenüber Lesestoffen aus. Wesentlicher ist die jeweilige Art zu lesen (Bedürfnis nach Lektüre, Auswahl der Lesestoffe, Zugang zu Lesestoffen, verfügbare Zeit innerhalb eines Tages, einer Woche oder eines Jahreszyklus usw.). Die unterschiedlichen Berufe und sozialen Gruppen unterscheiden sich im Maße der Sozialkontakte und der Sozialkontrolle, der räumlichen und sozialen Mobilität und der Marktorientierung. Davon ableiten lassen sich das Interesse an Nachrichten und Neuigkeiten über die Marktsituation (Absatz, Preise), die Fähigkeit, sich auch in einem als fremd empfundenen sozialen Milieu (Stadt, andere Gegend) zu bewegen und das Vorhandensein unterschiedlicher Wert- und Glaubenssysteme wahrzunehmen und zu akzeptieren. Die soziale und berufliche Gliederung und die verschiedenen Glaubenssysteme innerhalb einer Gesellschaft schaffen so eine Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Leseverhalten (siehe Kap. 4). Vorlesen ist auch nach unterschiedlichen sozialen Räumen (privaten, halbprivaten bzw. informellen und ›öffentlichen‹) zu unterscheiden. Und weil Vorlesen zugleich mediale und personale Kommunikation ist, ist die Zusammensetzung der Zuhörenden und ihre Anzahl für den Rezeptionsakt entscheidend. Wird einer Person oder mehreren Personen vorgelesen? Im ersten Falle sind eine individuelle Abstimmung des Lesestoffs und eine kontrolliertere Rezeption möglich.183
182 Vgl. Lütolf: Geschichte von Meierskappel, S. 76. 183 Vgl. Schenda: Alphabetisierung und Literarisierungsprozesse; Schenda: Vorlesen; Schenda: Lesen und Erzählen in der Abendstube; Schenda: Von Mund zu Ohr; Schenda: Geschichten von Leserinnen und Lesern.
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Bei noch wenig geübten Lesern ermöglichte der Rezeptionsmodus ›Vorlesen‹ bzw. Zuhören ein allmähliches Vertrautwerden mit den Verstehens- und Deutungsprozessen literarischer Texte. Anders als beim individuellen stummen Lesen war hier der Raum noch nicht neutralisiert. Alle die Zuhörerschaft bedrängenden Fragen (Ist es auch wahr? Hat der oder die richtig gehandelt? Was hätte ich in dieser Situation gemacht? Wie geht die Geschichte weiter?) ließen sich im mündlichen Gespräch klären. Vorlesen ist in diesem Sinne eine wichtige Versuchsanordnung und ein Durchgangsort auf dem Wege, selber eine Leserin oder ein Leser zu werden. Mit dieser semioralen oder semiliterarischen Lektürepraktik wurde, wie mit dem Singen, Beten und Erzählen von Gelesenem, literarisches Wissen verbreitet, ohne dass die Rezipienten selber lesen mussten, es möglicherweise auch nicht recht konnten. Man hat sich endlich von der Vorstellung zu lösen, das Erzählen von Erlebtem, Gehörtem oder Gelesenem, das Singen und Reden und das eigentliche Vorlesen hätten sich an einem einzigen Abend nicht abgewechselt. Gerade die Vermischung der verschiedenen Kommunikationsformen wird die Regel gewesen sein. Nach dem Zeugnis Melchior Estermanns (geb. 1829) für die Gemeinde Rickenbach (Kanton Luzern) saß an langen Winterabenden, nach dem Nachtessen um 18 Uhr, die Familie in der Stube zusammen. Ein oder mehrere Nachbarn stellten sich ein. Tagesneuigkeiten wurden verhandelt, zu vorgerückter Stunde auch sagenhafte Stoffe von Gespenstern, brennenden Männern, Wandelnden, Teufelsgeschichten erzählt, über Weihnacht und Neujahr viel gesungen (meist religiöse Volkslieder). Estermann erinnerte sich, wie seine Mutter ihnen das Lied vom »Tannhuser im Frauenvenusberg« aus dem Gedächtnis rezitierte: Hatte man ein ›kurzweiliges Buch‹, so wurde zur Abwechslung auch vorgelesen. Mit großem Vergnügen hörte man z. B. aus Cysats Vierwaldstättersee: die Drachen- und Lindwurmgeschichten, die Kämpfe mit Bären, die Geschichte vom wilden Mann zu Reiden u.s.w. Vorgelesen wurden Legenden von Heiligen, Legendenbücher waren allzeit beliebt und verbreitet, den Heiligenkalender kannten viele Landleute auswendig, das Gedächtniß war ehemals viel ausgebildeter als heutzutage.184
184 Estermann: Geschichte der Pfarrei Rickenbach, S. 174. Zu Johann Leopold Cysats (1601– 1663) Buch aus dem Jahre 1661 vgl. Cysat: Beschreibung deß Berühmten Lucerner- oder 4.Waldstätten Sees, zu den »Kämpfe[n] mit Bären« vgl. ebd., S. 160–164, zu den »Drachenund Lindwurmgeschichten« vgl. ebd., S. 165–176 und zur »Geschichte vom wilden Mann zu Reiden« vgl. ebd., S. 196–200.
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Schön hat die diesen Modus des Vorlesens als autoritatives Vorlesen beschrieben.185 Davon hat sich im Laufe des 18. Jahrhunderts das individuelle, stumme Lesen emanzipiert. Oft hing das Vorlesen unter zwei Personen mit bestimmten Umständen zusammen. Elisabeth Schober las während des langen Krankenlagers ihrer Mutter Maria Engel-Schober – es dauerte von 1793 bis 1809 – dieser vieles vor. Besonders gern hörte sie Lebensläufe: »Was mich an diesen von jeher am meisten angesprochen hat, ist der Anfang der Bekanntschaft mit dem Herrn. Besonders las ich gern mit ihr Lebensläufe von solchen Personen, die im Anfang des vorigen Jahrhunderts unter großen Verfolgungen aus Mähren ausgewandert sind.«186 Sie las ihrer Mutter auch viel von der Mission vor, wobei diese ›religiöse Literatur‹ das Bedürfnis nach Nachrichten und Neuigkeiten befriedigte: »Damals war es etwas Nagelneues, von Egypten, von der Sandwüste, vom rothen Meer und dergleichen zu hören, was jetzt ordentlichen Schulkindern eine bekannte Sache ist.«187 Das Vorlesen unter Eheleuten zu zweit war im Mittelstand, u. a. bei Pfarrfamilien, verbreitete Lesepraktik.188 Hier ist die gemeinsame Lektüre Ausdruck eines emotionalen Gleichklangs. Johann Georg Müller 185 Das autoritative Vorlesen bedarf nach Schön einer vorgegebenen »natürlichen Gesellschaft« (Korporation): »Wichtig ist, dass es sich um eine Gruppe handelt, die zusammen lebt, deren Mitglieder in der Regel nicht aus individuellem, willkürlichem Entschluss beigetreten sind und die diese Gruppe auch nicht einfach verlassen können. (Das trifft n. b. so für eine Familie ebenso zu wie für die Bewohner eines Dorfes.) Deshalb bestimmen die Verhaltensnormen und Standards dieser Gruppe in höherem Maße die gesamte Lebensführung des Einzelnen; und weil abweichendes Verhalten eines Mitglieds nicht durch sein konsequenzenloses Verlassen der Gruppe kanalisiert werden kann, sondern die ganze Gruppe in Frage stellt, besteht die Notwendigkeit, dass Grupppen-Konsens nicht nur erreicht, sondern auch durch sein Explizit-Machen ständig gesichert wird.« Schön: Vorlesen, Literatur und Autorität im 18. Jahrhundert, S. 203. Vgl. ebenso Schön: Der Verlust der Sinnlichkeit, S. 179–181, 191–199 (Wandel von der Korporation zur Assoziation). 186 Schober: Aus dem Leben, S. 57. Vgl. ebenso S. 67. In Emma Krons (geb. 1823) Versepos »Bilder aus dem Basler Familienleben« (1867) liest »Meyli« dem kranken »Hanneli« aus Büchern über Weltgeschichte und Pflanzen- und Tierwelt vor; vgl. Kron: Bilder aus dem Basler Familienleben, S. 92. 187 Schober: Aus dem Leben, S. 58. 188 Vgl. Noll: Hofrat Johannes Büel, S. 29. Antistes Johann Jakob Heß (1741–1828) las mit seiner Gattin die Schriften Klopstocks und Bodmers zusammen, »selbst die, in die erste Zeit ihrer Verbindung fallende Uebersetzung des Homer, von dem Vater der deutschen Hexameter, lasen sie mit einander. Ihre liebste und nie unterlassene gemeinsame tägliche Lektüre war aber die heilige Schrift.« Geßner: Johann Jakob Heß, S. 62. Für weitere Belege zum Vorlesen in Pfarrfamilien auf der Zürcher Landschaft vgl. Gugerli: Zwischen Pfrund und Predigt, S. 218. Zum Vorlesen unter Eheleuten allgemein vgl. weiter Meister: Sittenlehre der Liebe und Ehe, S. 284: »Um alle diese Seligkeiten [sc. der Literatur], entweder einsam, oder an der Seite des Gatten oder mit einer Freundin zu kosten, bedarfs ja nichts weiter, als ein wenig Übung im Lesen«.
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wiederum musste zwanzigjährig dem sterbenden Vater Lieder vorlesen.189 Überhaupt ließen sich Väter von ihren Söhnen vorlesen. In den bisher vorgestellten Fällen lag der Grund für das Vorlesen nicht darin, dass der oder die Zuhörende nicht alphabetisiert gewesen wäre. Sie mochten wenig geübte Leser gewesen sein, denen es angenehm war, nicht selber lesen zu müssen. Die ›empfindsamen‹ Ehepartner verband wiederum das geteilte Erlebnis einer gemeinsamen Lektüre. Ebenso waren momentane Zustände wie Krankheit oder körperliche Schwäche der Grund, dass man sich vorlesen ließ. Vorlesen hat im 18. Jahrhundert in der Schweiz nur in Ausnahmen die Funktion, Analphabeten über das Oralisieren von Texten Lesestoffe zu vermitteln. Diese Feststellung gilt auch für Vorlese-Akte mit mehreren Zuhörenden. Auf die besonderen Ausnahmen wird noch einzugehen sein. Der Schulmeister Jakob Strickler (geb. 1688) im Fälmis am Richterswilerberg (Kanton Zürich) konnte sich mit seinem bescheidenen Einkommen fast keine Bücher anschaffen. So war er erfreut, zu jenem Kreis geladener Freunde zu gehören, denen ein Bürger von Richterswil an gewissen Abenden aus einer Zürcher Chronik vorlas.190 Der im Jahre 1770 geborene Vater von Caspar Appenzeller (geb. 1820) von Höngg (Kanton Zürich) besaß außer Bibel und Gebetbuch noch als hochgehaltene und vielgelesene Unterhaltung John Bunyans Pilgerreise in die selige Ewigkeit und den Robinson Crusoë. Auch Bruchstücke des Faust bildeten einen Bestandteil der Bibliothek: »Der Vater hatte ein längeres Gedicht von Jonas im Wallfisch auswendig gelernt, das er uns etwa vortrug und welches uns fesselte. Das Lesen von Geschichten liebten die Eltern sehr, und es wurde im Winter häufig nachts 12 Uhr, während die Mutter spann und der Vater dabei vorlas.«191 Von den bisher beschriebenen Vorlese-Akten ist die im Bürgertum und vor allem im Großbürgertum anzutreffende Vorlese- und Deklamationskultur zu unterscheiden, wo das Vorlesen zu einer eigentlichen Könnerschaft sich entwickelt hatte und auch fremdsprachige Texte vorgetragen wurden.192 Maria Reinhold (geb. 1802), die Tochter eines holländischen Diplomaten, beschrieb in ihrem Tagebuch für die Zeit ihres Aufenthalts in Bern diese Vorlesekultur. Ihr Vater, Johann Gotthard Reinhold, bevollmächtigter niederländischer Gesandter bei der Eidgenossen189 190 191 192
Vgl. Müller: Selbstbiographie, S. 33. Vgl. Höhn-Ochsner: Leben und Wirken des Schulmeisters Jakob Strickler, S. 30f. Walder-Appenzeller: Caspar Appenzeller, S. 5. Vgl. dazu Tgahrt: Dichter lesen Bd. 1 u. 2.
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schaft, war sehr gewandt im Vorlesen. Er las seiner Familie fast jeden Abend aus deutschen, französischen und besonders italienischen Klassikern sowohl Gedichte als auch Dramen vor. Man lud ihn deshalb auch zu Abendgesellschaften ein, wo er denn etwa Friedrich Schillers Wilhelm Tell vorlas. Als einst ein anderer, Herr von Glutz, las, »auf eine freilich sehr bescheidene Weise«, mit »priesterliche[m] Nasenton und ohne die geringste Deklamation, mit einem Worte für meine verwöhnten Ohren sehr schlecht«,193 war man froh, dass Papa wieder den Vorleser machte. Der Kreis der Zuhörenden konnte sich bei solchen Vorlese-Akten aus Familienmitgliedern, aus Nachbarn und Bekannten zusammensetzen. Der Vater (geb. 1777) von Johann Konrad Tobler, der sich in seinen jungen Jahren mit Viehzucht, Weben, Acker- und Weinbau beschäftigt hatte, übernahm nach einer vierwöchigen Vorbereitung bei Pfarrer Johann Rudolf Steinmüller in Rheineck eine der vier Schullehrerstellen in der Gemeinde Wolfhalden (Kanton Appenzell Außerrhoden).194 Während der Zeit seiner Lehrerschaft versammelten sich jeden Sonntagnachmittag die Nachbarn bei ihm und bildeten einen freiwilligen Leserkreis. Heinrich Zschokkes Schweizer-Bothen und Meiers Monatsschriften boten »der wißbegierigen Gesellschaft Stoff zu interessanten und oft sehr lebhaften Diskussionen dar«.195 Der Großvater von Louis Gut (geb. 1886), der im Weiler Kaltbach in der Gemeinde Mauensee (Kanton Luzern) einen Bauernhof bewirtschaftete, war im Dorfe der einzige, der eine Zeitung hielt. An den Winterabenden, im Sommer gewöhnlich nur des Sonntags, versammelten sich dann die Neugierigen des Dorfs bei ihm, und er musste ihnen vorlesen, »was in der Welt draußen vorging. […] Hernach tauschten sie dann die Meinungen aus, manchmal gabs auch nur ein gewichtiges Nicken.«196 Sophie Fankhauser (geb. 1848) von Rahnflüh im Emmental (Kanton Bern) kam mit siebzehn Jahren als Dienstmädchen auf den Bleickenhof, ein großes Landgut bei Burgdorf. Da das Jahr eine reiche Obsternte brachte, mussten viele Baumfrüchte zum Dörren zugerüstet werden. »Beim Rüsten beir [d.i. bei der] Lampe ging es besonders lustig zu, weil dabei die jungen Herren gewöhnlich mithalfen und für zweckmäßige Unterhaltung sorgten«, die in Singen, Erzählen und Vorlesen bestand. Letzteres besorgte der älteste Sohn des Hausherrn Pfarrer Fankhauser, Herr Otto, der schön »mit Ausdruck und Gefühl las; er verstand uns aber 193 194 195 196
Reinhold: Aus einem hundertjährigen Backfisch-Tagebuch, S. 10f. Vgl. Tobler: Die Schule des Lebens, S. 2–5. Tobler, S. 8. Gut: Lesegesellschaft Sursee, S. 4f.
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zu necken; den[n] bei einer spannenden Stelle schloß er, unbekümmert um die Zeit des Feierabends[,] das Buch und sagte, es sei Zeit, in’s Bett zu gehen. Da gabs ein Geschrei von Bitten, daß er das Buch wieder öffnete und mit dem Lesen noch lange über die richtige Zeit hinaus fortfuhr, ohne daß sich Jemand über Schläfrigkeit beklagte.«197 Für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts liegen Belege von VorleseAkten vor, wo jeweils ein Kind den Vorleser machte.198 Ulrich Bräker (geb. 1735) hat in seinem Tagebuch unter dem 16. April 1789 eine ländliche Vorleseszene beschrieben.199 Der Vorleser war ein Knabe – weil er am besten lesen konnte. Vorgelesen wurde aus der Bibel, aus Andachtsbüchern wie dem Neueröffneten Himmlischen Weyrauch-Schatz von Johannes Zollikofer (1633–1692), dem Paradiesgärtlein und dem Wahren Christenthum von Johann Arndt, aus dem vierten Teil der Historien der Wiedergebohrnen von Johann Heinrich Reitz und aus Büchern von Jacob Böhme (1575– 1624), Jakob Brill (1639–1700), Antoinette de Bourignon (1616–1680), Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700–1760), David Hollaz (1648– 1713), Samuel Lutz (1674–1750) und aus dem Flüchtigen Pater von Heinrich Fitzner. Neben dieser Andachtsliteratur zum Teil pietistischer, ja separatistischer Provenienz, wurde auch Unterhaltungsliteratur wie der Eulenspiegel, der Kaiser Octavianus und der Aesop gelesen. Ja, selbst das »Gesundheitsbuch« des niederländischen Seefahrers Willem Ysbrandtsz Bontekoe (1587–1657) kam zum Vortrag, wenn auch der Vater nichts von dessen Ratschlägen hielt, Tee, Kaffee und Tabak zu genießen, um damit das Leben zu verlängern. Die Szene, die sich so in einer für die Verlagsindustrie arbeitenden Kleinbauernfamilie um die Mitte des 18. Jahrhunderts zugetragen haben könnte, belegt einmal die Rolle der Kinder als Vorleser. Der latente Vorwurf, über der Lektüre die Zeit zu versäumen, wird durch das fleißige Arbeiten gegenstandslos. Die Wahl der Lektüre trifft der Vater, der aber in seiner Rolle nicht unangefochten bleibt. An diesem Ort vermeintlicher Einmütigkeit artikulieren sich durchaus unterschiedliche Vorstellungen über die passende Lektüre, was als Beginn einer literarischen Geschmacksbildung gedeutet werden muss. Einer vorlesenden Person zuhören heißt auch, gewisse Parameter der Lektüre wie Wahl des Lesestoffs, Lesegeschwindigkeit, Umfang des vorgelesenen Lesestücks, aber auch Ort 197 Fankhauser: Erinnerungen einer alten Jungfer, S. 25. 198 Vgl. Messerli: Lesen und Schreiben 1700 bis 1900, S. 94, 97f., 452–456. 199 Bräker: Sämtliche Schriften, Bd. 3, S. 120f.
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und Zeitpunkt der Lektüre nicht allein, das heißt individuell, bestimmen zu können. Solchen abendlichen kollektiven Rezeptionsakten sich zu entziehen, um für sich allein etwas zu lesen oder zu schreiben, war oft nicht möglich, denn es hätte eine weitere Lichtquelle erfordert.200 Im bürgerlichen ländlichen Pfarrhaus um 1800 hat sich die Vorleseszene nicht grundlegend verändert. Auch hier wird während des Vorlesens von den Frauen Flachs gesponnen. Der literarische Kanon freilich hat sich verschoben und erweitert; statt Andachtsliteratur und ›Volksbücher‹ liest man hier volksaufklärerische Texte, Jugendschriften und vor allem Unterhaltungsliteratur (empfindsame Romane). Und die Rolle des lesenden Kinds erklärt sich weniger aus praktischen Überlegungen (weil es am besten oder überhaupt lesen kann); Vorlesen ist hier vielmehr Arbeit. Das Kind wird in einer Weise in die (Vorlese-)Pflicht genommen, die wenig nach seinen Gefühlen oder nach der Angemessenheit des Vorgelesenen für das kindliche Verständnis fragt. Überliefert ist sie in den Jugenderinnerungen Otto Anton Werdmüllers (1790–1862) von Elgg (Kanton Zürich), wie dieser sie als Pfarrer und Dekan in Uster niederschrieb.201 Für die Zeit zwischen 1750 und 1830 machten häufig Kinder und Jugendliche den Vorleser. Was sie dazu befähigte, war ihr Wissensvorsprung gegenüber der älteren Generation und die größere Gewandtheit beim Lesen auch nicht-religiöser Texte. Während die Elterngeneration von den neuen Schulbestrebungen nicht erfasst worden war und ihren Status als ungeübte Leser beibehielt, wurden jene, besonders nach 1770, vermehrt eingeschult und besuchten die Schule länger und kontinuierlicher.202 Der Grund für die Vorleserrolle der Kinder war die für diesen Zeitraum sich aufbauende Diskrepanz zwischen einem zunehmenden Bedürfnis nach literarischer Kommunikation und den beschränkten Möglichkeiten, was die Gewandtheit im Lesen betraf. Man bediente sich alphabetisierter Kinder auch ganz bewusst als Agenten einer literalen Wissensvermittlung innerhalb ihrer jeweiligen Familien. In der Kirchenordnung der Basler 200 Vgl. Messerli: Lesen und Schreiben 1700 bis 1900, S. 342–346. 201 Vgl. Messerli, S. 453f. 202 Rudolf Schenda schreibt dazu: »Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wurden im deutschsprachigen Raum in jedem Jahr Kinderscharen in der Größenordnung von einigen Millionen Köpfen neu eingeschult und neu des Lesens und Schreibens befähigt, während die Eltern oder Großeltern dieser Kinder, vor allem die aus den untern Mittel- und den Unterschichten zumeist ihren Zustand der Nicht-Alphabetisierung beibehielten und bestenfalls auf dem geringeren Kenntnisstand von Schulwissen verharrten, der ihnen ein oder zwei Generationen zuvor vermittelt worden war.« Schenda: Vorlesen und Erzählen, S. 121f. Schendas quantitative Angabe von einigen Millionen jährlich sind allerdings übertrieben; es wird sich um einige Hunderttausende gehandelt haben.
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Landschaft vom Jahre 1759 heißt es, die Kinder sollten fleißig »daheimen in der Bibel und anderen geistlichen Bücheren lesen, damit auch die Alten in Glaubenssachen unterrichtet würden.«203 Diese Vorlesearbeit wird in verschiedenen Autobiographien beschrieben. Heinrich Hirzel (geb. 1783), der Sohn eines Amtsschreibers (Gerichtsschreiber und Notar) des zur Grafschaft Kyburg gehörenden äußeren Amts (Kanton Zürich), hatte bei der im gleichen Haushalt lebenden hochbejahrten Großmutter, sobald er es vermochte, »den Dienst des Vorlesers aus ihren Erbauungsbüchern zu versehen«. Das tat er nicht besonders willig, »aber angelockt von dem Naschwerk, mit welchem sie mich zu belohnen pflegte«,204 schickte er sich in diese Pflicht. Caspar Kubli (geb. 1805) von Ennenda (Kanton Glarus) musste als Kind »bei nachbarlichen Abendunterhaltungen aus der Bibel oder Lesebüchern den Leuten Vorlesungen halten«.205 Der in Schaffhausen aufgewachsene Franz Anselm von Meyenburg-Rausch (geb. 1785) hatte seinem Großvater, Anselm Franz von Meyenburg (1723–1805), einem ehemaligen k. und k. Thurnund Taxischen Reichspostmeister und Bürgermeister von Schaffhausen, vorzulesen.206 Der spätere Kaplan Jakob Joseph Matthys (1802–1866) verspürte, nachdem ihm sein Vater das gedruckte Alphabet beigebracht hatte, große Neigung zum Lesen, und er las daher alle Schriften durch, die ihm in die Hände fielen: »Eben darum habe ich manche Unverschämtheit in fremden Häusern begangen, wo ich Bücher, ohne zu fragen, mit den Händen ergriff. In einigen Häusern gefiel das, und ich mußte lesen, daß die Leute es hörten.«207 Peter Scheitlin empfahl den Müttern, wenn sie nicht mehr mit Bequemlichkeit lesen können, sich von einer der Töchter vorlesen zu lassen.208 In der volksaufklärerischen Zeitschrift Der Verbreiter berichtete ein Korrespondent aus La Neuveville (Kanton Bern), er habe eine Volksbibliothek gegründet, die trotz der wenigen Bände rege benutzt werde (4 500 Ausleihen pro Jahr): »Ich kenne viele Familien, in welchen 203 204 205 206
Heß: Geschichte des Schulwesens der Landschaft Basel, S. 177. Hirzel: Rückblick in meine Vergangenheit, S. 2f. Kubli: Civilgerichtspräsident C. K., S. 3. Meyenburg-Rausch: Lebenserinnerungen Bd. 1, S. 1: »Nach Art der Greise war er neugierig, und wir Kinder mußten ihm über die damals täglich zum Vorschein kommenden Ereignisse des Krieges und der Politik, über die Leiden der Einquartierung u. s. w. mehr als uns häufig lieb war, erzählen. […] Er fragte viel, und es war ihm lieb, wenn er mich in Abwesenheit des Geistlichen [sc. Antistes Heß] zum Vorlesen gebrauchen konnte.« 207 Baumer: Jakob Joseph Matthys, S. 147. 208 Scheitlin: Ida, S. 278f: »Hast du zu deiner Erleichterung der Hausgeschäfte oder zu deiner Gesellschaft ein Gesellschafterin oder Kammerjungfer, nun, so muß dieses dir verständig vorlesen können.«
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ein Glied derselben, gewöhnlich ein Kind, laut vorliest, während die übrigen sich mit ihren Arbeiten beschäftigen.«209 Ein weiterer Grund, warum Kinder vorlasen, führt Albert Minder (geb. 1879) in seinen Familienerinnerungen an. Sein Vater, der 1840 geborene Jakob Minder, lebte mit den Eltern als Heimatloser und Korbmacher im Taubenmoos bei Schalunen (Kanton Bern). Die Familie besaß drei Bücher, die Bibel, das Psalmenbuch und den Hinkendbotkalender.210 »Kam Not an den Mann, so wurde je nach Umständen entweder die Bibel oder der Kalender zu Rate gezogen. Der Großvater (Jahrgang 1811) selber las nicht viel, sondern hörte nur zu, und die Großmutter war zu geschwätzig und machte zwischenhinein zu oft ihre Bemerkungen, wenn sie vorlas. Deshalb mußten die Kinder lesen, die aber lieber den Kalender als die Bibel lasen. Denn da standen oft die possierlichsten Sachen drin.«211 Im bürgerlichen- und großbürgerlichen Milieu waren es Mütter, die ihren Kindern vorlasen.212 Josef Reinhart (1875–1957) beschrieb 1925 das abendliche Vorlesen im bäuerlichen Milieu in einem Aufsatz mit dem Titel »Ländliche Bildungsarbeit« als eine Lektürepraktik, die es nicht mehr gibt. Die von ihm idealisierte gemeinsame Rezeption mache seiner Meinung nach der ›schlechten Wirklichkeit‹ einer den Familienverband fragmentierenden individuellen, ja individualistischen Lektüre Platz: »Beim Essen oder nachher oder am Feierabend überfliegen wir die Zeitungen, ein jeder die seine; aber am Abend ist ja Sitzung oder Übung im Verein, Kurse aller Art sorgen für die sogenannte Weiterbildung.«213
209 Der Verbreiter 1 (1833), S. 85. 210 Minder: Korber-Chronik, S. 15: »Es gab [...] damals neben dem uns bekannten [sc. Kalender] auch einen dünnen, billigen. Da standen aber keine Geschichten drin, nur das Kalendarium. Einige Male kauften sie auch den dicken. Zu dem mußten die Kinder dann aber Sorge tragen. Der kostete nämlich vier alte Bernerbatzen!« 211 Minder, S. 15. 212 Als Fanny Cornelia Sulzer-Bühler (geb. 1865) 10 bis 11 Jahre alt war, mussten sie und ihr Bruder auf Verordnung des Augenarztes Professor Horner eine Belladonnakur in Zürich machen: »Wir bewohnten damals ein paar Zimmer in einer Pension im Seefeld, wo Mama uns den Ganzen Tag Geschichten vorlas. Wir schwärmten zusammen für den Lederstrumpf, Mark’s Riff und andere Bücher.« Sulzer-Bühler: Erinnerungen, S. 132. 213 Reinhart: Ländliche Bildungsarbeit, S. 446. Ebenso schrieb der Deutsche Gottlob Zündel: »Die schöne Sitte, daß der Hausvater, die Hausmutter oder sonst ein erwachsenes Familienglied die Hausgenossen in traulicher Abendstunde um den Familientisch versammelt, und aus dem Schatze unsrer guten Literatur vorliest, ist leider gegenüber anderen zum Teil geistlosen Unterhaltungsarten sehr in den Hintergrund getreten.« Zündel: Gedanken über das Vorlesen, S. 8. Als Ursache nannte er das gesteigerte Vereins- und Gesellschaftsleben.
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6 Lesebilder In der Neuorientierung der Lesergeschichte hin auf den Akt des Lesens selber musste auch die bildliche Darstellung von Leseakten in der Kunst und in der Gebrauchsgraphik eine Neubewertung erfahren. Noch in Alberto Manguels Eine Geschichte des Lesens (1998)214, die besonders in autobiographischer Hinsicht spannende Aufschlüsse bietet, kommt den Bildzitaten keinerlei Erkenntnisinteresse zu. Fritz Nies hingegen hat in zahlreichen Aufsätzen und Monographien die These vertreten und an einem wachsenden Material auch überprüft, dass Bilder uns in sachlicher und mentalitätsgeschichtlicher Hinsicht Aufschlüsse zur Lesergeschichte zu geben vermögen.215 Dabei ging er nie von einer naiven Position aus, als ob Bilddokumente eine objektive Wirklichkeit widerspiegelten.216 Sie bündeln vielmehr in ihrer Gesamtheit »typische Leitvorstellungen der Künstler […] über das, was Massenlektüre ist, sein oder nicht sein sollte«217. Ikonographische Quellen erlauben es nach Nies, Typologien von LeserInnen, Typologien von Lesesituationen, Typologien gelesener Texte und schließlich Typologien von Lektürepraktiken zu erstellen.218 Weiter lassen sich mit ihnen Resultate aus anderen Quellenkategorien überprüfen bzw. stützen oder abrunden.219 Und sie gäben Fingerzeige, wo gängige Auskunftsquellen der Lesergeschichte versiegten: »Keine Auflageziffer, kein Ausleihund Nachlassverzeichnis, kein Privatbibliothekskatalog informiert uns über das Wie, Wann und Wo von Lektüre.«220 Die Arbeit an und mit Bildern gibt uns die Möglichkeit, einstige Einstellungen zum Lesen zu rekonstruieren.221 Während Jutta Assel und Jäger die Differenz zwischen Text bzw. Sprache einerseits und Bild andererseits darin sehen, dass letzteres dichter, konkreter und anschaulicher darzustellen vermöge222, machte sich Schön grundsätzlichere Gedanken über eine lese(r)orientierte Bildforschung, ohne eine 214 Manguel: Eine Geschichte des Lesens. 215 Nies: A la recherche de la »majorité silencieuse«; Nies: La femme-femme et la lecture; Nies: »… bis Rinaldo dot is«; Nies: Der Leser der Romantik; Nies: Bahn und Bett und Blütenduft; Nies: Suchtmittel oder Befreiungsakt?; Nies: Bilder von Bildung und Verbildung durch Lesen; Nies: Lesende Frauen; Nies: Jedem seine Wahrheit. 216 Nies: »… bis Rinaldo dot is«, S. 453f. 217 Nies, S. 454. 218 Nies: La femme-femme et la lecture, S. 99. 219 Nies: Der Leser der Romantik, S. 512. 220 Nies, S. 512. 221 Vgl. Nies: Lesende Frauen. 222 Vgl. Assel/Jäger: Zur Ikonographie des Lesens, S. 638.
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entsprechende Forschungsarbeit allerdings konsequent realisiert zu haben. Schön beobachtete an zeitgenössischen Bildern und Zeichnungen des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts einen Widerstand, sich zum Lesen an einen Tisch zu setzen und das Buch auf den Tisch zu legen.223 Von den durch ihn ausgewerteten Quellen wie Bilder von Lesenden, dem Journal des Luxus und der Moden, Lebens-Regeln, Beiträge zur ›Lesesucht-Diskussion‹, Lesepropädeutiken und endlich literarischen Texten224, schätzt Schön von allen Quellengruppen besonders die Bilder, da sie in der Lage seien, neue Dimensionen historischer Erkenntnis zu erschließen. In Bildern sei oft bewahrt, was sich zeitgenössischer Versprachlichung entzog, »sei es, weil es als allzu Selbstverständliches nicht ›zur Sprache kommen‹, das heißt: nicht zur Versprachlichung gelangen konnte, sei es, weil es nur in der Abstraktion – und zudem vielleicht nur aus historischer Distanz – formulierbar ist.«225 Damit begründete er einen Ansatz, der die Differenz zwischen Schriftmedien und Bildmedien systematisch ausnützt. Über die Möglichkeit systematischer Interpretation herrscht allerdings keinerlei Einigkeit. Nach Cornelia Schneider könne es keine Systematisierung geben, »da es im Wesen aller darstellenden Kunst […] liege, keine originären Realitätsabbildungen zu schaffen«226. In diesem Sinne untersuchte Anja Petz Allegorien und Personifikationen wie die ›symbolische Leserin‹ (Weisheit, Wissen), die ›gläubige Leserin‹ (Maria, Anna, hl. Katharina, hl. Magdalena), die ›sinnliche Leserin‹, die Buch und Lektüre als Machtdispositiv oder als sinnliche Verheißung – ›die Leserin als Verführerin‹ – konnotieren.227 Aber auch international wurde mit und an Lesebildern gearbeitet und geforscht. Mit einem strukturellen Ansatz arbeitete Adrien Pasquali228, mit einem ikonographischen Jacques Wagner229, der zudem den ideologischen, propagandistischen Gehalt der von ihm untersuchten Lesebilder nachweisen konnte. Und die gründliche Arbeit von Tiziana Plebani zur ›männlichen‹ und ›weiblichen‹ Lektüre vom Mittelalter bis in die Moderne zieht systematisch auch Abbildungen hinzu.230 Die im Jahr 2003 erschienene Geschichte der Buchherstellung und Rezeption in Spanien (1572–1914) widmet dem Leser, der Lektüre (gelehrte Lektüre, weibliche Lektüre) und 223 224 225 226 227 228 229 230
Vgl. Schön: Der Verlust der Sinnlichkeit, S. 63–72. Vgl. Schön, S. 312–324. Schön, S. 313. Schneider: Leseglück im Spiegel der Kunst, S. 148. Vgl. Petz: Die Leserin im Bild. Pasquali: Idéales insomnies? La lecture dans la peinture. Wagner: La lecture dans la peinture ou le récit d’une nostalgie (1600–1755). Plebani: Il »genere« dei libri.
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den verschiedenen Lektüretypen (Erbauungslektüre, didaktische Lektüre) insgesamt dreißig Aufsätze.231 Der umfangreiche Band weist auch einen umfangreichen Illustrationsteil auf; die beigefügten Bilder mit Lesesituationen erfahren allerdings keinerlei Analyse und verbleiben im Bereich des rein Illustrativen.232 Hingegen hat Chartier in dem Aufsatz »Die Praktiken des Schreibens« in dem von Philippe Ariès und ihm herausgegebenen dritten Band Geschichte des privaten Lebens (1986/1991) mit Bildern auf eine innovative Weise gearbeitet.233 Der Kommentar zu Gérard Dous (1613– 1675) Bild einer häuslichen Bibellektüre etwa lautet: »In calvinistischen und daher alphabetisierten Ländern war die tägliche häusliche Bibellektüre Pflicht. Gérard Dou gibt davon eine idealisierte Darstellung: eingefangene Wirklichkeit und zugleich empfohlenes Vorbild.«234 Ursula Rautenberg hat in einem Aufsatz mit dem programmatischen Titel »Das Lesen sehen: Bilder von Büchern und Lesern am Beginn der Frühen Neuzeit«235 an drei Bildanalysen Bildbedeutungen untersucht. Es ergab sich bei einer spätmittelalterlichen Illustration aus einem Stundenbuch »eine genaue Darstellung der intensiven Wiederholungslektüre zur privaten Andacht und Erbauung«236, und bei einem Stillleben aus dem Jahr 1480 mit Buch, dass hier nicht das bereits gewöhnlich gewordene gedruckte Buch sondern das handschriftliche wertvolle Buch als darstellungswürdig erachtet wird237. Im Jahr 2000 erschien ein für ikonographische Forschungen wichtiges Arbeitsinstrument und Hilfsmittel, das Ikonographische Repertorium zur Europäischen Lesegeschichte.238 Es listet 3 661 Bilddokumente zum Lesen in Europa vom Beginn des 16. Jahrhunderts bis zur Gegenwart nach Künstler, Bildtitel, Bildlegende239, Datierung, Technik, Funktion240, Leser, Lesestoff,
231 232 233 234 235 236 237 238 239 240
Infantes/Lopez/Botrel: Historia de la edición y de la lectura en España 1472–1914. Vgl. Infantes/Lopez/Botrel, S. 771–786. Chartier: Die Praktiken des Schreibens. Chartier, S. 125 (Hervorhebung A. M.). Vgl. ferner S. 143, 145, 149, 151. Rautenberg: Das Lesen sehen: Bilder von Büchern und Lesern. – Mit Bildquellen des 15. Jahrhunderts arbeitete ebenso Signori: Bildung, Schmuck oder Meditation, und Schreiner: Marienverehrung, Lesekultur, Schriftlichkeit. Rautenberg: Das Lesen sehen: Bilder von Büchern und Lesern, S. 42. Vgl. Rautenberg, S. 48. Nies/Wodsak: Ikonographisches Repertorium zur Europäischen Lesegeschichte. Darunter verstehen Nies/Wodsak Texte, die in die Abbildung integriert sind (z. B. bei Plakaten); Nies/Wodsak, S. 10. Unter Funktion verstehen Nies/Wodsak die ursprüngliche Funktion eines Belegs (Postkarte, Plakat usw.); Nies/Wodsak, S. 10.
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Lesesituation241 und Quellenangaben auf. In über fünf Registern werden historische LeserInnen, Figuren aus Literatur, Mythos, Legende, Sage etc., Lesestoffe, Textarten und literarische Genres, Zeiträume und Herkunft/Lebensraum des Künstlers nach Ländern zusammengefasst. Der Band kommt ohne alle Reproduktionen von Bildern aus, und was er auch nicht liefert, ist eine Hermeneutik des Bildgeschehens. Es gibt keine Bildanalysen, Bildbeschreibungen oder Bildvergleiche. Seine Leistung beschränkt sich auf die Datensicherung und Katalogisierung einer allerdings großen Datenmenge. Thomas Koebner hat das frühaufklärerische Lektüreritual, welches in drei Phasen verläuft, für den »Leser in freier Natur« beschrieben.242 Der Leser begibt sich auf’s Land (in Abkehr von der ›alten Welt‹), um dort zu lesen. Es folgt die Lektüre (als gleichsam mündliche ›Konversation mit dem Autor‹ verstanden), die auf halluzinatorische Weise die wirkliche Welt in die literarische verwandelt (›Lektüretraum‹). Schließlich wird die Lektüre bzw. der Lektüretraum beendet, worauf der Lesende sich (wieder) mit der ›grauen Wirklichkeit‹ abfinden muss. Wenn man bedenkt, dass nach diesem Verständnis des Lektüreakts »Wirklichkeits- und Lektüreerfahrung, Landschaftseindruck und literarische Szene im Bild einer utopischelysischen Welt«243 miteinander verschmelzen, kann eine ländliche Leseszene im Bild nicht mehr als die unproblematische Wiedergabe eines historischen Sachverhaltes verstanden werden: Vielmehr ist es der Versuch des Künstlers, den Lektüreakt bzw. das Lektüreritual im Medium des Visuellen zu verstehen und verstehbar zu machen, wobei ihm in der Regel verschiedene Bildlösungen zur Verfügung standen, auf die er, wenn er ihrer bedurfte, zurückgreifen konnte. Am überzeugendsten hat Schön mit und an Bildern von Lesenden gearbeitet.244 Entsprechend seinen theoretischen Prämissen wählte er anspruchslose Bilder, denn »je anspruchslosere Darstellungen wir wählen, desto eher können wir hoffen, dass uns Bilder die Unmittelbarkeit einer teilnehmenden Beobachtung ersetzen.«245 Schön beginnt mit einer Radierung aus einem lateinischen Elementarbuch von 1779 von Daniel N. Chodowiecki, die den Begriff ›mulier‹ illustriert. Die Darstellung zeigt eine 241 »Neben der Kurzbeschreibung von Modalitäten des Leseaktes (Ort, Körperhaltung usw.) werden hier auch Lesestoffe genannt, die sich in der Umgebung des Lesers befinden, aber nicht unmittelbar in den Lesevorgang einbezogen sind.« Nies/Wodsak, S. 11. 242 Koebner: Lektüre in freier Landschaft. 243 Koebner, S. 45. 244 Vgl. Schön: Verlust der Sinnlichkeit, S. 63–72. 245 Schön, S. 63.
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lesende Frau, im Ohrensessel sitzend und ein Buch mit der rechten Hand, etwa 30 cm vor ihrem Gesicht, haltend. »Diese Lesehaltung – neben einem Tisch sitzend mit aufgestützdem Unterarm und freiem Halten des Buches – finden wir in charakteristischer Häufung vom Ende des 17. bis ins 19. Jahrhundert; typisch zu sein scheint sie speziell für die Zeit um 1800.«246 Schon im 17. Jahrhundert begegnet man Lesenden, die auf einem Stuhl sitzen. Das Buch aber liegt auf den Knien, während ihre Füße, um den Rücken nicht zu sehr zu krümmen, auf einem Fußschemel ruhen. Eine ›moderne‹ Variante dieser Haltung erkennt Schön in der Zeichnung Johann H. W. Tischbeins vom lesenden Goethe: »Goethe sitzt mit einem Buch auf den Knien auf einem Stuhl; um die Knie höher und so das Buch näher heran zu bekommen, hat er die Füße auf eine Querstrebe zwischen den Vorderbeinen des Stuhls gestellt (dass dies einen stärker zusammengekrümmten Körper zur Folge hat, ist durch ein leichtes Spreizen der Knie etwas gemildert.«247 Schön zeichnet nun eine Entwicklungslinie, eine Genealogie der Körperhaltungen beim Lesen: »Vom späten 18. Jahrhundert an nehmen die Darstellungen von Lesern zu, die zunächst das Buch beim Lesen noch frei in der Hand haltend vor einem Tisch sitzen, dann aber immer mehr am Tisch sitzen und schließlich das Buch vor sich auf dem Tisch liegen haben, wie dies für Arbeitslektüre und bei an Arbeitslektüre gewöhnten Personen schon früher üblich war.«248 Damit wird einerseits der Körper bzw. der Arm entlastet; andererseits wird nun nicht mehr ein taktiler Kontakt mit dem Buch gesucht. Die Lektüre ist auf das rein Visuelle beschränkt: »[D]er Kontakt mit dem Buch [wird] nur noch mit den Augen hergestellt«.249 Dabei wird der Körper des Lesers selbst unbeweglich (Immobilisierung). Diese, am Bildmaterial gewonnenen Hypothesen, überprüfte Schön anschließend an seinen Quellentexten. Schön ist sich der Grenzen seiner Arbeit mit Bildern bewusst. Man dürfe die Aussagekraft von Bildern auch nicht überfordern. Es ist zudem eine Ungleichzeitigkeit zu berücksichtigen: »Die Bäuerin auf dem Bild von Fritz von Uhde liest weniger in der Haltung der etwa gleichzeitigen Leserinnen von Renoir oder Toulouse-Lautrec, als in der der Bürgerfrauen Rembrandts im 17. Jahrhundert, und sogar in Photos aus der Mitte unseres [des 20.] Jahrhunderts ist deren Haltung bewahrt.«250 Weiter muss man 246 247 248 249 250
Schön, S. 64. Schön, S. 66. Schön, S. 67. Schön, S. 69. Schön, S. 70.
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mit Darstellungskonventionen rechnen, die es schwierig machten, das spezifisch Historische zu erkennen. Und jedes Bildmedium hat seine besonderen Verfahren bei seiner technischen Herstellung. So bewahrten etwa Schattenrisse von Lesenden aus dem Biedermeier »wesentlich ›ältere‹ Körperhaltungen, weil der Schattenriss diese leichter und wirksamer darzustellen vermag.«251 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass zahlreiche Ansätze und Versuche, Bilder für die Leseforschung fruchtbar zu machen, existieren. Das meiste ist auf der Ebene der Materialsammlung geleistet worden. Was hingegen fehlt, von den wenigen oben erwähnten Ausnahmen abgesehen, ist eine überzeugende Theorie, ist eine historische Bildkritik, wie mit Bildquellen zu arbeiten ist und welche Resultate zu erwarten sind. Auf der Seite der Geschichtswissenschaft existieren allerdings wichtige Vorarbeiten, von denen als der herausragendsten Francis Haskells Die Geschichte und ihre Bilder (1995) zu nennen ist.252 Und Bernd Roeck hat kürzlich gezeigt, auf welche Weise und mit welchen theoretischen Ansätzen Historiker mit Bildquellen arbeiteten und arbeiten.253 Hier wäre an die neueren Erkenntnisse der Bildwissenschaft anzuknüpfen. Die ›Logik‹ der Bilder, ihre mediale Spezifik, hat am überzeugendsten Gottfried Boehm herausgearbeitet. Boehm geht von einem doppelten Status des Bilds (»Zwitterexistenz des Ikonischen«) aus: Es ist einerseits materielles Ding, Körper und andererseits etwas Imaginäres. »Etwas als Etwas zu bestimmen, ist ein Bedeutung stiftender Grundakt, der sich nicht nur sprachlich, sondern auch zwischen dem Auge und der materiellen Welt einspielt.«254 Jedem Bild eignet demnach eine ikonische Differenz; es kommt ohne diese »unaufhebbare Abweichung«255 nicht aus. Die Macht des Bilds liegt nach Boehm darin, dass es einem Abwesenden (was natürlich nicht nur Reales, sondern auch Irreales, bloß Gedachtes sein kann) sein »Fleisch« (Maurice Merleau-Ponty) leiht und ihm damit Präsenz verschafft. Boehm spricht denn von einer vorherrschenden Marginalisierung des ›ikonischen Diskurses‹ auf der Ebene der Wissenschaft. Sie habe mit einem Bildverständnis zu tun, das davon ausgeht, als würde sich hinter der ›Offensichtlichkeit des Visuellen‹ ein Text verbergen, der deutend zu entschlüsseln sei. »Er [der Deuter] entlarvt das Ikonische als 251 252 253 254 255
Schön, S. 72. Haskell: Die Geschichte und ihre Bilder. Roeck: Das historische Auge. Boehm: Jenseits der Sprache?, S. 32. Boehm, S. 32.
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verschlüsselte Umformung von etwas, was primär gesagt wurde.«256 Diese logozentristische Vereinnahmung von Bildern ist übrigens keineswegs überwunden. Sie lässt sich in analogistischen Denkfiguren und Begriffsbildungen wie ›reading images‹ oder ›visual‹ bzw. ›pictorial literacy‹ ablesen. Nun ist es Bildern nach Boehm keineswegs fremd, »Dienstleistungen zu erbringen«, ja, »[s]ie können das so vortrefflich, dass manche Autoren und der berühmte Mann auf der Straße sich nicht einmal vorstellen können, sie hätten noch einen anderen Zweck als den der Illustration.«257 Die Forderung nach einem ›iconic turn‹ – bei Boehm ist es die Feststellung einer epochalen Verschiebung, die im 20. Jahrhundert einsetzte – lautet: »[D]er Logos dominiert nicht länger die Bildpotenz, sondern er räumt seine Abhängigkeit von ihr ein. Das Bild findet Zugang zum inneren Kreis der Theorie, dem die Erkenntnisbegründung obliegt.«258 In diesem Sinne ist, wie Schön es gezeigt hat, in den Bildanalysen und Bildbeschreibungen der Bildpotenz Rechnung tragen. Denn das Bild vermag Aufschluss über Sachverhalte, über mentale Projektionen, über historische Wahrnehmungsweisen und Darstellungskonventionen, über die verschiedenen Sinnebenen, die einer Kulturtechnik wie dem Lesen zuwachsen und Teil ihrer Repräsentation werden, zu geben, der auf andere Weise, etwa durch Texte, nicht zu gewinnen ist. Eine Ikonographie des Lesens bzw. die ›Kunst des Lesens‹ muss notwendigerweise ergänzende oder korrigierende Einsichten in die Geschichte des Lesens ermöglichen, wodurch diese selber neu zu verstehen ist. Zudem ist nach dem Verhältnis von sprachlicher Bildlichkeit zu den Lesebildern zu fragen. Die Sprache kennt vielfältige Bilder wie etwa kulinarische Metaphern für das Lesen (Bücher ›verschlingen‹ usw.)259. Zu überprüfen, wie weit diese in den Bildern aufgegriffen bzw. thematisiert werden, wäre ein spannendes Unternehmen. Das Bild ist auch historischer Aktand, der auf das Lesen als Kulturtechnik Einfluss nimmt. Im ausgehenden 18. und im 19. Jahrhundert begegnet man etwa häufig, auf Zeitschriftenköpfen oder Titelblättern von Kalendern, Vorleseszenen. War das eine nostalgische Reminiszenz oder sklavische Wiedergabe realer historischer Verhältnisse? Weder das eine noch das andere. Dem Bild eines Vorleseakts kam vielmehr die Aufgabe 256 257 258 259
Boehm, S. 35. Boehm, S. 35. Boehm, S. 38. Vgl. Anm. 123. Neben der dort erwähnten Literatur vgl. auch Love: Scribal publication in seventeenth-century England, S. 141–176 (Kapitel 4: »Some metaphors for reading«) und Schreiner: »… wie Maria geleicht einem puch«.
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zu, den Skandal der neuen Kulturtechnik des stillen Lesens in der visuellen Inszenierung einer sekundären Oralisierung abzudämpfen. Die Vorstellung einer kollektiven Rezeption stützt im weitern die Illusion, man stelle sich unter dem Gehörten bzw. Gelesenen das Gleiche vor. Während in den bürgerlichen Moralischen Wochenschriften sowohl der ungesellige als auch der vernünftig-tugendsame Lesende immer Einzelleser sind, wird die gemeinsame Lektüre in der Hauptsache in populären Lesestoffen (Kalender, Lesebuch) propagiert und empfohlen. Der ›ungegenständliche‹ Rezeptionsakt beim stillen Lesen wird hier im Bild des Vorlesens als szenische und räumliche Metapher darstellbar. Als mentales Vorstellungsbild versöhnt es die ›alte‹ orale Welt mit der Moderne, die mittels gedruckter Lesestoffe virtuelle Realitäten zu erzeugen und zu repräsentieren vermag. Der von Schön konstatierte Prozess einer zunehmenden Unterbindung einer das Lesen begleitenden Körpermotorik würde demnach wenigstens im Vorlesebild kompensieren.260 Die Konjunktur, die die Geschichte des Lesens gegenwärtig hat, hängt paradoxerweise mit der vermeintlichen oder auch realen Bedrohung der Kulturtechnik Lesen durch andere mediale Kommunikations- und Rezeptionsformen zusammen. »Erst dadurch, dass Lesen als eine mediale Sonderform wahrnehmbar und seiner Selbstverständlichkeit entkleidet wurde, werden auch seine unterschiedlichen Techniken und Praktiken sowie die mit ihnen verknüpften Typen lesender Menschen als dem historischen Wandel unterworfene, gesellschaftliche Formationen schärfer sichtbar.«261 Der vorliegende Forschungsaufriss konnte nicht alles zur Sprache bringen, was mit der Geschichte des Lesens in einem engeren oder weiteren Zusammenhang steht. Die vielfältigen Formen privater und öffentlicher Bibliotheken werden nur vereinzelt berücksichtigt, auch auf den ›fiktiven Leser‹ (als Held und normative Vorgabe oder in abschreckender Absicht), wie man ihm in der Literatur begegnet, konnte nicht eingegangen werden. Auch auf die zahlreichen Leseinstruktionen, die sowohl auf die Lesepraxis als auch auf die Leseideale verweisen, kommen nur am Rande vor. Insgesamt wissen wir vieles über die ›externe Geschichte des Lesens‹, das Wer, Was, Wo und Wann ist sowohl qualitativ als auch quantitativ breit erforscht. Die ›innere Geschichte des Lesens‹, das Warum und Wie, hingegen ist noch weitgehend terra incognita. Oder sind, um einen Gedanken Darntons aufzugreifen, die beiden ›Territorien‹ nicht vielmehr 260 Vgl. Schön: Der Verlust der Sinnlichkeit, S. 107–122. 261 Zedelmaier: Schwierige Lesegeschichte, S. 96.
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vielfach verschachtelt, und ist die ›externe Geschichte des Lesens‹ nicht Bedingung, Voraussetzung, um über die ›innere Geschichte des Lesens‹ etwas aussagen zu können?
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Alfred Messerli
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Buch und Wissen in der Frühen Neuzeit 1 2 2.1 2.2 2.3 3
Allgemeine Gesichtspunkte Spezielle Gesichtspunkte Zur Wissensarchitektur Buch: Der Index Zur Bibliothek als Idee des Wissens: die Bibliographie Zum Lesen als Wissensproduktion: das Exzerpieren Literaturverzeichnis
In den vergangenen beiden Jahrzehnten formierte sich in den historischen Kulturwissenschaften ein besonderes Interesse für das vormoderne Buch als Medium und Instrument der Speicherung, Ordnung und Generierung von Wissen. Der folgende Überblick zur Frühen Neuzeit geht dem unter zwei Gesichtspunkten nach. Ein allgemeiner Abschnitt skizziert zunächst die Konturen der neuen Forschungsrichtung. Dabei geht es erstens um die Formierung neuer Wahrnehmungsmuster in der buchgeschichtlichen Forschung im Erfahrungskontext neuer elektronischer Medien (Historizität des Buchs), zweitens um Implikationen der Buchgebundenheit des frühneuzeitlichen Wissens (Wissensordnung und Buch in der Frühen Neuzeit). Drei Aspekte erweisen sich für das in dieser Hinsicht zum Ausdruck kommende Interesse am vormodernen Buch als wesentlich: Wissensarchitektur Buch, Bibliothek als Idee des Wissens und Lesen als Wissensproduktion. Ein spezieller Abschnitt vertieft diese Aspekte im Blick auf neuere Forschungen zu jeweils einem Sachverhalt: Index, Bibliographie, Exzerpieren.
1 Allgemeine Gesichtspunkte Historizität des Buchs: Neue Medien haben das Buch seiner Jahrhunderte alten Selbstverständlichkeit entkleidet. Der Medien-Zusammenhang hat die Sonderrolle des Buchs herausgestellt und dadurch das Buch als media-
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le Besonderheit sichtbar gemacht. Diese Einsicht wurde in den letzten Jahren auf unterschiedliche Weise historisch differenziert. Auch dabei haben neue Medien gleichsam mitgewirkt. So gilt deshalb auch in historischer Hinsicht, dass die Historizität des Buchs erst in der Vergleichsbeziehung zu neuen Medien recht fassbar wurde. Diese These lässt sich in dreierlei Hinsicht untermauern: erstens im Blick auf Veränderungen in der Einschätzung des Buchdrucks, zweitens mit Blick auf Untersuchungen zur historischen Buch- und Textgestalt und drittens mit Blick auf die historische Differenzierung des Gebrauchs von Büchern. Die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern ermöglichte die Beschleunigung in der technischen Reproduktion von Texten. Dies wurde bald nach der Einführung der neuen Technik auch explizit thematisiert, wie bereits ältere Untersuchungen herausgearbeitet haben.1 Nichts sei vergleichbar mit der neuen Art zu schreiben, heißt es etwa 1499 in De inventoribus rerum, einem vielfach wieder aufgelegten Buch des italienischen Humanisten Polydorus Vergilius. An einem Tag, lautet seine später oft wiederholte Charakterisierung des Buchdrucks, könne jetzt ein Mann so viele Schriften drucken, wie früher viele Personen kaum in einem Jahr schreiben konnten.2 Bis in die jüngste Zeit bestimmten Produktionstechnik, Produktionszahlen und das neue marktorientierte Vertriebssystem die Sicht auf den Buchdruck. In dieser Hinsicht wurde der Buchdruck klassisch als epochales Ereignis profiliert. Der Buchdruck als Epochenwende der Kommunikations- und Mediengeschichte dagegen ergab sich erst, als neue Informations- und Kommunikationstechnologien wie Hörfunk und Film das gedruckte Buch relativierten. Im Unterschied zu Zeitung und Zeitschrift ermöglichten diese Technologien nicht nur eine neue artifizielle, vom Schreiben und Lesen losgelöste Übertragung von Information, sie ermöglichten auch eine neue Sicht auf den Buchdruck. Für die kommunikations- und mediengeschichtliche Wahrnehmung des Buchdrucks ist die Unterscheidung Oralität versus Visualität konstitutiv, also Wahrnehmungsmodalitäten, die mit den Medien Hörfunk und Film verbunden sind. Ausgehend von Marshall McLuhans Medientheorie konstatierten u. a. Walter Ong und in Deutschland besonders Michael Giesecke als Folge des Buchdrucks eine ›Technisierung des Sehens‹. Erst mit dem Buchdruck habe sich die Prämierung des Auges gegenüber dem Ohr als dem führen1 2
Vgl. u. a. Widmann: Vom Nutzen und Nachteil. Vgl. Vergilius: De inventoribus, II, 7,8. Zur großen Verbreitung und Wirkung des Buchs die Dokumentation von Zedelmaier: Polydorus Vergilius.
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den Erkenntnisorgan durchgesetzt. Zwar habe das Ohr, so Giesecke, schon durch die Institutionalisierung der Alphabetschrift an Bedeutung verloren. Doch charakteristisch für das Medium Schrift vor dem Buchdruck sei die nicht hierarchisch aufgefasste Koexistenz von Oralität und Literalität gewesen.3 Im Horizont neuer Medien zeigte sich damit der Buchdruck nicht mehr bloß als Revolution der Buchherstellung. Der als neue Informationstechnologie profilierte Buchdruck wurde zum Katalysator einer Kommunikationsrevolution, die eine ganze Kultur grundlegend veränderte. Katalysatoren dieser Neuformierung des Buchdrucks wiederum waren neue Medien. Das kommunikations- und mediengeschichtliche Epochenmodell selbst lässt sich deshalb als ein ›Medieneffekt‹ verstehen. Besonders Horst Wenzel hat die mit diesem Effekt verbundene mediale Historizität herausgearbeitet und dabei betont, dass erst ausgehend von einem konkreten Medienwechsel das Ende des Buchzeitalters und damit die Historizität von Informations- und Kommunikationstechnologien überhaupt denkbar wurden.4 Wie die Wahrnehmung des Buchs als Medium, als historisch bestimmte, besondere Form der Übertragung von Information, die Historisierung des Buchs vorantrieb, verdeutlichen neuere Forschungen zur Geschichte der Buch- und Textgestalt. Über die historische Entwicklung der Feinstrukturen der Buchgestalt gab es vereinzelt auch schon vor der Einsicht in die Historizität des Buchs Untersuchungen. Was ihnen fehlte, war ein Problemhorizont. Erst Leitkategorien wie Oralität, Literalität, Visualität und damit verbundene kultur- und wissensgeschichtliche Fragestellungen stellten ein Netz von Anschlussmöglichkeiten zur Verfügung. Dadurch erhielten bis dahin weitgehend unbeachtete materielle Objekte der Buchgestalt nicht nur eine differenzierte Geschichte. Diese Geschichte konnte jetzt auch in einen weiteren, über das Buch hinausreichenden Horizont gestellt werden. Formale Mittel zur Strukturierung von Buch und Text, also Titelblatt, Widmung, Inhaltsverzeichnis, Kopftitel, alphabetisches Register oder Fußnote, Illustrationen, Kapitel, Paragraphen, Absätze, Marginalien, Schriftarten oder Zeichensetzungen, zeigen sich in dieser Perspektive keineswegs als marginale, vielmehr als signifikante Gegenstände historischer Aufmerksamkeit. Vor allem französische und amerika3 4
Vgl. u. a. Ong: Oralität und Literalität, S. 118–123; Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, S. 29–36. Vgl. zuletzt Wenzel: Mediengeschichte vor und nach Gutenberg.
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nische Forscher haben dazu große Studien vorgelegt, so etwa, um nur zwei prominente Beispiele aus einer reichen Forschung herauszugreifen, Henri-Jean Martin über die Entwicklung der Gestalt des französischen Buchs vom 14. bis zum 17. Jahrhundert,5 Malcolm Beckwith Parkes über die Geschichte der Interpunktion.6 Dennoch gibt es in der Geschichte der Buch- und Textgestalt noch viele ›weiße Flecken‹, wie die Herausgeber eines neueren, diesem Thema gewidmeten Sammelbands konstatieren.7 Auch in Hinsicht auf das Buch als Gebrauchsgegenstand ermöglichte die Einsicht in die Historizität des Buchs neue Fragestellungen. Ging es der klassischen Leser- und Lesegeschichte um die Frage, wer lesen konnte und was Leser (differenziert nach sozialer Herkunft und Art der Lektüre) lasen, so ist die Frage nach der Konsumtion und dem Gebrauch von Büchern eine Frage nach den historischen Modalitäten des Lesens, eine Perspektive, die vor allem der französische Historiker Roger Chartier mit großem internationalen Erfolg profilierte.8 Auch für die Frage nach den Modalitäten des Lesens ermöglichten Leitkategorien der Medien- und Kommunikationsgeschichte neue Unterscheidungen. Wie Leser lesen und was Leser aus Texten machen, genauer: machen können, ist nicht nur von externen Bedingungen (der Buchproduktion, den Verlegerstrategien) abhängig. Welche Möglichkeiten es überhaupt für die Konsumtion und den Gebrauch von Büchern gibt, legen die jeweiligen historischen Bedingungen des Leseakts selbst fest. Ob etwa Texte laut oder still gelesen werden, ist deshalb nicht nur eine Frage besonderer (situativer, sozialer oder kultureller) Konstellationen, in denen gelesen wird. Es ist auch eine Frage, ob und wie eine solche Alternative historisch überhaupt gegeben ist. Untersuchungen zur Geschichte des lauten und stillen Lesens in der europäischen Antike und im Mittelalter, genauer: zur Frage nach der Veränderung ihres gegenseitigen Verhältnisses, haben gezeigt, dass in der Antike das laute Lesen vorherrschend war. Das stille Lesen formierte sich erst allmählich im Verlauf des Mittelalters als eine eigenständige (jedoch keineswegs das laute Lesen ablösende) Lektürepraxis. Veränderungen der Buch-, Text- und Schriftgestalt spätantiker und mittelalterlicher Handschriften lieferten wichtige 5 6 7 8
Martin: Mise en page. Parkes: Pause and Effect. Enenkel/Neuber: Einleitung, S. 3. Vgl. u. a. Chartier: Lesewelten; Chartier: Histoires de la lecture; Chartier/Cavallo: Die Welt des Lesens; vgl. auch die Beiträge in zwei neueren Sammelwerken: Messerli/Chartier: Lesen und Schreiben; Messerli/Chartier: Scripta volant.
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Indizien für die Ausbildung des stillen Lesens. Maßgebliche Untersuchungen auf diesem Gebiet verdanken wir Paul Saenger. Wie der Handschriftenforscher Saenger herausgefunden hat, wurde das stille Lesen durch die Durchsetzung der Worttrennung in mittelalterlichen Handschriften ermöglicht. Erst im 12. Jahrhundert ist die Worttrennung zu einer in ganz Europa gängigen Praxis geworden. Während Texte in Handschriften ohne Worttrennung mühsam, Buchstabe für Buchstabe, entziffert und oralisiert gelesen werden mussten, korrespondiert der skriptographischen Neuerung Worttrennung die Möglichkeit einer rein visualisierten Lektüre. Nur mehr visuelle Muster, die Erscheinungsformen der Worte, also ›images‹, werden identifiziert und ihre Bedeutungen im inneren Lexikon abgerufen.9 Die Argumente verdeutlichen, dass die Beweisführung der neueren Forschungen zum Buch der Wahrnehmung des Buchs als besonderes Medium der Übertragung von Information geschuldet ist. Auch aus den Untersuchungen zur Entwicklung des stillen Lesen und die ihm korrespondierende Veränderung der formalen Textgestalt (erst jetzt wurden das Erstellen von Registern und weitere Hilfsmittel eines rationellen Textumgangs überhaupt möglich) ergaben sich Anschlussmöglichkeiten für übergreifende Fragen der Kulturgeschichte. Nach Chartier ermöglichte die stille Lektüre »ein neues Bewusstsein der Individualität und des Privaten, das sich außerhalb der Sphäre öffentlicher Macht und politischer Herrschaft bildet«.10 Mit dem Buch als materiellem Objekt und als Gebrauchsgegenstand eng verbunden ist ein wichtiger allgemeiner Gesichtspunkt. Bezieht man die dadurch gewonnenen Einsichten zurück auf das Epochenmodell der Kommunikations- und Mediengeschichte, so zeigt sich die beschränkte Geltung eingespielter Schemata der Kategorisierung. ›Gutenberg-Galaxy‹ und ›Druckzeitalter‹ bezeichnen eine Welt, die sich, mit dem Buchdruck als Epochenwende, von der Welt des Handschriftenzeitalters kategorial unterscheidet. Im Blick auf diese Unterscheidung ist auch die Kommunikations- und Mediengeschichte (und mit ihr die Buchgeschichte) immer noch auf die Geschichte der Reproduktionstechnik fixiert. Dagegen lehrt die jüngere Forschung zum Buch als materiellem Objekt und als Gebrauchsgegenstand, dass für das Buch, abhängig von der Art seiner Betrachtung, unterschiedliche mediale Einschnitte zu berücksichtigen 9 10
Vgl. Saenger: Space between words. Chartier: Lesewelten, S. 147. In dieser Hinsicht ist die Veränderung von Lektürepraktiken Teil des Formierungsprozesses von Aufklärung und Öffentlichkeit (dazu Chartier: Die kulturellen Ursprünge, S. 109–112).
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sind. Eine Kulturgeschichte des Buchs ist deshalb, wie wiederum besonders Chartier betont hat, nach eigenständigen Veränderungsprozessen zu differenzieren: In die Geschichte der Reproduktionstechniken (mit dem Wechsel von der handschriftlichen zur drucktechnischen Reproduktion), die Geschichte der Buchformen (mit dem entscheidenden Wechsel vom Informationsträger ›volumen‹ zum Informationsträger ›codex‹) und die Geschichte der Leseweisen (mit der allmählichen Formierung der Möglichkeit des stillen Lesens). Alle diese Geschichten besitzen eine jeweils besondere mediale Signifikanz.11 Wissensordnung und Buch in der Frühen Neuzeit: Das Buch hat die Vorstellung darüber, was als Wissen Geltung beanspruchen kann, in der Vormoderne geprägt. Institutionell abgesichert wurde diese Buchzentriertheit des Wissens noch in der Frühen Neuzeit durch die Institutionen der Wissensvermittlung, an deren Spitze die Universität stand.12 Universitäre Wissenschaft war bis ins 18. Jahrhundert auf die Auslegung und Applikation eines überschaubaren Kanons autoritativer Bücher bezogen, der sich über Jahrhunderte nur wenig änderte. Nach dem Vorbild der Bibel lag jedem Fach ein eigenes ›Buch der Bücher‹ zugrunde.13 Universitäre Fächer konstituierten sich nicht über spezielle (Sach-)Fragen und Methoden, vielmehr über die Vorlesung, Auslegung und Einübung von vorgeschriebenen Lehrbüchern. Die auf das Buch bezogene Wissensformation, das Bücherwissen, galt in der Frühen Neuzeit als ›gelehrtes‹ Wissen.14 Der Begriff verweist darauf, dass Wissen in der Frühen Neuzeit auf besondere Weise auf ›überliefertes‹, auf tradiertes Wissen bezogen ist, insbesondere auf Texte der griechischen und römischen Antike, die Maßstäbe setzten, sowie auf die Bibel, die nicht nur als ›heiliger‹ Text, vielmehr überhaupt als Inbegriff von Wissen gelesen und ausgelegt wurde. Gelehrtes Wissen ist außerdem jene Wissensformation, von der ›neues‹ (Natur-)Wissen in der Frühen Neuzeit abgegrenzt wurde. Das verdeutlichen die Polemiken der neuen Wissenschaft gegen die »Historiker oder Doktoren der Auswendiglernerei«, gegen die etwa Galileo Galilei 1632 seine eigenen Untersuchungen profilierte, die »die Welt der Sinne zum Gegenstand« haben und »nicht eine Welt von Papier«.15 Vertreter des neuen Wissens privilegierten 11 12 13 14 15
Vgl. Chartier: Lesewelten, S. 7–24; Cavallo/Chartier: Einleitung, S. 9–57. Für das Heilige Römische Reich Deutscher Nation den Überblick von Seifert: Das höhere Schulwesen, S. 197–374; vgl. auch Clark: Academic Charisma. Vgl. Moos: Geschichte als Topik, S. 264. Vgl. Zedelmaier: Wissensordnungen der Frühen Neuzeit, S. 836. Galilei: Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme, S. 118.
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neue Orte, Institutionen und Praktiken des Wissens. Ihr Kennzeichen ist die Bevorzugung des ›Buchs der Natur‹ gegenüber dem ›Buch der Schrift‹,16 ihre Formierung verbunden mit neuen epistemischen Idealen und instrumentellen Wahrnehmungshilfen der Wissensgenerierung, die gegen das alte Wissen, die gelehrten Bücher und Universitäten, ausgespielt wurde.17 In dieser Perspektive formierte sich die moderne Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften, die dem auf das Wissen der Bücher bezogenen Wissensmodell der Frühen Neuzeit fremd ist. Das gelehrte Wissen erhielt im Modell der ›Topica universalis‹, die Wilhelm Schmidt-Biggemann als Verfahren humanistischer und barocker Wissenschaft beschreibt, eine methodologische Bestimmung.18 Das Bücherwissen wird hier zur materialen Grundlage einer systematischen Universalwissenschaft. Dabei dienen die als Begriffe und Leitbilder verstandenen ›loci‹ der rhetorisch-dialektischen Topik als Instrumente zur Konstitution spezieller Wissensfächer, denen das nicht mehr auf die autoritativen Texte der Antike und der Bibel beschränkte gelehrte Wissen zugeordnet wird, um Wissen zu gliedern und das Finden spezieller Argumente zu ermöglichen. Das sicherte bis zum 18. Jahrhundert eine Kontinuität des Interesses an bestimmten Fragen und Themen. Welches Problem zum Gegenstand der Erörterung wird, ergibt sich im Blick auf die gelehrte Tradition, die von den Enzyklopädien der Frühen Neuzeit als ein überschaubar geordneter, systematisch abrufbarer Wissenszusammenhang repräsentiert wird. Die Forschung zur frühneuzeitlichen Enzyklopädie ist in den letzten Jahren unter dem Eindruck neuer Techniken elektronischer Wissensspeicherung und inspiriert durch das neue Paradigma ›Wissensgeschichte‹19 geradezu sprunghaft angestiegen.20 Als ›Enzyklopädie‹ werden dabei unterschiedliche (und unterschiedlich bezeichnete) frühneuzeitliche Repräsentationsformen von gelehrtem Wissen untersucht. Theatrum, Thesaurus, Bibliotheca sind einige der häufiger verwendeten Titel. Die Frühe Neuzeit kennt viele Spielarten solch enzyklopädischer Wissensrepräsentation, die unterschiedliche Traditionen (Gedächtniskunst, Lullismus, Hermetismus, Kabbala, Platonismus) verarbeiten. Gemeinsam ist allen Enzyklopädien des 16. und 17. Jahrhunderts das Anliegen, einen Überblick über den Gesamt16 17 18 19 20
Blumenberg: Die Lesbarkeit. Vgl. u. a. Rossi: Die Geburt der modernen Wissenschaft; Daston: Wunder, Beweise und Tatsachen. Schmidt-Biggemann: Topica universalis. Vgl. zur Frühen Neuzeit den viel zitierten Überblick von Burke: Papier und Marktgeschrei. Vgl. u. a. Eybl: Enzyklopädien der Frühen Neuzeit; Meier: Die Enzyklopädie im Wandel; Stammen/Weber: Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverarbeitung.
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bestand gelehrten Wissens zu geben, um Orientierung zu ermöglichen. Übersicht hat die Reduktion von Wissensmaterial zur Voraussetzung. Ihr Mittel ist Systematisierung. Dafür steht im 16. Jahrhundert der Begriff ›methodus‹, seit der Wende zum 17. Jahrhundert auch ›systema‹.21 Die alphabetische Ordnung des Wissens ist keine Erfindung des 18. Jahrhunderts. Alphabetisch disponierte Enzyklopädien gab es vereinzelt bereits in der Frühen Neuzeit und früher.22 Über ihre umfangreichen alphabetischen Indices waren die großen systematischen Enzyklopädien seit dem Spätmittelalter zudem immer auch alphabetische Nachschlagewerke.23 Dem Aufstieg des Alphabets im 18. Jahrhundert zur normalen Dispositionsform von (nicht nur enzyklopädischem) Wissen korrespondiert die Auflösung des topischen Wissensmodells mit seiner festgefügten Ordnungsstruktur. Damit verbunden ist die Historisierung der Wissens. Die Referenzsysteme des Wissens, die Ordnungen des Wissens selbst, werden nun als historische Größen begriffen und die Vorläufigkeit alles Wissens postuliert. Die systematische Ordnung des Wissens reduziert sich entsprechend, wie bei der französischen Encyclopédie, zu einem Einleitungskapitel oder wird, wie bei den wissenschaftstheoretischen Enzyklopädien des 18. und 19. Jahrhunderts, als philosophisches, von der Wissensrepräsentation entlastetes Prinzip behandelt.24 Betrachtet man das frühneuzeitliche gelehrte Buch als »Erkenntnismaschine«25, so ist zunächst von seiner besonderen Architektur auszugehen, also von jenen Ordnungselementen, die Wissen im Buch strukturieren, es für Leser selektiv erschließbar und nutzbar machen. Einige dieser Elemente (wie das Titelblatt oder die Fußnote) entstanden erst in der Frühen Neuzeit, viele aber (wie das alphabetische Register oder die Worttrennung) bereits im Mittelalter. Die Transformation des Buchs von einem gering strukturierten Gedächtnismedium, das gewöhnlich laut memoriert wird, zu einem mit speziellen Verweisstrukturen ausgestatteten Instrument der Wissenserschließung und -verarbeitung, welche still ausgeübt werden, vollzog sich im Mittelalter, vor allem im Kontext der Entstehung von Universitäten und neuer religiöser Orden im 12. und 13. Jahrhundert.26 Jedoch verfestigte sich mit der durch den Buchdruck in der Vervielfältigung garantierten Identität 21 22 23 24 25 26
Vgl. Zedelmaier: Bibliotheca universalis, S. 123f. Dazu zuletzt Weijers: Funktionen des Alphabets, S. 22–32. Vgl. Zedelmaier: Facilitas inveniendi, S. 235–242. Vgl. dazu Dierse: Enzyklopädie. Enenkel/Neuber: Einleitung, S. 3; vgl. auch die Beiträge in: Rhodes/Sawday: The Renaissance Computer. Vgl. Saenger: Space between words.
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von Texten die Wissensordnung im Buch. Sie ist nun nicht mehr Produkt der individuellen Ansprüche von Auftraggebern, nicht mehr bestimmt durch Routinen der Schreiber und unterschiedliche Kopiervorlagen,27 sondern durch neue (marktorientierte) Bedingungen der Buchproduktion sowie veränderte Kontexte für die Aneignung und Vermittlung von Bücherwissen.28 Damit erst wird die Buchordnung zum erfolgreichen Komplement des künstlichen Gedächtnisraums der traditionellen Mnemotechnik.29 Die Orte des nach den Regeln der Mnemotechnik je unterschiedlich und individuell zu konzipierenden Raums der Erinnerung erhalten die Bedeutung von identifizierbaren Stellen in Büchern.30 Der Buchdruck lenkte die Aufmerksamkeit in einem neuen Sinn auf die Bedingungen, die Notwendigkeit und Funktion der Ordnung des gelehrten Wissens. Die mit der neuen Reproduktionstechnik ermöglichte identische Reproduzierbarkeit, beschleunigte Zirkulation und ubiquitäre Verfügbarkeit von Wissen31 verstanden Gelehrte der Frühen Neuzeit aber gerade nicht als Garanten der Wissenssicherung, vielmehr umgekehrt als Bedrohung des Wissensbestands durch fehlende Orientierung. Vor diesem Hintergrund erklärt sich das besondere Interesse für Institutionen, Methoden und Instrumente der Wissenssicherung.32 Die Bibliothek wird zum reflektierten Ort der Ordnung und Identifizierung des in ihr versammelten Wissens, der Bibliothekskatalog zu einem Instrument, das nicht mehr nur wie im Mittelalter bloßes Inventar ist, sondern auf Bücher mit individuellen Signaturen verweist,33 um Wissen finden und nutzen zu können. Und weil nun Gelehrte in unterschiedlichen Städten und Ländern sich auf dasselbe identische Buch beziehen konnten, entstand ein Bedarf für eine ›ideale‹ Bibliothek: die Bibliographie.34 Sie verzeichnet und ordnet Bücher nach den für sie seit dem 16. Jahrhundert gültigen Adressen (Autor, Titel, Verlag, Ort und Jahr), unabhängig von ihrem tatsächlichen Aufbewahrungsort und doch zugleich auf die Bibliothek als konkretem Ort der Bücher bezogen.35 27 28 29 30 31 32 33 34 35
Vgl. etwa Vögel: Sekundäre Ordnungen, S. 54. Vgl. als Überblick Rautenberg: Die Ökonomie des Buches, S. 503–512. Vgl. Carruthers: The Book of Memory. Vgl. Zedelmaier: Orte und Zeiten des Wissens, S. 132; Saenger: Benito Arias Montano, S. 119–137. Vgl. zuletzt Weber: Buchdruck, S. 65–87. Vgl. Blair: Reading Strategies, S. 11–28. Vgl. Jochum: Am Ende der Sammlung, S. 284. Vgl. Chartier: L’Ordre des livres, S. 69–94; grundlegend: Serrai: Storia della bibliografia. Vgl. Zedelmaier: Bibliotheca universalis, S. 22–35.
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Die Buchgebundenheit des Wissens bestimmt auch die frühneuzeitliche Ordnung gelehrter Wissensverarbeitung und -verwaltung und ihre Praktiken.36 Darüber informieren neben Gelehrtennachlässen und überlieferten Büchern Instruktionen zum gelehrten Lesen in der Frühen Neuzeit.37 Auch viele Enzyklopädien und Fachschriften empfehlen sich als Anleitung zu selbständiger Wissensverwaltung. Lesen, Exzerpieren und das Verwalten des Exzerptmaterials wird zunächst vor allem als Gedächtnisschulung thematisiert. Im Verlauf des 17. Jahrhunderts formieren sich zunehmend ungebundene Leseweisen und entsprechend flexible Ordnungstechniken.38 Sie dokumentieren die Transformation der gelehrten Wissensaneignung vom gedächtniszentrierten Lesen – für das die Zuordnung der Exzerpte unter vorgegebene Titelkategorien, die Verzeichnung der Exzerpte in gebundene Exzerptbücher und das ständige, das Gedächtnis schulende Wiederlesen der Exzerpte steht – zum Modell des schöpferischen Lesens.39 Damit verbunden ist eine den Bedürfnissen des einzelnen Gelehrten angepasste Ordnung der Lektüre, die Auflösung der vorgeordneten Topik. Das 18. Jahrhundert formuliert den Willen zur autonomen Herrschaft des Denkens über das Lektürematerial. Die dem Autonomieanspruch korrespondierende Praxis sind frei disponible Zettel, die in Zettelkästen organisiert werden.40
2 Spezielle Gesichtspunkte 2.1 Zur Wissensarchitektur Buch: Der Index
Der Index gehört zu jenen Instrumenten, mit deren Hilfe seit der mittelalterlichen Scholastik das Wissen in Büchern strukturiert und dadurch die Möglichkeit des lautlosen und visuellen Lesens verbessert wurde.41 Indices erschlossen die oft gewaltigen Buchapparate des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit für Leser, um die »facilitas inveniendi«, das effektive und 36 37 38 39 40 41
Vgl. Meinel: Enzyklopädie, S. 162–187. Vgl. Zedelmaier: Johann Jakob Moser, S. 43–62. Vgl. Malcolm: Thomas Harrison, S. 196–232; Cevolini: Verzetteln lernen, S. 233–256; Cevolini: De arte excerpendi. Vgl. Zedelmaier: Lesetechniken, S. 11–30. Vgl. Krajewski: Zettelwirtschaft; Zedelmaier: Johann Jakob Moser. Zu den mittelalterlichen Ursprüngen des Buchindex vgl. den Überblick von Rouse/Rouse: La naissance des index, S. 77–85; vgl. auch die Beiträge in: Leonardi/Morelli/Santi: Fabula in Tabula.
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schnelle Auffinden von Wissen zu gewährleisten, wie es bereits bei Vincenz von Beauvais heißt.42 Indices sind aber nicht nur wichtige Instrumente der Benutzung, sie sind in der Frühen Neuzeit zugleich Hilfsmittel der Produktion von gelehrten Büchern. Dies gilt sowohl hinsichtlich der Reorganisation der Wissensbestände, als auch hinsichtlich der Organisation der ›loci communes‹, d. h. der gelehrten Exzerptsammlungen. Ein Buchindex heißt im Mittelalter ›tabula alphabetica‹, in der Frühen Neuzeit gewöhnlich ›index‹, seltener ›registrum‹. ›Register‹ bezeichnet schon in der Frühen Neuzeit Buchregister zu deutschsprachigen Werken. In der Frühen Neuzeit, so noch in Johann Heinrich Zedlers UniversalLexicon, wird ›index‹ häufig mit ›Zeige-Finger‹ übersetzt und damit mit den figurativen Verweisen in Verbindung gebracht, die Leser in mittelalterliche Manuskripte und frühneuzeitliche Drucke zeichneten, um dadurch wichtige ›loci‹ des Textes hervorzuheben. ›Index‹ heißt in der Frühen Neuzeit nicht nur der Buchindex. Der Begriff bezeichnet unterschiedliche Formen und Methoden, auf Bücher und deren Inhalte zu verweisen. Inhaltsverzeichnisse von Texten (oft ›index capitum‹) und Resümees heißen so. Auch ganze Werke führen den Titel ›Index‹, Begriffskonkordanzen zu einzelnen Werken und Autoren sowie Schriftsteller-, Buchhandels- und Bibliothekskataloge.43 Das bekannteste Beispiel eines ›Index‹ als eigenständiges Werk ist der erstmals 1559 veröffentlichte Index librorum prohibitorum, das Verzeichnis der auf päpstlichen Erlass verbotenen Bücher, bald nur mehr kurz Index genannt.44 Bereits einige mittelalterliche Buchindices sind strengalphabetisch geordnet, d. h. berücksichtigen in der Sortierfolge nicht nur den ersten, sondern auch weitere Buchstaben des indizierten Begriffs. Das haben u. a. Anna-Dorothee von den Brincken und Heinz Meyer in ihren Untersuchungen detailliert nachgewiesen,45 und damit die ältere Annahme revidiert, dass strengalphabetische Indices erst allmählich als Wirkung des Buchdrucks entstanden. Ong etwa verwies darauf, dass die mechanische Alphabetisierung noch im 16. Jahrhundert häufig von anderen Ordnungsgesichtspunkten durchbrochen ist, die phonetisch oder hierarchisch (d. h. die Bedeutung der Begriffe berücksichtigend) orientiert sind.46 Das ist zwar richtig, doch gibt es eben strengalphabetische Indices auch schon 42 43 44 45 46
Vgl. Brincken: Tabula alphabetica, S. 905. Vgl. die Belege bei Blair: Annotating, S. 69–89; Zedelmaier: Facilitas inveniendi. Vgl. als Überblick Zedelmaier: Das katholische Projekt, S. 187–203. Vgl. Brincken: Tabula alphabetica; Meyer: Ordo rerum, S. 315–339. Vgl. Ong: Commonplace Rhapsody, S. 109f.
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vor der Erfindung beweglicher Lettern. Gelegentlich wurde auch argumentiert, dass Buchindices vor dem Buchdruck allein deshalb nur sehr beschränkten Nutzen hatten, weil sich die einzelnen Exemplare eines bestimmten Textes im Manuskriptzeitalter voneinander unterscheiden, der Buchindex deshalb für jeden einzelnen Codex neu verfasst werden musste. Nicht berücksichtigt blieb dabei, dass mittelalterliche Buchindices nicht auf Seiten bzw. Blätter, sondern auf einzelne Bücher und Kapitel verweisen, eine Praxis, die gewöhnlich auch im 16. und 17. Jahrhundert (in Werken zur klassischen Philologie bis heute) beibehalten wurde. Erst im 16. Jahrhundert entstanden Indices, die nur mehr Seiten bzw. Folioangaben nachweisen. Sicherlich förderten die Standardisierung der (äußeren) Textform, die allmähliche Vereinheitlichung der Schrifttypen und die Identität gedruckter Texte die ›Rationalisierung‹ der gelehrten Lektüre. Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts gibt es deshalb nur noch strengalphabetische Buchindices. Doch die neue Produktionstechnik mit beweglichen Lettern verfeinerte nur bereits eingeführte Verfahren einer rationellen Textorganisation (und der ihr korrespondierenden, nicht mehr nur linearen Leseweisen), die sich über 300 Jahre vor dem Buchdruck an mittelalterlichen Universitäten verbreitet hatten.47 Im späten Mittelalter, das legt u. a. die Untersuchung zu Enzyklopädiehandschriften von Meyer nahe, entstanden Buchindices u. a. dadurch, dass in der Handschrift vor der Registererstellung für jeden Buchstaben Spalten reserviert wurden, denen der Bearbeiter des Index, den Text fortlaufend durchgehend, die zu indizierenden Stichworte zuordnete. Das Verfahren beruht auf der Einschätzung der für jeden Buchstaben zu erwartenden Textmenge, u. a. dokumentieren dies Freiräume oder vom üblichen Layout abweichende enge Durchschüsse in den Indices überlieferter Handschriften. Bei umfangreichen Werken ist eine strengalphabetische Registerordnung mit solchen und ähnlichen Verfahren nur schwer zu erreichen. Doch gibt es auch ein Beispiel, wo vor der Textdurchsicht in den für den Index reservierten Spalten der Handschrift eine Alphabetisierung bis zum dritten Buchstaben festgelegt und, wie die Handschrift belegt, auch erreicht wurde (allerdings bleiben, wie zu erwarten, Positionen leer).48 Die Herstellung von Indices in Handschriften lässt sich über Indizien in den überlieferten Handschriften rekonstruieren. Doch wurden Buchindices im späten Mittelalter anscheinend auch mit Hilfe von Sortierver47 48
Vgl. Rouse/Rouse: Authentic Witnesses. Meyer: Ordo rerum, S. 330f.
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fahren erstellt; auch darauf verweisen einzelne Indizien in überlieferten Handschriften.49 Von den Brincken, die ein umfangreiches und streng alphabetisches Register zum Speculum historiale des Vincenz von Beauvais untersucht hat, geht davon aus, dass ein solches Werk nur mit Hilfe von Verzettelungstechniken hergestellt werden konnte, und zwar erst seitdem im Westen das dafür notwendige Papier zur Verfügung stand.50 Die erste bekannte Anleitung zur Methode der Registererstellung ist unter der Überschrift »De indicibus librorum« im zweiten Band von Konrad Gessners Bibliotheca universalis, den Pandectae (1548), überliefert.51 Gessner beschreibt darin detailliert Techniken des Verzettelns und Sortierens von Einträgen, die aber nicht nur als Mittel zum Erstellen von Buchindices empfohlen, sondern auch als Programm einer Praxis entworfen werden, die zum alltäglichen Geschäft eines jeden Gelehrten gehört. Indices sollen es ermöglichen, Wissen so zu disponieren, dass es jederzeit verfügbar und abrufbar bereit steht.52 Die von Gessner zur Registererstellung empfohlenen Techniken wurden in der Frühen Neuzeit breit rezipiert. Georg Philipp Harsdörffer orientiert sich an ihnen in seinen Ausführungen zum Registermachen, Gottfried Wilhelm Leibniz benutzte sie, um an der Herzoglichen Bibliothek Wolfenbüttel einen alphabetischen Bibliothekskatalog zu erstellen.53 Enzyklopädien des 16. und 17. Jahrhunderts mit ihren umfangreichen, nicht selten mehrere hundert Seiten umfassenden Indices zeigen sich im Blick auf Gessners Ausführungen zur Registererstellung als Publikationen der ›excerpendi cura‹, der Wissensverwaltung der Gelehrten.54 Dass wiederum bereits vorliegende (gedruckte) Indices für die Komposition von Enzyklopädien eine wichtige Voraussetzung und Bedingung waren, bestätigen die Methoden, die Gessner für die Fabrikation seiner eigenen Enzyklopädie benutzte. Die Auflistung von Stichworten und Themen, die sich in den Pandectae finden, ist nämlich abhängig von enzyklopädischen Werken, die selbst schon eine Aufbereitung von Literatur nach thematischen Gesichtspunkten bieten und die, um ein schnelles Finden des gesuchten Themas zu gewährleisten, mit Indices ausgestattet sind. Dieses in einer 49 50 51 52 53 54
Vgl. Meyer, S. 330. Vgl. Brincken: Tabula alphabetica, S. 911f. Vgl. Wellisch: How to Make an Index, S. 10–15; Serrai: Storia della bibliografia, Bd. 2 (1991), S. 343f. Vgl. Zedelmaier: Bibliotheca universalis, S. 99–107. Vgl. Meinel: Enzyklopädie, S. 170 (zu Harsdörffer); Clark: Academic Charisma, S. 308–311 (zu Leibniz). Vgl. Blair: Reading Strategies, S. 24–28; Zedelmaier: Facilitas inveniendi, S. 238.
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Vielzahl von enzyklopädischen Werken zerstreute Indexmaterial ordnete Gessner nach fachlichen Kriterien und bezog die einzelnen Stichworte auf das Ordnungsraster der Pandectae.55 Gessner verband die Verbreitung von umfangreichen und strengalphabetischen Buchindices mit der Erfindung des Buchdrucks.56 Überhaupt wird der Buchdruck von Gessner als Signatur einer neuen Zeit profiliert, dem eine zunehmende Selbständigkeit der Wissenschaften korrespondiert. Im Blick auf die gelehrte Praxis ist dieser Gesichtspunkt sicherlich zu relativieren (Gessner selbst hat mittelalterliche Enzyklopädien und ihre Indices ausgiebig benutzt), doch den großen Erfolg der Registerwerke bezeugen unterschiedliche Quellen. Bücher mit Indices verkauften sich besser. So bat etwa ein Buchhändler den Drucker Koberger, ein schwer verkäufliches Buch doch mit einem Index auszustatten, denn dann wäre es »vill kewfflicher«.57 Dies ist auch ein Hinweis darauf, dass seit dem Buchdruck nicht mehr nur Gelehrte Buchindices erstellten, sondern zunehmend auch die Drucker-Verleger. Das wiederum veranlasste Klagen über Mängel und Unzuverlässigkeit der Buchindices und Reformulierungen des Programms von Gessner, jeder müsse seine eigenen Indices erstellen, auch zu bereits publizierten Büchern, was auch tatsächlich, wie handschriftliche Register zu Drucken oder handschriftliche Ergänzungen von gedruckten Buchindices belegen, praktiziert wurde.58 Die im 16. Jahrhundert oft noch vorangestellten Buchindices differenzierten sich im Verlauf der Frühen Neuzeit auch qualitativ. Besonders Enzyklopädien wurden durch mehrere alphabetische Indices erschlossen. Neben den ›index verborum‹ tritt der ›index rerum‹ (gebräuchlich ist auch die Unterscheidung von ›index grammatica‹ und ›index philosophica‹), neben den Index der lateinischen derjenige der griechischen Begriffe; auch ›indices auctorum‹, ›indices locorum scripturae sacrae‹ oder ›indices geographici‹ gibt es. Indices von nur geringem Umfang heißen ›indiculi‹. Auch alphabetisch gegliederte Enzyklopädien wie die Umarbeitung von Theodor Zwingers Theatrum vitae humanae (Erstausgabe 1565) durch den Jesuiten Lorenz Beyerlinck (Erstausgabe 1631) wurden durch umfangreiche Indices erschlossen. Viele Buchindices des Spätmittelalters und des 16. Jahrhunderts sind alphabetisierte ›indices capitum‹, d. h. verweisen 55 56 57 58
Vgl. Zedelmaier: Bibliotheca universalis, S. 98f. Vgl. Zedelmaier, S. 101f. Vgl. den Beleg bei Neddermeyer: Von der Handschrift, Bd. 1, S. 451; vgl. dazu auch Blair: Reading Strategies, S. 18f. Vgl. Zedelmaier: Facilitas inveniendi, S. 238.
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allein auf die Überschriften der einzelnen Kapitel und Paragraphen. Im Fall der oft kleinteilig untergliederten Enzyklopädien konnte das dennoch umfangreiche Register zur Folge haben. Viele Buchindices sind zudem noch im 16. Jahrhundert nur nach dem ersten Buchstaben alphabetisiert. So sind die Indexeinträge zu Ausgaben der Erfinderenzyklopädie De inventoribus rerum von Vergilius innerhalb der Buchstaben des Alphabets nach der Folge der Seiten geordnet, d. h. die Stichworte oder Sentenzen mit identischen Anfangsbuchstaben wurden so, wie sie im Text aufeinander folgen, ins Register gesetzt.59 Enzyklopädien des 16. und 17. Jahrhunderts sind überwiegend systematisch, diejenigen des 18. Jahrhunderts vor allem alphabetisch geordnet. Doch besaßen die großen Enzyklopädien seit dem Spätmittelalter in pragmatischer Hinsicht eine doppelte Funktion: sie waren nicht nur systematische Wissenschaftskunden und -theorien, sondern (über ihre alphabetischen Indices) immer auch alphabetische Nachschlagewerke. Die Ordnung des Wissens besaß so seit den Anfängen enzyklopädischer Wissenssummen in der Scholastik einen alphabetischen Index, auch wenn die Pragmatik rein alphabetischer Orientierung als problematisch, da unwissenschaftlich galt. Das veranlasste noch die französischen Enzyklopädisten, die alphabetisch geordnete Encyclopédie durch einen ausführlichen, systematischen Vorspann und ein differenziertes Verweissystem wissenschaftlich abzusichern. Solche Verweise gibt es schon in Enzyklopädien des Mittelalters und der Frühen Neuzeit; und schon Albertus Magnus erkannte in der alphabetischen Ordnung einen ›modus non philosophicus‹, da er den Zusammenhang des Wissens zerreißt, doch liege die Anwendung des Alphabets im Interesse der Benutzer.60 Die Geschichte des Buchindex ist erst in Ansätzen erforscht. Sie müsste in den weiteren Kontext der Geschichte der Wissensordnungen und -verwaltungen gestellt werden und dabei die bereits antike Organisation von Wissen in Form von Listen,61 mittelalterliche und frühneuzeitliche Verwaltungstechniken wie Registerführung und Akten62 sowie Regulative der Wissenserfassung wie Tabellen und Formulare63 berücksichtigen. Speziell für die Geschichte der Buchindices ist vor allem die Frage wichtig, 59 60 61 62 63
Vgl. die Dokumentation bei Zedelmaier: Polydorus Vergilius. Vgl. Meyer: Ordo rerum, S. 322; Zedelmaier: Facilitas inveniendi, S. 239. Goody: Die Logik der Schrift. Vismann: Akten, Medientechnik und Recht; vgl. auch die Beiträge in: Siegert/Vogl: Europa. Dazu die Arbeiten von Brendecke: Tabellen und Formulare, S. 37–53; Brendecke: Tabellenwerke in der Praxis, S. 157–189; als Überblick Brendecke: Papierfluten, S. 21–30; in speziell buchgeschichtlicher Hinsicht Brendecke: »Durchschossene Exemplare«, S. 50–64.
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welches Textmaterial wie in das Register gesetzt wurde. Die Frage ist in der Frühen Neuzeit eng mit der pragmatischen Funktion der ›loci communes‹ bzw. ihrem Funktionswandel von bloßen Gedächtnishilfen zu schriftlich fixierten ›Stellen‹ in Büchern verknüpft (noch im 17. Jahrhundert heißen viele Indices ›indices rerum memorabilium‹). Auch müsste die Geschichte der Kritik an Buchindices näher untersucht werden, deren Art und Umfang im Blick auf die verschiedenen gelehrten Provinzen Europas unterschiedlich waren. Die besondere Sorgfalt der Deutschen bei der Registererstellung rühmte im 16. Jahrhundert Gessner, indem er konstatierte, dass die Deutschen darin die Franzosen, Italiener und Spanier weit übertreffen. Im 17. Jahrhundert kritisierten die französischen ›honnetes hommes‹ die Buchindices als pedantisch, im 18. Jahrhundert wurden sie von den ›philosophes‹ als gelehrte Barbarei verachtet. Das 18. Jahrhundert ist überhaupt eine Zeit des Rückgangs der Buchindices, sowohl was den Umfang, als auch was ihre Differenziertheit betrifft. Das verweist auf die Veränderung der Leseweisen bzw. -ideale, worauf etwa die Bemerkung in einem 1728 gedruckten Buch anspielt, in dem das Fehlen eines Registers damit begründet wird, dass es nicht zum Nachschlagen, sondern zum Durchlesen verfasst sei.64 2.2 Zur Bibliothek als Idee des Wissens: die Bibliographie
Bibliotheken als Orte des Sammelns, Speicherns und Verarbeitens von Bücherwissen gab es bereits in Antike und Mittelalter.65 Doch erst im 16. Jahrhundert setzt eine bis heute nicht abgerissene Reflexion über die Bibliothek als Medium und Instrument der Wissenssicherung ein, die mit einer besonderen historischen Aufmerksamkeit verbunden ist.66 Die Bibliothek wird zum Modell und Inbegriff des Menschheitsgedächtnisses.67 Seit dem 16. Jahrhundert entstehen in dieser Perspektive unterschiedliche Texte über die Bibliothek, eher grundsätzliche über die Idee der Bibliothek, eher 64 65 66
67
Vgl. Zedelmaier: Facilitas inveniendi, S. 239. Vgl. den instruktiven Überblick zur Bibliotheksgeschichte von Jochum: Kleine Bibliotheksgeschichte. Vgl. unter den zuletzt publizierten Arbeiten die Publikation der Beiträge der Tagung »Buch und Bibliothek als Wissensräume in der Frühen Neuzeit« in: AGB 59 (2005), S. 1–113; sowie: Garberson: Libraries, Memory, S. 105–136; Clark: Academic Charisma, S. 297–335; Bödeker: Bibliothek als Archiv. Ein Forschungsüberblick zum Thema ideale Bibliothek, zu dem in den letzten Jahren zahlreiche Untersuchungen erschienen, in: Werle: Copia librorum, S. 3–23.
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praktische zur Frage der Organisation, Ordnung und Benutzung der in ihr gesammelten Wissensschätze sowie solche zur allgemeinen Bibliotheksgeschichte und zur Geschichte einzelner Bibliotheken. Alfredo Serrai hat dazu in einer monumentalen Storia della bibliografia Belege und Quellentexte in kaum zu überbietender Materialfülle aufbereitet, und zwar keineswegs, wie der Titel verspricht, beschränkt auf die engere Bibliographiegeschichte.68 Von den frühneuzeitlichen Texten über die reale Bibliothek als Institution der Wissenssicherung ist die zuerst 1602 publizierte kleine Abhandlung De bibliothecis syntagma von Justus Lipsius am prominentesten. Sie wurde in der Frühen Neuzeit häufig zitiert und in den letzten Jahren von der Forschung intensiv untersucht.69 Lipsius beschränkte sich auf antike Bibliotheken. Mit antiquarischer Präzision stellte er das Material zusammen, das sich in den damals zur Verfügung stehenden antiken Quellen über das Bibliothekswesen findet. Neben Ausführungen zu einzelnen antiken Bibliotheken (insbesondere derjenigen von Alexandria) erörtert er Themen wie Bibliotheksbau, Ausstattung von Bibliotheken, aber auch spezielle praktische Fragen wie die Lagerung der Schriftwerke und ihre Benutzung. Die Bibliothek definierte Lipsius bereits nach den modernen drei Gesichtspunkten, d. h. als Gebäude, Aufbewahrungsort der Bücher und Büchersammlung: »Locum, Armarium, Libros«.70 Zum Instrument der Wissenssicherung wurde die Bibliothek in der Wahrnehmung von Lipsius und weiteren frühneuzeitlichen Gelehrten in Verbindung mit dem Buchdruck. Erst die neue Reproduktionstechnik, so Lipsius, habe eine effektive Produktion von Büchern und dadurch die Sicherung der gelehrten Überlieferung ermöglicht.71 Diese Sicht wurde schon früher, etwa von Vergilius, ähnlich profiliert. Jedoch entwickelte sich das Argument der durch den Buchdruck garantierten Wissenssicherung im 16. Jahrhundert zu einem ambivalenten Argument. Wenn Vergilius meint, nicht einmal armselige Bücher blieben jetzt im Verborgenen,72 referierte er damit auf die neuen, marktorientierten Bedingungen der Buchproduktion, die mit dem Buchdruck entstanden waren und traditionelle Selektionsmechanismen der Wissensvermittlung und -überlieferung außer Kraft gesetzt hatten. Bei Vergilius ist das ein beiläufiger Hinweis, der das Argument der mit 68 69 70 71 72
Serrai: Storia della bibliografia. Vgl. u. a. die Arbeiten von Nelles: Juste Lipse, S. 224–242; Nelles: The Renaissance Ancient Library, S. 159–173. Lipsius: De Bibliothecis Syntagma, S. 1. Lipsius, S. 1f. Vergilius: De inventoribus, II, 7,8.
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dem Buchdruck gewachsenen Überlieferungssicherheit nicht einschränkt. Das änderte sich mit der expandierenden Buchproduktion im 16. Jahrhundert. Es mehren sich jetzt Klagen über die damit verbundene wachsende Unüberschaubarkeit der Überlieferung. Bei Gessner liest man, der Buchdruck sei zwar zum Erhalt der Bücher wie geschaffen, doch erschienen jetzt auch zahlreiche unnütze Schriften, bei Vernachlässigung alter und besserer Schriften.73 Auch für Gessner ist das gedruckte Buch (im Unterschied zur Handschrift) ein Wissensträger, der auf besondere Weise sichere Überlieferung gewährleisten kann. Zugleich aber gefährdet die überstürzende Fülle an Information die Überschaubarkeit des Wissens.74 Die Lösung des Problems sieht Gessner in der Bibliothek als Institution der Wissenssicherung. Die Bibliothek kommt also bei Gessner über die Erfahrung des nicht zu verarbeitenden Zuviel an Wissen ins Spiel, unter dem Eindruck fehlender Übersicht.75 Gessners Bibliotheca universalis, 1545 bis 1548 in zwei Bänden erschienen, zeigt damit die Bibliothek als Einrichtung, die vor der Herausforderung steht, Wissenswachstum zu verarbeiten, um Übersicht und Orientierung zu ermöglichen. Diese Herausforderung ist permanent, denn das in tatsächlichen Bibliotheken gespeicherte Wissen ist stets nur vorläufig gegenüber dem wachsenden Insgesamt an Wissen. Bibliotheca universalis, wie Gessner sie versteht, ist deshalb ein Ideal. Als Verzeichnung möglichst aller Bücher sowie des in ihnen verarbeiteten Wissens ist sie Maßstab für alle möglichen Bibliotheken als tatsächliche Orte der Bücher: sie zeigt diesen, was ihnen in Wirklichkeit fehlt.76 Gessners Ideal als Projekt, über die Verzeichnung und Inventarisierung möglichst allen Bücherwissens Orientierung zu ermöglichen, gilt als Geburtsstunde der Universalbibliographie.77 Tatsächlich sind aus Antike und Mittelalter keine Texte überliefert, die über den Gesamtbestand der Bücherwelt orientieren, d. h. unabhängig vom besonderen Aufbewahrungsort der Bücher (Bibliothekskataloge gibt es bereits in Antike und Mittelalter)78 und zugleich auf die Bibliothek als Ort der Bücher bezogen. Spezielle Aufgabe der Bibliotheca universalis ist es, die beklagte Bücherflut kontrollieren zu können. Dadurch soll es nach Gessner möglich werden, 73 74 75 76 77 78
Vgl. Zedelmaier: Bibliotheca universalis, S. 13. Vgl. Müller: Universalbibliothek und Gedächtnis, S. 285–309. Vgl. Zedelmaier: Bibliotheca universalis, S. 9–21. Vgl. Zedelmaier, S. 22–50. Zu dieser Perspektive Serrai: Storia della bibliografia, Bd. 2. Dazu Blum: Die Literaturverzeichnung, Sp. 1–256.
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aus vielen Texten zu einem Thema denjenigen Text auszuwählen, der am nützlichsten ist, auch zu erkennen, ob das behandelte Thema nicht schon früher von anderen behandelt wurde.79 In Fortsetzung dieser Perspektive wird die systematische Aufbereitung des vorhandenen Wissens zur Voraussetzung rational organisierter Wissensproduktion, welche vorliegende Kenntnisse ergänzt und erweitert. Wissenschaftsprogrammatiker des 17. Jahrhunderts, so Francis Bacon oder Leibniz, die immer auch Bibliotheksprogrammatiker sind, formulieren diesen Gesichtspunkt weiter aus. Im engeren bibliographischen Kontext profilierte dieses Argument mit großer Wirkung Gabriel Naudé.80 Gessners Bibliotheca universalis wurde schnell und oft neu aufgelegt, vielfach ergänzt und bearbeitet. Sie hatte auf die Literaturverzeichnung bis zum 18. Jahrhundert, die zu immer spezielleren Verzeichnungsformen führte, großen Einfluss. 1653 verfasste Philippe Labbé die erste Bibliographie der Bibliographien (Bibliotheca bibliothecarum).81 Im Laufe des 17. Jahrhunderts erhielten die Verzeichnung von gelehrtem Wissen und die damit verbundenen Praktiken mit dem Begriff ›Historia literaria‹ eine besondere Signatur, die im 18. Jahrhundert, besonders in Deutschland, als Projekt einer Erziehung zu Unabhängigkeit von Autoritäten und wissenschaftlicher Selbständigkeit profiliert wurde.82 Die Idee der Wissensrepräsentation, um angesichts der beschleunigten Zirkulation von schriftlichem Wissen Orientierung zu ermöglichen, liegt unterschiedlichen Projekten der Frühen Neuzeit zugrunde. Gegen die außer Kontrolle geratene Veröffentlichungswut setzte etwa der italienische Dominikaner Sixtus Senensis 1566 eine Bibliotheca sancta, gegen die massenhafte Buchproduktion der italienische Jesuit Antonio Possevino 1593 eine Bibliotheca selecta.83 Ähnliche Argumente begründen das katholische Projekt einer Kontrolle und Reinigung der Bücher, die Indices librorum prohibitorum und Indices expurgatorii. Unterschiedlich ist die Art und Weise der Orientierung. Gessners auf den gelehrten Kontext bezogenes Verweissystem setzte auf das Prinzip der umstandslosen Verzeichnung möglichst aller Bücher, ohne Auswahl, in der bloßen Angabe von Identifikationsmerkmalen und Sachinformationen. Die Arbeit mit den Büchern selbst 79 80 81 82 83
Vgl. Zedelmaier: Bibliotheca universalis, S. 120f. Vgl. Nelles: The Library as an Instrument, S. 41–57. Unüberholt als Überblick zur Geschichte der neuzeitlichen Bibliographie neben Serrai (Storia della bibliografia) Blum: Bibliographia, Sp. 1010–1234. Dazu zuletzt: Grunert/Vollhardt: Historia literaria. Vgl. Zedelmaier: Bibliotheca universalis, S. 125–224.
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und das Urteil über sie ist den Lesern überlassen, denen zu diesem Zweck pragmatische Techniken und Methoden an die Hand gegeben wurden. Ein anderes Prinzip beherrschte die katholischen Bibliothecae und Indices. Sie dienten der Normierung von Wissen, der Unterscheidung von richtigem (wahrem) und falschem (ketzerischem) Wissen.84 Im 16. Jahrhundert, unter den Bedingungen beschleunigter Wissenszirkulation, entstanden unterschiedliche Instrumente der Wissenssicherung, Verweissysteme auf das Wissen der Bücher wie die Bibliothecae, vor allem kommerziellen Zwecken dienende Bücherkataloge wie die Messkataloge,85 Verzeichnisse gelehrter Büchersammlungen,86 Instanzen der Wissenskontrolle wie die Indices librorum prohibitorum oder Enzyklopädien, deren gemeinsames Anliegen, einen Überblick über den Gesamtbestand gelehrten Wissens zu geben, häufig mit dem Motiv der Wissenssicherung verbunden war, wie das etwa noch 1751 in Jean Baptiste le Rond d’Alemberts Einleitung zur französischen Encyclopédie zum Ausdruck kommt.87 Verzeichnungssysteme wie Kataloge, Bibliographien oder Enzyklopädien entwerfen in der Frühen Neuzeit Topographien des gelehrten Wissens. Sie orientierten Leser auf dem Feld der expandierenden Buchproduktion und vermittelten Methoden und Techniken, Lektüre zu organisieren und zu verarbeiten. Auf diese Weise stabilisierten sie die Ordnungsstrukturen und Regularitäten einer Wissenskultur, in deren Mittelpunkt das methodische Lesen und Auslegen überlieferten Wissens stand.88 In dieser, noch näher zu erforschenden epistemologischen Hinsicht sind sie für unterschiedliche Zusammenhänge aufschlussreiche Dokumente der frühneuzeitlichen Ordnung des gelehrten Wissens.89 2.3 Zum Lesen als Wissensproduktion: das Exzerpieren
Exzerpieren war eine seit der Antike eingeübte Praxis. Darauf wird in Texten der Frühen Neuzeit, die entsprechende Praktiken beschreiben und propagieren, immer wieder, oft mit dem Verweis auf eine Stelle aus der 84 85 86 87 88 89
Vgl. Zedelmaier: Das katholische Projekt. Vgl. als Überblick: Wittmann: Bücherkataloge als buchgeschichtliche Quellen. Dazu entstanden in den letzten Jahren zahlreiche Untersuchungen, vgl. u. a. Canone: Bibliothecae selectae. Zedelmaier: Bibliotheca universalis, S. 170f. Vgl. Zedelmaier, S. 3. Vgl. etwa im Blick auf die Formierung des neuen Modells der Literaturkritik Jaumann: Critica, besonders S. 232–243.
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Naturalis historia von Plinius (I, Praefatio, 17), verwiesen. Doch erst mit der humanistischen Bewegung und ihrem besonderen Interesse für die literarische Tradition der Antike, verstärkt seitdem schriftlich fixierte Texte durch den Druck einfacher zugänglich wurden, entwickelte sich die Exzerpierkunst zu jener allgemein verbreiteten und empfohlenen Praxis, welche die Komposition und Disposition von Texten der Frühen Neuzeit beherrscht.90 Dass Exzerpieren und insbesondere die Verwaltung der Exzerpte in der Frühen Neuzeit so intensiv thematisiert wurde, erklärt sich aber auch (wie im Fall der Bibliothek) aus dem Erfahrungskontext verloren gegangener Überschaubarkeit, aus dem nicht zu kontrollierenden Zuviel an Wissen.91 Seinen Ausdruck findet das etwa in der Sorge um den sich selbst überlassenen, dem Bücherwissen unkontrolliert ausgesetzten Leser. Besonders jesuitische Lektüreinstruktionen sind von dieser Sorge geprägt. Sie waren der Versuch, das der Aufsicht entzogene, private Lesen einem Regelwerk zu unterwerfen. Lesen wird als Tätigkeit beschrieben, die effektiv zu organisieren ist. Wichtig ist die Beständigkeit beim Lesen, die strikte Einhaltung von Arbeitszeiten, das sorgfältige Lesen (vom Anfang zum Ende) und besonders das Exzerpieren und Verwalten der Exzerpte.92 Die Forschung zum Exzerpieren in der Frühen Neuzeit untersucht entsprechende Techniken, wie sie in Buchexemplaren der Zeit, besonders in Form von Marginalien, überliefert sind. Humanistische Leser etwa schrieben vor allem die im Text genannten Namen von antiken Autoren, die ›auctores‹, an den Rand. Im 16. Jahrhundert nahmen dann ›loci‹Marginalien zu, d. h. das Herausschreiben von Textteilen, entweder wortwörtlich oder in eigener Zusammenfassung. Auch wurden jetzt einzelne Stellen z. T. umfangreich kommentiert und von Lesern Ergänzungen und Verbesserungen notiert. Man findet solche Notizen u. a. auch auf Innendeckel und Vorsatz.93 Auch Nachlässe frühneuzeitlicher Gelehrter sind Quellen von Untersuchungen zum Exzerpieren, insbesondere im Blick auf die Exzerptverwaltung in Form von überlieferten Manuskripten.94 Dabei interessiert, ausgehend von prominenten frühneuzeitlichen Gelehrten wie Jean Bodin, Bacon oder Joachim Jungius, zunehmend auch die Frage nach 90 91 92 93 94
Vgl. Grafton: Les lieux communs, S. 31–42; Moss: Printed Commenplace-Books; zum Forschungstand: Décultot: Introduction, S. 7–28. Dazu Blair: Reading Strategies. Vgl. Zedelmaier: Johann Jakob Moser. Vgl. u. a. Sherman: What Did Renaissance Readers, S. 119–137; vgl. auch die Dokumentation bei Zedelmaier: Polydorus Vergilius, und Zedelmaier: Karriere eines Buches, S. 175–203. Vgl. etwa Heß: Fundamente fürstlicher Tugend, S. 131–173.
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der Wirkung gelehrter Exzerpiertechniken auf die Praktiken naturwissenschaftlicher Wissensgenerierung.95 Spezielle Instruktionen zum Exzerpieren und zur Verwaltung der Exzerpte finden sich in der Frühen Neuzeit in unterschiedlichen Texten.96 Sie wurden teils im Rahmen von Enzyklopädien und Texten zur gelehrten Methode, teils als selbständige Schriften gedruckt. Bodins Methodus ad facilem historiarum cognitionem (Erstdruck 1566) etwa behandelt Techniken des Exzerpierens und der Exzerptverwaltung als Teil einer Historik.97 Die wichtigste Exzerpieranleitung als selbständige Schrift verfasste Jeremias Drexel. Seine Aurifodina Artium et Scientiarum erschien erstmals 1638 und wurde danach vielfach wieder aufgelegt.98 Vincentius Placcius gab 1689 eine Sammlung von Abhandlungen zur Exzerpierkunst heraus.99 Die Regeln, die in solchen Exzerpieranleitungen empfohlen werden, sind normative Aussagen, also nicht Dokumente einer Praxis. Sie lassen deshalb nur bedingt Rückschlüsse auf tatsächlich ausgeübte Exzerpier- und Ordnungstechniken zu, ja sie sind nicht selten geradezu Reaktionen auf eine gegenläufige Praxis, der normativ entgegengesteuert werden sollte. Der Blick auf die Veränderungen der Exzerpierkunst im 17. und 18. Jahrhundert ermöglicht jedoch allgemeine Hinweise auf die Transformation der gelehrten Wissensverwaltung von einer festgefügten, auf Gedächtnisschulung bezogenen Topik zu einer am jeweiligen Bedarf orientierten Wissensverarbeitung mit entsprechend flexiblen Techniken der Exzerptverwaltung.100 Zentraler Gesichtspunkt der frühneuzeitlichen gelehrten Wissensverwaltung ist zunächst das ›Verorten‹ (›suo loco accomodari‹) der Lektüreexzerpte in Exzerptbüchern. Sie heißen u. a. ›commentarii‹, ›adversarii‹, auch ›loci communes‹, und konnten sich zu voluminösen Codices von über 1 000 Seiten auswachsen. Hinsichtlich ihrer inneren Architektur sind zwei Typen zu unterscheiden. Exzerptbücher, in die die Exzerpte unter kleinteilig gegliederte Sachrubriken einzutragen sind, und Exzerptbücher, die Dazu die Untersuchungen von Blair: Humanist Methods, S. 541–551; Blair: Annotating; Blair: Bibliothèques portables, S. 84–106; Blair: Note-Taking, S. 85–107; Blair: Scientific Reading, S. 64–74; Blair: Historia, S. 269–296; zu Jungius Meinel: Enzyklopädie; zu Bacon Beal: Notions, S. 138–140, S. 143–145. 96 Vgl. die bibliographische Zusammenstellung in Cevolini: De arte excerpendi, S. 429–433. 97 Zu Instruktionen zum Anlegen von Exzerptbüchern im Rahmen der frühneuzeitlichen artes historicae Grafton: What Was History, S. 208–230. 98 Vgl. Neumann: Jeremias Drexels Aurifodina, S. 51–61; Auszüge der »Aurifodina« in italienischer Übersetzung bei Cevolini: De arte excerpendi, S. 162–213. 99 Vgl. zu dieser Sammlung vor allem Meinel: Enzyklopädie; eine italienische Übersetzung der Sammlung bei Cevolini: De arte excerpendi, S. 245–399. 100 Vgl. Zedelmaier: Johann Jakob Moser. 95
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die Exzerpte nacheinander in fortlaufender Folge verzeichnen. Beide Typen werden gewöhnlich durch ›Indices rerum, verborum et autorum‹ erschlossen.101 Der italienische Jesuit Francesco Sacchini, Verfasser der erstmals 1614 gedruckten Schrift De ratione libros cum profectu legendi, mit wenigstens 20 Auflagen die erfolgreichste Leseanleitung des 17. Jahrhunderts, empfahl, beide Typen nebeneinander zu benutzen: In ein Buch trage man ohne Ordnung nacheinander ein, was man während der Lektüre bemerkt, in ein zweites Buch ordne man dieses Material später bestimmten Sachtiteln zu.102 Je nach Arbeitsgebiet und Zweck gibt es verschiedene Muster sachlicher Exzerptbücher. Lipsius etwa empfahl in der Schrift De ratione legendi historiarum (Erstdruck 1600) die Anlage von vier Büchern: ›memorabilia‹, ›ritualia‹, ›civilia‹, ›moralia‹.103 Solche Exzerptbücher verweisen auch auf Entstehungszusammenhang, Komposition und Disposition von Texten, im Fall von Lipsius u. a. auf dessen Politica, die deutlich von den Exzerpierpraktiken ihres Verfassers geprägt ist.104 Auf die Transformation der gelehrten Wissensverwaltung, wie sie in Instruktionen zum Exzerpieren zum Ausdruck kommt, verweist besonders die Kritik an unbeweglichen, topischen Verwaltungssystemen für Exzerpte. Schon bei Drexel steht nicht die Klassifikation der ›loci communes‹, die Systematik der Exzerpthefte, im Zentrum des Interesses, vielmehr ihre effektive, auf die Bedürfnisse und Umstände des einzelnen Gelehrten zugeschnittene Organisation.105 Für Daniel Georg Morhof im Polyhistor, dessen drittes, 1692 posthum erschienenes Buch der ›ars excerpendi‹ gewidmet ist, heiligt beim Exzerpieren der Zweck die Mittel. Wissenschaft ist für Morhof eine Frage des Kampfes, der Schnelligkeit und Schlagfertigkeit erfordert. Häufig stünden diejenigen, die zu viel auf subtile Exzerpiermethoden geben, im entscheidenden Moment ohne Waffen da. Die Titel zur Verzeichnung des Exzerptmaterials sind nach Morhof möglichst nicht von anderen vorgeordnete Kategorien. Sie entstehen vielmehr erst bei der Lektüre in der Auseinandersetzung mit der Sache und ihrem Kontext. Exzerpieren ist damit nicht mehr die Suche nach Mustern zur Nachahmung, sondern ein Akt des Nachdenkens, das Ex-
101 Vgl. Meinel: Enzyklopädie, S. 170–173. 102 Vgl. Zedelmaier: Lesetechniken, S. 22. Die für das Exzerpieren einschlägigen Stellen in
italienischer Übersetzung bei Cevolini: De arte excerpendi, S. 145–162.
103 Vgl. Grafton: What Was History, S. 222–229. 104 Vgl. Waszink: Inventio in the Politica, S. 141–162. 105 Vgl. Zedelmaier: Johann Jakob Moser, S. 58.
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zerpt kein abrufbarer ›locus communis‹, sondern ein von der Lektüre ausgelöster Gedanke.106 Der Betonung der Selbstständigkeit, Effektivität und Praktikabilität in der Exzerptverwaltung korrespondiert der Aufstieg der ›adversaria‹, der Exzerpthefte, in die ohne Ordnung nacheinander alles, was im Verlauf der Lektüre Wichtiges begegnet, eingetragen wird. Umgekehrt sinkt die Bedeutung der ›codices‹, in denen Exzerpte vorgefertigten topischen Rastern zugeordnet werden. Wichtig wird zudem das schnelle Auffinden der Exzerpte mit Hilfe alphabetischer ›indices‹, die größere Unabhängigkeit von systematischen Topiken der Verzeichnung ermöglichen. John Locke konzentriert sich deshalb in einer (zuerst anonym 1686 publizierten) Méthode nouvelle de dresser des Recueuils ganz auf die Anlage von ›indices‹.107 Und weil Exzerpte zunehmend Ausdruck der Inbesitznahme und Verwandlung von Fremdem in Eigenes sein sollen, tritt das wörtliche Abschreiben beim Exzerpieren gegenüber der selbständigen (resümierenden) Zusammenfassung zurück. Exzerpte müssen kurz sein, »Excerpe breviter«, heißt es in einer Leipziger Dissertation von 1699, alles ist nur im Kern (»in nuce«) zu erfassen.108 Der Grundsatz, nicht zu viel Worte herauszuschreiben, gilt auch für die Exzerpierkunst, die Jean Le Clerc im ersten Teil der Ars critica (zuerst 1696/97) im Abschnitt »De ordine in Lectione Veterum Scriptorum observando« entwirft. Das Interessante (und Zukunftsweisende) seiner Anleitung ist, dass traditionelle Regeln einen neuen Kontext erhalten. So heißt es etwa, man müsse Texte sorgfältig, wiederholt und nicht durcheinander lesen. Ähnliche Bestimmungen finden sich auch in früheren Anleitungen. Doch während sie dort von der Sorge um das individuelle Gedächtnis geprägt sind, ergeben sich diese Regeln bei Le Clerc aus dem Willen zur (historisch-kritischen) Rekonstruktion des Sinnhorizonts der Texte. In dieser Perspektive stehen Le Clercs Anweisungen zum Exzerpieren. Schwierige Stellen sind bei der ersten Lektüre in ein eigenes Heft (unter dem Titel »Quaerenda«) zu notieren. Doch solle man während des Lesens möglichst nicht exzerpieren, um die Lektüre nicht zu unterbrechen; einzig Stellenangaben sind auf Zettel zu notieren. Eine vorgeordnete Topik der Verzeichnung des Exzerptmaterials ist im Horizont von Le Clercs ›hermeneutischem‹ Lesen und Exzerpieren geradezu kontraproduk106 Vgl. Zedelmaier: De ratione excerpendi, S. 74–92. 107 Vgl. Beal: Notions, S. 140–142; Meynell: John Lockes’s Method, S. 245–267. 108 Vgl. Zedelmaier: Johann Jakob Moser, S. 60.
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tiv. Die Ordnung der Exzerpte ist ausschließlich eine Frage des bequemen und leichten Wiederfindens, die am besten mit Hilfe der Indices-Methode Lockes gelöst werden kann (Le Clerc hatte Lockes Vorschläge in seiner Bibliothèque Universelle et Historique ediert). Bei Le Clerc hat sich damit der gelehrte Untergrund in eine offene, von vorgeordneten Topiken gelöste historische Kritik und hermeneutische Kunst verwandelt.109 Die Exzerptverwaltung wird in den frühneuzeitlichen Exzerpieranleitungen erst allmählich als eine Praxis des bloßen Auslagerns von Informationen in externe Speicher begriffen. Dem stand entgegen, dass dem Exzerpieren traditionell auch die Funktion einer Gedächtnisschulung zugeschrieben wurde. Das Memorieren aber benötigt festgefügte Ordnungsstrukturen. Ein frei disponibles Ordnungssystem mit losen Zetteln dagegen ist nur mehr bloßes Instrument zum Abspeichern und Auffinden von Wissen, ein ›sekundäres‹ Gedächtnissystem, das vom natürlichen Gedächtnis nicht mehr beherrscht werden kann. Deshalb äußern viele Exzerpieranleitungen des 17. Jahrhunderts Vorbehalte gegenüber der Benutzung von Zetteln.110 Ein frühes Dokument für den tatsächlichen Bedarf an neuen Verwaltungssystemen von Wissen ist dagegen ein in der Mitte des 17. Jahrhunderts entstandenes Manuskript, in dem der Bau eines Zettelschranks zur Verwaltung von Exzerptzetteln beschrieben wurde. Verfasser des Manuskripts war, wie Noel Malcolm herausgefunden hat, der englische Jurist und Puritaner Thomas Harrison.111 Das Manuskript sorgte in der damaligen gelehrten Welt für großes Aufsehen. Es wurde erstmals 1689 anonym in der Sammlung von Texten über die Exzerpierkunst von Placcius gedruckt.112 Mit Harrisons Zettelschrank begegnet erstmals ein Ordnungssystem zur Speicherung von Exzerptmaterial, das nicht mehr in Büchern eingebunden, sondern wie Zettelkästen frei disponibel ist. Der Siegeszug des Zettelkastens setzt allerdings erst im 18. Jahrhundert ein, fassbar u. a. in Beschreibungen von Johann Jakob Moser.113 Der Zettelkasten wurde zum idealen Instrument der Verwandlung von Fremdem in Eigenes, zur konstitutiven Technik aufgeklärten ›Selbstdenkens‹, die das Lesen als Wissensproduktion bis zur elektronischen Textverarbeitung beherrschte. Darüber und zu den genaueren Modalitäten des exzerpierenden Lesens und dessen Transformationen in der Frühen Neuzeit steckt die Forschung erst in den Anfängen. 109 110 111 112 113
Vgl. Zedelmaier, S. 60f. Vgl. Zedelmaier: Lesetechniken, S. 22f. Vgl. Malcolm: Thomas Harrison. Vgl. Meinel: Enzyklopädie. Krajewski: Zettelwirtschaft, S. 69–72; Zedelmaier: Johann Jakob Moser, S. 49–52.
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AXEL KUHN/SANDRA RÜHR
Stand der modernen Lese- und Leserforschung – eine kritische Analyse 1 2 2.1 2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.3.5 2.4 3 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.1.5 3.2 4 5
Einleitung Theoretischer Stand der Lese- und Leserforschung Disziplinen und Fachgebiete der Lese- und Leserforschung Personen und Einrichtungen der Lese- und Leserforschung Gegenwärtige theoretische Forschungsansätze der Lese- und Leserforschung Lesemotivations- und Lesewirkungsforschung Prozessorientierte Lese- und Buchnutzungsforschung Lesesozialisationsforschung Medienforschung: Beispiel Buchwissenschaft Gesellschaftstheorie Theoretischer Stand der Lese- und Leserforschung – eine kritische Betrachtung Empirischer Stand der Lese- und Leserforschung Empirische Untersuchungen im Bereich der Lese- und Leserforschung Lesemotivations- und Lesewirkungsforschung Rezeptive Lese- und Buchnutzungsforschung Lesesozialisationsforschung Buchwissenschaftliche Forschung Gesellschaftstheorie Empirischer Stand der Lese- und Leserforschung – eine kritische Betrachtung Fazit und Ausblick Literaturverzeichnis
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Axel Kuhn/Sandra Rühr
1 Einleitung Lesen als Kulturtechnik hat maßgeblich zur Entstehung der heutigen westlichen Gesellschaftsformen beigetragen. In historischer Betrachtung lassen sich Verbindungen zwischen Lesen und verschiedenen sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Umbrüchen nachweisen. Viele Gesellschaftstheoretiker erklären das Lesen in dieser Hinsicht als prägende Kraft der Entstehung demokratischer, aufgeklärter westlicher Gesellschaften, welche auch heute, mit zunehmender Re-Oralisierung durch audiovisuelle Medien, seine Bedeutung als Kompetenz der sozialen Beteiligung innerhalb dieser Gesellschaftsformen nicht eingebüßt hat. Vielmehr wird Lesen, neuerdings auch verstärkt in Kombination mit Schreibfähigkeit, als basale Kommunikationstechnik inzwischen nicht mehr nur für PrintMedien, sondern auch für nahezu alle neuen vernetzten elektronischen Medien gebraucht. Lesen besitzt somit eine hohe soziale Relevanz, so dass Lese- und Leserforschung den Status von Grundlagenforschung vielfältiger gesellschaftlicher Prozesse und Teilbereiche erhält. Auch wenn viele kulturkritische Stimmen den Untergang des Lesens innerhalb der Medienkonkurrenz prophezeien, sind hierfür bislang keine Belege gefunden worden. »Vielmehr ist die Lesequantität in den letzten 25 Jahren trotz Ausbreitung der neuen Medien nicht nur konstant geblieben, sondern hat sich sogar erhöht, was die Medienforscher vor allem auf den allgemeinen Anstieg des Bildungsniveaus zurückführen.«1 Lesen erscheint nach wie vor als zentrale Kommunikationstechnik für das soziale Miteinander von Menschen, die individuelle Bildungsentwicklung und nicht zuletzt die Unterhaltung. Es ist insofern nicht verwunderlich, dass Lese- und Leserforschung innerhalb verschiedenster wissenschaftlicher Disziplinen praktiziert wird und einen hohen Stellenwert auch innerhalb der öffentlichen Meinung genießt. Die Fülle an theoretischen Schwerpunkten und Fragestellungen sowie eine Vielzahl an empirischen Studien erschweren allerdings das Erstellen einer basalen Grundlagentheorie des Lesens als Aneignungstechnik von Information. Außerdem sind Ergebnisse der Leseforschung zeitlich gebunden, da Lesen ein flexibler, zeitabhängiger Gegenstand ist, der sich innerhalb der zeitlichen Entwicklung und der sozialen Kontexte unterschiedlich darstellt. Der Stand der Lese- und Leserforschung bezieht sich damit immer auf einen konkreten zeitlichen Abschnitt mit spezifischen Kontexten. 1
Garbe: Lesen im Wandel, S. 11–24, hier S. 12.
Stand der modernen Lese- und Leserforschung – eine kritische Analyse
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Im Folgenden soll ein kritischer Überblick über theoretische und empirische Ansätze, Ausrichtungen und Studien der Lese- und Leserforschung, wie sie sich seit den 1980er Jahren herauskristallisieren, skizziert werden. Dabei scheint es zunächst erforderlich, die unterschiedlichen Forschungsdisziplinen mit ihrer Ausrichtung bezüglich der Lese- und Leserforschung zu charakterisieren. Daraus lassen sich zuerst verschiedene theoretische Forschungsperspektiven ableiten, welche den heutigen Stand der Lese- und Leserforschung darstellen können. Diese werfen zugleich variable Probleme im Umgang mit Lese- und Leserforschung auf, welche kritisch beleuchtet werden. Im Anschluss werden verschiedene empirische Studien in ihrem Gehalt für Lese- und Leserforschung dargestellt und vor ihrem theoretischen Hintergrund analysiert. Auf diese Art lässt sich nicht nur der aktuelle Stand der Lese- und Leserforschung zeigen, sondern es ist zugleich möglich, deren historische Entwicklung mit einzubeziehen sowie mögliche Entwicklungen und Problemlösungen für die nähere Zukunft aufzuzeigen.
2 Theoretischer Stand der Lese- und Leserforschung Den allgemeinen Stand der theoretischen Lese- und Leserforschung2 zu beschreiben, ist aufgrund der Vielzahl der sich damit beschäftigenden Disziplinen kaum möglich. Lese- und Leserforschung als eine Teildisziplin der allgemeineren Medienforschung3 adaptiert zugleich deren verschiedene vielfältige Forschungsperspektiven. So wird Lesen sowohl in einer ökologischen Perspektive als Umweltfaktor von Individuen4, in einer institutionellen Perspektive in seiner Einbettung in soziale Gruppen und Institutionen5, in einer interaktiven Perspektive als kommunikative Handlung, in einer verhaltenstheoretischen Perspektive, in einer rezeptiven Perspektive und innerhalb der Situation verschiedenster Rahmenbedingungen erforscht. Für Lese- und Leserforschung ist es bisher auch nicht gelungen, allgemein klare Bezugspunkte zu schaffen. So reicht die Spanne der er2 3 4 5
Siehe auch Saxer: Lese(r)forschung, S. 99–134 und Saxer: Lesesozialisation, S. 311–374. Bezogen in erster Linie auf die Kommunikationssoziologie und allgemeine Medienwissenschaft, welche Lesen und schriftbasierte Medien nur als einen Teilbereich allgemeiner Medienkommunikation definieren. Medien als Umwelt für Individuen definieren sich vor allem als Kontext der Lebenswelt und Identitätskonstruktion. Sie sind in dieser Perspektive Quellen der Information über Lebensstile. Institutionelle Perspektiven verlegen ihren Schwerpunkt auf den medialen Einfluss auf Sozialstrukturen wie beispielsweise der Familie.
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forschten Gegenstände vom Lesen als kommunikative Handlung an sich über den Leser als Rezipienten und Medien, welche Lesen als kommunikative Kompetenz voraussetzen bis hin zur Analyse konkreter lesbarer Inhalte.6 Neben der Vielzahl an möglichen Forschungsperspektiven und Bezugspunkten kommt der historisch bedingten kulturpessimistischen Haltung eine Rolle als Hemm-Faktor einer objektiven Lese- und Leserforschung zu. Aufgrund der Verflechtung nahezu aller gesellschaftlichen Teilbereiche mit Lesen als Kompetenz der soziale Teilhabe und der historisch entwickelten Ansicht von Lesen als kulturell und intellektuell wertvoller Tätigkeit im Vergleich zu anderen medialen Nutzungsformen blieb die Lese- und Leserforschung lange Zeit einer kulturpessimistischen, mikroskopischen und belehrenden Haltung verhaftet. Lese(r)forschung, die diesen Namen verdient, hat indes mit dieser Art von meist kulturkritisch getönten Beanstandungen wenig gemein; ihren kritischen oder vielmehr sozialtechnischen Hintergrund bildet nicht die Feststellung eines Zuviel, sondern eines Zuwenig, nämlich von Lesekompetenz und Lesemotivation, und zwar vornehmlich in weniger privilegierten Bevölkerungskategorien. Es geht ihr, mit anderen Worten, um die Ermittlung des Zustandes der Lesekultur und der Ursachen, die zu diesem führen, um Grundlagenforschung also, die ihrerseits das Entwerfen von Strategien ermöglicht, geeignet, den Zustand der Lesekultur anzuheben und zugleich die Teilhabe der verschiedenen Bevölkerungskategorien an ihr zu verbreitern.7
Die kulturpessimistische Haltung weicht gegenwärtig zunehmend einer objektiven sozialwissenschaftlichen Ansicht über Lesen als kulturelle mediale Aneignungstechnik. In diesem von konkreten Medien und Inhalten losgelösten Sinne erscheint auch eine mikroskopisch wissenschaftliche Perspektive auf Teilbereiche und Einzelphänomene des Lesens nicht mehr brauchbar. Stattdessen ist die neuere Lese- und Leserforschung geprägt von dem Versuch, einen ganzheitlichen, medienunabhängigen Überblick des Lesens und der Leser zu gewährleisten. Hierzu gehört nicht nur die Ausweitung der Forschungsperspektive über disziplinäre Grenzen hinaus, sondern vor allem auch die Kontextualisierung des Lesens und der Leser. »Es gehört mithin zu den elementaren Erkenntnissen der neueren Lese- und Buchmarktforschung, daß der Sitz des Lesens im Leben von jung und alt nur unter einer ganzheitlichen Perspektive und mit einer kontextbezogenen Vorgehensweise ausreichend ermittelt werden kann und
6 7
Alle genannten Instanzen sind wichtige Teile des gesamten strukturellen Leseprozesses, ihre Beziehungen untereinander sind mithin aber noch unzureichend erforscht. Saxer: Lese(r)forschung, S. 99.
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insbesondere […] im Rahmen des Medien-Gesamtangebots und der Medien-Gesamtnutzung geortet werden muß.«8 Im Rahmen einer ganzheitlichen, interdisziplinären, kontextualisierten Forschungsperspektive erscheint der Forschungsgegenstand des Lesens als vielseitiges Objekt mit multiplen Eigenschaften. Ulrich Saxer stellte 1993 vier Thesen auf, welche zum einen die Relevanz von Lese- und Leserforschung verdeutlichen, zum anderen bereits auf Leseförderung als sozial auch gegenwärtig wichtiges Programm eingehen: Lesen stellt eine Basiskompetenz für jede Art von Medienalphabetismus dar. Leseförderung ist demnach in der Multimedienkultur eine sehr wichtige gesellschaftliche Aufgabe. […] Lesen erschließt nicht nur den Zugang zur Multimedienkultur, sondern vergrößert die Teilhabechancen an den gesellschaftlichen Gütern überhaupt. Leseförderung tut daher auch aus demokratischen Gründen not, damit nicht im Gefolge mangelnder Lesekompetenz bestimmte Bevölkerungskategorien generelle gesellschaftliche Benachteiligung erleiden. […] Lesen ist entsprechend seinem großen Problemlösungspotential eine anspruchsvolle Kulturtechnik, die zu meistern großen Lernaufwand und die zu praktizieren erhebliche Konzentration und Zeitressourcen erfordert. […] Leser zu werden beinhaltet demzufolge sehr komplexe Sozialisationsprozesse, die auf jeden Fall von vielen Instanzen determiniert werden, aber auch persönlichkeitsspezifisch verlaufen.9
Aus diesen Thesen lassen sich die heutigen zentralen Forschungsfragen der Lese- und Leserforschung ableiten. Wie funktioniert Lesen als Aneignungsprozess von Information? Welchen Einfluss besitzen persönliche und soziale Kontexte auf den Prozess des Lesens? Welchen Einfluss hat Lesen auf Bildung und Entwicklung von Individuen und wieso? Wie lassen sich Unterschiede in der Lesekompetenz von Individuen erklären? Zunächst soll ein kurzer Überblick über die verschiedene Fachbereiche und ihr Hauptaugenmerk innerhalb der Lese- und Leserforschung gegeben werden, bevor im Anschluss eine Unterteilung der gegenwärtigen Lese- und Leserforschung den aktuellen Stand der Forschung skizziert. 2.1 Disziplinen und Fachgebiete der Lese- und Leserforschung
Mit Lese- und Leserforschung befassen sich viele wissenschaftliche Disziplinen und Fachbereiche. Dabei wird vor allem auf fachspezifische Fragestellungen Rücksicht genommen, was charakteristische theoretische Ansätze impliziert. Es kann an dieser Stelle kein kompletter Überblick über sämt8 9
Saxer, S. 100f. Saxer: Lesesozialisation, S. 338f.
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liche Fachrichtungen gegeben werden10, stattdessen wird kurz auf fünf verschiedene disziplinäre Gruppen aufmerksam gemacht, deren zentrale Fragestellungen sich innerhalb der gegenwärtigen Lese- und Leserforschung widerspiegeln. Die Literaturwissenschaften und die Linguistik beschäftigen sich in erster Linie mit den gelesenen Inhalten. Dieser Bereich tangiert weniger die Tätigkeit des Lesens an sich, sondern vielmehr dessen Steuerung durch Sprache und inhaltliche Form. Die zentralen Fragestellungen betreffen dementsprechend vor allem, wie Struktur und Form von Schriftzeichen den Leseprozess steuern und welche Wirkungen damit erzielt werden können. Die Analyse von zu lesenden Inhalten betrifft also vor allem die Vorstrukturierung des Leseprozesses sowie die Erklärung verschiedener Wirkungen beim Leser sowohl während des Rezipierens als auch längerfristig in Form von Einstellungsänderungen. Die Psychologie und die Pädagogik interpretieren das Lesen als sozial induzierten Prozess. Hier wird das Hauptaugenmerk auf den Leser gerichtet und wie dieser sich Informationen mittels der Aneignungstechnik Lesen erschließt. Die Psychologie fokussiert hierbei kognitive und affektive Prozesse, welche während des Lesens ablaufen und versucht anhand dieser zu erklären, warum Menschen in unterschiedlicher Intensität und Form lesen oder nicht lesen. Die Pädagogik greift diese Perspektive auf und wendet sie auf die Problemfelder der Leseerziehung an, um Lesekompetenzen besser vermitteln zu können. Sie erforscht insofern die Lesesozialisation, geht darüber allerdings mittels konkret anwendbarer Lehren hinaus. Die Kommunikationssoziologie und die Medienwissenschaften schließlich verbinden verschiedene Perspektiven des Lesers, des Lesens als rezeptivem Prozess und des Mediums, welches gelesen wird, um Lesemotivationen, Leseprozesse und Lesewirkungen analysieren zu können. Die breit angelegte Forschungsperspektive soll ein ganzheitliches Bild des Lesens als Rezeption schriftbasierter medialer Inhalte liefern und auch soziale Rahmenbedingungen berücksichtigen. Hierbei wird auf theoretische Erkenntnisse anderer Disziplinen wie der Psychologie für mikroskopische und der Soziologie für makroskopische Effekte zurückgegriffen. Die Verbindung verschiedener theoretischer Aspekte ermöglicht es, Lesen als kulturelle Technik zu begreifen, ohne diese wertend oder lehrend darzustellen. 10
Lesen als kulturelle Aneignungstechnik von Information spielt in gewisser Hinsicht eine übergeordnete Rolle in allen wissenschaftlichen Disziplinen und ist für verschiedenste soziale Teilbereiche relevant. Insofern befassen sich vielfältige Fachrichtungen, wenn auch in unterschiedlicher Qualität und Quantität, mit dem Thema.
Stand der modernen Lese- und Leserforschung – eine kritische Analyse
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Neben diesen drei großen Disziplinen der Lese- und Leserforschung wird Lesen in seiner Bedeutung auch in anderen Fachbereichen thematisiert. In den Geschichtswissenschaften wird zum Beispiel die Wechselwirkung zwischen Lesen und Gesellschaftsentwicklung untersucht. In den Wirtschaftswissenschaften liegen die Forschungsfragen dagegen eher in dem durch Lesen zu erschließenden Markt an Produkten. Insgesamt kann man von Lese- und Leserforschung als einem transund interdisziplinären Forschungsbereich sprechen, der Erkenntnisse aus vielen Fragestellungen unterschiedlichster Fachrichtungen benötigt, um ein ganzheitliches Bild des Lesens und des Lesers erstellen zu können. Insofern ist ein aktueller Stand der Lese- und Leserforschung nur erkennbar, wenn man diese Vielfalt berücksichtigt. 2.2 Personen und Einrichtungen der Lese- und Leserforschung
Verschiedene Erkenntnisse der modernen Lese- und Leserforschung weisen diese als Sozialwissenschaft aus. Auch wenn die Ergebnisse häufig interdisziplinär gewonnen wurden, gibt es dennoch verschiedene Einrichtungen und vor allem Wissenschaftler mit einem entscheidenden Anteil an dieser Etablierung. Die im folgenden Kapitel vorgenommene Unterteilung der aktuellen Forschung in unterschiedliche übergeordnete Ansätze geht direkt auf die Forschungsschwerpunkte dieser Wissenschaftler zurück. Die Lesemotivations- und Lesewirkungsforschung basiert auf Forschungsansätzen der allgemeinen Medienwirkungsforschung. Die Übertragung der allgemeinen, meist für das Fernsehen entwickelten Konzepte auf Lesen und Leser wurde vor allem durch Dietrich Kerlen vorangetrieben. Kerlen, promovierter Theologe und Philosoph sowie langjähriger Lektor bei der Verlagsgemeinschaft Klett-Cotta in Stuttgart und Programmdirektor im Gütersloher Verlagshaus, übernahm zwischen 1995 und 2004 die Professur für Buchwissenschaft und Buchwirtschaft am Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft an der Universität Leipzig. In dieser Zeit fanden 1998 die jährlichen Leipziger Hochschultage für Medien und Kommunikation statt, deren Beiträge hinsichtlich des Schwerpunkts Lesewirkungsforschung im Jahr 2000 unter der Herausgeberschaft von Kerlen veröffentlicht wurden.11 Die Universität Leipzig steht hierbei federführend für die Verknüpfung unterschiedlicher Bereiche 11
Kerlen/Kirste: Buchwissenschaft und Buchwirkungsforschung.
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der Medienforschung zu einer allgemeinen Kommunikations- und Medienforschung in Deutschland. Die Kombination der allgemeinen Kommunikationswissenschaft mit dem Fachbereich der Buchwissenschaft führte zu fruchtbaren Erkenntnissen und zu ausführlichen theoretischen Ansätzen einer sozialwissenschaftlich verstandenen Lesewirkungs- und Lesemotivationsforschung. Hinsichtlich einer prozessorientierten Lese- und Leserforschung haben sich vor allem Norbert Groeben und Erich Schön einen Namen im deutschsprachigen Raum gemacht. Groeben, Professor der Psychologie und allgemeinen deutschen Literaturwissenschaft an der Universität Mannheim, verknüpfte in mehreren Projekten zur Lesemotivation, Lesewirkung und Lesesozialisation Aspekte der Kulturpsychologie mit der Literaturtheorie und schuf somit Grundlagen der prozessorientierten Lese- und Leserforschung.12 Schön habilitierte mit Arbeiten zur literarischen Sozialisation an der Universität Konstanz und lehrt seit 1997 an der Universität Köln. In seinen Forschungsschwerpunkten zur Geschichte und aktuellen Situation des Lesens spürt er der Frage nach, wie Rezeptionsbedingungen den Leseprozess beeinflussen und wie man Lesekompetenz als Begriff fassen und mit aktuellen Theorien zur literarischen Sozialisation verknüpfen kann. In Zusammenarbeit mit der Stiftung Lesen führt er zudem seit 1985 empirische Studien zum Lesen, besonders bei Kindern und Jugendlichen, durch. Durch die Verknüpfung der Motivations- und Wirkungsforschung mit den Rezeptionsbedingungen des eigentlichen Leseprozesses entwickelte er die Grundlagen für eine prozessorientierte Lese- und Leserforschung und für die Konzeption der Lesekompetenz als allgemeine Voraussetzung des Lesens.13 Der Bereich der Lesesozialisationsforschung ist eng mit Bettina Hurrelmann verknüpft, welche seit 1988 an der Universität Köln beschäftig ist, innerhalb der sie auch Leiterin der Arbeitsstelle für Leseforschung und Kinder- und Jugendmedien ist. Die pädagogischen Ansätze zur Leseforschung suchen vor allem nach Erkenntnissen über die Entstehung von Lesekompetenz und ihrer sozialisierten Induktion. Weiterhin ermöglichen ihre Arbeiten eine Integration der Lese- und Leserforschung in soziostrukturelle Prozesse und bilden damit Grundlagen für Anwendungen
12 13
Siehe beispielsweise Groeben/Vorderer: Leserpsychologie und Groeben/Hurrelmann: Lesekompetenz. Siehe beispielsweise Schön: Zur aktuellen Situation des Lesens; Schön: Kein Ende vom Buch und Lesen; Schön: Buchnutzungsforschung.
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innerhalb der Erziehungswissenschaften.14 Ebenfalls hauptsächlich im Bereich der Lesesozialisationsforschung beheimatet ist Professor Heinz Bonfadelli, welcher seit dem Jahr 2000 die Publizistikwissenschaft in Zürich leitet. Im Rahmen seiner thematischen Orientierung an einer allgemeinen Kommunikations- und Medienwissenschaft liefern seine Arbeiten wichtige Erkenntnisse hinsichtlich der Integration der Lese- und Leserforschung in allgemeine Konzepte und gleichzeitig deren disziplinäre Abgrenzung hinsichtlich ihrer Medien zu anderen Forschungsfeldern.15 Im Zusammenhang mit dem Einfluss des Lesens auf gesellschaftliche Strukturen stößt man unweigerlich auf Angela Fritz, Leiterin des Studiengangs Medienmanagement der Fachhochschule St. Pölten. Fritz erforscht Lesen vor allem in seiner Bedeutung als Kulturtechnik und damit in Verbindung mit sozialen Systemen. Lesen als Bedingung von mikroskopischen Sozialstrukturen steht hierbei genauso im Blickpunkt wie der makroskopische Einfluss des Lesens auf gesellschaftliche Prozesse an sich. Die daraus gewonnen Erkenntnisse haben massiv dazu beigetragen, Leseund Leserforschung als interdisziplinäres Fachgebiet anzuerkennen.16 Im gleichen Zusammenhang forscht Saxer innerhalb der Kommunikationswissenschaft. Mittels vielfältiger Perspektiven fordert Saxer eine sozialwissenschaftliche Ausrichtung der Lese- und Leserforschung als kommunikative Forschung hinsichtlich Gesellschaft und Gesellschaftsentwicklung. In dieser Hinsicht bewirkten seine Arbeiten den Wandel von einer literaturwissenschaftlich orientierten Leseforschung hin zu einer verstärkten Integration in die allgemeine Kommunikations- und Medienwissenschaft.17 Der Überblick über die prominentesten Lese- und Leserforscher zeigt zum einen, dass Lese- und Leserforschung seit den 1980er Jahren an Bedeutung gewonnen und vor allem auch stärkere eigenständige Konturen entwickelt hat. Zum anderen wird deutlich, dass sich der Stand der Forschung immer noch im Stadium der Grundlagenforschung befindet.
14 15 16 17
Siehe beispielsweise Hurrelmann/Hammer/Nieß: Leseklima in der Familie; Hurrelmann: Lesen und Mediengewohnheiten im Umbruch; Hurrelmann: Prototypische Merkmale der Lesekompetenz. Siehe beispielsweise Bonfadelli/Fritz: Lesen im Alltag von Jugendlichen; Bonfadelli: Literarische Sozialisation im Wandel; Bonfadelli: Theoretische und methodische Anmerkungen; Bonfadelli: Leser und Leseverhalten heute. Siehe beispielsweise Fritz/Suess: Lesen; Fritz: Lesen im Medienumfeld. Siehe beispielsweise Saxer: Lese(r)forschung; Saxer: Lesesozialisation; Saxer: Zur Zukunft des Lesens.
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2.3 Gegenwärtige theoretische Forschungsansätze der Lese- und Leserforschung
Der aktuelle Stand der theoretischen Lese- und Leserforschung lässt sich am besten darlegen, wenn man verschiedene Schwerpunkte unterscheidet und diese anhand ihres Ansatzes beschreibt. Der Fokus der Lese- und Leserforschung bezieht sich zum einen auf die Unterteilung in die vorund nachrezeptive Phase sowie den konkreten Rezeptionsprozess. Zum anderen beschäftigt sich die Lese- und Leserforschung mit der Beziehung zwischen Lesen und dessen Einfluss auf mikroskopische und makroskopische soziale Prozesse. Die heutige Lese- und Leserforschung ist sich in allen theoretischen Bereichen weitgehend einig, dass die Grundlage der spezifischen Medienund Rezeptionsforschung die allgemeine Kommunikations- und Handlungstheorie ist. Diese besagt in vereinfachender Form, dass Lesen eine physische, psychische und kommunikative Handlung zwischen Kommunikatoren ist, welche aktiv und intentional vom Leser vollzogen wird. Diese Feststellung erscheint zuerst banal, die Auswirkungen eines aktiven, handelnden Lesers im Gegensatz zum in der Verhaltenstheorie angenommenen passiven Leser18 als Empfänger von Informationen hat allerdings massive Auswirkungen auf die Betrachtung des Lesens und des Lesers. Unter der Annahme eines aktiven Lesers weichen alte Informationsübertragungsmodelle von Sender und Empfänger19 einem flexiblen, kognitiv konstruktivistischen Modell, in dem der Leser Inhalte und deren Sinn aktiv konstruiert20. Er greift hierzu sowohl auf den angebotenen Inhalt als auch auf individuelle, bereits vorhandene Informationen und
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19 20
Verhaltenstheoretische Ansätze bestimmten die erste Phase der medialen Wirkungsforschung und setzten einen passiven Rezipienten voraus, welcher lediglich Empfänger für übertragene Informationen darstellte. Im Zuge ausgiebiger empirischer Forschungen wurde dieses Bild jedoch revidiert, da nachgewiesen werden konnte, dass Rezipienten Informationen zum einen selegieren und zum anderen nicht einfach aufnehmen, sondern sie in ihrem Sinne konstruieren und damit individuell verändern. Das erste Modell der medialen Wirkungsforschung war ein lineares Modell aus einem Stimulus, welcher auf den Rezipienten trifft und dort eine (mittels des Inhaltes) intendierte Wirkung auslöst (Stimulus-Response-Modell). Neuere Modelle setzen anstatt der Begriffe Sender und Empfänger den Begriff der Kommunikatoren, deren Rolle je nach kommunikativem Ablauf wechseln kann. Damit wird Rezeption zum kommunikativen, non-linearen Prozess. Dieser gestaltet sich je nach Rezipient, Medium und Inhalt flexibel und dient im Sinne des symbolischen Interaktionismus der kommunikativen Vermittlung und Konstruktion von Sinn, welcher allerdings verhandelbar und variabel bleibt.
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Informationsverarbeitungsmuster zurück, um während des Lesens einen Sinn zu ermitteln. The very conception of reading, learning to read, and the teaching of reading are changing, thanks in considerable measure to research that flies the banner of cognitive science. It is now widely understood that readers ›construct‹ the meaning of texts. That is to say, it is generally accepted the building blocks for the meaning of a text include, not only words on its pages, but the reader’s purposes and point of view, analysis of the context and author’s intentions, and already possessed knowledge and belief about the topic.21
Neben der Fokussierung des konstruktivistischen Handlungsbegriffs als Grundlage der Lese- und Leserforschung kommt damit auch der auf den Rezipienten bezogenen Perspektive eine besondere Bedeutung zu. Während die ersten Modelle von Rezeption und Medienwirkung noch von einer möglichen, intendierten Wirkung auf Basis des Inhalts ausgegangen sind, steht heute der Rezipient im Vordergrund, der mit den Inhalten in spezifischer Weise interagiert. »Im Unterschied dazu untersucht die moderne sozialwissenschaftlich orientierte und empirisch verfahrende Buchlese(r)forschung Lesen primär als medienbezogenes soziales Handeln, d. h. als Nutzung der Printmedien in einem weiten und als Umgang mit dem Medium ›Buch‹ im engeren Sinn, aus einer personenbezogenen Perspektive der Leserin und des Lesers.«22 Als dritte Gemeinsamkeit der theoretischen Schwerpunkte liegt zugrunde, dass Lesen als rezeptiv kommunikative Tätigkeit in der Gegenwart keinem spezifischen Medium mehr zugeordnet werden kann. Obwohl viele Forschungen Lesen und Buchlesen synonym verwenden, erscheint es weder sinnvoll noch notwendig, Lesen auf spezifische Medien zu beschränken. Lesen bezieht sich in der abstrakten Zeichenebene auf das kommunikative Aneignen von Schriftzeichen und deren Bedeutungskonstruktion. Dem technischen Medium kommt dabei eine strukturierende Wirkung zu, es ändert jedoch nichts an der Grundbedeutung des Lesens als allgemeiner Technik. Vielmehr stellen spezifische Medien wie Buch, Zeitung, Film mit Untertitel, Websites usw. einen strukturellen funktionalen Kontext der Schrift und damit des Lesens als Rezeptionsprozess dar. Im Zuge dieser Abstraktion des Lesens von seinen Medien definiert sich auch der Lesebegriff gegenwärtig unspezifischer. Der literarisch und pädagogisch geprägte Lesebegriff als ästhetisches Textverstehen reicht nicht 21 22
Anderson: The Future of Reading Research, S. 17–36, hier S. 18. Bonfadelli: Theoretische und methodische Anmerkungen, S. 78–89, hier S. 78 (Hervorhebungen im Original).
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mehr aus, um Lesen in einer multiplen Medienumgebung umfassend zu definieren. Auch wenn das Verstehen von strukturellen Texten immer noch einen Teil des Lesebegriffs darstellt, so ist es doch in der gegenwärtigen Forschung eminent, Lesen allgemeiner als Technik der Entschlüsselung medial vermittelter Zeichen zu verstehen. 2.3.1 Lesemotivations- und Lesewirkungsforschung
Ausgehend von der frühen Medienforschung entwickelten sich verschiedene Ansätze, um Medienwirkung bei Individuen zu erklären. Diese Forschungen berücksichtigten ursprünglich insbesondere das Fernsehen. Auf Basis des Uses & Gratifications-Ansatzes23, welcher im Prinzip darauf basiert, dass Rezipienten Selektionen von Medien und Inhalten nach erhofften Gratifikationen treffen, bildeten sich verschiedene Modelle heraus, um Wirkungen von Medien zu erklären. Die Weiterentwicklungen des ursprünglichen Modells liefern der Lese- und Leserforschung die theoretischen Grundlagen für eine Lesemotivations- und Lesewirkungsforschung. »Die Medienentwicklung vollzieht sich rasant. Eine Medienwirkungsforschung, die diese Rasanz erfassen will, muß alle Medienbereiche erfassen – auch das Buch.«24 Die zentralen Forschungsfragen sind dementsprechend auf das ›Davor‹ und ›Danach‹ des eigentlichen Leseprozesses ausgerichtet. In dieser Hinsicht wird danach gefragt, wieso und zu welchem Zweck Individuen lesen, welche Wirkungen des Lesens sowohl kurzfristig als auch langfristig beobachtet werden können, und wie sich Motivationen und Wirkungen zueinander verhalten. Auf Basis der verschiedenen Entwicklungsstufen der Medienwirkungsforschung ist gegenwärtig klar, dass Motivationen und Wirkungen der Mediennutzung sich aus einer Vielzahl von Faktoren ableiten. Diese beziehen sich auf den Rezipienten, das genutzte Medium und den Inhalt. Keine dieser Ebenen steht für sich allein und kann Motivationen und Wirkungen erklären, stattdessen existieren unzählige Querverbindungen, welche individuelle Folgen für Motivation und Wirkung haben. 23
24
Der Uses & Gratifications-Ansatz wurde von Katz/Foulkes 1962 erstmals veröffentlicht und stellte einen entscheidenden Paradigmenwechsel innerhalb der Wirkungsforschung dar, indem er den Fokus der medialen Rezeptionsforschung vom Inhalt weg auf den Rezipienten legte. Der Ansatz wurde stetig weiterentwickelt und erweitert und bildet damit die Grundlage moderner Medienwirkungsforschung. Rath: Medienwirkungsforschung in Deutschland, S. 89–98, hier S. 96.
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Lesemotivation definiert sich allgemein als Ausmaß des Wunsches eines Individuums in einer spezifischen Situation einen spezifischen Text zu lesen. Bereits hier deutet sich ein vorherrschendes Problem der gegenwärtigen Forschung an, nämlich inwieweit man Lesen als Tätigkeit von seinen verschiedenen Medien abstrahieren kann. Ohne die Medien in die Lese- und Leserforschung einzubeziehen ist es schwierig, Ergebnisse bezüglich der Lesemotivation zu erhalten, da der mediale Kontext des Lesens massiven Einfluss auf alle Aspekte der Rezeption hat. »Buchwirkungsforschung muß sich […] der Qualität und der Wirkung derjenigen Texte annehmen, die traditionell in der Druckmediengestalt Codexbuch vermittelt wurden.«25 Allgemein betrachtet basiert Lesemotivationsforschung auf der Medienwirkungsforschung. Diese besagt, dass die Zuwendung zu einer bestimmten medialen Tätigkeit auf Erwartungen an ein Medium und erhofften Gratifikationen durch die Rezeption eines medialen Inhalts beruht. Erwartungen an und Gratifikationen durch Medien wiederum basieren auf Funktionen, welche der Rezipient einem Medium zuordnet. Im Falle des Lesens lassen sich unterschiedliche Funktionen definieren, welche seine Medien erfüllen können und gleichzeitig als Grundantriebe des Lesens verstanden werden können: Unterhaltung, Information, soziale Orientierung und Teilhabe sowie Eskapismus. Diese makroskopischen Grundantriebe des Lesens lassen sich auf der Ebene des individuellen Lesers weiter unterteilen. Unterschieden werden gegenwärtig intrinsische und extrinsische Komponenten der Lesemotivation. Intrinsische Komponenten beschreiben Lesen als in sich selbst thematisch oder handelnd befriedigende Aktivität. Diese lässt sich in die Suche nach Involvement, Befriedigung von Neugier, thematisches Interesse usw. übersetzen. Extrinsische Komponenten meinen dagegen einen äußeren Druck zum Lesen, welcher vor allem die Folgen des Lesens in den Mittelpunkt stellt. Jene lassen sich beispielsweise als Streben nach Anerkennung, Maßnahme zur Weiterbildung, Hervorhebung im sozialen Vergleich usw. beschreiben. Wenn man ausgehend von Medienfunktionen Erwartungen an und erhoffte Gratifikationen durch Lesen als Tätigkeit bestimmt, erscheint die Lesemotivation als eine Abfolge von Selektionen. Diese Selektionen orientieren sich an den Bedürfnissen des Lesers, das heißt sie werden bewusst und intentional getroffen. Leser ordnen spezifischen Medien Funktionen zu. Diese Zuordnung begründet sich auf Sozialisation und eigenen Erfah25
Kerlen: Buchwirkungsforschung, S. 99–112, hier S. 100.
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rungen. Mit dem Wissen über diese Funktionen kann abgewogen werden, welche Tätigkeit bzw. welches Medium einem konkreten Bedürfnis am dienlichsten sein kann. Dieser ersten Selektion bezüglich eines Mediums folgt eine zweite entsprechend eines Inhalts auf Basis derselben Abschätzung. Die Notwendigkeit von Selektionen zeigt gleichzeitig, dass Lesemotivationen nur im Vergleich zu anderen Möglichkeiten der Mediennutzung bestimmt werden können. Lesemotivation an sich ist kein Zustand, sondern eine Selektion bezüglich einer anderen Tätigkeit. Damit wird sie nur erklärbar, wenn sie im Kontext des Medienverbunds und der verfügbaren Freizeit analysiert wird. »Neben der Analyse solcher Zusammenhänge sollte ein zentrales Ziel weiterer Forschungsbemühungen sein, Lesekompetenz und Lesemotivation in Verbindung mit Leistungen und Motivationen in anderen konkurrierenden Bereichen zu betrachten.«26 Die Lesemotivationsforschung bietet auf Basis von bestimmbaren Medienfunktionen die theoretische Erklärung der Zuwendung zur Tätigkeit Lesen als Selektionsprozess zwischen verschiedenen Tätigkeiten zur intentionalen Bedürfnisbefriedigung des Lesers. Dieses theoretische Konzept wird von der eng mit der Lesemotivationsforschung verknüpften Lesewirkungsforschung aufgegriffen, um rezeptive Folgen des Lesens zu erklären. Auch hier lassen sich zwei verschiedene Ebenen von Lesewirkung unterscheiden. Erstens existieren rezeptive Wirkungen während des Leseprozesses. Diese entsprechen kognitiven und emotionalen Reaktionen auf Stimuli des Inhalts/Mediums. Hierbei werden literaturwissenschaftliche Ansätze des Textverstehens, des Involvements und der Identifikationsprozesse zugrunde gelegt. Zweitens werden Lesewirkungen als Einstellungsänderungen des Lesers verstanden, das heißt dieser befindet sich in einem vom Zustand vor der Rezeption unterschiedlichen kognitiven Zustand, dessen Veränderung auf den Erfahrungen des Lesens beruht. Die Lesewirkungsforschung basiert dementsprechend auf der Lesemotivationsforschung, da erst im Vergleich zur Motivation Wirkungen evident werden können. Lesewirkungen entsprechen somit der Befriedigung oder Nicht-Befriedigung der Leserbedürfnisse oder durch die Lesestimuli selbst überraschend ausgelösten kognitiven oder emotionalen Effekten.
26
Möller/Schiefele: Motivationale Grundlagen der Lesekompetenz, S. 101–124, hier S. 123.
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Zusammenfassend ergibt sich für die gegenwärtige Lesemotivationsund Lesewirkungsforschung ein theoretisches Modell, welches Individuen als aktiv handelnde Rezipienten in den Mittelpunkt stellt. Die Rezipienten motivieren sich innerhalb individueller Kontexte mittels spezieller Bedürfnisse. Um diese zu befriedigen, selegieren sie anhand von Vorwissen über mediale Kontexte Medien, Rezeptionsform und Inhalte. Auf Basis der Erwartungen, des Inhalts, des medialen Kontextes und des individuellen Vorwissens entstehen Lesewirkungen als komplexes Zusammenspiel vieler Faktoren. 2.3.2 Prozessorientierte Lese- und Buchnutzungsforschung
Im Gegensatz zur Lesemotivations- und Lesewirkungsforschung konzentriert sich die rezeptive Lese- und Buchnutzungsforschung konkret auf den Prozess des Lesens und der Nutzung von schriftbasierten Medien. »Mit Nutzung ist Gebrauch gemeint, also der Akt des Rezipierens als solcher, weniger die Frage, was dabei geschieht.«27 Im Gegensatz zur Textanalyse28, welche immer noch einen gewichtigen Teil der Leseforschung29 darstellt, ist Nutzungsforschung demnach prozessorientiert, tätigkeitsbezogen und damit innerhalb einer rezeptiven und rezipientenorientierten Perspektive einzuordnen.30 »Wie läuft der kommunikative Prozess des Lesens ab?« und »Wie werden Medien während des Leseprozesses genutzt?« sind in dieser Perspektive die zentralen Forschungsfragen. »So kann, bezogen auf die heutige Situation, vertreten werden, daß das Konzept der Buchnutzungsforschung (im Rahmen einer Medien-Nutzungsforschung überhaupt) der Realität der Rezeption gerechter wird als eine ›Wirkungsforschung‹[.]«31 Auch wenn 27 28
29 30
31
Kerlen: Buchwirkungsforschung, S. 99. »Discourse Analysis of written text is a method for describing the ideas and the relations among the ideas that are present in a text. The method draws on work in a variety of disciplines, including rhetoric, text linguistics, and psychology.« Florio-Ruane/Morrell: Discourse Analysis, S. 62–91, hier S. 64. Die Textanalyse bleibt für die Lese- und Leserforschung insofern wichtig, als dass sie deren Objekt erforscht. Art und Struktur des gelesenen Textes hat Auswirkungen auf Leseformen sowie das Verständnis der angebotenen Informationen. »Unter ›Rezeption‹ sind auf höchstem Abstraktionsniveau zunächst einmal all diejenigen psychischen Prozesse zu verstehen, die während des Lesens eines Textes stattfinden, wohingehend der Begriff ›Wirkung‹ die Folgen des Lesens bezeichnet, die sich nach der Rezeption etwa im Denken oder Handeln der Leser manifestieren.« Groeben/Vorderer: Leserpsychologie, S. 192. Schön: Buchnutzungsforschung, S. 113–130, hier S. 124.
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Selektionen bezüglich des Lesens und Wirkungen desselben innerhalb der rezeptiven Leseforschung nicht ausgeklammert werden, dienen sie lediglich dem besseren Verständnis der Nutzung schriftbasierter Medien im rezeptiven Gesamtzusammenhang. Im Zuge der Konzentration auf den Leseprozess als zentralem Merkmal der theoretischen Analysen wurde der Begriff der Lesekompetenz entwickelt, welcher zunehmend in falschen Zusammenhängen in der öffentlichen Diskussion gebraucht wird. Dieser stellt indes eine wichtige Abgrenzung der Leseforschung als sozialwissenschaftliche Disziplin dar. Im Gegensatz zum ehemals vorherrschenden Verständnis von Lesefähigkeit als literarisch geprägtem Verständnis von Texten, definiert sich Lesekompetenz heute als allgemeine medial rezeptive Kompetenz zur Erfassung von Informationen aus schriftbasierten Medien. Diese Definition erlaubt die Einordnung von Lesen als allgemeine Fähigkeit zur Aufnahme von medialen Informationen aus schriftlichen Zeichen und aus deren Paratexten. Rezeptive Leseforschung kann so für sich den Anspruch erheben, nicht eng inhalts- und medienbezogen zu bleiben, sondern Lesen im breiten Medienumfeld zu erforschen und trotzdem den medialen Kontext verschiedener Einzelmedien einbeziehen zu können. Lesekompetenz als zentraler Begriff zur Charakterisierung des Lesens und der Leser begreift sich als Konglomerat des Dekodierens von Schriftzeichen und paratextuellen, zum Beispiel bildhaften, Zeichen sowie einer lokalen32 und globalen33 Kohärenzbildung von Bedeutung aus diesen. »Lesekompetenz ist vielmehr als Fähigkeit anzusehen, schriftliche Dokumente zu verstehen, in denen sowohl verbale Informationen in Form von Schriftzeichen (graphemisch) als auch piktoriale Informationen in Form von Bildzeichen (graphisch) enthalten sind.«34 Sie umfasst somit die individuelle Fähigkeit des Lesers schriftliche Informationen zu verstehen und einzuordnen. Lesekompetenz ist weiterhin ein objektbezogener Begriff, welcher nicht das Lesen als Selbstzweck in den Vordergrund stellt, sondern es vielmehr als notwendige Fähigkeit der sozialen Teilhabe begreift. Lesekompetenz dient in diesem Sinne individuellen Gratifikationen und weniger einem allgemeinen diffusen sozialen Prestige. Gleichzeitig ist 32 33 34
Lokale Kohärenzbildung bezieht sich auf das Erfassen des Zusammenhangs der Satz- und Abschnittsgliederung. Globale Kohärenzbildung bezieht sich auf das Erkennen des Sinnzusammenhanges von Textabschnitten. Schnotz/Dutke: Kognitionspsychologische Grundlagen der Lesekompetenz, S. 61–100, hier S. 63.
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Lesekompetenz des Lesers hochgradig von dessen individuellem Kontext abhängig. »Zudem ist Lesefähigkeit kein Entweder-Oder, sondern ein weites Spektrum abgestufter Kompetenzen.«35 Das Ausmaß an Lesekompetenz strukturiert somit auf mehreren Ebenen den Ablauf des rezeptiven Prozesses und dessen Wirkungen auf das Individuum. Die gegenwärtige Forschung bemüht sich, anhand des Lesekompetenz-Konzeptes ein rezeptives Schema des Lesens zu entwickeln. Hierbei wird auf andere Medienforschungen zurück gegriffen, da Lesen eine intermediale Tätigkeit ist und somit Lesekompetenz nur eine spezielle Form der allgemeinen Medienkompetenz ist. Wechselwirkungen zwischen Lesen und anderen medialen Informationsverarbeitungsformen sind dementsprechend evident und müssen berücksichtigt werden. »Der These vom Lesen als bleibender Basisqualifikation widerspricht nicht, daß es Transferphänomene nicht nur vom Lesen auf andere Medien, sondern auch von anderen Medien auf das Lesen gibt. Das meint einmal den Transfer von Rezeptionskompetenzen. […] Das meint weiterhin den Transfer von Rezeptions-Modalitäten und -Formen[.]«36 Ausgehend vom Konzept der Lesekompetenz als strukturellem und individuellem Merkmal des Lesers bezüglich des Lesens kann rezeptive Leseforschung als Prozessanalyse des Rezipierens schriftlichter Informationen bezeichnet werden. Die Prozessanalyse entwickelt sich als radikales Umdenken der Leseforschung bezüglich der Beziehung von Inhalt und Rezipient, welche auf den kognitiven Theorien der Psychologie und der Literaturwissenschaft37 beruhen. Diese besagen, dass Texte nicht allein Zeichen der Übertragung von Information darstellen, sondern Leser vielmehr kommunikativ Sinnzusammenhänge unter Berücksichtigung verschiedener Einflüsse aktiv und individuell konstruieren. »Unter kognitiver Konstruktivität ist zu verstehen, daß die Textrezeption nicht (nur) ein eher passives Aufnehmen im Sinne eines Decodierens von Textinformationen darstellt, sondern vor allem und konstitutiv eine aktive Textverarbei35
36 37
Schön: Zur aktuellen Situation des Lesens, S. 13. Abstufungen von Lesekompetenz ergeben sich vor allem aus Unterschieden der Individuen bei Wahrnehmung, Wortschatz, Worterkennung, Arbeitsgedächtnis, Vorwissen, Motivation und erlernte Informationsverarbeitungsstrategien. Schön: Kein Ende vom Buch und Lesen, S. 39–77, hier S. 65. Auch die Literaturwissenschaften setzen inzwischen einen aktiven konstruierenden Leser voraus. Diese Prämisse löst die Textanalyse nicht auf, sie setzt sie nur unter andere Vorzeichen, nämlich welche Möglichkeiten und Beschränkungen ein Text dem Leser eröffnet und wie diese Rezeption beeinflussen können. Art, Struktur und Inhalt eines Textes haben demnach Einfluss auf Lesemodi, Verstehen und Erinnerungen.
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tung.«38 Wenn Lesekompetenz die Rahmenbedingung des Leseprozesses bezeichnet, stellt die kognitive Konstruktion des Inhalts das Ergebnis der kommunikativen Verbindung zwischen Leser, Medium, Autor und Inhalt dar, welche sich gleichzeitig als Subanalyseebenen der Leseforschung herausstellen. Die Konstruktion der Bedeutungszusammenhänge während des Lesens wird nach aktuellem Forschungsstand über Repräsentationen verschiedener Ebenen mittels mentaler Wissensstrukturen39 des Rezipienten gewährleistet. Die Wissensstrukturen sind als Teil der Lesekompetenz mentale Modelle und Formen der Informationsverarbeitung und werden je nach Stimuli des Inhalts oder Mediums aktiviert. Die aus Stimulus und Informationsverarbeitung hervorgehenden Repräsentationen der aufgenommenen Informationen beziehen sich beim Lesen auf die Textoberfläche, den semantischen Gehalt, den Textgegenstand, die intentionale Absicht des Autors, das Genre usw. In the current cognitive view, reading consists of a complex set of coordinated mental processes that includes perceptual, linguistic, and conceptual operations. The mechanics of these operations range from encoding the letters that appear on the printed page, to determining the referent of a particular phrase or word, to following the structure of the text, such as a story or exposition. In the course of reading, readers build a representation of the concepts and events that are being described, a representation that draws heavily on what they already know about the topic. To comprehend a text, readers must perform all these mental operations, many of them concurrently.40
Innerhalb der Einordnung von Stimuli in bereits vorhandene mentale Modelle werden neben kognitiven Wirkungen, vor allem in Form von Wissen, auch affektive Wirkungen41 und Identifikationsprozesse ausgelöst, welche das Erleben des Lesens ausmachen. Kognitive und affektive Wirkungen beeinflussen sich gegenseitig und ergeben erst in ihrer Gesamtheit die Lesewirkung, welche wiederum die weiterführende Rezeption beeinflusst. 38 39 40 41
Groeben/Vorderer: Leserpsychologie, S. 3. Wissensstrukturen als kognitive Hilfsmittel der Bedeutungskonstruktion eines Textes sind zum Beispiel Zeichen-Laut-Verbindungen, Sprachmuster, Erinnerungen an andere Texte, Genrewissen usw. Beck: On Reading, S. 65–88, hier S. 66. Affektive Wirkungen sind Emotionen bezüglich der Mediennutzung und der Rezeption des Inhaltes. Im Gegensatz zu kognitiven Wirkungen basieren sie auf emotionaler Aktivierung über Identifikation in eine Situation oder Person oder der Erinnerung an eigens erfahrene Situationen. Affektive Wirkungen können im Gegensatz zu kognitiven Wirkungen nicht bewusst gesteuert werden und treten als Gefühle mit oder ohne Handlungskonsequenz während der Mediennutzung auf.
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Die rezeptive Lese- und Leserforschung analysiert Lesen als kommunikativen Prozess. Hierfür nutzt sie das Konzept der Lesekompetenz, um Strukturen des Rezeptionsprozesses individuell analysieren zu können. Im Sinne der kognitiv-psychologischen Konstruktion von Bedeutung geht sie gleichzeitig von einem aktiven Leser aus, welcher auf Basis individueller Wissensstrukturen und unter dem Einfluss individueller sozialer Kontexte liest. Ihr gelingt es, Lesen als Prozess zu erforschen und diesen nicht nur von Motivation und Wirkung abzuleiten. Mittels verschiedener Analyseebenen von Leser, Medium, Text und sozialen Kontexten42 schafft sie es, Lesen als komplexen Rezeptionsprozess unter vielfältigen Bedingungen abzubilden. 2.3.3 Lesesozialisationsforschung
Neben den beiden theoretischen Forschungsschwerpunkten des Lesens als Prozess und seiner Vor- und Nachbedingungen wird Lesen auch als soziale Fähigkeit im Rahmen von mikroskopischen und makroskopischen gesellschaftlichen Strukturen erforscht. Die Sozialpädagogik stellt dabei das Rahmengerüst für eine Theorie der Lesesozialisation, welche inzwischen aber auch in anderen Disziplinen weiterführend erforscht wird. »Unter Lesesozialisation wird dabei der Prozeß der Aneignung und Vermittlung von Kompetenzen der Textrezeption und -verarbeitung verstanden.«43 Lesesozialisation als theoretisches Forschungsfeld bezieht sich demnach auf die Bedingungen des Erwerbs und die sozialen Auswirkungen von Lesekompetenz als sozial relevante Kulturtechnik im mikroskopischen Bezug auf das Individuum. Eingeschlossen in diese Perspektive ist oftmals auch die Erforschung der Bedingungen der Hinwendung von Individuen zu spezifischen schriftbasierten Medien, wie sie zum Beispiel das Buchlesen darstellt. Den theoretischen Hintergrund der Lesesozialisationstheorie liefern soziologische Theorien zur allgemeinen Sozialisation und Persönlichkeitsentwicklung von Individuen sowie das aus der rezeptiven Leseforschung übernommene Konzept der Lesekompetenz. Sozialisation wird hier weitgehend gefasst als Prozess der Entstehung der menschlichen Persönlichkeit in wechselseitiger Abhängigkeit von der sozial geformten und ding42 43
Soziale Kontexte sind in dieser Richtung besonders der Einfluss von Familie, Schule und Peer-Groups. Hurrelmann: Lese- und Mediengewohnheiten im Umbruch, S. 187–195, hier S. 189.
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lichen Umwelt. Lesekompetenz gilt auch hier vorwiegend als medienunabhängige, allgemeine rezeptive Technik der Informationsaufnahme und -verarbeitung aus schriftlichen Zeichen und deren Paratexten. Die zentralen Fragestellungen beziehen sich vor allem auf die Analyse von strukturellen und individuellen Bedingungen der Ausbildung von Lesekompetenz sowie den Einfluss von Lesekompetenz auf die Teilnahme an sozialen Strukturen und Prozessen. Der Beantwortung dieser Fragen dienen Erkenntnisse in vielen Teilbereichen der Leseforschung wie Ausbildung des Sprachbewusstseins, Schriftsprachenerwerb, Textverarbeitung, Didaktik, Medienpädagogik oder der allgemeinen Schul- und Jugendforschung. Lesesozialisationsforschung hat gleichzeitig den Anspruch einer Verbesserung dieser auf Basis der theoretischen Erkenntnisse und geht damit über die Grundlagenforschung hinaus zu praktischen Anwendungen. Als zentrale soziale Faktoren der Lesesozialisation haben sich neben den intellektuellen Voraussetzungen44 Familie, Schule und Peer-Groups heraus kristallisiert, welche den Erwerb von Lesekompetenz und die Häufigkeit von Lesen als Tätigkeit im Vergleich zu anderen Aktivitäten beeinflussen. »Die Entwicklung von Lesekarrieren hängt mehr als bisher angenommen von den Einflüssen des sozialen Umfeldes und der Entwicklung der gesamten Lebenssituation ab. Je stärker in der Kindheit das Leseinteresse gefördert wird und durch die Interessen von Eltern und Freunden gestützt wird, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß eine Lesekarriere nicht abgebrochen wird.«45 Die Familie als Sozialisationsstruktur hat auf die Entwicklung der Lesekompetenz des Individuums nach bisherigem Forschungsstand sowohl mittels des Bildungsgrads als auch über den generellen Umgang mit schriftbasierten Medien Einfluss auf die Einstellung gegenüber dem Lesen und die diesbezüglichen Fähigkeiten. Die Lesesozialisation erfolgt dementsprechend passiv und wenig zielgerichtet, bildet aber die Grundlage der späteren Entwicklung. Die Schule als aktive Lesesozialisationsinstanz wiederum führt diese Basis mittels spezieller Programme im Unterricht fort und versucht gleichzeitig fehlende familiäre Lesesozialisation auszugleichen. Peer-Groups schließlich spielen ab der Jugend eine Rolle, weil ihnen eine besondere Bedeutung im Sinne einer allgemeinen, kulturellen Orientierung zukommt. Durch diese erfahren 44 45
Beeinträchtigungen der Lesesozialisation können beispielsweise geistige Behinderungen, biologisch oder psychisch bedingte Lese- und Schreibschwächen oder eine abweichende Muttersprache sein. Köcher: Lesekarrieren – Kontinuität und Brüche, S. 215–310, hier S. 216f.
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Lesen und schriftbasierte Medien eine Wertung innerhalb der Gruppe, was massiven Einfluss auf Fortsetzung oder Abbruch von Lesekarrieren haben kann.46 Neben den Sozialisationsinstanzen werden innerhalb des Forschungsbereichs auch Kontexte berücksichtigt, vor allem Medienumwelt und Kultur. Der Kontext der Medienumwelt bezieht sich auf statische Rahmenbedingungen, zum Beispiel das Vorhandensein von und der Zugang zu schriftlichen Medien und die Ausstattung der Lesesozialisationsinstanzen mit schriftlichem Lehrmaterial. »Im Gegensatz zur homogenen Verbreitung, ja Omnipräsenz der elektronischen Medien bestehen nach wie vor beträchtliche Zugangsbarrieren bei den Printmedien.«47 Der kulturelle Kontext dagegen beeinflusst Lesesozialisation in erster Linie über einen übergeordneten Stellenwert des Lesens für soziale Prozesse und kulturelle Teilhabe. Auch die Lesesozialisationsforschung betrachtet Lesekompetenz innerhalb des Medienverbunds als eine spezifische Form der allgemeinen Medienkompetenz. Dies bedeutet insbesondere für neuere theoretische Ansätze, dass Lesesozialisation im Kontext aller Medien analysiert werden muss. Diese Verknüpfung hat bisher zwei gravierende Folgen für die allgemeine Leseforschung. Erstens wird im Zuge der neuen interaktiven Medien die Forderung laut, Leseforschung müsse zukünftig auch Schreibforschung werden. Diese Forderung basiert darauf, dass in neuen textbasierten Medien nicht nur gelesen, sondern als Komplementär-Kompetenz auch geschrieben werden muss. Neben der allgemeinen Decodierungsfunktion wird damit auch die Codierungsfunktion immer wichtiger. Als zweite Konsequenz erheben sich vermehrt Stimmen eines allgemeinen Kulturpessimismus bezüglich der Lesesozialisation. »Gleichzeitig deuten sich aber auch neue Schwierigkeiten der Sozialisation zum Buch im Umfeld der elektronischen Medien an: So scheint es heute trotz Bildungsexpansion mehr Menschen als früher zu geben, die längeres Lesen als anstrengend empfinden, und mehr Befragte als früher geben an, in der Kindheit zum Lesen gezwungen worden zu sein.«48 Es erscheint als zentrale Aufgabe der Lesesozialisationsforschung, die Rolle des Lesens und seine Sozialisation innerhalb der sich ausdifferenzie46
47 48
Bisherige Ergebnisse deuten darauf hin, dass Lesekarrieren vor allem durch eine Veränderung des Verhaltens hin zu sozialer statt medialer Interaktion, den Wechsel des Interessenspektrums in Abgrenzung zur vorherigen Generation, eine generelle Zeitverkürzung für Mediennutzung und eine Pluralisierung der zugänglichen und nutzbaren Medien abgebrochen oder verändert werden. Bonfadelli/Fritz: Lesen im Alltag von Jugendlichen, S. 7–214, hier S. 13. Bonfadelli: Literarische Sozialisation im Wandel, S. 41–54, hier S. 54.
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renden Medienvielfalt zu bewerten und zu erforschen. Lesekompetenz erscheint immer noch als zentrale Kulturkompetenz, auch wenn sie sich immer weniger auf spezifische Medien beziehen lässt. 2.3.4 Medienforschung: Beispiel Buchwissenschaft
Konkrete Medienforschung befasst sich in erster Linie mit Lesen als medialer Aneignungstechnik im funktionalen Kontext eines oder mehrerer spezieller Medien. Als Beispiel der Leseforschung im medial-funktionalen Kontext soll stellvertretend die Buchwissenschaft herangezogen werden, da sie sich mit dem für das Lesen immer noch oft konstatierten Leitmedium Buch beschäftigt. In Anlehnung an ihre sozialwissenschaftliche Ausrichtung erforscht die Buchwissenschaft vielfältige Aspekte von Produktion, Distribution und Rezeption des Buchs als medialem Produkt und Bedeutungsträger sowie dessen kommunikative Funktion im gesellschaftlichen und historischen Kontext. In Abgrenzung zur Literaturwissenschaft untersucht die Buchwissenschaft nicht konkrete Inhalte, sondern deren Medium, ohne abzustreiten, dass Form und Inhalt sich gegenseitig bedingen. Innerhalb der Buchwissenschaft nimmt Leseforschung somit die Rolle der Erforschung einer speziellen Buchnutzungsform ein, welche zwar die dominante, aber nicht die einzige Nutzungsform darstellt.49 Bisherige Ergebnisse weisen vor allem darauf hin, dass Buchnutzung über Lesen als Decodierung schriftlicher Zeichen hinaus geht. Vielmehr ergibt sich durch den spezifischen medial-funktionalen Kontext des Buchs eine besondere Form der Buchkommunikation, welche das Lesen in seiner allgemeinen Form einschließt. Diese ist e r s t e n s definiert durch das buchspezifische Zeichensystem, das sich aus seiner Eigenschaft als an Schrift in einer bestimmten Materialität gebundenes Medium ergibt. Funktionen der Buchschriftlichkeit sind Teilfunktionen von Schriftlichkeit generell. Hinzu kommen sprachunabhängige Sekundärfunktionen über das Bild, da sich das Buch in der Kodexform seit seinen Anfängen der Illustration öffnet […]. Z w e i t e n s gehört zur Leistung des Buches sein konkretes inhaltliches Angebot. […] Und d r i t t e n s gehört zur Leistung die Akzeptanz, die das Buch als Kommunikationsmedium findet. […] Und v i e r t e n s sind sekundäre, symbolische Funktionen an das Buch geknüpft.50
49 50
Neben dem Lesen kommen dem Buch als materiellem Objekt noch andere Nutzungsformen zu, beispielsweise als Sammelobjekt oder Symbol. Rautenberg/Wetzel: Buch, S. 42f.
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Leseforschung innerhalb der Buchwissenschaft ist damit immer im funktionalen Gesamtzusammenhang des Buchs als Medium zu betrachten und bezieht sich somit theoretisch auf eine konkrete Mediennutzung und nicht auf Lesen als abstrakten theoretischen Begriff. Buchwissenschaft und andere spezifische Medienwissenschaften erweitern die Lese- und Leserforschung demnach um deren konkrete materielle Objekte und ermöglichen so eine kontextuelle, tiefgründige Erforschung spezifischer Nutzungsphänomene. Sie erweitern die Grundlagenforschung um die Anwendungsebene hinsichtlich eines speziellen Mediums und tragen somit dazu bei, theoretische Lese- und Leserforschung auf ihre Anwendbarkeit hin zu überprüfen. In dieser differenzierten Form betrachtet die Buchwissenschaft Lesen dementsprechend nicht als allgemeine Decodierungsfähigkeit von Schriftzeichen, vielmehr entspricht Lesen der Buchnutzung im Sinne des Benutzens von Büchern innerhalb spezifischer Motivationen. Konkrete Medienforschung wie die Buchwissenschaft baut somit auf der Grundlagenforschung des Lesens auf und nutzt sowohl Motivations- und Wirkungsforschung, rezeptive Leseforschung und Lesesozialisationsforschung hinsichtlich ihres konkreten Objekts für beispielsweise Buchlese- und Buchnutzungsforschung. Im Gegenzug ermöglicht es besonders die Buchleseforschung wiederum allgemeine Schlüsse über das Lesen an sich zu ziehen. Da diese sich in sozialwissenschaftlicher Sichtweise mit Schriftkommunikation zwischen Leser und Autor über das Medium Buch beschäftigt, liefert sie Möglichkeiten der medienunabhängigen Verallgemeinerung ihrer Ergebnisse. Konkrete Medienwissenschaften bieten der Lese- und Leserforschung somit veritable Ergebnisse hinsichtlich ihrer Medien und besonders im Fall der Buchwissenschaft historisch gewachsene Grundlagenforschung über schriftliche Kommunikation an sich. Dennoch bleibt zu konstatieren, dass die Lese- und Leserforschung es sich zu einfach macht, wenn sie Ergebnisse konkreter Medienforschung übernimmt, ohne diese medienunabhängig zu reflektieren. Buchlesen ist nur ein Teil des Lesens in der Gegenwart und deshalb auch nur zum Teil aussagekräftig in Bezug auf allgemeine Lesekompetenz.
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2.3.5 Gesellschaftstheorie
Leseforschung bezieht sich in einer letzten Perspektive auf makroskopische Sozialstrukturen, welche durch Lesen beeinflusst werden. Die entscheidenden Faktoren hierbei sind globale kulturelle Strukturen, welche durch Lesen gebildet, erhalten oder verändert werden, soziale Institutionen, welche Lesen generell voraussetzen und die Identitätsbildung von Individuen in globaler Bedeutung. Dies umso mehr, als dass Lesen auch bei der Nutzung neuer Medien eine entscheidende Bedeutung besitzt. Konzentrieren wir uns auf das Lesen als eine Kommunikationspraxis, die nicht nur an das Medium Buch oder die Printmedien gebunden ist, so läßt sich verhältnismäßig schnell Einverständnis darüber herstellen, daß die gegenwärtige und erst recht die zukünftige Informationsgesellschaft eine ausgebildete Lesefähigkeit fordern, verbunden mit einem entwickelten Sprachbewußtsein und der Kompetenz zum begrifflichen Verstehen.51
Es existieren unzählige Theorien der Gesellschaftsgenese, im Bereich der Leseforschung sei an dieser Stelle beispielhaft auf die Systemtheorie und die Cultural Studies verwiesen, welche sich unter anderem intensiv mit Kommunikation und Medien in ihrem Einfluss auf die Gesellschaft befassen. Während die Systemtheorie Kommunikation, also auch Lesen als Kommunikationstechnik, als elementar zur Erhaltung gesellschaftlicher Systeme definiert, integrieren die Cultural Studies Lesen und seine Medien innerhalb einer kulturellen Perspektive als gemeinschafts- und identitätsprägend. »In unserer auf Schrift aufbauenden Kultur fällt dem Schreiben und besonders dem Lesen eine besondere Bedeutung zu. Diese Fähigkeiten sind die Voraussetzung dafür, daß ein Individuum am gesamtgesellschaftlichen Kommunikationsprozeß teilnehmen kann.«52 Das Ausmaß an Lesekompetenz bestimmt dementsprechend die Möglichkeiten, am gesellschaftlichen Kommunikationsprozess teilzunehmen. Diese Teilhabe basiert zum einen auf dem konkreten Kommunikationsprozess zwischen Individuen, welcher sich beispielsweise in schriftlichen Kontakten zwischen Individuen und Institutionen ausdrückt, zum anderen auch schlicht im Zugang zu Information und Wissen, welches gegenwärtig und historisch bedingt zumeist in schriftlicher Form vorliegt. Das Maß an Information und Wissen beeinflusst jegliche Handlung innerhalb von Gemeinschaften und ist stark identitätsstiftend. Auch in den Gesellschaftstheorien wird Lesen inzwischen als von konkreten Medien losgelöste kulturelle 51 52
Hurrelmann: Lese- und Mediengewohnheiten im Umbruch, S. 188. Fritz/Suess: Lesen, S. 11.
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Fähigkeit betrachtet, was insbesondere die Einordnung auch in alltägliche kommunikative, schriftbasierte Prozesse erleichtert. Lesekompetenz wird insofern nicht nur als Zugang oder Abschottung gegenüber den Printmedien betrachtet, sondern vielmehr als Problemfeld für übergeordnete soziale Strukturen und Prozesse. »In all dem wird zumindest wachsende Sensibilität für Lesen als potentielles soziales und kulturelles Problemfeld und eine entscheidende Lockerung der alten medialen Bindung dieser Kulturtechnik in der Mediengesellschaft erkennbar.«53 Die zur Verfügung stehende Lesekompetenz ist damit gleichzeitig Zugangsmöglichkeit zu, aber auch Abschottung von spezifischen sozialen Bereichen für Individuen. Diese Ambivalenz des Lesekompetenzbegriffs in positiven und negativen Auswirkungen wird unter anderem in der Wissenskluft-These hervorgehoben. Diese besagt, dass sozio-kulturelle Probleme vor allem dadurch entstehen, dass höhere Bildung erhöhte Mediennutzung bedingt, was wiederum zu Wissensvorteilen führt. Lesen als basale Informationstechnik schafft neben anderen medialen Nutzungsformen damit einen sich vergrößernden Abstand zwischen aktiv-kommunikationsreichen und passivkommunikationsarmen Mitgliedern der Gesellschaft, was zu sozialen, politischen und wirtschaftlichen Spannungen innerhalb der Gesellschaft führen kann. Ein anderes Theorem der Kulturwissenschaften ist der Niedergang des Lesens als kulturell prägende Technik in Folge der medialen Ausdifferenzierung audio-visueller Medien. Dieses besagt, dass Lesen als Grundlage der Gesellschaft zunehmend von anderen Informationsaneignungstechniken verdrängt wird. Hier drückt sich eine verstärkte Einbettung des Lesens in einem gesamtmedialen Kontext aus. Lesen als Kulturtechnik verändert sich mit Folgen für Individuen und soziale Strukturen. Der ›Niedergang‹ der Leserelevanz ist indes empirisch nicht zu belegen, wohl aber eine Veränderung der Lesebedeutung für Individuen und soziale Teilbereiche. »Insofern hat die Klage über den Untergang der Lesekultur einen qualitativen Akzent, dessen bildungsbürgerlicher Inhalt aus einem anderen soziokulturellen Bereich stammt, als derjenige ist, aus dem die empirischen Daten zum realen Lese- und Medienverhalten stammen[.]«54 Bisherige Ergebnisse der Veränderung des Lesens und seiner relevanten Merkmale unterscheidet Saxer55 in einer Makro-, Meso- und Mikro53 54 55
Saxer: Zur Zukunft des Lesens, S. 235–244, hier S. 235. Schön: Kein Ende vom Buch und Lesen, S. 39. Vgl. Saxer: Zur Zukunft des Lesens.
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ebene. Makroskopisch lässt sich eine zunehmende mediale Ausdifferenzierung und Oralisierung der Gesellschaft beobachten. Dies führt zu einer Auflösung der ideellen Vorstellung von kulturellem und anspruchsvollem Lesen von hochwertiger Literatur. Gleichzeitig entsteht eine flexible Vorstellung von Lesen als alternativer Freizeitbeschäftigung und verstärkte Lektüre im informativen und wissensvermittelnden Bereich. Auf der Mesoebene ist die Konzentration des Medienmarkts auf Medienkonzerne zu beobachten, welche schriftbasierte Medien in ein Gesamtangebot medial zugänglicher Information einordnen. Auch die Angebot- und Nachfragestrukturen ändern sich, nicht zuletzt unter Funktionsverschiebungen zwischen alten und neuen Medien. Innerhalb einer Mikroebene ist laut Saxer schließlich eine Wertverschiebung innerhalb der Lesesozialisation zu beobachten. Während die Familie als Sozialisationsinstanz an Einfluss verliert, steigt der Einfluss der Peer-Groups. Lesen wird zunehmend individualisiert und in einen komplexen habituellen und zweckorientierten Mediengebrauch integriert. »Trotzdem kann summarisch eingangs festgehalten werden, dass Lesen international von allen ernstzunehmenden Experten auch für die Zukunft als basale unverzichtbare Kulturtechnik eingestuft wird, konstituierend für individuelle und kollektive Medienkompetenz und für das Funktionieren der modernen Zivilisation überhaupt.«56 2.4 Theoretischer Stand der Lese- und Leserforschung – eine kritische Betrachtung
Zusammenfassend lässt sich der aktuelle Stand der Lese- und Leserforschung als Konglomerat verschiedener Theorien und Perspektiven beschreiben. Lesen und Leser sind interdisziplinäre Forschungsgegenstände, welchen unterschiedliche Fragestellungen zugrunde liegen. Der Vorteil einer übergreifenden Forschung ist insbesondere der kaleidoskopische Überblick über Lesen und Leser, welcher es möglich macht, diese als allgemeine, sozial wichtige Faktoren verschiedener empirischer Beobachtungen darzustellen. Gleichzeitig wird so gewährleistet, dass nahezu alle Einzelaspekte des Forschungsgegenstands innerhalb multipler Perspektiven erforscht werden. Die bisherige Forschung verzichtet dabei zunehmend
56
Saxer, S. 239.
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auf die Abgrenzung zu anderen Disziplinen, stattdessen werden Erkenntnisse verschiedener Forschungsrichtungen verknüpft. Disziplinübergreifende, weitgehende Einigkeit besteht in vielen Punkten der gegenwärtigen Lese- und Leserforschung. So herrscht in nahezu allen Disziplinen die Perspektive des aktiven Lesers vor, ohne dessen Beziehung zu Medium, Inhalt und Autor zu vernachlässigen. Im Zuge der Verschiebung vom Inhalt zum Rezipienten als Schwerpunkt werden gemeinhin kognitiv-psychologische Theorien der Informationsverarbeitung als Grundlage des Lesens als kommunikativem Prozess herangezogen. Hierbei finden auch verstärkt Kontexte Berücksichtigung, welche sowohl das Lesen als Tätigkeit durch Individuen als auch das Lesen als kommunikativen Prozess selbst beeinflussen.57 Das Lesen erscheint zudem zunehmend von spezifischen Medien losgelöst, ohne den medialen Kontext in seinem Einfluss zu unterschätzen. Diese Entwicklung kann auch auf die Ausdifferenzierung schriftbasierter Medien zurückgeführt werden. In deren Folge muss Lesen als notwendige Nutzungskompetenz neu definiert und in veränderten Leseweisen für diese Medien analysiert werden. Dies wird zunehmend innerhalb der Lese- und Leserforschung akzeptiert, wenn auch deren Integration innerhalb des mit Lesen assoziierten Medienverbunds teilweise noch zu wünschen übrig lässt. »Auch hier beginnt sich die Erkenntnis durchzusetzen, daß es in zukünftigen Forschungsdesigns darauf ankommen wird, die qualitative Integration der verschiedenen Medien auf der Produktseite (Medienverbund) wie auf Rezeptionsseite (beim einzelnen Rezipienten) zu untersuchen, statt ihre wechselseitige Abgrenzung zu perpetuieren.«58 Kritisch betrachtet werden müssen nach wie vor die unzureichenden Übereinkünfte bezüglich des Lese- und des Lesekompetenzbegriffs. Hier spiegelt sich die andauernde Debatte zwischen kulturell-literarischer und sozialwissenschaftlich-kommunikativer Prägung wieder. Während erstere nur langsam von der Prämisse des Lesens als kulturell-wertvoller, literarischer Tätigkeit abweicht und auf einem strikten Medienbezug vor allem auf das Buch beharrt, integriert letztere den historisch entwickelten Zusammenhang von klassischen schriftbasierten Medien und Lesen als Tä-
57
58
Saxer unterscheidet beispielsweise verschiedene soziale (historisch/gesellschaftsformal, medial, soziale Umwelt, freizeitlicher Kontext) und individuelle Kontexte (Persönlichkeit, Lebenssituation, Kommunikationsgewohnheiten, Leseschicksale/Lesesozialisation) des Leseverhaltens mit starken Auswirkungen. Vgl. auch Saxer: Lese(r)forschung. Garbe: Lesen im Wandel, S. 22.
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tigkeit für den heutigen Medienverbunds insgesamt zu wenig.59 Auch der Begriff der Lesekompetenz erreicht nur grobe Generalisierungen und liest sich innerhalb verschiedener Disziplinen unterschiedlich. »Und es kann auch nicht anders sein, da ja zum einen die Frage nach einer empirisch verläßlichen Definition der Lesekompetenz bis heute im Sinne einer ›herrschenden Lehre‹ nicht gelöst ist.«60 Im Sinne dieser noch nicht gelösten Definitionen von Lesen und Lesekompetenz als zentralen Forschungsbegriffen und der interdisziplinär angelegten Forschungsfragen ist bisher auch noch keine Gesamttheorie zu Lesen und Leser vorhanden. Diese würde aber dringend benötigt, um anhand eines allgemeinen Modells die Bezüge der erforschten Einzelaspekte in Beziehung setzen zu können und eventuell einen Gesamtüberblick auch theoretisch darstellen zu können. Auch wenn Lesen als Tätigkeit inzwischen zusätzlich auf schriftbasierte Medien neben Buch und Zeitung bezogen wird, fehlt es an konkreten Konzepten, diese neuen Medien in Bezug auf Lesen und Leser zu charakterisieren und ihren Einfluss deutlich zu machen. Neben den funktionalen medialen Eigenschaften dieser Medien ist bisher auch zu wenig Augenmerk auf die Veränderung schriftbasierter Medien im letzten Jahrhundert gelegt worden, was sich vor allem in Unklarheit über die Veränderungen der Nutzungsgewohnheiten von schriftbasierten Medien und Lesegewohnheiten allgemein ausdrückt. Mit der steigenden Zahl der Möglichkeiten medialer und medial vermittelter direkter Kommunikation differenziert sich die Freizeitgestaltung vermutlich besonders der Jugendlichen und jungen Erwachsenen weiter aus, und mit differenzierteren Freizeitund Kommunikationsgewohnheiten wird sich auch die Nutzung des Buches weiter verändern – so wie sich Bücher selbst langfristig verändern, ein Faktum, das in der Leseforschung aber kaum thematisiert wird.61
Erst ansatzweise findet das Schreiben als Komplementärtechnik des Lesens Einzug in die theoretische Lese- und Leserforschung. Dessen Kompetenz wird im Zuge interaktiver schriftlicher Medien zunehmend wichtiger und ergänzt Lesen als kulturelle Informationsaneignungstechnik. »Sich schriftsprachlich ausdrücken zu können wird gerade mit der Verbreitung der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien immer wich59
60 61
»[…] und zugleich wird hieran deutlich, daß Theorien von Lesen und Lesekultur, die unter Vernachlässigung des geschichtlichen Kontextes entworfen werden, Gefahr laufen, temporäre Konstellationen zu verabsolutieren und jedenfalls nur bedingt erklärungsmächtig sind.« Saxer: Lesesozialisation, S. 319. Böck/Langenbucher: Der kompetente Leser, S. 23–38, hier S. 23. Böck: Buchlesen im Medienumfeld in Österreich, S. 24–42, hier S. 37.
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tiger.«62 »Ohne ausreichende Lesekompetenz ist der Umgang mit den neuen Bildschirmmedien in der Regel gar nicht möglich. Einen wesentlichen Unterschied gibt es allerdings: Der Internet-Nutzer liest eben nicht nur, er schreibt auch.«63 Insgesamt gibt es in der theoretischen Perspektive der Lese- und Leserforschung vor allem in Hinsicht auf sich ständig weiter ausdifferenzierender und sich entwickelnder Medien zusätzliche, bisher wenig bearbeitete Forschungsfelder. Gleichzeitig besteht auch in der Grundlagenforschung trotz weitreichender Übereinstimmung noch Handlungsbedarf hinsichtlich eines Gesamtmodells und einzelner Begriffe. Mit der Neutralisierung der Wertung von Lesen innerhalb der Forschung kann Leseforschung übergeordnete Erkenntnisse für die konkrete Medienforschung und einen Beitrag zur allgemeinen Kommunikationstheorie liefern.
3 Empirischer Stand der Lese- und Leserforschung Ende der 1950er Jahre wurde von Bertelsmann erstmals sogenannte Buchmarktforschung betrieben. Ziel der 1958 durchgeführten Studie »Das Buch in der Gegenwart« war es, die Behauptung, Buchgemeinschaften stellten eine Konkurrenz für den Buchhandel dar, zu widerlegen. Sekundär konnten damit Daten über das Kauf- und Leseverhalten der Bevölkerung gewonnen werden. Die Erhebung aus dem Jahr 1964, »Buch und Leser in Deutschland«, beleuchtete die sozialen Bedingungen des Lesens und damit Häufigkeit der Lektüre sowie Art und Weise der präferierten Texte. 1966 richtete der Börsenverein des Deutschen Buchhandels parallel dazu einen eigenen Ausschuss für Buchmarktforschung ein. Dort sollten Marktdaten zentral organisiert werden. Die Studien des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels dienten im Wesentlichen dazu, die Konkurrenz zwischen Buch und TV sowie die soziale Überlegenheit des Lesers zu belegen. Die Erhebung »Lesekultur in Deutschland«, die 1967/68 und 1973 durchgeführt wurde, sah die Stellung des Lesens in der Konkurrenz zu anderen Medien, besonders dem Fernsehen, bedroht. »Buchhändler und Buchkäufer« ging 1978 primär der Frage nach den Stärken und Schwächen des Buchhandels nach und 1987 wurde eine »Typologie der Käufer und Leser« erstellt, um besser auf die Bedürfnisse der Kunden eingehen zu können. 62 63
Böck/Langenbucher: Der kompetente Leser, S. 35. Vorderer: Vom Leser zum User, S. 180–186, hier S. 184.
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Die im Jahr 1988 gegründete Stiftung Lesen, welche aus der Deutschen Lesegesellschaft hervorgegangen war, markierte den Wechsel von der Buchmarkt- hin zur Lese(r)forschung und damit von quantitativ hin zu qualitativ ausgerichteten Fragestellungen. Die Daten dienten nicht mehr primär dazu, ein idealerweise kontinuierliches Wachstum des Buchmarkts zu attestieren, sondern dazu, das Wesen und die Hintergründe des Lesens zu ergründen. Die Studie »Leseverhalten in Deutschland 1992/93« stellte eine Bestandsaufnahme der Lese-, Medien- und Freizeitgewohnheiten dar. Somit vollzog sich ein Wandel von marktorientierten Untersuchungen zu Studien, welche zunächst den Umgang mit Büchern und, zumindest teilweise, die Nutzung unterschiedlichster Medien analysierten und das Lesen verstärkt sowohl in einen medialen als auch einen freizeitbedingten Kontext eingebettet sahen.64 Mittlerweile bestehen beide Methoden nebeneinander.65 Ebenso wie im Fall der theoretischen Lese- und Leserforschung ist es an dieser Stelle nicht möglich, die Vielzahl der empirischen Untersuchungen wiederzugeben.66 Es ist auch nicht Sinn und Zweck der folgenden Ausführungen, Studien miteinander zu vergleichen, da dies aufgrund unterschiedlichster Ansätze in der Regel nicht möglich ist. Vielmehr soll aufgezeigt werden, inwieweit sich die aus den theoretischen Ansätzen ergebenden Annahmen in empirischen Studien widerspiegeln. Die damit verbundenen Fragestellungen lassen sich wie folgt zusammenfassen: Gehen Theorie und Empirie im Bereich der Lese- und Leserforschung Hand in Hand? Werden die in der Theorie erkannten Desiderate auch im Rahmen von Untersuchungen ausgemacht und lassen sich so neue Ansätze schaffen? In welchen Bereichen besteht nach wie vor Handlungsbedarf? Welche Theorieansätze verfolgen neuere Forschungen im Bereich der Lese- und Leseforschung67 und was ist deren Nutzen? Hier ist es interessant zu untersuchen, ob gewisse Schwachstellen und daraus resultierende Forderungen nach anderen Ansätzen verwirklicht wurden. 64 65 66
67
Vgl. Bonfadelli: Leser und Leseverhalten heute, S. 86–93; Rautenberg/Wetzel: Buch, S. 59–61. So erhebt der Börsenverein des Deutschen Buchhandels in seiner Abteilung Marketing, Marktforschung und Statistik nach wie vor buchwirtschaftliche Daten. Schön verweist auf insgesamt 40 Studien, welche zwischen 1952 und 1997 durchgeführt wurden. Vgl. Schön: Kein Ende von Buch und Lesen, S. 39–77. Aufgrund unterschiedlicher Ansätze und einer Vielzahl an kleineren Untersuchungen dürfte die tatsächliche Zahl noch deutlich höher liegen. Unter neueren Forschungen werden Studien, welche seit Beginn der 1990er Jahre durchgeführt wurden, verstanden. Dies ist mit dem Wandel von der Buchmarktforschung hin zur Lese(r)forschung zu begründen.
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Bereits 1991 stellte Fritz anhand der Studie »Lesen im Medienumfeld« Forschungsdefizite fest und machte Vorschläge für künftige Ansätze. So sollte ihrer Meinung nach untersucht werden, inwieweit die Funktionalität des Lesens im Altersverlauf und die formale Bildung miteinander korrelierten. Sie stellte sich auch die Frage, inwiefern die persönlichen Lebensbedingungen eine Rolle spielten, wenn es um die Entscheidung für oder wider das Lesen geht. Da ihrer Ansicht nach Mediennutzung von der Nutzungshäufigkeit und inhaltlichen Präferenzen abhing, wünschte sie sich für künftige Untersuchungen, beide Faktoren zu koppeln. Für die Zukunft war es ihr außerdem ein Anliegen festzustellen, wie sich zum einen individuelle Lebensbedingungen und Gattungspräferenzen und zum anderen situative Faktoren und Mediennutzung gegenseitig bedingten. Auch der Einfluss der kommunikativen Gewohnheiten auf das Leseverhalten sollte stärker analysiert werden.68 Bonfadelli merkte 1998 positiv an, dass Lese- und Leserforschung vom Buch auf die Printmedien ausgedehnt wurde und zusätzlich verstärkt den gesamten medialen Kanon einbezog. Er kritisierte allerdings, dass es kaum makrotheoretische Untersuchungen gibt, welche der Stellung des Buchs im Gesellschafts- und Mediensystem nachgehen, mediale Beziehungen verdeutlichen und Möglichkeiten der Buch- beziehungsweise Kulturförderung aufzeigen. Nach Ansicht Bonfadellis ist die Forschungssituation defizitär und zu stark deskriptiv. Zudem sei die Forschung von normativen Vorstellungen über ›richtiges‹ Lesen geprägt.69 »Dementsprechend sollten sich die künftigen Untersuchungen zum Leseverhalten […] von der monodimensionalen Perspektive lösen und verstärkt der wachsenden multimedialen Einbindung des Lesens Rechnung tragen und diese im Rahmen von transdisziplinären Perspektiven zu erhellen versuchen.«70 Bei der Auswahl der im Folgenden vorgestellten Studien liegt keine Wertung vor, vielmehr wurde versucht, Untersuchungen zu bestimmen, welche für die bereits im Theorieteil klassifizierten Forschungsschwerpunkte repräsentativ waren. Da die Studien in der Regel nie einseitig nur einer Fragestellung nachgingen, wurden sie anhand ihrer zentralen Fragenkomplexe zugeordnet. Die empirischen Untersuchungen werden nachfolgend jeweils kurz anhand ihrer Zielsetzung und Fragestellungen vorgestellt, die wichtigsten Ergebnisse zusammengefasst und auf ihren theoretischen Hintergrund hin bewertet. 68 69 70
Vgl. Fritz: Lesen im Medienumfeld, S. 9–97. Vgl. Bonfadelli: Theoretische und methodische Anmerkungen, S. 79–87. Bonfadelli, S. 78–89, hier S. 87.
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3.1 Empirische Untersuchungen im Bereich der Lese- und Leserforschung 3.1.1 Lesemotivations- und Lesewirkungsforschung Zielsetzung und Fragestellungen
Um die Erlebnisweisen der Buchlektüre ging es bei einer im Jahr 2005 durchgeführten Repräsentativbefragung in Kooperation von Börsenverein des Deutschen Buchhandels, ZDF und forsa.71 Ausgehend von einer zwei Jahre zuvor organisierten Untersuchung im Zusammenhang mit den Erlebnisweisen des Fernsehens sollte deutlich werden, ob es unterschiedliche Modi des Erlebens bei der Nutzung der Medien Fernsehen und Buch gibt. Zentrale Fragestellungen im Zusammenhang mit Büchern waren, was Nutzer mit dem Buch konkret verbinden und was sie beim Lesen erleben. Sie sollten damit angeben, welche Gratifikationen sie bei der Buchlektüre erhielten.72 »In diesem Zusammenhang interessiert auch die Frage, inwieweit die Erlebnisweisen unterschiedlicher Mediennutzungen wie zum Beispiel Lesen und Fernsehen in Konkurrenz zueinander stehen, sich substituieren oder komplementär erlebt werden.«73 Im Jahr 2008 führte die Stiftung Lesen die Studie »Leseverhalten in Deutschland 2008« durch.74 Ziel war es, Veränderungen und Konstanten im Vergleich zu den Vorgängerstudien aus den Jahren 1993 und 200175 offenzulegen. Im Fokus stand dabei das Lese- und Medienverhalten der Deutschen. Hierbei wurde nach der generellen Lesekultur und dem Verhältnis zwischen gedruckten und elektronischen Medien gefragt: »Die ›Gutenberg-Galaxis‹ ist nicht am Ende, sie unterliegt aber tiefgreifenden Veränderungen. Hier liefert die Studie Zahlen, die einen Blick in die Zukunft des Lesens wagen.«76 Dafür wurden unter anderem folgende Themenkomplexe abgefragt: Bewertung von Freizeitaktivitäten, Häufigkeit 71 72 73 74 75
76
Hierbei wurden insgesamt 852 Personen befragt, wobei die Daten von 757 Befragten zur Auswertung herangezogen werden konnten. Vgl. Dehm u. a.: Bücher – ›Medienklassiker‹, S. 521–534, hier S. 521f. Dehm u. a., S. 521. Das Projekt gliederte sich in zwei Phasen: Im Januar und Februar 2008 fand zunächst bei 47 Personen eine Vorstudie statt, im Mai und Juni folgten 2 522 Interviews. Stiftung Lesen (Hrsg.): Leseverhalten in Deutschland 1992/93. Repräsentativstudie zum Lese- und Medienverhalten der erwachsenen Bevölkerung im vereinigten Deutschland. Mainz: Stiftung Lesen 1993. Stiftung Lesen (Hrsg.): Leseverhalten in Deutschland im neuen Jahrtausend. Eine Studie der Stiftung Lesen. Hamburg/Mainz: Spiegel/Stiftung Lesen 2001 (Schriftenreihe Lesewelten 3). Stiftung Lesen: Leseverhalten in Deutschland, S. 6.
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und Zeitaufwand bei der Nutzung verschiedener Medien, Anzahl der pro Jahr gelesenen Bücher, Korrelation von Genre und Nutzungshäufigkeit, Buchnutzungsmotive, Lesestrategien, Bewertung des Lesens, Lesesozialisation sowie Computer- und Internetnutzung.77 Ergebnisse
Speziell die Gratifikationen, welche mit der Buchlektüre einhergehen, zeigte die Untersuchung der Erlebnisweisen aus dem Jahr 2005 auf. Damit konnten fünf Erlebnisdimensionen festgestellt werden: Emotionalität, Orientierung, Ausgleich, Zeitvertreib und soziales Erleben. Es wurde deutlich, dass die Befragten mit dem Lesen vor allem die Dimension der Emotionalität verbinden. Lesen machte Spaß und führte zu Entspannung und Abwechslung. Die Dimension Orientierung wurde ebenfalls als sehr wichtig eingestuft. So wollten die zur Untersuchung herangezogenen Personen beim Lesen etwas lernen, Anregungen und Stoff zum Nachdenken erhalten und sich über Bücher eine Meinung bilden. Bei der Komponente Ausgleich gaben die Befragten an, beruhigt und abgelenkt zu werden, beim sozialen Erleben nannten sie Gründe wie das Dazugehören, im Alltag-Zurechtfinden oder das Empfinden von Freundschaft für Romanfiguren. Mit unterschiedlichen Genres gingen zudem variierende Erlebnisqualitäten einher. So wurden mit Frauenliteratur, Romanen und Krimis vor allem emotionale Faktoren verbunden, während Autobiographien und Sachbücher der Orientierungsdimension zugeordnet wurden. Gleichwohl war das emotionale Erleben bei der Sachbuchlektüre durchschnittlich hoch. Im direkten Vergleich zwischen den Medien Buch und Fernsehen gaben die Befragten an, das Lesen als vielfältiger und tiefer zu empfinden. Die Dimension Emotionalität wurde eher beim Lesen als beim Fernsehen erfahren. Das bedeutet, dass mehr Menschen angaben, Bücherlesen mache Spaß als im umgekehrten Fall das Fernsehen. Im Bereich der Orientierungshilfe war eine Angleichung der beiden Medien zu bemerken. Die Erlebnistiefe variierte altersspezifisch: Jüngere Personen empfanden die Erlebnisweisen beim Fernsehen und Lesen ähnlich und verbanden damit vor allem emotionale Werte, während ältere Personen angaben, das Lesen gegenüber dem Fernsehen tiefer zu empfinden. Unterschieden nach Geschlechtern war bei Frauen die Erlebnisintensität beim Lesen höher als 77
Vgl. Stiftung Lesen, S. 146–215.
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beim Fernsehen. Zudem schrieben die weiblichen Befragten beiden Nutzungsvarianten eher variable Erlebnisweisen zu als Männer. Je häufiger gelesen wurde, desto größer war die Erlebnistiefe beim Lesen. Häufige Lektüre ging mit starker emotionaler Beteiligung einher, gleichzeitig war der Orientierungswert bei Viel- und Weniglesern vergleichbar hoch. Bei Vielsehern stellte es sich umgekehrt dar: Die Erlebnistiefe war bei ihnen beim Fernsehkonsum größer. Aus diesen Ergebnissen konnten Lesetypologien gebildet werden. Der überwiegende Teil der Befragten zählte zu den sogenannten zurückhaltenden Orientierungslesern. Die informationssuchenden Selektivleser standen an zweiter, die habituellen Wellnessleser an dritter und die begeisterten Kompensationsleser an letzter Stelle. Letztere waren beim Lesen besonders involviert und zeichneten sich durch starkes soziales Erleben aus: »Sie schätzen in hohem Maße […] dass sie beim Lesen am Leben anderer teilhaben können, bauen freundschaftliche Beziehungen zu den Protagonisten der Lektüre auf und erleben das Gefühl, in das Buchgeschehen einzutauchen, quasi dazuzugehören.«78 Die habituellen Wellnessleser suchten im Lesen vor allem Ausgleich und Zeitvertreib. Lesen bedeutete für diese Gruppe Gewohnheit. Informationssuchende Selektivleser wollten beim Lesen in erster Linie etwas lernen. Die größte Gruppe, nämlich die der zurückhaltenden Orientierungsleser, empfand im Vergleich alle Erlebnisdimensionen als relativ unwichtig. Die Angehörigen dieses Bereichs lasen vergleichsweise wenig und hatten keine Genrepräferenzen. Damit konnten zwei Haupterkenntnisse gewonnen werden: Lesen und das damit verbundene Erleben variiert je nach Geschlecht und Alter und hebt sich in seiner Erlebnistiefe vom Fernsehen ab. Gleichzeitig ist dieses tiefe Empfinden nicht bei allen Lesern gleichermaßen gegeben, sondern es bestehen neben stark involvierten Personen auch solche, welche sich anders klassifizieren.79 »Leseverhalten in Deutschland 2008« konnte verdeutlichen, dass die Kluft zwischen viel lesenden und nicht beziehungsweise kaum lesenden Personen nach wie vor besteht, dass allerdings im Vergleich zu »Lesen in Deutschland im neuen Jahrtausend« die Zahl der täglich lesenden Personen leicht zugenommen hat und die der nie Lesenden etwas zurück gegangen ist. Dennoch haben 25 % der Befragten angegeben, nie ein Buch zu lesen. Es zeigte sich zudem eine Diskrepanz zwischen persönlich empfundener Wichtigkeit und tatsächlicher Häufigkeit der Nutzung von Bü78 79
Dehm u. a.: Bücher – ›Medienklassiker‹, S. 531. Vgl. Dehm u. a., S. 522–534.
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chern. Während beispielsweise die Bedeutung der Lektüre von Sach- und Fachbüchern sowie von Belletristik als hoch eingeschätzt wurde, lag die Lesepraxis niedriger. Hierbei ist zudem ein deutlicher Unterschied zwischen den Geschlechtern auszumachen: Die Wichtigkeit und tatsächliche Nutzung von Belletristik sind bei Frauen prozentual wesentlich höher als bei Männern. Bei der Bewertung der Wichtigkeit von Freizeitbeschäftigungen wurde an erster Stelle das Fernsehen genannt. Vor allem bei jüngeren Personen unter 30 Jahren hatten sich die Lesestrategien hin zum Lesezapping80 und der Parallel-Lektüre81 verändert. Im Rückschluss wirkt sich dies auch auf die tägliche Buchlektüre und die Zahl der jährlich gelesenen Bücher aus: Während tägliches Lesen zugenommen hatte, war beim Lesen über das Jahr verteilt ein Rückgang zu verzeichnen. Bücher sollten spannend, aber zugleich realistisch sein, das Lernen erleichtern und zum Denken anregen. Das Eskapismus-Motiv, das sich an der Aussage ablesen lässt, dass Bücher in eine andere Welt versetzen sollen, wurde erst an elfter Stelle genannt. Deutlich wurde auch, dass es sechs verschiedene Lesetypen gibt, die sich anhand der generellen Mediennutzung, Lesehäufigkeit, Einstellungen zum Lesen und Stellenwert von Büchern unter Koppelung soziodemographischer Daten ausmachen lassen: »Lesefreunde« erachten Bücher als gute Freunde, »Informationsaffine« sehen im Lesen die Informationsaufnahme und »Vielmediennutzer« stellen den Inhalt in den Vordergrund, so dass es ihnen nicht auf die Vermittlung über ein spezifisches Medium ankommt. »Elektronikaffine Mediennutzer« lesen gerne online, »Medienabstinente« bezeichnen Bücher als Ballast und »Leseabstinente« empfinden längeres Lesen als anstrengend. Ein wesentliches Ergebnis war zudem, dass bei einer zunächst befürchteten Konkurrenzsituation zwischen elektronischen und gedruckten Publikationen kein Ende des gedruckten Buchs zu erkennen war. Tatsächlich wurden dem Buch eigene Spezifika zugeschrieben, die ihm ein Alleinstellungsmerkmal zuerkennen.82 »Medientheoretisch wie in der Praxis des Lesens ist also kein Ende des Buches in Sicht. Es wird aber zusätzliche Varianten der Speicherung bzw. Vermittlung geben, damit verbunden ein digitaler Mehrwert, der in Teilbereichen zu einem Argument für die Substitution des traditionellen, gedruckten Buches werden kann.«83 80 81 82 83
Hierunter ist eine Leseweise zu verstehen, wobei der Text eher auf die wichtig scheinenden Elemente hin überflogen wird. Dabei handelt es um eine Lektürepraxis, wobei mehrere Bücher nebeneinander gelesen werden. Vgl. Stiftung Lesen: Leseverhalten in Deutschland, S. 15–78. Stiftung Lesen, S. 78.
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Bewertung
Beide Untersuchungen zusammen liefern einen guten Einblick in die Teilbereiche Lesemotivationsforschung und Lesewirkungsforschung. Die Studie der Stiftung Lesen deckt stärker die Motive für das Lesen auf, während die Abfrage nach Erlebnisdimensionen in Ansätzen auch Hintergründe für mögliche Wirkfaktoren des Lesens aufzeigt. Die beiden Analysen lassen sich jedoch in eine Vielzahl ähnlich angelegter Studien einordnen, zählt doch die Frage nach dem Warum des Lesens zu den elementarsten und damit auch, scheinbar, am besten erforschten. Bedingt durch den sich allmählich durchsetzenden Uses & Gratifications-Ansatz, wurden Ende der 1970er Jahre verstärkt Funktionen und Nutzungsmotive aller Medien im Verbund hinterfragt. Man sah das Lesen in Kontext- und Kommunikationsstrukturen eingebunden. Durch veränderte Bedingungen fanden die mediale Vielfalt und das konkurrierende Freizeitangebot Eingang in die Untersuchungen. Auch dem kindlichen Umgang mit Medien wurde verstärkt nachgegangen. Aus diesem Grund sprach man vermehrt von einer reichhaltigen Forschungslage.84 Die dem Lesen, und damit in erster Linie dem Lesen von Büchern, zugeschriebenen Funktionen und Motive sind demnach relativ klar. Sie unterscheiden sich jedoch nur kaum von denen anderer Medien, lediglich die Erlebnistiefe, wie bei der entsprechenden Studie aufgezeigt, variiert von Medium zu Medium und von Nutzer zu Nutzer. Was weiterhin als Forschungsdesiderat aufzuspüren ist, bleibt das Verknüpfen von Motivdimensionen mehrerer Medien. Dies lässt sich mit der nach wie vor bestehenden mangelnden Kooperation der Disziplinen begründen. Die Untersuchung von Börsenverein des Deutschen Buchhandels, ZDF und forsa, welche Buch- und Fernsehnutzung einander gegenüberstellt, unternimmt hier einen ersten Schritt, allerdings könnte man kritisieren, dass die Studie nicht weitergeht und nach wie vor auf die seit dem Aufkommen des Fernsehens bestehende Konkurrenzsituation zwischen TV und Buch eingeht. Allerdings lässt sich dagegen anbringen, dass es hierbei vor allem darum ging, zu klären, inwieweit sich das Fernsehen als beliebtestes Medium definieren kann und worin sich die Nutzungsmotive bei der Buchlektüre unterscheiden. Die Analyse deckte auf, dass die Beliebtheit des Fernsehkonsums nicht mit größerer Erlebnistiefe gegenüber dem Lesen einherging, sondern mit dem damit verbundenen geringeren persönlichen Aufwand:
84
Vgl. Kübler: Leseforschung, S. 187–196.
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Das Lesen von Büchern setzt ungleich mehr Aktivität voraus als das Einschalten des Fernsehgerätes, die Entscheidung für eine Sendung und das Sehen der Sendung. Das Lesen eines Buches erfordert Einsatz und Engagement im Sinne von Besorgen eines Buches, der Entscheidung, dieses Buch zu lesen. Der Lesevorgang selbst ist mit höherem Aufwand verbunden als fernzusehen. […] Der größere Aufwand für Bücher muss folgerichtig auch durch eine hohe Gratifikationserwartung, vielfältige und vor allem lohnende Erlebnisqualität begründet sein.85
Nach wie vor scheint die Lektüre von Büchern im Vordergrund zu stehen. Nicht der Umgang mit den Medien im Medienverbund wird untersucht, sondern das Lesen in Konkurrenz zu anderen Medien. Durch diese einseitige Gegenüberstellung wird so gut wie nie86 die Vielfalt der Nutzungsmotive offenbar. Damit bleibt auch unklar, was Nutzer konkret mit den verschiedenen Medien verbinden und in welchen Situationen sie welches Medium präferieren und warum. Ein Erklärungsversuch könnte so aussehen, dass ein Zuviel an Fragestellungen zu nur oberflächlichen Ergebnissen führen kann und dass die Fülle an Daten Schlussfolgerungen möglicherweise erschwert. Hier wäre jedoch wieder die Forderung nach einer kooperativen Zusammenarbeit der Disziplinen anzubringen, so dass aus den Teilbereichen Gesamtergebnisse gebildet werden könnten. Lesen wird zudem nach wie vor mit Bücherlesen assoziiert. So wurde bei »Lesen in Deutschland 2008« danach gefragt, inwieweit die Aussage »Mit dem Begriff Lesen verbinde ich spontan Bücher« Zustimmung findet. Hier gab es kaum Unterschiede zwischen Personen, die gerne online lesen und solchen, die dies nicht gerne tun.87 Ein weiteres Manko ist zudem bei der Frage nach den Wirkungen des Lesens gegeben, was an der uneinheitlichen Klassifikation des Begriffs ›Wirkung‹ liegt.88 Am besten erforscht sind literaturwissenschaftlich orientierte Fragen nach Involvement und Identifikation. Unklarheiten herrschen jedoch nach wie vor bei kognitiven Aspekten, das heißt beispielsweise Einstellungsänderungen im Vergleich zur Situation vor der Lektüre. Dies hängt vermutlich vor allem damit zusammen, dass sich Fragen diesbezüglicher Art nur schwer messen lassen. Hieraus ließen sich aber auch die für die weitere Forschung und das tiefer gehende Verständnis medialer Nutzung interessante Ansichten gewinnen.
85 86 87 88
Dehm u. a.: Bücher – ›Medienklassiker‹, S. 525. Eine Ausnahme dürften die seit 1964 stattfindenden Langzeitstudien zur Mediennutzung und Medienbewertung darstellen. Vgl. Stiftung Lesen: Leseverhalten in Deutschland, S. 78. Vgl. Schön: Buchnutzungsforschung, S. 119.
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3.1.2 Rezeptive Lese- und Buchnutzungsforschung Zielsetzung und Fragestellungen
Aufgrund einer veralteten Schätzung der UNESCO aus dem Jahr 1981, bei der von drei Millionen Analphabeten ausgegangen worden war, wurde 1994 in acht Ländern die »Internationale Untersuchung der Grundqualifikationen Erwachsener« durchgeführt. Für Deutschland standen insgesamt 2 061 Fälle zur Verfügung. Neben der Aktualisierung der veralteten Zahlen ging es darum, die unscharfe Grenze zwischen alphabetisierten Personen und Analphabeten aufzulösen.89 »Ausgehend von Nordamerika hat die Bildungsforschung in den letzten Jahren zeigen können, daß ein solcher Ansatz, der auf eine Abgrenzung zwischen ›Alphabetisierten‹ und ›Analphabeten‹ verzichtet bzw. diese Grenze je nach Person und Kontext variabel hält, zu inhaltlich wesentlich fruchtbareren Erkenntnissen führt als die Suche nach Analphabetenquoten, die sich im Nebel von Dunkelziffern verselbständigt.«90 Gleichzeitig sollte stärker berücksichtigt werden, dass unterschiedliche Textformate variable Herangehensfähigkeiten verlangten. Davon ausgehend wurde von fünf Fähigkeitsstufen des Leseverständnisses ausgegangen. Diese steigerten sich vom Auffinden von Einzelinformationen hin zu einer größeren Zahl an Hinweisen, welche zueinander in Beziehung zu setzen waren. Der Abstraktionsgrad nahm von Stufe zu Stufe immer stärker zu und im letzten Fähigkeitsniveau war gegebenenfalls das Hinzuziehen speziellen Hintergrundwissens vonnöten, um die im Text gegebene Information verstehen zu können.91 Im Jahr 2000 führte das Programme for International Student Assessment (PISA) eine internationale Schulleistungsstudie bei 15-Jährigen Schülern durch.92 Das Ziel war, vergleichbare Datengrundlagen der Bil89
90 91 92
Allerdings wird gegenwärtig wieder sowohl auf die seit Jahren geltende Zahl von mittlerweile vier Millionen Analphabeten als auch auf die Differenzierung zwischen Alphabetisierten und Analphabeten zurückgegriffen: »[…] gleichzeitig wird am 8. September weltweit der Alphabetisierungstag der Vereinten Nationen begangen, und der Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung macht deshalb darauf aufmerksam, dass heute in Deutschland vier Millionen Erwachsene funktionale Analphabeten sind: Sie sind ihrer Schulpflicht zwar nachgekommen, aber ihre Lese- und Schreibkünste gleichen denen von Schulanfängern.« Thadden: Schule des Lesens, S. 59. Lehmann: Wie gut können Deutsche lesen?, S. 126–136, hier S. 127. Vgl. Lehmann, S. 126–131. Auch wenn die Studie im Jahr 2006 bereits zum dritten Mal durchgeführt wurde, soll an dieser Stelle ausschließlich auf PISA 2000 eingegangen werden, da mit dieser Untersuchung wichtige Grundüberlegungen getroffen wurden und die Lesekompetenz im Zentrum stand.
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dungssysteme für die Mitgliedsstaaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zu erstellen. Hierbei wurden Basiskompetenzen wie Lesekompetenz sowie mathematische und naturwissenschaftliche Grundbildung abgefragt. Es ging somit nicht um Faktenwissen, sondern darum zu sehen, inwieweit die Schüler über Kompetenzen verfügten, welche sie zur Teilhabe am gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Leben befähigten. Gleichzeitig sollten außerschulische Lern- und Lebensbedingungen aufgezeigt werden, um zu verdeutlichen, ob ein Zusammenhang zwischen Schichtzugehörigkeit und Bildungserfolg besteht. Im Folgenden soll es speziell um die Fragestellungen bezüglich der Lesekompetenz gehen. Dabei wird in Anlehnung an die Bezeichnung ›Reading Literacy‹ ein Verständnis von Lesekompetenz als grundlegender Form des kommunikativen Umgangs mit der Welt, aktiver Auseinandersetzung mit Texten und Interaktion zwischen Textbedeutung und Vorwissen des Lesers zu Grunde gelegt. Da im Fokus der verstehende Umgang mit Texten stand, wurden die Verstehensleistungen beim Arbeiten mit den Texten erfasst. Gleichzeitig wurde untersucht, inwieweit die Schüler in der Lage sind, Textinhalte zu behalten und sich zu Eigen zu machen und inwiefern sie somit sinnvolle Textrepräsentationen für sich erstellten. Dazu hatten die Schüler die Aufgabe, Fragen zu Texten zu bearbeiten, ohne nochmals auf dieselben zurückgreifen zu können.93 An Texttypen standen sogenannte kontinuierliche Texte wie Erzählungen, Beschreibungen, Anweisungen und Argumentationen zur Verfügung, bei nicht-kontinuierlichen Texten handelte es sich beispielsweise um Tabellen, Anzeigen, Formulare und Karten. Bei der Konzeption der Aufgaben wurden textimmanente und wissensbasierte Verstehensleistungen voneinander unterschieden. Die Schüler mussten somit Informationen ermitteln, textbezogen interpretieren oder reflektieren und bewerten. Die Informationen waren damit entweder allein aus dem Text zu gewinnen oder über eigene Schlussfolgerungen anhand des Textes und eigenem Wissen, welches mit der Textinformation in Bezug gesetzt wurde. Insgesamt wurden fünf sogenannte Kompetenzstufen unterschieden: 1. Informationen lokalisieren, 2. Informationen auffinden, was durch konkurrierende Hinweise erschwert wurde, 3. Einzelinformationen herausfiltern und aufeinander beziehen, was ebenfalls durch zusätzliches Informationsangebot beein93
Hierbei handelte es sich um den nationalen Lesekompetenztest, welcher das Lernen aus Texten untersuchte. Dabei sollte überprüft werden, ob der verstehende Umgang mit Texten und das Lernen aus Texten voneinander abzugrenzende Teilfähigkeiten bilden.
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trächtigt wurde, 4. Informationen bei unbekanntem Textinhalt und fremder Textform ausmachen und 5. tief eingebettete Informationen ausmachen, geordnet wiedergeben, wobei Textinhalt und -form nicht bekannt waren und die Informationen Aufgabengemäß zu interpretieren waren.94 Ergebnisse
Der überwiegende Prozentsatz der Getesteten der »Internationalen Untersuchung der Grundqualifikationen Erwachsener« ließ sich den Fähigkeitsstufen zwei und drei zuordnen, immerhin ein Achtel war noch den beiden höchsten Stufen zurechenbar. Im Zusammenhang mit den Einflussfaktoren Bildungsabschluss, Berufsgruppe und Einkommensgruppe zeigte sich, dass Leseschwache vor allem bei Befragten ohne Schulabschluss anzutreffen waren. Bei der Frage danach, welche Bedeutung die Lesefähigkeit für das individuelle und kollektive wirtschaftliche Wohlergehen der Deutschen habe, zeigte sich, dass in Deutschland eine weniger große Kluft zwischen ausgezeichneter und mangelnder Lesefähigkeit herrschte als beispielsweise in Nordamerika. Abhängig vom formalen Bildungsabschluss wurde davon ausgegangen, dass eine grundlegende Lesefähigkeit bei allen Abschlüssen gegeben sei. Allerdings variiere diese je nach erworbenem Bildungsgrad. Teilweise seien andere Bildungselemente neben dem Lesen oder berufsbezogene Qualifikationen in der Lage, die Lesefähigkeit zu ersetzen. Damit wurde deutlich, dass die Lesesozialisation und der Erwerb der Lesefähigkeit in der Schule nicht abgeschlossen seien, sondern darüber hinaus weitergehende Förderung verlangten, welche auf individuellen Anstrengungen basierte und auf Mesoebene erfolgen sollte.95 Die PISA-Studie ergab, dass der Anteil derjenigen Jugendlichen in Deutschland, deren Fertigkeiten im Umgang mit Texten unterhalb der Kompetenzstufe 1 liegen, vergleichsweise groß ist. Besonders das Reflektieren und Bewerten von Texten fiel den deutschen Schülern schwer. Zudem war der Abstand zwischen leistungsstarken und -schwachen Schülern relativ groß. Die leistungsschwächsten Schüler in Deutschland hatten im internationalen Vergleich größere Schwierigkeiten beim Lesen als entsprechende Schüler anderer Länder. Im unteren Bereich der Kompetenzstufen waren somit große Schwächen zu verzeichnen, während die Leistungen im oberen 94 95
Vgl. Deutsches PISA-Konsortium: PISA 2000, S. 70–89. Vgl. Lehmann: Wie gut können Deutsche lesen?, S. 129–136.
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Kompetenzbereich den durchschnittlichen internationalen Ergebnissen entsprachen. Schülerinnen und Schüler, deren Kenntnisse unter Kompetenzstufe 1 lagen, stammten jedoch nicht ausschließlich aus Familien mit Migrationshintergrund, sondern der überwiegende Teil dieser Gruppe war ebenso wie seine Eltern in Deutschland aufgewachsen. Leseschwache Jugendliche blieben in der Regel von den Lehrkräften unerkannt, sodass schulische Förderung an dieser Stelle nicht erfolgte. Verglichen nach den Schultypen Hauptschule, Realschule, Integrierte Gesamtschule und Gymnasium zeigte sich, dass der Anteil an Schülern mit mangelnder Lesekompetenz besonders in Hauptschulen, aber auch innerhalb von Integrierten Gesamtschulen und Realschulen auffallend hoch war. So war ein Viertel der Hauptschüler nicht in der Lage, Aufgaben der niedrigsten Kompetenzstufe zu lösen. Die mittleren Leistungen lagen bei Gymnasiasten oberhalb des internationalen Durchschnitts. Die Untersuchung zeigte weiterhin eine negativ geprägte Einstellung bei den 15-Jährigen zum Lesen auf, weshalb sie häufig angaben, nicht zum Vergnügen zu lesen. Dies übte wiederum Einfluss auf die Lesekompetenz aus, da die Studie als Grundvoraussetzungen zum Erwerb der Lesekompetenz kognitive Grundfähigkeit, Lernstrategiewissen, Decodierfähigkeit und Leseinteresse ausmachte.96 Schülerinnen und Schüler mit ausgeprägter Lesekompetenz verfügen über ein hohes Maß an kognitiver Grundfähigkeit, sind in der Lage, die korrekte Bedeutung von Sätzen schnell zu erfassen […], verfügen über ein breites Wissen hinsichtlich der Effektivität und Anwendbarkeit von Lernstrategien […] und haben Interesse am Lesen. Diese Schülermerkmale sind sowohl beim verstehenden Umgang mit Texten […] als auch beim Lernen aus Texten […] bedeutsam. Für ein tieferes Textverständnis […] sind zusätzlich ein breites inhaltliches Vorwissen zum Thema des Textes sowie inhaltliches Interesse am Thema erforderlich.97
Bewertung
Nach wie vor bestehen im Bereich der rezeptiven Buchnutzungsforschung begriffliche Unschärfen, wenn es darum geht, die persönlichen Voraussetzungen, welche zum Aneignen von Texten notwendig sind und die Komplexität der verborgenen Informationen zu bewerten. So wird von Lesefertigkeit, Lesefähigkeit oder Lesekompetenz gesprochen und dabei alles gleichgesetzt. Die »Internationale Untersuchung der Grundqualifikationen Erwachsener« arbeitet mit fünf Fähigkeitsstufen, die PISA-Studie dem96 97
Vgl. Deutsches PISA-Konsortium: PISA 2000, S. 103–131. Deutsches PISA-Konsortium, S. 69–134, hier S. 131.
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gegenüber mit fünf Kompetenzstufen. Bei beiden Analysen zeigt sich, dass es unterschiedliche Aufwandsgrade beim Auffinden und Interpretieren der Informationen gibt. Groeben versucht, dieses Problem zu beheben und entwickelt den Begriff der Lesekompetenz aus einer gesellschaftlichen Perspektive heraus, indem er im Zuge der Mediengesellschaft das Zusammenspiel der Medien und damit die Qualität des persönlichen Umgangs mit den Medien in den Blickpunkt stellt. Er klassifiziert Fertigkeiten und Fähigkeiten als Teilbereiche von Kompetenz. Damit stellt letztere die höchste zu erlangende Ebene dar. »Es geht bei Kompetenzen um ein individuelles Potenzial dessen, was eine Person unter idealen Umständen zu leisten im Stande ist […], wobei sich dieses Potenzial in konkreten Situationen als spezifisches Verhalten bzw. Handeln manifestiert.«98 Fertigkeiten meinen situations- und aufgabenbezogene Verhaltensweisen, während Fähigkeiten universelle und stabile Konstrukte sind. Kompetenz stellt damit ein Gebilde dar, welches auf ideale Weise gegebene Fähigkeiten mit situativ-variablen Fertigkeiten zu koppeln in der Lage ist.99 »[…] Lesekompetenz lässt sich nicht sinnvoll als angeborene Ausstattung modellieren, sondern ist als Ergebnis von Sozialisation zu verstehen, in der interindividuell unterschiedliche Dispositionen (Persönlichkeitseigenschaften), bereits erworbene (schrift-)sprachliche Rezeptionsfähigkeiten und neue Situationsanforderungen der Lektüre miteinander interagieren.«100 Dieser Kompetenz-Begriff ist im Vergleich zu demjenigen der PISAStudie neutraler. Während Ersterer individuelles Leistungsvermögen und persönliche Voraussetzungen thematisiert, geht es bei PISA um Erfolgschancen und Vorankommen. Der persönliche Erfolg wird gegen den wirtschaftlichen aufgewogen. Die Bezeichnung der Lesekompetenz als »Konstrukt«101 verdeutlicht die Abhängigkeit von einer Vielzahl von einander gegenseitig beeinflussender Elemente. Diese lassen sich als personale, soziale und text- sowie medienseitige Einflussfaktoren klassifizieren. Dabei hat vor allem die PISA-Studie gezeigt, dass die Motivation, sich überhaupt Texten zuzuwenden, eine entscheidende Rolle spielt: »Zudem sprechen die PISA-Befunde für die Notwendigkeit, motivationale Aspekte vermehrt zu berücksichtigen und insbesondere die intrinsische Lesemotivation gezielt zu fördern. Möglicherweise ist dies auch ein Weg, die be98 99
Groeben: Zur konzeptuellen Struktur, S. 11–21, hier S. 13. So ergibt beispielsweise die Fertigkeit des Klavierspielens kombiniert mit den Fähigkeiten Musikalität, Gedächtnis und Feinmotorik eine übergeordnete Kompetenz. 100 Hurrelmann: Prototypische Merkmale der Lesekompetenz, S. 275–286, hier S. 276. 101 Groeben: Zur konzeptuellen Struktur, S. 13
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stehenden Transferprobleme zu bewältigen und Programme zu entwickeln, die problemloser in den regulären Unterricht implementierbar sind.«102 Allerdings sollte es nicht nur Tests und Untersuchungen im Rahmen des Unterrichts verschiedener Schultypen geben, sondern ebenfalls Studien, welche den Umgang mit Texten im Alltag analysieren. Hier müsste durchaus zwischen verschiedenen Textsorten unterschieden werden, um die Varianz von Lesen aufzuzeigen: Zeitungen und Zeitschriften, Sach- und Fachbücher, Comics, verschiedenste Sorten belletristischer Texte im Bereich von Prosa, Lyrik, Drama, daneben Gebrauchstexte wie Schilder, Bedienungsanleitungen, Tabellen und dergleichen mehr. »Vielmehr geht es beim Konzept der Lesekompetenz um das Lesen generell, also aller möglichen Lektürestoffe, wenn auch für die von den Texten ausgehenden Rezeptionsanforderungen bisweilen eine heuristische Spezifizierung von unterschiedlichen Textsorten aus sinnvoll sein kann[.]«103 Außerdem wäre es sinnvoll, bei motivationalen Aspekten text- und medienseitigen Unterscheidungen nachzugehen. Denn mangelnde Lesefreude im Zusammenhang mit gedruckten Büchern muss nicht gleichzeitig fehlende Motivation auf Seiten von Periodika oder aber Hörbüchern104 bedeuten. Neben der Messung der Kompetenz im Umgang mit Drucktexten sollte auch ein Vergleich mit elektronischen Medien angestellt werden: Sind die Fähigkeiten und Fertigkeiten im Umgang mit dem Computer oder auch Computerspielen, CD-ROMs und Ähnlichem signifikant anders? Woran könnte das liegen?105 Denn eine Hierarchisierung zwischen Print- und elektronischen Medien scheint nicht mehr zweckmäßig. Zudem erscheinen viele buchbasierten Stoffe in anderen Medien, ohne dass die Fähigkeit, diese zu dechiffrieren, gewürdigt würde. Das heißt, die hierfür aufzubringende mediale Kompetenz wird noch nicht hinreichend untersucht. Dies spricht auch Wagner an, indem er die vier folgenden Thesen formuliert:
102 Streblow: Zur Förderung der Lesekompetenz, S. 275–306, hier S. 305f. 103 Groeben: Zur konzeptuellen Struktur, S. 12. 104 Unter Hörbuch ist an dieser Stelle ein Medium zu verstehen, welches in der Lage ist, andere mediale Formen und Präsentationsweisen wiederzugeben. Am stärksten ist derzeit die Umsetzung buchbasierter Stoffe verbreitet. Die variablen Inhalte lassen sich in Form der Lesung, des Hörspiels, der Dokumentation oder des Features präsentieren und variieren somit im Grad der Inszenierung. Weiterhin sind verschiedene Speichermedien von der Kassette über die CD bis hin zur MP3-CD möglich. Im Bereich der Kindermedien ist auf die Vielzahl der Hörspielproduktionen im Serienformat hinzuweisen, welche seit den 1970er Jahren auf dem Markt sind. Vgl. hierzu Rühr: Tondokumente. 105 Beispiele dafür, wie solche vielfältigen Forschungsansätze aussehen könnten, liefern Groeben/ Hurelmann: Lesekompetenz.
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1. Die aktive Auseinandersetzung mit Sach- und Gebrauchstexten ist methodisch auf die Arbeit mit Medien als (Denk-)werkzeugen nachgewiesen. 2. Bei der Beschäftigung mit Sach- und Gebrauchstexten muss man von einem erweiterten Textbegriff ausgehen, der neben ›nicht-kontinuierlichen‹ Texten auch animierte Grafiken, Filme usw. umfasst. 3. Die Literaturpädagogik muss in ihren Ansätzen und Methoden berücksichtigen, dass Kinder heute Literatur durch die Medien kennen lernen, bevor sie lesen können. 4. Audiovisuelle Medien haben viele klassische Funktionen der Literatur übernommen. Daher kann und muss ›Lesekompetenz‹ sich auch auf diese Textsorten beziehen.106
3.1.3 Lesesozialisationsforschung Zielsetzung und Fragestellungen
1989 richtete die Bertelsmann Stiftung einen eigenen Forschungsschwerpunkt zur Lesesozialisation mit drei Einzelprojekten ein: »Leseklima in der Familie«, »Lesen im Alltag von Jugendlichen« und »Lesekarrieren – Kontinuität und Brüche«. Die drei Untersuchungen zeichneten dabei Lesebiographien bis zum Alter von 29 Jahren nach und verdeutlichten, was notwendig sei, um Leser zu werden, was das Leser-Sein auszeichnete und was unternommen werden müsse, um Leser zu bleiben. »[Die Einzelprojekte] fragen nach der Rolle der Familie im Prozeß der Ausbildung der Lesemotivation und Lesepraxis von Kindern, nach den Bedingungen und Zusammenhängen von Leseerfahrungen, Lesestilen und Leseverweigerungen im Jugendalter und nach den Prozessen und Faktoren, die zu Leseabbrüchen bzw. zu Wiederaufnahmen des Lesens im weiteren Lebensverlauf führen.«107 Die Untersuchung »Leseklima in der Familie« ging der Problemstellung nach, inwieweit innerhalb von Familien die Freude am Buch und das Motivieren zum Buchlesen vermittelbar seien.108 Dies geschah vor dem Hintergrund der zunehmenden Medienvielfalt und der sich wandelnden sozialen Lebensbedingungen von Familien. Die familiären Bedingungen, Verhaltensweisen und Handlungen üben maßgeblichen Einfluss auf das kindliche Verhalten im Allgemeinen und das Bücherlesen im Speziellen aus. Die zentrale Fragestellung dabei lautete: »Welchen Beitrag leistet die Familie heute 106 Wagner: PISA und die Folgen [online]. 107 Hurrelmann/Hammer/Nieß: Leseklima in der Familie, S. 11–81, hier S. 11. 108 Dabei wurden 200 Familien mit Kindern im Alter von neun bis elf Jahren ausgewählt und mittels Fragebogen und Fallstudien im Zusammenhang mit der Fragestellung näher untersucht.
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zur Entwicklung habitueller Leser und Leserinnen in der heranwachsenden Generation?«109 Die Studie berücksichtigte dabei folgende Aspekte: Die Medienumwelt der Kinder, Leseförderung und -erziehung durch die Eltern, Lesesozialisation durch die Schule sowie generelle Bedingungen der familiären Interaktion und Kommunikation.110 Die zweite Studie des Projekts »Lesesozialisation«, »Lesen im Alltag von Jugendlichen«, fokussierte den Stellenwert des Lesens bei Jugendlichen Anfang der 1990er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland.111 Dabei wurde das Lesen in einem medialen Kontext gesehen, da die Jugendlichen mit jeglichem Medium spezifische Nutzungsbedingungen und Erwartungen verknüpften. Während Medien wie das Fernsehen eher in habitualisierter Form Gebrauch fanden, ergaben sich beim Lesen stärker individualisierte Nutzungsmuster. Die Untersuchung wollte die Bedingungen des Buchlesens verdeutlichen, indem sie danach fragte, ob überhaupt Lesestoff vorhanden und in welchem Grad Lesekompetenz ausgebildet sei, inwieweit die sozialen Faktoren der Lesesozialisation Eltern, Schule und Peer-Groups eine Lesebiographie ermöglichten und wie der individuelle Stellenwert des Buchs im Zusammenhang mit Freizeitgewohnheiten, Wertvorstellungen und Prioritäten eingestuft werde. Daraus ergaben sich zwei zentrale Fragestellungen: Welche Faktoren führen dazu, eine enge Beziehung zum Buch aufzubauen und welche Lesestile und -erfahrungen sind bei den Jugendlichen zu beobachten? Wie lässt sich somit trotz vielfältiger medialer Angebote und Freizeitaktivitäten eine Lesebiographie entwickeln und welche qualitativen Dimensionen werden dem Buchlesen zugeschrieben?112 Einen weiteren Schritt im Zusammenhang mit Erkenntnissen der Lesebiographie stellt die Untersuchung »Lesekarrieren – Kontinuität und Brüche« dar, welche ebenfalls von der Bertelsmann Stiftung in Auftrag gegeben worden war.113 Hierbei ging es darum, aufzudecken, wie sich »die individuelle Leseentwicklung, die Beziehung zu Büchern über die ver109 Hurrelmann/Hammer/Nieß: Leseklima in der Familie, S. 16. 110 Vgl. Hurrelmann/Hammer/Nieß, S. 16–20. 111 Die Untersuchung gliederte sich in zwei Phasen: Zunächst wurden Gespräche mit 100 Jugendlichen geführt. Die gewonnenen Erkenntnisse wurden dann auf einen Fragebogen übertragen. Diesen erhielten 466 Jugendliche im Alter von 13 bis 18 Jahren. Bei der Verteilung des Fragebogens wurde darauf geachtet, eine möglichst breite Streuung bei Alter, Geschlecht, formaler Bildung und geographischer Verteilung zu gewährleisten. 112 Vgl. Bonfadelli/Fritz: Lesen im Alltag von Jugendlichen, S. 10f. 113 Die Untersuchung stützt sich auf 936 Interviews mit Personen zwischen 14 und 29 Jahren: 368 mit kontinuierlichen Lesern, 211 mit Rückkehrern und 357 mit Abbrechern. Für die darauf folgende quantitative Untersuchung wurde mit 40 Tiefeninterviews gearbeitet.
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schiedenen Lebensphasen hinweg«114 entwickeln und die Gründe für den Abbruch einer Lesekarriere zu demonstrieren. Dabei wurde zwischen kontinuierlichen Lesern, welche nie für einen längeren Zeitraum vom Lesen abgekommen sind, Abbrechern, welche zu einem früheren Zeitpunkt intensive Leser waren und seit einigen Jahren nur noch wenig lesen und Rückkehrern, welche nach mehrjähriger Lesepause wieder das Lesen für sich entdeckt haben, unterschieden.115 Ergebnisse
»Leseklima in der Familie« zeigte, dass der überwiegende Teil der Kinder von neun bis elf Jahren gerne und häufig las. Daneben gab es jedoch auch eine große Gruppe derjenigen Kinder, welche von sich sagte, nicht gerne zu lesen. Lesehemmungen gingen häufig mit äußeren Umständen wie einem variablen Freizeitangebot neben dem Bücherlesen einher. Gleichzeitig wurde jedoch auch offenkundig, dass Bildungsgrad der Eltern und Leseverhalten der Kinder stark miteinander korrelierten. Kinder aus einer Familie mit geringerer formaler Bildung neigten eher dazu, andere mediale Angebote als das Buch, besonders das Fernsehen, zu nutzen, die Schule für das mangelnde Leseinteresse verantwortlich zu machen und weniger interessanten Lesestoff zu kennen. Vom Leseverhalten her war zu beobachten, dass die Mütter geringfügig mehr als ihre Kinder und diese wiederum mehr als ihre Väter lasen. Geschlechtspezifisch zeigte sich bei Kindern und Erwachsenen, dass männliche Leser mit der Buchrezeption eine kognitiv-intellektuelle Form der Textaneignung verbanden. Die Eltern und dabei vorrangig die Mutter dienten den Kindern als Lesevorbild. »Kinder entwickeln also ihre Lesebereitschaft und ihre Erfahrungen mit dem Bücherlesen im Zusammenhang einer gemeinsamen kulturellen Praxis in der Familie. Vor allem die gesprächsweise Einbindung des Lesens in der Form eines Austausches über Bücher, die die Kinder, aber auch die Erwachsenen gelesen haben, stellt eine wirksame Unterstützung der Leseentwicklung der Kinder dar.«116 Formale Bildung und Einkommenshöhe der Eltern bestimmten die Ausstattung mit Medien. So verfügten Familien mit höherem Einkommen zwar über mehr Mediengeräte, sie statteten gleichzeitig ihre Kinder aber seltener mit eigenem Fernsehen oder Com114 Köcher: Lesekarrieren – Kontinuität und Brüche, S. 221. 115 Vgl. Köcher, S. 216. 116 Hurrelmann/Hammer/Nieß: Leseklima in der Familie, S. 39.
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puter aus. Viellesende Kinder verbrachten auch viel Zeit mit der Nutzung anderer Medien. Insgesamt wurde deutlich, dass sich Lesekarrieren aus verschiedenen Medienumgebungen heraus entwickeln ließen: »Nicht nur in Familien, in denen das Buchlesen im Vergleich zum übrigen Mediengebrauch dominiert, finden wir Kinder, die gern lesen, sondern auch in Familien, in denen man sich einer Vielzahl von Medien intensiv zuwendet.«117 Im Zusammenhang mit dem Qualitätsniveau der Lektüre – unterschieden wurde nach Trivialliteratur, einfacher Unterhaltungsliteratur, guter Unterhaltungsliteratur und anspruchsvoller Unterhaltungsliteratur – konnte kein signifikanter Einfluss auf Lesefreude, -häufigkeit und -dauer festgestellt werden. Hieran lässt sich ablesen, dass eine Hierarchisierung der Lesestoffe zwar aus pädagogischer Sicht gerne vorgenommen wird, aber wenig sinnvoll scheint.118 Die Studie »Lesen im Alltag von Jugendlichen« verdeutlichte eine homogene Verbreitung der elektronischen Medien Fernsehen, Musikabspielgeräte, Computer, Videorecorder und CD-Player und zeigt gleichzeitig, dass in den Haushalten zwar in der Regel täglich aktuelle Printmedien wie Zeitungen und Zeitschriften zur Verfügung standen, dass der Buchbesitz jedoch im Vergleich zu Print- und elektronischen Medien reduziert war. Gleichzeitig nahm dieser mit geringerer formaler Bildung noch weiter ab. In der Schule waren Lesemedien vor allem dort vorhanden, wo sie auf höher gebildete und lesefreudige Schüler trafen. Im Zusammenhang mit der Mediennutzung wurde deutlich, dass elektronische Medien mehrheitlich täglich genutzt wurden, während die Häufigkeit des Lesens von Periodika zu Büchern immer weiter abnahm. Im Kontrast dazu stand das Ergebnis, dass Jugendliche zwar angaben gerne zu lesen, es tatsächlich aber nicht taten. Einstellung und Verhalten gingen damit auseinander. Insgesamt konnten je ein Drittel Vielleser, durchschnittliche Leser und Wenigleser ausgemacht werden. Im Zuge der medialen Vielfalt zeigte sich, dass elektronische Medien das Lesen eher behinderten, während sich Buchlesen und das Nutzen von sonstigen Printmedien gegenseitig positiv beeinflussten. Vielleser verfügten über eine höhere Lesekompetenz, sodass davon auszugehen war, dass mangelhaft ausgebildete Lesekompetenz den Zugang zum Buch erschwerte. Die Lesesozialisation in der Familie spielte eine entscheidende Rolle dabei, ob sich bei Kindern eine langfristige Bindung zum Buch entwickelte. Vielleser entstanden eher aus einem 117 Hurrelmann/Hammer/Nieß, S. 38. 118 Vgl. Hurrelmann/Hammer/Nieß, S. 30–45.
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lesefreundlichen familiären Milieu heraus, wobei es dabei auch Ausnahmen gab. Daneben beeinflussten Freunde das Leseverhalten. So zeigte die Studie, dass Vielleser vor allem zu Viellesern Kontakt hatten. Von Lesekonstanz ließ sich im Jugendalter noch nicht hinreichend sprechen, vielmehr war diese abhängig von Lesemotivation, situativen Aspekten und Lesekompetenz. Zu den liebsten Freizeitbeschäftigungen der Jugendlichen zählten Sport, Musik und Geselligkeit. Ein Drittel nannte das Lesen von Büchern als eine der drei liebsten Freizeitaktivitäten.119 Bei »Lesekarrieren – Kontinuität und Brüche« zeigte sich der Einfluss des sozialen Umfelds und der Entwicklung der gesamten weiteren Lebenssituation auf Lesekarrieren. Je stärker in der Kindheit das Leseinteresse gefördert und durch die Interessen von Eltern und Freunden gestützt wird, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß eine Lesekarriere nicht abgebrochen wird. Kontinuierliche Leser sind weitaus mehr als Abbrecher und auch Rückkehrer in ausgeprägt leseinteressierten Familien aufgewachsen; für diese Familien ist auch charakteristisch, daß die einzelnen Familienmitglieder ihre Interessen in hohem Maße miteinander teilten.120
Wenn Jugendliche zwischen 12 und 16 Jahren zunehmend weniger lasen, hatte das vier Hauptgründe: Eine Veränderung des sozialen Verhaltens, wobei der direkte Kontakt zu Gleichaltrigen als wichtiger empfunden wurde, gewandelte Interessen und Hobbys, die verstärkte Nutzung anderer Medien und mangelnde Freizeit. Die Abnahme der Leseintensität hatte allerdings nichts mit Frustrationserlebnissen in Verbindung mit der schulischen Pflichtlektüre zu tun, da Leser durchaus zwischen Pflicht- und Freizeitlektüre unterschieden. Auch das breite Zeitschriftenangebot trug nicht dazu bei, dass Buchlektüre durch das Nutzen von Periodika ersetzt wurde. Es zeigte sich, dass der Abbruch einer Lesekarriere nicht zwangsläufig das endgültige Abwenden von Büchern bedeutete. Ein erneutes Hinwenden zu Büchern war jedoch von der Lebenssituation und dem sozialen Umfeld abhängig. Für die Rückkehr zum Lesen wurden im Wesentlichen zwei Gründe genannt: Ein Zugewinn an frei verfügbarer Zeit und ein Angebot attraktiver Lesestoffe.121
119 Vgl. Bonfadelli/Fritz: Lesen im Alltag von Jugendlichen, S. 13–24. 120 Köcher: Lesekarrieren – Kontinuität und Brüche, S. 216f. 121 Köcher, S. 216–220.
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Bewertung
Das Projekt »Lesesozialisation« konzentriert sich auf die Buchlektüre und bezieht dabei alle buchtypischen Gattungen mit ein. Adaptionen in anderen medialen Formen werden ausgeklammert. Lesekompetenz dient dabei als Gradmesser der literarischen Entwicklung. Ein theoretischer Bezugsrahmen für das Lesen versucht möglichst alle Einflussfaktoren zu bündeln. So werden dabei gesellschaftliche und individuelle Rahmenbedingungen sowie die Faktoren Lesestoffe, Lesekompetenz, Lesemotivation und Freizeit- wie auch Medienumwelt mit einbezogen. Mediennutzung ganz allgemein und Buchlesen im besonderen werden durch gesellschaftliche Rahmenbedingungen auf vielfältige Art und Weise beeinflußt. Kindheit und Jugend sind gesellschaftlich definierte und konstruierte Entwicklungsphasen, die im Zusammenhang mit der obligatorischen Schulpflicht das Medium ›Buch‹ institutionell stark stützen. […] Neben den gesellschaftlichen sind immer auch individuelle Rahmenbedingungen und Lebensumstände von Bedeutung. Untersucht worden sind in diesem Bereich bis jetzt vor allem die Zusammenhänge zwischen bestimmten Wertstrukturen und der Nutzung von spezifischen Medien. Lesekompetenz und Lesemotivation wiederum beeinflussen direkt die Nachfrage nach Büchern, während auf der Angebotsseite einerseits Kenntnisse über, Zugang zu und Verfügbarkeit von Lesestoffen, andererseits der verfügbare Freizeitumfang und die Zugangsmöglichkeiten zu anderen medialen und nichtmedialen Freizeitangeboten eine wichtige Rolle spielen.122
Zudem differenziert das Projekt den Lesebegriff, indem die kindliche Lektüre nicht als bewusstes Handeln verstanden wird, sondern als Prozess, an dessen Ende feste Lesegewohnheiten und positive Gratifikationshaltungen für das Bücherlesen stehen. »Es handelt sich um ein ›Tun‹, das Intentionalität, unbewußte Motivation und die Übernahme kultureller Muster in unterschiedlicher Mischung in sich vereinigt.«123 Dieses Lesen als Tun wird in allen Teilbereichsstudien des Projekts durch qualitativ geprägte Fallstudien präsentiert. Vor allem die Untersuchung »Leseklima in der Familie« zeigt eine Besonderheit des Gesamtprojekts auf. Hier wird eine Momentaufnahme ohne pädagogische Richtlinien wiedergegeben. Es gibt somit keine Verhaltensanweisungen, sondern die Studie stellt die Fortsetzung der Forschungstradition im Rahmen der Lesesozialisation dar. Die praktischen Folgerungen bleiben damit aus. »Dies nicht etwa deshalb, weil keine Folgerungen zu ziehen wären oder die Ergebnisse unverbindlich bleiben sollen. […] [Sondern] weil gerade in diesem Feld, wenn man es empirisch bearbeitet, die Gefahr besonders groß ist, den Gegenstand nach einfachen Metho122 Bonfadelli/Fritz: Lesen im Alltag von Jugendlichen, S. 41f. 123 Hurrelmann/Hammer/Nieß: Leseklima in der Familie, S. 75.
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den zurechtzuschneidern und ihn damit bis zu Unkenntlichkeit zu banalisieren.«124 Es stellt sich hierbei jedoch die Frage, ob damit nicht der einfachere Weg gegangen wurde, indem, wie es Bonfadelli kritisierte, neue Ergebnisse rein deskriptiv in eine Forschungstradition integriert wurden, ohne Anweisungen zur praktischen Umsetzung zu liefern. Dies hätte mitnichten mit dem erhobenen Zeigefinger geschehen müssen, sondern in Form eines Ideenkatalogs passieren können. Interessanterweise vernachlässigen alle Teilstudien zur Lesesozialisation den Kindergarten als Sozialisationsinstanz neben personalen Bereichen wie Familie und Peer-Groups sowie institutionalen Ebenen wie Schule und Bibliothek. Lesen wird nach wie vor buchbasiert gesehen und ist oft mit qualitativen Merkmalen behaftet. Es geht eher um den ›richtigen‹ Lesestoff, als darum, dass überhaupt gelesen wird. Obwohl das Bücherlesen in einen medialen Kontext eingebettet wird, scheint das Buch nach wie vor als kulturelles Leitmedium zu dienen. Dies zeigt sich auch daran, dass die Umsetzung literarischer Stoffe in Form von Filmen oder Hörbüchern für Kinder nicht berücksichtigt wird. Die Untersuchungen betten das Lesen zudem nicht in einen kulturellen Kontext ein und bleiben damit auf der Mesoebene. Im Zusammenhang mit dem Computer wird versucht, den Antagonismus zwischen elektronischen und Printmedien aufzubrechen, allerdings werden die positiven Beeinflussungsmöglichkeiten beider medialer Formen noch nicht erkannt. Lesesozialisation zeigt sich hier als der passive Aufbau einer Lesebiographie, welche von vielfältigen Merkmalen gelenkt wird. Vor allem jedoch die Lesekompetenz und -motivation verlangen nach aktiver Beteiligung des Individuums. Im Gesamtkomplex der Lesesozialisation vollführt sich somit ein Wechselspiel von Aktivität und Passivität. 3.1.4 Buchwissenschaftliche Forschung Zielsetzung und Fragestellungen
Bei bisherigen Forschungsansätzen war die Frage nach der Buchnutzung, teilweise im Medienverbund und teils eingebunden in sonstige Freizeitaktivitäten, grundlegend. Es ging darum herauszufinden, welche Motive zur Hinwendung zum Medium Buch führten, mit welchem kognitiven Aufwand die tatsächliche Nutzung verbunden war, welche Wirkungen die 124 Hurrelmann/Hammer/Nieß, S. 61.
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Lektüre hervorrief und welche weiteren Einflussfaktoren, hierbei vor allem die Sozialisation, das Lesen beeinflussten. Der faktische Umgang mit dem Buch allerdings wurde bislang vernachlässigt. Denn die Tatsache, Bücher anzuschaffen und zu besitzen, sagt noch nichts über die tatsächliche Rezeption aus, da sich Bücher aus unterschiedlichen Gründen erwerben lassen, ohne dass sie anschließend rezipiert werden müssen. Der Frage nach dem »Phänomen des ungelesenen Buches«125 lässt sich von Produzenten- wie Rezipientenseite nähern. An dieser Stelle soll vor allem die Rezipientensicht interessieren. Dabei spielen unterschiedliche Faktoren eine Rolle: Rezeptionsgrad und Zeitpunkt, wonach ein Buch als ungelesen gilt sowie Hinderungsgründe, Buchgattungen und Buchfunktionen. Letztere geben Aufschluss darüber, ob Bücher ausschließlich der Lektüre oder ob sie Dekorations- oder Sammelzwecken dienen.126 Beim Phänomen des ungelesenen Buchs geht es nach Buchmarkt- und Lese(r)forschung noch eine Stufe weiter. Während die Buchmarktforschung das verkaufte Buch fokussiert und die Lese(r)forschung den Komplex Lesen analysiert, interessiert man sich bei ungelesenen Büchern für das Buch an sich und geht der Frage nach, ob und wann aus dem ungelesenen Buch ein gelesenes wird. Dabei lassen sich allerdings nicht einfach die gewonnenen Ergebnisse aus beiden Forschungsrichtungen gegeneinander abwägen: »Sehr bequem wäre es, die gekauften Bücher (Kauffrequenz) den gelesenen Büchern (Leseintensität) gegenüberzustellen, um durch die Differenz Aufschluss über das Vorhandensein ungelesener Bücher zu erlangen. Doch die erhobenen Daten lassen sich nicht einfach vergleichen […], da jeweils unterschiedlich gemessen worden ist.«127 Aus diesem Grund wurde im Jahr 2004 eine Untersuchung vorgenommen, welche den Fragekomplexen »Mengen, Quellen und Gründe« sowie »Typen von Besitzern ungelesener Bücher« nachging.128 Dabei wurden Vielleser herangezogen, da angenommen wurde, dass diese Gruppe »umfassendere Möglichkeiten als Durchschnitts- oder Wenigleser bieten, das Phänomen ungelesener Bücher erstmals explizit zu ergründen.«129
125 126 127 128
Zeckert: Ein alter Unbekannter, S. 153–179, hier S. 153. Vgl. Zeckert, S. 154f. Zeckert, S. 167. Aus zunächst 18 persönlichen Befragungen wurden acht Personen ausgewählt und einer detaillierten Einzelfallanalyse unterzogen. Die genauen Ergebnisse sind nachzulesen unter: Zeckert: Das ungelesene Buch. 129 Zeckert: Ein alter Unbekannter, S. 172.
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Im Jahr 2005 wurden erste Ergebnisse einer noch andauernden Studie130 bezüglich der Einstellung zum Buch anhand von Buchzeichen publiziert. Die Resultate können als Ergänzung zu der Untersuchung zum Phänomen des ungelesenen Buchs angesehen werden, da beide Male das Nicht-Lesen im Zentrum stand. Während die vorausgehende Analyse Gründe hierfür suchte, ging es nun darum aufzuzeigen, dass Büchern neben der primären Funktion als Speichermedium eine uneigentliche Funktion innewohnt. Diese äußert sich nicht im Decodieren von Sprachund Bildzeichen, sondern darin, dass Büchern auch eine symbolische Funktion zuerkannt wird. Dieser Ansatz fokussierte somit nicht das Lesen an sich, sondern darüber hinausgehend positive und negative Assoziationen zum Buch. Die untersuchten Buchzeichen äußerten sich im Einsatz von realen Büchern und verfremdeten Buchkörpern sowie von Buchkunstwerken und sprachlichen wie bildlichen Repräsentationsweisen von Büchern in einem medialen Kontext. »Bei der Analyse der Buchzeichen ist also nicht nur die symbolische Qualität des – in Hinsicht der Modalität des Zeichens – ikonischen Buchzeichens selbst zu beachten, sondern auch die jeweils medienspezifische Konstruktionen von ›Realität‹, in die es hineingestellt wird.«131 Anhand von alltagskulturellen Fragestellungen wurden die Buchzeichen in vier thematische Reihungen unterteilt: Wissen, Repräsentieren, Kleiden und Genießen. Die Buchzeichen wiesen unterschiedliche Komplexitätsgrade auf und reichten von einfach strukturierten Buchzeichen zu kleineren Geschichten.132 Ergebnisse
Die Untersuchung über das Phänomen der ungelesenen Bücher konnte aufzeigen, dass die Entwicklung der Leserpersönlichkeit Einfluss auf die Menge an ungelesenen Büchern ausübt. Besonders bei jüngeren Befragten unter 30 Jahren zeigte sich ein dynamisches Verhalten im Umgang mit Büchern. Wurden diese zunächst angehäuft, folgte anschließend eine Phase des Lesens und Nicht-Kaufs, um den Vorrat zu reduzieren, was wiederum zu einer Reduzierung der ungelesenen Titel führte. Da Bücheranschaffungen aus dem Modernen Antiquariat häufig ohne konkreten Kaufwunsch, sondern aufgrund des verbilligten Preises erfolgt waren, 130 Vgl. Rautenberg: Buch in der Alltagskultur, S. 5. 131 Rautenberg, S. 5f. 132 Vgl. Rautenberg, S. 5–12.
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bildeten diese Bücher eine Quelle der ungelesenen Bücher. Andere Quellen waren Erbschaften, Geschenke, Gesamtausgaben sowie Bücher mit Zusatznutzen wie dem bibliophilen Sammelaspekt. Nicht-Lesen wurde häufig mit mangelndem Interesse, einer zu hohen Kaufmenge, der Suche nach dem geeigneten Zeitpunkt oder dem fehlenden Überblick über den privaten Buchbesitz begründet. Weitere Aspekte waren spontane Buchkäufe, mit Prestige-Denken verbundene Anschaffungen oder der Erwerb von Liebhaber-Ausgaben. Zusätzlich wurden Fehlkäufe, welche aufgrund von schlechten Empfehlungen aus Medien, persönlichem Umfeld oder der Buchhandlung resultierten, als Gründe für ungelesene Bücher genannt. Anhand der Untersuchung ließen sich vier Typen von Besitzern ungelesener Bücher bilden: Bucherben, Beschenkte, ansammelnde Käufer und Liebhaber-Käufer. Während die ersten beiden Gruppen nur sekundär für ihren Buchbesitz verantwortlich sind, da er von außen an sie herangetragen wurde und sie sich aus variierenden Gründen nicht davon trennen können, handelt es sich bei den beiden letzten um aktiv Erwerbende. So zeichneten sich die ansammelnden Käufer durch impulsiven und eher unkontrollierten Bucherwerb aus. Hier zählte der Buchbesitz, um Bücher für einen späteren Zeitpunkt zur Verfügung zu haben. Eine Variante davon stellte der Liebhaber-Käufer dar, da er Bücher aus künstlerischen und ästhetischen Aspekten ansammelte. Dort stand der Gesichtspunkt des Sammelns im Vordergrund, nicht das tatsächliche Lesen.133 Ungelesene Bücher sind kein Zeichen für einen Niedergang der Buch- und Lesekultur, sondern bieten die Chance, das Buch und seine ihm innewohnenden Möglichkeiten, welche über das bloße Lesen hinausgehen, zu einem selbst gewählten Zeitpunkt zu entdecken. »Vielmehr sind beispielsweise literarische Vorratshaltung oder bibliophiles Sammeln […] soziale Praktiken, die bestimmte Werte pflegen. […] Das Hoffnungsvolle für den Käufer der Bücher bleibt die immerwährende Möglichkeit, das Medium Buch zukünftig zu entdecken und seiner Erfüllung, der Rezeption, zuzuführen.«134 Die Untersuchung zur uneigentlichen Buchnutzung deckte auf, dass das Buch in erster Linie als Wissensspeicher aufgefasst wird. Positive Assoziationen waren dabei Gedächtnis und Lernen. Dem standen Vereinzelung und Abschottung sowie Antiquiertheit und Theorie-Lastigkeit gegenüber. Bücher dienten zugleich Repräsentationszwecken. Hierbei zählt nicht, dass die vor einem vollen Bücherregal photographierte Person all 133 Vgl. Zeckert: Ein alter Unbekannter, S. 172–178. 134 Zeckert, S. 179.
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die präsentierten Werke tatsächlich gelesen hat, sondern dass sie sich damit schmücken kann. Sammler, Gelehrte, Politiker oder Personen des öffentlichen Lebens nutzen das Bücherregal oder die Büchertapete im Hintergrund somit, um sich als belesen darzustellen. Dies wirkt allerdings nur bei entsprechendem Image einer Person glaubhaft. Eine dritte Kategorie stellte diejenige dar, bei der davon ausgegangen wurde, dass Bücher kleideten und man sich so, im Sinne der Mode, mit ihnen dekorieren konnte. Bücher dienten hierbei entweder direkt als Kleidungsstück, als verschönerndes Element der Kleidung oder als schmückendes Beiwerk zur Mode. Als vierte Kategorie wurden Bücher im Zusammenhang mit Genussmitteln klassifiziert. Die Buchzeichen-Klassifikation konnte zeigen, dass das Buch nach wie vor als Leitmedium aufgefasst werden möchte, welches allerdings im Medienverbund und eingebettet in die Alltagsvielfalt zunehmend auch an Bedeutung verliert. Die Funktion des Kulturguts bleibt ihm immer noch eingeschrieben, wobei sich diese Position in verstärkter Weise auf vielfältige Lebensbereiche überträgt.135 Bewertung
Buchwissenschaftliche Fragestellungen verorten das Buch in Kontexten. Dies rührt daher, dass sich das, was gemeinhin als ›Buch‹ bezeichnet wurde, mittlerweile nicht mehr ausschließlich auf bedrucktes Papier allein bezieht, sondern dass zunehmend auch Formen wie CD-ROMs und Hörbücher mit buchtypischen Inhalten dank ihrer Kennzeichnung mit einer ISBN dem Buch zugerechnet werden. Dieses ist Kulturgut und Handelsware in einem und eingebunden in Prozesse der Produktion, Distribution und Rezeption. Es hat eine weit zurückreichende Tradition, welche sich in seinen wandelnden materiellen Trägern äußert. So zählt zum Komplex ›Buch‹ mittlerweile nicht mehr allein die Codex-Form, sondern beispielsweise auch das elektronische Buch. Es gibt soziale und wirtschaftliche Bezugspunkte, weshalb die Forschungsfragen der Buchwissenschaft vielfältig sind. Sie bezieht sich weniger auf Texte, dafür zeichnet sich die Literaturwissenschaft verantwortlich, denn auf Bücher in einer ausdifferenzierten Definition und eingebunden in ein mediales Geflecht. Trotz der Anknüpfungspunkte zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen hat die Buchwissenschaft eine eigene Sicht darauf, was ein Buch ausmacht und wie sich diesem zu nähern ist. »Unter135 Vgl. Rautenberg: Buch in der Alltagskultur, S. 12–30.
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schiedliche wissenschaftliche […] Interessen führen zu jeweils anderen Konzeptionen des Formalobjekts und so auch zu verschiedenen Buchdefinitionen unterschiedlicher Komplexität und Reichweite.«136 Trotz der multimedialen Einbettung und trotz der zunehmend interdisziplinären Ausrichtung137 steht bei buchwissenschaftlichen Fragestellungen, wie die beiden dargestellten Studien gezeigt haben, das Medium Buch im Mittelpunkt. Es interessieren der Umgang sowie damit verbundene Funktionszuweisungen. Das »Buch zum Anfassen« bildet den Ausgangspunkt für künftige Forschungsansätze. Einen ersten Schritt in diesem Bereich unternimmt das von der Erlanger Buchwissenschaft ins Leben gerufene Projekt »Abenteuer Buch«. Hierbei handelt es sich um die Kooperation mit Kindergärten. Das Projekt unternimmt den Versuch der frühkindlichen Leseförderung, wobei es darum geht, die Freude am Buch über das haptische Erleben zu wecken. Ziel ist es dabei außerdem, die wissenschaftlichen Hintergründe im praktischen Umgang spielerisch zu vermitteln und somit am Objekt Buch selbst zu arbeiten. Auch wenn es bei diesem Konzept um das Erwecken eines freudigen Umgangs mit dem Medium Buch geht, was langfristig zu einer verbesserten Leseförderung führen soll, zeigt sich hieran der buchwissenschaftliche Ansatz aufs Deutlichste: Der praktische Umgang mit dem Buch, welcher möglichst schon im Kleinkindalter ansetzt, wird fokussiert. Hier geht es noch nicht darum, Kompetenzen zu fördern, sondern um das Vertraut-Werden mit einem Medium, welches in einen medialen Kontext eingebunden und mit individuellen Merkmalen ausgestattet ist. Das Buch soll nicht ideologisch überhöht werden, sondern dadurch gekennzeichnet sein, dass es Freude machen und den Zugang zu anderen medialen Formen erleichtern kann. So ist das zentrale Ansinnen der Projektgruppe folgendermaßen zusammenzufassen: Wir glauben, dass der spielersich-neugierige Umgang mit dem Buch – nicht nur mit dem Buchinhalt – bei Kindern die Lust auf dieses Medium nachhaltig wecken kann und dadurch zugleich eine verbesserte Lesemotivation entsteht. Wenn es dabei gelingt, die oft konstatierte Medienkonkurrenz durch das Erleben einer Medienkonver-
136 Rautenberg/Wetzel: Buch, S. 1. 137 Speziell am Beispiel der Erlanger Buchwissenschaft lässt sich dies anhand des Interdisziplinären Medienwissenschaftlichen Zentrums, IMZ, zeigen. Dieses ist ein Zusammenschluss medienwissenschaftlich orientierter Fächer und Studiengänge wie Buchwissenschaft, Theater- und Medienwissenschaft, Kunstgeschichte, Christliche Publizistik, Kommunikationswissenschaft und Medienpädagogik. Zielsetzung ist eine medienvergleichende Perspektive. Vgl. Interdispziplinäres Medienwissenschaftliches Zentrum Universität Erlangen-Nürnberg: Einzigartige Kompetenzen gebündelt: http://www.presse.uni-erlangen.de/infocenter/presse/ pressemitteilungen/nachrichten_2005/07_05/4271medienzentrum.shtml [28.07.2009].
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genz aufzulösen oder zu verringern, dann ist für den kompetenten Umgang mit verschiedenen medialen Publikationsformen viel erreicht.138
3.1.5 Gesellschaftstheorie Zielsetzung und Fragestellungen
Im Zentrum gesellschaftstheoretischer Fragestellungen stehen die Mikround die Makroebene. Da Erstere jedoch als grundlegendes Element gilt, das Veränderungen bereits im Kleinen aufzeigt, sollen im Folgenden vor allem Forschungsansätze interessieren, die sich damit auseinandersetzen. Der bereits konstatierte Bedeutungszuwachs der Peer-Groups war bislang noch nicht explizit untersucht worden. Bekannt war aber, dass diese vor allem innerhalb einer bestimmten Lebensphase Einfluss auf die Lesesozialisation Gleichaltriger ausüben, gleichwohl aber erst relativ spät als Leseinstanzen auftreten. Auch wenn hier die Frage nach der Entwicklung einer Lesekarriere im Vordergrund zu stehen scheint, so geht es doch auch darum, ein persönliches Profil mit dem Ziel erfolgreicher gesellschaftlicher Teilhabe zu entwickeln. Entscheidenden Einfluss hierauf haben neben den Peer-Groups an sich deren Leseorientierung, die Anschlusskommunikation innerhalb der Gruppe und die idealerweise daraus resultierende Lesemotivation. Letztere spielt gerade im Zusammenhang mit Lesekompetenz eine wesentliche Rolle. Ohne die Motivation, Texte zu durchdringen, sie auf bestimmte Zielstellungen oder Erwartungen hin zu lesen, kann der Prozess des Lesens nur unzureichend gelingen. Es wird somit davon ausgegangen, dass Peer-Groups entscheidenden Anteil an der Ausprägung von motivationalen Elementen haben: »In jedem Falle ist damit zu rechnen, dass die Stärke und Ausprägung der motivationalen Komponente von Lesekompetenz mitbestimmt wird von typischen Handlungskontexten, verfügbaren sozialen Kontexten und der Qualität bereits gemachter Leseerfahrung.«139 Eine Ende 2006, Anfang 2007 durchgeführte Untersuchung analysierte den Einfluss von Peer-Groups bei der Entwicklung einer Lesekarriere. Erfragt wurde dies über die Lesemotivation und die generelle Leseorientierung im Freundeskreis. Da Schichtzugehörigkeit und Geschlecht als wichtige Variablen gelten, wurden diese mit abgefragt. Insgesamt waren damit vier Kernbereiche von Bedeutung: Zunächst An138 Abenteuer Buch: Wohin soll das alles führen? [online]. 139 Groeben/Hurrelmann: Lesekompetenz, S. 278.
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gaben zu den einzelnen teilnehmenden Kindern140, wie beispielsweise Lesehäufigkeit und -motivation, Freizeitverhalten und Mediennutzung sowie lesebezogenes Selbstbild und Textverstehenskompetenz. Bei der Peer-Group waren Anschlusskommunikation über Lesestoffe und andere Medieninhalte, Interesse für Lese- und Medientätigkeiten sowie Kennenlernort der Beteiligten relevant. Schließlich interessierten die Sozialisationsinstanzen Familie unter Berücksichtigung von Migrationshintergrund, Leseverhalten der Eltern und Buchbesitz sowie Schule, wobei die Schulfreude und der Spaß am Deutschunterricht abgefragt wurden.141 Neben dem Beitrag von Lesemotivation und Anschlusskommunikation spielt bei der Lesekompetenz auch die Wechselwirkung zwischen Bildung und Lesen eine Rolle. Bei der Frage nach der sogenannten Wissenskluft ist die Frage nach dem Bildungsstand bedeutsam. Hier geht es darum herauszufinden, warum gerade Personen mit formal geringerer Bildung selten bis nie zum Buch greifen und ob sie dies mittels anderer Medien, beispielsweise Zeitung und Zeitschrift sowie Internet, kompensieren. Die bereits erwähnte Studie »Lesen in Deutschland 2008« konnte auch hier einen Beitrag leisten. Hierbei sollte jedoch nicht nur nach Zusammenhängen gefragt werden, sondern auch danach, wie die Ergebnisse, die eine deutliche Wissenskluft ausmachten, künftig vermieden werden können.142 Ergebnisse
Wesentliches Ergebnis der Studie »Lesen, wenn anderes und andere wichtiger werden« war die starke Korrelation zwischen Geschlecht und den abgefragten Einflussfaktoren auf die Lesesozialisation auf der einen Seite und der Schulart auf der anderen. Beide Faktoren wirken sich auf die Lesestoffe und deren Lesehäufigkeit aus, auf das lesebezogene Selbstbild, die Schulfreude, die Leseorientierung der Freunde und die Häufigkeit des Freundetreffens. Offensichtlich unterscheiden sich die Lesewelten der Gymnasiasten von denen der Haupt- und Realschüler. Obwohl die PeerGroups im Mittelpunkt der Untersuchung standen, zeigte sich ein nicht unwesentlicher Einfluss von Elternhaus und Schule sowie ein enger Zusammenhang zwischen den beteiligten Instanzen: »[…] derweil die ohne140 Es wurden 492 Kinder aus Haupt- und Realschule sowie Gymnasium im Alter von zehn und elf Jahren aus dem Landkreis Lüneburg befragt. 141 Vgl. Philipp: Lesen, S. 61. 142 Vgl. Stiftung Lesen: Lesen in Deutschland, S. 39.
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hin privilegierten GymnasiastInnen nicht nur zu Hause und in der Schule, sondern auch in ihrer peer group weiter kräftig kulturelles Kapital akkumulieren und so ihren Lebenshabitus stabilisieren.«143 Es konnten zwei gegensätzliche Gruppen ausgemacht werden: Die lesefernen und die lesefreundlichen Gruppen. Hierbei wird entweder gar nicht oder viel innerhalb der Gruppe gelesen, Anschlusskommunikation findet nicht oder regelmäßig statt und Printmedien werden überhaupt nicht oder immer gegenseitig ausgeliehen. Vor allem Gymnasiasten ließen sich als lesefreundlich klassifizieren, wohingegen männliche Haupt- oder Realschüler eine Risikogruppe ausmachten. Dabei kam es auch darauf an, welches Leseklima in der Familie vorherrschte, da dieses auf die Peer-Group übertragen wurde. Damit zeigt sich, welch wesentlichen Einfluss die Familie auch dann noch ausübt, wenn sie nicht mehr die wesentliche prägende Instanz ist. Den familiären Einfluss benennt auch »Lesen in Deutschland 2008« im Zusammenhang mit Lesen und Wissenskluft. So wurde dort festgestellt, dass Kinder aus einkommensschwachen und bildungsfernen Familien in ihrer Kindheit seltener Bücher geschenkt bekamen. Die Bedeutung des Lesens nimmt mit steigendem Bildungsgrad zu, so dass 94 % der Befragten mit Hauptschulabschluss lieber fernsehen als lesen. Demgegenüber benannten zwar auch Gymnasiasten als liebste Freizeitbeschäftigung das Fernsehen, doch der Abstand zum Sach- und Fachbuchlesen oder Belletristiklesen war deutlich kleiner. Der Aussage »Ich nehme nie ein Buch in die Hand« stimmten 40 % der Befragten mit Hauptschulabschluss, 17 % derjenigen mit Realschulabschluss und 6 % derjenigen mit Abitur zu. 34 % der Befragten mit Hauptschulabschluss sagten, dass sie innerhalb der vergangenen zwölf Monate ein Buch gekauft hätten. Dies sagt jedoch nichts darüber aus, ob sie es auch tatsächlich gelesen haben. Wenn Lesen, verstanden als Schlüsselkompetenz, nicht oder kaum praktiziert wird, wirkt sich dies auch auf die Qualität der Nutzung anderer Medien aus.144 »Wenn gering Gebildete, Menschen aus unteren Schichten überhaupt, also mit Büchern, mit dem Lesen, mit der Mediennutzung insgesamt nur wenig vertraut sind, dann erfahren sie Nachteile. […] Aus der Perspektive des Makro-Soziologen ist das mehr als eine Anhäufung individueller Defizite. Das ist ein systematischer Tatbestand, der gegebene Ungleichheiten dynamisiert und dramatisiert.«145 Aus dieser Makroebene 143 Philipp: Lesen, S. 131. 144 Vgl. Stiftung Lesen: Lesen in Deutschland, S. 39–45. 145 Stiftung Lesen, S. 41.
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heraus ergeben sich Ansätze, wie dies künftig, wenn nicht vermieden, so doch gemindert werden kann. So wird die Vorschule als wichtige Instanz erachtet, da sich hier in einem frühen Stadium Leseförderung betreiben lässt, wenn sich also noch keine Defizite verfestigt haben. Zugleich sollten Veränderungen durchaus in die Planungen mit einbezogen werden, weshalb beispielsweise die Ganztagsschule interessante Möglichkeiten eröffnen wird. Die Makroperspektive erstreckt sich dabei auch auf die beteiligten Instanzen, so dass sich Leseförderung als Bürgerpflicht versteht.146 Bewertung
Die bislang vernachlässigte Instanz der Peer-Groups hat einen bedeutsamen Anteil an der Lesesozialisation. Diese Gruppe trägt dazu bei, dass das Lesen thematisiert und gepflegt wird. Allerdings ist nach wie vor unklar wie sich Leseaffine und Nicht-Leseaffine wechselseitig beeinflussen: Suchen sich beide Gruppen jeweils Gleichgesinnte aus oder kann es zu Vermischungen kommen? Nicht bekannt ist außerdem, wie sich Gruppengröße und Leseorientierung aufeinander auswirken: Spielt die Leseempfehlung der besten Freundin eine Rolle oder doch eher das vorherrschende Leseklima innerhalb der gesamten Gruppe? Dennoch kann die Bedeutung von Leseinstanzen auf ›Augenhöhe‹ nicht wichtig genug eingeschätzt werden. So sind Peer-Groups in der Lage, altersgerechte und interessenspezifische Lektürestoffe zu benennen und zu empfehlen, sie können aber darüber hinaus auch als Lesepartner, sogenannten Lesetandems147, agieren, die sich gegenseitig unterstützen. Der wesentliche Punkt in diesem Zusammenhang ist jedoch die Vermittlung von Freude am Lesen durch Gleichgesinnte. Der ›Schock‹ nach dem Bekanntwerden der Ergebnisse von PISA war nicht nur deshalb so groß, weil so viele 15-Jährige lediglich unter- oder innerhalb der untersten Kompetenzstufe lesen konnten, sondern auch, weil Jugendliche dieser Altersgruppe häufig angaben, nicht gerne zu lesen. Gerade diesen motivationalen Schub können jedoch Gleichaltrige liefern, sie sind in der Lage, dass gelesen wird, wenn anderes als beispielsweise Schule und andere neben den Eltern wichtig werden. Bemerkenswert an dieser Studie ist 146 Vgl. Stiftung Lesen, S. 45. 147 Hierbei unterstützen sich Schüler im Zweierteam gegenseitig, indem sie einander beispielsweise Wörter erklären, Texte gemeinschaftlich lesen und gemeinsam Vorhersagen über den Text treffen.
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auch der Ansatz, dass Lesen medienübergreifend aufgefasst wird. Damit erfolgt keine Gegenüberstellung von hoher Literatur oder vom richtigen Buch auf der einen Seite und Schund oder Internetlektüre auf der andern. Vielmehr steht im Vordergrund, dass überhaupt und gerne gelesen wird. Neben dieser Erkenntnis ist es schockierend, welch enger Zusammenhang zwischen Bildungsgrad und Zugang zu Wissen auch nach wie vor noch besteht. Dies hat die Studie im Zusammenhang mit Peer-Groups nochmals verdeutlicht. »Lesen in Deutschland 2008« geht noch weiter, indem dort aufgezeigt wird, dass die mediale Vielfalt zur Vergrößerung der Wissenskluft beiträgt: »Die Wissenskluft besteht also fort. Sie wird durch immer neue Medien nur äußerlich verändert und dadurch eher verbreitert als überbrückt. Dies lässt auch einiges befürchten von der heute viel beschworenen Ergänzung des formalen Lernens […] durch non-formale und informelle Lernprozesse […].«148 Die Medienvielfalt lässt sich jedoch auch positiv deuten. Sie ermöglicht variable Zugänge zu Informationen. Dies erfordert allerdings die Sichtweise einer Medienkonvergenz gegenüber einer -konkurrenz. Zugleich verlangt dies den Abschied vom Buch als Leitmedium: Wir sollten aufhören, Bücher und Lesekultur zu glorifizieren […]. Uns von dem Mythos verabschieden, dass Buchwissen die allen anderen überlegene Form von Bildung ist […]. In dieser Welt gibt es kein übergeordnetes Leitmedium mehr, sondern ein Nebeneinander verschiedener Techniken, die Wirklichkeit zu erkunden. Dazu gehört, natürlich, auch das Lesen – das konzentrierte, zielgerichtete Abtauchen ebenso wie das ungebundene Schweifen durch die Weiten der Bildschirmwelt.149
Gesellschaftstheoretische Forschung ist, wie sich an den beispielhaft dargestellten Untersuchungen und Fragestellungen zeigt, grundlegend für ein Verständnis von Lesen als wesentlichem Element menschlicher Kultur. Hier ist bedeutsam, wie bereits Instanzen auf Mikroebene entscheidenden Einfluss ausüben können, wie verschiedene Komponenten zusammenhängen und sich wechselseitig beeinflussen oder verstärken und, vielleicht wesentlich, hier zeigt sich, welchen Stellenwert Lesen und damit verbunden Wissen künftig haben werden.150
148 Stiftung Lesen: Lesen in Deutschland, S. 44. 149 Romberg: Die Revolution des Lesens, S. 92–113, hier S. 112. 150 Romberg, S. 93, formuliert dies so: »Die digitalen Medien verwandeln uns in Überflieger, die Texte nach Bits filtern. Verlernen wir so das Denken? Oder werden wir klüger?«.
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3.2 Empirischer Stand der Lese- und Leserforschung – eine kritische Betrachtung
Vielfältige wissenschaftliche Disziplinen setzen sich mit Lese- und Leserforschung auseinander. Um den Überblick zu erleichtern, wurden sie in fünf Komplexe gegliedert: Lesemotivations- und Lesewirkungsforschung, rezeptive Lese- und Buchnutzungsforschung, Lesesozialisationsforschung, buchwissenschaftliche Forschung und Gesellschaftstheorie. Dabei wird nach dem Vorher und Nachher des Lesevorgangs gefragt, nach dem kognitiven Aufwand und weiteren das Lesen beeinflussenden Faktoren, dem Umgang mit und der Funktionszuweisung für das Buch als Basismedium sowie übergeordneten Fragestellungen. Da es unmöglich scheint, dass eine einzelne Disziplin all diese Themen eruieren kann, ist es nur folgerichtig, dass jede Fachrichtung für sich aus ihrer Schwerpunktsetzung und ihrem Fachwissen heraus ihren Beitrag leistet. Problematisch bleibt hierbei jedoch, dass nach wie vor interdisziplinäre Verknüpfungen selten sind oder ganz ausbleiben. Alte Erkenntnisse, wie beispielsweise die Zahlen zum Analphabetentum in Deutschland, werden übernommen und nicht mehr hinterfragt. Der in der theoretischen Lese- und Leserforschung konstatierte Versuch eines ganzheitlichen medienunabhängigen Überblicks ist in der Empirie nicht auszumachen. Sehr gut erforscht sind Aspekte der Lesesozialisation. Hierbei wird auch disziplinübergreifend die Theorie vertreten, dass vor allem in der Kindheit bereits die Wurzeln für späteres Leseverhalten gelegt werden. Zudem deckten die Lesesozialisations- und Lesemotivationsforschung gemeinsam den Zusammenhang zwischen kommunikativem Verhalten im Allgemeinen und Lesen im Speziellen auf. Die PISA-Studie konnte zeigen, dass individuelle Lebensbedingungen Einfluss darauf haben, ob man sich für oder gegen das Lesen entscheidet. Die Mediennutzung anhand der Nutzungshäufigkeit und inhaltlicher Präferenzen wurde bei »Leseverhalten im neuen Jahrtausend« aufgezeigt. Lesen meint nach wie vor übergreifend das Lesen von Büchern. Eine Erweiterung findet jedoch statt, wenn die durch das Lesen erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten auf andere Medien übertragen werden. Der Umkehrschluss, nämlich dass die vielfältige Mediennutzung auch auf das Lesen zurückwirkt, wird noch nicht gezogen. Lesen bleibt nach wie vor eine Basiskompetenz und das Buch das kulturelle Leitmedium. Makroskopische Untersuchungen zur Stellung des Buchs im Gesellschafts- und Mediensystem gibt es ansatzweise. So analysiert die Buchwissenschaft funktionale Zuschreibungen für das Medium,
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bleibt aber wiederum beim Buch stehen. Bei der Verortung im medialen Gefüge wird allzu gerne an der kulturellen Sonderstellung festgehalten und diese zugleich angezweifelt, sodass die Möglichkeiten der Buch- beziehungsweise Kulturförderung nicht als zwingend notwendig erachtet werden. »Dieses Klischee von der kulturellen Sonderstellung des Buches, die es von den audiovisuellen und digitalen Massenmedien abhebt, ist geläufig. Aber weder das Buch noch die Wissenschaft davon bedürfen der ›Rettung‹ durch wohlmeinende Zivilisationskritiker.«151 Die Frage nach Lesemotiven wird häufig gestellt, hier findet jedoch eher ein Gegen- anstelle eines Miteinanders statt, so dass interdisziplinäre Verknüpfungen noch selten sind. Auch über das Deskriptive hinausgehende Ansätze sind aufgrund ihrer schwierigen Durchführbarkeit noch rar. So kann das Lesen, und hierbei wiederum das Buchlesen, nach Erlebnisdimensionen klassifiziert werden, aber der komplexe Bereich der Wirkungen ist noch wenig erschlossen. Auch ist nach wie vor unklar, welche persönlichen Merkmale einen Einfluss darauf haben, ob jemand dem Lesen viel oder wenig Bedeutung beimisst. Hier wären Ansätze und Ergebnisse der Lesesozialisationsforschung und damit eine stärkere interdisziplinäre Verflechtung hilfreich. In der Theorie zwar konstatiert, in der Empirie aber noch nicht in letzter Instanz umgesetzt ist die Tatsache, Lesekompetenz als allgemeine Medienkompetenz zu verstehen. Die rezeptive Leseforschung ist nach wie vor in erster Linie auf das Buch fixiert. Die Erforschung des Lesens im breiten Medienumfeld unter Einbezug des medialen Kontextes verschiedener Einzelmedien bleibt noch aus. Lesekompetenz ist bezogen auf den Umgang mit schriftbasierten Medien. Wie sehen aber die Kompetenzen aus, welche beim Decodieren auditiver und audiovisueller Medien notwendig sind? Gibt es hierbei Querverbindungen? So ist beispielsweise bekannt, dass es Analogien zwischen lesender und hörender Aneignung eines Textes gibt. Dieses Wissen wäre weiter auszudehnen, um letztendlich tatsächlich von der Lesekompetenz als basaler Kompetenz im Umgang mit Medien sprechen zu können. Die im Bereich der rezeptiven Leseforschung ausgemachten Desiderate sind auch in der Lesesozialisationsforschung zu entdecken. Dies hängt damit zusammen, dass beiden Ansätzen die Annahme einer basalen Kompetenz, hier der Lesekompetenz, zugrunde liegt. Lesesozialisationsforschung bleibt noch zu stark auf das Buch oder aber schriftbasierten 151 Rautenberg/Wetzel: Buch, S. 13–21, hier S. 14.
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Printmedien fixiert. Elektronische Medien werden zu oft als Konkurrenz aufgefasst, so dass die Kompetenzen wie Codierfunktionen im Sinne des Schreibens von Texten noch nicht gewürdigt und damit auch noch nicht untersucht werden. Trotz des weitgefächerten Theorieansatzes der wissenschaftlichen Forschung steht bei empirischen Untersuchungen das Buch im Zentrum. Dennoch lässt sich hier ein ausgedehnter Ansatz für den Komplex ›Lesen‹ erkennen. Dieser wird nicht lediglich als Sinnentnahme interpretiert, sondern hier spielen Zeichenentschlüsselung, motivationaler Aufwand und Funktionszuweisungen eine entscheidende Rolle. Lesen wird damit allgemein als Aneignung medialer Inhalte verstanden. Eigene gesellschaftstheoretische Untersuchungen im Bereich der Lese- und Leseforschung gibt es nicht. Vielmehr lassen sich Erkenntnisse zu den theoretischen Fragestellungen aus anderen Teilbereichen gewinnen. So bettet die Lesemotivationsforschung das Lesen auch in einen medialen Kontext und erachtet es als eine Freizeitalternative unter vielen. Damit einher gehen Funktionszuweisungen für einzelne Medien, wobei der Schwerpunkt auf den klassischen Medien liegt, während die vernetzten Medien noch außen vor bleiben. Die übergeordnete Fragestellung der rezeptiven Leseforschung lautet, inwieweit vorhandene Kompetenzen zur erfolgreichen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben genügen. Die Lesesozialisationsforschung geht dem Stellenwert des Lesens in einer medialen Vielfalt, auch vor dem Hintergrund der Sozialisationsinstanzen, nach. Allerdings wird immer stärker die gesellschaftliche Stellung des Einzelnen in den Fokus genommen, so dass in diesem Zusammenhang interessiert, wie Mediennutzung im Allgemeinen Teilhabe an der Wissensgesellschaft ermöglicht. Hierbei werden zwar Risikogruppen aufgedeckt, doch an konkreten Strategien, den Defiziten zu begegnen, mangelt es. Hierbei wird noch etwas anderes deutlich: Nicht nur Theorie und Empirie sollten Hand in Hand gehen, die hierüber gewonnenen Erkenntnisse müssen auch bewusst umgesetzt werden.152
152 Die Stiftung Lesen betreibt dies als eines ihrer wesentlichen Ziele: »Wir wollen Leseforschung und Leseförderung aktiv verknüpfen. […] Leseforschungsergebnisse bilden auf diese Weise das Fundament der strategischen Projektplanung.« Stiftung Lesen: 15. Tätigkeitsbericht, S. 24.
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4 Fazit und Ausblick Aktuelle Lese- und Leserforschung ist Bestandteil einer Vielzahl von wissenschaftlichen Disziplinen mit unterschiedlichen Ausrichtungen und Fragestellungen. Sie ist damit ein interdisziplinärer Forschungsgegenstand und hierüber historisch, wirtschaftlich und kulturell relevant. Als Forschungsrichtungen wurden Lesemotivations- und Lesewirkungsforschung, rezeptive Leseforschung und Lesesozialisationsforschung unterschieden. Diese werden ergänzt durch konkrete Medienwissenschaften, hier vor allem die Buchwissenschaft, und die allgemeinen auf das Lesen bezogenen Gesellschaftstheorien. Die breite Fächerung der Forschung erlaubt einen detaillierten Überblick über viele Aspekte des Lesens und der Leser aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Interdisziplinäre Ansätze und der Rückgriff auf Erkenntnisse anderer Fachbereiche werden überwiegend akzeptiert, genauso wie sozialwissenschaftlich-konstruktivistische Ansätze aus der Perspektive der Rezipienten. Kritisch betrachtet werden muss nach wie vor der fehlende Konsens zu elementaren Begriffen wie ›Lesen‹ oder ›Lesekompetenz‹, das Fehlen einer Grundlagentheorie inklusive eines Modells für allgemeine Leseforschung, sowie der unbestimmte Bezug auf schriftbasierte Medien, welcher teils weitläufig auf Schriftzeichen, teils eng auf spezielle Medien gefasst wird. Weiterhin ist die Rolle des Lesens und der Lesekompetenz innerhalb des sich ausdifferenzierenden Medienverbunds als Teil der allgemeinen Mediennutzung und Medienkompetenz noch nicht ausreichend integriert. Im Bereich der empirischen Forschung hat sich eine Abkehr von rein marktorientierter Forschung als fruchtbarer Gewinn erwiesen. Besonders in den Bereichen der Lesesozialisationsforschung und der Lesemotivations- und Lesewirkungsforschung liegen vielfältige empirische Daten vor, welche unter verschiedenen Fragestellungen interpretiert werden können. Aufgrund von Mess-Schwierigkeiten bleiben die rezeptive Leseforschung und die gesellschaftstheoretischen Implikationen bislang in methodologisch mangelhaften Ansätzen verhaftet. Hier müssen in Zukunft Lösungen für präzisere Datenerhebungen gefunden werden. Insgesamt präsentiert sich die empirische Forschung noch weitgehend disziplingebunden und fachspezifischen Fragestellungen verhaftet. Interdisziplinäre Untersuchungen bilden die Ausnahmen, auch wenn gerade diese die theoretischen Annahmen ergänzen und erweitern würden. Auch bleiben viele Untersuchungen nach wie vor in der deskriptiven Ebene
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stehen, anstatt ihre Datenerhebungen sinnvoll mit den theoretischen Grundlagen zu verknüpfen. Theorie und empirische Daten bedingen sich jedoch gegenseitig, deshalb sollte gerade an dieser Stelle ein präziserer, gegenseitiger Bezug hergestellt werden. Die Lese- und Leserforschung als Grundlagenforschung für Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft bildet eine wichtige Instanz für vielfältige damit verknüpfte Forschungs- und Wirtschaftsbereiche und bedarf deshalb einer weitgehenden, präzisen, verbundenen und vor allem definitorisch einheitlichen Ausgestaltung von Theorien, Modellen und empirischen Untersuchungen. Für die Zukunft bleibt zu hoffen, dass sich die Disziplinen weiter einander annähern, um das Lesen und den Leser detailliert charakterisieren zu können und damit Folgerungen für Gesellschaftsentwicklung, Bildung, Mediennutzung usw. besser darstellen zu können.
5 Literaturverzeichnis Abenteuer Buch: Wohin soll das alles führen? Die Vision. (Website). http://www.abenteuerbuch.com/07_Projekt_Vision.html [20.09.2007]. Anderson, Richard C.: The Future of Reading Research. In: Reading Research into the year 2000. Ed. by Anne P. Sweet and Judith I. Anderson. Hillsdale: Lawrence Erlbaum Associates 1993, S. 17–36. Beck, Isabel L.: On Reading: A Survey of Recent Research and Proposals for the Future. In: Reading Research into the year 2000. Ed. by Anne P. Sweet and Judith I. Anderson. Hillsdale: Lawrence Erlbaum Associates 1993, S. 65–88. Böck, Margit: Buchlesen im Medienumfeld in Österreich: Aktuelle Befunde und ein Ausblick auf die künftige Forschung. In: Lesen in der Mediengesellschaft. Stand und Perspektiven der Forschung. Hrsg. v. Heinz Bonfadelli u. Priska Bucher. Zürich: Pestalozzianum 2002, S. 24–42. Böck, Margit/Langenbucher, Wolfgang R.: Der kompetente Leser, die kompetente Leserin – Plädoyer wider den Pessimismus in Sachen Lesen. In: Lesen im Umbruch – Forschungsperspektiven im Zeitalter von Multimedia. Hrsg. v. der Stiftung Lesen. BadenBaden: Nomos 1998, S. 23–38. Bonfadelli, Heinz: Literarische Sozialisation im Wandel. In: Lesen im Wandel. Probleme der literarischen Sozialisation heute. Hrsg. v. Christine Garbe u. a. Lüneburg: Universitätsverlag 1997, S. 41–54. Bonfadelli, Heinz: Theoretische und methodische Anmerkungen zur Buchmarkt- und Leserforschung. In: Lesen im Umbruch – Forschungsperspektiven im Zeitalter von Multimedia. Hrsg. v. der Stiftung Lesen. Baden-Baden: Nomos 1998, S. 78–89. Bonfadelli, Heinz: Leser und Leseverhalten heute – Sozialwissenschaftliche Buchlese(r)forschung. In: Handbuch Lesen. Hrsg. v. Bodo Franzmann u. a. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2001, S. 86–144.
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III Fachkommunikation und Fachgesellschaften
KONRAD UMLAUF
Neuere Lehr- und Fachbücher und Fachlexika der Buchwissenschaft – Bestandsaufnahme und Desiderate 1 2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7 4.8 4.9 4.10 4.11 4.12 5 6
Einleitung Lexika Wörterbuch des Buches Reclams Sachlexikon des Buches Lexikon des gesamten Buchwesens (LGB2) Lexikon Buch, Bibliothek, neue Medien Das BuchMarktBuch ABC des Buchhandels Kleinere, populäre und spezielle Lexika Berufsschul-Lehrbücher Der Antiquariatsbuchhandel Wirtschaftsunternehmen Sortiment Wirtschaftsunternehmen Verlag Fachwissen Medienkaufmann/-frau Digital und Print Der Verlagskaufmann Monographien Buch Bücher und Buchhändler Bücher und Büchermacher Wie kommen die Bücher auf die Erde? Das Buch vom Buch Wie ein Buch entsteht Bücher machen Verlagswirtschaft Der Verlag Warenkunde Buch Einführung in das Medienmanagement Grundlagen des Medienmanagements Fazit Literaturverzeichnis
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1 Einleitung Dieser Überblick über neuere Lehr- und Fachbücher und Fachlexika der Buchwissenschaft setzt bei den Monographien mit dem Erscheinungsjahr 2000 ein.1 Seitdem sind im Vergleich zu früheren Jahrzehnten ungewöhnlich viele Lehr- und Fachbücher erschienen, die das Buch, den Buchhandel und den Verlag zum Gegenstand haben. Die Auswahl beschränkt sich auf Monographien, die diese Gegenstände insgesamt oder in wesentlichen Teilen abdecken und kann auf Monographien zu Spezialthemen wie Herstellung2, Typographie3, Bilanzierung im Verlag4, Fachbuch-Marketing5, E-Books6 und den Internet basierten Wandel der Druck- und Verlagsbranche7, Werbung allgemein8 wie auch im Internet9 oder gar Schaufenster10- und Laden11-Gestaltung im Bucheinzelhandel nicht eingehen. Exemplarisch sollen zwei Titel über Medienmanagement ebenfalls berücksichtigt werden. Auch die einschlägigen Berufsschul-Lehrbücher, von denen einige Titel eine jahrzehntelange Tradition stets aktualisierter Neuauflagen haben, werden einbezogen; sie sind für die Buchwissenschaft eine relevante Quelle, wenn es um die Erkundung der Praxis geht und spiegeln das intendierte Selbstverständnis der Buchbranche stärker als manche Monographie wider. An Nachschlagewerken, die das Buch, seine Vermarktung und verwandte Themen behandeln, herrscht kein Mangel; seit 2000 sind nicht weniger als neun Titel, zum Teil Neuausgaben älterer Titel, erschienen. Bei den Lexika werden zwei vor dem Jahr 2000 erschienene, auf Taschenbücher spezialisierte Titel, die überraschenderweise keine Neuauflage erfahren haben und auch durch keinen anderen Titel ersetzt wurden, mit berücksichtigt; und natürlich muss auf das seit 1985 erscheinende und im August 2007 bis zum Buchstaben U vorgedrungene Lexikon des gesamten Buchwesens eingegangen werden. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
1999 erschien: Schönstedt: Der Buchverlag. Es handelt sich um eine inhaltlich nicht aktualisierte Neuauflage des zuerst 1991 erschienenen Werks. Beispielsweise: Kipphan: Handbuch der Printmedien; Teschner: Druck & Medien. Willberg: Erste Hilfe. Wantzen: Betriebswirtschaft. Reichle: Produktmanagement. Heidle: Elektronische Bücher. Friedrichsen: Printmanagement. Laumer: Bücher kommunizieren. Breyer-Mayländer: Online-Marketing. Gauditz: Schaufenster. Kreft: Ladenplanung.
Neuere Lehr- und Fachbücher und Fachlexika der Buchwissenschaft
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2 Lexika An Lexika im Umkreis des Themas Buch scheint es keinen Mangel zu geben. Das Spektrum reicht von einer sensationell preiswerten, populären Sekundärverwertung (siehe Kap. 2.7: Althaus, Buchwörterbuch) über einbändige, wissenschaftliche Lexika bis zum ›Mount Everest‹ der Buchlexika, dem Lexikon des gesamten Buchwesens. 2.1 Wörterbuch des Buches Hiller, Helmut/Füssel, Stephan: Wörterbuch des Buches. 7., grundlegend überarb. Aufl. Frankfurt a. M.: Klostermann 2006.
Erst mit Reclams Sachlexikon des Buches, herausgegeben 2003 von Ursula Rautenberg (siehe Kap. 2.2), erwuchs dem seit 1954 immer wieder aktualisierten Nachschlagewerk von Hiller eine frontale Konkurrenz. Mit der 6. Auflage hat Füssel die Fortführung des bewährten Lexikons in die Hand genommen. Im Vorwort verweist Füssel auf mehrere Helfer und Berater der Aktualisierung. Sonst sind die Artikel nicht namentlich gekennzeichnet und geben keine Literaturhinweise. Das thematisch gegliederte Literaturverzeichnis am Ende ist denkbar knapp. Seit der 7. Auflage stehen laufende Aktualisierungen unter www.hiller-fuessel.de kostenlos online (Benutzername: Gutenberg; Passwort: Mainz); hauptsächlich Aktualisierungen zu einigen Artikeln über Verlage (Stand vom 17.08.2007). Ein Jahr nach Erscheinen der 7. Printauflage hat die Online-Ergänzung noch nicht die Substanz, dass man von einem Hybrid-Produkt sprechen könnte. Eher handelt es sich bei der Website mit waschzettelmäßig aufbereiteten Zitaten aus Rezensionen um eine Werbeseite für das Buch. Der Umfang mit ca. 2 400 Artikeln signalisiert thematische Breite; diese Anzahl auf rund 350 Seiten ergibt durchschnittlich kurze, mehr definierende als in die Tiefe führende Artikel. Nur wenige Artikel (z. B. Abbildung, Honorar, Manuskript) sind länger als eine Seite. Das Verweisungssystem ist hilfreich und stimmig, aber es gibt auch Seltsamkeiten, z. B. verweist der Personeneintrag »Poeschel, Carl Ernst« ohne weitere Information über den Verleger auf den Verlag, während eine entsprechende Verweisung von Baedeker, Karl ebenso fehlt wie beispielsweise von Cotta, Johann Georg.
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Die Präsentation des Stoffs ist sprachlich uneinheitlich. Mal schließt sich an das Lemma ein mehr oder minder vollständiger, erklärender Satz an (z. B. »Durchschlagen der Druckfarbe von der einen Seite des Papieres auf die andere.«12, wobei »Durchschlagen« das Lemma ist), mal folgt auf das Lemma eine ordentliche Definition in Satzform, beispielsweise »DVD (engl. Digital Versatile Disk [!]) ist ein scheibenförmiges, optisches Speichermedium mit einem Durchmesser von 12 cm.«13, mal ohne Satzform (»Dünndruckausgaben. Bücher, die auf → Dünndruckpapier gedruckt sind.«14). Suggestive Formulierungen wie »Vlg. der bekannten Reiseführer« über den Baedeker-Verlag oder als Lemma die sehr unübliche Formulierung »Loseblattform«, während »Loseblattausgaben« nur im Text vorkommt, sind einem Lexikon nicht angemessen. Diese Züge haben die 6. und 7. Auflage von den Vorauflagen unverändert übernommen. Sie gehen wohl darauf zurück, dass das Wörterbuch teils ganz praktische Hinweise für den betrieblichen Alltag geben will (z. B. ein Artikel über »Fleckenentfernung«, der praktische Anleitungen gibt), teils wissenschaftliche, vor allem historische Interessen bedient. Das Wörterbuch des Buches von Hiller und Füssel enthält Artikel über – –
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Sachbegriffe von Abbildung bis Zwitterdrucke, Personenartikel in sehr enger Auswahl, die nicht überall ganz nachvollziehbar ist (kein Artikel über Max Caflisch oder W. Fleckhaus, aber über Melchior Lechter und Adrian Frutiger), vor allem Verleger und Typographen, Verlage in ziemlich enger Auswahl, die auf dem Hintergrund der tempo- und kurvenreichen Umstrukturierung der Unternehmenslandschaft schon wenige Jahre nach Erscheinen teilweise wieder überholt waren, Institutionen und Organisationen wie Börsenverein des Deutschen Buchhandels (der unter seinem Gründungsnamen »Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig« eingetragen ist, während die heutige Bezeichnung im Text des Artikels versteckt ist – eine ungewöhnliche Lösung) oder »Deutsche Forschungsgemeinschaft« (mit dem in 2002 noch zutreffenden Hinweis auf Druckkostenzuschüsse),
Hiller/Füssel: Wörterbuch des Buches. 7. Aufl., Artikel Durchschlagen. Hiller/Füssel, Artikel DVD. Hiller/Füssel, Artikel Dünndruckausgabe.
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ausgewählte Bibliographien, die unter dem Werktitel oder der üblichen Kurzbezeichnung eingetragen sind, z. B. »Heinsius« oder »Verzeichnis lieferbarer Bücher«.
Der Schwerpunkt bei Artikeln mit geographischem Bezug ist Deutschland; Buch und Schrift außerhalb der europäischen Tradition werden, wie in der deutschen Buchwissenschaft üblich, nur am Rande gestreift. Die Sachbegriffe decken das buchwissenschaftliche Feld und die Praxis der Buchbranche gut und detailliert bis hin zu Ausbildungs- und Studiengängen ab, erstrecken sich darüber hinaus auch auf etliche bibliothekarische Fragen. Betrachtet man Schlüsselbegriffe rund ums Buch wie Buch, Lesen (kein Artikel enthalten), Literatur, Druck (kein Artikel enthalten; der Vervielfältigungsprozess wird unter »Drucken« behandelt), Typographie, Layout, Bucheinband, so wird deutlich, dass dem Wörterbuch des Buches ein theoretischer Bezugsrahmen nicht zugrunde liegt. Es handelt sich um eine beachtliche und weitgehend aktuelle Stoffsammlung, die insgesamt heterogen bleibt. Auffällig signalisiert wird dieser Ansatz durch das Fehlen des Lemmas »Buchwissenschaft« zugunsten eines Artikels über »Buchforschung«. Darin werden die vier, sich freilich überschneidenden Aspekte genannt, unter denen das Objekt Buch wissenschaftlich erforscht werden kann: die materiellen Aspekte (Papier, Einband usw.), das Buch als Handelsgegenstand, die historische Dimension (Buchgeschichte, Buchmuseen), das Buch als Kommunikationsmittel (demoskopische Untersuchungen, Lesen, Wirkungsforschung). Im Wörterbuch des Buches stehen die Teilaspekte aber unverbunden nebeneinander. Entsprechend verbleiben Aussagen beispielsweise über Schriftarten, Schriftfamilie, über Buchdeckel oder elektronisches Publizieren Details, deren Zusammenhang sich nicht erschließt. Kann man das denn von einem Lexikon erwarten? Liegt es nicht in der Natur eines alphabetischen Nachschlagewerks, dass der Stoff in unabhängig voneinander rezipierbare Wissenssplitter zerlegt wird – ready reference statt knowledge in depth, und beides kann man zwar von der Encyclopædia Britannica, aber nicht von einem Lexikon mit 350 Seiten erwarten. Dass ein handliches Lexikon den Stoff in kleine Einheiten zerlegen kann und dennoch Konsistenz wahren, das zeigt Reclams Sachlexikon des Buches mustergültig. Im Wörterbuch des Buches fallen über den fehlenden theoretischen Bezugsrahmen hinaus durchgehend Ungenauigkeiten auf, die teils sprachlicher, teils sachlicher Art sind. An einigen Beispielen soll dies gezeigt werden.
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Der Artikel »Nachschlagewerke« kennzeichnet diese dadurch, »daß sie i. d. R. keinen zusammenhängenden Text enthalten, sondern den darzustellenden Stoff alphabetisch nach Stichworten ordnen und gegebenenfalls erläutern […]«15. Als Beispiele werden u. a. Bibliographien und Adressbücher genannt, für die die Formulierung »nach Stichworten ordnen« allerdings nicht gut passt – unsaubere Formulierungen, die von früheren Auflagen her mitgeschleppt wurden. Der Artikel »Ausgabe« setzt nicht eine Definition an den Anfang, sondern greift den verbreiteten unscharfen Gebrauch in Alltag und Praxis auf (»Verschiedentlich wird A. gleichbedeutend mit → Auflage gebraucht. Häufig dient der Begriff als zusammenfassende Bez. aller in gleicher äußerer oder innerer Form erscheinenden Abzüge […]«16). Was die ominöse »innere Form« ist, bleibt unklar und wird nur mit Erläuterungen wie »vollständige, gekürzte, kritische, autorisierte A.«17 angedeutet. »Erstausgabe« wird definiert als »erste Ausgabe eines Buches, die im Buchhandel erschienen ist«18. Die Unschärfe besteht im Wort »Buch« in dieser Definition, weil dabei offen bleibt, ob Aspekte wie eine bestimmte Ausstattung einbezogen werden. Der Terminus »Erstausgabe« macht nur einen Sinn, wenn dies nicht der Fall ist, weshalb eine präzise Formulierung nicht auf Buch, sondern auf Werk abheben müsste. Der Artikel »Elektronisches Publizieren« bezieht den digitalen Workflow zur Erzeugung von Printprodukten mit ein – seit den 1990er Jahren versteht man unter elektronischem Publizieren nur noch das Publizieren digitaler Produkte. Der Artikel »Dezimalklassifikation« setzt die in Deutschland verbreitete mangelnde Unterscheidung zwischen der Dewey Decimal Classification und der Internationalen Universalen Dezimalklassifikation fort. Der Artikel »Schlagwortkatalog« – wie viele andere Artikel aus dem Bibliotheksbereich – repräsentiert ein veraltetes Bibliotheksbild, das hier offenbar noch von Zettelkatalogen ausgeht.
Hiller/Füssel, Artikel Nachschlagewerk. Hiller/Füssel, Artikel Ausgabe. Hiller/Füssel, Artikel Ausgabe. Hiller/Füssel, Artikel Erstausgabe.
Neuere Lehr- und Fachbücher und Fachlexika der Buchwissenschaft
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Bedenkt man die Auswahl der Artikel insgesamt und den Inhalt des Wörterbuchs, so kann auch die 7. Auflage nach vielerlei Aktualisierungen und Bearbeitungen binnen mehr als 50 Jahren den Ursprung des Werks in der Verleger-Perspektive nicht leugnen. Den Anspruch einer Buchwissenschaft »in einer stringent kulturwissenschaftlichen Perspektivierung (Stephan Füssel)«19, einer Buchwissenschaft, »die Inhaltsanalyse und äußere Form, Biographie und Soziologie, Theologie und Philosophie, Handwerks- und Sozialgeschichte, Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, kommunikationsund medienwissenschaftliche Aspekte zu synthetisieren sucht«20, löst das Lexikon nicht ein. Trotz dieser Mängel zeigt das Erscheinen einer 7. Auflage drei Jahre nach Reclams Sachlexikon des Buches, dass die Buchbranche auf den Hiller eingeschworen zu sein scheint. 2.2 Reclams Sachlexikon des Buches Rautenberg, Ursula (Hrsg.): Reclams Sachlexikon des Buches. 2., verb. Aufl. Stuttgart: Reclam 2003.
Den theoretischen Bezugsrahmen, den das Lexikon zugrunde legt und über alle Artikel durchhält, umreißen die langen Artikel »Buch« und »Buchwissenschaft«. Buch wird verstanden als materielles Objekt, ggf. auch elektronisches Speichermedium, das als Zeichenträger in kulturelle Kontexte der Kommunikation eingebunden ist, als Handelsware in wirtschaftliche Zusammenhänge gestellt wird, dessen sekundäre Funktionen (über die primären Funktionen hinaus, die mit der Bedeutung der Zeichen zusammenhängen) auf sozialen Verständigungen über den Stellenwert des Buchs beruhen (Buchbesitz als Statussymbol usw.). Dieser Ansatz erlaubt Anschlussfähigkeit der Buchwissenschaft an aktuelle kultur- und medientheoretische Diskurse, an empirische Forschungen über Buchnutzung und Buchkauf, impliziert von vornherein die Einbettung des Buchs als Medium in den Kontext anderer Medien. Symptomatisch stehen dafür die Artikel »Schriftwahl« und »Illustration«. Sie fungieren auf dem Hintergrund dieses theoretischen Bezugsrahmens als Scharnier zwischen dem Aspekt des materiellen Objekts, dem Aspekt der Handelsware und dem Aspekt des Buchs als Element in 19 20
Füssel: Buch-Forschung, S. 573. Füssel, S. 573.
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Kommunikationsprozessen, wenn als Kriterien für die Wahl der Schrift ihre Leistung für eine gute Repräsentation des Textes, die Lesbarkeit, die eingesetzten typographischen Mittel und der Umfang genannt werden. Dieser Bezugsrahmen führt zu auf den ersten Blick unspezifischen Lemmata, z. B. »Branding«, »Leseforschung«, »Lesen«, »Literatus«, »Medium«, »Marketing«, »Marketing-Mix«, »Pull-Marketing«, »PushMarketing«, »Publizieren« (Hiller und Füssel führen im Wörterbuch des Buches – siehe Kap. 2.1 – das Lemma »Veröffentlichung«, nehmen aber dabei ausschließlich auf den Vorgang im Sinn des Urheberrechts Bezug), »Mündlichkeit«, »Schriftlichkeit«. Die Erläuterungen sind stets kontextbezogen, beispielsweise heißt es über »Push-Marketing« im Anschluss an die allgemeine Definition: »→ Verlage ›drücken‹ ihre → Neuerscheinungen in den → Sortimentsbuchhandel […]. P. setzt eine starke Marktposition der Verlage voraus, ist dann aber gängige Praxis.«21 Eine Buchwissenschaft, die ihren Stoff so verortet, wird ein interessanter Partner für verwandte Wissenschaften wie die Kultur- und Medienwissenschaften, die sich ihrerseits gerne auch mit dem Buch befassen, denen aber nur zu oft solide Grundlagen in Bezug auf dieses Objekt fehlen, wie das BuchMarktBuch (siehe Kap. 2.5) zeigt. Die Herausgeberin hat sich elf Mitarbeiter gesucht (Buchwissenschaftler, Theologen, Buchhändler, Buchbinder, Verleger, Lektoren, Juristen u. a. m.); die Artikel sind namentlich gekennzeichnet. Vor allem sind die Artikel nach einem einheitlichen Schema aufgebaut – wie es in einem qualitätsvollen Lexikon eben gemacht werden soll – auf eine Definition (selten in Satzform mit »ist« nach dem Lemma angeschlossen) folgen je nach Sachverhalt vertiefende Ausführungen in einer präzisen Terminologie. Der Umfang liegt bei rund 1 600 Artikeln, die durchschnittlich etwas länger sind als im Wörterbuch des Buches (Kap. 2.1). Schlüsselbegriffe (»Antiquariatsbuchhandel«, »Bildschirmtypographie«, »Buch«, »Bucheinband«, »Buchillustration«, »Buchwissenschaft«, »Color Management System«, »Elektronisches Publizieren«, »Lesen«, »Papier«, »Preisbindung«, »Schrift«, »Urheberrecht«, »Verlag« u. a. m.) werden besonders ausführlich behandelt (rund zwei Seiten lang). Trotz der geringeren Anzahl an Artikeln ist der sachliche Umfang weiter als beim Wörterbuch des Buches (Kap. 2.1). Dies erreicht die Herausgeberin durch Verzicht auf veraltete, unübliche oder aparte Termini (z. B. Literärgeschichte, Literarische Bibliographie, Logbuch, die das Wörterbuch des 21
Reclams Sachlexikon des Buches, Artikel Push-Marketing von Dirk Wetzel, S. 417.
Neuere Lehr- und Fachbücher und Fachlexika der Buchwissenschaft
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Buches mitschleppt) und durch Verzicht auf Artikel über Personen und Verlage. Artikel über Länder und Städte kann man in einem Lexikon solchen Umfangs ohnehin nicht erwarten. Das Sachlexikon enthält aber neben Artikeln über Sachbegriffe auch einige über einzelne Bibliographien (u. a. »Deutsche Nationalbibliographie«). Sehr ausführlich und präzise wird die digitale Buchwelt (Produktion, Präsentation, Distribution, Nutzung) behandelt; beispielhaft seien folgende Lemmata genannt: »Bilddatei«, »Bildformat«, »Bitmap-Grafik«, »Bildschirmtypographie« (langer Artikel), »Bookware«, »Books on Demand«, »Database Publishing«, »Desktop Publishing«, »Digitale Medienproduktion«, »Digitalproof«, »Direct Imaging«. Einige dieser Termini sind unspezifisch; aber das ist kein Einwand gegen ihre Behandlung in Reclams Sachlexikon des Buches, denn erstens könnte man das auch gegen Artikel wie »Papier« vortragen, weil Papier keineswegs allein für gedruckte Bücher verwendet wird, zweitens ist es der Entwicklung der Buchwelt vollkommen angemessen und profiliert dieses Lexikon als das umfassende einbändige Nachschlagewerk des Fachs. Das angrenzende Gebiet Bibliothekswissenschaft wird angemessen miteinbezogen, und zwar auf aktuellem Stand und in einer klugen Auswahl von Begriffen (z. B. »Digitale Bibliothek«, »Kapselschriften«, »OPAC«). 2.3 Lexikon des gesamten Buchwesens (LGB2) Corsten, Severin/Pflug, Günther/Schmidt-Künsemüller, Friedrich Adolf (Hrsg.): Lexikon des gesamten Buchwesens. LGB2. 2., völlig neubearb. Aufl. Bd. 1ff. Stuttgart: Hiersemann 1987ff.
Die erste Lieferung erschien 1985; im August 2007 sind 6 Bände sowie ein Registerband komplett erschienen; Band 7 ist bis zum Lemma »Ukraine« fortgeschritten. Das Unternehmen kann nur als heroisch bezeichnet werden, sowohl was das Engagement des Verlags angeht wie auch hinsichtlich der Leistung der Herausgeber, von denen während der Planung und Produktion bereits zwei ausgeschieden oder verschieden sind (Alfred G. Świerk hat bis 1983 den ursprünglichen, längst und noch immer erweiterten Thesaurus von anfangs 16 000 Lemmata erstellt; Füssel trat ab Band 4 an die Stelle des verstorbenen Schmidt-Künsemüller). Es hat beinahe die Dimensionen von Grimms Deutschem Wörterbuch, bei dem das Erscheinen der 16 Bände sich bekanntlich von 1854 bis 1960 hinzog, und wie dieses repräsentiert das LGB2 von Lieferung
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Konrad Umlauf
zu Lieferung und damit von Buchstabe zu Buchstabe fortschreitend einen immer jüngeren Erkenntnisstand – aber beim LGB2 entsprechen sich, anders als beim Deutschen Wörterbuch, Chronologie und Alphabet. Mehrere Hundert Autoren waren oder sind beteiligt; die Artikel – im Umfang von zwei Zeilen bis zu über 15 Seiten – sind namentlich gekennzeichnet. Etwa die Hälfte der Seiten ist mit Abbildungen in Schwarz-Weiß ausgestattet (Fotos, reproduzierte Titelblätter, Buchseiten und Autographen, wenig graphische Darstellungen). Alle Artikel mit Ausnahme kurzer Definitionen (z. B. »Hurenkind«, »Mittellänge«) sind mit knappen Literaturangaben versehen, vorzugsweise Monographien, auch Aufsätze. Folgende Kategorien von Lemmata werden behandelt: –
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Sachbegriffe (z. B. »Dickte«, »Dicta«, »Bibliotheksausgabe«, »Bibliotheksbau«, »Stockflecken«, »Stockpresse«, »Titelblatt«, »Titelbogen«, »Titelbreite«, »Titelbuch«, »Titeldatenbank«, »Titeldrucke«), auch Termini, die nur indirekt die Buchwelt betreffen oder weit über diese hinausgehen, z. B. »Karlsbader Beschlüsse« oder »Nutzfläche«, Personen (Verleger, Drucker, Buchhändler, Buchbinder, Bibliothekare, Illustratoren, Schrift- und Buchgestalter, Bibliophile), darunter auch Personen, die keinen Buchberuf hatten oder unter diesem weniger bekannt, aber buch- und schriftgeschichtlich bedeutend sind, etwa »Benedikt von Nursia«, »Karl der Große«, »Goethe« (u. a. mit dem bekannten Zins-Zitat, das allerdings nicht belegt ist) oder (der gelernte Drucker) »Franklin, Benjamin«, Werktitel, beispielsweise von bedeutenden Enzyklopädien, wichtigen bibliographischen Datenbanken, von Zeitschriften, von Werken mit ergiebiger Editions- oder Illustrationsgeschichte wie etwa der Bibel (Artikel »Bibeldruck«, unter »Bibel« die Text- und Überlieferungsgeschichte), Verlage, weitere Unternehmen der Buchbranche, z. B. Schriftgießereien, Druckereien, und bemerkenswerterweise Buchhandlungen (z. B. »Osiandersche Buchhandlung«, »Akateeminen kirjakauppa« in Helsinki), Länder und Orte. Unter anderem diese Artikel stellen ein bemerkenswertes Alleinstellungsmerkmal des LGB2 dar.
Der Begriff ›Buchwesen‹ schließt hier Bibliotheken, Buchhandel, Buchherstellung, Buchgeschichte, Buchillustration, graphisches Gewerbe, Lesen und Lesegeschichte, Zeitschriftenwesen, in Grenzen auch Literaturgeschichte, Übersetzungstechnik, Informatik und Ökonomie ein, wenn, wie
Neuere Lehr- und Fachbücher und Fachlexika der Buchwissenschaft
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es im Vorwort heißt, die Sachverhalte »in ihrer ökonomischen oder sozialen Auswirkung deutlich in die Welt der Buchhändler, Verleger, Bibliothekare eingreifen«22. Trotz eines im Vorwort dargelegten klaren inhaltlichen Konzepts mit einer nachdenklichen Erörterung der naturgemäß schwierigen Ein- und Abgrenzung und trotz einer transparenten Vorgabe hinsichtlich Aufbau und Gestaltung der Artikel kann man kaum eine durchgreifende Einheitlichkeit erwarten – schon wegen des langen Zeitraums der Erarbeitung nicht, auch deshalb nicht, weil sich dieses Großunternehmen in weiten Teilen nicht auf Vorbilder stützen kann, sondern aus der Fachliteratur heraus erarbeitet wurde. (Die 1. Auflage erschien 1935 bis 1937 im selben Verlag, hatte aber thematisch einen engeren Ansatz.) Der lange Bearbeitungszeitraum bedingt auch, dass das Verweisungssystem mitunter von aktuelleren zu veralteten Artikeln führt, in denen man andernfalls die komplette Information erwartet hätte. So verweist der Artikel »Sammelrevers« (Lieferung 46, erschienen im Juli 2002, der in einem, offenbar noch in letzter Minute eingeschobenen Absatz auf das Preisbindungsgesetz hinweist, das zum 1.10.2002 in Kraft trat) nach Detail-Erklärungen zu Funktion und Verfahren des Sammelreverses auf den Artikel »Preisbindung« als übergeordneten Kontext. Dieser erschien in Lieferung 42 im Dezember 1999 und konnte zwar auf die in den 1990er Jahren geführte Debatte über die Preisbindung hinweisen, aber naturgemäß nicht auf das Preisbindungsgesetz. Und natürlich gibt es veraltete Artikel, allen voran »Bibliothekswissenschaft« und »Informationswissenschaft«, »Buchforschung« und »Buchwissenschaft«, die das in den 1990er Jahren infolge des Einflusses des Internets gewandelte Selbstverständnis dieser Fächer noch nicht aufgreifen konnten. Es liegt in der Natur der Sache, dass für aktuelle Einzelheiten, die einem raschen Wandel unterliegen, aber auch für grundsätzliche Ausführungen auf Gebieten, die seit Erscheinen auf eine neue Basis gestellt wurden, ein Lexikon wie dieses nicht das richtige Auskunftsmittel ist.
22
LGB2, Bd. 1, Vorwort von Herausgeber und Verlag, S. VI.
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Konrad Umlauf
Ein Vergleich unmittelbar aufeinander folgender Lemmata (einschließlich Verweisungen) soll das Profil des LGB2 verdeutlichen: LGB2
Wörterbuch des Buches
A a bibliotheca à condition → Bedingtverkehr À l’amiable-Verkauf A und O → Alpha und Omega Aa, Pieter van der Aachen Aachener Palastschule → Hofschule Karls d. Großen
Reclams Sachlexikon des Buches
Verlagslexikon
à condition
AACR → Anglo-American Cataloguing Rules AAfB → Allgemeiner Anzeiger für Buchbindereien Aagaard, Johan Aall, Jacob Aalst AAP → Association of American Publishers Aarhus → Århus Aarsbo, Jens Ab epistulis ab-Typ ABA → American Booksellers’ Association Abattoir Press → Duncan, Henry Abb, Gustav Abbe, Ernst Abbestellquote Abbeville-Evangeliar Abbey, Edwin Austin Abbey, John Roland Abbildungen Abbildung
ABA
Abbildung
Abbildung
Neuere Lehr- und Fachbücher und Fachlexika der Buchwissenschaft
LGB2
Wörterbuch des Buches
Abbildungsverzeichnis Abbinden Abbot, Ezra Abbrechen Abbreviaturen → Abkürzungen ABC
Reclams Sachlexikon des Buches Abbildungsmaßstab Abbildungsverzeichnis
Abbreviatur → Abkürzung ABC → Alphabet
Abbreviatur → Abkürzung
ABC-Buch
ABC-Buch → Fibel
Verlagslexikon Abbildungsmaßstab
ABC → Antiquarian Bookseller’s Center ABC → Audit Bureau of Circulation ABC-Analyse ABC-Buch ABC-Regeln → Alphabetische Ordnung Abdecken Abdingshofer Evangeliar → Weserschule ABDOSD Abdruck vor der Schrift Abdruckrecht → Nachdruckrecht Abdruckverfahren → Kopierverfahren Abecedarium → ABC-Buch Abel de Pujol, Pujol, Abel de Abendblatt Abenteuerbuch → Kinder- und Jugendbuch Aberli, Johann Ludwig Aberystwyth Abessinien
Abdruck vor der Schrift Abdruckrecht
Abecedarium → ABC-Buch
Abdruckrecht
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618 LGB2
Konrad Umlauf
Wörterbuch des Buches
Reclams Sachlexikon des Buches
→ Äthiopien ABF → Association des bibliothécaires français Abfallen Abfärben → Abschmieren Abformen Abgang → Aussonderung in Bibliotheken Abgequetschte Schrift Abgeschlossene Bibliographie Abgeschrägte Kanten → Abschrägen Abglätten Abhäsivpapier Abhandlung Abiegnus, Jakob → Thanner, Jakob Abkaschieren Abklatsch Abkoude, Johannes van Abkürzungen Abkürzungen im Frühdruck
Verlagslexikon
abfallend → angeschnitten
Abgeschlossene Bibliografien
Abhandlung
Abklatsch Abkürzung
Abkürzung Abkürzungsverzeichnis
Ablage Ablassbrief
Ablage Ablaufplan
Ablegen [Zurücklegen der Typen] Ablegen [Abfärben frischer Druckfarbe auf einen anderen Bogen] Ablichtungsdienst → Kopierdienst Ablieferung des Manuskripts Abliegen [Abfärben
abliegen
Neuere Lehr- und Fachbücher und Fachlexika der Buchwissenschaft
LGB2
Wörterbuch des Buches
Reclams Sachlexikon des Buches
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Verlagslexikon
frischer Druckfarbe auf einen anderen Bogen] Abnahme des Manuskripts Abnehmer Åbo → Turku Abominarium Abonnement
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Tab. 1: Übersicht der ersten unmittelbar aufeinanderfolgenden Lemmata aus den Lexika LBG2, Wörterbuch des Buches, Reclams Sachlexikon des Buches und des Verlagslexikon im Vergleich
Diese Tabelle – und man könnte dies an anderen Abschnitten des Alphabets ebenso zeigen – soll die Folie sein, auf der folgende Thesen gewagt werden. –
–
–
LGB2 ist international orientiert, wenn auch Personen und Sachverhalte mit deutschen Bezügen stärker berücksichtigt werden. Diese Internationalität drückt sich vor allem in der Auswahl der behandelten Personen, Länder, Orte, Verlage, Institutionen und Organisationen aus, weniger in Artikeln zu Sachbegriffen (z. B. enthält der Artikel »Preisbindung« keine Auflistung, in welchen Ländern welche Formen der Preisbindung gelten). LGB2 präsentiert insbesondere, aber nicht nur infolge der Personenund geographischen Artikel mehr Stoff (z. B. Termini aus der Fachsprache der Drucker, die heute keine Rolle mehr spielen wie »Ablegen« als Zurücklegen der Typen) als die einbändigen Lexika, sondern zerlegt den Stoff auch in kleinere Einheiten (»Ablieferung des Manuskripts«, »Abgeschlossene Bibliographien«, »Abkürzungen im Frühdruck« usw.; die Sachverhalte werden von den anderen Lexika z. T. im Rahmen allgemeinerer Artikel wie »Verlagsvertrag«, »Bibliografie« bzw. »Abkürzung« angesprochen). Dabei allerdings ist das Verweisungssystem im LGB2 nicht immer einwandfrei, wie beispielsweise das z. T. unverbundene Nebeneinander von Artikeln wie »Preisbindung« und »Ladenpreisbindung« zeigt. LGB2 holt buch- und kunstgeschichtlich, literatur- und kulturwissenschaftlich wesentlicher weiter aus (als Beispiele aus der obigen Liste: »Aachener Palastschule«, »Abenteuerbuch«, »Ablassbrief«). Vor allem darin liegt sein Wert weit über Buch- und Bibliothekswissenschaft hi-
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Konrad Umlauf
naus und macht die scheinbar betuliche Formulierung »Buchwesen« im Titel sinnvoll. In dem Sinn ist das LGB2 anschlussfähig gegenüber jenen Disziplinen, jedenfalls im Stoff. Dieses Lexikon ist ein riesiges Kapital für die Geistes- und Kulturwissenschaften insgesamt, sobald es irgendwie um einen Bezug zu Büchern geht. Wertvoll sind hier besonders die Artikel über die Editions-, Überlieferungs- und Illustrationsgeschichte zahlreicher Werke, etwa, um beliebig herauszugreifen, des »Roman de la Rose« oder der »Melusine«. Einige Artikel behandeln Gattungen und ähnliche literaturwissenschaftliche Sachverhalte (z. B. »Frauenliteratur«, »Reiseliteratur«, »Schelmenroman«), die naturgemäß in Büchern transportiert werden, aber es fällt schwer einzusehen, warum sie hier abgehandelt werden, zumal andere vergleichbare Begriffe nicht vorkommen (Formelsammlung, Fantasy-Roman, Phantastische Literatur) oder nur kurz definiert statt auch geschichtlich betrachtet werden (»Biographien«, »Ratgeber«). LGB2 deckt den Bibliotheksbereich ebenso ab wie die Themen des Buchhandels, während die einbändigen Lexika den Bibliotheksbereich gar nicht (Verlagslexikon – siehe Kap. 2.7 –, das ohnehin einen thematisch wesentlich schmaleren Zuschnitt als die drei anderen in der Tabelle verglichenen Lexika hat) oder eingeschränkt im Fokus haben (Beispiele aus der obigen Tabelle: »Abgang«, »Ablichtungsdienst«). LGB2 berücksichtigt den Bereich Management und Marketing weniger als die einbändigen Lexika. Etliche betriebswirtschaftliche Termini sind nicht enthalten, obwohl es bei diesen bibliotheks- bzw. buchhandelsbezogene Besonderheiten gibt, die eine Aufnahme in das Werk begründen könnten (z. B. Controlling, Einkaufsplanung im Buchhandel, Kostenrechnung, Produktpolitik, Kontenrahmen – für Druckereien und Zeitungsverlage ist ein spezifischer Kontenrahmen vorgeschrieben). Der Grund ist wohl, dass das LGB2 im Thesaurus trotz späterer Erweiterungen noch auf die Zeit um 1980 zurückgeht, als betriebswirtschaftliche Erfordernisse noch nicht so stark wie seit den 1990er Jahren in die Welt der Buchhändler, Verleger, Bibliothekare eingegriffen haben, um es mit den Worten des Vorworts zu sagen. Dagegen spiegelt das LGB2 den technokratischen Aufbruch wider, der diese Welt seit den 1960er Jahren ergriffen hat; Beispiele aus der Tabelle oben: »Abdruckverfahren«, »Ablichtungsdienst«; weitere Beispiele, die im ursprünglichen Thesaurus teilweise nicht enthalten sein konnten: »CD-ROM«, »Bibliotheksbau«, »Bibliotheksplanung«, »Computer Aided Publishing« (mit Verweisung von »Desktop Publi-
Neuere Lehr- und Fachbücher und Fachlexika der Buchwissenschaft
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shing«), »Integrierte Buchbearbeitung«, »Printing on Demand«, »Elektronisches Publizieren« (noch in der Bedeutung der 1980er Jahre, die Lieferung kam 1988), »Postskript«. Anders als von einem handlichen Nachschlagewerk, das von ein oder zwei Autoren oder Herausgebern mit einer überschaubaren Zahl an Mitarbeitern stammt, kann man von einer gigantischen Artikelsammlung wie diesem Lexikon einen einigermaßen konsistenten Bezugsrahmen nicht erwarten. Etwa die Artikel »Geschenk« und »Raumgliederung« behandeln das Thema ausschließlich aus bibliothekarischer Sicht (Buchgeschenke an bzw. Raumgliederung in Bibliotheken). Die Rolle des vom Konsumenten gekauften Buches als Geschenk kommt nicht vor, obwohl immer wieder die These aufgestellt wird, dass ein erheblicher Teil der im Bucheinzelhandel verkauften Bücher als Geschenk verwendet wird; ebenso wenig wird Raumgliederung in Bezug auf Ladeneinrichtung behandelt, obwohl die Raumgliederung einen durchschlagenden Einfluss auf Kundenverhalten und Abverkauf hat23. Gravierender: Der Artikel »Lesesozialisation« referiert den damaligen Stand (1994) der soziologischen Forschung ohne Bezug zur Rolle von Buchhandel und Bibliothek, während der Artikel »Leseförderung« Maßnahmen u. a. in Bibliotheken und Buchhandlungen aufzählt, ohne noch nach einem theoretischen Bezugsrahmen, wie er im Beitrag »Lesesozialisation« mit dem Hinweis auf Piaget angesprochen wird, zu fragen; die Artikel verweisen nicht aufeinander. »Schelmenroman« und »Schüttelreim« sind rein philologische Artikel, während der Artikel »Regiebuch« den Sachverhalt in einen funktionalen Kontext stellt und Sammlungen nennt. Oder der Terminus »Printmedien« wird nicht nur definiert, sondern im kommunikationswissenschaftlichen Zusammenhang verortet. Wahrscheinlich gibt es keine Heldentaten, die bei näherem Hinsehen keine dunklen Flecken aufweisen: Der Inhalt von Artikeln wie »Buch«, »Autor«, »Medien«, »Kanon«, »Klappentext« und das Fehlen von für die Buchwelt interessanten Termini wie Kulturelles Kapital, Literarisches Feld, Literaturbetrieb deuten darauf hin, dass ein tradiertes geisteswissenschaftliches Verständnis dominiert, auch wenn vereinzelt neuere buchbezogene kulturwissenschaftliche Termini berücksichtigt sind (»Paratext«). Die kultur- und medienwissenschaftliche Wende der Geisteswissenschaften seit den späten 1980er Jahren ist auch da im LGB2 nicht angekommen, 23
Kreft: Ladenplanung.
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wo die Stellung der Lemmata im Alphabet und damit in der Zeitleiste der Erarbeitung der Inhalte dies erlaubt, ja verlangt hätte. Obwohl es an zum jeweiligen Zeitpunkt der Bearbeitung neuen Termini und Inhalten nicht mangelt (beispielsweise ist dem Artikel »Heftmaschine«, erschienen in der Lieferung vom Mai 1991, das Foto einer in diesem Jahr auf den Markt gekommenen Heftmaschine beigegeben) ragt dieses Riesenwerk doch aus einer überraschend fern gewordenen Zeit in unsere Gegenwart, einer Zeit, als man noch ganz unbefangen von Buchwesen sprechen konnte und sich darunter die Summe all dessen vorstellte, was mit bedrucktem (oder unbedrucktem) Papier oder anderen Trägern von Buch-, Text- und Bildinhalten in irgend einem Zusammenhang steht ohne das Bedürfnis nach einem wie auch immer geformten Bezugssystem zu verspüren, das Komplexität theoriebildend zu reduzieren vermöchte. Deshalb können sogar Lemmata wie »Grundbuch« im Sinn von Grundstücksverzeichnis aufgenommen werden. Diese ungeheure und meistens qualitätsvolle Stoffsammlung wird noch lange Zeit ein Fundus für viele Disziplinen bei ihrer Befassung mit allen Aspekten von Themen rund ums Buch sein, ein Fundus, der sich kaum ausschöpfen lässt. 2.4 Lexikon Buch, Bibliothek, neue Medien Strauch, Dietmar/Rehm, Margarete: Lexikon Buch, Bibliothek, neue Medien. 2., aktualisierte u. erw. Aufl. München: Saur 2007.
Die 1. Auflage von Margarete Rehm erschien 1991 im selben Verlag. Die Lemmata der 1. Auflage wurden in der 2. Auflage von Dietmar Strauch aktualisiert und um zahlreiche Stichwörter, besonders aus den Bereichen Internet, Informatik, Neue Medien und Publizistik ergänzt. Der Umfang der 2. Auflage liegt bei rund 4 200 Lemmata mit einer Länge von zwei Zeilen bis einer Seite. Das Lexikon führt erstmals vier Bereiche zusammen, die in der deutschen Wissenschaftslandschaft, in Ausbildungs- und Studiengängen sowie in der Praxis trotz einiger Überschneidungen oder wenigstens Berührungen bisher weitgehend getrennt dastanden und erst seit den 1990er Jahren auf Basis des Internets sich in der Praxis annähern oder in Berufsbildern bzw. Studiengängen zusammengeführt werden. Insofern bedient das Lexikon einen zunehmenden Bedarf und platziert sich als Unikat. Das ist ein bemerkenswerter Ansatz. Den Autoren – in erster Linie Dietmar Strauch,
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der vor allem diese Erweiterung gegenüber der ersten Auflage vorgenommen hat – muss man Mut, vielleicht Chuzpe zugestehen. Diese vier Bereiche sind: – –
– –
Bibliotheken bzw. die traditionelle Bibliothekswissenschaft (beispielhafte Lemmata: »Schulbibliothek«, »Cutter, Charles Ami«, »Kreuzkatalog«, »Cataloguing in Publication«), die Buchbranche bzw. die Buchwissenschaft mit Artikeln etwa über »Kräuterbuch« (mit Verweisung von »Hortus sanitatis«), »Korpus«, »Kopialbuch«, »Nonpareille«, »Schriftgarnitur«, »Büchersendung«, »Remittenden«, Informationswissenschaft (Lemmata wie »Kozitationsanalyse«, »Scope note«, »Relevanzrückkopplung« oder »Dokumentarische Bezugseinheit«), Archive und Archivwissenschaft mit Stichwörtern wie »Provenienz« oder »Pressearchiv«.
Das Lexikon enthält Artikel über – – – – –
Sachbegriffe, z. B. »Register halten«, »Reimchroniken«, »Reiseführer«, »Reisemuster«, Personen, Organisationen, Institutionen u. ä., etwa »Budapest Open Access Initiative«, »Bundesarchiv«, Verlage, Werktitel u. ä., beispielsweise die Zeitschriften »Charivari«, das »Journal des Luxus und der Moden«, einzelne Datenbanken (z. B. »Medline«) oder die »Internationale Patentklassifikation«.
Anlage und Aufbau der Artikel sind uneinheitlich. Oft steht eine mitunter umständlich vorgetragene, mal als Satz formulierte, mal – wie in Lexika üblich – knapp gefasste Definition am Anfang (z. B. »Jungfrau bezeichnet in der → Typographie eine fertig gesetzte Seite, die als fehlerfrei gekennzeichnet ist.«24), mal fehlt eine Definition und der Sachverhalt wird so erläutert, dass die präzise Ein- und Abgrenzung des Terminus unklar bleibt oder allenfalls im Sinn einer Aufzählung seiner Bestandteile erhellt wird (Beispiel: »Erwerbung«. Gemeint ist die Erwerbung in Bibliotheken, was nicht aus dem Lemma, sondern aus dem ersten Satz des Artikels hervorgeht. Hier wird die im Lexikon nicht bewältigte Schwierigkeit deutlich, 24
Strauch/Rehm: Lexikon Buch, S. 245.
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Fachterminologie in einen inter- oder transdisziplinären Kontext einzubringen). Manche Artikel sind nach einem Schema wie etwa: Definition – Erläuterung – aktueller Sachstand – Geschichte aufgebaut, andere Artikel, bei denen sich dasselbe Schema anwenden ließe, verzichten auf einen Abschnitt zur Geschichte (Beispiel: Artikel »Buchpreisbindung«) usw. In den Artikel »Buch« schiebt sich überraschend zwischen den Hinweis auf Vorformen des heutigen Buchs (Buchrolle) und die Erwähnung Gutenbergs der Satz hinein: »›Buch‹ wird auch als Teilbezeichnung eines Ganzen gebraucht, z. B. erstes Buch, zweites Buch usw.« Gemeint ist: Buch als Gliederungseinheit größerer Werke, keineswegs irgendeines Ganzen. Sehr viele Artikel leiden unter einem dermaßen unklaren Aufbau. So wird im Artikel »Buchwissenschaft« eine Aufzählung der Themen dieser Disziplin durch den Hinweis unterbrochen, dass die Medienstiftung der Sparkasse Leipzig zusammen mit der Universität Leipzig einen »Förderpreis Buchwissenschaft« vergibt. Manche Artikel stehen unkoordiniert nebeneinander, auch wenn teilweise verwiesen wird, z. B. »Buchpreisbindung« und »Ladenpreis«. Das kommt bei diesem Beispiel wohl daher, dass auch das LGB2 (siehe Kap. 2.3) beide Lemmata aufführt (nur »Preisbindung« statt »Buchpreisbindung«), aber mit einer sinnvollen Arbeitsteilung zwischen beiden Artikeln, die beim oberflächlichen Zusammenraffen verloren gegangen ist. Sprachlich, teilweise auch in der Sache ist das Lexikon durchgängig von Unschärfen und Ungeschicklichkeiten durchzogen. Symptomatisch ist die Verwendung von »Schmutztitel« in der Bedeutung von »Schmutztitelblatt« oder die umgangssprachliche Formulierung im Artikel »Bücherfluch«: »[…] werden ihm alle möglichen Strafen angedroht«25; gemeint ist natürlich nicht »alle möglichen«, sondern »die verschiedensten«. Historische Konnotationen von Lemmata werden nicht reflektiert (z. B. »Schundliteratur«). Im Artikel »Honorar« heißt es: »Das Übersetzerhonorar, das bei deutschen Erstausgaben und fremdsprachigen Originalausgaben [!?] anfällt, wird meist ebenfalls in Form eines Pauschalhonorars gezahlt, wobei der Übersetzer einen Festbetrag pro Normseite erhält. Üblich ist auch eine sogenannte Bestsellerbeteiligung bei besonders erfolgreichen Titeln. Die Honorarsätze bewegen sich zwischen […]«26. Die Bestsellerbeteiligung bezieht sich nicht auf das Übersetzerhonorar, sondern auf die im Satz davor angesprochenen Autorenhonorare. Ein Hinweis auf rechtliche Regelungen (»angemessene Vergütung« nach § 32 UrhG) fehlt. Der Arti25 26
Strauch/Rehm, S. 88. Strauch/Rehm, S. 218.
Neuere Lehr- und Fachbücher und Fachlexika der Buchwissenschaft
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kel informiert weder den Verlagspraktiker noch den historisch interessierten Buchwissenschaftler angemessen, auch wenn mit acht Zeilen auf die Herausbildung der Autorenvergütungen im »18./19. Jh.« hingewiesen wird. Beim Kompilieren sind mitunter Sinnentstellungen unterlaufen, so heißt es etwa im Wörterbuch des Buches (siehe Kap. 2.1) im Artikel »Logbuch«: »Ältere L. bilden wesentliche Beiträge für die Geschichte der Seefahrt und sind daher begehrte Objekte im Antiquariats-Buchhandel.«27; bei Strauch und Rehm wird daraus: »Ältere Logbücher enthalten oft Beiträge zur Geschichte der Seefahrt und sind deshalb begehrte Objekte im Antiquariatsbuchhandel.«28 Am Rande: Die ständige Wiederholung des überflüssigen »sogenannt« hebt die Qualität des Lexikons nicht. Seine Herkunft im Bibliotheksbereich kann das Lexikon nicht leugnen. Bibliotheksbezogene Sachverhalte werden durchgängig differenzierter und präziser erläutert als die aus den anderen Bereichen. Beispielsweise behandelt der Artikel »Heften« ausdrücklich die Besonderheiten beim Heften von Bibliothekseinbänden, weil diese besonders stabil sein sollen. Sehr blass ist der Bereich Archiv vertreten; so haben einzelne Bibliothekstypen (»Schulbibliothek«, »Staatsbibliothek« usw.) oder Buchhandelsformen (»Bahnhofsbuchhandel«, nicht: Boulevard-Buchhandlung) eigene Artikel, nicht aber Archivtypen (außer »Pressearchiv« und »Rundfunkarchiv«); etliche Verlage haben Eintragungen erfahren ebenso wie bedeutende Bibliotheken, von den Archiven nur das »Bundesarchiv«. Es kann nicht überraschen, dass Tiefe, Detaillierung und Qualität bei einem so breit angelegten Lexikon, das von zwei Autoren mit beträchtlichem zeitlichen Abstand erarbeitet ist, wenn sie auch im Vorwort vier Unterstützern danken, sehr unterschiedlich ausfällt. Im Folgenden soll der buchwissenschaftliche Gehalt betrachtet werden. – –
27 28
Etliche Artikel behandeln einzelne Publikationsgattungen, -titel oder -gruppen, z. B. »Inkunabeln«, »Enzyklopädie«, »Flugblatt«, »Gartenlaube«, »Publikumszeitschrift«, »Pressendrucke«, »Regenbogenpresse«. Termini aus der aktuellen Praxis der Buchbranche und aus der Buchund Schriftgeschichte sind weitgehend berücksichtigt, weniger aus der Buchherstellung, beispielsweise »Bedingtverkehr« (aber ist nicht der Ausdruck àc-Bezug verbreiteter?), »Humanistische Minuskel«, »Hurenkind«, »Korrekturabzug«, »Mängelexemplare«, »Nachlass«, »Origi-
Hiller/Füssel: Wörterbuch des Buches, S. 211. Strauch/Rehm: Lexikon Buch, S. 289.
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nalausgabe«, »Vorsatz«, dagegen z. B. nicht die speziellen Termini aus der Herstellung: Desktop Color Separations, Nachfalz, Rausatz. Die Auswahl der Verlage ist kaum nachzuvollziehen: »S. Fischer« und »Suhrkamp« werden behandelt, Wagenbach, Diogenes und Lübbe nicht; die Verlage »Axel Springer«, »Springer« und »de Gruyter« sind mit Artikeln vertreten, C. H. Beck nicht usw. Originell in einem Fachlexikon und nützlich sind Artikel wie »Praktikum« (deutet als Titelwort eines Buchs auf eine praktische Anleitung hin) oder »et al.« (im Literaturzitat anstelle der Namen von Mitverfassern). In Details sind nicht wenige Artikel problematisch. Der Artikel »Hörerrabatt« ist irreführend, weil er im Präsens steht. Der Hinweis fehlt, dass das Buchpreisbindungsgesetz einen Hörerrabatt nicht mehr vorsieht. Derlei Fehler erregen den besonderen Unmut und den Verdacht, dass dem Kompilierer Sachkenntnis fehlt. Im Artikel »Buchpreisbindung« fehlt die Aussage, dass unter das angesprochene Preisbindungsgesetz fremdsprachige Bücher nur dann fallen, wenn sie überwiegend für den Absatz in Deutschland bestimmt sind, womit die englischsprachige Buchproduktion der deutschen Wissenschaftsverlage aus der Preisbindung herausfällt. Überraschend heißt es in dem Artikel: »Die individuelle Durchführung der Preisbindung beruht auf schriftlichen Verträgen zwischen dem preisbindenden Verlag einerseits und dem gebundenen Händler andererseits, die handschriftlich unterzeichnet werden müssen.«29 Vielleicht ist den Autoren hier eine Aussage über das bei Zeitschriften weiter geltende Reverssystem in den Artikel über die Buchpreisbindung hineingerutscht – oder sollte man hierin wieder eine Bestätigung für den Verdacht mangelnder Sachkenntnis erblicken? »Brotschrift« sei eine Schrift von 5 bis 10 Punkt – eine mindestens eigenwillige Auskunft.
»Buch« wird definiert als »in einem Umschlag oder Einband durch Heftung zusammengefasste Anzahl von leeren, beschriebenen oder bedruckten Papierblättern.«30 Abgesehen von allerlei Unschärfen – von Buch spricht man natürlich auch, wenn die Blätter nicht aus Papier, sondern wie bei manchen Kinderbüchern aus Pappe oder bei manchen Straßenatlanten aus Kunststofffolie sind – behandelt der Artikel hauptsächlich die Ge29 30
Strauch/Rehm, S. 100. Strauch/Rehm, S. 82.
Neuere Lehr- und Fachbücher und Fachlexika der Buchwissenschaft
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schichte der Buchherstellungsverfahren (Gutenberg, Fotosatz usw.) und verweist auf entsprechende weitere Artikel. Pauschal kommen noch ein Satz über das Buch als »im Kulturleben eine der bedeutendsten Erscheinungen«31 und der tröstliche Hinweis, dass trotz der Neuen Medien Bücher bedeutsam bleiben werden, da die Neuen Medien an Bücher als Quelle gebunden sind – eine ebenso kühne wie unscharfe Behauptung: Ist damit gemeint, dass Neue Medien lediglich vorhandene Inhalte gedruckter Bücher auf einem Datenträger transportieren? Hier wie oft rätselt man, ob das Lexikon Unfug oder Unklarheiten enthält. Oft genug ist beides der Fall. Weder wird der Buchbegriff (Buchbegriff der Herstellung, Buch als Zeichensystem usw.) problematisiert, noch wird der Terminus in einen medialen Kontext gestellt (Funktionen des Buchs). Dem entspricht, dass »Buchwissenschaft« als »Querschnittswissenschaft aus verschiedenen Disziplinen«32 (Betriebswirtschaft [gemeint ist: Betriebswirtschaftslehre], Kulturwissenschaft, Philologie u. a.) verstanden wird. Die buchwissenschaftlich interessante Frage nach verschiedenen Theorieansätzen, nach unterschiedlichen Fragestellungen und Methoden wird gar nicht angesprochen. Hier wird die ganze Konzeptionslosigkeit des Lexikons deutlich. Literaturangaben fehlen. Insgesamt liegt hier eine über 470 Seiten umfassende, schlecht durchgearbeitete Kompilation von Wissenssplittern (bis hin zu »Beat«, eine von der Uhrenfirma Swatch erfundene Zeiteinheit als Taktgeber im WWW, oder im Artikel »Medien« eine bezugs- und beziehungslose Zusammenstellung von Einzelaussagen) vor, die unter nicht ganz einsichtigen Kriterien zusammengestellt wurden. Dennoch muss der Versuch anerkannt werden, ein modernes, handliches Lexikon herauszubringen, dass der Internet basierten Konvergenz bisher getrennter Bereiche Rechnung tragen will.
31 32
Strauch/Rehm, S. 82. Strauch/Rehm, S. 107.
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Konrad Umlauf
2.5 Das BuchMarktBuch Schütz, Erhard u. a. (Hrsg.): Das BuchMarktBuch. Der Literaturbetrieb in Grundbegriffen. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2005 (Rowohlts Enzyklopädie. 55672).
Hier steht nicht das Buch, sondern der Literaturbetrieb im Mittelpunkt; der Literaturbetrieb also soll lexikalisch erschlossen werden, und dazu gehört dann doch auch das Buch. Einen Artikel über »Literaturbetrieb« vermisst man allerdings zwischen »Literaturarchiv« und »Literaturfestival«. Folgende Lemmata verdeutlichen, worum es geht: »Autor«, »Literaturagentur«, »Verlag«, »Buch«, »Buchhandel«, »Buchhandlung«, »Lesung«, »Öffentlichkeits-/PR-Arbeit«, »Buchmesse«, »Literaturhaus«, »Sponsoring«, »Kult«, »Creative Writing«, »Literarisches Feld«. Die Schnittmenge mit dem Gegenstand der Buchwissenschaft ist offensichtlich und umfangreich. Motiv, ein solches Lexikon zu publizieren, ist wohl, dass sich seit den 1990er Jahren kulturwissenschaftliche Studiengänge zunehmend der aktuellen Praxis öffnen und Inhalte aufgreifen, die die Absolventen an künftige berufliche Aufgaben heranführen sollen. Das ist berechtigt und begrüßenswert. In diesem Sinn formulieren die Herausgeber (Literaturwissenschaftler) ihren Anspruch im Vorwort: »Mit dem vorliegenden BuchMarktBuch wird zum ersten Mal der Versuch unternommen, ein Nachschlagewerk zur Verfügung zu stellen, das den historischen, praktischen und kulturanalytischen Perspektiven auf die Verbindung von Literatur und Markt gerecht wird.«33 Materielles Objekt dieser Verbindung ist neben Literaturzeitschriften und den Feuilletonseiten der Zeitungen eben vor allem das Buch. Konsequenterweise kommen die über 40 Autoren der Beiträge, die durchweg ziemlich weite Begriffe behandeln und durchschnittlich drei Seiten lang sind, teils aus dem Wissenschaftsbetrieb, teils aus dem herstellenden und verbreitenden Buchhandel, auch aus Journalismus und Eventbetrieb. Zugleich erklären die Herausgeber im Vorwort berechtigterweise, dass nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung dabei nur ein Konglomerat herauskommen kann – freilich ist ein Konglomerat von sehr unterschiedlichen, vor allem aber unverbundenen und nur allzu oft ungenügenden 33
Schütz: Das BuchMarktBuch, S. 7.
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Perspektiven entstanden. Dies mindert den Wert des interessanten und innovativen Ansatzes. Im Vorwort und in mehreren Artikeln wird auf Pierre Bourdieus Ansatz des literarischen Felds mit symbolischem und ökonomischem Kapital Bezug genommen34 – akademisch interessant, aber für Anwendungen im Literaturbetrieb wären ein Bezug zur Theorie der sozialen Milieus und Lebensstile35 sowie Aussagen über empirisch ermittelte Medien-, Leseund Literaturaffinitäten sozialer Milieus und über darauf fußende Mediennutzer-Typologien ergiebiger, wie sie in der Rundfunk-Forschung36 etabliert sind und neuerdings von der Buchmarkt-Forschung im Auftrag des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels angewendet werden. Auf diese Theorien kommt das Buch nur en passant und sehr verschwommen im Artikel »Erlebnisgesellschaft« zu sprechen und hier mit Bezug zu Gerhard Schulzes Ansatz37. Dieser Ansatz aber wurde zwar akademisch diskutiert, hatte für die Konsumforschung und Marketingplanung praktisch keine Folgen und wird anders als die Sinus-Ansätze nicht laufend mit empirischen Daten aktualisiert. Damit verschenkt das Buch einen zentralen Zugang zu Marketing-Perspektiven, wie sie heute in vielen Verlagen vorherrschen. Die Auswahl der Artikel deckt das Thema weitgehend ab, wie die folgenden weiteren, beispielhaft herausgegriffenen Lemmata verdeutlichen sollen: »Mission Statement«, »Modernes Antiquariat«, »Poetry Clips«, »Portfolio-Analyse«, »Verramschung«, »Künstlersozialversicherung«, »Paratexte«. Andererseits hätte man Beiträge über die Verkehrsordnung des Buchhandels (sie wird im Artikel Buchhandel erwähnt, aber nicht inhaltlich erläutert und fehlt im Register) oder über den PEN (der im Beitrag über Autorenverbände nur erwähnt wird und im Register wie die anderem in dem Beitrag genannten Verbände keinen Hinweis hat) erwartet, überraschenderweise fehlen auch Artikel über Literatur- bzw. Autorenausstellungen und den für die Aufgaben des Verlags zentralen Begriff der Ausstattung – auch im Register fehlt der Terminus. Erwähnt wird der Begriff – was ganz und gar berechtigt ist – im Rahmen der Beiträge über »Herstellung« (ausgezeichneter Artikel) und »Ausgabe«; allerdings wird er hier inhaltlich anders gefasst als dort.
34 35 36 37
Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Georg: Soziale Lage. Oehmichen/Ridder: Die MedienNutzerTypologie. Schulze: Erlebnisgesellschaft.
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Die Inkonsistenz lässt sich ausgehend vom exzellenten Beitrag »Preispolitik« veranschaulichen. Dieser Beitrag würdigt detailliert die Spezifik einer Preispolitik von Verlagsprodukten und zeigt weitsichtig Trends auf. Ein Artikel zu diesem Thema fordert, wenn man sich im Rahmen eines Marketing-Ansatzes bewegen will, wie es viele Artikel mehr oder minder konsequent tun, auch einen Artikel Produktpolitik – den gibt es aber nicht. Das Thema Produktpolitik wird – klug, reich an Aspekten und Anekdoten – im Rahmen der Beiträge über »Marketing« und »Lektorat« angesprochen (teilweise mit anderer Terminologie – »Produktmarketing«). Der Beitrag »Produkt« dagegen zeigt beeindruckend aktuelle Trends verlegerischer Produktpolitik auf, ohne sich mit den eigentlich doch verwandten Artikeln zu vernetzen. Ein vergleichbares Paar bilden die Termini »Hardcover« und der fehlende Terminus Softcover. Das Buch bietet deshalb nicht nur unverbundene, sondern vor allem ungenügende Perspektiven. Das erstaunt umso mehr, als man von den Artikeln der Praktiker eigentlich etwas anderes erwarten sollte. So referiert der Artikel »Werbung« knapp Lehrbuchwissen über Bestimmung der Zielgruppen, Festlegung der Werbebotschaft und des Budgets sowie Wahl der Maßnahmen und garniert diese dürftigen Ausführungen mit Anekdoten jüngerer, origineller Werbekampagnen. Auf demselben Raum hätte man nützlichere und konzisere Information unterbringen können, beispielsweise eine Matrix, die Zielgruppen, Botschaften (z. B. Preiswerbung, Leistungswerbung, Imagewerbung) und Werbestile zuordnet. Was das Spezifikum an Werbung für Buch und Literatur im Unterschied zu Werbung für beliebige andere Konsumgüter ist, bleibt offen. Höchst diffuse Beiträge stehen neben präzise informierenden Artikeln. Einige Beispiele mögen dies illustrieren. Im wortreichen, aber nichts sagenden Essay »Kult« fehlt die entscheidende Aussage: Vom Terminus »Kult« – so wie er hier gemeint ist, der angesprochene Bezug zu heidnischen Kulten ist irreführend – führt kein Weg zu einer empirischen Operationabilität. Dagegen erhellt der Artikel »Kulturbetrieb« den mehrdeutigen Terminus und wartet mit erläuternden Zahlen – wenn auch wenigen – auf. Beispiele für gelungene Beiträge sind die Artikel »Buch« (wohl der beste Beitrag: präzise, erschöpfend im Rahmen des Umfangs), »Buchdruck«, »Buchgemeinschaft«, »Buchhandel«, »Buchhandlung«, »Buchmesse«, »Literaturhaus« – sie informieren konzise und klar. Bei »Buchpreisbindung« wiederum fehlen zwei entscheidende Aussagen, nämlich erstens welche Produkte genau (die Formulierung »Bücher« ist unzureichend, weil eben nicht alle in Deutschland vertriebenen Bücher preisgebunden sind)
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durch das Preisbindungsgesetz preisgebunden werden und zweitens, dass es nicht nur nicht verboten (wie der Artikel mit unpräzisen Formulierungen nahe legt), sondern verpflichtend vorgeschrieben ist, für den Letztverkäufer (und nicht den »Zwischenhändlern«38, wie der Artikel falsch formuliert) einen Endverkaufspreis festzusetzen. Als charakteristisch für derlei sich durch eine stattliche Anzahl von Artikeln hindurch ziehende Unschärfen, kleinere Ungenauigkeiten und Nachlässigkeiten mag der Artikel »Subskription« stehen: Er nennt grundlegend den Sachverhalt (Eingehen der Kaufverpflichtung in der Regel vor Erscheinen), erwähnt dann aber eine untypische Marginalie (Eckhard Henscheids Die Vollidioten mit dem Subskriptionsaufruf in Pardon), lässt andererseits präzise Aussagen einfach weg (Wie lange nach Erscheinen darf der Subskriptionspreis noch gelten? Um wie viel darf der tatsächliche Subskriptionspreis höher ausfallen als der angekündigte, wenn dieser mit einem »ca.« versehen war?). Der Beitrag »Titel« gibt eine schöne Definition (»Name eines Erzeugnisses aus geistiger und schöpferischer Arbeit«39), informiert richtig und präzise über Titelschutz und Bedeutung für das Marketing mit anschaulichen Beispielen, verwendet dann aber den Terminus abweichend von der gerade gegebenen Definition in der Bedeutung von »Ausgabe« bzw. »Werk« – das führt zum sprachlichen Unglück: »Erscheint ein Titel [gemeint ist: Werk] in einer neuen Verwertungsform, […], erhält er […] keinen neuen Titel [im Sinn von: Namen]«40. Verwandte Begriffe sind in einigen Fällen von verschiedenen Autoren verfasst, so dass es teils zu überflüssigen thematischen Überschneidungen – was kein gravierender Mangel wäre –, teils zu Konflikten zwischen Definitionen und damit zu Begriffsverwirrungen kommt (z. B. »Auflage« bzw. »Ausgabe«). Ein Artikel ganz ohne Aussagekraft ist »Kundenbindung«: Hier wird lediglich gesagt, dass sie immer wichtiger wird – was das eigentlich ist, wird tautologisch erklärt (»Kunden an das Unternehmen, die Marke oder das Produkt zu binden«41). Dann werden allerlei Werbemaßnahmen aufgezählt, das Spezifische bei ihrem Einsatz mit dem Ziel der Kundenbindung wird ebenso wenig klar wie die Messung der erreichten Kundenbindung, so dass der Leser ratlos bleibt. Das nützliche Instrument der Fokusgruppe wird hier erwähnt, allerdings verschwommen beschrieben und vor 38 39 40 41
Schütz: Das BuchMarktBuch, S. 88. Schütz, S. 347. Schütz, S. 347. Schütz, S. 189.
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allem: Das Beispiel passt gar nicht, weil es bei der erwähnten Fokusgruppe nicht um Kundenbindung, sondern um Produkt- und Covergestaltung geht. Ebenfalls nichts sagend ist der Beitrag »Unterhaltungsliteratur«, ein wortreicher Essay, dem es nicht gelingt, Breschen in Bourdieus literarisches Feld zu schlagen. Insgesamt ist der Spannungsbogen zwischen einem geistes-(kommentar-) wissenschaftlichen Ansatz, der kulturelle Phänomene deutet und in ein theoretisches Modell einordnet, und einem handlungswissenschaftlichen Ansatz, der empirisch begründete Methoden zur Optimierung von Praxis entwickelt, nicht gelungen ausbalanciert. Das kann exemplarisch am Beitrag »Lesung« illustriert werden: Er entfaltet einerseits ein kulturwissenschaftliches Forschungsprogramm, wie es auf dem Hintergrund des Paradigmenwechsels zur Performanz mustergültig beschrieben werden kann, gibt andererseits keinerlei Hinweise auf Marketing und Organisation von Lesungen. Gelungen ist die Vernetzung der Artikel durch Verweise am Ende jedes Beitrags – nicht in den Artikeln, was dem Charakter des Lexikon entspricht –, gut und aktuell sind die sparsamen Literaturhinweise am Ende der Beiträge. 2.6 ABC des Buchhandels Paulerberg, Herbert (Hrsg.): ABC des Buchhandels. Wirtschaftliche, technische und rechtliche Grundbegriffe für den herstellenden und verbreitenden Buchhandel. Begr. v. Wilhelm Stöckle. 10., erw. u. aktualisierte Aufl. Würzburg: Lexika Verlag 2001.
Zielgruppe sind Praktiker im Buchhandel sowie Auszubildende. Ein Interesse an einer theoretisch fundierten Durchdringung der Buchwelt oder dem Erkennen von Zusammenhängen, die über funktionierende Praxis hinaus gehen, kann hier nicht erwartet werden; so ist etwa der fünfseitige Artikel über »Geschichte des Buchhandels« eine knappe Chronologie markanter Ereignisse. Aus Sicht der Buchwissenschaft handelt es sich um eine wertvolle Quelle, die aktuelle Praxis beschreibt. Autoren und Herausgeber kommen fast alle aus der Buchhandelspraxis oder den buchhändlerischen Berufsschulen. Auf rund 200 Seiten werden gut 200 Lemmata erläutert, die teils auch in anderen Lexika zu Buch und Buchwissenschaft behandelt werden (z. B. »Depotbuchhandlungen«, »Lektor«), die teils Praktiker-Jargon sind oder
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deren Behandlung den Charakter von Anleitungen für die Praxis trägt (beispielsweise »Lifestyle-Buchhandlung«, »Inventur«, »Empfehlungen für den Geschäftsverkehr zwischen Bibliotheken und Buchhandel«). Die Auswahl der Lemmata erscheint für den Zweck völlig angemessen und orientiert sich auch an Prüfungsfragen in der buchhändlerischen Berufsausbildung. Einige Artikel (»Schwerpunktartikel«) sind meistens zwei bis drei Seiten lang (»Preisbindung«, »Einkauf im Sortiment«, »Steuern«, »Rechnungswesen« u. a. m.). Sprachlich wird der Stoff journalistisch, mitunter persuasiv präsentiert (Schlusssatz im Artikel »Desk-Top-Publishing« [ungewöhnliche Schreibung]: »[…] wird nun die fünfhundertjährige Tradition Gutenbergs endgültig zu Grabe getragen.«42). Auch die Formulierung mancher Lemmata kommt der Alltagssprache in der Praxis entgegen (Artikel »Dauer des Urheberrechts«, in dem dann die präzise Formulierung »Ablauf dieser Schutzfrist« gebraucht wird). Eine hervorragende Beigabe ist eine systematische Übersicht, die die Lemmata zu allerdings in ihrer Reihenfolge nicht ganz einsichtigen Gruppen zusammenstellt. Dadurch lässt sich das Lexikon lehrbuchartig lesen. Eine systematische Präsentation der Lemmata fehlt in allen anderen hier behandelten Lexika, obwohl sie wohl bei deren Erarbeitung meistens zugrunde lag. Ein rund hundertseitiger Anhang enthält Dokumente und Verzeichnisse, die wiederum in der gegenwärtigen Buchhandels- und Verlagspraxis den handelnden Personen gegenwärtig sein müssen: »Meldenummernsystem« für den Buchhandel (das in vielen Buchhandlungen neben dem PC für die Wareneingangsbearbeitung pinnt), Spartenpapier (»Verhaltensgrundsätze des Buchhandels«) und »Verkehrsordnung«, »Verordnung über die Berufsausbildung zum Buchhändler/zur Buchhändlerin« u. a. m. Das knappe Literaturverzeichnis hat den Schwerpunkt bei Berufsschul-Lehrbüchern, führt auch einige Fachbücher auf. 2.7 Kleinere, populäre und spezielle Lexika
Daneben erschienen etliche weniger bedeutende Nachschlagewerke, die hier nur erwähnt werden können: –
Gent, Sigrid: Die Taschenbuch-Fibel. 100 Stichwörter rund ums Taschenbuch. 2. Aufl. Frankfurt a. M.: Buchhändler-Vereinigung 1995.
42
Paulerberg: ABC des Buchhandels, S. 60.
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– –
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Das Taschenbuch Lexikon. Über 150 Stichwörter rund ums Taschenbuch. Hrsg. v. der Arbeitsgruppe Taschenbuchverlage. Frankfurt a. M.: Buchhändler-Vereinigung 1998. Althaus, Birgit: Das Buchwörterbuch. Nachschlagewerk für Büchermacher und Buchliebhaber. Erftstadt: Area 2004.
Die Taschenbuch-Fibel von Sigrid Gent erschien erstmals 1982. Das Taschenbuch-Lexikon ist eine ergänzte und aktualisierte Neuausgabe der 2. Auflage der Taschenbuch-Fibel. Zielgruppe sind Sortimentsbuchhändler und Auszubildende im Sortimentsbuchhandel, die aus Sicht der Taschenbuchverlage umworben und informiert werden sollen (»Das Taschenbuch hat für den Sortimenter einen ganz besonderen Stellenwert.«43). Ein einleitender Essay von Heinz Friedrich erzählt journalistisch die »Taschenbuch-Story«. Die im Durchschnitt ca. zwei Seiten langen Artikel präsentieren journalistisch aufbereitet und oft im Praktiker-Jargon aktuelles buchhändlerisches Fachwissen, das hauptsächlich darauf ausgerichtet ist, die Stellung des Taschenbuchs im Sortimentsbuchhandel zu stärken und die Leistungen der Taschenbuch-Verlage für den Sortimentsbuchhandel bekannter zu machen (z. B. Artikel über »Aktionen«, »Anzeigen«, »Filmbuch«, »Modernes Antiquariat«). Alle Artikel sind ausschließlich auf das aktuelle Taschenbuch bezogen. Jedoch sollen die Titel nicht als reine MarketingMaßnahme der Taschenbuch-Verlage (im Anhang über 50 Inserate von Taschenbuch-Verlagen) abgetan werden; die beiden Titel sind für Praktiker und Auszubildende im Buchhandel nützliche Nachschlagewerke und für die Buchwissenschaft eine wertvolle Quelle, die Auskunft über Praxis gibt (beispielhaft sei zitiert: »Mit entscheidend für die Rentabilität einer Sendung ist die Bündelung. […] Die Verlage und ihre Verlagsauslieferungen suchen nach Möglichkeiten, die Bündelung zu erhöhen und damit die Rentabilität ihrer Kunden im Sortiment zu verbessern.«44). Birgit Althaus’ Buchwörterbuch auf billigem Papier zu einem sensationell niedrigen Preis (9,95 Euro) kompiliert ca. 2 700 Stichwörter aus vorhandenen Lexika und beschränkt sich naturgemäß auf knappste Angaben, meistens kaum mehr als Definitionen, einige Artikel (z. B. »Buch«, »Papier«) umfassen bis zu einer Seite. Bei dieser Kompilation ohne Quellenangaben sind mitunter Sinn verändernde Kürzungen unterlaufen (oder bewusst gewollt?): So ist der Artikel »Buchforschung« aus Hiller und Füssel (Wörterbuch des Buches, siehe 2.1) umformuliert übernommen, aber 43 44
Das Taschenbuch-Lexikon, S. 32. Das Taschenbuch-Lexikon, S. 77–78.
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während Hiller und Füssel vier Themen der Buchforschung nennen, reißt das sinngemäße Zitat bei Althaus nach Punkt 3 ab. Generell sind technische Details oft weggelassen. Literaturangaben und Vorwort sind nicht vorhanden. –
– –
Bramann, Klaus-W./Plenz, Ralf (Hrsg.): Verlagslexikon. Hamburg: Input-Verlag/Frankfurt a. M.: Bramann 2002. Das Verlagslexikon beruht auf dem Fachwörter-Lexikon Verlagswesen45, ist aber einerseits gekürzt, andererseits um dort nicht enthaltene Lemmata aus den Bereichen Marketing, Vertrieb u. a. erweitert. Frieling, Wilhelm Ruprecht/Huffmann, Johann-Friedrich: Wörterbuch der Verlagssprache. 5., umfassend überarb. Aufl. Berlin: Frieling 2005. ABC des Zwischenbuchhandels. Zusammengest. u. bearb. v. Thomas Bez. Hrsg. v. Ausschuss für den Zwischenbuchhandel im Börsenverein des Deutschen Buchhandels. 5., neu bearb. Aufl. Norderstedt: Books on Demand 2006. Die erste Auflage kam 1987. Der Text der aktuellen 5. Auflage erschien auch als Beilage zum Börsenblatt Nr. 7 vom 16. Februar 2006.
Die drei Nachschlagewerke mit sehr unterschiedlichem Umfang richten sich an Praktiker im herstellenden und verbreitenden Buchhandel und erläutern Termini wie z. B. »ABA«46, »Abriebfestigkeit«, »Apart«, »Beihefter«, »Bundling«, »Jahreskonditionen«, »Jewelbox«, »Pressereise«, »Verpackungsverordnung«, »Wasserloser Offsetdruck«, »WCMS«. Aber auch unspezifische Termini, mit denen die Praktiker gleichwohl konfrontiert werden und sicher umgehen müssen, sind aufgenommen (außer bei Bez, ABC des Zwischenbuchhandels), etwa »Java« (Programmiersprache), »Jour fixe«, »Cartridge«, »ABC-Analyse«, »Skonto«. Im Verlagslexikon scheinen Auswahl und unterschiedlich tiefe Erklärungen – teils nur Definitionen, teils Bewertungen oder Entscheidungskriterien – auf den ersten Blick nicht nachvollziehbar (z. B. hätte man bei »Schulbuchgeschäft« den Hinweis erwartet, dass die Schulbuchverlage infolge der abnehmenden Finanzkraft der öffentlichen Hände mehr und mehr schulbegleitendes Material für den ›Nachmittagsmarkt‹ auf den Markt bringen; die Lemmata »Französische Broschur« und »Englische Broschur« sind enthalten, Layflat-Broschur nicht; das Lemma »Papier« 45 46
Enthalten in: Plenz: Verlagshandbuch premium. Alle zitierten Beispiele in diesem Absatz aus: Bramann/Plenz: Verlagslexikon.
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verweist ohne weitere Erklärungen nur auf »Bilderdruckpapier« und »Werkdruckpapier«). Das könnte subjektive Gründe haben oder eine innerbetriebliche Erfahrung widerspiegeln, auf die mit handlichen Praxishilfen geantwortet werden soll (der allseits bekannte Terminus »Papier« scheint den Praktikern nicht erläuterungsbedürftig, aber die beiden anderen Termini). Im Vordergrund stehen im Verlagslexikon also Ausführungen, die dem Praktiker rasche Orientierung geben. Der Bezug soll am Beispiel-Lemma »Sigelung« verdeutlicht werden. Die Erklärung hebt nämlich ausschließlich auf die Kennzeichnung in Datenbanken lieferbarer Titel ab, die die Lieferfähigkeit der jeweiligen Lieferanten anzeigt. Oder beim »Schuber« wird ausdrücklich auf das Erfordernis hingewiesen, dass das zu schützende Buch ausreichend Spiel haben muss, damit es nicht zu Beschädigungen des Einbands kommt. Das Wörterbuch der Verlagssprache (1. Auflage 1989) ist weniger umfangreich als das Verlagslexikon, bietet knappe Definitionen, enthält auch eine nicht immer nachvollziehbare, offenkundig u. a. aus dem LGB2 (siehe Kap. 2.3) abgeschöpfte Auswahl von Termini angrenzender Gebiete (z. B. wieder der »Schelmenroman«, ein Terminus, der ohne jeden Zweifel nachhaltig im Zentrum des Interesses jedes Verlagsmitarbeiters in Lektorat, Herstellung und Vertrieb steht), enthält ferner eine Liste mit Akronymen und Smileys in E-Mails (beispielsweise »BBL« = »be back later«) und verzichtet auf Literaturhinweise. Wertvoll ist die Aufnahme von Marken- und Produktnamen (etwa »Cromolux«, »Efalin«), allerdings fehlen u. a. Snolin oder PageMaker – insgesamt wirkt die Auswahl der Lemmata etwas beliebig von »Gänsefüßchen« bis »Oxymoron«, von »AOX-Wert« bis »Zwiebelfisch«. Nicht immer sind die Definitionen verlässlich, so wird »Autograph« definiert als »Schriftstück, das von einer bekannten Persönlichkeit verfasst wurde, besonders in der → Urfassung«47, womit der unterscheidende Teil der Definition (»eigenhändig«) fehlt. Oder »Barsortiment« wird definiert als »großes Hintergrundlager, das den → Buchhändlern → Werke verschiedener → Verlage aus einer Hand zu → Originalpreisen liefert«48, womit auch hier – neben anderen unpräzisen Formulierungen wie den »Originalpreisen« – der unterscheidende Teil der Definition (»auf eigene Rechnung«) fehlt.
47 48
Frieling/Huffmann: Wörterbuch der Verlagssprache, S. 20. Frieling/Huffmann, S. 21.
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Das ABC des Zwischenbuchhandels von Bez leistet mit seinen 175 Lemmata in klarer, präziser Sprache (z. B. »Wanne« i. S. der MehrwegTransportbehälter des Zwischenbuchhandels, »EDItEUR« als Organisation für die Entwicklung internationaler Standards für E-Commerce in der Buchbranche, »eBuch« i. S. einer Genossenschaft im deutschen Bucheinzelhandel auf Basis eines gemeinsamen Warenwirtschaftssystems mit dem eigenen Unternehmen »Anabel« als Zwischenbuchhandel, »HugendubelSchock« als Funktionsverschiebung im Zwischenbuchhandel zugunsten der Barsortimente u. v. a. m.) nicht weniger als die Darstellung der aktuellen Praxis nicht nur des Zwischenbuchhandels, sondern der gesamten Logistik des Buchhandels in Deutschland und ihrer Tendenzen. Artikel wie »Rabattfalle« und »Bezugswegoptimierung« – es geht um Kriterien für die Entscheidung, ob der Bucheinzelhandel beim Barsortiment oder der Verlagsauslieferung bezieht – sind von der Interessenlage des Barsortiments unaufdringlich eingefärbt. Für die Buchwissenschaft handelt es sich bei diesen Nachschlagewerken (mit Ausnahme des Wörterbuchs der Verlagssprache) um willkommene Hilfsmittel für das Verständnis aktueller buchhändlerischer Fachliteratur und um ergiebige Quellen für die Erkundung der Praxis.
3 Berufsschul-Lehrbücher Die im Vergleich zu anderen Medienbranchen erstaunlich stabile Buchbranche – mit 9,3 Milliarden Euro Umsatz im Jahr 2006 – bildet pro Jahr ca. 800 Buchhändler/innen und etwas über 800 Verlagskaufleute bzw. seit 2006 Medienkaufleute aus. Die Ablösung des Berufsbilds der Verlagskaufleute durch den Medienkaufmann/-frau Digital und Print scheint der Grund für die jüngst leicht gestiegene Zahl der Ausbildungsplätze zu sein. Daraus erwächst ein stetiger Bedarf nach Berufsschul-Lehrbüchern49.
49
Für 2007 sind angekündigt, aber bei Redaktionsschluss (August 2007) noch nicht erschienen: Körber/Werner: Vom Buch zur digitalen Welt. Uhlig: Der Sortiments-Buchhändler. [1. Aufl. mit 84 Seiten u. d. T. Fuege, Ernst/Quitzow, Otto: Einweisung des Sortiments-Lehrlings in die buchhändlerische Arbeit. Leipzig: Börsenverein der Deutschen Buchhändler 1928; 4. Aufl. 1934 u. d. T. Uhlig, Friedrich: Der Sortiments-Lehrling; ab 19. Aufl. 1992 bearb. v. Wolfang Peitz]. Vielleicht meint Kerlen im »Verlag« (siehe Kap. 4.9) diesen Titel, wenn er in dessen Literaturverzeichnis folgende Schimäre anführt: »Uhlig, Christian: Der Sortimentsbuchhandel (AT), Stuttgart 2007«, auf den er im Text wiederholt hinweist.
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Sie stehen allesamt unter den Auspizien von Marketing und Management, ein Ansatz, der oft in so beschwörenden Worten vorgetragen wird, dass man den Eindruck hat, die Autoren meinen zu einer verträumten Generation von Buchliebhabern zu sprechen, denen Zahlen ein Horror und Verkaufen eine Last sind. Die hier behandelten buchhändlerischen Berufsschul-Lehrbücher orientieren sich naturgemäß am Berufsbild bzw. an den Lehrplänen und widmen sich mehr oder minder eng der Fachkunde. Für die anderen Berufsschul-Fächer, z. B. Literaturkunde oder Allgemeine Wirtschaftslehre, stehen teilweise weitere Lehrbücher zur Verfügung. Die Rahmenlehrpläne für die buchhändlerischen Berufe verlangen, dass in allen BerufsschulFächern die Branchenspezifik zur Geltung kommen soll, z. B. soll im Fach Literaturkunde weniger Literaturgeschichte behandelt werden, sondern vor allem der aktuelle Literaturbetrieb, die im Buchhandel relevanten Genres der Belletristik und die Präsentation literarischer Inhalte im Verkaufsgespräch Gegenstand sein. Zur Fachkunde gehört auch die Warenkunde. Sie wird in den hier behandelten Lehrbüchern nur am Rande und in einigen Grundzügen behandelt. Ein aktuelles Berufsschul-Lehrbuch zur Warenkunde liegt nicht vor. Ein Titel zielt auf das Thema: –
Dorner, Rainer/Abels, Norbert/Zur Mühlen, Bernt Ture: Literatur im Buchhandel. In Anlehnung an das Lernfeld 7 des Ausbildungsberufes Buchhändlerin/Buchhändler. 3. Aufl. Frankfurt a. M.: Bramann 2005 (Edition Buchhandel. 1).
Aber diese dritte Auflage befasst sich anders als die früheren Auflagen (1. Aufl. 1999, 2. Auflage 2001) nur mit der Belletristik und bietet eine geraffte Geschichte der deutschsprachigen Literatur, bei der die im Rahmenlehrplan geforderte Branchenspezifik nicht zur Geltung kommt. Die Beschränkung auf deutschsprachige Belletristik ist der Ausbildung von Buchhändlern nicht angemessen. Eine Warenkunde aus dem BramannVerlag wird im August 2007 beworben, ist aber nicht in den Datenbanken des Buchhandels nachgewiesen und noch nicht erschienen. Die Warenkunde Buch von Pohl und Umlauf (siehe Kap. 4.10) ist kein BerufsschulLehrbuch, wird aber auch in buchhändlerischen Fachklassen verwendet. Für die Buchwissenschaft ist die Berufsschul-Literatur der Branche ebenso wie die Praktiker-Lexika eine Quelle hinsichtlich aktueller Praxis der Buchbranche. Deshalb bleiben auch die dem Berufsbild nicht mehr entsprechenden Titel (Wirtschaftsunternehmen Verlag von Breyer-Mayländer, siehe Kap. 3.3, und Der Verlagskaufmann von Mundhenke/Teuber, siehe Kap. 3.5) relevant.
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3.1 Der Antiquariatsbuchhandel Wendt, Bernhard/Gruber, Gerhard: Der Antiquariatsbuchhandel. Eine Fachkunde für Antiquare und Büchersammler. 4., v. Gerhard Gruber neu bearbeitete Aufl. Stuttgart: Hauswedell 2003.
Wendts Lehrbuch für den Ausbildungsberuf des Buchhändlers mit dem Schwerpunkt Antiquariat – das Volumen des Antiquariatsbuchhandels in Deutschland wird auf 300 Millionen Euro pro Jahr geschätzt, freilich mit erheblichen Schwankungen von Jahr zu Jahr; auch ist die statistische Erfassung unsicher – geht auf das Jahr 1938 zurück. Für die aktuelle 4. Auflage wurde das Werk von Gerhard Gruber vollständig neu bearbeitet. Dass Der Antiquariatsbuchhändler ungleich seltener aktualisiert wird als die anderen Lehrbücher, dürfte der Tatsache geschuldet sein, dass die Zahl der Auszubildenden in diesem Beruf gering ist. Das Moderne Antiquariat wird ausgeschlossen, es geht um den Handel mit gebrauchten, bibliophilen und historisch interessanten Büchern, Autographen, Handschriften, Noten, Einbänden, Miniaturen, Graphiken, Zeichnungen, Plakaten, Werbeschriften, Fotos und Comics. Zwar spricht Wendt die inhaltlichen Schwerpunkte des seit 1998 geltenden Berufsbilds des Buchhändlers mit dem Schwerpunkt Antiquariat an (Marketing, Verkauf und Absatz, kundenorientierte Kommunikation, buchhändlerische Dienstleistungen, Neue Medien), doch ist sein Lehrbuch erheblich enger gefasst. Den größten Raum nehmen ein: –
–
eine Bibliographie der Titel, die die Handbibliothek des Antiquars umfassen soll (hauptsächlich bibliographische Nachschlagewerke, darunter sehr spezielle Titel wie z. B. Comic-Bibliographien; störend ist die Kapiteltrennung der gedruckten Auskunftsmittel und der einschlägigen Internet-Adressen), darunter auch buchhändlerische Fachliteratur, eine Anleitung der »Aufnahmetechnik« (der bibliographischen Beschreibung unter Berücksichtigung exemplarspezifischer Merkmale, wie sie in Antiquariatskatalogen üblich ist).
Von einem Berufsschul-Lehrbuch kann man keine theoretischen Ausführungen erwarten. Es wird aber erkennbar, dass dem Lehrbuch eine gütertypologische Verortung der Antiquaria als Vertrauensgüter und ein Marketing-Ansatz zugrunde liegt, nach dem der Verkäufer nicht nur hinsichtlich seiner Ware, sondern auch im persönlichen Auftritt und im Lebensstil
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dem Niveau der Kunden entsprechen soll. Beide sehr berechtigten und modernen Ansätze werden freilich nur punktuell und in Form konkreter Details angesprochen. So heißt es etwa, der berufliche Erfolg des Antiquars beruht »auf einer Mischung von geistiger Aufgeschlossenheit, möglichst umfassender Bildung, Kontaktfreude, guten Umgangsformen […]«50; das Internet könne die soziale Komponente im Verhältnis zwischen Sammler und Antiquar nicht ersetzen51. Wiederholt wird erwähnt, dass die bibliographischen Beschreibungen präzise und aussagekräftig sein müssen, dass beispielsweise fehlende Tafeln sorgfältig vermerkt oder dass bei Handschriften das Schreibmittel (Tinte, Bleistift usw.) mit angegeben werden müssen. Es bleibt bei derartigen Details, sie werden nicht begrifflich zu einem spezifischen Ansatz, aus dem der Antiquariatsbuchhandel seine wirtschaftliche Chance generieren kann, verdichtet. Auf dem Hintergrund dieses Ansatzes kommt Wendt zu der Einschätzung, dass das Internet als Marktplatz für antiquarische Bücher – – –
den Markt insgesamt erweitert und dem Antiquariatsbuchhandel neue Kundengruppen zugeführt habe, zu einem Preisverfall bei Durchschnittsware (Überangebot) und zu Preissteigerungen bei wirklich seltenen Werken (erhöhte Nachfrage wegen gestiegener Markttransparenz) geführt habe, den stationären Antiquariatsbuchhandel nicht ablösen werde, weil dessen an die Person des Antiquars gebundene Beratungskompetenz nicht ersetzbar sei.
Insgesamt besteht ein beträchtlicher Kontrast zwischen tiefer Detaillierung einiger Kapitel, die immer wieder den Charakter praktischer Anleitungen gewinnen (vor allem Aufnahmetechnik, Kunden-Adresskartei und -Adressenpflege, Antiquariatskatalog, Inventur), und knappsten, teilweise unvollständigen Ausführungen anderer Kapitel. So geht Wendt im Kapitel »Preisbildung« nicht auf die Mehrwertsteuer ein, während er sie nur im Zusammenhang mit Auktionspreisen behandelt. Über Schaufenstergestaltung erfährt der ratlos bleibende Leser lediglich, dass das Schaufenster nicht wie das Warenlager aussehen soll und dass nur etwas Mühe und »ein paar gute Ideen«52 erforderlich seien. Andererseits präsentiert Der Antiquariatsbuchhandel wertvolle Praxis-Details, beispielsweise hinsichtlich der Kosten für die Herstellung eines Antiquariatskatalogs in Relation zu den Prei50 51 52
Wendt/Gruber: Der Antiquariatsbuchhandel, S. 5. Wendt/Gruber, S. 38. Wendt/Gruber, S. 55.
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sen der verzeichneten Offerten oder der Aufbewahrung dünner Werke, für die dokumentenechte Klarsichthüllen verwendet werden sollen (andere enthalten Weichmacher, die langfristig das Papier schädigen). Manche Details bleiben Zusammenfassung von diffusem Erfahrungswissen: »Nimmt man die Adresse zu früh aus der aktuellen Datei, entgehen einem womöglich gute Geschäfte. Schickt man die Kataloge aber trotz negativer Karteiaussagen, wirft man hier regelrecht Geld zum Fenster hinaus.«53 Immer wieder machen Wendt und Gruber eine Differenz zwischen verbreiteter Praxis, etwa bei der Schaufenstergestaltung oder bei bibliographischen Angaben in Antiquariatskatalogen, und der Norm guter Praxis, die sie formulieren, deutlich. Sprache und Buchgestaltung sind betulich und gediegen-konservativ: »Je nach der Form des Antiquariats werden verschiedene Räumlichkeiten benötigt. Dies kann ein Laden, ein Büro oder ein Arbeitszimmer sein. […] Eine durchdachte und dem organisatorischen Ablauf angepasste Einrichtung spart Zeit […].«54 Es folgen Beispiele für zweckmäßige Einrichtungen. Ein modernes Lehrbuch arbeitet bei einem derartigen Stoff mit tabellarischen Übersichten und Checklisten statt mit Fließtext. Dem Buch sind für die antiquarische Praxis nützliche Hilfsmittel beigegeben, etwa eine Liste latinisierter Orts- und Ländernamen mit deutscher Auflösung, Tabellen zur Umrechnung nicht-christlicher Jahreszahlen in unsere Zeitangaben, Größentabellen für historische Originalfotografien u. a. m. 3.2 Wirtschaftsunternehmen Sortiment Bramann, Klaus-W./Hoffmann, C. Daniel: Wirtschaftsunternehmen Sortiment. In Anlehnung an die Lernfelder 1, 2, 3, 8 und 10 des Ausbildungsberufes Buchhändlerin/Buchhändler. 2., völlig neu bearb. Aufl. Frankfurt a. M.: Bramann 2004 (Edition Buchhandel. 4).
Bramann und Hoffmann reklamieren für sich einen Ansatz, der die wirtschaftliche Dimension des Handelns im Betrieb von der Bestellaufnahme bis zum Kundengespräch in den Vordergrund stellen will. Entsprechend wurde auf historische Aspekte nahezu vollständig verzichtet. 53 54
Wendt/Gruber, S. 61. Wendt/Gruber, S. 31.
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Der Titel ist in Grenzen didaktisiert, d. h. er enthält Fragen zu jedem Kapitel und die Lösungen im Anhang. Es entspricht dem Charakter von Berufsschul-Lehrbüchern, dass sie nicht nur überhaupt kompilatorischen Charakter tragen und oft ihren Quellen in der Formulierung nahe stehen, sondern darüber hinaus – – –
stark untergliedert sind, neben Fließtext Textkästen, gegliederten Text, Hervorhebungen, eingerückte Absätze, Randmarkierungen, Schaubilder, Tabellen extensiv einsetzen, Zitate unter Nennung der Quelle im Text, nicht in Fußnoten, aber Weglassung der Seitenzahl belegen.
Das Layout ist abwechslungsreich, aber nicht unübersichtlich. Eingeschoben sind immer wieder typographisch abgesetzte Begriffserklärungen, Checklisten, Merkposten. Vereinzelt fallen bei Überschriften oder Gliederungsziffern Formatierungsfehler ins Auge; im Inhaltsverzeichnis ist ein »ABC der Rechte und Pflichten in der Ausbildung« aufgeführt, das im Buch nicht enthalten ist. Bramann und Hoffmann folgen im Aufbau ihres Lehrbuchs nicht den im Titel angesprochenen Lernfeldern des Rahmenlehrplans, sondern verwenden eine eigene Gliederung; diese ist nicht überall überzeugend. So ist nicht nachvollziehbar, warum Unternehmensgründung und Börsenverein des Deutschen Buchhandels im selben Kapitel behandelt werden. Die Autoren referieren praktisches Grundwissen des Sortimentsbuchhändlers von Einkaufskriterien für Novitäten über Bibliographiersysteme und Funktionen der EC-Karte bis zur Remission und zu Meldenummern im Buchhandel, legen kaufmännische und branchenspezifische Kenntnisse dar wie das Ladenschlussgesetz, die Verkehrsordnung oder Kriterien für die Wahl des vorteilhaften Bezugswegs und informieren über die Struktur und den Wandel der Buchbranche (Buchhandelsformen, Zwischenbuchhandel, Buchhändler-Abrechnungs-Gesellschaft). Darüber hinaus liefern sie einen Bezugsrahmen, der in einem marketingorientierten Verständnis von Handelsaktivitäten besteht. Insgesamt trägt das Lehrbuch kompilatorischen Charakter. Die Autoren kompilieren ihren Stoff in unterschiedlicher Tiefe und Detaillierung; das lässt sich wohl durch die Lehrplan-Anforderungen an ein BerufsschulLehrbuch erklären. So deutet Kapitel 3 das Vorgehen bei einer Firmengründung an, referiert dann ausführlich den Börsenverein des Deutschen Buchhandels, seine Aktivitäten und Wirtschaftsbetriebe bis hin zu einer
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Tabelle der Mitgliedsbeiträge. Diese Kompilation ist für die Buchwissenschaft in weiten Teilen interessant, besonders bei den vielen meistens detaillierten Praxisanleitungen und Checklisten (Arbeitsschritte im Wareneingang, Einkaufskonditionen und Rabatte, Bezugskosten, Warenpräsentation). Interessant ist ebenso, wenn auch die Autoren hier eher zurückhaltend sind, dass sie wiederholt Differenzen zwischen verbreiteter Praxis und guter Praxis deutlich machen, etwa hinsichtlich der Unterschiede nach Betriebsgrößen und -formen (z. B. je kleiner die Buchhandlung, desto größer ist das Stammkundenpotenzial), hinsichtlich der tatsächlich propagierten Unternehmensziele55 oder hinsichtlich von Details, die nur die Praktiker kennen können, z. B. bei den Angaben auf Preisaufklebern oder bei Informationen über Lieferhindernisse seitens der Verlage. Dennoch bleibt der Mangel, dass der Bezugsrahmen eines MarketingAnsatzes nicht konsequent zur Auswahl, Gewichtung und Durchdringung des Stoffs geführt hat. Kapitel 1 stellt die Kunden des Buchhandels in den Mittelpunkt und skizziert auf dem Hintergrund gesättigter Märkte (»Käufermarkt«) das veränderte Konsumverhalten (»Multioptionalität«) und empfiehlt der einzelnen Buchhandlung eine Profilschärfung, die Entwicklung eines »einzigartigen Verkaufsversprechens (USP = Unique Selling Proposition)«56, auch unter Herausstellung eines Zusatznutzens durch ein emotional aufgeladenes Einkaufserlebnis. Der Ansatz ist richtig und bewegt sich im Mainstream des aktuellen Handelsmarketings; er wird im drittletzten Kapitel »Marketing und Marktforschung« (»Marketing bedeutet demnach, das eigene Unternehmen strategisch auf einen Absatzmarkt hin zu positionieren, um ihm eine unverwechselbare Identität zu geben.«57) erneut expliziert und am Schluss unter der Überschrift »Gemeinsamkeiten erfolgreicher Unternehmen« mit den Worten bilanziert: »Erfolgreiche Unternehmen sind aber auch die Unternehmen, die eine klare Vorstellung von ihren Kunden haben.«58 Beispielsweise werden Lesungen in der Buchhandlung im Kontext von Sales Promotion behandelt. Eine praktische Checkliste – von der Planung über die Abholung des Autors vom Bahnhof bis zur Auslage signierter Bücher in den Tagen nach der Lesung – fehlt nicht. Es bleibt aber nicht bei der vordergründig praktischen Anleitung, sondern es wird gefordert, dass 55 56 57 58
Bramann/Hoffmann: Wirtschaftsunternehmen Sortiment, S. 303. Bramann/Hoffmann, S. 18. Bramann/Hoffmann, S. 301. Bramann/Hoffmann, S. 345.
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die Veranstaltung in das Kommunikationskonzept der Buchhandlung eingebettet sein muss. Auch die Abschnitte über Verkaufsraum und Warenpräsentation folgen konsequent dem Marketing-Ansatz (»[…] sich durch ein – zum Gesamtkonzept des Unternehmens passendes – Gestaltungskonzept für die Kunden unverwechselbar zu machen.«59). In anderen Kapiteln bleibt es bei unspezifischen Ausführungen. So sind die Beispiele für Fragearten im Verkaufsgespräch wenig hilfreich. Die von Bramann und Hoffmann empfohlene Verkäuferfrage »Kann ich Ihnen behilflich sein?«60 gilt verkaufspsychologisch als ungeschickt, weil sich viele Kunden, besonders männliche, nicht in die Rolle des Hilfsbedürftigen drängen lassen wollen; besser im Rahmen eines Marketing-Ansatzes wäre: »Was kann ich für Sie tun?«, zumal diese Frage Dienstleistungsbereitschaft signalisiert. Im Kapitel »Informationssysteme« werden nur die wichtigsten Bibliographien behandelt (VLB, Datenbanken der Barsortimente, DNB, buchhandelsrelevante Adress- und Zeitschriftenverzeichnisse). Das ist unbefriedigend, denn im Rahmen eines wettbewerbsorientierten Ansatzes hätten gerade die Bibliographien behandelt werden sollen, mit denen der Buchhändler jenseits des Mainstreams beschaffen und beraten kann (deutschesfachbuch.de, zvab.com usw.). Auf die antiquarischen Datenbanken weisen die Autoren im Kapitel »Antiquarischer Suchdienst« als Dienstleistung der Buchhandlung hin. So bleibt mancher Stoff unverbunden stehen; das gilt auch für Maslows Bedürfnispyramide oder eine Kundentypologie des Innenarchitekten Wilhelm Kreft61. Im Rahmen eines Marketing-Ansatzes müssen nicht nur die Kunden beschrieben werden – wiederholt referieren Bramann und Hoffmann Ergebnisse der meistens vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels durchgeführten Marktforschungen und Kundenbefragungen –, sondern Bezugspunkt müssen auch die spezifischen Merkmale der Ware sein. Letzteres bleibt bei Bramann und Hoffmann blass. Sie wollen freilich keine Warenkunde62 bieten, sondern beschränken sich auf die Aufzählung und knappe Kennzeichnung der Gegenstände des Buchhandels bis hin zu den unterschiedlichen Mehrwertsteuersätzen. Beurteilungskriterien (Register, Typographie, Ausstattung, Medienresonanz, Schreibstil usw.) werden knapp angesprochen, aber nicht ins Verhältnis zueinander und nicht ins 59 60 61 62
Bramann/Hoffmann, S. 315. Bramann/Hoffmann, S. 171. Bramann/Hoffmann, S. 166f. Pohl/Umlauf: Warenkunde Buch.
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Verhältnis zu Kunden und ihren Motiven gesetzt. Vor allem bleiben grundsätzliche Merkmale der Gegenstände des Buchhandels weitgehend unreflektiert und werden generell nicht expliziert: – – –
der Buchmarkt als atomistischer Markt, auf dem je nach Titel und Buchgattung unterschiedliche Substitutionsbeziehungen und Preiselastizitäten bestehen, der gütertypologisch als Vertrauensgut zu kennzeichnende Charakter von Büchern und überhaupt Medien, aber je nach Autor, Titel und Buchgattung in sehr unterschiedlichem Maß, die Fähigkeit von Medien, mehr oder minder stark die Eigenschaft öffentlicher Güter annehmen zu können.
Zwar gehören theoretische Erörterungen nicht in ein BerufsschulLehrbuch. Aber die Konsequenzen dieser Merkmale in der Praxis hätten ausführlicher gewürdigt werden sollen. So hat der potenzielle Buchnutzer die Wahl – anders als ein potenzieller Pulloverträger oder gänzlich anders als ein Teetrinker –, ob er von Bekannten leiht, aus einer Bibliothek leiht (durch deren Existenz Medien mit Einschränkung öffentliche Güter werden), ob er von einer Privatperson neu oder gebraucht kauft, am besten im Internet, ob er von einem Händler im Internet kauft oder ob er – wie der Kunde dazu gebracht werden kann, sollte zentrales Thema bei Bramann und Hoffmann sein – im stationären Buchhandel kauft. Bramann und Hoffmann beschränken sich auf die Frage, wie der Kunde dazu gebracht werden kann, gerade in dieser bestimmten Buchhandlung zu kaufen. Bei den genannten Mängeln ist dennoch ein umfassendes Lehrbuch entstanden, das im Niveau und im Stoff gut den Zielgruppen entspricht, zu denen außer den Auszubildenden im Buchhandel auch Seiteneinsteiger und Umschüler gehören. Das Niveau liegt deutlich über den Lehrbüchern anderer dreijähriger Ausbildungsberufe mit Hauptschulabschluss als Voraussetzung – das ist durch den hohen Anteil von Abiturienten, auch Studienabbrechern und Akademikern im Buchhandel gerechtfertigt. Sinnvoll ist deshalb, dass die Autoren ausdrücklich auf Weiterbildungsmöglichkeiten bis hin zum Studium der Buchwissenschaft hinweisen. Sprachlich neigen die Autoren zu modern klingenden Worthülsen und suggestiven Formulierungen: Da ist etwa die Rede von der Rolle des Kulturvermittlers, die der Buchhändler »in einer hoch komplexen Medienlandschaft einnehmen möchte«63. Über die wirtschaftliche Bedeutung der 63
Bramann/Hoffmann: Wirtschaftsunternehmen Sortiment, S. 435.
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Buchbranche heißt es: »Was sind schon ca. 9. Mrd. € Gesamtumsatz zu Endverbraucherpreisen im Jahr 2002 in Relation zu den Umsätzen von Aldi, Daimler-Chrysler oder der Deutschen Bank?«64. Die Autoren schreiben journalistisch, dynamisch, aber immer wieder auch unscharf (z. B. »Hoheitsgebiet des Amtsgerichtes«65, gemeint ist Gerichtsbezirk des Amtsgerichts; oder: »[…] dass die Buchkaufhäuser sich als konstitutioneller [gemeint ist wohl: konstitutiver] Bestandteil der Buchhandelslandschaft etabliert haben«66). 3.3 Wirtschaftsunternehmen Verlag Breyer-Mayländer, Thomas u. a.: Wirtschaftsunternehmen Verlag. In Anlehnung an die Lernfelder 3, 4, 6, 7 und 8 des Ausbildungsberufes Verlagskauffrau/Verlagskaufmann. 3., überarb. u. erg. Aufl. Frankfurt a. M.: Bramann 2005 (Edition Buchhandel. 5).
Für den Bereich des Sortimentsbuchhandels bietet der Buchmarkt nur zwei aktuelle Titel (Wirtschaftsunternehmen Sortiment, siehe Kap. 3.2, und Bücher und Buchhändler von Heinold, siehe Kap. 4.2; ein dritter Titel, bereits in wiederholten Neuauflagen erschienen und im August 2007 seit Jahren vergriffen, ist in einer Neuausgabe67 angekündigt). Dagegen liegen für den Bereich Verlage eine Fülle von Titeln für Berufsschule und Hochschule vor: – – – – – – – –
Wirtschaftsunternehmen Verlag von Breyer-Mayländer u. a., Fachwissen Medienkaufmann/-frau Digital und Print (siehe Kap. 3.4), Der Verlagskaufmann von Mundhenke (siehe Kap. 3.5), Bücher und Büchermacher von Heinold (siehe Kap. 4.3), Röhring, Wie ein Buch entsteht (siehe Kap. 4.6), Bücher machen (siehe Kap. 4.7), Lucius, Verlagswirtschaft (siehe Kap. 4.8), Kerlen, Der Verlag (siehe Kap. 4.9),
64 65 66 67
Bramann/Hoffmann, S. 13. Bramann/Hoffmann, S. 34. Bramann/Hoffmann, S. 108. Uhlig: Der Sortiments-Buchhändler. Angekündigt für das vierte Quartal 2007.
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–
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und ein neues Berufsschul-Lehrbuch für das seit 2006 geltende Berufsbild Medienkaufmann/-frau Digital und Print, das für 2007 angekündigt, im August 2007 noch nicht erschienen ist68.
Dies ähnelt den Verhältnissen in der Betriebswirtschaftslehre, wo die Fachliteratur zur Industriebetriebslehre deutlich mehr Titel umfasst als zur Handelsbetriebslehre. Eine Rolle spielt sicher auch, dass zwar die Zahl der Buchhändler in Ausbildung und der Verlagskaufleute in Ausbildung etwa gleich ist, aber insgesamt sind bei Verlagen (Buch-, Zeitungs-, Zeitschriften- und sonstigen Verlagen) mehr als drei Mal so viel Personen wie im Bucheinzelhandel beschäftigt, darunter viele Mitarbeiter, die aus anderen Ausbildungen und Studiengängen kommen, so dass ein umfangreicherer Fortbildungsbedarf besteht. Dazu kommt, dass sich das Interesse von Nachbardisziplinen der Buchwissenschaft – Medienwissenschaft, Betriebswirtschaftslehre, kulturwissenschaftliche Fächer – eher auf Verlage als auf den Bucheinzelhandel richtet, wenn sie sich dem Buch zuwenden. Der Titel von Breyer-Mayländer, Ulrich Ernst Huse, Michaela von Koenigsmark, Roger Münch und Michael Vogel ist infolge der 2006 erfolgten Ablösung des Berufsbilds des Verlagskaufmanns durch das Berufsbild des Medienkaufmanns für die Berufsschule nur noch eingeschränkt brauchbar. Er behält als Quelle für die Buchwissenschaft seine Bedeutung. Breyer-Mayländer und seine Mitautoren präsentieren ihren Stoff in Layout und Ausstattung (einschließlich Fragen und Lösungen) ebenso wie Bramann und Hoffmann (Wirtschaftsunternehmen Sortiment, siehe Kap. 3.2). Die einzelnen Kapitel sind namentlich nicht gekennzeichnet; deshalb hätte man eine stärkere Vereinheitlichung erwartet: Nachdem im Vorwort erwähnt wurde, dass mit den männlichen Bezeichnungen stets auch Frauen gemeint sind und im Kapitel 1 nur die männlichen Bezeichnungen vorkommen, beginnt Kapitel 2 mit dem Hinweis, dass die »weibliche Kollegin« stets mit gemeint ist, »wenn der Kürze wegen nur von ›der Lektor‹ die Rede ist«69; im Inhaltsverzeichnis steht die ungewöhnliche Formulierung »Produktionspolitik«, auf der Textseite zutreffend »Produktpolitik«, in Überschrift und Text. Auch inhaltlich sind die Kapitel nicht durchgängig optimal aufeinander abgestimmt. So zeichnet das Kapitel »Lektorat« ein eher traditionelles Bild, während das Kapitel »Absatzpolitik für Medienmärkte« die Aufgaben des Produktmanagers im Verlag stromlinienförmig 68 69
Körber/Werner: Vom Buch zur digitalen Welt. Breyer-Mayländer: Wirtschaftsunternehmen Verlag, S. 51.
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unter Marketing-Gesichtspunkten beschreibt. Die Kommunikationspolitik in Buchverlagen wird in zwei verschiedenen Kapiteln dargelegt: im Kapitel »Absatzpolitik für Medienmärkte« und im Kapitel »Vertrieb in Buchverlagen«, mit unterschiedlichen Akzenten, aber auch mit unnötigen Überschneidungen. Mehrmals wird der Begriff Marketing erklärt statt zu verweisen70. Andererseits hat dies den Vorteil, dass die einzelnen Kapitel für sich gelesen werden können. Sprachlich haben die Autoren eine gute Mitte zwischen Fach- und journalistischer Sprache gefunden. Inhaltlich gehen die Autoren folgendermaßen vor: Auf ein einleitendes Kapitel, das über Rolle und Tendenzen des Verlagswesens informiert, folgen im Wechsel Kapitel, die erst über die Er- und Bearbeitung der Inhalte in Presseverlagen (»Arbeiten in der Redaktion«), dann in Buchverlagen (»Arbeiten im Lektorat«) Auskunft geben, vor allem über Vertrieb, Absatz sowie über Anzeigen- und Online-Marketing Auskunft geben, wieder jeweils im Wechsel zwischen Presse- und Buchverlagen. Eingeschoben sind Kapitel über Rechtliche Fragen (Urheber-, Verlags-, Presserecht, Preisbindung, Verkehrsordnung, Rechtliche Besonderheiten des Pressevertriebs). Das Schlusskapitel über Controlling soll Steuerungs- und Planungsinstrumente bereitstellen. Das starke Übergewicht der Bereiche Vertrieb und Absatz geht auf das Berufsbild des Verlagskaufmanns zurück, das dem Lehrbuch zugrunde liegt, das aber im Übrigen ebenso wenig wie die Themen Ausbildung und Fortbildung angesprochen wird. Die Ausbildung zum Verlagskaufmann erfolgte je nach Ausbildungsbetrieb entweder mit dem Schwerpunkt Zeitungs- und Zeitschriftenverlag oder Buchverlag, während die theoretische Ausbildung an den Berufsschulen beide Bereiche abdeckte. Das erklärt den angesprochenen Wechsel der Kapitel. Ein vergleichbares Berufsschul-Lehrbuch für den Beruf der Medienkaufleute, der 2006 den der Verlagskaufleute abgelöst hat, ist im August 2007 angekündigt, aber bei Redaktionsschluss noch nicht auf dem Markt71. (Fachwissen Medienkaufmann/-frau Digital und Print, siehe Kap. 3.4, hat zwar diesen Anspruch, wird ihm aber nicht gerecht.) Das Buch ist auf Zeitungsverlage, auf Verlage von Publikumszeitschriften und auf Publikumsverlage fokussiert; die Spezifika von Fachund Wissenschaftsverlagen, ob sie Bücher oder Zeitschriften oder – wie die führenden Fachverlage – beides publizieren, werden nur gelegentlich angesprochen. 70 71
Breyer-Mayländer, S. 32. Körber/Werner: Vom Buch zur digitalen Welt.
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Das erklärt wohl die Begrenzungen in den Kapiteln »Arbeiten in der Redaktion« und »Arbeiten im Lektorat«. Grundsätzlich wird die Befassung mit diesen Bereichen daraus motiviert, dass der schärfer werdende Wettbewerb neue Qualitäten der betriebsinternen Zusammenarbeit zwischen den für die Produktion der Inhalte (Redaktion, Lektorat) und den für Anzeigen, Vertrieb und Marketing zuständigen Abteilungen, in denen die Verlagskaufleute tätig sind, erfordert. Es besteht also gar nicht der Anspruch, den Verlag in seiner Arbeitsweise umfassend darzustellen. Dennoch sind sechs Zeilen72 über die Aufgaben von Redaktionen in Buchverlagen am Beispiel von Lexikon- und Schulbuchverlagen ziemlich knapp, wenn man bedenkt, dass bei der Produktion von Ratgebern und Fachbüchern, teilweise auch akademischen Lehrbüchern die Redaktion gegenüber dem Autor eine immer stärkere Rolle spielt, nicht nur marktfähige Themen aufspürt und Autoren sucht, sondern zunehmend Buchkonzepte bis hin zur Gliederung entwickelt und oft die Illustration unabhängig vom Textautor plant. Im Zusammenhang mit der Aufgabenverteilung zwischen Verleger und Redaktion sowie innerhalb der Redaktion hätte man, auch wenn es sich hier nicht um ein publizistikwissenschaftliches Lehrbuch handelt, doch Hinweise auf die innere Pressefreiheit erwartet. Überhaupt bleibt die politische und gesellschaftliche Funktion der Presse als vierter Gewalt blass. Lediglich im Kapitel »Rechtliche Grundlagen« wird auf das Thema Recht der freien Meinungsäußerung eingegangen, hier nur im Sinn eines Abwehrrechts gegenüber staatlichem Einfluss und im Sinn einer staatlichen Garantie des Instituts der Pressefreiheit – ihre Funktion als Voraussetzung einer freien politischen Willensbildung in einem demokratischen Gemeinwesen wird hier gar nicht angesprochen. Diese Äußerungen stehen im Kontext des Presserechts; es wird nicht klar, dass sich Buchverlage auf dasselbe Recht der freien Meinungsäußerung mit denselben Grenzen (Persönlichkeitsschutz, Jugendmedienschutz) berufen können. Überraschenderweise wird die Funktion der Pressefreiheit für die Demokratie nur im Zusammenhang mit dem Vertrieb von Presseerzeugnissen angesprochen73. Dem Wirtschaftsunternehmen Verlag liegt ein Marketing-Ansatz zugrunde, der konsequent, wenn auch mit unterschiedlicher Detaillierung und Anschaulichkeit, durchgehalten wird. Andere Aspekte – wie erwähnt der Aspekt der Kommunikation nicht irgendwie, sondern der Kommunikation als eines öffentlichen Diskurses, ferner die oben angesprochenen 72 73
Breyer-Mayländer: Wirtschaftsunternehmen Verlag, S. 51. Breyer-Mayländer, S. 297.
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Aspekte, die sich aus den Merkmalen von Medien als Wirtschaftsgütern ergeben – spielen keine oder eine nur punktuell angesprochene Rolle. Gelegentlich klingen praktische Konsequenzen von medientheoretischen Erkenntnissen an, die aber nicht weiter vertieft und in ihrer Tragweite nicht umfassend ausgeführt werden, etwa: »Für manchen Anzeigenprofi ist die Redaktion nur dazu da, die leeren Seiten zwischen den geld- und damit nutzbringenden Anzeigen zu füllen.«74 – dahinter steht eine Theorie der Zeitung als eines Mediums, das den redaktionellen Teil braucht, um Anzeigen zu verkaufen. Wertvoll ist die Überlegung im Zusammenhang mit dem Online-Vertrieb, welche gütertypologischen Eigenschaften Produkte haben müssen, damit sie Erfolg versprechend für den OnlineVertrieb sind75. Jedoch werden hier nur wenige Merkmale angesprochen (mittlere Komplexität und geringe Emotionalität). Dieser Ansatz lässt die Autoren folgende Themen besonders ausführlich behandeln: – –
– – – – –
Autoren-, Herausgeber-, Übersetzerhonorare, Lizenzgebühren. In diesem Zusammenhang gehen die Autoren ausführlich auf die Konsequenzen des Urhebervertragsrechts aus dem Jahr 2002 ein, Urheberrechtsgesetz, Verlagsgesetz, Verlagsvertrag, Titelschutz, Presserecht, Preisbindung für Bücher und für Presseerzeugnisse, Umsatzsteuerrecht, Verkehrsordnung des Buchhandels, Rechtsvorschriften im Anzeigenwesen, Absatzpolitik, Marktforschung, Anzeigenmarketing der Presseverlage (Markt-Media-Studien, Anzeigen-Management), Online-Marketing der Presseverlage, Vertrieb in Buchverlagen und von Presseverlagen, Online-Vertrieb (Zeitung als E-Paper, Printing-on-Demand-Produkte, Online-Vertrieb, worunter hier noch die Bestellung via Internet und die Zusendung einer körperlichen Ware verstanden wird).
Insgesamt liegt hier ein detailreiches, gut konzipiertes Lehrbuch vor, auch wenn der Stoff nicht durchgängig überzeugend aufbereitet und vereinheitlicht präsentiert wird. Das Niveau ist hoch und bewegt sich über weite Strecken eher auf Fachhochschul-Niveau als auf dem Niveau der Berufsausbildung im dualen System. Wie im Wirtschaftsunternehmen Sortiment von 74 75
Breyer-Mayländer, S. 31. Breyer-Mayländer, S. 342.
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Bramann und Hoffmann (siehe Kap. 3.2) enthält der Anhang Literaturhinweise und Dokumente (Vertriebsrichtlinien des Bundesverbandes Deutscher Zeitungsverleger, Sammelrevers 2002 u. a. m.). 3.4 Fachwissen Medienkaufmann/-frau Digital und Print Bremenfeld, Eckhard u. a.: Fachwissen Medienkaufmann/-frau Digital und Print. Leitfaden für Verlagsberufe und Quereinsteiger. 4. Aufl. Düsseldorf: Springer-VDI-Verlag 2006.
Im inhaltlichen Zuschnitt entspricht der Titel weitgehend dem Wirtschaftsunternehmen Verlag (siehe Kap. 3.3), jedoch mit drei Unterschieden: – –
–
Hier wird auch die Herstellung behandelt (Texterfassung, Typographie, Schriften, Bildbearbeitung, Druckverfahren, Post-Press). Das Thema Buch und Buchverlag ist in einem gegenüber den früheren Auflagen angehängten Kapitel von elf Seiten untergebracht. Die Hinzufügung ist dem neuen, im Titel genannten Berufsbild geschuldet, für das sich der Titel als Berufsschul-Lehrbuch profilieren will. Die früheren Auflagen (zuerst 1996) führten den Titel Fachwissen Zeitungs- und Zeitschriftenverlage und richteten sich an Verlagskaufleute mit dem Schwerpunkt Zeitungs- und Zeitschriftenverlag und verwandte Berufe. Der deutlich geringere Umfang bei inhaltlich breiterem Spektrum führt dazu, dass alle Themen knapper behandelt werden.
Hier liegt ein Berufsschul-Lehrbuch vor, das nicht nur keinerlei theoretische Ansprüche vorträgt, sondern den deskriptiven Stoff in teilweise extremer, nur noch stichwortartiger Raffung vorträgt. Insgesamt stehen praktische Details des Anzeigengeschäfts und des Pressevertriebs im Vordergrund – von der Frage, ob und wie weit der Vertrieb von Presseerzeugnissen durch mobile oder stationäre Straßenhändler genehmigungsfrei ist, über Rechenbeispiele zur Entscheidung, in welchem Medium inseriert werden soll, bis hin zu den Anforderungen an Postvertriebsstücke. Mit dem angehängten Buch-Kapitel ist das neue Berufsbild nicht angemessen abgedeckt. Aus der Perspektive des neuen Berufsbilds Medienkaufmann kommt auch der Bereich der digitalen Medien zu kurz. In Layout, Stoffpräsentation und Sprache handelt es sich um ein unterdurchschnittliches Printprodukt bis hin zu verschiedenen Schreibungen
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desselben Worts auf gegenüber liegenden Seiten (Marketeasing – Marketteasing76) und zur wiederholt Sinn entstellenden Schreibung »nicht leistungsbezogene Medien«77 – gemeint ist: nicht leitungsbezogene Medien. 3.5 Der Verlagskaufmann Mundhenke, Reinhard/Teuber, Marita: Der Verlagskaufmann. Berufsfachkunde für Kaufleute in Zeitungs-, Zeitschriften- und Buchverlagen. 9., völlig überarb. Aufl. Frankfurt a. M.: Societäts-Verlag 2002.
Dieses Lehrbuch – die erste Auflage erschien 1977 – ist nüchtern und präzise, umfassend und praxisnah, konsistent und konzise und entwickelt seinen Stoff in logischer Gedankenführung – was kann man besseres von einem Lehrbuch sagen? Dass es gut didaktisiert ist! Das ist Der Verlagskaufmann überhaupt nicht: keine Fragen und Lösungen, aber ein 80seitiges Fachwörter-Lexikon im Anhang. Mundhenke und Teuber schreiben in einer klaren, leicht verständlichen Sprache, die bei aller didaktischen Reduktion, die in Lehrbüchern erforderlich ist und hier souverän beherrscht wird, stets explizit, genau und anschaulich bleibt: »Wenn derjenige, der ›nur‹ wirbt, zu den Leuten spricht und ihnen erzählt, was er anzubieten hat, so hört derjenige, der Marketing betreibt, auch zu, was die Leute davon halten und versucht, seine Produktion darauf abzustimmen und danach einzurichten.«78. Die Autoren decken die »Berufskunde« vollständig und detailreich, in klarer und übersichtlicher Gliederung gemäß dem Berufsbild ab: – – –
76 77 78
Im einleitenden Kapitel »Das Verlagsgewerbe« handeln die Autoren die Rolle des Verlegers, die Verlagsprodukte, das Berufsbild und die Verlegerverbände ab. Es folgt ein Kapitel über Vertrieb im Zeitungs- und Zeitschriftenverlag sowie im Buchverlag; die Trennung reflektiert die sehr unterschiedlichen Strukturen des Vertriebs beider Sparten. Dem Anzeigengeschäft – einem bedeutenden Einsatzgebiet der Verlagskaufleute – ist ein eigenes Kapitel gewidmet.
Bremenfeld: Fachwissen Medienkaufmann/-frau Digital und Print, im Inhaltsverzeichnis S. VIII und in der Überschrift auf S. 38; richtig auf S. 39. Bremenfeld, S. 228f. Bremenfeld, S. 173.
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Im Kapitel »Marketing« geht es – unbeschadet eines umfassenden Marketing-Begriffs, der dem Lehrbuch zugrunde liegt – um Werbung für die Produkte, Werbung für den Anzeigenraum und Marktforschung, ferner um wettbewerbsrechtliche Vorgaben für die Werbung. Das Kapitel Rechnungswesen – kein anderes der hier behandelten Berufsschul-Lehrbücher schließt das Thema ein – behandelt Buchführung und Kostenrechnung. Aufgaben und Organisation von Redaktion und Lektorat einschließlich urheber- und presserechtlicher Fragen sind getrennt in einem eigenen Kapitel dargelegt. Das Kapitel »Die drucktechnische Herstellung« behandelt Druck, Typographie und buchbinderische Verarbeitung. Das Schlusskapitel geht auf elektronische Offline- und Online-Medien ein, wobei mit der ausführlichen Behandlung von Online-Diensten, Videotext und digitalem Fernsehen der Blickwinkel der Zeitungs- und populären Zeitschriftenverlage im Vordergrund steht.
Im Anhang bringen die Autoren neben dem erwähnten Lexikon noch ein Fachwörterbuch Deutsch-Englisch-Französisch unter, zahlreiche Tabellen über Schriftklassifikation, Papiergewichte und -formate, ein Literaturverzeichnis sowie ein Adressverzeichnis und schließlich das Register. Anstatt einen Marketing-Ansatz zugrunde zu legen, in dessen Rahmen sich Teile des Stoffs (Buchführung, Verlegerverbände u. a. m.) ohnehin nicht zwanglos unterbringen ließen, orientieren sich Stoffauswahl und -präsentation sowie Aufbau des Buchs an der Frage: Was muss der Verlagskaufmann wissen, um beruflich erfolgreich handeln zu können? Das ist für eine Berufskunde genau der richtige Ansatz. Dem entspricht, dass die Autoren beispielsweise –
–
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die Tageszeitung mit vier Merkmalen (Aktualität, Publizität i. S. allgemeiner Zugänglichkeit, Universalität, Periodizität79) kennzeichnen und das in der Publizistikwissenschaft meistens noch genannte fünfte Merkmal (Publizität i. S. der Konstituierung von kritischer Öffentlichkeit, während die allgemeine Zugänglichkeit dann Disponibilität genannt wird) übergehen, zwar die öffentliche Aufgabenstellung der Presse im Zusammenhang mit den Aufgaben der Redaktion, nah am beruflichen Selbstbild der Journalisten, erwähnen, aber im Übrigen nicht das Institut der PresseMundhenke/Teuber: Der Verlagskaufmann, S. 26f.
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freiheit als Bedingung der Demokratie usw. in den Mittelpunkt stellen – das wäre nicht für Verlagskaufleute, sondern für Journalisten geschrieben –, sondern die innere Pressefreiheit80, also die Reichweite des Direktionsrechts des Verlegers hinsichtlich der Tätigkeit der Journalisten. Hier wird auch deutlich, dass die Autoren – angemessen für ein Berufsschul-Lehrbuch – aus dem Blickwinkel des Arbeitgebers schreiben. die Besonderheiten der »Werbung für das gedruckte Wort«81 so hervorheben, dass die künftigen Verlagskaufleute Werbung für Verlagsprodukte angemessen planen können, den Begriff »Reichweite« und seine Messung knapp als operationalisiertes Konzept erklären82 ohne auf die umfangreiche Diskussion seiner Problematik in der Kommunikationswissenschaft einzugehen.
Die z. T. weit ausholende, aber immer eng am Berufsbild bleibende Substanz des Buchs soll mit einigen Details illustriert werden: –
–
–
80 81 82 83 84 85
Im Zusammenhang mit dem Einzelverkauf von Presseerzeugnissen erwähnen die Autoren Cäsars acta diurna 83 als Vorläufer der Zeitung, ein tägliches Nachrichtenbulletin, das der Staatsmann massenhaft abschreiben und verkaufen ließ – bemerkenswert, denn üblicherweise lässt man die Vorgeschichte der Zeitung mit den Flugschriften des 16. Jahrhunderts beginnen. Die Preisbindung wird nicht nur mit den üblichen Argumenten begründet, sondern die Folgen ihres Wegfalls werden am Beispiel der Entwicklung in Frankreich dargelegt84 – etwas holzschnittartig, aber zutreffend und prägnant. Die Ausführungen über Online-Dienste sind für den Stand 2002, als die neueste greifbare Auflage erschien und die meisten deutschen Tageszeitungen und viele Publikumszeitschriften bereits einen WebAuftritt hatten, sehr knapp. Der in einem einzigen Satz85 angesprochene Trend der Abwanderung von Anzeigen ins Internet ist zu pauschal; dieser Trend hätte differenzierter (Kleinanzeigen, Stellenanzeigen, Immobilien, Nahrungs- und Genussmittel, langlebige KonsumMundhenke/Teuber, S. 374f. Mundhenke/Teuber, S. 174. Mundhenke/Teuber, S. 181. Mundhenke/Teuber, S. 80. Mundhenke/Teuber, S. 75. Mundhenke/Teuber, S. 499.
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güter usw.) dargelegt und die Strategien der Verlage hätten umrissen werden sollen. Einige Details sind verbesserungsbedürftig; beispielhaft seien erwähnt: –
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– –
Die Übersicht86 über verlagsnahe Studiengänge ohne Angabe, welcher Studiengang an welcher Hochschule gelehrt wird, ist nicht sinnvoll, da die konkreten Inhalte bei gleichen oder ähnlichen Benennungen der Studiengänge von Hochschule zu Hochschule differieren. Die Autoren hätten nicht nur geteilte Meinungen87 darüber referieren sollen, ob eine ganzseitige Anzeige mehr oder weniger Wirkung als zwei halbseitige Anzeigen hätte, sondern sie hätten Ergebnisse aus der Konsumentenforschung, die diese Frage untersucht hat, anführen sollen. Die Abbildungen auf Seite 455 sind weder von den Motiven noch von der Druckqualität her geeignet, die charakteristischen Merkmale von Holzschnitt, Kupferstich und Lithografie zu verdeutlichen. Papier ist nicht, wie die Autoren sagen, der stoffliche Informationsträger »einer jeden Drucksache«88, denn manche Kinderbücher oder Autoatlanten bestehen aus textilem Material oder Kunststofffolien.
Insgesamt ist Der Verlagskaufmann berufspraktischer ausgerichtet als Wirtschaftsunternehmen Verlag (siehe Kap. 3.3), thematisch breiter und im Theoriebezug dem Berufsschul-Niveau angemessener als der Vergleichstitel, in der Gewichtung und Präsentation des Stoffs besser. Mit einigen Verschiebungen in den Umfängen der Kapitel und natürlich mit einer Aktualisierung besonders in den technischen Kapiteln kann aus dem Verlagskaufmann das überlegene Lehrbuch für den neuen Beruf der Medienkaufleute werden.
4 Monographien Überraschenderweise hat die deutsche Buchwissenschaft zwar eine beeindruckende Anzahl von Nachschlagewerken, aber kein aktuelles Lehrbuch oder Einführungswerk in die Buchwissenschaft vorgelegt. Buch von Rautenberg und Dirk Wetzel (siehe Kap. 4.1) kann und will diesen Platz nicht 86 87 88
Mundhenke/Teuber, S. 59. Mundhenke/Teuber, S. 181. Mundhenke/Teuber, S. 462.
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einnehmen, verortet aber den Gegenstand der Buchwissenschaft in einem theoretischen Bezugsrahmen und enthält ein Kapitel »Buchwissenschaft und Buchforschung«, das bisherige Ansätze der Buchwissenschaft skizziert und ein Theoriedefizit konstatiert, auf das Rautenberg und Wetzel mit ihrem Buch reagieren. 4.1 Buch Rautenberg, Ursula/Wetzel, Dirk: Buch. Tübingen: Niemeyer 2001 (Grundlagen der Medienkommunikation. 11).
Die abgeschlossene Reihe Grundlagen der Medienkommunikation mit 15 Titeln bringt seit 1997 in schmalen und preiswerten Bänden mit je ca. 100 Seiten Abrisse über einzelne Medienarten, -typen oder -gattungen (Zeitung, Plakat, Comic, Buch, Jugendmedien u. a.) oder komplexere mediale Fragestellungen (z. B. Medienpädagogik, Mediale Kommunikation, Design digitaler Medien) heraus. Rautenberg und Wetzel gehen auf den ersten Blick so vor, wie es in vielen anderen Abhandlungen zum Buch üblich ist: Auf eine Einführung, die allgemein die Frage reflektiert, was ein Buch sei, folgen Kapitel über folgende Aspekte: – –
–
Herstellung (Typographie, Druck, Beschreib- und Bedruckstoffe, Gestaltung digitaler Bücher), Funktionen des Buchs (Text- und Bildträger, Vermittlung von Inhalten, Kommunikation im medialen Kontext bzw. auch in Konkurrenz zu anderen Medien, sekundäre Funktionen z. B. zur Aufwertung des sozialen Status), Buchhandel und Buchmarkt (Doppelcharakter als Handelsware und Kulturträger, Geschichte und medialer Umbruch, Marktsegmente, Marktteilnehmer).
Entlang dieser Gliederung referieren sie ebenso gerafft und konzentriert wie detailreich und detailgenau den Stoff, beispielsweise, um einige Details herauszugreifen, die »Konnotationssemantik des typographischen Zeichens«89, die Non-Impact-Druckverfahren, die Eigenschaften von Bildschirmschriften im Unterschied zu Druckschriften, den Wandel der Lesekultur im Spätmittelalter und die Leserevolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts, das Buch 89
Rautenberg/Wetzel: Buch, S. 23.
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in der Medienkonkurrenz um Inhalte und Rezeptionsweisen, die Geschichte des Buchhandels von den Universitäten des Hochmittelalters (ein oder zwei Sätze zum Buchhandel in der Antike, als es bereits in Ansätzen eine auftragsunabhängige Handschriftenproduktion für einen anonymen Markt gab, hätte man an dieser Stelle gerne gelesen) bis zum Rollenwandel der Verlage hin zum Content-Provider, der in Konkurrenz zu Content-Providern wie Rundfunkanstalten oder Softwarehäusern tritt, und schließlich das Konzept der Erlebnisbuchhandlung mit Weinen zu Weinführern. Naturgemäß ist der Grad der Detaillierung nicht einheitlich. Grundsätzlich werden die Autoren umso ausführlicher und detailreicher, je näher sie der Gegenwart kommen. Statt Gutenbergs Erfindung, die Gerichtsprozesse und sein Erfinderunglück zu beschreiben und die Fragen auszubreiten, welche Inkunabeln er womöglich selbst gedruckt habe, heben sie die weit über die Erfindung selbst hinaus wirksamen Prinzipien hervor: bei der Satzherstellung die serielle Verwendung identischer Elemente und beim Druck das Prinzip flach auf flach. Bei allen Details – sei es die Linotype, sei es der Sortimenter-Newsletter oder Layoutsoftware – geht es den Autoren vor allem um Strukturelemente, um Entwicklungslinien und -potenziale. Das hohe Theoriebewusstsein der Autoren zeigt sich beispielsweise auch darin, dass sie den Marketing-Ansatz differenziert erläutern (zwischen Absatzwirtschaft und Ausrichtung aller Bereiche des Unternehmens auf die Kundenbedürfnisse). Vor allem differenzieren sie hier je nach Buchgattung bzw. Buchinhalt. Freilich stellen sie ihr Buch vom Buch nicht – wie es die BerufsschulLehrbücher tun – unter einen Marketing-Ansatz. Sie liefern keine Handlungsanleitung, auch nicht auf akademischem Niveau, wie sie als Lehre des Produktmanagements für Buch- oder allgemein Medienprodukte in der Schnittmenge von spezieller Betriebswirtschaftslehre und Kultur- oder Medienwissenschaft vorgetragen werden könnte. Vielmehr verorten die Autoren ihren Gegenstand in einem genuin buchwissenschaftlichen Ansatz. Er ist nicht additiv (das Buch als materieller Gegenstand, als Handelsware und als Kommunikationsmittel, jeweils auch in historischer Dimension). Mit derartigen unterschiedlichen Blickwinkeln auf das Buch beginnen die Autoren: –
Sie erläutern den Buchbegriff der Buchherstellung (Buchblock in der Tradition des Codex, Bedeutung der Materialien für haptische und optische Eigenschaften, Unterscheidung von der Broschur) und des herstellenden und verbreitenden Buchhandels, dem es weniger um
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eine klare Unterscheidung seiner Handelsware von der anderer Branchen geht, vielmehr um mehr oder minder pragmatische Unterscheidungen innerhalb einer diffusen Vorstellung von Buch: Sachbuch, Hörbuch, elektronisches Buch, Kinderbuch usw. Das Buch ist Medium schriftsprachlicher Kommunikation. Hier entfaltet sich zusätzlich zur Kommunikation mittels Text und Sprache eine Semiotik der Schriftgestaltung und des Layouts. Erstaunlich ist, dass die Medienwissenschaft, die andererseits einer Semiotik des Films usw. viel Aufmerksamkeit gewidmet hat, darauf gar nicht eingeht90. Dennoch reicht ein derartiger Buchbegriff nicht aus, da er sich kaum gegenüber weniger umfangreichen Formen der Schriftlichkeit abgrenzen lässt.
In der sozial- und kommunikationswissenschaftlichen Theoriebildung, so referieren die Autoren, wird das Buch teils unreflektiert im Kontext von Medienrezeption und -konkurrenz untersucht, teils eröffnet sich hier ein Buchbegriff, der nicht fragt: »Welche Funktion hat ein Verbreitungsmedium für den Menschen oder für eine Gemeinschaft von Menschen?, sondern: Welche Unterstützungsleistung und welche Probleme ergeben sich für den Kommunikationsprozeß«91. Bei vergleichbarer Unterstützungsleistung kann der Buchbegriff dann zwanglos auf elektronische Bücher usw. ausgeweitet werden. Nach dieser Unterstützungsleistung hat die Medienwissenschaft hinsichtlich des Buchs noch nicht gefragt. So würdigt das Handbuch Medienwissenschaft die kommunikativen Leistungen der Zeitung und Zeitschrift92, des Flugblatts93 oder des Films94, nicht die des Buchs. Für das Buch beschränkt sich dieses Handbuch95 auf die kommunikative und ästhetische Leistung der Sprache in Büchern und auf die Funktionen des antiken und mittelalterlichen Buchs sowie auf die Funktionen historischer Kinder- und Jugendbücher. Nach Kerlen96 unterstüt90
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So wirft etwa Faulstich (Grundwissen Medien, S. 129–147 und Medienwissenschaft, S. 68– 72) sozusagen keinen Blick ins Buch hinein, sondern beschränkt sich nach einer Skizze der Buchgeschichte auf eine knappe Beschreibung (Aufgaben, Häufigkeit u. dgl.) der sechs Instanzen des Buchsystems: Autor, Verleger, Buchhändler, Bibliothekar, Kritiker, Leser. Was das »spezifische Leistungsvermögen« (Faulstich: Grundwissen Medien, S. 18) des Mediums Buch sei, bleibt dabei gänzlich unbehandelt. Rautenberg/Wetzel: Buch, S. 12f. Leonhard: Medienwissenschaft, S. 837–880. Leonhard, S. 794–816. Leonhard, S. 1027–1245. Leonhard, S. 514–568. Kerlen: Medienkunde, S. 284.
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zen Druckmedien mit ihrem Leitmedium Buch Reflektion, Dokumentation, Kritik, Literatur – sehr unspezifisch, weshalb Kerlen97 die Vorteile des Buchs vor allem bei »vertiefenden Langtexten« sieht. Das liest sich eher wie der Versuch, ein last resort für eine gefährdete Art zu finden als wie eine Analyse spezifischer Leistungen. Rautenberg und Wetzel kommen auf diesem Hintergrund zur Skizze eines medienwissenschaftlich fundierten Buchbegriffs und stellen ihn den bisherigen, vor allem im LGB2 (siehe Kap. 2.3) extensiv und auf hohem Niveau ausgeführten Ansätzen einer Buchwissenschaft gegenüber, die sich aus ihren Herkunftswissenschaften (Buchgeschichte, Buchwirtschaft, Leseforschung usw.) nicht recht gelöst hat. An diesem Maßstab müssen sich denn alle neueren Lehr- und Fachbücher messen lassen, wenn sie den Ehrgeiz haben, mehr als die Berufsschul-Lehrbücher, also mehr als Training für einen wirtschaftlich erfolgreichen Umgang mit der Handelsware Buch zu bieten. Einige Details erscheinen indessen diskussionswürdig. –
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Einschränken muss man die oft aufgestellte und auch bei Rautenberg und Wetzel allerdings eingeschränkt wiederholte Behauptung, dass sich das gedruckte Buch in Grenzen »intuitiv« erschließe. Eine intuitive Benutzbarkeit – so weit gehen Rautenberg und Wetzel nicht –, aber auch nur der von ihnen auf S. 39 angesprochene intuitive Schluss vom Umfang des Buchs auf die Textlänge oder vom Layout auf die Textsorte ist nur unter komplexen kulturellen Voraussetzungen gegeben, nämlich nur demjenigen möglich, in dessen kultureller Sozialisation der Umgang mit dem Buch so selbstverständlich geworden ist, dass vielfältigstes Erfahrungswissen aus dem Umgang mit Büchern spontan aktiviert werden kann. Auch die von Rautenberg und Wetzel wiederholte Entsprechung von Buch und linear-sequenzieller Ordnung, die bei digitalen Texten durch Hypertext-Strukturen ersetzt werde98, ist wohl nicht haltbar: Dieses Argument übersieht nämlich, dass Fußnoten, zu denen der Blick vom Text aus hinspringt, fast so alt wie schrifttextliche Dokumente sind, dass schon im Mittelalter Text und Kommentar so auf einer Seite präsentiert wurden, dass das Auge des Lesers beide im Wechsel erfassen und miteinander verknüpfen konnte. Hypertextualität ist eher die bildschirmgerechte Umsetzung derartiger sehr alter Kerlen, S. 291. Rautenberg/Wetzel: Buch, S. 39.
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Eigenschaften von Print- und skriptographischen Medien. Und digitale Texte können zwar hypermedial strukturiert sein, aber das ist nur eine potenzielle Eigenschaft. Denn viele digitale Texte sind es gerade nicht, vor allem die elektronischen Bücher als pdf-Dateien, die im Download-Verfahren als wachsendes Marktsegment von Verlagen und Aggregatoren angeboten werden und bei denen die Bildschirmdarstellung die Papierfassung einfach wiederholt. Ungewöhnlich ist die Formulierung »Vertreibender Buchhandel«99 statt verbreitender Buchhandel.
Das Literaturverzeichnis ist vergleichsweise extensiv (über 150 Titel, nur solche, auf die im Text verwiesen wurde); ein Register fehlt. Das Buch kommt ohne Abbildungen, Tabellen, Schaubilder aus (abgesehen von einer einzigen Abbildung, die die Teile des Buchs im herstellungstechnischen Sinn benennt), weil der Text konzise und konsistent, präzise und problemorientiert ist. 4.2 Bücher und Buchhändler Heinold, Wolfgang Ehrhardt: Bücher und Buchhändler. 5., von Klaus-W. Bramann neu bearb. Aufl. Frankfurt a. M.: Bramann 2007 (Edition Buchhandel. 18).
Bramann, Berufsschullehrer und Dozent in der buchhändlerischen Fortbildung, hat den Titel, der in erster Auflage 1988 und in 4. Aufl. überraschenderweise in der Reihe UTB erschien, in die er nicht hineinpasste, für die 5. Auflage überarbeitet und in seine Reihe Edition Buchhändler aufgenommen, die sich an Praktiker im herstellenden und verbreitenden Buchhandel richtet. Dort steht er inhaltlich dicht neben seinem Wirtschaftsunternehmen Sortiment (siehe Kap. 3.2), trägt allerdings nicht den Charakter eines BerufsschulLehrbuchs, sondern eines populären Sachbuchs mit Einschlägen ins Fachbuch – ein merkwürdiger Zwitter, der für Auszubildende und Praktiker nicht präzise genug im Detail ist, der für den Buchliebhaber sich mit zu viel brancheninternen Details belädt (»Verband Deutscher Bahnhofsbuchhändler […]. Der Verband hat 64 Mitgliedsfirmen, die 460 Verkaufsstellen in Bahnhöfen, aber auch an Flughäfen […]«100) und zu wenig die kulturell schöne Seite des 99 Rautenberg/Wetzel, S. 94. 100 Heinold: Bücher und Buchhändler, S. 47.
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Buchs behandelt, wie es Marion Janzin und Joachim Güntner, wenn auch in vielen Details unscharf, aber mit Gespür für die in den Augen des FeuilletonLesers interessante Gewichtung des Stoffs, mit ihrem Buch vom Buch (siehe Kap. 4.5) tun. Heinold und Bramann behandeln in einer journalistisch-eingängigen Sprache (über Kapitalkonzentration im Bucheinzelhandel: »Konzert der Giganten«101), farbig reich illustriert (überwiegend Werbefotos von Verlagen und Buchhandlungen u. ä.), in kurzen Kapiteln mit lebhaftem und übersichtlichem Layout alle Themen rund um den Mainstream des Bucheinzelhandels, werfen auch gelegentlich einen Blick in Nischen (etwa die von den beiden Inhabern geführte Buchhandlung »Thrill and Chill« in Wien, die als Beispiel einer serviceorientierten Nischenlösung angeführt wird, die sich anhand von Lifestyle-Merkmalen eine kleine, treue Kundengruppe gesucht hat). Die behandelten Themen sind: – – – – – – –
Strukturwandel im Bucheinzelhandel (Expansion der Handelsketten, Profilierung kleiner, inhabergeführter Ladengeschäfte durch LifestyleOrientierung und Service), Geschichte, Vertriebsformen des Bucheinzelhandels, Buchpreisbindung, Arbeitsweise und Dienstleistungen (Verkaufsraumgestaltung, Warenwirtschaftssysteme, Lagerfinanzierung, Remission, Verkaufsgespräch usw.), Logistik der Buchbranche (z. B. Barsortimente, Verlagsauslieferungen, Bestellanstalt), Berufe, tarifliche Gehälter (nicht: tatsächliche Gehälter) und Fortbildung in der Buchbranche, Gegenstände des Buchhandels (Einbandarten, Warengruppen-Systematik und ihre Umsatz-Anteile, Printing-on-Demand u. a. m.). Der Ansatz ist rein deskriptiv, bezieht gleichwohl Gedanken und Formulierungen aus der aktuellen Unternehmensberatungs-Praxis der Buchbranche (Zielgruppen-Marketing, Sinus-Milieus, Convenience, Erlebniskauf) unverbunden ein.
Unschärfen sowie mangelnde Detaillierung und Präzisierung für die Praxis sollen an Beispielen verdeutlicht werden: –
Auf Seite 85 heißt es: »Der eigentliche Betriebsvergleich« ist der Vergleich mit anderen Unternehmen – in der Fachliteratur stehen der innerbetriebliche und der zwischenbetriebliche Vergleich mit unter-
101 Heinold, S. 76.
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schiedlichen Fragestellungen und Zwecken nebeneinander; der zwischenbetriebliche wird nicht als ein »eigentlicher« begriffen, was immer genau damit gemeint sei. Pro und Contra der Preisbindung stehen sich wie journalistische Kommentare gegenüber102, ein Rückgriff auf empirisch gesicherte Daten (die für die Preisbindung bei Büchern sprechen103) erfolgt nicht. Im Zusammenhang mit den beiden Bezugswegen des Bucheinzelhandels: Barsortiment oder Verlag bzw. Verlagsauslieferung werden zwar neuere Entwicklungen erwähnt (verlagsübergreifende Bündelung, neue Rabattkonditionen), aber ein Hinweis auf die Konditionenmodelle der Barsortimente, mit denen die Barsortimente auf die neuen Rabattkonditionen der Verlage im Interesse einer Stabilisierung oder Erhöhung ihres Marktanteils antworten, fehlt. Vor allem ist der genannte Entscheidungsgrundsatz »Kleinteiliges sollte über das Barsortiment, Großteiliges über die Verlage abgewickelt werden«104) keine ausreichende Orientierung für die Praxis. Eine Vierfelder-Matrix105 nach den beiden Kriterien Absatzdauer und Absatzmenge mit den Ausprägungen kurz bzw. klein und lang bzw. groß gruppiert Medientypen (z. B. Lexika: lange Absatzdauer, aber kleine Absatzmenge; Bestseller: kurze Absatzdauer, große Absatzmenge). Blass bleibt die strategische Anwendung: Welche Mischung des Lagers ist Erfolg versprechend an welchem Standort bei welchen Zielgruppen? Die wiederholte Beschwörung der Orientierung auf Zielgruppen gibt gleichwohl kein Instrumentarium an die Hand, vorhandene potenzielle Zielgruppen zu erkunden und das eigene Unternehmen zu profilieren.
Die Literaturhinweise am Ende des Buchs – im Text keine Fußnoten, sondern bei Zitaten umständliche Titelangaben im Text, die z. T. in der Literaturliste nicht erscheinen – versammeln Fachliteratur in etwas beliebiger Auswahl. Vielleicht geht es den Autoren darum, den Buchhandel für Außenstehende als lebens- und zukunftsfähige Branche darzustellen. Nützlich könnte das Buch zur Vorbereitung auf einen Wiedereinstieg in einen 102 103 104 105
Heinold: Bücher und Buchhändler, S. 62f. Rürup/Klopfleisch/Stumpp: Ökonomische Analyse. Heinold: Bücher und Buchhändler, S. 85. Heinold, S. 203f.
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Buchhandels-Beruf sein, aber auch dafür sind die Berufsschul-Lehrbücher besser geeignet. Für Buchwissenschaftler ist der Titel irrelevant. Wenn es um Praxiswissen geht, sind wieder die Berufsschul-Lehrbücher ergiebiger, wenn es um aktuelle Tendenzen und Termini geht, die die Unternehmensberater der Buchbranche in Umlauf setzen, ist der Titel in der Auswahl zu beliebig und zu unpräzise. 4.3 Bücher und Büchermacher Heinold, Wolfgang Ehrhardt: Bücher und Büchermacher. Verlage in der Informationsgesellschaft. 5., völlig neubearb. Aufl. Heidelberg: C.F. Müller 2001 (UTB. 2216).
Die erste Auflage erschien 1987 in Heidelberg bei R. v. Decker und C. F. Müller.106 Der Titel passt nicht in die UTB-Reihe, die sich durch ein akademisches Profil auszeichnet. Vielleicht sollte er thematisch eine Lücke in der Unterreihe Medienwissenschaften füllen, als kein für die Reihe geeigneter Titel zur Verfügung stand. Inzwischen ist der Titel dort durch Lucius’ Verlagswirtschaft (siehe Kap. 4.8) ersetzt. Er trägt denselben Charakter wie sein Bruder Bücher und Buchhändler (siehe Kap. 4.2; Illustrationen und Grafiken aber in Schwarz-Weiß, Literaturangaben am Ende jedes Kapitels), ist jedoch im Stoffumfang und in der Detaillierung anspruchsvoller, ohne dass man einen der UTB-Reihe gemäßen wissenschaftlichen Anspruch erkennen kann. Das beginnt bei Präsentation, Erschließung und Formulierung des Inhalts. So steht – als typisches Beispiel herausgegriffen – auf S. 301 ein Tortendiagramm, das Auskunft über die Struktur der deutschen Druckproduktion 1999 gibt, z. B. entfallen auf Bücher und kartographische Erzeugnisse 7,1 %, auf Zeitungen/Anzeigenblätter 12,5 % – wovon? Darüber sagen Diagramm und Bildunterschrift nichts. Im Text ist die Rede von einem Gesamtumsatz der Druckindustrie von 35 Milliarden DM, wovon reichlich 31 Milliarden auf Druckproduktion entfielen. Vermutlich ist also der Gesamtumsatz der Bezug der Grafik. Eine Quelle der Zahlen ist nicht genannt. 106 Nach Redaktionsschluss ist der Titel in 6. Aufl. erschienen: Heinold, Wolfgang Ehrhardt: Bücher und Büchermacher. 6., v. Ulrich Ernst Huse, Klaus-W. Bramann u. Hans-Heinrich Ruta neu bearb. Aufl. Frankfurt a. M.: Bramann 2009 (Edition Buchhandel. 17).
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Das Kapitel 5.0 trägt die Überschrift »Was ist das Besondere an Büchern?« Man erfährt, dass Bildern und Schrift seit jeher nicht nur eine informative, sondern auch eine magische, eine beschwörende Bedeutung zukam – Bild und Schrift sind aber keineswegs an das Buch gebunden. Warum also hätten dann gerade Bücher, aber nicht andere Bild- und Schriftträger wie Internet oder Plakate die magische Konnotation? Weiter heißt es, das Buch sei ein Gegenstand von hoher Ästhetik und zugleich Massenware; Schrift, Layout und Inhalt verbänden sich zu einer Gesamtanmutung: Sind CDs keine Massenware? Bilden nicht auch Musikstil und Inlays bei den CDs eine Gesamtanmutung? »Wer immer ein Buch in Händen hält, hat ein geistiges Produkt vor sich, dessen Inhalt zum eigenen geistigen Besitz werden kann. […] Bücher können Menschen positiv und negativ beeinflussen«107. Was ist daran spezifisch für das Buch? Bücher seien handlich und einfach zu benutzen. Wenn man an Hunderttausende von Jugendlichen denkt, die ihren MP3-Player nicht nur souverän bedienen, sondern mit illegal umkopierter Musik versorgen können, aber nicht auf die Idee kommen, Bücher gezielt über das Register zu benutzen, kommen einem Zweifel an dieser Behauptung. Die Textpassage ließe sich durch viele weitere ersetzen und entsprechend kommentieren. Heinold geht weder substanziell auf die Spezifika von Büchern unter dem Gesichtspunkt Image ein (Er hätte erwähnen können, dass Bücher mit Bildung assoziiert werden, aber auch – besonders für Personen mit niedrigen Bildungsabschlüssen – als anstrengend gelten usw.), noch informiert er aus dem Blickwinkel des Produkt-Managements, welche gestalterischen Anforderungen sich aus je spezifischen Zielgruppen und Inhalten an Bücher als »Körper«108 stellen. Auch über die Besonderheiten des gedruckten Buchs aus medientheoretischer Sicht (das Buch als ›langsames‹ Medium usw.) erfährt man nichts. Was erfährt man eigentlich überhaupt aus diesem Buch? Der Autor kompiliert einen umfangreichen Stoff, der auf den ersten Blick das ganze Spektrum der Aufgaben, Rahmenbedingungen und Tendenzen im Verlagswesen abdeckt: – – –
Aufgabe, Geschichte und Arbeitsweise der Verlage, Arbeitsweise von Verlagen im Detail (Satzerfassung, Herstellung, Vertrieb, Werbung u. a. m.), Buchmarkt, Logistik der Buchbranche und Leseförderung,
107 Heinold, S. 296–298. 108 Heinold, S. 335.
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Berufe in der Buchbranche einschließlich Bibliothekare, Übersetzer und Rezensenten, Buchherstellung, das Buch in der Medienkonkurrenz und psychologisch-geistige Wirkfaktoren.
Diese Auflistung der Inhalte entlang dem Inhaltsverzeichnis macht deutlich, dass die Gruppierung der Inhalte beliebig ist und weder einem Marketing-Konzept noch einem buch- oder medientheoretischen Konzept folgt. Viele der Abschnitte im Umfang von zwei bis über 30 Seiten stehen unverbunden nebeneinander. So folgt auf den Abschnitt über den Börsenverein des Deutschen Buchhandels nicht etwa ein Abschnitt über die Buchhändler-Vereinigung als sein Tochterunternehmen (aus der zwei Jahre nach Erscheinen des Buchs die heutige MVB hervorging und die einige Abschnitte weiter vorn behandelt wird), sondern ein Abschnitt über Leseforschung und -förderung, wohl weil der Börsenverein des Deutschen Buchhandels sich hier engagiert. Und tatsächlich werden die Themen Leseforschung und -förderung ziemlich eng auf den Börsenverein des Deutschen Buchhandels bezogen behandelt. Oder der Abschnitt »Buchgestaltung« steht nicht etwa im Kapitel über die Arbeitsweise von Verlagen im Kontext von Lektorat, Redaktion und Herstellung, sondern folgt auf Abschnitte über Papierherstellung, Bindeverfahren, Schutzumschlag und Inhaltsverzeichnis. Er streift die Buchkunstbewegung um 1900 und die Geschichte der Buchillustration und handelt hauptsächlich von Preisen für schön gestaltete Bücher. Zwar wird der Verleger und Drucker Hans Mardersteig zitiert (Quelle nicht genannt), der die gestalterische Einheit von »Text, Schrift, Druckfarbe, Papier und Einband«109 forderte. Aber man erfährt nichts über Kriterien dieser Einheit, erhält keine Maßstäbe für Erfolg versprechende Gestaltungen im Kontext von Zielgruppen und Kosten. Oder nachdem im Abschnitt »Marketingstrategien von Verlagen« eine aus der Unternehmensberatung stammende VerlagsTypologie – eher eine Strategie-Empfehlung – anhand des Kriteriums Bedarfslage der Konsumenten vorgestellt wurde, kommt im Kapitel »Verlagsrichtungen und -typen« die konventionelle Beschreibung von Verlagstypen wie Adressbuchverlage, Baufachverlage, Kleinverlage, Schulbuchverlage usw. So befriedigt dieses Buch weder den Praktiker auf der Suche nach Fortbildung oder Überblickswissen, weil es im Detail immer zu ungenau 109 Heinold, S. 334.
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und nicht ausreichend handlungsorientiert ist, noch den Buchliebhaber, weil es in Auswahl des Stoffs und visueller Gestaltung dem Fachbuch entspricht, aber die spezifische Leistung des Fachbuchs eben nicht erbringt. Buchwissenschaftler können mit dem Titel gar nichts anfangen. Sie ist weder eine Selbstdarstellung der Branche noch eine brauchbare Quelle, die über Praxis Auskunft gäbe, schon gar nicht eine theoretisch fundierte Analyse der Verlagswelt. 4.4 Wie kommen die Bücher auf die Erde? Groothuis, Rainer: Wie kommen die Bücher auf die Erde? Über Verleger und Autoren, Hersteller, Verkäufer und Gestalter, die Kalkulation und den Ladenpreis, das schöne Buch und Artverwandtes. Nebst einer kleinen Warenkunde. 2. Aufl. Köln: DuMont 2001.
Was Bücher und Buchhändler von Heinold (siehe Kap. 4.2) sowie Bücher und Büchermacher (ebenfalls von Heinold, siehe Kap. 4.3) vielleicht sein wollten, aber nicht sind, das ist Wie kommen die Bücher auf die Erde? von Groothuis: ein gelungenes Sachbuch, das eine allgemein verständliche Darstellung in spannender, lebhafter und anschaulicher Präsentation – viele farbige Abbildungen – mit fachlicher Präzision verbindet. Es ist geradezu ein Musterbeispiel für derartige normative Anforderungen an Sachbücher, wenn man das Sachbuch im emphatischen Sinn mit dem Begriff der Aufklärung verbindet. Dass vielerlei Details – beispielsweise lizenzrechtliche Fragen, Entscheidungsalgorithmen beim Inserieren oder der Programmplanung, DTP oder Deckungsbeitragsrechnung – nicht dargestellt werden, ist kein Mangel, denn ein Sachbuch soll nicht die Experten oder zukünftigen Fachleute zum praktischen Handeln anleiten oder zur hoch qualifizierten Arbeit befähigen, sondern in zusammenhängender Darstellung Kenntnisse, Tatsachen, Werte, Sichtweisen und Meinungen an ein nicht fachspezifisches Publikum vermitteln. Das gelingt Rainer Groothuis brillant. Das Buch beginnt schon auf dem linken (!) Titelblatt. Da liest man links unten auf der linken Seite in kleiner Schrift: Doppelseite 2/3: der Haupttitel. In dieser doppelseitigen Anordnung eine seltene Ausnahme. (Schließlich möchten wir Sie neugierig machen auf noch mehr Buch.)110 110 Groothuis: Wie kommen die Bücher auf die Erde, S. 2.
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In diesem witzigen und originellen Stil in Wort und Bild – eingestreut sind Zitate von Rowohlt und Tucholsky, aus der ZEIT und aus verschiedenen Lexika – geht es weiter, bis Seite 137. Da steht: »Soweit zur Formfindung in der Buchgestaltung. […] Oder möchten Sie den guten Wein aus einem Pappbecher trinken?« Der Autor nimmt sich viel Stoff vor; er beginnt mit einer begeisternden Schilderung der Funktionen des Lesens und entfaltet auf diesem Hintergrund seine Fragen: –
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Wie funktioniert ein Verlag? (Lektorat im belletristischen Verlag, Werbung und Pressearbeit, Vertreterreisen, fester Ladenpreis und Kalkulation, Vertrieb und Nebenmärkte, Flops und Bestseller, Aufgaben des Herstellers und Ausstattung), Was sind Produktqualitäten eines Buches? (gemessen an folgenden Maßstäben: »Überlegen Sie, wo, wann und wie Sie das Buch lesen werden.«111 »Schauen Sie nach, ob das Papier reell gewählt ist.«112 »Nehmen Sie den Schutzumschlag vom Buch.«113 »Schauen Sie nach, was Ihnen zwischen Einband und Inhalt angeboten wird.«114 »Das Papier muss dem Inhalt, dem Zweck und der voraussichtlichen Lesesituation dienlich sein.«115 »Achten Sie beim Durchblättern auf die Qualität des Drucks.«116 »Wenn es Ihnen nicht egal ist, wie lange das Buch hält, dann prüfen Sie die Qualität der Bindung.«117 »Achten Sie auf die Pappenstärke.«118 »Messen Sie ein Taschenbuch ruhig an einem Deckenband – aber vergessen Sie Ihren Preisvorteil nicht.«119 »Werden Sie zum bewußten Buchkäufer, zu einem Leser, der zu würdigen weiß, was er vor Augen hat.«120), Was ist ein schönes Buch? (organische Einheit von Inhalt, Schrift, Typographie, Layout, Satzspiegel, Material, Einband, Schutzumschlag und Funktion), Wie funktioniert Lesen physiologisch und welche Konsequenzen haben diese Erkenntnisse für die Buchgestaltung? Groothuis, S. 63. Groothuis, S. 65. Groothuis, S. 71. Groothuis, S. 73. Groothuis, S. 74. Groothuis, S. 78. Groothuis, S. 80. Groothuis, S. 81. Groothuis, S. 89. Groothuis, S. 91.
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Im Schlusskapitel geht es um die Zukunft des Buchs (Bücher sind ebenso praktische wie haptische Produkte und haben eine glänzende Zukunft, wenn es den Verlegern gelingt, ihnen interessante Inhalte zu geben).
Soweit zum Stoff. Welche Werte und Meinungen werden vermittelt? Dass die Bücherwelt spannend und schön, lesenswert und liebenswert ist, dass Bücher mit Billigpreisen »herabgewürdigt«121 werden und dass Lesen »ein Abenteuer«122 bleibt. Die Branche klärt die Kunden mit einer CharmeOffensive auf, weil besser qualifizierte und qualitätsbewusste Kunden die besseren Kunden sind. 4.5 Das Buch vom Buch Janzin, Marion/Güntner, Joachim: Das Buch vom Buch. 5000 Jahre Buchgeschichte. 3. überarb. u. erw. Auflage. Hannover: Schlütersche Verlagsanstalt 2006.
Das Buch vom Buch ist im Unterschied zu Wie kommen die Bücher auf die Erde? von Groothuis (siehe Kap. 4.4) ein populäres Sachbuch mit vielerlei Unschärfen in den Details. 1995 kam die erste Auflage heraus; ein Rezensent123 zählte seitenlang Mängel auf, von schlampigen Formulierungen wie z. B. »zweiseitig bedruckte Seite« bis zu sachlichen Fehlern. In der zweiten Auflage 1997 waren diese Mängel weitgehend beseitigt. Eine weitere Bearbeitung hat das Buch, das in der dritten Auflage Text, Illustration und Layout der zweiten Auflage unverändert beibehält und deshalb komplett in alter Rechtschreibung steht, fast nicht erfahren (im Text ist allerdings auf das Buchpreisbindungsgesetz von 2002 verwiesen, andererseits sind veraltete Bezeichnungen wie z. B. »Deutsche Staatsbibliothek« unverändert stehen geblieben), so dass seine Herstellung kostengünstig war. Hinzugefügt ist in der vorliegenden dritten Auflage ein Schlusskapitel »An der Wende zum 21. Jahrhundert«. Die Autoren holen weit aus und beginnen mit der Schriftgeschichte und der Geschichte der Beschreibstoffe von den Tontafeln über Papyrus und Pergament bis zum Papier. Dann kommt die Entstehung des Codex 121 Groothuis, S. 139. 122 Groothuis, S. 140. 123 Meyer: Das Buch vom Buch.
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als der bis heute üblichen Form des Buchs. Es folgen Kapitel nicht zur Buchgeschichte, sondern zur Geschichte der Textüberlieferung, soweit man beides trennen kann, am Beispiel der Bibel und anderer antiker Texte. Bei den Bibelübersetzungen geht es seitenlang, sehr berechtigt, um Sprachgeschichte. Vom 16. Jahrhundert an schieben die Autoren immer wieder Kapitel über Lieblingslektüren, über verbreitete und populäre Lesestoffe ein; sie liefern auch eine Geschichte des Lesens. Über weite Strecken erzählen die Autoren Kulturgeschichte, etwa der Emblembücher und ihrer Bedeutung für Redensarten bis heute (»Krokodilstränen«124), referieren Literatur- und Kunstgeschichte, z. B. den Inhalt von Heinrich von Veldekes Eneit 125, die Ikonografie der Stundenbücher126 oder die Politisierung der Literatur in den 1960er Jahren127, befassen sich ausführlich mit ebenso schönen wie für das Buchgewerbe marginalen Bereichen wie der Buchkunst (z. B. der Officina Bodoni128 oder einzelnen Buchillustratoren) und den Privatpressen129, legen detailliert die Entwicklung der Einbandgestaltung und des Layouts dar – sie liefern den Stoff, für den sich ein gebildeter Zeitgenosse, behaglich im Sessel bei Tee oder Rotwein vor der wohlsortierten Bücherwand schmökernd, interessiert und der im Buchhandel ein schmückendes Zusatzgeschäft bildet. Sie würdigen einige Buchgattungen, die für die Verbreitung von Büchern eine herausgehobene Bedeutung haben, so Kinderbücher130, Reiseführer131 oder Taschenbücher132. Sie sprechen von literatursoziologischen Zusammenhängen, beispielsweise hinsichtlich der Stellung der Schriftsteller im 18. Jahrhundert oder der Bedeutung des heutigen PEN, und kommen schließlich zu den Aussichten des Buchs zwischen Internet und Hörbuch. Die Autoren präsentieren ihren umfangreichen Stoff in kurzen, teils thematischen, teils chronologischen Kapiteln. Sie wollen, und das gelingt ihnen überzeugend, zu nicht-linearem Lesen, zum Blättern und Schmökern, zum Nachschlagen – gutes Register mit rund 5 000 Eintragungen bis hin zu Buchtiteln – und Genießen einladen. Das große Format erlaubt 124 125 126 127 128 129 130 131 132
Janzin/Güntner: Das Buch vom Buch, S. 222. Janzin/Güntner, S. 86. Janzin/Güntner, S. 91. Janzin/Güntner, S. 442. Janzin/Güntner, S. 368–370. Janzin/Güntner, S. 361–368. Janzin/Güntner, S. 254. Janzin/Güntner, S. 297. Janzin/Güntner, S. 422.
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Illustrationen mit aussagefähigen Bildunterschriften fast auf jeder Seite. Und die Autoren präsentieren die Stoffmassen nicht nur klar gegliedert und sauber erschlossen, sondern auch sprachlich durchweg flüssig, eingängig, elegant. Das Buch vom Buch zu lesen macht Spaß – wenn man als Leser keine verlässliche Detailinformation erwartet. Denn so überzeugend die großen Linien hier übersichtlich gerafft sind, so ungenau sind viele Details. Einige Beispiele mögen dies belegen; es ließen sich vielerlei weitere anführen: –
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Auf S. 94 steht über die Bedeutung der Erfindung des Buchdrucks: »Bisher war jedes Buch einmalig, zwar in Abschriften, aber doch individuell und für einen ganz bestimmten Auftraggeber gefertigt worden. Nunmehr war es möglich, […] für einen anonymen Markt zu produzieren […]«. Das stimmt in der hier formulierten Ausschließlichkeit nicht, denn bereits in der Antike gab es einen Buchhandel mit auf Vorrat »für einen anonymen Markt« hergestellten Rotuli. S. 473: Wer die Druckausgabe der dreißigbändigen BrockhausEnzyklopädie in der Ausgabe 2006 erwarb, erhielt »zusätzlich« zwar zwei DVDs mit Bild- und Tondokumenten, aber keineswegs, wie Janzin und Güntner schreiben, »das ganze Werk noch einmal auf einem kleinen Datenträger (einem USB-Stick)«. Vielmehr wird die Brockhaus Enzyklopädie digital separat mit eigenem Preis vertrieben. Auf S. 475 liest man: »Internet-Veröffentlichungen sind flüchtig, lassen sich leicht korrigieren, manipulieren oder fortschreiben, ohne daß für den Nutzer erkennbare Spuren davon zeugen.« Diese Eigenschaft können Internet-Publikationen haben – oder dank AuthentifizierungsTechnologien ebenso beständig und zitierfähig wie Print-Veröffentlichungen sein. Darauf weisen die Autoren mit keinem Wort hin. Auf S. 474 bis 481 befassen sich die Autoren mit elektronischem Publizieren. Dabei behandeln sie die eigentlich interessante Entwicklung nicht, nämlich den Vertrieb von Büchern in Form von pdf-Dateien mit Digital-Rights-Management via Download. Im Schlusskapitel S. 464 bis 482 fehlt der Gedanke – und dies ist die bedeutendste Veränderung im Zusammenhang mit WWW-basierter Publikation –, dass die Online-Publikation die bisherige lineare Publikationskette vom Autor über Verlag und Distributionsinstanzen zum Konsumenten sowohl im populären (Wikipedia) wie im wissenschaftlichen Sektor in eine Netzstruktur umwandeln kann und im Wissenschaftsbetrieb die Integration von internen und externen Informa-
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tionsressourcen mit Rohdaten der Forschung sowie mit elektronischen Instrumenten zur Diskussion der Auswertungsergebnisse und der Schlussfolgerungen via Internet (»Collaboratory« aus »collaboration« für Internet basierte Zusammenarbeit und »laboratory« für Labor) erlaubt. Während die Autoren historische Technologien von Satz und Druck (etwa Königs Schnellpresse, die Linotype und der Weg dahin) ausführlich und anschaulich behandeln, streifen sie aktuelle Satz- und Drucktechnologien nur essayistisch und oberflächlich. Die Differenz zwischen professionellen DTP-Systemen und verbreiteten BüroAnwendungsprogrammen wird nicht deutlich.
Dass ein Sachbuch sich auf Fachliteratur stützt, ist selbstverständlich; dass es Absätze auf Absätze Fachliteratur in einer für Laien rezipierbaren Sprache referiert und sich dabei nicht scheut, lange Passagen bloß umzuformulieren, ist legitim. Aber diese Quellen müssen ausgewiesen sein. Auch im Sachbuch müssen Zitate belegt sein. Und darauf verzichten die Autoren vollständig; sie nennen bei wörtlichen Zitaten den Autor, oft auch den Titel des zitierten Werks, aber nicht die exakte Quelle. Und das ist auch im populären Sachbuch nicht akzeptabel. 4.6 Wie ein Buch entsteht Röhring, Hans-Helmut: Wie ein Buch entsteht. Einführung in den modernen Buchverlag. Vollst. überarb. u. v. Klaus-W. Bramann aktualisierte 7. Aufl. Darmstadt: Primus 2003.
Aus der Praxis, für die Praxis – das ist hier das Motto. Röhring und sein Bearbeiter Bramann (seit der 7. Auflage) legen einen Fach-Ratgeber (1. Auflage 1983) ohne Fußnoten, mit knappem Literaturverzeichnis, seltenen, nicht belegten Zitaten und im Anhang mit Materialien wie dem Preisbindungsgesetz, einem Fragebogen für Autoren, Muster-Liefer- und Geschäftsbedingungen vor, der sich wohl an künftige Lektoren richtet und vermitteln will, wie man es macht. Ein darüber hinaus gehender Anspruch – sei es ein Marketing-Ansatz, sei es ein betriebswirtschaftlich-strategischer Ansatz – besteht nicht. Das Buch ist in einer leicht verständlichen, dem Journalismus nahe stehenden Sprache geschrieben (»Auch den Schulbuch-
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verlagen weht ein kräftiger Wind entgegen […]«133) und verzichtet vollkommen auf sprachliche Überhöhungen; statt von einem Spannungsverhältnis von Geist und Kommerz zu reden, fragen die Autoren schlicht: »Steht der Aufwand für Begutachtung und ggf. Veränderung eines Manuskripts in einem vertretbaren Verhältnis zur erwartbaren Auflage, d. h. zum wirtschaftlichen Erfolg?«134 und stellen fest, dass viele Titel in vielen Verlagen von einer kleinen Gruppe erfolgreicher Bücher »massiv quersubventioniert«135 werden. Die Autoren beginnen mit einem im skeptischen Grundton vorgetragenen Aufriss der aktuellen deutschen Verlagslandschaft, die durch Kapitalkonzentration und verschärfte Konkurrenz geprägt sei. Trends wie z. B. das Auftreten von Unternehmen aus verlagsfremden Branchen als publizierende Akteure oder umgekehrt der Übergang von traditionellen Verlagen in die Welt der Online-Information bleiben blass. Gleichwohl wird hier gewissermaßen das alte Selbstverständnis des Verlegers, der den Ehrgeiz hat, »das Werk eines Autors als Buch zu veröffentlichen und zu verbreiten«136, wie es in der 5. Auflage hieß, zu Grabe getragen. In der 7. Auflage erscheint der Verlag als Verwerter von Nutzungsrechten137 wie andere Medienunternehmen auch; freilich ist das Buch zu nah an der Praxis eines Buchverlags als dass Gefahr bestünde, Buchspezifika bei dieser Verwertung zu vernachlässigen. Aber es geht nicht um Strategien, es geht um Lektoratsarbeit. Was der Lektor tun muss, das wird detailliert dargelegt, differenziert nach Belletristik, Sachbuch, Ratgeber, Wissenschaft usw. Die weitere Gliederung entspricht den Aufgaben des Lektors in einer logischen Abfolge der Publikationskette: – –
–
133 134 135 136 137 138
die Abteilungen im modernen Buchverlag, Programmpolitik, erst auf diesem Hintergrund aktive Autorenakquise und Themenrecherche, um Marktlücken zu finden. In diesem Zusammenhang wird die Praxis des Book packaging138 dargestellt und erörtert. Urheber- und Verlagsrecht, Normvertrag für den Abschluss von Verlagsverträgen, Röhring: Wie ein Buch entsteht, S. 15. Röhring, S. 35. Röhring, S. 18. Röhring, 5. Aufl., S 1. Röhring, S. 11. Röhring, S. 41.
Neuere Lehr- und Fachbücher und Fachlexika der Buchwissenschaft
– – – – – – –
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Manuskriptbearbeitung, hier ist ein eigenes, ausführliches Kapitel dem Thema Bildbeschaffung gewidmet, Verfassen von Werbe- und Informationstexten, Umgang mit Autoren, Herstellung, Buchkalkulation, Marketing: Vertrieb, Werbung, Pressearbeit, schließlich ein Kapitel über Kauf und Verkauf von Lizenzen.
Der durchgehende Ratgeber-Charakter soll an detailliert und praktisch behandelten Fragen verdeutlicht werden: –
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Anhand welcher Entscheidungskriterien wird ein Buchprojekt beurteilt: sichtbare und unsichtbare Wünsche der Zielgruppe, passende Inhalte, geeigneter medialer Träger dieser Inhalte, Vertriebskanäle usw.? Welche Honorarform ist bei welcher Art von Buchprojekt vorteilhaft? Welche Aufgaben stellen sich bei der Manuskriptbearbeitung im Einzelnen (bis hin zu Details wie: »Am Ende eines Absatzes erfolgt vor Eingabe der Return-Taste kein Blankzeichen.«139)? Welche Kriterien gelten für Formulierung und Platzierung von Informationstexten über das Buchprodukt? Anhand welcher Kriterien sollen die produzierenden Betriebe ausgewählt werden (Betriebe in Singapur und Hongkong sind für »Schnellschüsse«140, nicht geeignet; nicht selten geben Produktionsbetriebe bei der Erstauflage einen sehr günstigen Preis an, um bei Nachauflagen relativ hohe Preise durchzusetzen)? Blass bleiben dagegen die Aussagen hinsichtlich Wahl von Schrift, Satzspiegel, Layout und Ausstattung. Aber das ist Aufgabe des Herstellers, nicht des Lektors, der hiervon nur soviel verstehen muss, dass er mit dem Hersteller zielgerichtet kommunizieren kann. Angesprochen wird das natürliche Spannungsverhältnis zwischen Lektorat, das zur Vernachlässigung wirtschaftlicher Gesichtspunkte neige, und Herstellung, die nicht immer dem Inhalt des Buchs adäquat entscheiden mag. Wie wird ein Buchprojekt mittels Deckungsbeitragsrechnung kalkuliert?
139 Röhring, S. 81. 140 Röhring, S. 91.
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Welche Besonderheiten sind bei der Werbung für Bücher zu beachten (»Werbung für nicht austauschbare Produkte, die in relativ geringer Stückzahl zu einem relativ geringen Preis verkauft werden«141), Werbung gegenüber den Händlern, gegenüber dem Publikum? Was im Einzelnen muss man bei der Pressearbeit tun, beispielsweise: »Wenn die Anforderung von Rezensionsexemplaren nicht ausreichend erscheint, so wird eine kluge Pressesprecherin mit gezielten Anrufen nachfassen […]«142?
Kaum ein Detail bedarf eines kritischen Kommentars: –
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Holzschnittartig skizzieren die Autoren ein Bild allgemein zurückgehender Lesekompetenz143. Richtig ist dagegen, dass das gedruckte Buch, z. T. auch die gedruckte Zeitung, an der enormen Expansion der Medienproduktion und des Medienkonsums keinen Anteil hat; die Autoren verengen Lesen hier auf Buchlesen, während man heute überall – vom Fahrplan im Internet bis zum heruntergeladenen, vielleicht ausgedruckten E-Book – überall und ständig lesen muss. Dass im Internet Daten und Fakten überwiegend kostenlos recherchierbar seien, ist wohl, wenn man das Deep Web mit den zahllosen kostenpflichtigen Datenbanken einbezieht, nicht richtig; vor allem ist eine solche Aussage zu undifferenziert. Bei der Behandlung des Buchpreisbindungsgesetzes fehlt der Hinweis, dass fremdsprachige Bücher nur dann preisbindungsfähig sind, wenn sie überwiegend für den Absatz in Deutschland bestimmt sind144. Erstaunlich ist, dass zur Recherche nach Vergleichstiteln und nach Marktlücken www.buchhandel.de empfohlen wird, nicht das damals neue www.mvb-vlb.de, wo sehr viel differenziertere thematische Recherchemöglichkeiten bestehen145.
Insgesamt ist der Titel eine sehr ergiebige Quelle für die Buchwissenschaft, wenn es um Erkundung der Praxis geht.
141 142 143 144 145
Röhring, S. 133. Röhring, S. 143. Röhring, S. 22–24. Röhring, S. 13. Röhring, S. 48.
Neuere Lehr- und Fachbücher und Fachlexika der Buchwissenschaft
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4.7 Bücher machen Schickerling, Michael/Menche, Birgit: Bücher machen. Ein Handbuch für Lektoren und Redakteure. Frankfurt a. M.: Bramann 2004 (Edition Buchhandel. 13).
Bücher machen entspricht in Thema, inhaltlichem Konzept und Aufbau dem Titel Wie ein Buch entsteht von Röhring (siehe Kap. 4.6); die beiden Ratgeber stehen in unmittelbarer Konkurrenz zueinander. Auch Bücher machen richtet sich an zukünftige Lektoren, will darüber hinaus Verlagsmitarbeitern Fortbildung geben, spricht wohl deshalb den Leser mit »Sie« an. (Auf Seite 149 – nicht etwa im Vorwort – sagen die Autoren, dass sich ihr Buch »in erster Linie an Lektoren und Redakteure in den ersten Berufsjahren« richtet.) Die Autoren präsentieren ihren Stoff in knappen Kapiteln mit vielen Zwischenüberschriften und geben ihm das für Fachbücher typische Erscheinungsbild mit Textblöcken, Gliederungspunkten, Checklisten, Tabellen, Schaubildern. Am Ende eine kleine Literaturliste, gelegentlich im Text Hinweise auf weiterführende Lektüren. Der Hauptunterschied zwischen beiden Titeln besteht darin, dass Bücher machen – wie bei Titeln im Bramann-Verlag üblich – einen Marketing-Ansatz vorträgt und mehr oder minder differenziert mit vielerlei Einzelinstrumenten (z. B. Schaubilder zur Boston-Matrix oder zur Projektplanung, Werbemittel-Werbeträger-Matrix usw.) ausbreitet, insgesamt detailreicher ist, dabei auch unspezifische Ratschläge gibt, etwa für das persönliche Zeitmanagement146, die Büroorganisation mit Ablagekörben und Wiedervorlagemappen147 oder Umgang mit Lampenfieber bei der Präsentation eines Buchprojekts vor der Vertreterkonferenz148. Über Erfahrungswissen aus der Praxis hinaus vermittelt Bücher machen ein breites Spektrum betriebswirtschaftlicher Kenntnisse, bezogen auf das Büchermachen. In dem Sinn ist Bücher machen gegenüber Röhrings Wie ein Buch entsteht (siehe Kap. 4.6) der modernere und theoretisch – nämlich betriebswirtschaftlich – besser fundierte Titel, der aber nicht durchgängig die Besonderheiten der Ware Buch ausreichend in den Blick nimmt:
146 Schickerling/Menche: Bücher machen, S. 72. 147 Schickerling/Menche, S. 75. 148 Schickerling/Menche, S. 291.
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149 150 151 152 153
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Die Darstellung der Produktlebenszyklusanalyse149 findet sich so wie hier in zahllosen Management-Lehrbüchern. Es fehlen hier branchenspezifische Details, etwa über die Verlängerung des Produktlebenszyklus durch Lizenzvergabe, Neuausgabe, Neuauflage, beispielsweise aus Anlass einer Literaturverfilmung oder eines anderen Ereignisses außerhalb der Buchwelt, das einen älteren Titel wieder interessant machen könnte. Auf Seite 54 kommen die Autoren zwar auf Risiken und Chancen von Neuauflagen zu sprechen, verknüpfen dies aber nicht mit der Produktlebenszyklusanalyse. Die Autoren stellen im Zusammenhang mit dem Thema ZielgruppenAnalyse zwar die Sinus-Milieus150 dar und verweisen auf ähnliche Ansätze, aber erstaunlicherweise fehlen Aussagen über Buch- und Medienaffinitäten der Lebensstile. Im Zusammenhang mit dem Vertrieb gehen die Autoren auf Vertreter ein151 – hier wären Aussagen über die Lebensstile der von den Vertretern bearbeiteten Zielgruppen (Buchhändler, Ärzte …), mithin Auftritt und Argumentation der Vertreter ebenso wichtig. Bei den Preisstrategien152 wird betriebswirtschaftliches Grundwissen (Niedrigpreisstrategie, Verdrängungsstrategie usw.) referiert – in der Buchbranche müssten diese um Aussagen ergänzt werden, wie solche Strategien auf atomistischen Märkten bei gebundenem Ladenpreis zu realisieren sind. Beim Bezug auf das Preisbindungsgesetz fehlen Detailangaben, welche Produkte preisbindungsfähig sind; es ist nur vergröbert von der »Ladenpreisbindung für Bücher«153 die Rede. Auf Seite 54 heißt es: »Ein besonders hoher Ladenpreis verringert in der Regel die Verkäuflichkeit.« Das ist richtig, aber man hätte gerne Genaueres über die Preiselastizität je nach Marktsegment (Kriminalroman, Ratgeber, Wissenschaft, konkurrenzlose Fachbuchtitel usw.) erfahren. Und wie verhält es sich mit dem Berufsmotto des Verlegers Klaus G. Saur, nach dem es viel leichter ist, 20 Exemplare zum Preis von 10 000 Euro als 10 000 Exemplare zum Preis von 20 Euro zu verkaufen?
Schickerling/Menche, S. 18. Schickerling/Menche, S. 39–44. Schickerling/Menche, S. 292–302. Schickerling/Menche, S. 50. Schickerling/Menche, S. 52.
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– –
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Die Ausführungen über Werbetexte und Werbung heben kaum auf Rahmenbedingungen wie die Corporate Identity des Verlags, der Reihe, des Autors und auf die Spezifik der beworbenen Ware ab. Knapp bleiben alle Aussagen in Bezug auf das Fachbuchsegment. Die Autoren orientieren sich vor allem am Publikums- und Ratgeberverlag. Was es für die Lektorats- und Redaktionsarbeit bedeutet, dass sich Fachbuchverlage mehr und mehr zu Fachinformationskonzernen wandeln, bleibt sehr blass.
Insgesamt aber liegt hier ein substanz- und detailreiches, den einschlägigen Stoff gerundet umfassendes Fachbuch vor, das dem künftigen oder noch nicht sehr erfahrenen Lektor nahezu erschöpfende Ratschläge erteilt; positiv hervorgehoben werden sollen: –
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154 155 156 157 158 159 160 161 162 163 164 165 166
die zahlreichen Checklisten, beispielsweise für die Programmanalyse154, für ein ergiebiges Exposé155, das der Autor erstellen möge, für die Konkurrenzanalyse156, zur Entwicklung von Buchprojekten157, für die Termin- und Ressourcenplanung158, für Kriterien, bei deren Zutreffen keine Scheinselbstständigkeit der freien Mitarbeiter vorliegt159, zur Gestaltung und Ausstattung des Buchumschlags160, für Planung und Durchführung der Vertreterkonferenz161, vielerlei Hinweise auf einschlägige Informationsquellen, etwa Buchmessen für den Lizenzhandel162, Übersetzerverzeichnisse163, Fortbildungsmöglichkeiten für Lektoren und Redakteure in Buchverlagen164, Bildagenturen und -archive165, wertvolle Anhaltspunkte für zu beachtende Details, u. a.: in Hinsicht auf den Anpassungsbedarf und damit zusätzliche Kosten beim Lizenzeinkauf von Ratgebern und Fachbüchern für den heimischen Markt166, Schickerling/Menche, S. 22. Schickerling/Menche, S. 25f. Schickerling/Menche, S. 49. Schickerling/Menche, S. 56–58. Schickerling/Menche, S. 69. Schickerling/Menche, S. 94. Schickerling/Menche, S. 261. Schickerling/Menche, S. 284. Schickerling/Menche, S. 32. Schickerling/Menche, S. 86. Schickerling/Menche, S. 355−358. Schickerling/Menche, S. 118. Schickerling/Menche, S. 31.
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bei der Manuskriptbearbeitung von Tipps für gutes Deutsch167 (mit Beispielen, die schlechte und gute Formulierungen gegenüberstellen) über häufige typographische Fehler wie die Vernachlässigung des Unterschieds zwischen Binde- und Gedankenstrich168 bis zu einer Anleitung zur Registererstellung169, hinsichtlich unterschiedlicher Typographien für lineares, konsultierendes, selektives usw. Lesen170, für die Kriterien der Papierauswahl171, die Freundlichkeit des Lektors, die Autoren über die VG Wort und damit über zusätzliche Einnahmen aus ihrer Tätigkeit zu informieren.
Sehr ausführlich und differenziert behandeln die Autoren das Urheber- und Verlagsrecht sowie den Titelschutz, auch hinsichtlich des Umfangs erlaubter Bildzitate (u. a. mit Hinweis auf den Emma-Newton-Prozess172); sie gehen auf die Arbeit mit Formatvorlagen bei der Manuskripterstellung ein173, erwähnen – allerdings kursorisch – die medienneutrale Datenhaltung174, behandeln bei den Einbandarten auch die sonst oft nicht erwähnte LayflatBroschur175, differenzieren sorgfältig zwischen Werbung und Öffentlichkeitsarbeit176, behandeln ausführlich Wege zum Beruf des Lektors und gehen auf Lektoratsarbeit durch Selbstständige177 ein. Aus der Praxis, für die Praxis – tiefer noch als Wie ein Buch entsteht (siehe Kap. 4.6) gibt Bücher machen Einblicke in die Arbeit des Lektorats, überträgt dabei allerdings oft allgemeine Management- und MarketingLehrsätze unreflektiert auf die Lektoratsarbeit.
167 168 169 170 171 172 173 174 175 176 177
Schickerling/Menche, S. 110–116. Schickerling/Menche, S. 134. Schickerling/Menche, S. 123–125. Schickerling/Menche, S. 231f. Schickerling/Menche, S. 264f. Schickerling/Menche, S. 178. Schickerling/Menche, S. 224. Schickerling/Menche, S. 225. Schickerling/Menche, S. 276. Schickerling/Menche, S. 333. Schickerling/Menche, S. 364.
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4.8 Verlagswirtschaft Lucius, Wulf D. v.: Verlagswirtschaft. Ökonomische, rechtliche und organisatorische Grundlagen. 2., neubearb. u. erw. Aufl. Konstanz: UVK 2007 (UTB 2652). Dieses Buch unternimmt es, eine betriebswirtschaftliche, also konzeptionelle Betrachtungsweise des Wirtschaftsunternehmens Verlag mit den Erfahrungen der Verlagspraxis zu verbinden, also Theorie in reduzierter Form auf die Fakten und Entscheidungsvariablen im Verlag anzuwenden, ohne dass ein Wust von Einzelinformationen und Details damit verbunden ist.178
So beginnt Lucius sein dann allerdings doch stoff- und detailreiches Buch mit vielen Schaubildern, Diagrammen und gelegentlichen Literaturverweisen im fortlaufenden Text; im Anhang eine ansehnliche Literaturliste nach Kapiteln gegliedert. Gegenüber der ersten Auflage, die 2005 erschien, sind in der zweiten Auflage vor allem Marktdaten auf neuen Stand gebracht sowie die Kapitel über Marketing und Digitale Publikationen aktualisiert und mit weiteren Details angereichert. Lucius wendet sich an noch wenig erfahrene Praktiker in Verlagen, beispielsweise Volontäre, und an Studierende von Fächern wie Buch- oder Kommunikationswissenschaft, in denen Verlage als Handlungsfelder Gegenstand werden. Mit diesem Einstieg – Verbindung von Erfahrungswissen aus der Verlagspraxis und Betriebswirtschaftslehre – beschreibt der Autor sein Werk vollkommen angemessen. Er selektiert und modifiziert Erkenntnisse der Betriebswirtschaftslehre (z. B. die überall übliche Boston-Matrix179, Organigramme zur Einlinien-, Mehrlinien- und MatrixOrganisation180, Marketing-Instrumente, das Corporate-Identity-Konzept181 usw.) aus dieser Erfahrungsperspektive heraus, bei der der Wissenschaftsverlag prägend wirkte. Lucius präsentiert den mit Titeln wie Bücher machen von Schickerling und Menche (siehe Kap. 4.7) und Kerlens Der Verlag (siehe Kap. 4.9) vergleichbaren, aber mehr auf Verlagsleitung als auf Lektoratsarbeit bezogenen Stoff in konsistenten und straffen Kapiteln unter dicht gesetzten, aussagefähigen Überschriften:
178 179 180 181
Lucius: Verlagswirtschaft, S. 6. Lucius, S. 80. Lucius, S. 94–96. Lucius, S. 233.
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An den Anfang stellt er einen Abschnitt »Books are different«. Die Differenz sieht Lucius wie alle vergleichbaren Autoren in der Doppelnatur des Buchs (Handelsware und geistiger Inhalt) und begründet so ausdrücklich die Privilegien des Buchs (Preisbindung, ermäßigter Mehrwertsteuersatz). Er betont das Erfordernis ökonomischen Denkens im Verlag und warnt in normativer Perspektive vor der »Verführbarkeit der Verlagsmenschen zum Unvernünftigen«182, d. h. Unwirtschaftlichen, einerseits und andererseits reinem Gewinnstreben, das die »Inhalte und deren kulturelle und gesamtgesellschaftliche Funktion«183 aus dem Blick verlöre. Damit – und noch stärker im folgenden Abschnitt über rechtliche Rahmenbedingungen, der die Verlagsproduktion im Kontext besonders der Meinungs-, Informations-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit verortet – geht Lucius ohne dies zu explizieren über die These von der Doppelnatur hinaus und präzisiert den »geistigen Inhalt« als ein Element, das Öffentlichkeit konstituiert. Es folgt ein Aufriss der deutschen Verlagslandschaft mit Aussagen zu Trends S. 60–71: Kapitalkonzentration, Medienkonkurrenz um Zeit und Einkaufsbudgets, Beschleunigung des Erkenntnisgewinns und damit der Veralterung von Büchern und der Aktualitätserwartung der Kunden, strukturelle Veränderungen im Sinn einer Entpersönlichung von Verlagsentscheidungen und zunehmende Bedeutung von Marketing und Vertrieb, schließlich Internationalisierung im Sinn zunehmender Dominanz englischsprachiger Inhalte. Weitere Aussagen über Trends kommen in den folgenden Kapiteln, z. B. über den Trend bei Fachzeitschriftenverlagen, die Beiträger der Zeitschriften als Dozenten in Fachseminaren einzusetzen184.
Dann kommen Kapitel über – – – – –
Programmplanung und Organisation im Verlag, Bilanz, Kennziffern und Controlling, Herstellung, Kosten und Kalkulation, Marketing, Werbung und Vertrieb, die Besonderheiten des Verlegens von Zeitschriften, wobei Lucius – ungewöhnlich im Vergleich zu Titeln wie Wirtschaftsunternehmen Verlag oder Der Verlagskaufmann – Fachzeitschriften und Loseblatt-Ausgaben in den Mittelpunkt stellt,
182 Lucius, S. 7. 183 Lucius, S. 7. 184 Lucius, S. 261.
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digitale Verlagsprodukte und ihre Geschäftsmodelle, Urheber- und Verlagsrecht.
Damit behandelt Lucius’ Lehrbuch alle Fragen, die zu seinem Thema gehören, und zwar durchgreifend im Rahmen eines Ansatzes, der buchspezifische Merkmale berücksichtigt statt allgemeine Management-Lehrsätze unbedacht auf Verlage zu übertragen. Dies soll im Folgenden anhand von Beispielen verdeutlicht werden: –
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– –
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185 186 187 188 189 190
Im Zusammenhang mit der Medienkonkurrenz sieht Lucius das Hauptproblem nicht in der Zeit- und Einkaufsbudget-Konkurrenz, sondern im Merkmal des Buchs als »›Ganztext‹, der Konzentration und langen Atem verlangt«185 und damit auf kulturell normierte Rezeptionsbedingungen angewiesen ist. Damit bewegt sich Lucius in der Nähe von Kerlens Buchbegriff186, doch ohne diese Aussage theoretisch unangemessen zum neuralgischen Punkt zu erheben. Lektoratsentscheidungen, je enger auf einen bestimmten Titel bezogen umso stärker, stehen stets unter den Auspizien beträchtlicher Unsicherheit187. Statt die bekannte Boston-Matrix mit Fragezeichen, Stars, Melkkühen und armen Hunden einfach auf die Buchwelt zu übertragen, stellt Lucius fest: »In Feld 2 (Stars) hineinzuplanen, ist kaum möglich: Solche Titel entstehen einfach.«188 Derselbe Gedanke wird auch bei der Kostenkalkulation189 gewürdigt. Im Zusammenhang mit der Kostenkalkulation geht Lucius auf die Möglichkeit einer Mischkalkulation ein190; hier hätte man sich ausdrückliche Verknüpfungen mit dem Kapitel »Programmplanung« gewünscht. Bei der Behandlung der Fix- und variablen Kosten hebt Lucius das medientypische Phänomen der stark degressiven fixen Stückkosten hervor und behandelt auf diesem Hintergrund die Bemessung der Druckauflagen, des Digitaldrucks und von Printing on Demand. Ausgangspunkt der Ausführungen über Zeitschriften ist die medienspezifische Fähigkeit zum dualen Markt (Lucius verwendet diesen Terminus nicht, S. 245 und 295). Lucius, S. 61. Vgl. Kerlen: Der Verlag, S. 2 u. 282. Lucius: Verlagswirtschaft, S. 74. Lucius, S. 81. Lucius, S. 151. Lucius, S. 162.
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Lucius betont auch für fachliche und wissenschaftliche Printprodukte deren Sinnlichkeit: Bei digitalen Dokumenten fehlt die Haptik, die Wertanmutung vermitteln kann, ebenso wie ein »spontanes Gefühl für den gebotenen Stoffumfang«191. Der Werkcharakter wird weniger sichtbar – und, so könnte man hinzufügen, in digitalen Informationsräumen teilweise bewusst durch kompilatorische Strukturen ersetzt –, wodurch die Produktbindung abnimmt und die Markenbildung vor neuen Herausforderungen steht.
Es wird deutlich, dass Lucius auf der Basis des verlegerischen Erfahrungswissens die Spezifik des Buchs fast durchgehend angemessen berücksichtigt, aber den Zusammenhang oft nicht in theoretischer Perspektive herstellt. Seine Verlagswirtschaft wird von einem buchadäquaten Theorieansatz getragen, dieser wird jedoch nicht expliziert. Immer wieder macht Lucius eine Differenz zwischen verbreiteter Praxis und der Norm einer guten Praxis, die er formuliert, deutlich – für die Buchwissenschaft interessant und ergiebig. Besonders hervorgehoben werden soll die durchgängige Differenzierung der Aussagen und Argumentationen: –
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191 192 193 194 195
Im Zusammenhang mit der Doppelnatur des Buchs und den darauf gründenden gesetzlichen Privilegien fragt Lucius, ob alle Bücher diesen Doppelcharakter in Anspruch nehmen können, ob beispielsweise jedes Kochbuch eine größere intellektuelle Leistung als eine gutgemachte Pfanne darstelle192. Er kommt zum Schluss, dass eine Differenzierung innerhalb der Buchwelt – sozusagen eine Zwei-KlassenBuchwelt – nicht tragfähig ist und deshalb der Gesetzgeber angemessen entschieden hat. Lucius weist aber auch auf die aus der Branche selbst kommende Erosion der Preisbindung hin193. Programm- und Lektoratsentscheidungen194 differenziert er nach Verlagstypen und Marktsegmenten. Preiselastizitäten195, Kostenstrukturen196, Einsatz des Werbebudgets197 und Vorratsbewertungen in der Bilanz198 werden nach Produktgruppen unterschieden. Lucius, S. 294. Lucius, S. 19. Lucius, S. 38. Lucius, S. 75. Lucius, S. 201.
Neuere Lehr- und Fachbücher und Fachlexika der Buchwissenschaft
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Lucius behandelt detailliert199, wie der Einsatz von DTP den Workflow in der Herstellung verändert und die bisherige lineare Struktur netzförmig aufbricht. Sehr differenziert werden Geschäfts- und Preismodelle für die Online-Publikation behandelt, wobei Lucius zwischen verschiedenen Produktarten und Marktsegmenten unterscheidet.
Ein eigenes Kapitel ist dem elektronischen Publizieren gewidmet. Nüchtern stellt Lucius fest, dass sich über 90 % der Verlage – abgesehen von einem werblichen WWW-Auftritt – nicht im Online-Bereich betätigt. Dieser ist noch immer ein höchst unsicheres Experimentierfeld, auf dem das Bewusstsein, dass qualitätsvolle Inhalte hier ebenso wie im Printbereich Geld kosten dürfen, sich erst allmählich entwickelt. Der Autor sieht hier große Chancen für neue Verlagsprodukte bzw. zusätzliche Verwertungsmöglichkeiten für vorhandene, bisher mittels Printprodukten verbreitete Inhalte. Er differenziert exzellent zwischen verschiedenen digitalen Produkten200: eigenständige Kernprodukte, Parallelprodukte zum Printprodukt, Ergänzungsprodukte, Bereitstellung von Inhalten (durch Lizenzierung an Dritte, also Content Syndication) und erörtert die je verschiedenen Vermarktungsstrategien. Als Vorteile stellt er einfacheren Zugang, Aktualität, Recherchemöglichkeiten über große Datenbestände, geringe Verbreitungskosten und Personalisierungsmöglichkeiten heraus. Dem stehen Nachteile gegenüber: Das Erfordernis, die Integrität und Authentizität (Lucius verwendet diesen Terminus nicht, sondern spricht von »Stabilität«201) digitaler Dokumente für die Wissenschaft sicherzustellen, erfordert zusätzliche, mit Kosten verbundene Maßnahmen, und der weniger sichtbare Werkcharakter verringert die Produktbindung. Die Aufgabe von Verlagen beim digitalen Publizieren sieht Lucius normativ in der weiterhin erforderlichen Qualitätsselektion, vor allem in der Aufbereitung der von den Autoren gelieferten Inhalte zu komfortabel nutzbaren Angeboten und in der professionellen Verbreitung. Sehr detailliert und differenziert, verschiedene Marktsegmente und Produkte beispielhaft untersuchend, behandelt Lucius Geschäfts-, Preis- und Distributionsmodelle, geht auch auf Marktanalyse für Online-Produkte ein und erwähnt aus196 197 198 199 200 201
Lucius, S. 145. Lucius, S. 210. Lucius, S. 116. Lucius, S. 140. Lucius, S. 293. Lucius, S. 294.
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drücklich, dass Wissenschaftsorganisationen immer stärker den OpenAccess-Zugang einige Monate nach der Verlagspublikation verlangen. Das Kapitel ist höchst informativ, insgesamt nüchtern, abwägend im Urteil und vermittelt verhaltenen Optimismus, aber auch die Aussicht auf kommende Anstrengungen auf Verlegerseite. Einige, insgesamt kaum ins Gewicht fallende Kritikpunkte sollen erwähnt werden: –
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202 203 204 205 206 207
Lucius sieht aufgrund demoskopischer Untersuchungen ein weiterhin ausgeprägtes, z. T. zunehmendes oder mindestens stabiles Leseverhalten202 – das ist richtig, sagt aber wegen der fehlenden Unterscheidung zwischen Buchlesen und Kauf wenig aus. Die Angabe, 90 % der Sortimentsbuchhandlungen arbeiteten mit Warenwirtschaftssystemen203, erscheint erheblich übertrieben. Eingangs empfiehlt Lucius204, »Vorzüge der neuen Professionalität« der betriebswirtschaftlich geschulten Verlagsmanager mit »den Vorzügen des alten Inhaberverlags«, an dessen Spitze ein konzeptionell denkender, kreativer Kopf stand, zu verbinden – man hätte erwartet, dass er diesen Gedanken bei der Behandlung der Corporate-IdentityStrategie205 wieder aufgreift. Dass »beamtete Bibliothekare, einige Bildungspolitiker und Ministeriale« die Kampfansage vortrügen, »das Urheberrecht sei im digitalen Zeitalter obsolet«206 bezieht sich vielleicht auf die Forderung nach Open-Access-Publikation, ist aber in der polemischen Formulierung nicht angemessen; dasselbe gilt für den unsachlichen Ausfall auf S. 336: »[…] versuchen bedeutende Wissenschaftsinstitutionen mit Open-Access-Parolen die Freibiermentalität im digitalen Umfeld noch zu verstärken und verschweigen die hohen Kosten, die dann statt der Nutzer die Autoren (bzw. ihre Institutionen) zu trägen hätten.« Tatsache ist, dass die Open-Access-Befürworter gerade die Frage, wer welche Kosten tragen solle und ob sie gegenüber der Verlagspublikation niedriger ausfallen, sehr differenziert erörtern207. In dem Zusammenhang übersieht Lucius auch den eigentlichen Inhalt der Open-Archives-Initiative, die er sehr einseitig in die Nähe der Lucius, S. 55f. Lucius, S. 152. Lucius, S. 68. Lucius, S. 233. Lucius, S. 292. Vgl. Schmidt: Open Access.
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Open-Access-Bewegung stellt208. Tatsächlich ist Ziel der OpenArchives-Initiative nicht der für den Nutzer kostenlose Zugang, sondern die Verwendung einheitlicher, automatisch indexierbarer Metadaten durch ein spezielles Protokoll, das die Metadaten, wenn sie entsprechend strukturiert sind, automatisch auswertet (OAI-PMH, Open Archives Initiative – Metadata Harvesting Protocol), im XML-Format in einer Datenbank als spezieller Suchmaschine ablegt und recherchierbar macht. Insofern ist sein Argument, der kostenlosen Bereitstellung nach dem Open-Access-Modell fehle die professionelle Vermarktung209, nicht sachgerecht, weil die Open-Archives-Initiative sowohl bei Open-Access- wie auch bei digitalen Verlagspublikationen gerade zu einer einheitlichen, qualitätsvollen Erschließung führen soll – wenn auch bisher mit geringen praktischen Erfolgen. Die allgemein klingende, im Zusammenhang mit Preismodellen für Online-Publikationen formulierte Behauptung, dass »Wettbewerb immer zu einer Preisanpassung nach unten führt«210, wäre eigentlich ein Argument gegen die Buchpreisbindung, die der Autor aber verteidigt. Tatsächlich verläuft die Preisbildung bei Büchern – buchspezifisches Merkmal – im Fall des Wegfalls der Preisbindung atypisch: Nur eine überschaubare Zahl von Bestsellern wird billiger, während der Durchschnittspreis ansteigt, wie auch wieder die jüngste Entwicklung in der Schweiz zeigt.
Lucius’ Verlagswirtschaft ist ein außerordentlich ergiebiges Lehrbuch, das konzeptionell und theoretisch mehr bietet als es expliziert, und deshalb für die Buchwissenschaft die erste Wahl ist, wenn es um eine Informationsquelle für Verlagspraxis und einen Impuls für Theoriebildung geht. Erfreulich ist das Erscheinen der zweiten, aktualisierten Auflage nur zwei Jahre nach der ersten.
208 Lucius: Verlagswirtschaft, S. 322. 209 Lucius, S. 302. 210 Lucius, S. 302.
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4.9 Der Verlag Kerlen, Dietrich: Der Verlag. Lehrbuch der Buchverlagswirtschaft. 14. Aufl. Stuttgart: Hauswedell 2006.
Die Zählung als 14. Auflage ist erklärungsbedürftig und eigentlich eine kühne Konstruktion, die der Autor auf der Rückseite des Titelblatts und in der Einleitung (S. 13) elegant vornimmt: 1936 erschien in Leipzig Friedrich Uhligs Lehrbuch Der Verlags-Lehrling, das bis zur 9. Auflage (Hamburg 1972) am Markt blieb. Ulrich Stiehl brachte 1980 ebenfalls in Hamburg bei Hauswedell das Lehrbuch Der Verlagsbuchhändler heraus; die 2. Auflage kam 1985 und ein durchgesehener Nachdruck 1993. Stiehls 2. Auflage zählt Kerlen als die 11. Auflage seines Lehrbuchs, das er neu konzipiert als 12. Auflage dieser Vorläufer 2003 bei Hauswedell in Stuttgart publizierte. Kerlen beginnt nicht mit einem wie immer eingegrenzten Stoff, sondern mit einer Reflektion über die Begriffe »Buch«, »Verlag«, »Wirtschaft«, »Buchverlagswirtschaft«, die er mit den Worten zusammenfasst: So präsentiert sich die Buchverlagswirtschaft als ein quantitativ eher marginales, qualitativ aber hochkomplexes Segment der Volkswirtschaft. An ihr lassen sich paradigmatisch Verflechtungen zwischen Ideellem und Materiellem studieren. Zwar sind heute fast alle Produkte als Synthesen zwischen diesen beiden Ingredienzen erkannt (das Label auf einem Kleidungsstück, das bezeichnenderweise gelesen werden muss, repräsentiert ebenso wie die Aura rund um eine Automobilmarke herum immaterielle Werte), aber beim Produkt Buch erscheint, sofern es zur Handelsware wird, diese Synthese in besonderer Weise.211
Es geht dem Autor also nicht um die Vermittlung von Kenntnissen, die Verlagskaufleute, Medienkaufleute (das neue Berufsbild im Anhang S. 311), Lektoren und Redakteure, Hersteller, Werbe- oder Verlagsleiter auch vielen anderen Lehrbüchern entnehmen können, sondern es geht dem Autor um die Begründung einer speziellen Betriebswirtschaftslehre, der Buchverlagswirtschaft, die dem Produkt Buch mit seinen spezifischen Eigenschaften gerecht wird. Er verfolgt einen reflektierenden Ansatz statt kochrezeptartig Anleitungen zu geben, weshalb manche seiner Schaubilder und Ablaufpläne nicht in allen Details erklärt werden, andere im Detail weniger erklärt, sondern vielmehr problematisiert werden. Anders als bei Berufsschul- oder Hochschul-Lehrbüchern wird hier nicht gesichertes Wissen in konfektionierten Portionen didaktisiert, sondern es soll eine neue Lehre entwickelt werden. Man hätte bei diesem Ansatz eine extensive Auseinandersetzung 211 Kerlen: Der Verlag, S. 19.
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mit bisherigen Behandlungen des Themas, vor allem mit der Verlagswirtschaft von Lucius (siehe Kap. 4.8) erwarten können, aber die Hinweise auf vergleichbare Titel bleiben kursorisch (aber vielleicht ist Lucius’ Verlagswirtschaft zu knapp vor Kerlens Der Verlag erschienen). Bei diesem Ansatz tritt eine Aporie auf: Kerlen definiert Buch durch den Langtext212 – und versteht zugleich umstandslos Kunstbildbände213 ebenso wie Comicbücher214, die zum Teil fast keinen Text und schon gar keinen Langtext enthalten, als Bücher. Das bleibt theoretisch unerörtert, hindert aber die Entfaltung seines Ansatzes nicht. Thematisch deckt Der Verlag etwa denselben Stoff ab wie Bücher machen von Schickerling und Menche (siehe Kap. 4.7) und Lucius’ Verlagswirtschaft (siehe Kap. 4.8): – – – – – – –
Aufgaben des Lektorats von der Programmgestaltung über die Titelformulierung bis zur Arbeit am Manuskript, Herstellung und Gestaltung, Kalkulation, Controlling, Marketing und Vertrieb, Verlagsvertrag und Verlagsrecht, wobei sich Kerlen auf den Verlagsvertrag konzentriert und den Muster-Vertrag des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels kommentiert, Strukturen der Buchhandelslandschaft (Verlage, Zwischen- und Sortimentsbuchhandel) und Strategien der Verlage, Börsenverein des Deutschen Buchhandels, Berufsprofile und Ausbildungsgänge.
Der Verlag will aber thematisch darüber hinausgehen, indem der Autor in den beiden Schlusskapiteln »Buchtheorie als vergleichende Medientheorie« und »Buchverlage als Tutoren der Wissensgesellschaft« eine Theorie des Buchs und des Buchverlags liefert. Sie setzen bei Kerlens Buchbegriff an, der den Langtext ins Zentrum stellt, und fragen: »Was zeichnet die Rezeption oder Nutzung des linearen Langtextes – auf was für Trägern auch immer – vor den Rezeptionen und Nutzungen der anderen Medien aus?«215 und beschreiben die Rolle der Buchverlage als Vermittler von performativen Langtexten, eine Rolle, die Kerlen »Tutorenfunktion«216 212 213 214 215 216
Kerlen, S. 2, 282. Kerlen, S. 57. Kerlen, S. 66. Kerlen, S. 282. Kerlen, S. 279.
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nennt. Die Leistung des Langtextes – die Aporie, darauf einen Buchbegriff gründen zu wollen, wurde schon angesprochen – sieht Kerlen in der Vermittlung von »Performationskultur«217 über das Fachwissen hinaus: Das Buch diene dem Aufbau einer stabilen Persönlichkeitsstruktur und verhelfe wie kein anderes Medium zu Urteilsvermögen, Imaginationsfähigkeit, Gelassenheit, Sprachgeschmeidigkeit und intellektueller Sensibilität218. In seiner Medienkunde formuliert Kerlen: »Es sind gerade nicht die nur oberflächlich informativen, sondern die vertiefenden performativen Texte, die optimal buchförmig genutzt werden.«219 Es mag dahingestellt bleiben, wie weit Kategorien wie »Gelassenheit« oder »intellektuelle Sensibilität« in der Lese- oder Buchwirkungsforschung eingeführt sind. Jedenfalls ist das eine Überhöhung des Buchbegriffs und übersieht, dass es nicht nur die Eigenschaften des Textes sind, die seine Rezeption bestimmen, sondern auch – wie Kerlen im Verlag auf S. 277 in anderem Zusammenhang berechtigt erwähnt – Lesemodus und -motiv, also kulturell und soziologisch eingebettete Nutzungen, die wiederum auf Nutzungsangebote – Bücher – angewiesen sind. Es wird deutlich, dass Kerlens theoretischer Ansatz weniger trägt als der systemtheoretisch basierte Ansatz Rautenbergs, der nach der spezifischen Unterstützungsleistung im Kommunikationsprozess220 fragt. Unplausibel bleibt auch Kerlens Unterscheidung von informativen Langtexten (die auf außerhalb der Texte liegende Sachverhalte verweisen) und performativen Langtexten, die »etwas versprechen, es dann einhalten oder nicht«221 – leisten nur letztere jene dem Buch aber andererseits allgemein zugesprochene Vermittlungsfunktion von »Performationskultur«? Freilich bleibt dieser Theorieansatz für weite Teile des Verlags folgenlos. Hinter den in schwungvoll-professoralem Duktus vorgetragenen Ausführungen steht durchgängig ein Verständnis von Büchern als aus der unerschöpflichen Ressource Geist generierten Vertrauensgütern, die im Verhältnis der Nichtrivalität stehen, auf atomistischen Märkten. Während der Charakter des Buchmarkts wiederholt detailliert ausgeführt wird, bleibt diese gütertypologisch angemessene Verortung unexpliziert. Dieses Verständnis prägt das ganze Buch, was im Folgenden an ausgewählten Aussagen verdeutlicht werden soll: 217 218 219 220 221
Kerlen, S. 285. Kerlen, S. 283. Kerlen: Medienkunde, S. 291. Rautenberg/Wetzel: Buch, S. 12f. Kerlen: Der Verlag, S. 291.
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222 223 224 225 226 227
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Kerlen unterscheidet drei idealtypische Buchideen: das Buch als Idee eines Autors, der sich einen Verleger sucht, das Buch als Idee des Verlags, der ein gut laufendes Segment mit weiteren Titeln bestücken möchte (»Auf diese Weise entsteht die überwältigende Mehrheit aller Bücher.«222), die gemeinsame Idee. Diese Typologie wird dem Gegenstand gerecht und schafft klare Orientierungen. Auch im Zusammenhang mit der Programmplanung im Lektorat bei Publikumsbüchern (Sachbüchern, Belletristik) unterscheidet Kerlen drei Typen (S. 84f.): gewachsene Autorennamen, Namen als Medienprodukte, Verfassernamen als genuine Verlagsprodukte (Branding). Auf den Seiten 89f. behandelt Kerlen ausführlich Kriterien für die Wahl einer Erfolg versprechenden Titelformulierung je nach Buchgattung und geht dann (S. 95) auf die Funktion der Reihen ein. Überhaupt vermittelt das lange Kapitel »Programm und Lektorat« sehr viel differenzierter als die anderen hier untersuchten Titel, wenn auch oft erzählerisch präsentiert bis hin zum Anekdotischen, Kriterien für Entscheidungen des Lektors, Kriterien, die die Spezifik des Buchs nicht im Sinn von Kerlens Buchtheorie, sondern im Sinn eines Vertrauensguts auf atomistischen Märkten widerspiegeln. Auch die These »Der Buchwirtschaft besonders eigen ist die diachrone Langfristigkeit des Verkaufs ihrer Produkte.« 223 reflektiert die Spezifik der Ware. So überzeugt ebenfalls die These, Verlage »verändern den Bestand des Beständigen. Ständig neue Einzelprodukte verkörpern in ihrer Gesamtheit das Bleibende«224 durch den Rekurs auf atomistische Märkte, die aber strukturiert werden, hier durch Verlagsprogramme oder Reihen, die als Marken auftreten. Entsprechend differenziert Kerlen die Lebenszyklen nach Buchtypen225 und die Preiselastizität nach Marktsegmenten226. Seine Darstellung der Deckungsbeitragsrechnung227 untersucht den Einfluss atomistischer Märkte auf Kostenrechnung und Preisbildung. Zum Thema »Verlage an der Börse« vermerkt Kerlen: Die periodische Auskunftspflicht in kurzen Abständen widerspricht dem »Wesen der Buchwirtschaft, die nach wie vor eine Ökonomie der Geduld erKerlen, S. 27. Kerlen, S. 133. Kerlen, S. 231. Kerlen, S. 139. Kerlen, S. 172. Kerlen, S. 152.
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fordert«228, denn ihre Produkte sind Vertrauensgüter auf atomistischen Märkten. Diese scheinbar konservative Sicht, die man als Sehnsucht nach einer idyllischen Zeit des gemütlichen Büchermachens apart vom lauten Medienrummel missverstehen könnte, wenn man Schickerlings und Menches Bücher machen (siehe Kap. 4.7) oder Röhrings Wie ein Buch entsteht (siehe Kap. 4.6) als Maßstab nähme, ist in Wirklichkeit nicht rückwärtsgewandt, sondern artikuliert hier nicht theoretisch explizierte Buch-Charakteristiken. Auf diesem Hintergrund betont Kerlen berechtigterweise die Bedeutung innovativer Köpfe, die es in Großbetrieben schwer haben: »Konzerne dagegen lähmen auf Dauer den Ideenreichtum. […] Die kleinen Einheiten sind wieder im Kommen, vielleicht sind sie in Zukunft sogar die effizienteren Agenten.«229 Die angeblich lähmende Kraft der Großbetriebe wird man nicht verallgemeinern können, aber hier scheint auf, dass Verlagskonzerne sich auf besondere Weise organisieren müssen, um Innovation aufzuspüren und zu generieren. Im Kapitel Herstellung sind die Kriterien nicht so prägnant in einen Zusammenhang gebracht wie im Kapitel Lektorat, aber es wird deutlich, dass der Inhalt in eine ihm adäquate materielle Form gebracht werden muss, wofür allerdings ein breites, auch kulturell kodiertes Spektrum an Möglichkeiten besteht: »Zur materiellen Seite hin muss der Buchinhalt seine angemessene Gestalt erhalten […]: Papier, Satzspiegel, Schrifttype und -größe, Einband und Umschlag«230. Und in dem Zusammenhang formuliert Kerlen: Sehe ich den Kern aller Buchkultur in der geistigen Beziehung zwischen Autor und Leser (primär in Texten, weniger bei Bildern), dann sinkt die Trägerfrage an Bedeutung herab und Goethes ›Faust‹ (den wir alle in der Reclam-Ausgabe in der Schule lesen mussten) ist als Präsentation auf dem Display eines e-book kein sonderliches Problem. Sehe ich aber die Ästhetik der Gestalt im Vordergrund und die Synthese aus Inhalt und schöner Form als Gipfelpunkt der Buchkultur (wie weiland der Dichter Stefan George, der sich für seine Gedichte noch die passenden Lettern schneiden ließ), dann habe ich mit den digitalen Trägern Schwierigkeiten.231
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Interessanterweise nimmt Kerlen mit diesem Gedanken – Bücher als Synthese zwischen Text und Träger, wobei der Träger unterschiedli-
228 229 230 231
Kerlen, S. 161. Kerlen, S. 238. Kerlen, S. 170. Kerlen, S. 128.
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che Gestalt annehmen kann, z. B. als elektronisches Buch, auch auf S. 288 ausgeführt – implizit gar nicht Bezug auf seinen eigenen Theorieansatz (Buch als Langtext), sondern auf den von Rautenberg vorgetragenen Ansatz, der nach der spezifischen Unterstützungsleistung im Kommunikationsprozess fragt, ein Kommunikationsprozess, der in Kerlens Faust-Beispiel in beiden Fällen einen Text transportiert, diesen aber unterschiedlich kontextualisiert. Der Gedankenreichtum von Kerlens Buch soll mittels einiger Beispiele hervorgehoben werden: –
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Im Zusammenhang mit der Preisbindung erwähnt Kerlen das anbiedernde Verhalten des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels gegenüber dem Nazi-Regime im Mai 1933, als die Preisbindung nicht mehr Kultur schützte, sondern Unkultur beförderte232. Die späte Durchsetzung des Marketing-Ansatzes in der Buchbranche sieht Kerlen nicht nur im Kontext des Wandels vom Verkäufer- zum Käufermarkt, sondern auch im Kontext der Auflösung eines homogenen Kulturestablishments233. Er weist aber auch darauf hin, dass in Teilen des Fachbuch- und Wissenschaftssegments weiterhin ein Verkäufermarkt besteht. Kerlen hebt berechtigt die Unterscheidung zwischen Werbung und Öffentlichkeitsarbeit234 hervor. Erfahrungsgesättigt ist seine Empfehlung, dass die Lektoren mit den Vertretern die Buchhandlungen besuchen sollen und dort Reaktionen der Buchhändler auf das von ihnen gestaltete Programm kennen lernen235.
Mitunter sind freilich auch nur Tatsachen, die auf Entscheidungen beruhen, welche so oder anders ausfallen können, rhetorisch überhöht, so über die Begründung, weshalb auf Bücher ebenso wie auf Lebensmittel der ermäßigte Mehrwertsteuersatz erhoben wird: »Es ist ein demokratischer Gedanke, der gegen die feudalen Hierarchien und Abschottungen von Lebensunterhalt und kulturellem Verzehr gerichtet ist.«236 Die wenn auch wenigen Schwächen sollen nicht unerwähnt bleiben:
232 233 234 235 236
Kerlen, S. 164. Kerlen, S. 166. Kerlen, S. 174. Kerlen, S. 177f. Kerlen, S. 268.
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Im Kapitel »Käufer und Leser« hätte man vielleicht empirische Aussagen über die Differenz oder theoretische Überlegungen, wie Leser zu Käufern werden können, erwartet. Allein das Kapitel begründet nur wortreich den ermäßigten Mehrwertsteuersatz für Verlagserzeugnisse. Das Kapitel »Buchgattungen« liefert jeweils eine Skizze der Gattungsgeschichte, referiert aktuelle Bedeutung und Trends auf dem Buchmarkt, während die Funktionen im Mediengefüge blass bleiben (über die Funktion von Kinderbüchern S. 37: Persönlichkeitsbildung, Differenzierungsvermögen, Ansätze von Urteilsvermögen, Sensibilität des Empfindens der Außenwelt – das sagt der Autor auf S. 238 auch über Bücher allgemein; von Sachbüchern heißt es auf S. 49, ihre Merkmale seien »eine allgemein verständliche Sprache sowie der bloße Informationscharakter«, womit sonst hervorgehobene Charakteristiken wie Wertevermittlung oder Meinungsbildung außen vor bleiben). Textsorten- und Gestaltungs-Merkmale der Buchgattungen (z. B. Formate von Bilderbüchern) werden kaum erwähnt. Kerlen hebt auf S. 165 den infolge der Preisbindung fehlenden Bruch in der Wertschöpfungskette hervor, weshalb der Produzent – der Verlag – eine Kalkulation anwenden muss, die den Endverkaufspreis als Bezug wählt, nicht den Verkaufspreis an den Handel. Dies ist allerdings keine so einschneidende Differenz, weil auch in anderen Branchen der Produzent einen realisierbaren Endverkaufspreis beachtet bzw. widerrechtlich durchsetzen will (z. B. Automobilbranche); und dies gilt ebenso in Branchen ohne Handel, bei denen der Produzent oder Dienstleister sich unmittelbar an den Endverbraucher wendet (z. B. Handwerk, Banken, Transportunternehmen, Freie Berufe). Im Zusammenhang mit der Erörterung des Verlagsvertrags, der ein bis zur nächsten Auflage unveränderliches Werk zum Gegenstand hat, weist der Autor darauf hin237, dass das Verlagsrecht in dem Moment brüchig wird, in dem die Unveränderbarkeit des Werks bei OnlinePublikationen nicht mehr garantiert ist. Hier vermisst man den Gedanken, dass diese Unveränderbarkeit nicht nur etwas mit den Grundlagen des Verlagsrechts zu tun hat, sondern mit den Grundlagen der wissenschaftlichen Kommunikation, weshalb AuthentifizierungsTechnologien jene Unveränderlichkeit der gedruckt publizierten Werke auch in der Online-Welt herstellen sollen.
237 Kerlen, S. 226.
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Auf die von Wissenschaftsorganisationen geforderte Open-AccessOption in Verlagsverträgen mit Wissenschaftlern geht der Autor nicht ein, wenn er auch die unbeschränkte Einräumung von Nutzungsrechten gegenüber dem Verlag bei weniger bekannten Fach- und Wissenschaftsautoren relativiert. Die Distributionsmöglichkeiten beim E-Publishing werden nur ungenau angesprochen, weder werden die vorhandenen Geschäftsmodelle referiert noch Online-Geschäftsmodelle grundsätzlich anhand eines Theorie-Ansatzes entwickelt. Gut ist dagegen beim E-Publishing die Differenzierung nach Buchgattungen und Textsorten238 und nach unterschiedlichen Weisen, mit Text umzugehen239, also nach Lesemodi und -motiven. Kerlen belässt es aber insgesamt bei einer linearen Publikationskette240 – der auf Basis des Internets mögliche Wandel zur Netzstruktur wird nicht berücksichtigt. Kerlen stellt richtig ein Merkmal des Buchverlags heraus: Er muss seine Kosten durch Verkauf von Büchern, also Inhalten, erwirtschaften, während Presseverlage sich in beträchtlichem Umfang – meistens etwa zur Hälfte – durch den Verkauf von Anzeigenraum finanzieren. Das ist freilich kein so scharfes Abgrenzungskriterium, wie Kerlen glauben machen will, denn viele Buchprojekte sind auf Zuschüsse angewiesen, können also weder allein durch Verkauf oder verlagsinterne Quersubventionierung finanziert werden, und viele Wissenschaftsverlage sind zugleich Buchverlage und Zeitschriftenverlage – und finanzieren die Zeitschriften teilweise aus den Publikationsbeiträgen der Autoren bzw. ihrer Institute. Ein Lapsus S. 267: Hier zitiert Kerlen ohne weitere Erläuterung aus einem veralteten Buch über die Mehrwertsteuer: »›Die Steuer ermäßigt sich um die Hälfte […]‹«, nachdem er eine Seite vorher richtig den aktuellen Sieben-Prozent-Satz dargelegt hat.
Alles in allem hat Kerlen hier eine gedanklich tiefe und theoretisch anspruchsvolle spezielle Betriebswirtschaftslehre vorgelegt, von der die Buchwissenschaft profitieren kann, wenn sie der Frage nachgeht, welche Konsequenzen die Merkmale des Buchs haben, wenn das Buch Wirtschaftsgut wird. 238 Kerlen, S. 273. 239 Kerlen, S. 277. 240 Kerlen, S. 22.
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4.10 Warenkunde Buch Pohl, Sigrid/Umlauf, Konrad: Warenkunde Buch. Strukturen, Inhalte und Tendenzen des deutschsprachigen Buchmarks der Gegenwart. Wiesbaden: Harrassowitz 2003.241
Eine zweite Auflage auf Basis der mit dem Jahr 2007 deutlich veränderten Warengruppen-Systematik ist für Herbst 2007 angekündigt. Unter Warenkunde verstehen die Autoren ein handlungsorientiertes Feld in der Schnittmenge zwischen Inhalten des Buchmarkts und Formen ihrer Vermarktung im Bucheinzelhandel. Die Inhalte bilden die Autoren ab, indem sie die Warengruppen-Systematik zugrunde legen. Sie nehmen sich folgende Fragen vor: –
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Welche Inhalte und Themen gehören zu jeder Warengruppe? Diese Inhalte selbst umreißen Pohl und Umlauf nur in engen Grenzen und verweisen auf Titel zur Wissenschaftskunde bzw. Lexika. So werden grundlegende Aussagen z. B. zur Philosophie referiert, aber Einzelbegriffe wie Ethik oder Scholastik werden nicht erklärt. Welche Stellung haben die einzelnen Warengruppen im Buchmarkt allgemein und speziell im Sortimentsbuchhandel? Etwa wird dargelegt, wie groß das Marktvolumen der Wörterbücher ist, welchen Umsatzanteil sie im Bucheinzelhandel haben und welche Markttendenzen sich auf dem Hintergrund der Konkurrenz zwischen Print- und CDROM-Ausgaben sowie infolge der Sprachcomputer abzeichnen. Wie kann die betreffende Warengruppe optimal vermarktet und vorteilhaft im Ladengeschäft präsentiert werden? Hier werden Verkaufsargumente beispielsweise für verschiedene Typen und Reihen von Reiseführern oder Kochbüchern referiert oder das Erfordernis saisonaler Präsentation von Sportbüchern dargelegt. Welche sind die führenden Verlage und wichtigen Reihen für die jeweilige Warengruppe? Für viele Warengruppen werden bewährte Titel, die immer wieder in Neuauflagen kommen, genannt (bei den medizinischen Wörterbüchern Pschyrembel und Roche Lexikon Medizin mit ihren unterscheidenden Merkmalen, bei den Weinführern Johnson und Clarke etc.).
241 Der Autor des Beitrags, der zugleich Mitautor der »Warenkunde« ist, kann hier natürlich nur den Inhalt referieren und die Ziele der Publikation darlegen.
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Die Warengruppen-Systematik ist eine teils thematisch, teils anhand von Zielgruppen und Buchgattungen (Ratgeber, Fachbuch, Sachbuch usw.) konstruierte Klassifikation für die Waren des Buchhandels, die im VLB und in Warenwirtschaftssystemen angewendet wird und dazu dienen soll, im Interesse einer Optimierung der Lagerhaltung eine detaillierte Verkaufsstatistik zu führen. Sie kann auch für die bibliographische Recherche verwendet werden; Pohl und Umlauf betonen besonders den Nutzen dieser Funktion. Nur zurückhaltend gehen die Autoren auf Schwächen der Warengruppen-Systematik, vor allem auf nicht selten zweifelhafte oder falsche Zuordnungen von Buchtiteln zu Warengruppen, ein. Diese Zuordnung wird von den Verlagen bei der Eingabe der Daten in die VLB-Datenbank vorgenommen. So schlagen die Autoren vor, die Warengruppe »47 Esoterik & Anthroposophie« aufgrund ihrer Inhalte, die weit über diese beiden Stichwörter hinausgehen, »Moderne Spiritualität« zu nennen242. Mehrere derartige Vorschläge scheinen in der renovierten Warengruppen-Systematik 2.0, die ab 2007 im VLB verwendet wird, aufgegriffen worden zu sein, denn jetzt heißt z. B. die entsprechende Warengruppe »470 Spiritualität«. Oder die Autoren monieren, dass die meisten Titel über Kunststoffe fälschlich der Warenuntergruppe »654 Anorganische Chemie« zugeordnet sind243, wodurch der Nutzen der WarengruppenSystematik gemindert werde. In einem einleitenden Kapitel behandeln die Autoren ausführlich Begriffe wie Sachbuch, Fachbuch, Taschenbuch, CD-ROM oder Kalender und legen die Stellung im Bucheinzelhandel, Grundsätze der Einkaufspolitik und der Warenpräsentation dar. Im Kapitel über die Warengruppe »Recht« werden die Merkmale von Textausgaben, Kommentaren, Formular-Büchern, Entscheidungssammlungen usw. dargelegt, ebenso erläutern die Autoren die Merkmale der zahlreichen Bibel-Ausgaben. Als Zielgruppen nennen Pohl und Umlauf (S. 5): – – –
Auszubildende im Buchhandel, Studenten in buchhandelsnahen Fächern wie z. B. Verlagswirtschaft, Buch- und Bibliothekswissenschaft, Berufspraktiker im Buchhandel, die sich fortbilden und ihre Kenntnisse in einen systematischen Zusammenhang einordnen möchten.
242 Pohl/Umlauf: Warenkunde Buch, S. 163. 243 Pohl/Umlauf, S. 242.
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Im Interesse der Zielgruppe der Auszubildenden und Berufspraktiker haben die Autoren auf Fußnoten verzichtet – im Anschluss an die Einleitung eine Seite mit Literaturangaben –, obwohl auf vielen Seiten deutlich wird, dass sie die Fachliteratur gründlich ausgewertet haben. Beispielhaft sollen, um den Charakter des Titels zu verdeutlichen, einige Aussagen herausgegriffen werden. – – – – – – –
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Taschenbuchreihen sind gezählt; viele Verlage bilden die Bandzählung in der ISBN ab244. Mehr und mehr erscheinen Loseblatt-Ausgaben mit CD-ROMBeilage, aber eine Tendenz zur Verdrängung der Print-Ausgaben ist nicht erkennbar245. Sowohl der Markt der Publikums- wie der Fachzeitschriften weist eine Tendenz zu wachsender Titelzahl mit immer spezielleren Titeln bei sinkenden Auflagen pro Titel auf246. Die Merkmale der verschiedenen Bibel-Übersetzungen werden erläutert247. Noch stärker als bei den anderen naturwissenschaftlichen Fächern publizieren die deutschsprachigen Verlage chemische Fachbücher auf Englisch; es erscheinen kaum noch deutschsprachige Titel248. Die Autoren weisen auf die Tücke des teilweise fehlenden Fugen-s in juristischen Titelformulierungen hin, was bei der Recherche eine Rolle spielt249. Die Strategie der Schulbuchverlage zum Ausbau des ›Nachmittagsmarkts‹ (Kauf von Lernmitteln durch Eltern und Schüler) wird dargelegt250.
Pohl/Umlauf, S. 22. Pohl/Umlauf, S. 27. Pohl/Umlauf, S. 29f. Pohl/Umlauf, S. 193f. Pohl/Umlauf, S. 242. Pohl/Umlauf, S. 292. Pohl/Umlauf, S. 308.
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4.11 Einführung in das Medienmanagement Breyer-Mayländer, Thomas: Einführung in das Medienmanagement. Grundlagen, Strategie, Führung, Personal. München: Oldenbourg 2004.
Der Titel steht hier für die zahlreichen Management-Titel, die sich im Sinn einer speziellen Betriebswirtschaftslehre analog zur Industrie-, Bank-, Handels- usw. Betriebslehre dem Mediensystem zuwenden und dabei die Spezifik von Medienunternehmen und von Medien als ihren Produkten nicht oder nur eingeschränkt in den Blick nehmen. Das Lehrbuch richtet sich an Studierende in FachhochschulStudiengängen, die entweder aus betriebswirtschaftlicher Sicht die Spezifika der Medienbranche kennen lernen wollen oder die sich umgekehrt auf dem Hintergrund vertiefter Medienkenntnisse mit Management-Themen auseinandersetzen wollen. Ferner sollen Praktiker angesprochen werden, die an Fortbildungsprogrammen teilnehmen, um aktuelle ManagementInstrumente kennen zu lernen. Insgesamt legt das Lehrbuch – in einem für den Oldenbourg Verlag nicht untypischen schlechten Layout und mit wenig Sorgfalt redigiert251 – Grundbegriffe des Managements (Scientific Management, strategische Programme, Balanced Score Card, Management by Objectives, motivationale Personalbindung usw.) dar und versucht, dies mit einem Medienbezug zu verbinden. Hierbei folgt das Lehrbuch einem Begriff von Medienmanagement, der auf das Management von Unternehmen der Medienbranche (Zeitungsverlage, Fernseh-Unternehmen usw.) abhebt, nicht auf das Management von Medien (und Information) zur Kommunikation im Unternehmen und zur Kommunikation des Unternehmens mit der Umwelt. Freilich wird auch der Aspekt angesprochen, dass der Einsatz von Medien zur Kommunikation mit der Umwelt in manchen großen Unternehmen einen solchen Umfang gewonnen hat, dass zwischen beiden Begriffen von Medienmanagement Übergänge entstehen – sehr berechtigt. Als Besonderheit der Medienbranche wird ihre Dynamik und damit für die Unternehmen das Erfordernis dauernder Veränderlichkeit (Change 251 Einige Beispiele: S. 13 (»Mangementthemen«), S. 14 (»orporate Website« statt »corporate«), S. 29 (»Beispielhaft für unternehmenspolitische Themen in Medienunternehmungen ist beispielsweise […]«), S. 30 (»brachenspezifisches Beispiel«), auf Abbildung 54 folgt unmittelbar Abbildung 64 (die Abbildungen 55 bis 63 fehlen), auf Abbildung 53 nimmt der Text S. 121 als »Abbildung 61«, die nicht vorhanden ist, Bezug usw.
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Management; die Autoren verwenden den ungewöhnlichen Terminus Wandlungsmanagement, obwohl sie sonst nicht vor »denglischen« Termini zurückschrecken) und geringer Strukturiertheit hervorgehoben. Das ist angemessen, auch wenn – wie die Autoren erwähnen – dasselbe auch für einige andere Branchen gilt. Die innere Pressefreiheit wird im Zusammenhang der Unternehmenspolitik und -verfassung als Beispiel und Personalführungsproblem angesprochen252, aber nicht in den Kontext der spezifischen Produkteigenschaften der Zeitung als Meinungsorgan gestellt. So verbleiben die Redaktionsstatute auf derselben Ebene wie Führungsgrundsätze etwa bei IKEA – unangemessen, auch rechtlich unangemessen. Generell wird in diesem Lehrbuch die Spezifik der Produkte der Medienbranche nicht expliziert: Medien sind Vertrauensgüter mit teilweise überwiegend emotionalen Eigenschaften; für sie gilt weitgehende Nichtrivalität des Konsums, die bei elektronischen Medien aber ausgeschaltet werden kann; Medien stehen im Kontext eines besonderen Schutzes der Verfassung (Meinungs-, Informations-, Presse-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit), der über den für alle Güter und Dienstleistungen geltenden Schutz, die Eigentumsgarantie, hinausgeht, während sonst nur noch für ein einziges anderes Wirtschaftsgut eine Verfassungsgarantie besteht (Privatschulen), u. a. m. All diese Eigenschaften haben Konsequenzen für Strategie, Personal- und Konfliktmanagement im Unternehmen, auf die Breyer-Mayländer teils gar nicht eingeht, teils erwähnt er sie, kontextualisiert sie aber nicht. Oft handelt es sich bei Bezügen zur Medienbranche eher um austauschbare Beispiele, an deren Stelle ebenso die Automobilindustrie oder das Reinigungsgewerbe treten könnte, wenn der Titel des Buchs es erforderte. So stehen die spezifischen Ziele in einer Balanced Score Card für einen wissenschaftlichen Zeitschriftenverlag (z. B. Umfang pro Einzelheft, Ablehnungsquote bei den eingereichten Artikeln253) unvermittelt im Raum. Oder eine Kernressource im TV-Sektor wie »Produktreputation«254 lässt nicht deutlich werden, dass der Aufbau eines Images bei Medienprodukten anderen Gesetzmäßigkeiten unterliegt als bei anderen Konsumgütern und Dienstleistungen. Ohne Zweifel gelten in der Medienbranche viele hier angesprochene Management-Sachverhalte – etwa Grundsätze der Personalbeurteilung, Szenariotechnik, Bedeutung der Unternehmensstrategie – ebenso wie in 252 Breyer-Mayländer: Einführung in das Medienmanagement, S. 29–31. 253 Breyer-Mayländer, S. 102. 254 Breyer-Mayländer, S. 121.
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anderen Branchen. Um diese darzustellen, bedarf es keines branchenbezogenen Lehrbuchs. Deshalb müsste gerade ein branchenspezifisches Management-Lehrbuch die branchenspezifischen Ausprägungen, Grenzen der Anwendung oder branchenspezifische Management-Sachverhalte hervorheben. Das tut die Einführung in das Medienmanagement von BreyerMayländer nur punktuell, besonders bei den Führungskonzepten: »Gerade in Medienunternehmen, die sich aufgrund der publizistischen Dimension ihres unternehmerischen Wirkens über einen normativen Auftrag definieren, sind Elemente des Führungskonzepts ›Management by Ideas‹ zu finden.« 255 Ähnlich geht der Autor auf die Verbreitung der Führungskonzepte »Management by Delegation« und »Management by Objectives« in Medienunternehmen ein. Im Kapitel »Konflikte« fehlen allerdings Aussagen zu spezifischen Konfliktpotenzialen in Medienunternehmen wie der Autor sie – ohne dass er eine Verbindung herstellen würde – im Kapitel »Unternehmensverfassung« mit der inneren Pressefreiheit angesprochen hat. Und diese Einführung in das Medienmanagement steht auch beispielhaft dafür, dass in der Management-Fachliteratur, wenn sie auf die Medienbranche zu sprechen kommt, selten von Buchverlagen, weitgehend nur von Zeitungs- und Zeitschriftenverlagen, von Hörfunk- und FernsehUnternehmen die Rede ist sowie von Internet-Unternehmen, obwohl die meisten Hörfunk-Unternehmen als Regional- und Lokalsender und die meisten Internet-Unternehmen ebenfalls wie die meisten Verlage mittelständische oder Kleinunternehmen sind. 4.12 Grundlagen des Medienmanagements Karmasin, Matthias/Winter, Carsten (Hrsg.): Grundlagen des Medienmanagements. 2., korr. u. erw. Aufl. München: Fink 2002 (UTB 8203).
Dieser Titel wird hier als Kontrast zur Einführung in das Medienmanagement von Breyer-Mayländer (siehe Kap. 4.11) vorgestellt: Karmasin und Winter beginnen nicht mit Management-Theorien, die sie auf die Medienbranche übertragen, sondern sie stellen ein Kapitel über die Spezifik von Medien als Wirtschafts- und Kulturgut und damit von Medienunternehmen an den Anfang256, nachdem sie sich mit einem Blick auf die Geschichte der 255 Breyer-Mayländer, S. 153. 256 Karmasin/Winter: Grundlagen des Medienmanagements, S. 29–36.
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Medienbranchen deren Besonderheiten vergewissert haben. Sie betonen, dass die umstandslose Anwendung betriebswirtschaftlicher Theorien auf den Gegenstandsbereich von Medienmanagement problematisch ist. Die zentralen Aussagen sind in diesem Kapitel: –
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Da Medien ursächlich mit Kultur und Öffentlichkeit zu tun haben, interessieren aktuell zwei Fragen: (1) Auf welche Weise haben global agierende Medienunternehmen einen Einfluss auf Praktiken von Medienrezeption und -konsum sowie kultureller Identitätsbildung? (2) Welche Rechte (Gleichheits-, Freiheitsrechte usw.) und Voraussetzungen von Demokratie werden durch die Kommerzialisierung der Mediensysteme und die globale Dominanz von transnational operierenden Medienunternehmen beeinträchtigt? Medien sind duale Güter. Als Kulturgut stehen sie im Kontext einer Ökonomie der Aufmerksamkeit und der Kommunikation; Medienkonsum als kulturelle Praxis ist eine Form der Produktion von Identität (und, so kann man hinzufügen, von Distinktion als Kehrseite der Identitätsbildung) und Verständigung. Als Wirtschaftsgüter stehen sie im Kontext von Kapitelverwertung und Geldflüssen. Karmasin und Winter verstehen Medien als quasi-öffentliche Güter. Öffentliche Güter zeichnen sich durch zwei Merkmale aus: Nichtausschließbarkeit und Nichtrivalität. Bei privaten Gütern werden andere Wirtschaftssubjekte durch den Preis von der Nutzung ausgeschlossen. Im Medienbereich ist das nur eingeschränkt möglich (Schwarzsehen, Lesen in der Buchhandlung). Nichtrivalität liegt vor, wenn der Konsum eines Guts den Konsum desselben Guts, z. B. Lektüre desselben Zeitungsexemplars, durch ein anderes Wirtschaftssubjekt nicht beeinträchtigt. Dieses Kriterium ist bei vielen Medien erfüllt, aber hängt auch mit dem Aktualitätswert zusammen: Für die Zeitung von heute gilt Nichtrivalität, für die von gestern Rivalität des Konsums. Der Charakter von Medien hinsichtlich Nichtausschließbarkeit und Nichtrivalität hängt weniger von ihrer Natur, mehr von ordnungs- und strukturpolitischen Determinanten, und, so sollte man hinzufügen, von kulturellen Nutzungsmustern ab: Ein Buch leiht man sich auch von einem entfernten Bekannten, aber Socken? Indem die öffentliche Hand Bibliotheken finanziert, macht sie jedenfalls die dort verfügbaren Bücher zu öffentlichen Gütern. Diesen ambivalenten und wandelbaren Charakter von Medien bilden die Autoren mit dem Terminus »quasi-öffentliches Gut« ab. Daher: »Medienunternehmungen
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sind nicht nur deswegen öffentlich exponiert, weil sie Öffentlichkeit herstellen bzw. über die Gewährung und Verweigerung von Öffentlichkeit entscheiden, sondern auch deswegen, weil sie selbst Gegenstand öffentlicher Diskurse und Gegenstand des öffentlichen Interesses sind.«257 Damit schlagen die Herausgeber, die das Eingangskapitel geschrieben haben, eine Bresche, in der die weiteren Autoren die einzelnen ManagementBereiche in griffigen Kapiteln jeweils mit Übungs- und Kontrollfragen und stetigen Bezügen auf die lange Bibliographie am Ende des Buchs abhandeln: –
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257 258 259 260 261 262
Redaktions- und Produktionsmanagement. Hier geht es nicht um die Aufgaben von Redakteuren usw., sondern um die Frage, wie deren Arbeit organisiert wird. Als Rahmenbedingung werden die für die Medienmärkte hohen Unsicherheiten und Risiken258 und die für Redaktionen typischen nur vage explizierten Regeln und Verfahren angesprochen259, was sich ebenso auf Lektoratsarbeit im Buchverlag übertragen ließe. Im Ergebnis treten Medienorganisationen als dynamisch sich verändernde, »eigenständige und häufig eigenwillige« Organisationen260 auf. Strategisches Management: Ausgangspunkt ist die ökonomische Besonderheit der Medienwirtschaft, dass sie auf einem dualen Produktmarkt agiert261, d. h. gegenüber den Konsumenten Informations-, Bildungs- und Unterhaltungsprodukte anbietet und damit zugleich Werbetreibenden den Zugang zu eben diesen Konsumenten als Zielgruppen für Werbung verkauft. So kommt eine Anzeigen-Auflagen-Spirale in Fahrt. Dies gilt für Buchverlage nur sehr eingeschränkt, worauf das Kapitel nicht eingeht. Als weitere Besonderheit der Medienbranche werden die hohen Fixkosten für das erste Exemplar angesprochen, jedenfalls bei elektronischen Medien, weniger bei Printmedien262. Buchverlage mildern das Problem, indem die Buchautoren üblicherweise auflagenabhängige Honorare bekommen, was in Grundlagen des Medienmanagements nicht behandelt wird. Schließlich werden als Strategie beeinflussende Größen Netz- und Substitutionseffekte erörtert. Karmasin/Winter, S. 36. Karmasin/Winter, S. 43. Karmasin/Winter, S. 48. Karmasin/Winter, S. 56. Karmasin/Winter, S. 61. Karmasin/Winter, S. 63.
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263 264 265 266 267 268
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Netzeffekte263 entstehen, wenn der Nutzen eines Guts von seiner Verbreitung abhängt. Beispielsweise steigt der Nutzen der DVD als Filmträger, wenn immer mehr Konsumenten die DVD verwenden, weil die Filmwirtschaft dann ein immer breiteres und tieferes Sortiment anbietet. Substitutionseffekte werden am Beispiel der Substitution von Print- durch elektronische Zeitschriften und von Printdurch CD-ROM-Nachschlagewerke dargelegt264. Personal- und Organisationsmanagement sind in Medienunternehmen ein entscheidender strategischer Erfolgsfaktor, weil ihre Produkte aus den »Köpfen von Menschen«265 kommen und nicht primär technisch beeinflussbar sind. Betont wird das Erfordernis von Entwicklungsund Lernprozessen in Medienunternehmen. Entwicklungs- und Innovationsmanagement. Hier werden die Bedeutung von Projektorganisation und die Entstehung netzwerkartiger statt traditionell-hierarchischer Strukturen in Medienunternehmen herausgearbeitet. Qualitätsmanagement: Das Kapitel reflektiert gedankenreich das Spannungsverhältnis von journalistischen Qualitätsansprüchen und wirtschaftlichem Erfolgsdruck und empfiehlt nach differenzierter Erörterung das Qualitätsmanagement-Modell der European Foundation for Quality Management, das sowohl die Ressourcen wie auch Mitarbeiter- und Kundenzufriedenheit und die gesellschaftliche Verantwortung in die Betrachtung einbezieht266. Marketingmanagement: Als Besonderheiten des Marketings von Medien wird hier hervorgehoben267, dass Medien weniger physische Objekte sind als vielmehr (jedenfalls teilweise) in Produktform geronnene Dienstleistungen, deren Konsum im Vergleich zu Sachgütern oft eine besondere Beteiligung des Kunden (z. B. Lesen als eigenständige Beschäftigung, was bei der Nutzung von Kleidung eine marginale Rolle spielt) und häufig die Nutzung komplementärer Sachgüter auf Kundenseite (etwa des PCs für das Buch auf CD-ROM) erfordert. Und schließlich erörtert das Kapitel Besonderheiten der Markenbildung bei Medien268. Karmasin/Winter, S. 64. Karmasin/Winter, S. 72. Karmasin/Winter, S. 93. Karmasin/Winter, S. 164. Karmasin/Winter, S. 179. Karmasin/Winter, S. 192f.
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Internationales Management: Sowohl die Probleme der ContentProduktion in einem internationalen Umfeld wie das Erfordernis der Lokalisierung der Inhalte für jeweilige nationale Märkte mit ihren unterschiedlichen Kulturen werden behandelt. Kostenmanagement und Controlling: Da die verschiedenen Medienunternehmen vom Buchverlag über Web-Agenturen bis zur Filmwirtschaft verschiedene Wertschöpfungsketten und Finanzierungsformen aufweisen, kann es kein für alle Medienunternehmen einheitliches Controlling und Kostenmanagement geben269. Das Kapitel stellt exemplarisch Controlling beim werbefinanzierten Fernsehen dar. Interkulturelles Management: Das Kapitel geht davon aus, dass Markterfolg von Medienunternehmen zunehmend »von innovativen, kreativen Milieus, von Produkt- und Unternehmenskultur und der Abstimmung der Allokation auf Alltagskulturen und Szenen«270 abhängt und erörtert kulturbedingte Einflüsse auf das Management der medialen Wertschöpfung. Dabei geht es nicht nur um Aspekte nationaler und ethnischer Kulturdifferenzen, sondern auch um Kulturdifferenzen etwa zwischen Lektorat (wo die innovativen Köpfe neue Inhalte fördern wollen) und Controlling-Abteilung (wo die fantasielosen Rechenknechte die Kostenbremse treten). Stakeholder Management ist als spezifischer Management-Ansatz für Unternehmen besonders geeignet, weil Medienunternehmen nicht nur den Kapitalgebern, Mitarbeitern und Kunden, sondern auch einer Öffentlichkeit gegenüber verpflichtet sind, deren Konstituenten sie darstellen, was ein Spezifikum der Medienunternehmen ist und mit dem der Charakter der Medienprodukte als quasi-öffentliche Güter zusammenhängt. Der Ansatz wird hier auch normativ verstanden als Aufforderung, alle legitimen Ansprüche (Stakes) in unternehmerische Entscheidungen einzubeziehen, wobei der Kreis der Stakeholder als sehr umfangreich gesehen wird271 und u. a. Abonnenten, Werbekunden, Bildungseinrichtungen, Kapitalgeber, konkurrierende Medien, Interessenvertretungen oder Absatzhelfer umfasst. und sogar Selbstmanagement (Anforderungen an Verlagsmanager u. a.: »Können Sie sich mitteilen, aber auch zuhören?« 272).
Karmasin/Winter, S. 219. Karmasin/Winter, S. 245. Karmasin/Winter, S. 224. Karmasin/Winter, S. 315.
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Karmasin und Winter legen eine Managementlehre vor, die sich auf umfassendes Literaturstudium ebenso wie auf eine adäquate ökonomische Medientheorie stützt, und treten damit in einen Leerraum ein, der auch von anderer Seite wiederholt beklagt wurde: »Die lange Zeit vorherrschenden regulierten Märkte speziell im Rundfunk- und Fernsehbereich sowie das über Jahrzehnte nicht von revolutionären Änderungen geprägte Printmediengeschäft spiegeln keinen hinreichenden Nährboden für neue und spezifische betriebswirtschaftliche Überlegungen wider.«273 Zwar sprechen Karmasin und Winter das ganze Spektrum der Medienunternehmen mit ihren jeweiligen Produkten an, doch werden Buchverlage und Bücher, seien sie gedruckt oder auf anderen Trägern verbreitet, dabei immer wieder nur gestreift. Deren Spezifik über die allgemeinen Mediencharakteristiken hinaus werden nicht erörtert; wenn es um Beispiele und Spezifika einzelner Medien geht, stehen Presse, Rundfunk und digitale Medien im Vordergrund. Gleichwohl kann die Buchwissenschaft diesem Ansatz wesentliche Impulse entnehmen, die über die griffige These vom Doppelcharakter des Buchs als Handelsware und Kulturträger hinausführen. Auf dieser Folie lohnt es sich, Buchspezifika differenzierter zu untersuchen. Verbindet man diesen Ansatz mit einer systemtheoretischen Herangehensweise, wie sie Rautenberg und Wetzel eingeführt haben, ergeben sich vielleicht theoretisch neue, ergiebige Perspektiven: das Buch als ein viel offeneres Medium im Vergleich zum Film, zur CD usw., so dass es jederzeit Element verschiedener Systeme (vor allem Literatur, Wissenschaft, Wirtschaft) werden kann.
5 Fazit Zunächst muss wiederholt werden: Eine maßgebliche aktuelle buchwissenschaftliche Monographie, die in die Disziplin einführt, sie begründet und ins Verhältnis zu Nachbardisziplinen setzt sowie ihre Gegenstände und Methoden umreißt, fehlt bis heute. Zunehmend wenden sich andere Disziplinen – Medienwissenschaft, Management-Wissenschaft bzw. Betriebswirtschaftslehre, ja die Literaturwissenschaft – dem Buch zu, nicht immer auf fundierter Basis. Der Gegenstand der Buchwissenschaft ist nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch allgegenwärtig und droht womöglich der Buchwissenschaft zu entgleiten. Lediglich das schmale 273 Eggers: Integratives Medienmanagement, S. 32.
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Büchlein Buch (siehe Kap. 4.1) und Reclams Sachlexikon des Buches (siehe Kap. 2.2), beide mit Rautenberg als spiritus rector, versichern sich eines genuinen buchwissenschaftlichen Ansatzes, während die BuchEnzyklopädie sich bezeichnenderweise nicht »Lexikon der Buchwissenschaft«, sondern Lexikon des gesamten Buchwesens (siehe Kap. 2.3) nennt und darunter all den Stoff fasst, der sich irgendwie mit dem Stichwort Buch assoziieren lässt. Sodann fällt auf: Die Fachliteratur, fast durchweg von Praktikern oder ehemaligen Praktikern verfasst, die jetzt in Berufsschulen tätig sind oder Professuren innehaben (oder im Fall des verstorbenen Kerlen innehatten), hat sich aus dem jeweiligen engen Praxisfeld (Fachbuchverlag oder Publikumsverlag, Buchverlag oder Zeitschriftenverlag usw.) nicht ganz emanzipiert und fokussiert dieses Praxisfeld mehr oder minder eng, auch wenn ein allgemeinerer Anspruch vorgetragen wird. Dabei dominieren die Verleger-Perspektive und Verlage als Thema gegenüber dem Bucheinzelhandel, und zwar auch in den Lexika; dies entspricht der Betriebswirtschaftslehre, in der Titel zur Industrie- und Bankbetriebslehre häufiger als über Handels-Betriebslehre erscheinen. Überhaupt steht – bedingt durch das praktische Bedürfnis – das Buch als Verlagsprodukt und als Handelsware im Mittelpunkt. In diesem Rahmen wird das Buch als im Kontext eines Kommunikationsprozesses gestaltetes Objekt immer wieder angesprochen, aber auf der Ebene einer praktisch begründeten Handlungsanleitung (Wie sollen Lektorat und Herstellung es machen? Welche Merkmale haben die verschiedenen Buchtypen oder -gattungen als etablierte Muster, deren Modifikation Marktchancen eröffnet, aber auch Risiken birgt?), nicht aus der Sicht oder auf der Basis einer Buchtheorie, die eine Semiotik des Buchs konstruiert hätte, denn diese ist noch Desiderat. Eine Semiotik des Buchs würde wohl die immer wieder angeführten Buch-Merkmale der einfachen Benutzbarkeit, der Sinnlichkeit, der Wertigkeit usw. als kulturell bedingt oder kulturspezifisch herausarbeiten. Sie könnte aber der Praxis – nicht nur im internationalen und interkulturellen Management – auch Impulse geben, so wie etwa die Sprachtheorie dem Sprachunterricht Impulse gegeben hat, beispielsweise indem auf Basis theoretisch erforschter Affinitäten der Buchgattungen zur Online-Publikation Prognosen erstellt werden, die über die bisherigen Trendaussagen und Vermutungen hinausgehen. Die verbreitete Praxisnähe und Praktiker-Herkunft der Fachliteratur über das Buch und seine Umwelten ist es wohl, die – außer in Rautenbergs Buch (siehe Kap. 4.1) und außer im LGB2 (siehe Kap. 2.3) – nicht
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nur zur Theorie-Armut, sondern auch zur mangelnden Rezeption der Fachliteratur in der Fachliteratur führt. Zwar führen die meisten hier behandelten Titel mehr oder minder viel Fachliteratur auf, aber erstens kaum Aufsätze, obwohl es daran keinen Mangel gibt, und zweitens setzen sie sich damit nicht diskursiv auseinander, sondern verwenden die Fachliteratur mehr oder minder nur als Steinbruch (wieder mit Ausnahme von Rautenbergs Buch, siehe Kap. 4.1). Der Berufsschul-Literatur kann man das nicht vorwerfen, denn sie muss sich am Berufsbild orientieren und erforderlichenfalls auch disparate Konzepte referieren, wenn sie für Ausbildung und Praxis relevant sind. Lediglich noch bei Lucius (Verlagswirtschaft, siehe Kap. 4.8) und Kerlen (Der Verlag, siehe Kap. 4.9) sind dazu Ansätze zu erkennen. Gleichwohl enthalten viele der hier vorgestellten Titel ohne theoretische Explikation ergiebige Impulse für die Buchwissenschaft, indem sie immer wieder Buch-Spezifika (beispielsweise die atypische Preisentwicklung bei Wettbewerbsdruck, die Eigenschaft des Vertrauensgutes, unterschiedliche Affinitäten der Buchgattungen zur Online-Publikation) artikulieren. Aber viele dieser Spezifika gelten nicht für Bücher generell, sondern nur für einzelne Buchgattungen oder auf einzelnen der hoch differenzierten Buchmärkte. Vielleicht käme man ja am Ende darauf, dass das Medium Buch unter allen Medien die blassesten Eigenschaften hat und deshalb außerordentlich leistungsfähiges Element in unterschiedlichen Systemen werden kann bis hin zur Wohnzimmerdekoration, in Marketing-Kategorien gesprochen also bis hin zu den wenig erforschten Nebennutzen, weil es seine Eigenschaften eigentlich erst aus der Begegnung mit einem Kontext erhält. Das spräche ja für die Genialität der Erfindung Buch. Überraschenderweise haben Lehrbücher der Medienwissenschaft bisher kaum fundierte Beiträge zu einer Theorie des Buchs vorgestellt, sondern greifen eher umgekehrt Aussagen aus der Buchwissenschaft bzw. aus der branchenbezogenen Fachliteratur auf 274. Eggers275, einem Wirtschaftswissenschaftler, ist zuzustimmen, dass erst der Veränderungsdruck des Internets auf die Buchbranche sowohl in der Branche wie in der akademischen Analyse eine vertiefte und über Praxiserfahrung hinausgehende Befassung mit der Spezifik der BuchUnternehmen und ihrer Ware ausgelöst hat. So ist es denn die Manage274 Vgl. Faulstich: Grundwissen Medien; Kerlen: Medienkunde; Leschke: Einführung in die Medientheorie. 275 Eggers: Integratives Medienmanagement, S. 32.
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mentlehre mehr als die Medienwissenschaft, aus der die Buchwissenschaft weitere Impulse beziehen kann: Bücher als quasi-öffentliche Güter, die das Potenzial zur Konstituierung von Öffentlichkeit haben. Umgekehrt geht die Management-Literatur bisher wenig auf Buchverlage ein; komplementär dazu entwickelten sich Ansätze zu einer eigenständigen Buchverlagswirtschaft, die sich wiederum wenig im Kontext von ManagementTheorien verortet. Weniger Niederschlag als in der Management-Literatur haben in der hier vorgestellten Buch-Fachliteratur Trends zum E-Merging Media276 (zunehmende Überlagerung – merging media – und Erweiterung – e-merging media –) in Bezug auf das Buch gefunden, obwohl dieser Trend bei Büchern – Sprachlehrbücher mit Schallplatten seit den 1950er Jahren! – eine längere Tradition als bei anderen Medien hat; fast nur bei Lucius (Verlagswirtschaft, siehe Kap. 4.8) gibt es substanzielle Ausführungen dazu, sonst beschränken sich die Aussagen auf das Thema OnlinePublikation, oft noch pauschal. Zukünftig muss die Fachliteratur zum Buch sich stärker mit der Informationswirtschaft und -wissenschaft beschäftigen, weil die zunehmende Verbreitung von Inhalten auf Basis des Internets die bis in die 1990er Jahre hinein getrennten Handlungsfelder der Buchhandelsbranche und der Informationswirtschaft immer mehr zur Konvergenz führt (früher gedruckte Nachschlagewerke erscheinen wie der Landolt-Börnstein nur noch oder wie die Enzyklopædia Britannica zusätzlich online usw). Und die Buchwissenschaft sollte auch die oben angesprochenen, in der hier behandelten Fachliteratur – mit Ausnahme des Antiquariatsbuchhandels von Wendt und Gruber (bibliophiler Wert!) – meist nur gestreiften Nebennutzen des Buchs, differenziert nach Buchgattungen usw., näher untersuchen. Auf diese Nebennutzen in früheren Zeiten – schön gestaltete Einbände, aufwändige Buchmalereien – wurde viel Forschungsenergie verwendet, aber wie steht es mit Nebennutzen des Buchs in der Gegenwart, von der Bücherwand in der Hotellobby bis zum Geschenk, auch im Medienvergleich: Wie verschenkt man eine pdf-Datei?
276 Zerdick: E-Merging Media.
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6 Literaturverzeichnis ABC des Zwischenbuchhandels. Zusammengest. u. bearb. v. Thomas Bez. Hrsg. v. Ausschuss für den Zwischenbuchhandel im Börsenverein des Deutschen Buchhandels. 5., neu bearb. Aufl. Norderstedt: Books on Demand 2006. Althaus, Birgit: Das Buchwörterbuch. Nachschlagewerk für Büchermacher und Buchliebhaber. Erftstadt: Area 2004. Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1999. Bramann, Klaus-W./Plenz, Ralf (Hrsg.): Verlagslexikon. Hamburg: Input-Verlag/ Frankfurt a. M.: Bramann 2002. Bramann, Klaus-W./Hoffmann, C. Daniel: Wirtschaftsunternehmen Sortiment. In Anlehnung an die Lernfelder 1, 2, 3, 8 und 10 des Ausbildungsberufes Buchhändlerin/ Buchhändler. 2., völlig neu bearb. Aufl. Frankfurt a. M.: Bramann 2004 (Edition Buchhandel. 4). Bremenfeld, Eckhard u. a.: Fachwissen Medienkaufmann/-frau Digital und Print. Leitfaden für Verlagsberufe und Quereinsteiger. 4. Aufl. Düsseldorf: Springer-VDI-Verlag 2006. Breyer-Mayländer, Thomas: Einführung in das Medienmanagement. Grundlagen, Strategie, Führung, Personal. München: Oldenbourg 2004. Breyer-Mayländer, Thomas: Online-Marketing für Buchprofis. Frankfurt a. M.: Bramann 2004 (Edition Buchhandel. 14). Breyer-Mayländer, Thomas u. a.: Wirtschaftsunternehmen Verlag. In Anlehnung an die Lernfelder 3, 4, 6, 7 und 8 des Ausbildungsberufes Verlagskauffrau/Verlagskaufmann. 3., überarb. u. erg. Aufl. Frankfurt a. M.: Bramann 2005 (Edition Buchhandel. 5). Corsten, Severin/Pflug, Günther/Schmidt-Künsemüller, Friedrich Adolf (Hrsg.): Lexikon des gesamten Buchwesens. LGB2. 2., völlig neubearb. Aufl. Bd. 1ff. Stuttgart: Hiersemann 1987ff. Dorner, Rainer/Abels, Norbert/Zur Mühlen, Bernt Ture: Literatur im Buchhandel. In Anlehnung an das Lernfeld 7 des Ausbildungsberufes Buchhändlerin/Buchhändler. 3. Aufl. Frankfurt a. M.: Bramann 2005 (Edition Buchhandel. 1). Eggers, Bernd: Integratives Medienmanagement. Konzepte, Instrumente und Publisher Value Scorecard. Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag 2006 (nbf neue betriebswirtschaftliche Forschung. 349). Faulstich, Werner: Medienwissenschaft. Paderborn: Fink 2004 (UTB 2494/basics). Faulstich, Werner (Hrsg.): Grundwissen Medien. 5. Aufl. München: Fink 2004. Friedrichsen, Mike (Hrsg.): Printmanagement. Herausforderung für Druck- und Verlagsunternehmen im digitalen Zeitalter. Baden-Baden: Nomos 2004 (Schriften zur Medienwirtschaft und zum Medienmanagement. 3). Frieling, Wilhelm Ruprecht/Huffmann, Johann-Friedrich: Wörterbuch der Verlagssprache. 5., umfassend überarb. Aufl. Berlin: Frieling 2005. Füssel, Stephan: Buch-Forschung. In: Medienwissenschaft. Ein Handbuch zur Entwicklung der Medien und Kommunikationsformen. Hrsg. v. Joachim-Felix Leonhard u. a. 1. Teilbd. Berlin/New York: de Gruyter 1999 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. 15), S. 569–574. Gauditz, Sabine: Schaufenster als Spiegel der Geschäfte. Frankfurt a. M.: Bramann 2003 (Edition Buchhandel. 8). Georg, Werner: Soziale Lage und Lebensstil. Opladen: Leske + Budrich 1998.
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THOMAS STÄCKER
Digitalisierung buchhistorischer Quellen, Fachportale und buchhistorische Forschung jenseits der Gutenberggalaxie 1 2 3 4
Faksimilierende Digitalisierung Kataloge und Portale Buchhistorische Forschung jenseits der Gutenberggalaxie Literaturverzeichnis
Wenn die Digitalisierung innerhalb der buchwissenschaftlichen historischen Forschung1 zur Sprache kommt, geht es zumeist um deren instrumentellen Charakter, die Bereitstellung von Digitalisaten und deren Nutzung, mit denen bequemerer Zugriff auf Quellen oder neue Nutzungsverfahren verbunden sind. Andererseits kann aber, je nach Auffassung der Grenzen des Forschungsgebiets, auch das Medium selbst Thema werden, insofern ein Digitalisat Funktionen übernehmen kann, die bislang dem gedruckten Buch vorbehalten waren. Da in der buchwissenschaftlichen bzw. -historischen Forschung die Materialität des Objekts im Vordergrund steht, soll im Folgenden der Stand und die Perspektiven der reproduktiven oder faksimilierenden Digitalisierung in Deutschland2 skizziert werden. Dabei geht es weniger um die Auflistung konkreter Projekte (diese sind leicht entsprechenden Listen zu entnehmen) als um die Qualität und Quantität von Digitalisierungsprojekten. Digitalisierung, die ausschließlich maschinenlesbaren Volltext zum Ziel hat, ist aus dem Blickwinkel buchhistorischer Forschung von untergeordnetem Interesse, selbst wenn sich durch verbesserte Suchmöglichkeiten viele neue Ansätze ergeben mögen. Zur Digitalisierung gehören die Digitalisie1 2
Dieser Artikel spiegelt den Stand Mitte 2007 wieder. Auf eine Aktualisierung, die eine erhebliche Ausweitung und Umarbeitung dieses Beitrags bedeutet hätte, wurde verzichtet. Die vorgestellten großen Linien haben jedoch auch 2009 nicht ihre Gültigkeit verloren. Eine auch nur annähernd vollständige Übersicht über die zahlreichen Quellen und Portale im Internet geben zu wollen, würde den Rahmen dieser Darstellung sprengen.
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Thomas Stäcker
rung im engeren Sinne als Herstellung eines visuell möglichst exakten Abbilds einer Quelle (Kapitel 1) und deren bibliographische Verzeichnung bzw. Katalogisierung und der Nachweis in übergeordneten Portalen (Kapitel 2). Aus der Digitalisierung als Medienkonversion und der Hypertextualität des Mediums ergeben sich darüber hinaus neue Nutzungsperspektiven, die für die bibliothekarisch-bibliographische Praxis und buchwissenschaftliche Theorie besondere Herausforderungen darstellen (Kapitel 3).
1 Faksimilierende Digitalisierung Digitalisierung historischer Quellen wird in Deutschland seit dem Ende der 1990er Jahre in größerem Umfang betrieben. Anstoß gab vor allem das von der DFG geförderte Programm »Verteilte Digitale Forschungsbibliothek«, dessen Ziel es war »… einen wesentlichen Teil der seltenen, besonders wertvollen, oder aus anderen Gründen nur schwer zugänglichen Werke, also Bestände, die in ihrer klassischen papiergebundenen Form gar nicht angemessen benutzt werden können, direkt über das Internet am Arbeitsplatzrechner zur Verfügung zu stellen«3. Nicht zuletzt als Folge dieses Programms trifft man heute auf eine relativ große Bandbreite von qualitativ unterschiedlichen digitalen Angeboten. Für die am Buch als Objekt interessierte Buchwissenschaft sind im Unterschied zu den reinen Textwissenschaften an Digitalisierungen von älteren Werken aus der Handschriften- und Druckzeit bis etwa 1800 hohe Anforderungen zu stellen.4 Digitalisierungen älterer Werke, die nicht in Farbe und mit einer hohen Auflösung erstellt wurden, sind für buchhistorische Fragestellungen nur eingeschränkt brauchbar, auch wenn ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aufgrund starker Vereinheitlichungsprozesse in den Produktionsbedingungen die materialtypischen Eigenschaften oder der Phänotyp eines Buchs für seine Erforschung eine weniger wichtige Rolle spielt als in den Zeiten davor. Diese hohen Qualitätsanforderungen für frühe Drucke und Handschriften werden heute von den meisten durch die öffentliche Hand finanzierten Projekten erfüllt. Zu verdanken ist dies vor allem der Förderpolitik der DFG, die schon relativ früh die Mittelbewilligung an die Einhaltung von Mindestqualitätsstandards – den seit 1997
3 4
Vgl. Bunzel: Neue Informations-Infrastrukturen, S. 28. Zu den qualitativen Anforderungen an Digitalisate im Bereich des alten Buches vgl. Stäcker: Erschließungsformen Alter Drucke.
Digitalisierung buchhistorischer Quellen und Fachportale
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immer wieder aktualisierten und fortgeschriebenen Praxisregeln5 – geknüpft hat. In privaten oder kommerziellen, auf Kostenreduktion hin ausgerichteten Projekten ist dies nicht immer der Fall. Google Books6, der in diesem Segment heute wohl bekannteste Anbieter, orientiert sich vor allem an der Textbereitstellung. Die Anforderungen an die Reproduktionsqualität sind gering oder zumindest geringer als in rein wissenschaftlich motivierten Projekten, was vor allem darauf zurückzuführen ist, dass Google Books kein Interesse an der Phänomenologie des Buchs, sondern nur am Text hat. Möglicherweise nicht einmal am Text, sondern am Indexierungspotenzial der Texte, so dass offenbar bewusst gewisse Fehlerquoten in Kauf genommen werden. Die vorhandene Qualität reicht aus, um Nutzer ins Portal zu locken. Allerdings finden sich derzeit nur wenige ältere historische Quellen in Google. Das 17. Jahrhundert ist mit ca. 2 500 ausgewiesenen7 Treffern, das 16. mit ca. 900, Inkunabeln8 und westliche9 Handschriften nicht vertreten. Das kann sich in naher Zukunft jedoch ändern. Ein anderes Beispiel dieser Art ist die in public-private partnership entstandene Datenbank Early English Books Online (EEBO)10, die heute schon um die 100 000 Titel vor allem aus Pollard and Redgrave’s Short-Title Catalogue (1475–1640) und Wing’s Short-Title Catalogue (1641–1700) enthält. Die Imageversion, nicht aber die Volltextversion ist über eine deutsche Nationallizenz11 verfügbar. Die Qualität mag für viele, auch wissenschaftliche Fragestellungen ausreichend sein, für speziell buchhistorische Forschungen genügen die bitonalen Bilder nicht, denn ohne originalgetreue, hoch auflösende Faksimilierung ist eine Beurteilung der Buchausstattung, Illustrationen, Drucktype, Beschreibstoffe, Schrift oder Tintenfarbe kaum möglich12. Insofern haben Produkte wie der Art Sales Catalogues Online von IDC Publishers in Leiden13, die eigentlich hohe buchhistorische Relevanz haben, wegen der mangelhaften Reproduktionsqualität nur einge5 6 7 8 9 10 11 12 13
Deutsche Forschungsgemeinschaft: Praxisregeln im Förderprogramm »Kulturelle Überlieferung«. http://www.dfg.de/forschungsfoerderung/formulare/download/12_151.pdf [02.05.2007]. Google Books. http://books.google.de/ [01.05.2007]. Leider ist relativ undurchsichtig, auf welcher Basis diese Treffer zusammenkommen. Faktisch dürften sich hinter dieser Zahl weit weniger Titel verbergen. Unter den angebotenen Treffern ist keine vollständige Inkunabel. Nachgewiesen werden eine Reihe mittelalterlicher orientalischer Handschriften, keine davon scheint frei zugänglich zu sein. Early English Books Online. http://eebo.chadwyck.com/home [01.05.2007]. Nationallizenzen der DFG. http://www.nationallizenzen.de/ [05.05.2007]. Vgl. Stäcker: Erschließungsformen Alter Drucke. IDC Publishers: Art Sales Catalogues Online. http://asc.idcpublishers.info/ [01.05.2007].
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schränkten Wert. Die Datenbank soll Zugang zum Volltext von internationalen Auktionskatalogen der Erscheinungsjahre 1600 bis 1900 bieten. Aktuell verfügbar sind knapp 24 000 Kataloge, vorgesehen sind 35 000 Titel. Die vorhandenen bitonalen Reproduktionen wurden vom Film digitalisiert und sind in vielen Fällen nicht lesbar. Qualitativ hochwertige Digitalisate sind Voraussetzung nicht nur für eine angemessene buchwissenschaftliche Bewertung der Quellen, sondern auch für eine weitergehende Nutzung. Digitalisate bieten mehr als klassische Sekundärformen. Während Film oder Diapositiv qualitativ mindestens ebenso gut wie ein hochwertiges Digitalisat sind, übertreffen die Manipulations- und Nutzungsmöglichkeiten von Digitalisaten die traditionellen Formen bei weitem. Bequem lassen sich Typen herausschneiden und zu Typenrepertorien verbinden. Visualisierungstechniken erlauben das Übereinanderblenden von Seiten zur Feststellung der Ausgabenidentität. Die Übereinandermontage von Schriftbeispielen erlaubt eine eindeutigere Unterscheidung von Schreiberhänden. Die Entzifferung von Handschriften kann erleichtert werden durch den gezielten Einsatz von Filtern oder Kontrastverstärkungen. Bei Palimpsesten kann man wahlweise den darüber oder darunter stehenden Text sichtbar machen. In allen Fällen kommt die leichte Handhabbarkeit hinzu. Schnell ist ein Bild per Mail an einen Spezialisten verschickt, eine URL genannt oder ein Link auf ein Digitalisat gesetzt, so dass der Buchwissenschaft eine ganze Reihe von neuen Instrumenten zur Verfügung stehen. Der Einsatz von computergestützten Techniken und Instrumenten kann auf diese Weise Untersuchungsverfahren beschleunigen und verbessern, neue Methoden in Lehre und Forschung befördern und zu neuen Fragestellungen anregen. Während die Qualität der meisten Digitalisate für buchhistorische Fragestellungen, die nicht unmittelbar mit der Körperlichkeit des Objekts verbunden sind (dazu zählen zum Beispiel Untersuchungen der Bindetechnik), zumindest in den Projekten, in denen Digitalisate in öffentlicher Förderung entstanden, heute ausreicht, lässt die Quantität der verfügbaren Materialien noch zu wünschen übrig. Obwohl die Digitalisierungstechnik mittlerweile etabliert ist, gelingt es noch kaum, sich über buchhistorische Epochen oder auch einzelne Gattungen digital einen Überblick zu verschaffen. Gleichwohl gibt es Entwicklungen, die für die nähere Zukunft ein rapides Wachstum der zur Verfügung stehenden Quellen erwarten lassen. Zahlreichen Institutionen, die sich mit der digitalen Reproduktion befassen14, geht es heute weniger um das Auflegen neuer Pilotprojekte als 14
Eine Übersichtsliste für den deutschen Bereich bietet: http://www.zvdd.de/sammlungen.html [01.05.2007].
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um die systematische Digitalisierung größerer Corpora. Nach der Etablierung entsprechender Geschäftsgänge ist man in vielen historisch bedeutsamen deutschen Bibliotheken von der Phase des Experimentierens in die der systematischen Produktion eingetreten. Übergeordnetes Ziel und Leitvorstellung aller Anstrengungen ist die Medienkonversion des gesamten deutschen gedruckten Kulturerbes.15 Dabei schälen sich vor allem zwei Strategien heraus. Die eine propagiert eine nach sachlichen Kriterien gewonnene und auf eine bestimmte Forschungscommunity hin orientierte Auswahl, die andere ein Vorgehen nach formalen Kriterien. Für beide Verfahren gibt es gute Gründe. Befürworter der sachlichen Auswahl weisen darauf hin, dass nur so gezielt und zeitnah dasjenige Material zur Verfügung gestellt wird, das aktuell von der Forschung benötigt wird. Vor dem Hintergrund eines sich auf viele Jahre hin erstreckenden Digitalisierungsprozesses sei es wichtig, Prioritäten zu setzen. Zudem ließen sich sachlich gebildete Corpora besser in fachlich orientierte Portale wie die Virtuellen Fachbibliotheken16 integrieren. Die Verfechter einer formalen Digitalisierungsstrategie argumentieren dagegen, dass eine Auswahl zeit- und kostenintensiv sei und der Aufwand größer als die Digitalisierung auch von Materialien, die derzeit nicht im Forschungsmittelpunkt stehen. Außerdem erlaube ein formales Vorgehen zum Beispiel nach Zeitgrenzen eher ein arbeitsteiliges Vorgehen und vermeide Doppeldigitalisierungen. In der Realität ist das Bild meist komplexer. Massendigitalisierung ist auch auf der Basis sachlicher Kriterien möglich, indem zum Beispiel vorhandene Bibliographien17 genutzt werden. Vorteile einer nach formalen Kriterien vorgehenden Digitalisierung durch pragmatische Arbeitsteilung etwa aufgrund von Zeitgrenzen werden durch mangelnde Abstimmung konterkariert, wie im Falle des unlängst von der Bayerischen Staatsbibliothek (BSB) angekündigten gemeinsamen Projekts mit Google, das zum Ziel hat, diachron alle Bestände der Bibliothek zu digitalisieren. Die Schnelligkeit, mit der an der BSB digitalisiert werden kann, kontrastiert mit dem Aufwand, der an anderer Stelle getrieben wer15 16 17
Ein Überblick über die aktuell wichtigen politischen Initiativen findet sich hier: http://www.bibliotheksportal.de/hauptmenue/themen/digitale-bibliothek/ retro-brdigitalisierung/ [01.05.2007]. http://www.dfg.de/service/link_katalog/virtuelle_fachbibliotheken.html [05.05.2007]; s. a. Vascoda. http://www.vascoda.de/ [05.05.2007]. Vgl. das Projekt »dünnhaupt digital« an der Herzog August Bibliothek, in dem 2 000 Drucke digitalisiert werden. Die Auswahl ist durch die Bibliographie Dünnhaupt: Personalbibliographien, vorgegeben und der Einsatz teuren wissenschaftlichen Personals daher nicht erforderlich.
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den muss, um Doppeldigitalisierungen zu vermeiden. So könnte sich in der Bilanz ein höherer Aufwand für die Gesamtdigitalisierung ergeben. Andererseits lassen sich durch private Initiativen öffentliche Gelder für wirtschaftlich weniger lukrative wissenschaftliche Bereiche einsparen und erheblich größere Mengen in kürzerer Zeit bearbeiten. Unabhängig von der deutschen Google-Initiative stellt auch die öffentliche Hand beträchtliche Mittel für die Medienkonversion des deutschen Kulturerbes bereit. Vor allem die DFG fördert gezielt Digitalisierungen auf der Basis der Metadaten des VD16 und VD17.18 Diese Initiativen sind eingebettet in flankierende Maßnahmen auf europäischer Ebene, die vor allem auf die Schaffung geeigneter Infrastruktur zielen.19 Um welche Größenordnungen geht es bei der Digitalisierung von historischen Drucken in Deutschland? Nachstehend einige grobe Schätzungen, die von der Arbeitsgemeinschaft der Sammlung Deutscher Drucke ermittelt wurden. Jahrhundert
Ausgaben
Seitenzahlen Durchschnitt
Seitenzahlen insgesamt
–1500
27 000
235
6 345 000
1501–1600
140 000
220
30 800 000
1601–1700
265 000
213
56 445 000
1701–1800
600 000
300
180 000 000
1801–1870
511 978
245
125 434 610
1871–1900
525 000
245
128 625 000
Gesamt
2 068 978
255
527 649 610
Tab. 1: Mengengerüst deutscher Drucke
Auf der Basis dieser Schätzung von 527 649 610 Seiten kann man von einem Gesamtspeicherbedarf von 3,56 PB (=3 560 000 000 MB)20 und Herstellungskosten von ca. 190 Mio. Euro ausgehen (Kosten pro Seite im Schnitt 0,25 Euro). Diese Berechnungen können nur sehr grob sein und allenfalls Größenordnungen benennen. Auch der Einsatz neuerer Techni18 19 20
http://www.dfg.de/forschungsfoerderung/formulare/download/12_152.pdf [01.05.2007]. Europe’s Information Society: eContentplus programme. http://ec.europa.eu/information_society/activities/econtentplus/index_en.htm; vgl. a. die Suchmaschine europeana. http://www.europeana.eu/ [01.05.2007]. Man geht hier von einer Mischkalkulation aus: Ältere Drucke in Graustufen und Farbe, jüngere mit bitonalen Scans.
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ken ist darin noch nicht mitkalkuliert. Zum Beispiel wird noch von Handarbeit ausgegangen. Dass Scanroboter die Kosten deutlich zu senken vermögen, gilt als wahrscheinlich. Andererseits stehen dem erhebliche neue Kosten gegenüber, die durch die Sicherung und Pflege der umfangreichen digitalen Archive entstehen und die in diese Rechnung noch nicht eingegangen sind. Trotz der heute gigantisch anmutenden Mengen scheint es wahrscheinlich, dass angesichts sinkender Kosten und sich weiter entwickelnder Techniken das Ziel einer Gesamtdigitalisierung des deutschen Kulturgutes keine Utopie mehr ist und sich wie die Gesamtkatalogisierung im Laufe einer Generation zumindest in infinitesimaler Annäherung verwirklichen lassen wird.
2 Kataloge und Portale Während auf der Ebene der digitalen Bereitstellung von und Navigation in einzelnen Objekten bereits gute Ergebnisse vorliegen und Großprojekte angelaufen sind21, ist der immer wieder eingeforderte zentrale Nachweis von Digitalisaten von historischen Quellen bis heute noch nicht verlässlich gegeben. Hintergrund ist die immer noch zerklüftete Katalogsituation in Deutschland. Trotz mannigfaltiger Initiativen der großen Verbundbetreiber, die eine deutliche Verbesserung der Situation verheißen, wie der Dreiländerkatalog22 oder erfolgreicher Metakataloge wie der Karlsruher Virtuellen Katalog (KVK), ist ein flächendeckender und zentraler Nachweis aller in Deutschland katalogisierten Werke nicht gegeben, ein Mangel, der sich auch bei den digitalisierten Werken auswirkt. Erschwert wird die Suche nach digitalisierten Büchern auch dadurch, dass nicht alle Nachweissysteme eine differenzierte Suche nach Digitalisaten erlauben. Zum Beispiel ist eine Selektion von Digitalisaten im Bayerischen Verbundkatalog23 bislang nicht 21
22 23
Zu nennen sind hier die im Rahmen der Förderinitiative der DFG initiierten Projekte der Sächsischen Staatsbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek (SLUB) Dresden, Universitäts- und Landesbibliothek (ULB) Halle, der BSB München und der Herzog August Bibliothek (HAB) Wolfenbüttel, aber auch abgeschlossene Projekte wie das der »Codices Electronici Ecclesiae Coloniensis« (CEEC) in Köln (http://www.ceec.uni-koeln.de/ [17.09.2007]), »Verteilte Digitale Inkunabelbibliothek« (vdIb) in Wolfenbüttel/ Köln (http://inkunabeln.ub.uni-koeln.de/ [17.09.2007]) oder die digitalisierten Rechtsquellen des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt (http://www.mpier.uni-frankfurt.de/virtuellerlesesaal/rechtstexte.html [17.09.2007]). Dreiländerkatalog. http://www.dreilaenderkatalog.de/ [01.05.2007]. Bibliotheksverbund Bayern (BVB). http://bvba2.bib-bvb.de/ [01.05.2007].
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möglich. Hinzu kommt, dass zahlreiche, durchaus attraktive Projekte nicht oder nur ungenügend in Verbünden nachgewiesen sind.24 In einer vom Institut für Historisch-Kulturwissenschaftliche Informationsverarbeitung in Köln betreuten Studie25 wurde vor allem dieser Mangel seitens der Nutzer immer wieder betont und ein zentraler Nachweis gefordert. Als Konsequenz fördert die DFG seit 2005 das Portal Zentrales Verzeichnis Digitalisierter Drucke (zvdd)26, das von den beiden Verbünden der Verbundzentrale des Gemeinsamen Bibliotheksverbundes (VZG) und des Hochschulbibliothekszentrums des Landes Nordrhein-Westfalen (hbz) sowie den Bibliotheken der Arbeitsgemeinschaft Sammlung Deutscher Drucke (AG SDD) aufgebaut wird. Das Portal soll zunächst alle in DFG-Förderung entstandenen, sodann aber möglichst alle in Deutschland vorhandenen Digitalisate gedruckter Werke zentral nachweisen, um schließlich einen Baustein in einer Europäischen Digitalen Bibliothek zu bilden. So ist durchaus auch intendiert, die Nachweise zu GoogleDigitalisaten aufzunehmen, was durch die Tatsache erleichtert wird, dass die Bayerische Staatsbibliothek als Mitglied der AG SDD auch am Aufbau von zvdd mitwirkt. Nur auf diese Weise lassen sich künftig Dublettenprüfungen sinnvoll durchführen und gezielte Digitalisierungskampagnen koordinieren, und nur so wird den Nutzern ein einheitlicher Zugriff geboten. Die Besonderheit des Portals ist, dass es, anders als die klassischen bibliographischen Datenbanken, neben den bibliographischen Einheiten auch Sammlungen, Strukturdaten und Volltexte nachweisen will. Gerade in diesen Bereichen betritt das Projekt mit Blick auf Regelwerks- und Normierungsfragen Neuland. Um in Zukunft konsistente Suchen auch über Strukturdaten wie nach Zwischenüberschriften, Illustrationen, Druckermarken, Annotationen u. ä. zu ermöglichen, sind umfangreiche Absprachen nötig und Schnittstellen zu schaffen. Die Vielfalt der Bezeichnungen und Verfahren erschwert bereits heute die Zusammenführung erheblich. Auch im Bereich der Sammlungsbeschreibung gibt es bisher nur wenig Homogenität, obwohl international abgestimmte Metadatenempfehlungen27 seit einiger Zeit vorliegen. Wünschbar wäre für den digitalen Bereich eine Art Hand24 25 26 27
Vgl. Stäcker: Das ist doch alles im Netz; z. B. die digitalisierte Sammlung Nünning aus Münster (http://www.ulb.uni-muenster.de/hbw/bibliotheken/senden-nuenning/) oder die digitalisierten Rechtsquellen des MPI in Frankfurt (http://dlib-pr.mpier.mpg.de/ [01.05.2007]). Vgl. die sogenannte Retrieval-Studie der DFG: Thaller: Retrospektive Digitalisierung von Bibliotheksbeständen. Zentrales Verzeichnis digitalisierter Drucke. http://www.zvdd.de [01.05.2007]. Hinzuweisen ist hier auf die Dublin Core Collection Description: http://dublincore.org/ groups/collections/collection-application-profile/2006-08-24/ [01.05.2007].
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buch der historischen Buchbestände. Viel versprechende Ansätze sind neben zvdd in Deutschland das EU Projekt »MICHAEL Plus« 28, das sich zum Ziel setzt, einen Überblick über die in Deutschland verfügbaren digitalen Sammlungen zu geben. Allerdings geht es nicht ausschließlich um Buchmaterialien. Beachtung verdient auch das Portal Digital Library Forum (dl-forum)29, das eine ganze Reihe von Digitalisierungsprojekten mit buchwissenschaftlich interessanten Quellen nachweist. Auf bibliographischer Ebene gibt es in Deutschland neben dem allgemeinen Portal zvdd zahlreiche weitere Möglichkeiten, Digitalisate zu finden. Mittlerweile tragen fast alle Bibliotheken ihre Digitalisate auch in den eigenen Katalog ein. Sofern diese Bibliotheken an Verbünde angeschlossen sind und die Verbünde differenzierte Suchen nach Digitalisaten zulassen, erhält man über diese auch überregionale Zugriffe auf digitalisierte Drucke. Materialbezogen bieten sich darüber hinaus weitere zentrale Portale als Nachweisinstrumente für digitale Medien an. Für mittelalterliche Handschriften ist dies Manuscripta Mediaevalia30, für Autographen und andere Nachlassmaterialien Kalliope31 sowie die Zentrale Datenbank Nachlässe32 des Bundesarchivs. Alle diese Portale fungieren zwar als überregionale Verzeichnisse, weisen aber bisher kaum oder nur global per Link auf der Sammlungsebene Digitalisate nach. Zum Beispiel fehlen in Manuscripta Mediaevalia33 Einzelnachweise zum Kölner CEEC Projekt34, das bisher größte Digitalisierungsunternehmen zu mittelalterlichen Handschriften in Deutschland. Gleichwohl wird die innere Logik, Digitalisate bei den Metadaten anzusiedeln bzw. zu verlinken, dazu führen, dass diese Portale in Zukunft stärker auch diese Funktion wahrnehmen werden. Für graphische Materialien stehen derzeit vor allem zwei Anbieter zur Verfügung. Zum einen das Bildarchiv Foto Marburg35, zum anderen Prometheus36. Prometheus hat die Einschränkung, dass es aus urheberrechtli-
28 29 30 31 32 33 34 35 36
Eine Beschreibung des Projektes s. hier: http://www.landesarchiv-bw.de/sixcms/detail.php? template=hp_artikel&id=15103&sprache=de [01.05.2007]. Digital Library Forum. http://www.dl-forum.de/ [01.05.2007]. Manuscripta Mediaevalia. http://www.manuscripta-mediaevalia.de/ [01.05.2007]. Kalliope. http://kalliope.staatsbibliothek-berlin.de/ [01.05.2007]. Zentrale Datenbank Nachlässe. http://www.bundesarchiv.de/zdn/ [01.05.2007]. Vgl. Manuscripta Mediaevalia. http://www.manuscripta-mediaevalia.de/hs/hs-online.htm [01.05.2007]. Codices Electronici Ecclesiae Coloniensis, vgl. Anm. 20. Bildarchiv Foto Marburg. http://www.fotomarburg.de/ [01.05.2007]. Prometheus. http://www.prometheus-bildarchiv.de/ [01.05.2007].
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chen Gründen nicht frei zugänglich ist, selbst wenn die Materialien im Einzelfall urheberrechtsfrei sein sollten. Hilfreich sind für die buchwissenschaftliche Forschung und Kodikologie spezifische Datenbanken zu Digitalisaten von Wasserzeichen und zum Einband. Mit Förderung durch die DFG wuchs in den letzten Jahren die Einbanddatenbank37 zu einem imposanten Nachweisinstrument heran. Zurzeit erfasst sie vor allem Stempel und Platten aus dem 15. bis 16. Jahrhundert und wird kontinuierlich ausgebaut. Gleichfalls in DFG-Förderung wurde die Wasserzeichendatei Piccard online38 aufgebaut, die Wasserzeichen des 14. bis 17. Jahrhunderts enthält und derzeit neben Wasserzeichen des Mittelalters (WZMA) und Watermarks in Incunabula printed in the Low Countries (WILC)39 den umfangreichsten Nachweis dieser Art bietet. Unter chronologischen Gesichtspunkten steht in Deutschland ebenfalls eine Reihe von Verzeichnissen für alte Drucke, allerdings, was den Nachweis von Digitalisaten anlangt, meist in höchst rudimentärer Ausbaustufe, zur Verfügung. Ein zentrales Inkunabelportal gibt es in Deutschland bisher nicht, gleichwohl übernehmen eine Reihe von Anbietern mit jeweils besonderen Stärken und Profilierungen diese Funktion.40 Zu nennen sind der Incunabula Short Titel Catalogue (ISTC)41, das Gesamtverzeichnis der Wiegendrucke (GW)42, der Inkunabelkatalog deutscher Bibliotheken (INKA)43, der Inkunabelkatalog der Bayerischen Staatsbibliothek (BSB-Ink)44 und die Verteilte Digitale Inkunabelbibliothek (vdIb)45. Alle diese Datenbanken weisen Digitalisate in wechselnder Vollständigkeit nach. Darüber hinaus finden sich Projekte, die besondere Aspekte von Inkunabeln thematisieren, so das Münchner Projekt zu »Druckgraphischen Buchillustrationen des 37 38 39 40 41 42 43 44 45
Einbanddatenbank. http://www.hist-einband.de/ [01.05.2007]. Piccard Online. http://www.landesarchiv-bw.de/piccard/start.php [01.05.2007]. Wasserzeichen des Mittelalters (WZMA). http://www.ksbm.oeaw.ac.at/wz/wzma.php [06.05.2007] und Watermarks in Incunabula printed in the Low Countries (WILC). http://watermark.kb.nl/ [06.05.2007]. Eine Übersicht bietet Wagner: Les incunables et l’internet. Incunabula Short Titel Catalogue (ISTC). http://www.bl.uk/catalogues/istc/index.html [01.05.2007]. Gesamtkatalog der Wiegendrucke (GW). http://www.gesamtkatalogderwiegendrucke.de/ [01.05.2007]. Inkunabelkatalog deutscher Bibliotheken (INKA). http://www.inka.uni-tuebingen.de/ [01.05.2007]. Inkunabelkatalog der Bayerischen Staatsbibliothek (BSB-Ink). http://mdzx.bib-bvb.de/ bsbink/start.html [01.05.2007]. Verteilte Digitale Inkunabelbibliothek (vdIb). http://inkunabeln.ub.uni-koeln.de/ [17.09.2007].
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15. Jahrhunderts«46 oder das Erlanger Projekt zum »Buchtitelblatt der Inkunabel- und Frühdruckzeit«47. Für das 16. Jahrhundert und 17. Jahrhundert bieten sich das VD16 und VD17 an. Systematisch zugetragen werden im VD16 derzeit nur digitalisierte Titel der Bayerischen Staatsbibliothek. Da die Bayerische Staatsbibliothek gegenwärtig zwei umfangreiche Digitalisierungsprojekte48 mit mehreren tausend Drucken zum 16. Jahrhundert durchführt, werden die Nachweise mittelfristig stark anwachsen. Durch Öffnung der Datenbank für andere Bibliotheken werden auch von dort weitere Einträge zufließen. Gleiches gilt für das VD17. Systematisch zugetragen hat bisher nur die Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Jedoch finden sich mehr und mehr auch andere Bibliotheken, die ihre Digitalisate hier nachweisen. Die von der DFG initiierten Digitalisierungsprogramme zum VD16 und VD17 werden ihr Übriges tun, die Nationalbibliographien auch zu nationalen, allerdings chronologisch und regional begrenzten Nachweisinstrumenten für Digitalisate auszubauen. Ein VD18 ist derzeit in Vorbereitung. Zweifelsfrei wird die Digitalisierung bei dessen Aufbau eine wichtige Rolle spielen. Neben den materialbezogenen und formalen Nachweisinstrumenten für buchhistorische Quellen stehen in den jeweiligen Fachportalen der Virtuellen Fachbibliotheken weitere Ressourcen zur Verfügung. Derzeit im Aufbau begriffen ist ein Fachportal für Bibliotheks-, Buch- und Informationswissenschaft b2i49, in dem wichtige elektronischen Ressourcen gebündelt werden, die, was Deutschland anlangt, bislang verstreut vorlagen. Dazu zählen die in München geführte Unterseite Buchgeschichte zu Historischen Hilfswissenschaften50, die Seiten des Leipziger Arbeitskreises zur Geschichte des Buchwesens (der Schwerpunkt liegt auf dem 19. und 20. Jahrhundert)51 oder auch die Seiten der buchwissenschaftlichen Institute in Deutschland in Erlangen, Leipzig, Mainz, München und Münster. Das gegenüber dem Ausland bisher eher schmale Angebot erhält durch 46 47 48 49 50 51
Druckgraphische Buchillustrationen des 15. Jahrhunderts. http://www.bsb-muenchen.de/ Druckgraphische_Buchillustrati.804.0.html [02.05.2008]. Buchtitelblatt der Inkunabel- und Frühdruckzeit. http://inkunabeln.ub.uni-koeln.de/titelblatt/ [01.05.2007]. Digitalisierung der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts. http://www.bsb-muenchen.de/Digitalisierung_der_im_deutsch.1841.0.html. b2i. http://www.b2i.de/ [12.05.2007]. Buchgeschichte zu Historischen Hilfswissenschaften. http://www.vl-ghw.uni-muenchen.de/buchgeschichte.html [01.05.2007]. Leipziger Arbeitskreises zur Geschichte des Buchwesens. http://www.buchgeschichte.de/ [01.05.2007].
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dieses Portal eine deutliche Aufwertung. Die Integration der wichtigsten Kataloge und buchgeschichtlichen Bibliographien wird die Ausgangsbasis für buchwissenschaftliche Recherchen erheblich verbessern; dazu zählen die mittlerweile auch online verfügbare Wolfenbütteler Bibliographie zur Geschichte des Buchwesens (WBB)52 und die Bibliographie zur Buch- und Bibliotheksgeschichte 53 (BBB). Letztere wurde eigens für diesen Zweck in elektronische Form überführt. Im internationalen Kontext ist darüber hinaus noch auf die an der Königlichen Bibliothek zu Den Haag angesiedelte Datenbank Book History Online (BHO)54 hinzuweisen. Bedauerlicherweise fehlt eine vergleichbare Institution nach dem Ende der BBB in Deutschland. Dass es dem Portal b2i gelingt, in Zukunft für die Verzeichnung gerade des unselbstständigen Schrifttums zu sorgen, ist zu hoffen. Zuletzt sei noch auf die Hilfsmittel zur Provenienzenforschung hingewiesen. Die Provenienzforschung hat in der Buchwissenschaft immer schon einen wichtigen Platz eingenommen. Leider steht bisher kein zentrales Verzeichnis zur Verfügung. Doch gibt es hoffnungsvolle Ansätze, die zumindest ein Stück weit überregionale Suchen erlauben. Hervorzuheben sind die Bemühungen der Arbeitsgemeinschaft Alte Drucke (AAD)55, deren Mitglieder sich auf eine einheitliche Verzeichnungsmethode innerhalb des PICA-Verbundes geeinigt haben56. So ist heute schon in den Katalogen von Bibliotheken in Berlin, Göttingen, Erfurt/Gotha, Rostock, Weimar und Wolfenbüttel eine umfangreiche Suche nach Provenienzen auf der Basis der AAD-Empfehlungen möglich. Mit der systematischen Erfassung ganzer Bestandskomplexe wurde an einigen Stellen begonnen. Mit Hilfe zentraler Zugriffsinstrumente – einen Prototyp, der die PICADatenbank auswertet, gibt es bereits innerhalb des Consortium of European Reseach Libraries (CERL)57 – werden in Zukunft auch Suchen über lokale Bestände hinweg möglich sein. Unsystematisch wurden Provenienzen im VD17 erfasst. Vorbildlich für die Provenienzenrecherche bei Inkunabeln sind der INKA und BSB-Ink, im Handschriftenbereich das Portal Manuscripta Mediaevalia, gerade in dem Segment, das sich aus den 52 53 54 55 56 57
Wolfenbütteler Bibliographie zur Geschichte des Buchwesens (WBB). http://diglib.hab.de/ edoc/ed000003/start.htm [01.05.2007]. Verfügbar über b2i. http://www.b2i.de [09.05.2008] Book History Online (BHO). http://www.kb.nl/bho/ [01.05.2007]. Arbeitsgemeinschaft Alte Drucke (AAD). http://aad.gbv.de/ [01.05.2007]. Arbeitsgemeinschaft Alte Drucke (AAD). http://aad.gbv.de/empfehlung/aad_provenienz.pdf [01.05.2007]. Consortium of European Reseach Libraries. http://cerl.sub.uni-goettingen.de/cerl/ [01.05.2007].
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in DFG-Förderung erstellten Katalogen speist, da gemäß den sogenannten DFG-Richtlinien zur Handschriftenkatalogisierung die Provenienzerfassung zum festen Verzeichnungskanon gehört.58
3 Buchhistorische Forschung jenseits der Gutenberggalaxie Während es in ersten beiden Teilen darum ging, die Werkzeuge und Hilfsmittel zu skizzieren, die der historischen Buchforschung mit den neuen Medien zu Gebote stehen, sollen im Folgenden die neuen Medien als Forschungsgegenstand der Buchwissenschaft selbst in den Blick genommen werden. Mit der Digitalisierung weiter Teile des kulturellen Erbes auf der einen und der Verlagerung von Publikations- und Nutzungsprozessen ins Internet auf der anderen Seite ergeben sich neue Rahmenbedingungen für die buchhistorische Forschung. Bleibt die Buch-Forschung bei der Materialität ihres Gegenstands stehen, schneidet sie sich möglicherweise von zukünftigen Entwicklungssträngen ab. Öffnet sie sich dem neuen Medium in seiner Ubiquität, läuft sie Gefahr, in der Konkurrenz zu den Kommunikations-, Informations- und Medienwissenschaften ihr Profil zu verlieren. Denn das ›Buch‹ ist aus seiner Herkunft im Handschriften- und Druckzeitalter immer schon anders gewesen als andere Verlautbarungen oder Kommunikationsmittel, und anders als für den Waschzettel bestand von Alters her das Bedürfnis das Buch als Wissenschafts- und Kulturleistung dem menschlichen Gedächtnis einzuverleiben und aufzubewahren: »Nam simul ac scire & sapere natum est, mox etiam scribere: & istud esse cum fructu non potuit, nisi vt libri adseruarentur & disponerentur, ad praesentium & posterorum vsum«59. Ab- und Schwanengesänge sind nach den Erfahrungen der letzten Jahre nicht angebracht. Äußerungen, die das ›Buch‹ an die Peripherie der modernen Kommunikationsmittel rücken, erkennen zwar im Träger, dem Medium, ein zentrales Moment der Kommunikation, verkennen aber, dass das Medium auch etwas transportiert, das nicht Medium ist60 und dass es nach dem Charakter der Nachricht zu differenzierende Medienbedingun58 59 60
DFG-Richtlinien zur Handschriftenkatalogisierung. http://www.manuscripta-mediaevalia.de/ hs/katalogseiten/HSKRICH_a11_jpg.htm [06.05.2007]. Justus Lipsius: Ivsti Lipsi[i] De Bibliothecis Syntagma, S. 9. McLuhan würde sagen: ein anderes Medium ist, wie Schrift für das Wort und das Papier für die Schrift (McLuhan: Understanding Media, S. 8), doch soll diese eher philosophische Frage um dasselbe in der Differenz, hier nicht weiter untersucht werden.
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gen, -nutzungen und -prägungen gibt. Daher soll hier, selbst auf die Gefahr hin, sich einer Metapher zu bedienen, am Begriff ›Buch‹ festgehalten werden, übrigens nicht unähnlich dem englischen ›volume‹, das sich in seiner Wurzel aus dem ›volumen‹ der Handschriftenrolle ableitet, oder wie man auch heute noch vom Manuskript eines Autors spricht, obwohl es auf dem Computer geschrieben wurde. Alle diese Übertragungen gelingen nur deshalb, weil bestimmte Funktionen auch unter gewandelten Medienbedingungen Bestand haben. Das gebundene ›volume‹ konstituiert eine physikalische Einheit, das elektronische Manuskript eine Textgrundlage zur Weiterverarbeitung. Das elektronische oder digitale Buch behält auch als elektronisches Charakteristika, die ihm bereits als gedrucktem zu Eigen waren. Prüft man den von Robert Darnton in What is the history of the book? 61 formulierten communication circuit unter den neuen Medienbedingungen, so ergeben sich durchaus analoge Fragestellungen, und es macht mutatis mutandis Sinn, auch im digitalen Zeitalter die Produktionskette vom Autor über den Verleger, Drucker, Versender, Verkäufer bis zum Leser abzuschreiten, um das digitale Buch unter intellektuellen, ökonomischen und politischen Aspekten zu interpretieren und in seinen geistes- und kulturgeschichtlichen Rahmen einzuordnen. Allerdings nehmen diese Funktionsstellen andere Bedeutungen an. Und gerade in diesem Punkt stößt man auf erhebliche Forschungsdesiderate. Nach wichtigen Arbeiten zum Autorbegriff, wie von Foucault62, die auf die Zukunft des Autors im digitalen Zeitalter vorgreifen63, sucht man systematische empirische Studien über Internetautoren und deren Leser weitgehend vergeblich. Es ist, wie Foucault gezeigt hat, vorschnell, den Tod des Autors zu verkünden, doch ist das Konzept oder die Funktion Autor, wie vielfach bemerkt worden ist, insbesondere mit Blick auf die Autorisation angesichts der heutigen Webpraxis neu zu bewerten. Dynamische Gebilde wie Wikipedia lassen ernstlich fragen, ob die Autorfunktion noch Werk- und Textidentität zu stiften vermag. Gleiches gilt für die Frage der Urheberschaft und vom Urheberrecht eines solchen multiauktorialen genetischen Gebildes. Zwar könnte man alle Beiträger als Autoren
61 62 63
Darnton: What is the history. Foucault: Was ist ein Autor? Vgl. a. Poster: The digital subject. Eine gute Übersicht über das Thema bietet der von Fotis Jannides u.a. herausgegebene und kommentierte Reader »Texte zur Theorie der Autorschaft«. Stuttgart: Reclam 2000.
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definieren, doch ist der Text damit nicht zugleich auch autorisiert, zumal Beiträge in gleichsam dialektischer Funktion verschwinden können. Die ökonomischen Wirkungen des Netzes sind mit Blick auf das Buch und den Autor kaum untersucht. Die Rolle der Verleger im Netz und neue Geschäftsmodelle wie print on demand oder open access64 werden zwar intensiv diskutiert, doch ist nach wie vor das Verhältnis einerseits von staatlichen Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen und Verlagen, andererseits von Privatperson und Institution im Publikationsprozess unklar. Das Internet bietet heute auch Einzelpersonen eine Vielzahl von Publikationsmöglichkeiten, unabhängig von verlegerischen Auswahlprozessen, gleichsam eine »Bibliothek der Gnade«65. Eingespielte Verfahren der Qualitätskontrolle – im Wissenschaftsbereich unter dem Druck des Markts in den letzten Jahren durch die Verlage ohnehin immer stärker vernachlässigt oder auf anderweitig bezahlte Wissenschaftler verlagert – werden ausgehöhlt und finden in Möglichkeiten der öffentlichen Kommentierung neue Gestaltungsräume. Selbst wenn Evaluierungsverfahren, wie peer reviewing und science citation index, nach wie vor zumindest im naturwissenschaftlichen Bereich etablierte Instrumente der Wissenschaftsgemeinschaft sind, ist doch in diesem Feld allenthalben Bewegung und Unruhe spürbar66. Der Internetleser, auch wenn er weiterhin gedruckte Bücher konsumiert67, ist bis heute weitgehend unverstanden und damit auch die von ihm favorisierte und rezipierte Publikationsform. Was ist eigentlich unter einem elektronischen Buch zu verstehen und wie sieht die von der klassischen Textlinearität entgrenzte Internetlektüre aus?68 Wenn man den wissenschaftlichen Bereich betrachtet, so springt ins Auge, dass die Langform, das klassische Buch, im Internet so gut wie keine Rolle spielt. Die Kommunikation findet eher in kleineren, mehr medienadäquaten Formen statt. Obwohl man zunächst an den Zeitschriftenaufsatz denkt, ist dieser keineswegs die einzige Publikationsweise. Hinzu treten Emails, Blogs, Feeds und Newsletter. Bislang sind die Angebote mit wissenschaftlicher oder literarischer Relevanz in diesen Kleinformen eher selten, doch könnte sich das rasch ändern. Mit der Hypertextualität und Wechselhaftigkeit des Mediums verstärkt sich auch die schon von Foucault skizzierte Relativierung des Werkbegriffs. Die ein Werk konstituie64 65 66 67 68
Open access. http://openaccess-germany.de/de/startseite/ [06.05.2007]. Lehr: Zweiwasser, insb. Schlusskapitel, S. 347–359, in der er eine elektronische Bibliothek entwirft, die allen Werken offen steht, die keinen Verlag gefunden haben. Vgl. Hanekop/Wittke: Das wissenschaftliche Journal. Vgl. Nossek/Adoni: The future of reading. Vgl. Bazin: Toward Metareading.
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rende Kohärenz69 kann schwanken, Innen und Außen durchlässig werden, Anfang und Ende verschwimmen, Dokumente aufgrund der Flüchtigkeit des Mediums gar ganz verschwinden. Dass klassische Formen der bibliographischen Verzeichnung versagen, darf da nicht Wunder nehmen. Auch bei diesem Artikel kann man die von den Herausgebern vorgeschriebene Form, per URL und Datum zu zitieren, als Verlegenheitslösung ansehen. Den Sinn eines wissenschaftlichen Zitates, einen jederzeit nachprüfbaren Nachweis zu erbringen, erfüllt sie nicht, sondern verlangt vom Leser zu glauben, dass im Falle des Verschwindens einer Ressource – ein Fall, der alle Tage eintritt70 – der Autor des Artikels zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Internetressource gesehen hat. Mit anderen Worten, die Datumsangabe ist funktional eigentlich überflüssig. Dass solche Fragestellungen nicht nur rein theoretischer Natur sind, sondern praktische Konsequenzen haben, kann man am Gesetz zur Abgabe elektronischer Ressourcen an die Deutsche Nationalbibliothek (DNB)71 ablesen. Im Gesetz heißt es zunächst, die DNB habe die Aufgabe, »die ab 1913 in Deutschland veröffentlichten Medienwerke […] im Original zu sammeln« (§ 2,1). Sodann wird definiert: »Medienwerke in unkörperlicher Form sind alle Darstellungen in öffentlichen Netzen« (§ 3,3). Hiermit sind vor allem Internetpublikationen gemeint. Schließlich heißt es in § 14,3: »Die Ablieferungspflichtigen haben Medienwerke in unkörperlicher Form nach § 2 Nr. 1 Buchstabe a in einfacher Ausfertigung gemäß § 16 Satz 1 abzuliefern«. Lässt man einmal die Frage beiseite, ob schon eine einfache Homepage den Tatbestand eines Ablieferungsfalls erfüllt, so steht der Ablieferungspflichtige selbst bei Netzpublikationen, die eindeutig unter diese Regel fallen, vor erheblichen Problemen. Zum Beispiel findet sich an der Herzog August Bibliothek eine von Jonathan West besorgte digitale Edition von Petrus Dasypodius’ Lexicon Latinogermanicum72. Diese Ausgabe wurde, um Präsentationsmöglichkeiten diskutieren zu können, zunächst als work in progress ins Netz gestellt. Ist damit 69 70
71 72
Vgl. Hendrich: Spurenlesen, S. 21. Zum Beispiel waren bei der Korrektur der ersten Fassung dieses Artikels die Links zu Projekten der der Bayerischen Staatsbibliothek gewandert, z. B. Druckgraphische Buchillustrationen des 15. Jahrhunderts von http://mdz1.bib-bvb.de/~mdz/kurzauswahl.html?url=http:// www.bsb-muenchen.de/handruck/ink.htm [am 1.5.2007 gesehen] zu http://www.bsbmuenchen.de/Inkunabeln.181.0.html. Löblicherweise wurde in diesem Fall http://www.bsbmuenchen.de/handruck/ink.htm weitergeleitet. Gesetz über die Deutsche Nationalbibliothek (DNBG). http://www.gesetze-im-internet.de/dnbg/BJNR133800006.html [02.05.2007]. Petrus Dasypodius: Lexicon Latinogermanicum. http://diglib.hab.de/edoc/ed000008/ start.htm [02.05.2007].
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der Publikationsfall bereits gegeben und handelt es sich dabei um das abzugebende Original? Offenbar wäre es unsinnig, derartige Protoformen abzuliefern. Original meint hier etwas anderes, nämlich einen bestimmten Reifegrad, einen Text, von dem sein Autor oder der Herausgeber bestimmt hat, dass er den gesteckten Ansprüchen genügt, wobei es durchaus möglich sein kann, dass auch nach diesem Zeitpunkt noch Korrekturen stattfinden. Wann ist also der Moment der Meldung gekommen, ohne eine Ordnungswidrigkeit zu begehen? Man erkennt daran, dass bei einer elektronischen Veröffentlichung der Publikationsvorgang selbst nicht mehr konstitutiv für die Definition eines Medienwerks in unkörperlicher Form (s. o. § 3,3) sein kann. Stattdessen kommt es wesentlich auf die Entscheidung des Autors oder einer autorisierenden Instanz an, die bestimmt, welchen Status ein Werk haben soll. Der Werkcharakter oder das Imprimatur wird ggf. erst nach einem Publikationsakt attestiert. Auch nachdem ein Werk zu einem solchen erklärt wurde, erschwert die Möglichkeit, im elektronischen Medium leicht Korrekturen durchführen zu können, die Lage weiter. Während im Druckzeitalter Änderungen in Neuausgaben durchgeführt wurden, kann das digitale Buch einem fließenden Änderungsprozess unterliegen. Das muss nicht bedeuten, dass die Veränderungen nicht nachvollziehbar sind: Bei Mehrautorenwerken wie Wikis bleiben Änderungsverläufe transparent. Bei Werken eines Autors sollte es sich der Autor angelegen sein lassen, zum Zwecke zuverlässigen Zitierens Änderungen zu dokumentieren.73 Mit anderen Worten, der bisherige vom Medium her begründete Begriff der Ausgabe ist für digitale Dokumente ungeeignet, weil damit ein Zustand bezeichnet wird, den die Exemplare einer Ausgabe einheitlich haben sollen (ideal copy74), doch einen solchen stabilen Zustand besitzt das digitale Medium nicht vermöge seiner Materialität. Auch der Begriff des Exemplars bedarf im Verhältnis zu Ausgabe oder Auflage einer neuen theoretischen Durchdringung, um praktische Probleme zu lösen, wie die bibliothekarische Fachdiskussion zeigt. Selbst neue bibliographische Modelle wie die Functional Requirements for Bibliographic Records (FRBR)75 wirken mit Blick auf die gewandelten Medienverhältnisse noch unausgereift. Während die von FRBR eingeführten Begriffe von ›work‹ und ›expression‹ als intellektuelle Entitäten zwar unter philosophi73 74 75
Vgl. Lateinische Briefe Athanasius Kirchers an Herzog August – Revisionen. http://diglib.hab.de/edoc/ed000005/revision.htm [08.05.2008]. Gaskell: A new introduction, S. 315. Functional Requirements for Bibliographic Records (FRBR). http://www.ifla.org/VII/ s13/frbr/frbr.pdf [09.05.2008]
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schen Gesichtspunkten kontrovers diskutiert werden können, aber als Praxis anleitende Begriffe brauchbar sein mögen, ist die Definition von ›manifestation‹ und ›item‹ wegen des klaren Bezugs zur physikalischen Verkörperung76 im digitalen Kontext fragwürdig77 und im Kontext der Weiterentwicklung von FRBRER zu FRBRoo78 präsent. So kann ein item nur durch eine URL repräsentiert sein, die eine manifestation konkretisiert79; wobei man sich von der Vorstellung verabschieden muss, dass ein item im Sinne eines Exemplars etwas Statisches sei – es kann ja seinerseits ohne materielle Änderung herunter geladen werden und ändert dabei seine Funktion – oder auch, dass eine ›Auflage‹ (Clicks) von vornherein feststeht. Unabhängig davon, ob man die vorgeschlagenen Lösungen sinnvoll findet oder nicht, ist doch evident, dass die klassische bibliographische Beschreibung mit Blick auf digitale Publikationen ungenügend ist und mehr und mehr von abstrakten Ontologien abgelöst wird, die im Kontext des semantic web diverse Objekte zu repräsentieren vermögen. Besondere Schwierigkeiten für die bibliographische Beschreibung bereitet die funktional nicht mehr starre Verbindung von der Materialität des Mediums und deren Erscheinung als konkrete Publikation im Hypertext. Während der Inhalt weitgehend stabil bleibt, kann die Form, die Präsentationsoberfläche, sich dynamisch wandeln und unterschiedlichen Bedürfnissen und Gegebenheiten angepasst werden. Am Hypertext ist bereits von seinem Erfinder Ted Nelson (1965) neben der Verlinkung die NichtLinearität des Lesens als eigentümliches Charakteristikum herausgestrichen worden. Dem Hypertextnutzer werden Freiheiten eingeräumt (Welchen Link verfolge ich? Welche Sicht auf das Dokument möchte ich mir anzeigen lassen?), die ihn faktisch zum Mitautor machen. So scheint es in vielen Fällen sinnvoll, sowohl die Präsentationsoberfläche als auch die Datenebene zu verzeichnen, um das Potential eines ›Werkes‹ zu verstehen. 76 77 78
Functional Requirements for Bibliographic Records (FRBR), S. 12: »The entities defined as manifestation (the physical embodiment of an expression of a work) and item (a single exemplar of a manifestation), on the other hand, reflect physical form.« Caplan: Metadata fundamentals, S. 10: »Electronic resources also challenge FRBR. A manifestation is defined as all copies in the same medium in the same physical form, but what constitutes identity of medium is left unexplored«. The CIDOC Conceptual Reference Model. http://cidoc.ics.forth.gr/frbr_drafts.html [06.07.2007]. »My clicking now on the link http://cidoc.ics.forth.gr/docs/ cidoc_crm_version_4.0.pdf, and thus d ownloading on my PC a reproduction of the electronic file titled D e f i n i t i o n o f t h e C I D O C C o n c e p t u a l R e f e r e n c e M o d e l … v e r s i o n 4 . 0 … «, FRBR: object-oriented definition and mapping to the FRBRER (version 0.7.1.). http://cidoc.ics.forth.gr/docs/frbr_oo/frbr_docs/FRBR_oo_V0.7.1.pdf, S. 33.
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Bibliographisch beschrieben werden müsste also, wie ein- und dasselbe Dokument ganz unterschiedliche Formen anzunehmen vermag. Anschaulich wird dieser Prozess der Erosion traditioneller Begrifflichkeit auch im Bereich der Imagedigitalisierung und der Schwierigkeiten, die im Kontext der bibliographischen Beschreibung nach dem heutigen bibliothekarischen Standardregelwerk (RAK) entstehen. Nach RAK ist eine digitale Kopie (digitales Faksimile) eine Sekundärausgabe. Nun finden sich bei Anbietern im Netz aus technischen Gründen oft verschiedene Auflösungen desselben Masterimages. Würde man alle diese Derivate bis hin zu kleinen Übersichtsbildern, sogenannten ›thumbnails‹, als Sekundärausgaben verzeichnen, führte das schnell in den Katalogkollaps und wäre offenbar auch bibliographischer Unsinn. Noch undurchsichtiger wird die Lage, wenn Images von Zoomservern dynamisch ausgeliefert werden. Selbst der ›digital master‹ ist nur ein relativer Begriff, nämlich die an einem Ort zu höchst verfügbare Auflösung, was einem Derivat an anderer Stelle entsprechen kann. Zieht man diese Überlegungen in Betracht, dann wird deutlich, wie problematisch das neue Gesetz zur Pflichtablieferung von elektronischen Medienwerken ist und wie schwer es ist zu bestimmen, was an die DNB abgeliefert werden muss, denn bei der Definition »Medienwerke in unkörperlicher Form sind alle Darstellungen in öffentlichen Netzen« (§ 3.3)80 wird man zunächst an sichtbare Derivate denken. Vom Gesetzgeber intendiert ist aber sicher nicht diese flüchtige, möglicherweise on-the-fly generierte Form, sondern der digital master oder auch die einer Präsentation zugrunde liegende XML-Datei, andererseits aber auch, in welcher Form oder Formen sie zur Anschauung kam oder kommen konnte. Ein besonders kritischer Punkt bei der Abgabe des oben genannten Werks an die DNB ist dessen Vernetzung. In die Edition des Dasypodius‘ wird die digitale Faksimileedition unter http://diglib.hab.de/drucke/n-774f-helmst-2/start.htm eingebunden. Die Verbindung beider wird durch absolute persistente URLs hergestellt. Ist die Einbeziehung des zweiten Werks bei der Ablieferung des ersten mitgemeint? Selbst wenn dies erfolgte, die Verbindung bliebe nur über absolute, dass heißt über eine außerhalb der DNB befindliche Ressource funktional81. Was ist zu tun, wenn dieses Faksimile sich im Ausland befindet oder wenn Elemente einer sol80 81
Gesetz über die Deutsche Nationalbibliothek (DNBG). http://www.gesetze-im-internet.de/dnbg/BJNR133800006.html [02.05.2007]. Vermittelt über eine Seitenkonkordanz, bei der elektronischen Ausgabe des Dasypodius findet sich diese hier: http://diglib.hab.de/edoc/ed000008/facsimile.xml [02.05.2007].
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chen Edition ausländische Ressourcen referenzieren, z. B. wie in der Edition von Lipsius’ De Bibliothecis 82 den Getty Thesaurus, der außerhalb der Jurisdiktion der Bundesrepublik und damit des Pflichtabgabegesetzes liegt? Es ist schnell zu erkennen, dass Werke im Internet anderen Prinzipen gehorchen als solche, die auf Papier gedruckt wurden und dass eine Gesetzgebung, die eine für analoge Medien geschaffene Abgabepflicht mehr oder weniger unverändert auch für digitale Medien fordert, schnell in absurde Situationen gerät. Zugleich ist das Theoriedefizit an dieser Stelle offenkundig. Es scheint ratsam, zunächst den Begriff des unkörperlichen Medienwerks definitorisch und bibliographisch stärker einzugrenzen und im Ausgang davon eine ihm gemäße Archivsituation zu schaffen. Es greift auch zu kurz, wenn die DNB zur Abgabe Transferfähigkeit fordert83, die darin besteht, dass ein Angebot auch ohne Netzverbindung weiter voll funktionsfähig bleibt. Eine solche Forderung verkennt das Wesen des Netzes. Das Internet setzt sich gerade nicht aus atomisierbaren ›transferfähigen‹ Einheiten zusammen, sondern funktioniert wie ein Organismus, dem man nicht ohne Bedeutungsverlust Teile entnehmen kann, auch wenn diese Teile nach Nähe und Ferne definierbare Relevanz für das einzelne Werk haben. Wenn es heute noch zahlreiche transferfähige Objekte gibt (zum Beispiel in Form von PDF), so liegt das eher daran, dass das Potenzial des Hypertextes nicht ausgeschöpft und das Netz nur als Kommunikationsinstrument, gleichsam als ein besseres Fax, genutzt wird. Es ist aber mehr als wahrscheinlich, dass in Zukunft die Vernetzung zunimmt und damit die Unmöglichkeit auf der Basis der bisherigen Vorstellungen »Netzpublikationen« abzuführen. Damit würden der DNB als zentraler deutscher Archiveinrichtung wesentliche Teile der kulturellen Überlieferung entgehen. Insofern wäre die Art des Archivierungsverfahrens grundsätzlich zu überdenken. Archive.org, dessen Ziel es ist »to create a unique global snapshot of the Web«84, scheint dabei die richtige Richtung zu weisen, selbst wenn bei diesem Archivkonzept die ›sources‹, also die Quellen wie XML, Masterimages, etc., die die Bedingung der Möglichkeit von Netzpublikationen konstituieren und in ein umfassendes Archivkonzept gehören, nicht berücksichtigt werden. 82 83 84
Justus Lipsius: Ivsti Lipsi[i] De Bibliothecis Syntagma. http://diglib.hab.de/edoc/ed000001/ start.htm [08.05.2008] Deutsche Nationalbibliothek: Netzpublikationen. http://www.d-nb.de/netzpub/ablief/ np_tranfer.htm [08.05.2008]. Internet Archive. http://www.archive.org/web/web.php [02.05.2007].
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In diesen nur angedeuteten praktischen Problemen steht das Wesen des digitalen oder elektronischen Buchs als Gegenstand der buchwissenschaftlichen Forschung auf dem Prüfstand. Dabei geht es weniger um eine Prognose für das traditionelle oder zukünftige Buch. Befürchtungen, die die abendländische Kultur untergehen sehen oder überschwängliche Phantasien von Medienenthusiasten, die wie seinerzeit Les Futuristes das Buch am liebsten gleich verbrennen möchten85, sind für die Erforschung des Buchs im digitalen Zeitalter gleichermaßen undienlich. Weder wird das neue Medium mittelfristig das gedruckte Buch ersetzen, noch auch – ideologischer – die Befreiung einer in Buchdeckeln geknechteten und auf Papierseiten gestutzten Wahrheit einläuten86. Die Möglichkeit eines elektronisch gestützten87 Hypertextes, wie er sich im Internet verwirklicht, bietet neue Produktions- und Rezeptionsformen, deren Konsequenzen für das Buch durch die buchwissenschaftliche Forschung untersucht werden müssen; denn dass Medienübergänge fundamentale kulturelle und wissenschaftliche Veränderungen mit sich bringen, ist spätestens seit den Arbeiten von Marshall McLuhan – »the medium is the massage«88 – ins Bewusstsein gerückt. Die grundlegende Einsicht in das Wirken des Mediums hat nicht nur zu einer Neubewertung der Rolle der »printing press as agent of change«89 geführt, sie lässt für das Zeitalter jenseits der Gutenberggalaxie analoge Auswirkungen erwarten, denen sich die Buchwissenschaft ebenso wie die Bibliothekswissenschaft stellen muss, indem sie den Kreislauf von Autor, Verlag und Leser ebenso wie das Buch selbst und seine bibliographische Verzeichnung unter gewandelten Medienbedingungen erneut in den Blick nimmt.
85 86 87 88 89
»… et boulez donc le feu aux rayons des bibliothèques!«; Marinetti, F. T.: Manifeste du Futurisme; S. 1. Vgl. die differenzierende Darstellung bei Duguid: Material Matters. Hypertext ist nicht unbedingt auf die elektronische Form beschränkt. Fußnoten und andere Verweisungstechniken können ebenfalls als eine Form des Hypertextes angesehen werden. McLuhan: Understanding Media, S. 7. Eisenstein: The printing press.
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4 Literaturverzeichnis Bazin, Patrick: Toward Metareading. In: The Future of the Book. Ed. by. G. Nunberg. Berkeley: University of California Press 1996, S. 153–168. Bunzel, Jürgen: Neue Informations-Infrastrukturen. Zum Stand der Umsetzung der DFGEmpfehlungen. In: Bibliothek 22 (1998), H. 1, S. 28. http://www.bibliothek-saur.de/ 1998_1/28.pdf [14.05.2009]. Caplan, Priscilla: Metadata Fundamentals for All Librarians. Chicago: American Library Association 2003. Darnton, Robert: What is the history of books? In: D., R.: The Kiss of Lamourette: Reflections in Cultural History. London u. a.: Faber & Faber 1990, S. 107–136. Thaller, Manfred (Hrsg.): Digitale Bausteine für die geisteswissenschaftliche Forschung. Göttingen: Dührkohp & Radicke 2003 (Fundus. Beiheft. 5). Deegan, Marilyn/Tanner, Simon: Conversion of Primary Sources. In: A Companion to Digital Humanities. Ed. by Susan Schreibman, Ray Siemens and John Unsworth. Malden, MA u. a.: Blackwell 2004 (Blackwell companions to literature and culture. 26). http://www.digitalhumanities.org/companion/ [14.05.2009]. Dünnhaupt, Gerhard: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. 6 Bde. 2., verb. u. wesentlich verm. Aufl. Stuttgart: Hiersemann 1990–1993 (Hiersemanns bibliographische Handbücher). Duguid, Paul: Material Matters: The Past and Futurology of the book. The Future of the Book. Berkeley: University of California Press 1996, S. 63–102. Eisenstein, Elizabeth: The Printing Press as an Agent of Change. 2 Bde. Cambrigde u. a.: Cambridge University Press 1979. Foucault, Michel: Was ist ein Autor? (Vortrag). In: Schriften zur Literatur. Hrsg. v. Daniel Defert. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 234–270. Gaskell, Philip: A New Introduction to Bibliography. Winchester u. a.: St. Paul’s Bibliographies u. a. 1995. Hanekop, Heidemarie/Wittke, Volker: Das wissenschaftliche Journal und seine möglichen Alternativen: Veränderungen der Wissenschaftskommunikation durch das Internet. Göttingen 2005. http://www.sofi.uni-goettingen.de/index.php?id=583&no_cache= 1&tx_drblob_pi1%5BdownloadUid%5D=598 [06.05.2007]. Hendrich, Andreas: Spurenlesen – Hyperlinks als kohärenzbildendes Element in Hypertext. München 2003. http://edoc.ub.uni-muenchen.de/archive/00003054/01/ Hendrich_Andreas.pdf [06.05.2007]. Justus Lipsius: Ivsti Lipsi[i] De Bibliothecis Syntagma. Antwerpen: Moretum 1602. http://diglib.hab.de/edoc/ed000001/start.htm [30.09.2007]. Lehr, Thomas: Zweiwasser oder Die Bibliothek der Gnade. Roman. Berlin: Aufbau 1992. Marinetti, F. T.: Manifeste du Futurisme. In: Le Figaro 56 (1909), H. 51 v. 20. Februar 1909, S. 1. http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k2883730 [12.05.2007]. McLuhan, Marshall: Understanding Media. The extension of man. Reprint. London u. a.: Routledge 2006. Nossek, Hillel/Adoni, Hanna: The Future of Reading as a Cultural Behavior in a Multichannel Media Environment. In: The Future of the Book in the Digital Age. Ed. by Bill Cope and Angus Phillips. Oxford: Chandos 2006, S. 89–109. Poster, Mark: What’s the Matter with the Internet? Minneapolis u. a.: University of Minnesota Press 2001 (Electronic mediations. 3).
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Stäcker, Thomas: Das ist doch alles im Netz! – Angebot und Nutzen von digitalisierten Altbestandsquellen im Internet. http://www.opus-bayern.de/bib-info/volltexte/2005/ 73/pdf/staecker_duedo-2005.pdf [14.05.2009]. Stäcker, Thomas: Erschließungsformen Alter Drucke im Internet. In: 91. Deutscher Bibliothekartag in Bielefeld 2001. Bibliotheken – Portale zum globalen Wissen. Hrsg. v. Margit Rützel-Banz. Frankfurt a. M.: Klostermann 2001 (ZfBB Sonderheft. 81), S. 134–148. Texte zur Theorie der Autorschaft. Hsrg. u. komm. v. Fotis Jannides u. a. Stuttgart: Reclam 2000. Thaller, Manfred u. a.: Retrospektive Digitalisierung von Bibliotheksbeständen – Evaluierungsbericht über einen Förderschwerpunkt der DFG. Universität Köln 2005. http://www.dfg.de/forschungsfoerderung/wissenschaftliche_infrastruktur/lis/ download/retro_digitalisierung_eval_050406.pdf [18.11.2005]. Wagner, Bettina: Les incunables et l’internet. Projets de catalogage et de numérisation des bibliothèques allemandes. Vortrag bei der Tagung Le berceau du livre imprimé autour des incunables am Centre d’ètudes Supérieures de la Renaissance, Tours, 29.09.2005 [im Druck: Turnhout: Brepols].
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Das Wissenschaftsportal b2i und seine buchwissenschaftlichen Inhalte 1 1.1 1.2 1.3 1.4 2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 3 4 5
Einleitung Zur Ausgangslange des Projekts Ziel: Eine Virtuelle Fachbibliothek für die Buch-, Bibliotheks- und Informationswissenschaft Projektpartner und Projektorganisation Inneres Konzept, äußeres Erscheinungsbild und Zielgruppen von b2i Inhalte und Angebote des Wissenschaftsportals für die Buchwissenschaft Bibliothekskataloge Bibliographische Datenbanken Die Fachdatenbank Buchwissenschaft als bibliographischer One-Stop-Shop Digitale Volltexte Ein Fundus qualitätskontrollierter Internetquellen – Der Fachinformationsführer b2i-Guide Suchfunktionen und Recherchemöglichkeiten Gegenwärtiger Stand des Projekts, Nutzung und Entwicklungsperspektiven Literaturverzeichnis
1 Einleitung B2i versteht sich als zentrales Wissenschaftsportal für die Fachgebiete Buch-, Bibliotheks- und Informationswissenschaft. Gefördert von der DFG und realisiert im Rahmen eines gemeinsamen Projekts der Staatsund Universitätsbibliothek Göttingen, der Fachhochschule sowie des Informationszentrums Potsdam, des Kompetenznetzwerks für Bibliotheken beim Deutschen Bibliotheksverband und der Buchwissenschaft der
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Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg bietet das Wissenschaftsportal unter der Webadresse www.b2i.de seit Mai 2007 jedem Interessierten eine Reihe qualitativ hochwertiger Fachinformationen aus den drei genannten Wissenschaftsdisziplinen rund ums Buch. Der folgende Beitrag beschreibt Aufgaben und Ziele des Wissenschaftsportals und informiert über die praktische Umsetzung des b2iProjekts. Die im Rahmen von b2i vorgehaltenen Informationsressourcen und angebotenen Recherchemöglichkeiten werden vorgestellt. Der Schwerpunkt liegt hierbei auf den für die buchwissenschaftliche Forschung besonders relevanten Inhalten, die unter maßgeblicher Mitwirkung der Erlanger Buchwissenschaft bereitgestellt werden konnten.1 1.1 Zur Ausgangslange des Projekts
Auf bibliotheks- und informationswissenschaftlichem Gebiet war schon seit Anfang der 1990er Jahre nicht nur eine starke Zunahme an Fachpublikationen überhaupt,2 sondern auch ein bemerkenswerter Anstieg der Menge an elektronischen Fachinformationen und fachbezogenen Netzpublikationen zu konstatieren. Solche Ressourcen – zu denken wäre hier etwa an digitale Fachartikel, Vorlesungsskripte oder Bibliotheks- und Projekthomepages – sind für die bibliotheks- und informationswissenschaftliche Forschung ebenso wie für die Ausgestaltung effektiver Entscheidungsfindungsprozesse in Bibliotheken von großem Interesse. Gleichzeitig wurde die Nutzung dieser Ressourcen durch die oftmals unbefriedigende Zugänglichkeit und mangelhafte oder gänzlich fehlende Erschließung erschwert. Zwar nicht völlig deckungsgleich, aber doch in mancherlei Hinsicht ähnlich stellte sich die Situation in der Buchwissenschaft dar. Diese hatte sich während der letzten Jahrzehnte von ihrer ursprünglichen Rolle als »Historischer Hilfswissenschaft« mehr und mehr emanzipiert.3 Das Interesse an der Erforschung der Medienkommunikation des Buchs und seiner Materialität, die den Hauptgegenstand der Buchwissenschaft bilden,4 nahm und 1 2 3 4
Zu den bibliotheks- und informationswissenschaftlichen Inhalten des Wissenschaftsportals vgl. Hobohm/Nitrowski: Informationswissenschaften. Vgl. Weber: Virtuelle Fachbibliothek, S. 89. Vgl. dazu Rautenberg/Wetzel: Buch, S. 13–21 sowie den von Kerlen/Kirste herausgegebenen Tagungsband: Buchwissenschaft und Buchwirkungsforschung, der auch eine Selbstbeschreibung mehrerer buchwissenschaftlicher Hochschulinstitute enthält. Vgl. Rautenberg: Bücher, S. 33f.
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nimmt nach wie vor zu. Gleichzeitig stiegen auch im buchwissenschaftlichen Bereich Anzahl und Bedeutung elektronischer Publikationen und Fachinformationen. Hinzu kam die für die deutsche Buchwissenschaft besonders schwierige Situation im Bereich der Literaturdokumentation. Diese machte sich im Fehlen einer laufend aktualisierten deutschsprachigen buchwissenschaftlichen Bibliographie sowie in dem Umstand bemerkbar, dass Forschungsergebnisse der deutschsprachigen Buchwissenschaft in internationalen Bibliographien und Fachdatenbanken wie z. B. der Annual Bibliography of the History of the Book and Libraries (ABHB) bzw. deren Internetausgabe Book History Online (BHO) oft nur mangelhaft berücksichtigt wurden (und werden).5 Gerade vor diesem Hintergrund verstärkte sich auf Seiten der Buchwissenschaft der Wunsch nach einem zentralen Informationsangebot, das neben dem bequemen, strukturierten Zugriff auf Internetquellen und digitale Volltexte auch facheinschlägige bibliographische Daten bieten sollte. 1.2 Ziel: Eine Virtuelle Fachbibliothek für die Buch-, Bibliotheksund Informationswissenschaft
Was lag angesichts einer solcherart zu umreißenden Ausgangssituation näher, als für die drei vergleichsweise kleinen, dabei aber thematisch eng zusammenhängenden Wissenschaftsdisziplinen6 der Buch-, Bibliotheksund Informationswissenschaft ein gemeinsames Wissenschaftsportal aufzubauen, das verschiedene elektronische Informationsmittel zusammenführt bzw. unter einer einheitlichen Suchoberfläche recherchierbar macht und die Benutzerinnen und Benutzer zudem in die Lage versetzt, mit einer einzigen Suchanfrage in Bibliothekskatalogen und bibliographischen Fachdatenbanken zu recherchieren sowie zusätzlich Hinweise auf elektronische Volltexte oder fachlich relevante Internetseiten zu erhalten und – wenn möglich – auch konventionelle Literatur ihres Fachgebiets per 5
6
Die von Horst Meyer herausgegebene laufende »Bibliographie der Buch- und Bibliotheksgeschichte«, auf die weiter unten noch eingegangen wird, wurde 2003 eingestellt. Die »Annual Bibliography of the History of the printed Book and Libraries« (ABHB) und deren Internetausgabe »Book History Online« (BHO) entstehen durch die Zusammenarbeit von Beiträgern (»Editors«) aus mehr als 30 Ländern unter dem Dach des »Committee on Rare Books and Manuscripts« des internationalen Bibliotheksverbandes »International Federation of Library Associations and Institutions« (IFLA). Für Deutschland ist hier nach wie vor kein Editor benannt. Zum inhaltlichen Zusammenhang aber auch zu disziplinären Unterschieden der drei Fächer vgl. Rautenberg: Bücher, S. 34f., sowie Migoń: Buch als Gegenstand, S. 33, sowie 184–192.
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Fernleihe oder Dokumentenlieferdienst direkt zu bestellen? Genau diese Möglichkeiten und Funktionalitäten bietet die b2i-Webseite, die man aus diesem Grund auch als Virtuelle Fachbibliothek für die Buch-, Bibliotheks- und Informationswissenschaft bezeichnen kann. Das Konzept der Virtuellen Fachbibliotheken wurde 1997 von der DFG mit dem Ziel eingeführt, das System der wissenschaftlichen Literaturund Informationsversorgung in der Bundesrepublik Deutschland zu verbreitern.7 Unter einer Virtuellen Fachbibliothek versteht man hierbei eine »hybride Bibliothek«, welche die Aufgabe hat, »den fachspezifischen Zugriff auf wissenschaftsrelevante Informationen und Dokumente eines Faches« oder – wie im Fall von b2i – »eines Fachclusters zu bieten, unabhängig von Medium, Speicherform und Speicherort.«8 Seit 1998 fördert die DFG den Aufbau Virtueller Fachbibliotheken (ViFas) im Rahmen des Programms »Wissenschaftliche Literaturversorgungs- und Informationssysteme«. Mehr als 30 Virtuelle Fachbibliotheken wurden seither ins Leben gerufen. B2i ist mit dem Projektstart im März 2006 und der Freischaltung des Internetportals im Frühjahr 2007 also noch ein ›Newcomer‹ im Kreise der ViFas. 1.3 Projektpartner und Projektorganisation
Erste Vorüberlegungen zur Einrichtung einer der Informationsversorgung der genannten Fachgebiete dienenden ViFa – zunächst allerdings noch unter Außerachtlassung der Buchwissenschaft – wurden bereits im Jahre 2003 unternommen, so etwa im Rahmen einer Diplomarbeit am Institut für Informationswissenschaft der Fachhochschule Köln.9 Im Jahr 2004 stellten die Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen als DFG-Sondersammelgebietsbibliothek für die Fächer Informations-, Buch- und Bibliothekswesen, die Fachhochschule und das Informationszentrum für Informationswissenschaft und -praxis Potsdam, der Deutsche Bibliotheksverband und die Buchwissenschaft der Universität Erlangen-Nürnberg einen gemeinsamen Antrag auf Förderung der Einrichtung einer »Virtuellen Fachbibliothek Bibliotheks-, Buch- und Informationswissenschaften« (ViFa BBI)10 an die DFG. Nachdem dem Antrag in großen Teilen stattgegeben 7 8 9 10
Vgl. Plassmann: Bibliotheken und Informationsgesellschaft, S. 139. Plassmann, S. 139. Vgl. dazu Weber: Virtuelle Fachbibliothek, S. 89. Die Namensgebung des Wissenschaftsportals bzw. der ViFa (»Bibliotheks-, Buch- und Informationswissenschaften«) und die Namensgebung des Sondersammelgebiets (»Infor-
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worden war, startete das Projekt ViFa BBI im Januar 2006.11 Aus dem bisher Gesagten geht bereits hervor, dass b2i von Anfang an als kooperatives Projekt mehrerer Partner angelegt war. Im Folgenden sollen diese Projektpartner etwas näher vorgestellt und ihre (bisherigen) Aufgaben beim Aufbau des Wissenschaftsportals umrissen werden. Die Beteiligung der Staats- und Universitätsbibliothek (SUB) Göttingen ergab sich nicht zuletzt aus ihrer damaligen Rolle als im Rahmen des Sondersammelgebietsplans der DFG für die Fächer Informations-, Buchund Bibliothekswesen (im DFG-Jargon: das Sondersammelgebiet 24.1) zuständige Bibliothek.12 Zwischen Projektstart und Ende Dezember 2007 betreute die SUB Göttingen einen Großteil der technischen Infrastruktur von b2i und war für die Pflege zahlreicher bibliothekarischer bzw. bibliothekswissenschaftlicher Inhalte des Portals zuständig. Seit 1. Januar 2008 zeichnet die Bayerische Staatsbibliothek (BSB) in München anstelle der SUB Göttingen für das Sondersammelgebiet 24.1 sowie für die technische und inhaltliche Weiterentwicklung von b2i verantwortlich. Als weitere Projektpartner sind der Fachbereich Informationswissenschaft an der Fachhochschule Potsdam sowie das ebenfalls an der Fachhochschule Potsdam angesiedelte »Informationszentrum für Informationswissenschaft und -praxis« (IZ) zu nennen. Das Informationszentrum ist seit Ende 1992 in Potsdam beheimatet und in der Fachwelt vor allem als Hersteller der informationswissenschaftlichen Fachdatenbank InfoData bekannt. Daneben erfüllt es die Funktion einer Hochschulbibliothek für die Fachhochschule Potsdam, an der mehrere bibliotheks- und informationswissenschaftliche Studiengänge angeboten werden.13 Bis zum Auslaufen der ersten DFG-Förderung im Dezember 2007 wurden Teile der technischen Infrastruktur sowie die informationswissenschaftlichen Inhalte von b2i durch Projektmitarbeiter in Potsdam betreut. Besonders verdient gemacht haben sich die Potsdamer Kollegen ferner um die Einrichtung eines projektbegleitenden wissenschaftlichen Beirats, in dem alle drei
11 12
13
mations-, Buch- und Bibliothekswesen«) weichen mithin voneinander ab. Die unterschiedlichen Bezeichnungen werden im vorliegenden Beitrag beibehalten. Zur kurzzeitigen Zurückstellung der buchwissenschaftlichen Module und den Erlanger Vorarbeiten vgl. weiter unten. Der Sondersammelgebietsplan der DFG soll sicherstellen, dass jede weltweit erschienene Publikation von wissenschaftlichem Interesse in zumindest einem Exemplar für die deutsche Forschung verfügbar ist. Um dies zu gewährleisten, wurden einzelnen Bibliotheken seit 1949 Sondersammelgebiete zugeteilt, auf denen diese die wissenschaftlich relevante Literatur des Auslandes, finanziell unterstützt von der DFG, mit größtmöglicher Vollständigkeit erwerben. Zu Einrichtung und Funktionen des IZ vgl. Bassenge/Falke: Informationszentrum für Informationswissenschaft.
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Fachbereiche der ViFa durch wissenschaftliche Experten, Informationsnutzer und -anbieter repräsentiert sind. Seine Hauptaufgabe besteht darin, künftige Entwicklungsmöglichkeiten für das Portal aufzuzeigen, aktiv an der weiteren Gestaltung von b2i mitzuwirken und einen engen Kontakt zwischen den Machern des Portals und den angesprochenen drei Fachcommunities sicher zu stellen.14 Ebenfalls am Projekt beteiligt war das 2004 in Folge der Schließung des »Deutschen Bibliotheksinstituts« (DBI) gegründete »Kompetenznetzwerk für Bibliotheken« (KNB) in Berlin, das organisatorisch dem »Deutschen Bibliotheksverband« (DBV) angegliedert ist. Wesentliche Aufgaben des Kompetenznetzwerks bestehen in der Förderung von Innovationen im Bibliothekswesen sowie in der Erbringung zentraler Dienstleistungen für Bibliotheken.15 Innerhalb des b2i-Projekts ist das Kompetenznetzwerk dementsprechend mit dem Auf- und Ausbau der Informationsplattform www.bibliotheksportal.de beschäftigt. Dieses dient, anders als b2i selbst, weniger der bibliographischen bzw. im strengen Sinn wissenschaftlichen Information, sondern versteht sich als redaktionell betreutes Publikationsforum und als Markplatz bibliothekarischer Informationsangebote. Geboten werden Informationen über Bibliotheken für Entscheidungsträger in Politik und Verwaltung sowie für Bibliothekspraktiker und interessierte Laien.16 Schließlich ist die Erlanger Buchwissenschaft als Kooperationspartner des b2i-Projekts zu nennen. Diese war bereits im Vorfeld an der Projektplanung beteiligt und hat sich von Anfang an intensiv in die fachliche Konzeption der buchwissenschaftlichen Projektteile eingebracht. Mit einer von der DFG geförderten wissenschaftlichen Mitarbeiter- sowie einer studentischen Hilfskraftstelle ist die Erlanger Buchwissenschaft am Projekt allerdings erst seit März 2007 beteiligt, da im ersten Jahr der DFG-Förderung der Aufbau der technischen Infrastruktur im Vordergrund stand. Nach Abschluss der ersten, eher technisch ausgerichteten Projektphase ist die Buchwissenschaft dann bei der Realisierung der inhaltlichen Arbeitspakete eingestiegen. Vorarbeiten für die buchwissenschaftlichen Module konnten in Erlangen auf Basis einer finanziellen Unterstützung durch den Universitätsbund Erlangen-Nürnberg e. V. und die Horst-Kliemann-Stiftung für Geschichte des Buchwesens, Frankfurt a. M., gleichwohl schon früher, zwischen Mai und Juli 2006, durchgeführt werden. 14 15 16
Vgl. zu Einrichtung und Aufgaben des Beirats ausführlich Hobohm/Nitrowski: Informationswissenschaften. Vgl. Plassmann: Bibliotheken und Informationsgesellschaft, S. 114f. Vgl. dazu Osterode: Wegweiser durch den Dschungel.
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1.4 Inneres Konzept, äußeres Erscheinungsbild und Zielgruppen von b2i
Das Konzept von ViFas im Allgemeinen sowie des Wissenschaftsportals b2i im Besonderen zielt darauf ab, dass der Benutzer auf der Suche nach relevanten Fachinformationen nicht auf viele verschiedene Einzelangebote zurückgreifen muss, sondern die ViFa als bequemen Einstiegspunkt im Sinne eines One-Stop-Shops nutzen kann. Dieser Einstiegspunkt soll ihm Zugang zu fachlich relevanten Informationsquellen bieten, zu digitalen ebenso wie zu konventionellen; zu Volltexten ebenso wie zu bibliographischen Informationen. Relevante Zielgruppen für die Angebote von b2i bilden vor diesem Hintergrund Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Promovierende und Studierende. Zugleich wendet sich b2i auch an Benutzerinnen und Benutzer aus der Praxis, so etwa an Mitarbeiter aus der Informationswirtschaft, dem Buchhandel und aus Bibliotheken. Um das solcherart zu umreißende Angebot und die genannten Zielgruppen zusammen zu bringen, bedarf es neben laufender Bemühungen im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit natürlich eines eingängigen Namens sowie eines ansprechenden Corporate-Designs. Während das DFG-Projekt zunächst unter dem Titel ViFa BBI startete, waren für das fertige Produkt, also das Portal selbst, von Beginn an unterschiedlichste Bezeichnungen im Gespräch. Die Projektgruppe hat sich hier schließlich für das leicht memorierbare Kürzel b2i (I für Informationswissenschaft, je ein B für Bibliotheksund Buchwissenschaft) entschieden. Beim Logo des Portals fiel die Wahl auf einen stilisierten Mauszeiger als Signet, der einen Klick ausführt und so die digitalen Inhalte der ViFa symbolisiert, kombiniert mit dem Schriftzug »b2i bibliotheks-, buch- und informationswissenschaften«.
2 Inhalte und Angebote des Wissenschaftsportals für die Buchwissenschaft Welche Inhalte und Angebote erwarten nun im Rahmen von b2i den Buchhistoriker, der einen Vortrag vorbereitet, den Studierenden der Buchwissenschaft, der Material für eine Seminararbeit sucht, oder den Praktiker aus der Verlagswirtschaft, der sich über die neuesten Umsatzentwicklungen im E-Book-Sektor informieren möchte? Mit Blick auf die für die Buchwissenschaft relevanten Inhalte des Wissenschaftsportals kann zwischen klassischen Bibliothekskatalogen, bibliographischen Datenbanken, digitalen Volltexten und Webressourcen, die im Rahmen
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des Subject Gateways b2i-Guide erschlossen sind, unterschieden werden. Alle genannten Bereiche sollen im Folgenden näher vorgestellt und hinsichtlich ihres Nutzens für denjenigen, der auf der Suche nach buchwissenschaftlichen Fachinformationen ist, besprochen werden. 2.1 Bibliothekskataloge
Im Gegensatz zu Bibliographien weisen Bibliothekskataloge nicht sämtliche für ein Fachgebiet oder Thema relevante Literatur nach, sondern nur solche Titel, die in einer bestimmten Bibliothek tatsächlich vorhanden sind. Gleichwohl kann die Nutzung von Bibliothekskatalogen zu Zwecken der Literaturrecherche – auch unabhängig von der Nutzung der durch den Katalog erschlossenen physischen Bibliothek – überaus hilfreich sein. Dies gilt insbesondere dann, wenn es sich um Kataloge zu fachlich hoch spezialisierten Sammlungen handelt oder wenn in den betreffenden Katalogen besonders seltene oder schwer zu beschaffende bzw. auch bibliographisch unselbstständige Literaturtitel nachgewiesen sind. Aus diesen Gründen wurden mehrere facheinschlägige Bibliothekskataloge in das Wissenschaftsportal b2i integriert. An erster Stelle zu nennen ist hier ein fachspezifischer Ausschnitt aus dem Onlinekatalog des Gemeinsamen Bibliotheksverbunds (GBV), der einen großen Teil der Bestände des seit 1949 von der SUB Göttingen gepflegten DFG-Sondersammelgebiets 24.1 (Informations-, Buch- und Bibliothekswesen) enthält. Der über b2i kostenlos recherchierbare Katalogausschnitt verzeichnet mehr als 142 000 facheinschlägige Publikationen des In- und Auslands, darunter hauptsächlich Bücher, Hochschulschriften und Periodika, aber auch Mikroformen und digitale Volltexte. Entsprechend dem von der DFG erteilten Sammelauftrag handelt es sich dabei in vielen Fällen um Nachweise schwer zu beschaffender bzw. hoch spezialisierte Fachliteratur des Auslands, die in Deutschland nur in einem oder wenigen Exemplaren verfügbar und daher oft auch bibliographisch vergleichsweise schlecht nachgewiesen ist. Die seit 1976 im Rahmen des Sondersammelgebiets erworbenen Monographienbestände sind im Katalogausschnitt lückenlos verzeichnet, ebenso die seit Bestehen des Sondersammelgebiets (1949) erworbenen Zeitschriften. Das Gros der im Fachausschnitt nachgewiesenen Titel kann über die Online-Fernleihe oder den Dokumentlieferdienst subito bei der SUB Göttingen bestellt werden. Das Angebot eines fachspezifischen Katalogauszugs wird seit der Übernahme
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des Sondersammelgebiets durch die Bayerische Staatsbibliothek München mit Anfang des Jahres 2008 von dieser fortgeführt. Ein weiterer für die Buchwissenschaft wichtiger Katalog, der über die im Folgenden noch näher vorzustellende Fachdatenbank Buchwissenschaft in das b2i-Portal eingebunden werden konnte, ist der OPAC des St. Galler Zentrums für das Buch. Die Stiftung »St. Galler Zentrum für das Buch« wurde im Jahr 2006 durch das »Deutsche Bucharchiv, München«, kooperierende Münchner Stiftungen sowie die Universität und den Kanton St. Gallen ins Leben gerufen.17 Das Zentrum bildet eine Spezialabteilung innerhalb der Kantonsbibliothek Vadiana St. Gallen. Seine Aufgaben bestehen in der Sammlung und Erfassung von Fachliteratur zum Thema Buch sowie in der Zusammenarbeit mit anderen an buchwissenschaftlichen Fragestellungen interessierten Forschungseinrichtungen im Sinne eines Knotens »im buchwissenschaftlichen Netzwerk Europas«18. Mit dieser inhaltlichen Ausrichtung knüpft das St. Galler Zentrum an die Tradition des 1946 durch Ludwig Delp gegründeten »Deutschen Bucharchivs, München« an,19 dessen Bestände (ca. 32 000 Monographien, 180 laufende Zeitschriften, 5 000 Titel Graue Literatur)20 und Katalogdaten es im Herbst 2006 übernommen hat. Spielte schon in München neben der Förderung der buchwissenschaftlichen Forschung und der Herausgabe einer eigenen Schriftenreihe die Dokumentation der für die Buchwissenschaft relevanten Fachliteratur eine wichtige Rolle, so wird das erreichbare Schrifttum zum Thema Buch auch in St. Gallen detailliert erschlossen – und zwar unter Einbeziehung von Aufsätzen in Zeitschriften und Sammelwerken, Zeitungsartikeln, Spezialbeständen und Grauer Literatur. Hierbei kommt neben der bibliotheksüblichen Beschlagwortung der Titel eine eigene, vom Deutschen Bucharchiv erarbeitete Fachsystematik zum Einsatz.21 Der St. Galler OPAC enthält derzeit ca. 230 000 Datensätze und wird laufend aktualisiert. Gerade durch den Nachweis der in den St. Galler Bestand aufgenommenen Neuerscheinungen sowie von vorhandener und neu akquirierter unselbstständiger und Grauer Literatur ist er für die buchwissenschaftliche Forschung von großem Interesse. Durch die mit 17 18 19 20 21
Vgl. dazu Häntzschel: Deutsches Bucharchiv. N.N.: 60 000 Bände, S. 160. Über die Gründung und Entwicklung dieser Einrichtung informiert in ausführlicher Weise: Delp: Buchwissenschaften – Dokumentation und Information. Vgl. Häntzschel: Deutsches Bucharchiv, S. 52. Vgl. N.N.: 60 000 Bände, S. 160.
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freundlicher Unterstützung der Stiftung »Deutsches Bucharchiv« sowie des »St. Galler Zentrums für das Buch« erfolgte Einbindung des Katalogs in das Wissenschaftsportal b2i kann, auch wenn die in St. Gallen geleistete Erschließungsarbeit sich naturgemäß nur auf die dort auch physisch vorhandene selbstständige und unselbstständige sowie Graue Literatur bezieht, das Fehlen einer bestandsunabhängigen laufenden deutschsprachigen Fachbibliographie zur Buchwissenschaft zumindest teilweise kompensiert werden. Als dritter fachbezogener Katalog, der in die ViFa integriert werden konnte, ist schließlich der OPAC des Informationszentrums für Informationswissenschaft und -praxis an der Fachhochschule Potsdam zu nennen. Dieser weist Bücher, Zeitschriften, Diplomarbeiten, Hausarbeiten des Instituts für Information und Dokumentation an der Fachhochschule Potsdam, Videos und CD-ROMs nach. Für buchwissenschaftliche Belange im Allgemeinen und buchhistorische Fragen im Besonderen ist der Potsdamer OPAC, anders als die beiden zuvor genannten Fachkataloge aus Göttingen und St. Gallen, nur von untergeordneter Bedeutung, da die Potsdamer Kollegen hauptsächlich informationswissenschaftliche Werke erschließen. Ist man allerdings auf der Suche nach Literatur zu Themen wie E-Publishing oder open access, so findet man hier ebenfalls interessante Ergebnisse. 2.2 Bibliographische Datenbanken
Der klassische Weg zur Fachliteratur führt, insbesondere in den Sozialund Geisteswissenschaften, häufig immer noch über Bibliographien und bibliographische Datenbanken. In das Wissenschaftsportal b2i sind eine Reihe bibliographischer Informationsmittel eingebunden. Hierbei handelt es sich zum Teil um Angebote, die vor dem Start des Projekts bereits in digitaler Form vorlagen. Ein anderer Teil wurde erst im Rahmen des Projekts für das Web aufbereitet und steht den Benutzern via b2i nun erstmals überhaupt in digitaler Form zur Verfügung. Für die buchwissenschaftliche Forschung von besonderem Interesse ist hier zunächst die Datenbank Online Contents Sondersammelgebiet (OLC-SSG) Informations-, Buch- und Bibliothekswesen. Unter einem Online Contents-Dienst versteht man ein Informationsmittel, das einen schnellen Überblick über aktuelle Entwicklungen auf einem Fachgebiet erlaubt, indem es die Inhaltsverzeichnisse einschlägiger Fachzeitschriften
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in elektronischer Form wiedergibt.22 OLC-SSG Informations-, Buch- und Bibliothekswesen ist ein fachbezogener Ausschnitt aus der durch die Firma Swets bereit gestellten Datenbank Online Contents.23 Er enthält mehr als 370 000 Nachweise von Artikeln und Rezensionen aus ca. 450 verschiedenen Zeitschriften, darunter zahlreiche für die Buchwissenschaft besonders relevante Fachorgane wie etwa das Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, das Archiv für Geschichte des Buchwesens oder das Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte. Der Datenbestand reicht bis in das Jahr 1993 zurück und wird wöchentlich aktualisiert. Das Angebot wächst jährlich um etwa 20 000 Nachweise. Online Contents SSG-Informations-, Buch- und Bibliothekswesen ist nicht nur eine Datenbank für die bibliographische Recherche, sondern kann auch als frei zugängliche Bestelldatenbank für die Onlinefernleihe und den Dokumentlieferdienst subito genutzt werden. Über die bereits erwähnte Fachdatenbank Buchwissenschaft bietet das Wissenschaftsportal b2i außerdem Zugriff auf die digitale Version der Wolfenbütteler Bibliographie zur Geschichte des Buchwesens im deutschen Sprachgebiet (WBB). Die WBB wurde vom ehemaligen Leiter der Herzog August Bibliothek (HAB) Wolfenbüttel, Paul Raabe, angeregt und von Mitarbeitern der Arbeitsstelle für Buchgeschichte der HAB – federführend war dabei Erdmann Weyrauch – erstellt. Erste Planungen und Vorarbeiten reichen dabei bis in das Jahr 1976 zurück.24 Die Druckausgabe erschien zwischen 1990 und 1999 in insgesamt zwölf Bänden, darunter ein Supplementband sowie vier Registerbände. Die WBB gehört heute unzweifelhaft zu den wichtigsten bibliographischen Nachschlagewerken für die Buchwissenschaft, soweit diese an historischen Fragestellungen interessiert ist. Nach dem Urteil einer Rezensentin stellt sie »[d]as Grundwerk für retrospektive Recherchen auf dem gesamten, schwer überschaubaren Bereich der Buch-, Bibliotheks- und Lese(r)geschichte« dar.25 Die WBB weist für den Zeitraum von 1840 bis 1980 selbstständige und unselbstständige Beiträge zur Geschichte des Buchwesens im deutschsprachigen Raum seit Erfindung des Buchdrucks nach, wobei das Gros der Titelaufnahmen auf Autopsie basiert. Die Onlineausgabe, deren Bereitstellung im Rahmen von b2i mit freundlicher Unterstützung der HAB Wolfenbüttel sowie des K.G. Saur Verlags Mün-
22 23 24 25
Vgl. Strauch: Titelliste. Vgl. Verbundzentrale des Gemeinsamen Bibliotheksverbundes (VZG): Online Contents. Vgl. dazu Raabe: Geleitwort. Tröger: Rez. zu: »Wolfenbütteler Bibliographie«, S. 178.
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chen erfolgt, enthält alle bibliographischen Daten der Druckversion, insgesamt mehr als 98 000 Literaturnachweise. Die technische Einbindung der WBB in das Wissenschaftsportal über die Fachdatenbank Buchwissenschaft war vergleichsweise unkompliziert möglich. Dies ist dem Umstand zu verdanken, dass die Daten bei der HAB bereits in digitaler Form vorlagen, da die Bearbeiter der Druckversion schon in den 1990er Jahren in hellsichtiger Weise ein EDV-System zum Aufbau der Bibliographie genutzt und die Wolfenbütteler Kollegen rechtzeitig für eine Überführung der Daten von diesem ersten, noch DOS-basierten System, in eine MySQL-Datenbank, die den Zugriff über das Internet erlaubt, gesorgt hatten.26 Die dritte für die Buchwissenschaft wichtige bibliographische Datenquelle, die im Zuge des b2i-Projekts in digitaler Form frei zugänglich gemacht werden konnte, ist die zwischen 1982 und 2004 in 22 Bänden – darunter ein Doppelband – erschienene Bibliographie der Buch- und Bibliotheksgeschichte (BBB). Das genuine Verdienst dieses Informationsmittels, das sich im Urteil seiner Rezensenten schon nach wenigen Bänden zu d e r »[l]aufende[n] deutsche[n] Grundbibliographie«27 für Fragen der Buch- und Bibliotheksgeschichte entwickelt hatte, ins Leben gerufen und über Jahre hinweg im Rahmen eines »Einmann-Betrieb[s]«28 am Leben gehalten zu haben, kommt Horst Meyer zu. Leider wurde die BBB mit Erscheinen des Doppelbands 22/23.2002/ 2003 (erschienen 2004) eingestellt. Als Gründe für diesen bedauerlichen Schritt führt Bearbeiter Meyer die immer schwerere Erreichbarkeit einer Reihe relevanter Fachorgane infolge von Zeitschriftenabbestellungen durch deutsche Bibliotheken sowie die Abnahme historischer Arbeiten in deutschsprachigen bibliothekarischen Fachzeitschriften an.29 Die BBB bietet ca. 150 000 Nachweise von Monographien und Aufsätzen zur Buch- und Bibliotheksgeschichte aus den Jahren 1980–2003 wobei neben der Fachliteratur aus dem deutschen Sprachraum in besonderem Maße auch Ergebnisse der internationalen Forschung Berücksichtigung fanden.30 Ein großer Vorzug der BBB lag und liegt in der Breite ihrer Materialbasis, da Meyer sich nie auf die gängigen Periodika unseres Fachs
26 27 28 29 30
Vgl. Stäcker: Vorbemerkung. Vgl. Schreiber: Rez. zu: »Bibliographie der Buch- und Bibliotheksgeschichte«, S. 397. Eck: Decline, S. 226. Vgl. Meyer: Vorwort. Weyrauch: Ende der Bibliographie, S. 72.
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beschränkte, sondern auch regionalhistorische Zeitschriften und Periodika der angrenzenden Fachgebiete ausgewertet hat.31 Anders als die weiter oben erwähnte WBB lag die BBB bei Start des ViFa-Projekts noch keineswegs elektronisch, sondern nur in gedruckter Form vor. Mit freundlicher Genehmigung Meyers wurden die 22 Bände der BBB daher für die Einbindung in b2i durch das Göttinger Digitalisierungszentrum retrodigitalisiert, einer automatisierten Zeichenerkennung (OCR) unterzogen, in eine Datenbank überführt und von der Erlanger Buchwissenschaft so weit als notwendig noch händisch nachbearbeitet.32 Im Rahmen von b2i werden nun die gesamten Daten der BBB erstmals in elektronischer Form zur Verfügung gestellt. Hierdurch wurde dem von mehreren Rezensenten der letzten Ausgabe geäußerten Wunsch der Forschung nach einer retrospektiven Kumulation sämtlicher Einzelbände Rechnung getragen. Fürchtete beispielsweise Klaus Schreiber in seiner Besprechung von 2003 noch, man werde bei facheinschlägigen Recherchen künftig alle 22 Bände der BBB händisch durcharbeiten müssen,33 so genügt heute dank der digitalen Zusammenführung der enthaltenen Daten unter dem Dach von b2i die Eingabe des jeweiligen Suchbegriffs und man ist nur noch einen Klick von den Ergebnissen aus allen BBB-Jahrgängen entfernt. 2.3 Die Fachdatenbank Buchwissenschaft als bibliographischer One-Stop-Shop
Die insbesondere für die Buchwissenschaft relevanten bibliographischen Angebote des Wissenschaftsportals sind nicht nur über die allgemeine Suchmaske von b2i gemeinsam mit anderen, eher für die Bibliotheks- und Informationswissenschaft nützlichen Quellen durchsuchbar, sondern wurden im Rahmen des Projekts auch unter einer separaten Rechercheoberfläche zugänglich gemacht. So entstand die Fachdatenbank Buchwissenschaft, an deren Planung die Erlanger Buchwissenschaft maßgeblich beteiligt war. Dies betraf insbesondere die Ausarbeitung eines detaillierten Erschließungskonzepts. Die technische Realisierung lag dagegen im We31 32 33
Vgl. Eck: Decline, S. 226f. Diese Arbeiten (insbesondere Bereinigung von OCR- und anderen Fehlern) werden von der Erlanger Buchwissenschaft im Rahmen eines von der DFG geförderten Erweiterungsprojektes seit Oktober 2009 weitergeführt. Schreiber: Rez. zu: »Bibliographie der Buch- und Bibliotheksgeschichte«.
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sentlichen in der Verantwortung der Göttinger Projektpartner. Die Fachdatenbank ist unter www.buchwissenschaft.info zu erreichen und vereinigt die Datenbestände von WBB, BBB und des OPACs des St. Galler Zentrums für das Buch, insgesamt mehr als 400 000 bibliographische Nachweise. Durch die virtuelle Zusammenführung dreier der wichtigsten Informationsmittel für die deutschsprachige Buchwissenschaft konnte so ein Angebot geschaffen werden, das den Zeitraum von 1840 bis 2003 fachbibliographisch abdeckt. Durch die Einbeziehung des St. Galler OPACs, für den auch Graue und unselbstständige Literatur erschlossen wird, soweit diese in den St. Galler Bestand Aufnahme findet, konnte außerdem das Fehlen einer laufenden buchwissenschaftlichen Fachbibliographie zumindest teilweise kompensiert werden. 2.4 Digitale Volltexte
Wie weiter oben bereits angesprochen, sieht das Konzept der Virtuellen Fachbibliotheken nicht nur die Bereitstellung von bibliographischen und Katalogdaten für das betreffende Fachgebiet vor, sondern auch die Zugänglichmachung relevanter elektronischer Volltexte. Als für die Buchwissenschaft wichtigster Volltextinhalt von b2i ist in diesem Zusammenhang die digitale Ausgabe des Handbuchs der historischen Buchbestände in Deutschland, Österreich und Europa zu nennen, die in Form eines interaktiven Wikis präsentiert wird. Ins Leben gerufen durch den Münsteraner Anglisten Bernhard Fabian und gefördert von der Volkswagen-Stiftung im Rahmen des Programms »Beispiele kulturwissenschaftlicher Dokumentation« stellt das Handbuch eine beeindruckende Gemeinschaftsarbeit von mehr als 1 600 Beiträgern dar.34 Die gedruckte Ausgabe erschien in insgesamt 43 Bänden (22 Bände für Deutschland, vier Bände für Österreich sowie zehn Bände zu deutschsprachigen historischen Buchbeständen in anderen Räumen Europas und insgesamt sechs Registerbände) zwischen 1992 und 2001. Mit der Konzeption des Handbuchs reagierte Fabian auf die spezifisch deutsche Situation des Buch- und Bibliothekswesens, die durch das Fehlen einer historisch langfristig gewachsenen Nationalbibliothek sowie durch eine große Vielfalt an regionalen Bibliotheken mit bedeutenden Altbeständen, über die vor Erscheinen des 34
Zu Entstehung und Konzeption des Handbuchs vgl. Fabian: Handbuch der historischen Buchbestände, S. 17–20.
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Handbuchs ein synoptischer Überblick nur schwer zu gewinnen war, gekennzeichnet ist. Das Fabian-Handbuch verfolgt vor diesem Hintergrund mehrere Ziele: Zum einen will es als eine Art »Bestands-Baedeker«35 dienen und eine detaillierte Übersicht über die historischen Buchbestände in deutschen und europäischen Bibliotheken ermöglichen, wobei hierunter Werke von Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern bis ins Jahr 1900 verstanden werden. Die manchmal fehlende oder mangelhafte Altbestandskatalogisierung, zumal in kleineren Häusern, soll so kompensiert und die Zugänglichkeit historischer Materialien für die geistes- und damit nicht zuletzt buchwissenschaftliche Forschung erleichtert werden. Zum anderen stellt das Handbuch die summarisch beschriebenen Bestände einzelner Bibliotheken in ihre historischen und systematischen Zusammenhänge, liefert einen Abriss der geschichtlichen Entwicklung jeder einzelnen erfassten Bibliothek und erweist sich so als Fundgrube für den an Fragen der Bibliotheksgeschichte im engeren und den an kulturwissenschaftlichen und kulturhistorischen Zugängen zum Phänomen Bibliothek im weiteren Sinn interessierten Wissenschaftler. Hierbei liegt es auf der Hand, dass die kostenlose Bereitstellung36 des Volltexts in digitaler Form eine Reihe von Vorteilen bringt, deren augenfälligster zweifellos in den stark erweiterten Recherchemöglichkeiten für den Benutzer besteht. Unter http://www.b2i.de/ ist eine Volltextsuche über alle Bände des Handbuchs erreichbar, die es erlaubt, in Sekundenschnelle Suchanfragen abzusetzen, die des großen Ermittlungsaufwands wegen unter Heranziehung allein der gedruckten Ausgabe überhaupt nicht beantwortbar gewesen wären. Daneben bietet die Seite über ein Verzeichnis der einzelnen Bände sowie über mehrere Register auch einen systematischen Zugriff auf das gesammelte Datenmaterial. Dieser Zugangsweg kann zum Browsen, Stöbern und Schmökern genutzt werden. Der zweite große Mehrwert der digitalen Aufbereitung des Handbuchs liegt in der problemlosen Aktualisierbarkeit der Daten. Die Präsentation in Form eines Wikis erlaubt die einfache Ergänzung der enthaltenen Beiträge, wenn neue Forschungsergebnisse erzielt bzw. weitere Informationen über die im Handbuch beschriebenen Bibliotheken und ihre Be35 36
Krause: Handbuch der historischen Buchbestände, S. 101. Die Bereitstellung des Handbuchs im Rahmen des Wissenschaftsportals b2i erfolgt durch die SUB Göttingen und konnte mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Nationalbibliothek, des Georg Olms-Verlags Hildesheim und des Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur realisiert werden.
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stände gewonnen werden. Mitarbeiter der im Handbuch beschriebenen Bibliotheken können bei der SUB Göttingen einen Zugangsschlüssel anfordern, der ihnen einen schreibenden Zugriff auf den Eintrag der eigenen Einrichtung erlaubt. Die Aktualisierung nehmen dann die Mitarbeiter selbst vor, wobei alle Änderungen von der SUB Göttingen aber einer Qualitätskontrolle unterzogen werden. Aus rechtlichen Gründen kann derzeit nur ein Teil des Handbuchs bearbeitet werden. Über das Handbuch der historischen Buchbestände hinaus bietet b2i weitere Volltextangebote, die für die Buchwissenschaft aber inhaltlich weniger relevant sind. Hierzu zählen Info-Data eDepot, eine vom Informationszentrum Potsdam gehostete Volltextdatenbank, die bibliotheks- und informationswissenschaftliche Beiträge enthält, welche häufig eine starke Technikorientierung aufweisen,37 GOEDOC, der Dokumentenserver der SUB Göttingen, auf dem derzeit nur einige wenige bibliothekarische oder buchwissenschaftliche Volltexte vorhanden sind sowie das Open-AccessArchiv E-Prints in Library and Information Science (E-LIS), das ebenso wie Info-Data eDepot eher für die aus der Bibliotheks- und Informationswissenschaft kommenden Benutzer des Wissenschaftsportals von Interesse sein dürfte. 2.5 Ein Fundus qualitätskontrollierter Internetquellen – Der Fachinformationsführer b2i-Guide
Mit der Ausbreitung des Internet ist in den letzten Jahren nicht nur die Zahl werblicher, kommerzieller und privater Homepages ins beinahe Unermessliche gestiegen, das Netz bietet inzwischen auch eine große und stetig wachsende Zahl wissenschaftlich relevanter Webseiten für so gut wie jedes Fachgebiet, die in b2i vertretenen Disziplinen der Buch-, Bibliotheks- und Informationswissenschaft natürlich nicht ausgenommen, egal ob es sich nun um die Homepage der Deutschen Buchwissenschaftlichen Gesellschaft, eine biographische Online-Datenbank zu den ersten Druckern in der Schweiz oder eine umfangreiche, mit vielen Beispielen illustrierte Zusammenstellung zum bibliophilen Sammeln von Malerbüchern handelt. Die Schwierigkeit besteht freilich darin, solche Perlen aus dem endlosen Meer des World Wide Web herauszufischen, ohne dabei findigen Geschäftemachern oder pseudowissenschaftlichen Wichtigtuern aufzusitzen, ganz 37
Zur Volltextdatenbank Info-Data eDepot vgl.: Bassenge/Falke: INFODATA-eDepot.
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abgesehen davon, dass auch für die Identifizierung nützlicher buchwissenschaftlicher Webressourcen der Leitsatz gelten dürfte, dass man nur nach Dingen suchen kann, von deren Existenz man schon weiß. Suchmaschinen schaffen hier nur sehr bedingt Abhilfe, da sie zum einen keinerlei Qualitätskontrolle bieten und zum anderen in der Regel unüberschaubare Treffermengen zurückliefern. Interessante Ressourcen können dabei durchaus auf den hinteren Rängen der Ergebnisliste, die meist nicht mehr beachtet werden, verborgen bleiben. Um diese Mängel zu kompensieren, haben bereits in den 1990er Jahren zahlreiche Anbieter, darunter viele Bibliotheken, begonnen, mehr oder weniger umfangreiche Linklisten ins Netz zu stellen, zunächst noch ohne jede fachliche Beschränkung. Für den Benutzer war diese Lösung allerdings keineswegs optimal, da er bei der Suche nach qualitativen Internetquellen seines Fachgebiets zahllose Linksammlungen durchsehen musste und sich die vielen bibliothekarischen Webangebote teils auch noch gegenseitig erschlossen, sodass man sich bei deren Durchsicht oft ohne nennenswerten Informationsgewinn im Kreis bewegte.38 Ein effektiveres Verfahren zur Erschließung und Zugänglichmachung fachbezogener Internetquellen, welches auch für den Fachwissenschaftler als Benutzer zu deutlich besseren Ergebnissen führt, bietet das Konzept der Subject-Gateways, wie es in den späten 1990er Jahren zuerst in Großbritannien entwickelt wurde.39 Unter einem Subject-Gateway40 oder Fachinformationsführer versteht man einen Internetservice, der den systematischen, in der Regel durch ein sachgruppenorientiertes Browsing unterstützten Zugriff auf Internetressourcen eines Fachs oder eines Fachclusters erlaubt und eine detaillierte Beschreibung der gesammelten Ressourcen beinhaltet. Die Begutachtung und Auswahl der Internetquellen erfolgt händisch bzw. intellektuell anhand eines schriftlich festgelegten Sammelprofils und nach einheitlichen Qualitätskriterien durch Experten des jeweiligen Fachgebiets. Zur Erschließung werden bibliothekarische und informationswissenschaftliche Verfahren und Standards (Klassifikationssysteme, kontrollierte Vokabulare etc.) eingesetzt. Der Service wird regelmäßig gepflegt und auf seine Aktualität hin geprüft. Das Wissenschaftsportal b2i bietet unter dem Namen b2i-Guide einen umfassenden Fachinformationsführer für die Buch-, Bibliotheks- und 38 39 40
Vgl. Plassmann: Bibliotheken, S. 138f. Vgl. Plassmann, S. 138f. Zur Definition vgl. Koch: Quality-controlled subject gateways, bes. S. 24f.
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Informationswissenschaft, der alle gerade genannten Anforderungen erfüllt. An der Erstellung und Pflege dieses Fachinformationsführers ist die Erlanger Buchwissenschaft maßgeblich beteiligt. Der b2i-Guide verzeichnet gegenwärtig41 ca. 2 200 fachspezifische Informationsangebote im Web, darunter mehr als 700 in erster Linie für die Buchwissenschaft relevante. Diese Zahl zeigt bereits, dass das Ziel des b2i-Guides darin besteht, auf Qualität und Klasse statt auf Masse zu setzen: Nur hochwertige, für die buchwissenschaftliche Forschung wirklich relevante Webseiten werden aufgenommen. Man erhält folglich auf eine Anfrage hin natürlich nicht so viele Treffer wie etwa bei Google, aber dafür sollten es eben die vom fachlichen Standpunkt aus gesehen wichtigsten Webangebote sein. Beim Aufbau des b2i-Guides haben wir uns bemüht, zunächst vorrangig die wichtigen Forschungseinrichtungen, Organisationen und sonstige Institutionen der Buchwissenschaft aus Europa und dem angloamerikanischen Raum aufzunehmen. Daneben wurden auch einzelne Forschungsprojekte, Zeitschriften, Digitalisierungsvorhaben, Fachdatenbanken und sonstige Zusammenstellungen berücksichtigt. Zeitlich und inhaltlich deckt die Sammlung ein breites Spektrum für die Buchwissenschaft relevanter Themen, von der Handschriftenkunde über die Frühdruckforschung bis hin zu Fragen des modernen Buchhandels und Verlagswesens, ab. Einen bedeutenden Mehrwert dieses Angebots stellt neben der qualitätskontrollierten, sozusagen handverlesenen Auswahl der Internetquellen deren tiefgehende inhaltliche Erschließung dar: Jede im b2i-Guide nachgewiesene buchwissenschaftliche Ressource ist klassifikatorisch erschlossen sowie mit einem Abstract und mit Schlagwörtern aus dem kontrollierten Vokabular der Schlagwortnormdatei versehen. Durch die Einbeziehung all dieser Metadaten ermöglicht der b2iGuide dem Wissenschaftler eine wesentlich gezieltere Suche nach fachlich relevanten Internetquellen, als eine herkömmliche Suchmaschine es je könnte. Ausgangspunkt der Recherche durch den Benutzer ist hierbei die übergreifende Homepage des Projekts oder eine separate Rechercheoberfläche, die es erlaubt, nur die im b2i-Guide erfassten Ressourcen zu durchsuchen.42 Zur Pflege, Erweiterung und Aktualisierung des Fachinformationsführers, die laufend erfolgen, wird das von der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg im Rahmen eines DFG-Projekts entwickelte Softwaresystem Academic LinkShare (ALS) eingesetzt. 41 42
Stand: März 2008. Die separate Rechercheoberfläche für den b2i-Guide wird gegenwärtig von der Bayerischen Staatsbibliothek neu aufgebaut.
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3 Suchfunktionen und Recherchemöglichkeiten Ehe eine abschließende Zusammenfassung zum gegenwärtigen Stand des Projekts und ein Ausblick auf künftige Entwicklungsperspektiven gegeben wird, soll im Folgenden die b2i-Webseite noch etwas näher vorgestellt werden. Besondere Berücksichtigung finden dabei die für den an buchwissenschaftlichen Fragestellungen interessierten Wissenschaftler relevanten Rechercheoptionen. Die Startseite von b2i ist simpel und übersichtlich gestaltet. Ziele und Angebote des Wissenschaftsportals werden kurz erläutert und die am Aufbau beteiligten Projektpartner genannt. Ferner ist auch auf dieser Einstiegsseite schon eine Recherchemöglichkeit enthalten. Hierbei handelt es sich um eine Einfeldsuche, von wo aus die Suchanfrage automatisch an alle in b2i eingebundenen Datenquellen weiterleitet wird. Dabei spielt es keine Rolle, in welchem Teil der Ressource (z. B. Titelfeld, Schlagwortfeld etc.) der Suchbegriff vorkommt – jede Übereinstimmung führt zu einem Treffer. Für komplexe Suchanfragen steht die »Erweiterte Metasuche« zur Verfügung. Hier können nicht nur die zu durchsuchenden Felder und Datenquellen ausgewählt, sondern auch mehrere Suchbegriffe mit Hilfe der Operatoren UND, ODER bzw. UND NICHT miteinander verknüpft werden. Forschungsrelevante Ressourcen zu finden, die sich mit Gutenbergs Donatdrucken oder dem Druck der Türkenbulle, nicht aber mit Gutenbergs Bibeldruck befassen, ist mit Hilfe der »Erweiterten Metasuche« in b2i also kein Problem. Hat man erfolgreich eine Suche abgesetzt, so gelangt man zur Trefferanzeige. Diese besteht aus einer Liste, in der alle abgefragten Datenquellen mit den von ihnen gelieferten Ergebnissen einzeln aufgeführt werden. Selbstverständlich kann man sich die gefundenen Datensätze auch ausführlicher anzeigen lassen. Außerdem besteht die Möglichkeit, Rechercheergebnisse in einer Sammelmappe zwischenzuspeichern und gefundene bibliographische Angaben im RIS- oder ASCII-Format für das eigene Literaturverwaltungssystem am heimischen PC herunterzuladen. Auch der Suchverlauf selbst kann gespeichert werden. Bei Monographien und Zeitschriftenaufsätzen besteht ferner die Möglichkeit eine Fernleihe oder die Bestellung bei einem Dokumentlieferdienst auszulösen.
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4 Gegenwärtiger Stand des Projekts, Nutzung und Entwicklungsperspektiven Das Wissenschaftsportal b2i ist seit dem 8. Mai 2007 online. Das Angebot wird, obwohl die drei Fachcommunities, an die dieses Angebot sich richtet, im deutschsprachigen Raum vergleichsweise klein sind, sehr gut genutzt, wobei insbesondere die Nutzungszahlen der buchwissenschaftlichen Module des Portals hervorragen. Die erste Förderphase des Projekts durch die DFG wurde mit 31. Dezember 2007 beendet. Gleichzeitig ging das »Sondersammelgebiet Informations-, Buch- und Bibliothekswesen«, mit dem die federführende Zuständigkeit für das Wissenschaftsportal eng verknüpft ist, von der SUB Göttingen auf die Bayerische Staatsbibliothek in München über. Dort ist inzwischen eine Mitarbeiterstelle für die Weiterführung von b2i eingerichtet worden. Im Juli 2009 wurde von der DFG darüber hinaus ein Antrag der Erlanger Buchwissenschaft (Antragstellerin Ursula Rautenberg) zum weiteren Ausbau der buchwissenschaftlichen Teile des Portals in vollem Umfang genehmigt. Dieser Antrag zielt besonders auf die Vernetzung der Bibliotheks-, Buch- und Informationswissenschaft mit benachbarten, auch interdisziplinär arbeitenden Fächern, die Vermittlung fachbezogener Informationskompetenz an Studierende sowie auf eine Internationalisierung des Portals ab. Die Umsetzung durch die Erlanger Buchwissenschaft wird in enger Zusammenarbeit mit der Bayerischen Staatsbibliothek München und weiteren namhaften Partnerinstitutionen erfolgen. Im Einzelnen im Rahmen der Arbeiten, die im Oktober 2009 in Erlangen begonnen haben, vorgesehen sind unter anderem die Einrichtung eines E-Learning-Tutorials zu Fragen der Literatur- und Informationsbeschaffung für Studierende der Buchwissenschaft, der Aufbau einer buchwissenschaftlichen Expertendatenbank, die Einrichtung eines Newsletters und die Integration weiterer buchwissenschaftlicher Datenbestände in die Metasuche des Portals.
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5 Literaturverzeichnis Bassenge, Annette/Falke, Karen: Das Informationszentrum für Informationswissenschaft und -praxis der Fachhochschule Potsdam. In: Nachrichten für Dokumentation 45 (1994), S. 305–307. Bassenge, Annette/Falke, Karen: INFODATA-eDepot – Die neue Datenbank des Informationszentrums für Informationswissenschaft und -praxis. In: Libreas 2005, H. 2. http://www.ib.hu-berlin.de/~libreas/libreas_neu/ausgabe2/007inf.htm [02.01.2008]. Delp, Ludwig: Buchwissenschaften – Dokumentation und Information. Fünfzig Jahre Deutsches Bucharchiv München, eine zeitdokumentarische Bestandsaufnahme. Wiesbaden: Harrassowitz 1997 (Buchwissenschaftliche Beiträge aus dem Deutschen Bucharchiv München. 57). Eck, Reimer: The Decline and Fall of BBB. A Valedictory Volume = Bibliographie der Buch- und Bibliotheksgeschichte (BBB). Band 22/23. 2002/2003. Mit Nachträgen aus den Jahren 1980 bis 2001. Ein ganz persönlicher Nachruf auf eine verdienstvolle Bibliographie. In: Bibliothek. Forschung und Praxis 30 (2006), S. 226–231. Fabian, Bernhard (Hrsg.): Handbuch der historischen Buchbestände in der Bundesrepublik Deutschland und in Berlin (West). – Ein Zwischenbericht. Münster: o. V. 1987. Fabian, Bernhard/Kloth, Karen: Das Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland. – Ein Forschungsbericht der Volkswagen-Stiftung. In: Jahrbuch der historischen Forschung in der Bundesrepublik Deutschland 17 (1991), S. 17–20. Häntzschel, Günter: Ludwig Delp und sein Deutsches Bucharchiv. In: Marginalien 2007, H. 186, S. 52–54. Hobohm, Hans-Christoph/Nitrowski, Christoph: Die Informationswissenschaften in der Virtuellen Fachbibliothek Bibliotheks-, Buch- und Informationswissenschaften (ViFa BBI). In: Content. 58. Jahrestagung der DGI, Frankfurt am Main, 4. bis 6. Oktober 2006, Proceedings; 28. Online-Tagung der DGI. Hrsg. v. Marlies Ockenfeld. Frankfurt a. M.: DGI 2006 (Tagungen der Deutschen Gesellschaft für Informationswissenschaft und Informationspraxis. 8), S. 9–13. Kerlen, Dietrich/Kirste, Inka (Hrsg.): Buchwissenschaft und Buchwirkungsforschung. – VIII. Leipziger Hochschultage für Medien und Kommunikation. Leipzig: Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft 2000. Koch, Traugott: Quality-controlled subject gateways. Definitions, typologies, empirical overview. In: Online Information Review 24 (2000), S. 24–34. Krause, Friedhilde: Das Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland. In: Marginalien 1992, H. 128, S. 101–112. Meyer, Horst: Vorwort. In: The decline and fall of BBB. A valdectiory volume. – Mit Nachträgen aus den Jahren 1980 bis 2001. Bad Iburg: Bibliographischer Verlag Meyer 2004 (Bibliographie der Buch- und Bibliotheksgeschichte. 22/23.2002/2003), S. [9]. Migoń, Krzystof: Das Buch als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. – Buchwissenschaft und ihre Problematik. Wiesbaden: Harrassowitz 1990 (Buchwissenschaftliche Beiträge aus dem Deutschen Bucharchiv München. 32). [Zuerst in polnischer Sprache erschienen.] N.N.: 60 000 Bände von München nach St. Gallen. – Die Kantonsbibliothek erhält einzigartigen Bestand rund um das Medium Buch. In: BuB 59 (2007), S. 160f. Osterode, Andrea: Wegweiser durch den Dschungel bibliothekarischer Fachinformation. – www.bibliotheksportal.de bietet Auskunft für Experten und Externe. In: BuB 59 (2007), S. 660–662.
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Plassmann, Engelbert u. a.: Bibliotheken und Informationsgesellschaft in Deutschland. – Eine Einführung. Wiesbaden: Harrassowitz 2006. Raabe, Paul: Geleitwort. In: Wolfenbütteler Bibliographie zur Geschichte des Buchwesens im deutschen Sprachgebiet: 1840–1980, (WBB). Bearb. v. Erdmann Weyrauch. Bd. 1. München u. a.: Saur 1990, S. [xiii]f. Rautenberg, Ursula: Wir lesen Bücher, nicht Texte. In: Buchwissenschaft und Buchwirkungsforschung. – VIII. Leipziger Hochschultage für Medien und Kommunikation. Hrsg. v. Dietrich Kerlen u. Inka Kirste. Leipzig: Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft 2000, S. 31–42. Rautenberg, Ursula/Wetzel, Dirk: Buch. Tübingen: Niemeyer 2001 (Grundlagen der Medienkommunikation. 11). Schreiber, Klaus: Rez. zu: »Bibliographie der Buch- und Bibliotheksgeschichte: (BBB). Bearb. von Horst Meyer. Bd. 3 1983 und 4 1984«. In: ZfBB 33 (1986), S. 396f. Schreiber, Klaus: Rez. zu: »Bibliographie der Buch- und Bibliotheksgeschichte: (BBB). Annual bibliography of the history of the printed book and libraries: ABHB, Book history online [Elektronische Ressource]: BHO«. In: Informationsmittel für Bibliotheken. http://naxos.bsz-bw.de/rekla/show.php?mode=source&eid=IFB_05-1_028 [02.01.2008]. Stäcker, Thomas: Vorbemerkung zur Datenbank. Wolfenbüttel 2006. http://diglib.hab.de/edoc/ed000003/introdb.htm [02.01.2008]. Strauch, Dietmar: Titelliste, Current Contents, Current Titles. In: Grundlagen der praktischen Information und Dokumentation. Hrsg. v. Rainer Kuhlen u. a. Bd. 2, Glossar. 5. Aufl. München u. a.: Saur 2004, S. 120. Tröger, Erika: Rez. zu: »Wolfenbütteler Bibliographie zur Geschichte des Buchwesens im deutschen Sprachgebiet: 1840–1980; (WBB). Bearb. von Erdmann Weyrauch. Bd. 7 u. 8.« In: ZfBB 49 (1999), S. 175–178. Verbundzentrale des Gemeinsamen Bibliotheksverbundes (VZG): Online Contents Sondersammelgebiete – OLC-SSG. Göttingen 2007. http://www.gbv.de/vgm/info/biblio/ 01VZG/06Publikationen/PDF/PDF_2803.pdf. [08.01.2008]. Weber, Marion: Eine Virtuelle Fachbibliothek für den bibliothekarischen und informationswissenschaftlichen Sektor – überflüssig oder überfällig? In: Information – Wissenschaft und Praxis 55 (2004), S. 89–94. Weyrauch, Erdmann: Das Ende der Bibliographie – Beginn der Wissenschaft? In: Buchwissenschaft und Buchwirkungsforschung. – VIII. Leipziger Hochschultage für Medien und Kommunikation. Hrsg. v. Dietrich Kerlen u. Inka Kirste. Leipzig: Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft 2000, S. 67–75.
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Die Historische Kommission des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels 1 2 3 4 5 5.1 5.2
Gründung der Historischen Kommission Neugründung Buchhandelsgeschichtsschreibung Veränderungen Literaturverzeichnis Quellen Forschungsliteratur
Die Historische Kommission des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels in Frankfurt a. M. ist einer der Ausschüsse dieses Wirtschaftsverbands wie der Verleger- oder Sortimenterausschuss, die die Belange der jeweiligen Buchhandelssparten vertreten. Die Historische Kommission betreibt selbst keine Forschungen, sondern regt diese nur an, oft sind es ihre Mitglieder und deren Institutionen, die sie umsetzen. Sie setzt sich zusammen aus Wissenschaftlern, Bibliothekaren, Buchhändlern und Antiquaren; sie bildet eine Gesprächs- und Kommunikationsplattform für die gegenseitige Information und Anregung. Der thematische Schwerpunkt der Arbeit der Historischen Kommission liegt weniger auf dem Buch als Materialobjekt oder bibliophilem Gegenstand, den vermittelten Inhalten oder ihrer Wirkung als vielmehr auf seiner Produktion, Verbreitung und, wenn auch in geringerem Grade, seiner Rezeption. Zu diesem Themenspektrum gibt sie eigene Publikationen heraus. Sie hat auch die Fachaufsicht über das Historische Archiv und die Bibliothek des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels.1 Fragestellungen wie die nach der Verbreitung und dem Handel mit Büchern kristallisierten sich in der Vergangenheit erst langsam heraus, denn die Pflege der Geschichte des Buchs oder gar die Reflexion des Mediums lag 1
Vgl. dazu: Staub: Historische Forschung, S. 341f.
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lange Zeit in den Händen der Gelehrten und Bibliothekare, für die andere Fragen relevant waren. Erst im Zuge der Selbstreform des Buchhandels seit dem 18. Jahrhundert kam das Thema langsam in den Blick.2 So wurde z. B. zur Regulierung von Organisationsfragen 1825 in Leipzig der Börsenverein der Deutschen Buchhändler gegründet, der alle Sparten des Gewerbes vereinen sollte. Zunächst noch ohne große Wirkungskraft übernahm er nach der Reichsgründung normierende Funktion.
1 Gründung der Historischen Kommission Parallel mit den zunehmenden Strukturierungsprozessen und Professionalisierungstendenzen begann auch die Beschäftigung mit der Geschichte des Buchhandels. Es waren nicht die national und politisch orientierten Universitätshistoriker sondern einige Verleger mit akademischer Ausbildung, die sich dieses Feld erschlossen. Leipziger Firmeninhaber wie Eduard Brockhaus versuchten mit der Darstellung der Geschichte ihres Hauses3 den Spagat zwischen einer ökonomischen Erfolgsbilanz und den Ansätzen einer Buchhandelsgeschichte als Verbreitungs- und Rezeptionsprozess. Oskar von Hase (Breitkopf und Härtel) wandte sich sogar einem Gegenstand aus weit zurückliegender Zeit zu, der Dokumentation der Korrespondenz der Nürnberger Drucker-Verleger Koberger.4 Auch andere ›Einzelkämpfer‹ arbeiteten an ähnlichen Themen: Der Verleger Gustav Schwetschke aus Halle wertete die Messkataloge von 1564 bis 1864 statistisch aus5; Eduard Frommann aus Jena befasste sich mit dem Buchhandel des 16. Jahrhunderts in Frankreich und Italien.6 Sie arbeiteten auf dem gleichen noch unbeackerten Feld; nicht zufällig standen sie alten, eingesessenen Firmen vor. Auch der Antiquar Albrecht Kirchhoff publizierte seit den fünfziger Jahren zahlreiche buchhistorische Untersuchungen; er gilt als eigentlicher »Urvater der wissenschaftlichen Buchhandelsgeschichte«.7 Die Gründung der Historischen Kommission ist das Ergebnis einer Initiative von Brockhaus. Sein Vorschlag entsprach ganz dem vorherrschenden Geist des Historismus, der sich auf nahezu allen Gebieten als fundierende Wissenschaft etabliert hatte. Die Werke Theodor Mommsens oder Leopold 2 3 4 5 6 7
Vgl. Wittmann: Quellen zur Geschichte des Buchwesens, besonders die Bde. 1–6. Brockhaus: Die Firma F. A. Brockhaus. Hase: Die Koberger. Schwetschke: Codex nundinarius. Frommann: Aufsätze zur Geschichte des Buchhandels. Brauer: Kurzbiographien, S. 114.
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von Rankes hatten Maßstäbe gesetzt, denn die »epochentypische Form der Darstellung [war] die große Erzählung, die im Fluß der Ereignisse die Entstehung und Veränderung der menschlichen Welt als Kulturleistung realistisch präsentiert.«8 Auch der Buchhandel, der seit Friedrich Christoph Perthes seine nationale Aufgabe als einigendes Band betonte, sah die Notwendigkeit einer Darstellung seiner Geschichte gegeben. Um die verschiedenen Einzelaktivitäten zu bündeln, zu kanalisieren und aus dem privaten Bereich heraus zu heben, stellte Brockhaus am 8. April 1875 einen Antrag an den Vorstand des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler: »Ich halte es für eine würdige Aufgabe unseres Vereins, die er neben seinen direkten Aufgaben und unbeschadet derselben erfüllen kann, eine ›Geschichte des Deutschen Buchhandels‹ ins Leben zu rufen. Ich habe ferner die Überzeugung, dass unser Verein zu diesem Unternehmen vorzugsweise berechtigt und verpflichtet ist.«9 Dieser Vorschlag fiel auf fruchtbaren Boden, der Börsenverein der Deutschen Buchhändler befürwortete das Projekt und unterstützte die neu gegründete Historische Kommission auch finanziell. Der Historischen Kommission gehörten nur wenige Mitglieder an, allen voran Brockhaus, ihr ›spiritus rector‹, der bis zu seinem Tod 1914 ihre Tätigkeit aufmerksam begleitete. Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs waren Wissenschaftler und Verleger Mitglieder der Kommission, wie der Germanist Friedrich Zarncke oder August Schürmann, der Leiter der Buchhandlung des Waisenhauses in Halle, der mit zahlreichen buchhandelsgeschichtlichen Publikationen hervorgetreten war, die Wissenschaftsverleger Walter de Gruyter, Karl Trübner und Gustav Fischer oder der Direktor der Königlichen Bibliothek in Berlin, Paul Schwenke.10 Zu der historistischen Grundstimmung passte es auch, dass Gustav Freytag, der Herausgeber der populären Quellenedition Bilder aus der deutschen Vergangenheit und Verfasser historischer Romane wie Die verlorene Handschrift, 1877 in die Kommission berufen wurde und ihr bis zu seinem Tode im Jahre 1895 angehörte. Zur Vorbereitung und zur Materialsammlung für eine Buchhandelsgeschichte gab die Kommission das Archiv für Geschichte des Deutschen Buchhandels (AGDB) heraus, das in 20 Bänden von 1878 bis 1898 erschein. Zum Publikationsprofil des AGDB gehörten archivalische Funde wie die von Georg Buchwald mitgeteilten Bücherbezüge Georg Spalatins.11 Mit Abstand 8 9 10 11
Rüsen: Historik, S. 90. Zitiert nach Brauer: Die Historische Kommission des Börsenvereins, S. 51. Vgl. Brauer: Kurzbiographien, S. 116–122. Buchwald: Archivalische Mitteilungen über Bücherbezüge.
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die meisten Beiträge stammten von Albrecht Kirchhoff, z. B. über Die Anfänge des Leipziger Messkatalogs oder Die Leipziger Büchermesse von 1550–1650.12 Die Mehrzahl seiner Beiträge beschäftigte sich mit Themen des 16. und 17. Jahrhunderts, der ›terra incognita‹, nicht nur des Buchhandels. Neben Kirchhoff trat als weiterer wichtiger Beiträger F. Hermann Meyer hervor, dessen Themen mehr das 19. Jahrhundert behandelten, so die Beiträge über die Genossenschaftlichen und Gelehrten-Buchhandlungen des 18. Jahrhunderts oder über die Bücherverbote im Königreich Preußen von 1834 bis 1882.13 Zum Bearbeiter ihres Projekts der Buchhandelshistorie berief die Kommission 1878 den Juristen und Fachschriftsteller Friedrich Kapp. Er hatte sich durch Publikationen wie der Geschichte der deutschen Einwanderung in Amerika oder Der Soldatenhandel deutscher Fürsten nach Amerika, 1775 bis 178314 einen Namen gemacht. 1848 nach Amerika emigriert, kam Kapp enttäuscht von der Diskrepanz zwischen aufklärerischer Staatsdoktrin und gesellschaftlicher Realität in der neuen Welt 1870 nach Berlin zurück, denn der Wunschtraum seiner Generation, die nationale Einheit, schien erfüllt. Er bewegte sich gesellschaftlich und politisch im gleichen Milieu wie Brockhaus und war z. B. wie dieser auch zeitweilig Reichtagsabgeordneter der Nationalliberalen Partei.15 Über die Anlage des ersten Bandes der Geschichte des deutschen Buchhandels, der von der Erfindung des Buchdrucks bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts reichte, schrieb er programmatisch: In unseren Tagen, wo die zersplitterten deutschen Stämme kaum erst ihre äußere Einheit wiedergefunden haben, kann nur diejenige Geschichtsschreibung anregend und nachhaltig wirken, welche diese vaterländischen Strömungen zu läutern und zu vertiefen strebt, welche, indem sie sich der Einzeldarstellung eines so wichtigen Förderers unsrer heimischen Bildung, wie des Buchhandels, zuwendet, dem Geiste unseres Volkes bis ins A-B-C-Buch hinein, wenn ich so sagen darf, nachgeht und welche ihn von seinen bescheidensten Regungen an bis zu seinen Großthaten dem allgemeinen Verständnis näher rückt.16
Nach Kapps plötzlichem Tod schlossen Kirchhoff, Meyer und Zarncke den Band ab; er erschien 1886.17
12 13 14 15 16 17
Kirchhoff: Die Anfänge des Leipziger Messkatalogs; Kirchhoff: Die Leipziger Büchermesse. Meyer: Die Genossenschaftlichen und Gelehrten-Buchhandlungen; Meyer: Bücherverbote im Königreich Preußen. Kapp: Geschichte der deutschen Einwanderung; Kapp: Der Soldatenhandel deutscher Fürsten. Vgl. Wehler: Friedrich Kapp. Briefe. Kapp: Bericht an die Historische Kommission, S. 1f. Geschichte des deutschen Buchhandels, Bd. 1, 1886.
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Mehrere Versuche, einen qualifizierten Nachfolger zu finden, scheiterten. Erst nahezu 20 Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes konnte 1903 Johann Goldfriedrich mit der Fortführung der Arbeit beauftragt werden. Er war Mitarbeiter und Assistent des einflussreichen Leipziger Historikers Karl Lamprecht, der selbst von 1892 bis zu seinem Tod 1915 fast ununterbrochen Mitglied der Kommission war. Lamprecht hatte seine Theorie von der »sozio-psychischen Kraft« deutlich in der Deutschen Geschichte (1891–1909) demonstriert. Diese hatte zu einer heftigen öffentlichen Kontroverse mit Max Weber geführt, dem sogenannten »Lamprecht-Streit«, in dem sich auf die Dauer Webers rationalistische Position durchsetzte.18 Im Gefolge Lamprechts behandelte Goldfriedrich seinen Stoff ebenfalls weitgehend nach der sozial-psychischen Methode. Er orientierte sich deshalb nicht an buchhandelsgeschichtlichen Eckdaten, vielmehr an den großen politisch-literarischen Einschnitten – z. B. Friedrich II. von Preußen, Sturm und Drang, Napoleon – und ihren Auswirkungen auf die Buchproduktion und den Buchmarkt.19 Es gelang Goldfriedrich in der relativ raschen Zeit von 1908 bis 1913, die noch ausstehenden drei Bände vorzulegen. Sie behandelten die Geschichte des Buchhandels vom Ende des Dreißigjährigen Kriegs bis zur Reichsgründung. Mit dem Abschluß der Geschichte des deutschen Buchhandels (dem ›KappGoldfriedrich‹) war am Ende des Kaiserreichs auch die erste Phase in der Arbeit der Historischen Kommission beendet. Sie hatte ihren Ursprung in einer Zeit der wirtschaftlichen Hochblüte gehabt, die dem Buchhandel ein entsprechendes Selbstbewusstsein zuwachsen ließ. Es basierte nicht nur auf der zunehmenden allgemeinen Prosperität, sondern speziell für den Buchhandel auf einer bisher nicht gekannten nationalen und internationalen Bedeutung. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs jedoch waren durch die Inflation und die Weltwirtschaftskrise völlig veränderte Bedingungen entstanden. Die Absatzprobleme und die ›Bücherkrise‹ rückten die Alltagssorgen in den Vordergrund. So konnte der für die Benutzung unerlässliche Registerband zum ›Kapp-Goldfriedrich‹ erst im Jahr 1923 erscheinen, was die Rezeption der Bände im Buchhandel ebenso verzögerte wie bei den zunehmend geistesgeschichtlich orientierten historischen Wissenschaften. Es entsprach der neuen Situation, dass für die publizistischen Aktivitäten des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler zu seiner Hundertjahrfeier im Jahr 1925 die Historische Kommission nicht heran18 19
Vgl. dazu Rüsen: Historik, S. 91. Vgl. dazu Estermann: Buchhandelsgeschichte.
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gezogen wurde. Vielmehr wurden Friedrich Schulze20 mit der Abfassung der Monographie Der deutsche Buchhandel und die geistigen Strömungen der letzten hundert Jahre und Gerhard Menz mit dem Sammelband Deutsche Buchhändler beauftragt.21 Dennoch wurde der ›Kapp-Goldfriedrich‹ im Laufe der Jahre zu einem Standardwerk, das das Fundament zur Buchhandelsgeschichtsschreibung gelegt hatte und wegen seines hohen Quellenwerts bald selbst sehr geschätzt wurde. In den schwierigen zwanziger und frühen dreißiger Jahren hatte von 1923 bis 1934 der Göttinger Wissenschaftsverleger Wilhelm Ruprecht (Vandenhoeck & Ruprecht) den Vorsitz der Kommission inne. Trotz der angespannten finanziellen Lage konnte noch 1930 der 21. Band des AGDB erscheinen, in dem Ruprecht selbst einen Beitrag über die Göttinger Gelehrtenbuchhandlungen veröffentlichte.22 In dieser Krisenzeit gehörten u. a. die Wissenschaftsverleger Felix Meiner und Ferdinand Springer sowie der Antiquar Martin Breslauer der Kommission an. Breslauer musste 1933 aus rassischen Gründen Deutschland verlassen, emigrierte nach London, wo er 1940 bei einem deutschen Bombenangriff ums Leben kam.23 Wie die anderen Ausschüsse wurde die Historische Kommission 1934 freiwillig vom Börsenverein der Deutschen Buchhändler im Zuge der nationalsozialistischen Gleichschaltung aufgelöst.
2 Neugründungen Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war Deutschland geteilt; in Leipzig und in Frankfurt etablierten sich in den unterschiedlichen politischen Systemen zwei neue Börsenvereine des Deutschen Buchhandels.24 In dieser Phase des Wiederaufbaus und der Neuorientierung nach der vorangegangenen Katastrophe schienen andere Fragen wichtiger als die Geschichtsschreibung. Dennoch formierte sich im Westen – genauer gesagt in München − eine Gruppe von buchhandelshistorisch Interessierten, die diese Leipziger Tradition fortführen wollten. Zu ihr gehörten die Historikerin Annemarie Meiner (aus der Leipziger Verlegerfamilie Meiner), die mit Arbeiten über den Reclam Verlag oder den Deutschen Verlegerverein 25 20 21 22 23 24 25
Schulze: Der deutsche Buchhandel. Menz: Deutsche Buchhändler. Ruprecht: Göttinger Gelehrtenbuchhandlungen. Vgl. Brauer: Kurzbiographien, S. 126. Vgl. dazu: Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels 1825–2000. Meiner: Der Deutsche Verlegerverein; Meiner: Reclam.
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hervorgetreten war oder der Verlagsbuchhändler und Geschäftsführer des Oldenbourg Verlags, Horst Kliemann, der Standardwerke wie Werbung fürs Buch oder Der Gerechte Ladenpreis publiziert hatte.26 Kliemann ergriff 1953 die Initiative und stellte in Frankfurt den erfolgreichen Antrag auf die Wiederberufung der Historischen Kommission: »Wir beantragen, der Länderausschuß möge dem Vorstand empfehlen, eine Historische Kommission des Börsenvereins zu gründen.«27 Kliemanns Rolle bei der Konstituierung der Historischen Kommission ist durchaus mit der von Brockhaus zu vergleichen, denn beide agierten in entsprechenden Netzwerken. Er war bis zu seinem Tod 1965 Vorsitzender der Kommission. Zu seinem Nachfolger wurde der Hamburger Verleger Friedrich Wittig berufen, der das Amt bis 1980 innehatte. Die 1953 neu gegründete Kommission bestand nur aus vier Mitgliedern, neben Kliemann und Meiner aus München gehörten ihr auch der Antiquar Bernhard Wendt aus Buch am Ammersee sowie Hans Widmann an, Honorarprofessor an der Universität Tübingen und von 1968 bis 1975 Inhaber des Gutenberg-Lehrstuhls in Mainz, des damals einzigen buchwissenschaftlichen Lehrstuhls in Deutschland. Die Zusammensetzung machte zweierlei deutlich: Zum einen die wirtschaftsgeographischen Verschiebungen im Buchhandel von Leipzig in den Westen – speziell nach Süddeutschland, wo München bald zur wichtigsten Verlagsstadt wurde –, zum anderen die Einbindung eines buchhistorischen Lehrstuhlinhabers in die Arbeit der Kommission. Unter der Federführung der Historischen Kommission wurden in Frankfurt eine buch- und buchhandelsgeschichtliche Fachbibliothek sowie ein Historisches Archiv eingerichtet, da man die Leipziger Bestände völlig verloren glaubte. Beide vergrößerten sich nach bescheidenen Anfängen zunehmend. Die Bestände des Leipziger Börsenvereins, soweit sie wie das Archiv den Krieg überdauert hatten, waren durch die deutsche Teilung fast unerreichbar, obwohl es auf inoffizieller Ebene ständig Kontakte gab. Als eigenes Publikationsorgan schuf sich die Frankfurter Kommission das Archiv für Geschichte des Buchwesens (AGB). Es war nicht als unmittelbare Nachfolgerin des alten Archiv für Geschichte des deutschen Buchhandels gedacht, sondern war weiter und offener konzipiert. Im Vorwort zum ersten Band schrieb Kliemann 1958: 26 27
Kliemann: Werbung fürs Buch; Kliemann: Der gerechte Ladenpreis. Zitiert nach Hack: Die neue Historische Kommission, S. 76; Der Börsenverein wurde erst 1955 wieder zugelassen, zuständig war bis dahin der Länderausschuss.
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Heute sehen wir uns vor einer ähnlichen Aufgabe wie 1875. Wir müssen uns ein Organ schaffen, das Materialien und Einzeluntersuchungen zur Geschichte des Buchhandels sammelt, wozu auch Untersuchungen gehören sollen, die für die künftige Geschichtsschreibung dokumentarischen Aussagewert über den Buchhandel in unserer Zeit besitzen. […] Die Aufgaben des neuen ›Archivs‹ werden weiter als früher gespannt sein. Eine Beschränkung auf den deutschen Buchhandel scheint heute nicht mehr gerechtfertigt. Auch sollen Arbeiten aufgenommen werden, die über das Buchhandelsgeschichtliche hinausgehen: die Geschichte des Buches, der Buchdruckerkunst, der Buchbinderei, der Schrift, des Papiers usw. werden berührt werden, wenn auch der Schwerpunkt bei der Geschichte des Buchhandels liegen soll.28
Da das AGB zwar von der Historischen Kommission herausgegeben, nicht aber von einer wissenschaftlichen Gesellschaft getragen und finanziert wurde, musste es anfangs im Rahmen des Börsenblatts für den Deutschen Buchhandel (von 1969 bis 1972 als Historischer Teil) vertrieben werden. Danach kam die Publikation bis 1986 in Lieferungen heraus, später in ein- bis zweimal jährlich erscheinenden Bänden, umfangreiche Arbeiten auch in Separatausgaben. Um die Lücke, die der Wegfall des Historischen Teils hinterlassen hatte, zu füllen, wurde 1972 die Börsenblatt-Beilage Buchhandelsgeschichte (BHG) ins Leben gerufen. Diese Zeitschrift erschien viermal jährlich in einem Umfang von durchschnittlich 40 Seiten. Hier wurden anfangs Auszüge von Beiträgen des AGB publiziert, ab 1979 aber eigene, kürzere wissenschaftliche Beiträge, Rezensionen, Nachrufe und Forschungsberichte.29 In der BHG erschienen z. B. Beiträge von Justus H. Ulbricht über die Intellektuellenreligion im Diederichs Verlag 30 oder von Heinz Sarkowski über das Das »Inselschiff«31. 1997 wurde ein Heft speziell zum 90. Geburtstag von Herbert G. Göpfert konzipiert.32 Die Buchhandelsgeschichte war im Unterschied zum AGB eine offenere Plattform für den sich intensivierenden fachinternen Diskurs. Im Zuge der Umorganisation des Börsenblatts im Jahre 2002 wurde die Zeitschrift eingestellt. Beim AGB war das Publikationsprofil in den ersten 20 Jahren seines Erscheinens weitgehend durch bibliothekarisch-bibliographische Arbeiten bestimmt, oftmals verfasst oder angeregt von Mitgliedern der Kommission wie Widmann oder später von den Bibliothekaren Josef Benzing oder Ferdinand Geldner. Darin bestand durchaus eine Parallele zum alten AGDB. Benzing veröffentlichte hier zahlreiche Titel, etwa die erste Aufla-
28 29 30 31 32
Kliemann: Vorwort, S. 1. Vgl. dazu: Staub: Historische Forschung, S. 338f. Ulbricht: »Wider den Katzenjammer der Entwurzelung«. Sarkowski: Das »Inselschiff«. Herbert G. Göpfert zum 90. Geburtstag. In: BHG 1997, H. 3, S. B 93–B 164.
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ge seines Standardwerks Die deutschen Verleger des 16. und 17. Jahrhunderts.33 So war es Geldner, der in dieser Zeit die meisten Beiträge zum AGB beisteuerte, vorwiegend zur Inkunabelzeit, wie Peter Schöffers Frühzeit 34 oder das vielzitierte Rechnungsbuch des Speyerer Druckherren, Verlegers und Großbuchhändlers Peter Drach.35 Einen weiteren Schwerpunkt bildeten die Handschriften durch die zahlreichen Arbeiten von Hermann Knaus, etwa über die Rheinischen Handschriften in Berlin.36 Das Profil veränderte sich langsam durch die Öffnung zu neueren, literatursoziologischen Themen, so Rolf Engelsings – von 1970 bis 1974 ebenfalls Mitglied der Kommission – epochemachende Studie von 1961 Der Bürger als Leser.37 Einen starken thematischen Impuls erhielt das AGB durch Göpfert. Dank seiner Tätigkeit an der Universität München als Honorarprofessor für »Buch- und Verlagswesen, Editionskunde und literarische Kritik« seit den frühen siebziger Jahren hatte sich eine kleine ›Schule‹ gebildet. Göpfert – bis 1964 Lektor des Hanser Verlags und von 1966 bis zu seinem Tod 2007 Mitglied der Historischen Kommission – unternahm es, die Buchgeschichte zu einer modernen wissenschaftlichen Disziplin auszubauen. Im Sinne der literatursoziologischen und später sozialgeschichtlichen Orientierung der Geisteswissenschaften betonte er die Vermittlungsfunktionen des Buchs. Mehrere Magisterarbeiten oder Dissertationen seiner Schüler zu Themen des 18. bis 20. Jahrhunderts fanden Aufnahme in das AGB, so Wolfgang von Ungern-Sternberg: Ch. M. Wieland und das Verlagswesen einer Zeit,38 Wolfram Göbel: Der Ernst Rowohlt Verlag 1910–191339 oder die Edition des Briefwechsels von Hugo von Hofmannsthal mit dem Insel Verlag, den Gerhard Schuster herausgab.40 Göpfert beeinflusste lange Jahre die Arbeit der Kommission, auch wenn er nie ihr Vorsitzender war. Seit den siebziger Jahren fanden auch Studien zu dem stets vermiedenen Thema des Dritten Reichs Aufnahme ins AGB. Bereits 1971 brach Dietrich Aigner mit seiner Arbeit über Die Indizierung »schädlichen und unerwünschten Schrifttums« im Dritten Reich 41 das lange Schweigen über die un33 34 35 36 37 38 39 40 41
Benzing: Die deutschen Verleger des 16. und 17. Jahrhunderts. Geldner: Peter Schöffers Frühzeit. Geldner: Das Rechnungsbuch des Peter Drach. Knaus: Rheinische Handschriften in Berlin. Engelsing: Der Bürger als Leser. Ungern-Sternberg: Chr. M. Wieland. Göbel: Der Ernst Rowohlt Verlag. Schuster: Hugo von Hofmannsthal. Aigner: Die Indizierung »schädlichen und unerwünschten Schrifttums«.
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angenehme Zeit. Ihm folgte 1979 Volker Dahm mit seiner Arbeit über das Jüdische Buch im Dritten Reich und den Verlag von Salman Schocken 42, ebenfalls auf Anregung von Göpfert entstanden. Später kamen u. a. viel beachtete Untersuchungen über die Literaturpolitik im »Dritten Reich« von Jan-Pieter Barbian43 oder die Hanseatische Verlagsanstalt von Siegfried Lokatis44 hinzu. Seit 1998 wird das AGB durch eine eigene Reihe von Studien zum Archiv für Geschichte des Buchwesens ergänzt. Dadurch wird das AGB entlastet und es bietet sich Platz für Tagungsbeiträge, Rezensionen oder Forschungsberichte.45 In der Studienreihe erschienen u. a. die Arbeiten von Anne-M. Wallrath-Janssen Der Verlag H. Goverts im Dritten Reich46 oder von Oliver Duntze Ein Verleger sucht sein Publikum. Die Straßburger Offizin des Matthias Hupfuff (1497/98–1520).47 Der letztere Titel, in Erlangen bei Ursula Rautenberg entstanden, signalisiert eine weitere Veränderung des Publikationsprofils. Dominierten bisher die Arbeiten zu Themen von der Aufklärung bis in die vierziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, so weitete sich der Blick jetzt wieder auf die Frühdruckzeit, etwa die Entstehung des Titelblatts in der Inkunabelzeit.48 Bereits vor und unabhängig von den Frankfurter Aktivitäten wurde in Leipzig 1952 ein »Historischer Ausschuß« eingerichtet. Unter der sowjetischen Besatzung hatte der dortige Börsenverein des Deutschen Buchhandels seine alte Position nicht wiedererlangen können und blieb auch später weisungsgebunden. 1955 rief der Vorsteher Heinrich Becker dazu auf, den ›Kapp-Goldfriedrich‹ zu revidieren und fortzuschreiben. Wiederum zur Sammlung von Vorarbeiten erschienen – analog zum AGB − ab 1965 in unregelmäßiger Folge die Beiträge zur Geschichte des Buchwesens. Im Vorwort zum ersten Band schrieben Klaus Gysi und Karl-Heinz Kalhöfer: Ziel der Beiträge zur Geschichte des Buchwesens soll es sein, durch monographische Arbeiten Teile für eine marxistische Darstellung der Entwicklung des deutschen Buchhandels gewinnen, die später für ein Gesamtbild ausgewertet werden können. Damit wird die Tradition des Archivs für Geschichte des Deutschen Buchhandels […] fortgesetzt. […] Es ist an der Zeit, in unserer Deutschen Demokratischen Repu-
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Dahm: Das jüdische Buch im Dritten Reich. Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich«. Lokatis: Die Hanseatische Verlagsanstalt. Titel: Forschungsbericht. Wallrath-Janssen: Der Verlag H. Goverts. Duntze: Ein Verleger sucht sein Publikum. Rautenberg: Die Entstehung und Entwicklung des Buchtitelblatts; Gummlich-Wagner: Das Titelblatt in Köln.
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blik auch auf unserem Fachgebiet das Positive der Vergangenheit zu wahren und zu pflegen und die humanistischen Traditionen würdig weiter zu entwickeln.49
Die Themen der Aufsätze waren breit gestreut, sie reichten von der Illustration der Gutenbergbibel bis zu »antifaschistischen Tarnschriften« und Exilverlagen. In der Zeit von 1965 bis 1986 erschienen insgesamt neun Bände der Beiträge zur Geschichte des Buchwesens. Der Wunsch nach der Fortsetzung des ›Kapp-Goldfriedrich‹ kam über vage Vorstellungen nicht hinaus. Nach der Fusion der beiden Börsenvereine des Deutschen Buchhandels und ihrer Ausschüsse 1990 wurde die Publikation eingestellt.
3 Buchhandelsgeschichtsschreibung Der Plan, den ›Kapp-Goldfriedrich‹ fortzusetzen, war auch seit der Gründung der Historischen Kommission in Frankfurt ein ständig wieder kehrendes Thema. Erst 1983 wurde die Frage konkretisiert, wiederum auf Anregung von Göpfert. Seit Erscheinen des ersten, weitgehend von Kapp erarbeiteten Bandes der Geschichte des deutschen Buchhandels waren inzwischen fast 100 Jahre vergangen. Das Werk galt auch im Westen durch die neueren Forschungen streckenweise als überholt oder doch korrekturbedürftig. Nach ersten Annäherungen an die große Aufgabe wurde aber bald deutlich, dass eine Neubearbeitung des gesamten Werks, von der Inkunabelzeit bis an die Gegenwart, nicht in der angestrebten, notwendigen Darstellungsdichte zu leisten war. Aus pragmatischen Gründen konzentrierte sich die Kommission darauf, zunächst die Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert bearbeiten zu lassen. Dies bot sich schon deshalb an, als gerade der letzte Band des ›Kapp-Goldfriedrich‹ über das 19. Jahrhundert große Lücken und starke Einseitigkeiten aufwies. Wie bei seinem Vorgängerprojekt so entstand auch dieser Plan in der Zeit einer wirtschaftlichen Hochblüte. Die Aufbauphase der Nachkriegszeit war vorüber, eine hohe Prosperität erreicht und das allgemeine Bewusstsein hatte sich an das Nebeneinander zweier deutscher Staaten längst gewöhnt. In einem ersten Antrag an den Vorstand des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels im Jahr 1984 ging der damalige Vorsitzende der Historischen Kommission, Reinhard Wittmann, von einer Vorbereitungszeit von »acht bis zehn Jahren« aus. Geplant waren vier Bände von der Krönerschen Re-
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Gysi/Kalhöfer: Vorwort, S. 7.
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form (1888) bis zum Ende des Wiederaufbaus (1967/68).50 Die Vorbereitungszeit dauerte jedoch länger als vermutet, denn die Quellen waren trotz der relativ großen historischen Nähe schwer zugänglich und sogar die statistischen Materialien lückenhaft. Vor allem Georg Jäger, Professor für Neuere Deutsche Philologie (mit dem Aufbaustudiengang Buchwirtschaft) an der Universität München, Mitherausgeber der bekannten Zeitschrift Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (seit 1976) und Autor mehrerer Studien u. a. zu den Lesegesellschaften des 19. Jahrhunderts,51 entwickelte zusammen mit den Historikern Wolfram Siemann und Dieter Langewiesche das Konzept für den ersten Band zum Kaiserreich. In sozialgeschichtlicher Perspektive wurden darin die gesellschaftlichen, rechtlichen und drucktechnischen Voraussetzungen für den Buchhandel ebenso berücksichtigt wie die sich ausdifferenzierenden Verlagstypen, die Organisations- und Vertriebsformen, die Autoren, Käufer und Bibliotheken. Speziell für diese Epoche kam auch noch die Situation des Buchhandels im Ersten Weltkrieg hinzu. Wie beim ›KappGoldfriedrich‹ wurde bei dem Frankfurter Unternehmen darauf verzichtet, von buchhandelsgeschichtlichen Eckdaten auszugehen, sondern im Sinne einer gesamtgesellschaftlichen Einbindung des Buchhandels, den Stoff nach politischen Epochen zu gliedern. Das hatte naturgemäß eine Ungleichgewichtigkeit zur Folge, schon deshalb, weil die Zeitabschnitte wie Kaiserreich, Weimarer Republik, Drittes Reich oder die frühe Bundesrepublik unterschiedlich in ihrer politisch-gesellschaftlichen Gewichtung und den daraus resultierenden Folgen für die buchhandelsgeschichtliche Entwicklung waren. Die Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert knüpfte, trotz aller methodischen Unterschiede, jedoch an den kultur- und wirtschaftsgeschichtlichen Zugriff Goldfriedrichs an. Jäger, der die meisten Texte des ersten Bandes verfasste, formulierte 2001 das Programm im Vorwort zutreffend: »Insgesamt soll sichtbar werden, welchen ›Ort‹ im Leben einer Gesellschaft der Buchhandel in allen seinen Zweigen innehat, welche Leistungen für die gesellschaftliche Kommunikation er erbrachte und wie er das Buchgeschäft der gegebenen epochalen Situation ausgestaltete.«52 Die Anlage der Folgebände orientierte sich in ihrem Aufbau – soweit es die historischen Bedingungen erlaubten − weitgehend am Modell des Kaiserreichs. 50 51 52
Unveröffentlichter Brief von Reinhard Wittmann an den Vorsteher Günther Christiansen vom 5. April 1984. Jäger/Schönert: Die Leihbibliothek als Institution. Jäger: Vorwort zu: Geschichte des deutschen Buchhandel im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 1,1, S. 15.
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Wie bei vielen Großprojekten, so wurde auch hier der geplante Vorbereitungszeitraum weit überschritten. Damit verschoben sich langsam auch die Rahmenbedingungen der Konzeption. Die für viele unerwartete Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten machte die Überlegungen zu einem eigenen Band über die DDR ebenso notwendig wie eine Verlängerung des Berichtszeitraums für die Bundesrepublik bis 1989. Damit wurde aber auch ein Abschluß des Gesamtprojekts noch weiter in die Zukunft verschoben. Jäger ist der Herausgeber der drei Bände zum Kaiserreich, die beiden Mainzer Professoren für Buchwissenschaft, Ernst Fischer und Stephan Füssel, betreuen die zwei Bände über die Weimarer Republik. Fischer wiederum ist auch Mitherausgeber von Band drei über das Dritte Reich zusammen mit Wittmann, seit 1989 stellvertretender Vorsitzender der Kommission, und Barbian. Den Band über die DDR bearbeitet Lokatis, Professor für Buchwirtschaft und Buchwissenschaft in Leipzig. Der Band über die Bundesrepublik, seine Struktur und Abgrenzung ist noch in der Diskussion. Der langjährige Vorsitzende der Historischen Kommission, der Wissenschaftsverleger Klaus G. Saur (München, Berlin) betreut die Kommission seit 1995, er hat damit bisher noch nicht die Anciennität von Brockhaus erreicht. Wie dieser hat er die Bände der Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert sowie das AGB in seinen Verlag genommen, nachdem sich der Börsenverein des Deutschen Buchhandels nach wirtschaftlich bedingten Umstrukturierungen von der Produktion und dem Vertrieb der Publikationen getrennt hatte. Die Historische Kommission in Frankfurt richtete auch die Festschriften zu den Jubiläen des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels aus. 1975, zum 150. Jubiläum, erschien der Band Lesen und Leben, der u. a. von Göpfert herausgegeben wurde.53 2000, zum 175. Jubiläum, wurde ein Geschichtlicher Aufriss über den Börsenverein des Deutschen Buchhandels für den Zeitraum von 1825 bis 2000 publiziert, der sowohl die historische als auch die organisations- und funktionsgeschichtliche Perspektive berücksichtigte.54
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Göpfert: Lesen und Leben. Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels.
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4 Veränderungen Die Historische Kommission hat sich seit ihrer Wiederbegründung 1953 allmählich umstrukturiert. Hatte sie anfangs nur wenige, an einer Hand aufzuzählende Mitglieder, so erweiterte sich die Zahl ihrer Mitglieder. Ihr gehören und gehörten nahezu alle Wissenschaftler und Buchhändler an, die auf dem Gebiet der Buchgeschichte im weitesten Sinne tätig sind: Paul Raabe, der Direktor der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel, der neben seinen vielen buchgeschichtlichen Initiativen 1976 als Erster den Versuch unternahm, eine Beschreibung dessen zu geben, was »Buchwesen«55 ist; Sarkowski, Hersteller beim Springer Verlag in Heidelberg, der durch zahlreiche Verlagsgeschichten bekannt geworden ist, wie z. B. über den Insel Verlag oder den Springer Verlag56; Wittmann, Rundfunkredakteur und zugleich Buchwissenschaftler sowie Autor von Verlagsgeschichten wie zuletzt über den Hanser Verlag57. Von den Buchhändlern gehören neben Hans Altenhein auch Christoph Links, Roland Jaeger und Wulf D. von Lucius der Kommission an, deren Vorsitzender er von 1989 bis 1995 war. Er ist mit zahlreichen Veröffentlichungen zur Verlagswirtschaft wie zur Bibliophilie hervorgetreten, so mit dem Katalog zur Ausstellung aus Beständen seiner Sammlung Bücherlust 58. In die Kommission wurden auch jüngere Wissenschaftler berufen, die sich mit buchhandelshistorischen Themen befassten, teilweise aber noch keine feste akademische Position hatten. Diesem Kreis, der über die Jahre gewachsen ist, entstammen viele Mitarbeiter und Bandbearbeiter der Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Manchmal kamen sie als junge Doktoranten zum AGB und veröffentlichten dort ihre Dissertation, wie Lokatis oder Barbian. Im Laufe der langen Zeit wurden aus den Assistenten oder wissenschaftlichen Mitarbeitern auch Professoren wie etwa Fischer. Die buchhandelsgeschichtliche Themenstellung bestimmte dann oft das Lehrangebot. Heute gehören alle akademischen Vertreter des Fachs der Kommission an: aus Mainz Fischer, Füssel und Ute Schneider, aus München Christine Haug, die Nachfolgerin von Jäger, aus Erlangen Rautenberg und Volker Titel und aus Leipzig Lokatis und Thomas Keiderling. Auch die Direktoren der großen Bibliotheken, soweit sie sich noch mit dem alten Buch, ihrer einstigen Domäne befassen, sind vertreten: Werner Arnold aus Wolfenbüttel, 55 56 57 58
Raabe: Was ist Geschichte des Buchwesens? Sarkowski: Der Insel Verlag; Sarkowski: Der Springer-Verlag. Wittmann: Der Carl Hanser Verlag. Lucius: Bücherlust.
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Wolfgang Schmitz aus Köln und Michael Knoche aus Weimar. Das Deutsche Literaturarchiv in Marbach, das über einen wachsenden Fundus an Verlagsarchiven verfügt, ist ebenfalls in der Kommission vertreten. Die Entwicklung der Kommission zu einem offenen Diskussionsforum fand vor dem Hintergrund einer weiteren Entwicklung statt, der Mutierung des alten »Buchwesens« mit dem Status einer Hilfswissenschaft zu dem modernen Fach- und Forschungsgebiet der »Buchwissenschaft« mit den Schwerpunkten Buchwirtschaft, Medientheorie und Buchgeschichte. Sie hat sich im wissenschaftlichen Feld neu positioniert und als eigenes Fach etabliert. Die Arbeit der Kommission und die Arbeit an der Geschichte des deutschen Buchhandels waren dabei sicherlich hilfreich.
5 Literaturverzeichnis 5.1 Quellen Unveröffentlichter Brief von Reinhard Wittmann an den Vorsteher Günther Christiansen vom 5. April 1984 (Archiv des Börsenvereins). Wittmann, Reinhard (Hrsg.): Quellen zur Geschichte des Buchwesens. 11 Bde. München: Kraus 1981.
5.2 Forschungsliteratur Aigner, Dietrich: Die Indizierung »schädlichen und unerwünschten Schrifttums« im Dritten Reich. In: AGB 11 (1971), Sp. 933−1034. Barbian, Jan-Pieter: Literaturpolitik im »Dritten Reich«. Institutionen, Kompetenzen, Betätigungsfelder. In: AGB 40 (1993), S. 1–394. Benzing, Josef: Die deutschen Verleger des 16. und 17. Jahrhunderts. In: AGB 2 (1960), Sp. 445−509; Neu bearb. in: AGB 18 (1977), Sp. 1077−1322. Brauer, Adalbert: Die Historische Kommission des Börsenvereins 1876–1934. In: Hundert Jahre Historische Kommission des Börsenvereins, 1876–1976. Frankfurt a. M.: Börsenverein des Deutschen Buchhandels 1976, S. 47–72. Brauer, Adalbert: Kurzbiographien der Mitglieder der alten Historischen Kommission (1876–1934). In: Hundert Jahre Historische Kommission des Börsenvereins, 1876– 1976. Frankfurt a. M.: Börsenverein des Deutschen Buchhandels 1976, S. 111–126. Brockhaus, Heinrich Eduard: Die Firma F. A. Brockhaus von der Begründung bis zum hundertjährigen Jubiläum. 1805–1905. Leipzig: Brockhaus 1905. Buchwald, Georg: Archivalische Mitteilungen über Bücherbezüge der kurfürstlichen Bibliothek und Georg Spalatins in Wittenberg. In: AGDB 18 (1896), S. 7–15. Dahm, Volker: Das jüdische Buch im Dritten Reich. T. 1: Die Ausschaltung der jüdischen Autoren, Verleger und Buchhändler. In: AGB 20 (1979), Sp. 1–300. T. 2: Salmann Schocken und sein Verlag. In: AGB 22 (1981), Sp. 301−916.
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Duntze, Oliver: Ein Verleger sucht sein Publikum. Die Straßburger Offizin des Matthias Hupfuff (1497/98–1520). München: Saur 2007 (Archiv für Geschichte des Buchwesens. Studien. 4). Engelsing, Rolf: Der Bürger als Leser. Die Bildung der protestantischen Bevölkerung Deutschlands im 17. und 18. Jahrhundert am Beispiel Bremens. In: AGB 3 (1961), Sp. 205–368. Estermann, Monika: Buchhandelsgeschichte in kulturhistorischer Absicht. Johann Goldfriedrich und Friedrich Kapp. In: Buchkulturen. Beiträge zur Geschichte der Literaturvermittlung. Festschrift für Reinhard Wittmann. Hrsg. v. Monika Estermann, Ernst Fischer u. Ute Schneider. Wiesbaden: Harrassowitz 2005, S. 1–36. Frommann, Eduard: Aufsätze zur Geschichte des Buchhandels im 16. Jahrhundert. Jena: Frommann 1881. Füssel, Stephan/Jäger, Georg/Staub, Hermann unter Mitarbeit v. Monika Estermann: Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels 1825–2000. Ein geschichtlicher Aufriss. Frankfurt a. M.: Buchhändler-Vereinigung 2000. Geldner, Ferdinand: Peter Schöffers Frühzeit. In: AGB 14 (1974), Sp. 417−432. Geldner, Ferdinand: Das Rechnungsbuch des Speyrer Druckherrn, Verlegers und Großbuchhändlers Peter Drach. Mit Einleitung, Erläuterung und Identifizierungslisten. In: AGB 5 (1964), Sp. 1–196. Geschichte des deutschen Buchhandels. Hrsg. im Auftrage des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler von der Historischen Kommission. Leipzig: Verlag des Börsenvereins. Bd. 1: Kapp, Friedrich: Geschichte des deutschen Buchhandels bis in das siebzehnte Jahrhundert. 1886. Bd. 2: Goldfriedrich, Johann: Vom Westfälischen Frieden bis zum Beginn der klassischen Literaturperiode (1648–1740). 1908. Bd. 3: Goldfriedrich, Johann: Vom Beginn der klassischen Literaturperiode bis zum Beginn der Fremdherrschaft (1740−1804). 1909. Bd. 4: Goldfriedrich, Johann: Vom Beginn der Fremdherrschaft bis zur Reform des Börsenvereins im neuen Deutschen Reiche (1805–1889). 1913. Registerbd. v. Johann Goldfriedrich. 1923. Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. im Auftrage des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels von der Historischen Kommission. Bd. 1: Kaiserreich 1871–1918. T. 1: Hrsg. v. Georg Jäger in Verbindung mit Dieter Langewiesche u. Wolfram Siemann. Frankfurt: Buchhändler-Vereinigung 2001. T. 2: Hrsg. v. Georg Jäger. Frankfurt: MVB 2003. Bd. 2: Weimarer Republik 1918–1933. T. 1: Hrsg. v. Ernst Fischer u. Stephan Füssel. München: Saur 2007. Göbel, Wolfram: Der Ernst Rowohlt Verlag 1910–1913. Seine Geschichte und seine Bedeutung für die Literatur seiner Zeit. In: AGB 14 (1974), Sp. 465–608. Göpfert, Herbert G. u. a. (Hrsg.): Lesen und Leben. Frankfurt: Buchhändler-Vereinigung 1975. Gummlich-Wagner, Johanna: Das Titelblatt in Köln: Uni- und multivalente Titelholzschnitte aus der rheinischen Metropole des Inkunabeldrucks. In: AGB 62 (2008), S. 106–149. Gysi, Klaus/Kalhöfer, Karl-Heinz: Vorwort. In: Beiträge zur Geschichte des Buchwesens 1 (1965), S. 7. Hack, Bertold: Die neue Historische Kommission in Frankfurt am Main seit 1953. In: Hundert Jahre Historische Kommission des Börsenvereins, 1876–1976. Frankfurt a. M.: Börsenverein des Deutschen Buchhandels 1976, S. 73−100.
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Der Wolfenbütteler Arbeitskreis für Bibliotheks-, Buch- und Mediengeschichte 1 2 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 3 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.4.4 5
Die Herzog August Bibliothek und ihre Arbeitskreise Der Arbeitskreis für Geschichte des Buchwesens 1975–1998 Die Veranstaltungen des Arbeitskreises für Geschichte des Buchwesens Jahrestreffen Seminare Symposien Der Arbeitskreis für Bibliotheksgeschichte 1978–1998 Die Veranstaltungen des Arbeitskreises für Bibliotheksgeschichte Jahrestagungen Seminare Symposien Der Wolfenbütteler Arbeitskreis für Bibliotheks-, Buch- und Mediengeschichte seit 1998 Der Vereinigungsprozess Der Geschäftsausschuss Die Zielsetzung Die Veranstaltungen Jahrestagungen Seminare Symposien Publikationen Literaturverzeichnis
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Peter Vodosek
1 Die Herzog August Bibliothek und ihre Arbeitskreise Herzog Julius von Braunschweig-Lüneburg (1528–1589) erließ 1572 für seine fürstliche Bibliothek eine Liberey-Ordnung. Sie gilt als die Geburtsurkunde der späteren Herzog August Bibliothek. Ihren heutigen Namen erhielt die Bibliothek nach Herzog August dem Jüngeren von Braunschweig-Lüneburg (1579–1666), der sie zur größten Bibliothek ihrer Zeit mit 135 600 Bänden erweiterte. Schon vor 300 Jahren wurde sie als ›Achtes Weltwunder‹ gepriesen. Zu ihren herausragenden Bibliothekaren zählten der Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz (im Amt 1690–1716) und der Schriftsteller Gotthold Ephraim Lessing (im Amt 1770−1781). Ihr einzigartiger Bestand an literarischen Quellen zur europäischen Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit hat dazu geführt, dass sie ab den 1970er Jahren systematisch zu einer außeruniversitären Forschungs- und Studienstätte für europäische Kulturgeschichte ausgebaut wurde. Spiritus rector dieser Entwicklung war Paul Raabe (im Amt 1968−1992), dem dabei das Vorbild amerikanischer Free Research Libraries vor Augen schwebte1. Die wissenschaftliche Arbeit an der Bibliothek wird durch Arbeitskreise unterstützt. Sie erfüllen ihre Aufgaben, ihrer thematischen Ausrichtung entsprechend, unterschiedlich und mit unterschiedlichen Strukturen. Sie sind der lose Zusammenschluss von Wissenschaftlern, die sich mit einem einschlägigen Forschungsbereich befassen. Als unselbstständige Einrichtungen der Bibliothek sorgt diese für ihre Finanzierung und betreut sie in organisatorischer Hinsicht. Ziel der Arbeitskreise ist es, die nationale und internationale Zusammenarbeit auf ihren jeweiligen Forschungsgebieten zu fördern und Wissenschaftler, die auf diesen Gebieten arbeiten, mit der Bibliothek in Kontakt zu bringen und das Fachgespräch anzuregen. Die Arbeitskreise veranstalten Tagungen, Seminare und Symposien. Die Wahl der Veranstaltungsthemen kommt vor allem Desideraten der Forschung entgegen, wobei die Bestände der Bibliothek als Quellen zwar nicht zwingend vorgegeben sind, aber gedanklich immer mitschwingen. Die Ergebnisse ihrer Arbeit werden, falls erforderlich, von der Herzog August Bibliothek publiziert. Einer dieser Arbeitskreise ist der Wolfenbütteler Arbeitskreis für Bibliotheks-, Buch- und Mediengeschichte, der 1998 aus zwei getrennten Arbeitskreisen, dem Arbeitskreis für Geschichte des Buchwesens und dem 1
Die umfassendste Information über die Bibliothek bietet noch immer: Lexikon zur Geschichte und Gegenwart der Herzog August Bibliothek.
Der Wolfenbütteler Arbeitskreis für Bibliotheks-, Buch- und Mediengeschichte
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Arbeitskreis für Bibliotheksgeschichte, hervorgegangen ist. Er versteht sich »als Plattform für die interdisziplinäre Diskussion von Themen zur Bibliotheksentwicklung sowie zur Buch- und Mediengeschichte im Kontext von Wissens- und Wissenschaftsgeschichte«.2 Da die Tätigkeit des Arbeitskreises sich organisch aus den bisherigen Aktivitäten seiner Vorgänger entwickelt hat, ist es sinnvoll, auf ihre Geschichte und ihre Leistungen zurückzublicken.
2 Der Arbeitskreis für Geschichte des Buchwesens 1975−1998 Als Ergebnis eines Arbeitsgesprächs in der Herzog August Bibliothek wurde am 27. Mai 1975 die Gründung eines Wolfenbütteler Arbeitskreises für Geschichte des Buchwesens beschlossen. […] Buchgeschichtliche Forschungen werden in Deutschland zwar von verschiedenen Stellen, jedoch meist isoliert voneinander und nicht immer so intensiv und problembewußt wie in manchen anderen Ländern – in West und Ost – betrieben. Sie gehören jedoch gerade im Zeitalter der modernen Massenmedien zu den Grundlagenforschungen unserer weithin an Bücher gebundenen Kultur. Viele Fragen der Geschichte des Buchdrucks und des Buchhandels, des Verlagswesens und der Bibliotheken, Fragen also aus dem Kommunikationsbereich zwischen Autor und Leser, müssen gesehen oder heute unter neue methodische Aspekte gestellt und beantwortet werden […].3
Die Terminologie ›Geschichte des Buchwesens‹ war durchaus umfassend, im Sinne der französischen ›Histoire du livre‹, gemeint. Nichtsdestoweniger legte die bibliothekarische Seite Wert darauf, dass der Begriff Bibliotheksgeschichte im Namen des Arbeitskreises erscheinen sollte. Eine Entscheidung im Konsens erwies sich als viel schwieriger, als die ›Gründungsväter‹ erwartet hatten. Dies führte dazu, dass auf Drängen der Teilnehmer eines Fortbildungsseminars für Bibliothekare im Januar 1979 die Etablierung eines eigenen Arbeitskreises für Bibliotheksgeschichte beschlossen wurde4. Die Verantwortung für den Arbeitskreis für Geschichte des Buchwesens lag, wie bei den anderen Arbeitskreisen der Bibliothek auch, in den 2 3 4
Forschungsevaluation an niedersächsischen Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Bericht und Empfehlungen der Gutachter [Sommer 2001], S. 16. Rundschreiben von Herbert G. Göpfert vom 9. Juli 1975. Metzger: A New Library History, S. 199f.
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Händen eines Komitees bestehend aus Otto Dann, Bernhard Fabian, Herbert G. Göpfert, Rainer Gruenter, Bertold Hack, Hans A. Halbey, Ernst L. Hauswedell, Paul Raabe und Bernhard Zeller. Im Lauf der Jahre ergaben sich naturgemäß personelle Veränderungen, nicht zuletzt durch die Berufung von Wissenschaftlern aus Frankreich, Großbritannien, Österreich, Polen, Ungarn und aus den USA. Schon bald erwies es sich als zweckmäßig, für das operative Geschäft einen kleineren Ausschuss zu bilden. Zunächst gehörten ihm Göpfert als Vorsitzender, Raabe, Monika Estermann und Erdmann Weyrauch an. Weyrauch war als hauptamtlicher wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bibliothek lange Jahre hindurch der Sekretär bezeihungsweise Geschäftsführer. Letzter Vorsitzender vor der Vereinigung mit dem Arbeitskreis für Bibliotheksgeschichte war von 1993 bis 1998 Stephan Füssel. Der Arbeitskreis trat von 1976 bis 1995 mit zwölf Jahrestreffen an die Öffentlichkeit, die nach der Gründung des Arbeitskreises für Bibliotheksgeschichte im Jahr 1979 mit dessen Tagungen jährlich alternierten. Er beteiligte sich an den Fortbildungsseminaren für Bibliothekare an wissenschaftlichen Bibliotheken und veranstaltete ab 1983 eigene Buchgeschichtliche Seminare. Fallweise engagierte er sich auch bei den Wolfenbütteler Symposien. Für die Auswahl der Tagungsthemen stand das Kriterium Forschungsorientierung an erster Stelle. Neue Forschungsergebnisse sollten bekannt gemacht und diskutiert, die Beschäftigung mit bisher noch nicht ausreichend erforschten Sachverhalten initiiert werden. Jahrestreffen mit Themen wie »Buch und Buchhandel im Kaiserreich 1871–1918« (1987), »Buch und Buchhandel in der Weimarer Republik« (1995) und »Buch und Buchhandel in der Zeit des Nationalsozialismus« (1989) standen im Zusammenhang mit der von der Historischen Kommission des Börsenvereins des deutschen Buchhandels konzipierten »Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert«. Sie sind gleichzeitig ein Beispiel für die Zusammenarbeit mit Fachgremien und anderen wissenschaftlichen Institutionen.
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2.1 Die Veranstaltungen des Arbeitskreises für Geschichte des Buchwesens5 2.1.1 Jahrestreffen
1976 1977 1978 1979 1981 1983 1985 1987 1989 1991 1993 1995
Buch und Leser (zugleich Festveranstaltung anlässlich des hundertjährigen Bestehens der Historischen Kommission des Börsenvereins des deutschen Buchhandels) Das Buch in den zwanziger Jahren Buchgestaltung in Deutschland 1740−1890 Bücher und Bibliotheken im 17. Jahrhundert in Deutschland Gelehrte Bücher vom Humanismus bis zur Gegenwart: Zur Geschichte wissenschaftlicher Werke Europäischer Buchhandel im Jahrhundert der Reformation ›Unmoralisch an sich ...‹: Probleme der Zensur im 18. und 19. Jahrhundert Buch und Buchhandel im Kaiserreich (1871−1918) Buch und Buchhandel in der Zeit des Nationalsozialismus Buchgeschichte – Histoire du livre – History of the Book: Das ›symbolische Kapital‹ des Buches: Ergebnisse und Perspektiven Buchdruck im Barockzeitalter Buch und Buchhandel in der Weimarer Republik 2.1.2 Seminare
Die Seminare fanden bis 1982 unter der Bezeichnung »Fortbildungsseminare für Bibliothekare« beziehungsweise »Fortbildungsseminare für Bibliothekare an wissenschaftlichen Bibliotheken« statt. Ab 1983 erfolgte die Umbenennung in »Buchgeschichtliche Seminare«, da sie nicht nur Bibliothekaren sondern allen Interessenten offenstehen sollten. 1974 1976
5
Das alte und kostbare Buch in der modernen Bibliothek. Fortbildungskursus für Bibliothekare Das alte Buch in der modernen Bibliothek. 3. Fortbildungsseminar für Bibliothekare an wissenschaftlichen Bibliotheken
Die folgenden Listen wurde aus den Jahresprogrammen der Herzog August Bibliothek sowie aus den Programmen zu den einzelnen Veranstaltungen zusammengestellt.
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1977 1978 1978 1980 1983 1983 1986 1987 1988 1988 1990 1994 1996
Das alte Buch in der modernen Bibliothek. 4. Fortbildungsseminar für Bibliothekare an wissenschaftlichen Bibliotheken Die Erschließung von Kulturgut in Bibliotheken. 5. Fortbildungsseminar für Bibliothekare an wissenschaftlichen Bibliotheken Die Erforschung der Bibliotheksgeschichte als bibliothekarische Aufgabe. 6. Fortbildungsseminar für Bibliothekare an wissenschaftlichen Bibliotheken Das alte Buch in Forschung und Praxis: Probleme der analytischen Druckforschung und deskriptiven Bibliographie Bücherkunde im Zeitalter polyhistorischer Gelehrsamkeit Probleme der Buch- und Bibliotheksgeschichte Buchillustration im 19. Jahrhundert Stand und Aufgaben der Erforschung der Lese- und Lesergeschichte Dänemark, Schweden, Finnland. Norddeutscher Buchdruck im Ostseeraum Druckgrafische Porträts in Büchern Die Rationalisierung der Buchherstellung von der Antike bis zur Gegenwart Methoden der Verlagsgeschichtsschreibung Das Loch in der Mauer: Der innerdeutsche Literaturaustausch 2.1.3 Symposien
1976 1977 1983 1989
Geschichte des Textverständnisses im 17. und 18. Jahrhundert. 4. Wolfenbütteler Symposion Das Buch im 18. Jahrhundert. 5. Wolfenbütteler Symposion Buchgeschichtliche Forschung im internationalen Vergleich. 13. Wolfenbütteler Symposion Das Buch als magisches und Repräsentationsobjekt
3 Der Arbeitskreis für Bibliotheksgeschichte 1979–1998 Nachdem die Entscheidung, getrennte Weg zu gehen, gefallen war, kommentierte dies Paul Raabe wie folgt: […] Wir alle sehen in dem neuen Arbeitskreis die Chance, die historisch interessierten Bibliothekare zu gemeinsamen Tagungen wieder zusammenzuführen, wie dies früher einmal auf den Bibliothekartagen der Fall war. Ich glaube, wir können in diesem Sinn
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in einer veränderten Situation Wichtiges und Zukunfttragendes leisten. Aus diesem Grunde bin ich sehr froh, daß es zur Gründung unseres neuen Arbeitskreises gekommen ist […].6
Die erste Komiteesitzung des Leitungsgremiums des neuen Arbeitskreises fand am 25. April 1979 in Hannover statt. Auf der nächsten Sitzung am 22. Mai 1979 unterstrich Raabe, dass in Zukunft auf Kooperation gesetzt werden müsse. Im Protokoll ist daher festgehalten: […] Herr Raabe legte noch einmal die Gründe dar, die dazu führten, den ›Wolfenbütteler Arbeitskreis für Bibliotheksgeschichte‹ neben dem ›Wolfenbütteler Arbeitskreis für Geschichte des Buchwesens‹ ins Leben zu rufen […]. Es wird noch einmal betont, daß im bibliothekarischen Berufsverband (VDB) keine Möglichkeit besteht, in einem Gremium in- und ausländische Bibliothekare, die an bibliotheksgeschichtlichen Themen interessiert sind, zusammenzuführen. Eine enge Verknüpfung beider Arbeitskreise ist sehr erwünscht, gemeinsame Komiteesitzungen und gemeinsame Tagungen sollen in Zukunft durchgeführt werden. Eine Koordination der einzelnen Institutionen bzw. Abstimmungen untereinander sind dringend erforderlich (Historische Kommission des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Gutenberg-Museum, Institut für Geschichte des Buchwesens, Mainz u. a.) […].7
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass knapp 20 Jahre später, am 4. Mai 1998, auf Vorschlag der Herzog August Bibliothek die Entscheidung getroffen wurde, aus thematischen und organisatorisch-finanziellen Gründen die beiden Arbeitskreise zum Arbeitskreis für Bibliotheks-, Buch- und Mediengeschichte zusammenzulegen. Für die Zwischenzeit von 1978 bis 1998 waren aber immer wieder Anläufe zu beobachten, zu einer engeren Kooperation zu gelangen. Die ersten Mitglieder im Komitee des neuen Arbeitskreises waren: Jürgen Eyssen, Rupert Hacker, Hauswedell, Gerhard Liebers, Raabe, Peter Vodosek und Karl-Heinz Weimann. Auch in diesem Komitee wurde auf die Mitwirkung ausländischer Kollegen Wert gelegt. Berufungen gingen nach Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Österreich und Polen. Ein erfreuliches Ergebnis dieser Politik war, dass nach dem Wolfenbütteler Vorbild 1982 sowohl ein Österreichischer Arbeitskreis für Bibliotheksgeschichte (1990 nach dem Tod seines Initiators Walter Pongratz wieder aufgelöst) als auch Dansk Bibliotekshistorisk Selskab gegründet wurden. Von 1979 bis 1984 hatte Liebers den Vorsitz inne, ihm folgte Vodosek, der auch dem Geschäftsausschuss, der 1984 zur Straffung der Geschäftsführung gebildet wurde, präsidierte. Als Geschäftsführerin fungierte zunächst Barbara Strutz, ab 1984 bis 2009 Werner Arnold. 6 7
Rundschreiben Paul Raabe vom 18. April 1979. Protokoll Komiteesitzung vom 22. Mai 1979.
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Vor der Zusammenlegung der Arbeitskreise fanden seine insgesamt 10 Jahrestreffen (später in Jahrestagungen umbenannt) jährlich alternierend mit dem Arbeitskreis für Geschichte des Buchwesens statt. Zusätzlich beteiligte er sich in den ›jahrestagungsfreien‹ Jahren an den Fortbildungsseminaren für Bibliothekare, die ab 1983 als Bibliotheksgeschichtliche, von 1987 bis 2003 als Bibliothekshistorische Seminare weitergeführt wurden und die sich mit spezielleren Themen beschäftigten, welche sich effektiver in einem kleineren Kreis von Experten diskutieren ließen. Außerhalb des Turnus fanden von Fall zu Fall Veranstaltungen wie Symposien und Internationale Seminare statt, für welche die Verantwortung oft bei externen Partnern lag. Die Erforschung der Bibliotheksgeschichte, das heißt die historische Untersuchung aller Phänomene, die mit Bibliotheken in Verbindung zu bringen sind, von den politischen, sozialen, wirtschaftlichen, geistesgeschichtlichen Voraussetzungen bis hin zu institutionellen und biographischen Aspekten, vom Bibliotheksbau bis hin zum Bestand und zu den Benutzern, hat im Vergleich zu anderen historischen Disziplinen bis heute einen gewissen Nachholbedarf.8 In besonderer Weise galt und gilt dies für die Geschichte der Öffentlichen Bibliotheken. Von Anfang an vertrat das Komitee des Arbeitskreises die Auffassung, daß Bibliotheksgeschichte als ein ›Totum‹ zu betrachten sei, die Geschichte der Öffentlichen Bibliotheken in die Arbeit miteinbezogen werden müsse. […] Nicht aus Gründen einer falsch verstandenen Parität, sondern um Erkenntnisse auszutauschen und im Miteinander zu neuen Einsichten zu gelangen. Bei den Vertretern der wissenschaftlichen Bibliotheken wurde, wie immer wieder betont wurde, Interesse für ein bislang kaum beachtetes Teilgebiet geweckt, bei denen der Öffentlichen Bibliotheken wieder ins Bewußtsein zurückgebracht, daß die Geschichte ihrer Institutionen in einem größeren Zusammenhang zu sehen ist.9
Insofern ergab sich für den Arbeitskreis ein reiches Betätigungsfeld. In den ersten Jahren orientierte sich die Planung der Veranstaltungen gezielt an historischen Epochen: Renaissance, Aufklärung, 19. Jahrhundert, Weimarer Republik oder die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Dem Arbeitskreis gebührt das Verdienst, zahlreiche Themen zum ersten Mal umfassend behandelt zu haben, zum Beispiel Bibliotheken im Nationalsozialismus, die Bibliotheksgeschichte von 1945 bis 1965 oder nach der Wiedervereinigung die Geschichte des Bibliothekswesens in der DDR. Die chronologisch orientierte Reihe der Themen wurde mit der 13. Jah8 9
Vodosek: Zum Stand der bibliotheksgeschichtlichen Forschung, S. 307−310. Vodosek: Die Erforschung der Geschichte, S. 452.
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restagung »Die 70er und 80er Jahre des 20. Jahrhunderts: Auf dem Weg in die Informationsgesellschaft« im Mai 2004 vorläufig beendet. In jüngster Zeit sind verstärkt bibliothekshistorische Querschnittsthemen in den Vordergrund gerückt wie etwa »Bibliotheksprogramme und Bibliotheksbau« oder »Bibliotheken und ihre Geschichte im Kontext von Kulturinstitutionen«. Einige Seminare beschäftigten sich mit der Geschichte der Musikbibliotheken, naturwissenschaftlichen Büchersammlungen oder auch mit der Entwicklung des bibliothekarischen Berufes. Ein wichtiges Anliegen des Arbeitskreises war es, die historischen Themen gewissermaßen zu aktualisieren. Nach dem Motto ›Zukunft braucht Herkunft‹ wurden durchaus auch Gegenwartsprobleme in die Beiträge miteinbezogen, sofern sie sich aus historischen Ursachen ableiten ließen. Besonders hervorzuheben ist, dass sich Veranstaltungen des Arbeitskreises in regelmäßigen Abständen mit dem Stand der Bibliotheksgeschichtsforschung und ihren theoretischen Grundlagen beschäftigt haben: 1979 »Bibliotheksgeschichte als wissenschaftliche Disziplin«, 1988 »Bibliothekshistorische Forschung im internationalen Kontext«, eine gemeinsame Veranstaltung mit dem International Federation of Library Associations and Institutions (IFLA) Round Table on Library History (ab 2009 Library History Special Interest Group) und 1992 »Bibliothekshistorische Projekte in Deutschland. Arbeitsberichte und Desiderate«10. Wenn sinnvoll und finanziell möglich wurden im Sinne einer vergleichenden Bibliotheksgeschichte Referenten aus dem Ausland eingeladen. Um nur das Beispiel der USA zu nehmen, war unter anderem die renommierte Bibliothekshistorikerin Pamela Spence Richards (1941−1999) 1988, 1989 und 1990 ein gern gesehener Gast.11 Mehrere Tagungen wurden in Kooperation mit anderen Institutionen durchgeführt, zum Beispiel mit der International Association of Music Libraries, Archives and Documentation Centres (IAML) und der International Union for History and Philosophy of Science/Documentation Commission. Besonders eng sind bis heute die Kontakte mit der Library and Information History Group der Chartered Institution of Library and Information Professionals (CILIP), der früheren Library Association in Großbritannien. 1994 fand in Wolfenbüttel das erste Deutsch-britische Seminar mit dem Thema »Bibliotheken in der literarischen Darstellung/Libraries in Literature« statt, dem 1996 in London das zweite, »The 10 11
Die Referate der Veranstaltungen von 1979 und 1988 wurden in Tagungsbänden veröffentlicht, letzterer unter dem Titel »Library History Research in the International Context« als Themenheft der Zeitschrift »Libraries and Culture«. Vodosek: Pamela Spence Richards, S. 53f.
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Universal Library: From Alexandria to the Internet«, folgte. Im Herbst 2001 wurde diese sehr erfolgreiche Zusammenarbeit mit dem 3. Seminar »Mäzenatentum für Bibliotheken/Philanthropy for Libraries« fortgesetzt. Daran schloss sich im Herbst 2005 in London das 4. Seminar »Libraries and Innovation« an. 3.1 Die Veranstaltungen des Arbeitskreises für Bibliotheksgeschichte 3.1.1 Jahrestagungen
Die ersten drei Veranstaltungen liefen unter der Bezeichnung Jahrestreffen. Die Namensänderung erfolgte, um den wissenschaftlichen Charakter zu betonen. 1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998
Bibliotheken im gesellschaftlichen und kulturellen Wandel des 19. Jahrhunderts Bauten für Bücher Staatliche Initiative und Bibliotheksentwicklung seit der Aufklärung Bibliotheken und Aufklärung Bibliotheken während des Nationalsozialismus Entwicklung des Bibliothekswesens in Deutschland 1945–1965 Bibliotheken und Bücher im Zeitalter der Renaissance Stadt und Bibliothek. Literaturversorgung als kommunale Aufgabe im Kaiserreich und in der Weimarer Republik Geschichte des Bibliothekswesens in der DDR Im Vergangenen Zukünftiges? Bibliotheksprogramm und Bibliotheksbau in Deutschland seit 1950 3.1.2 Seminare
Wie beim Arbeitskreis für Geschichte des Buchwesens erfolgte 1983 eine Umbenennung und zwar in Bibliotheksgeschichtliche, seit 1987 Bibliothekshistorische Seminare.
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1978 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997
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Bibliotheksgeschichte als wissenschaftliche Disziplin Bestandsgeschichte – eine Aufgabe der Bibliotheksgeschichte Wandlungen des bibliothekarischen Berufsbildes Leser und Benutzer in Öffentlichen Bibliotheken des 18. und 19. Jahrhunderts Die Reformation und das städtische Büchereiwesen Privatbibliotheken der frühen Neuzeit. Probleme ihrer Erforschung Geschichte von Musiksammlungen in Bibliotheken (in Zusammenarbeit mit der AIBM) Alte Naturwissenschaften in Bibliotheken (in Zusammenarbeit mit der International Union for the History and Philosophy of Scence/Documentation Commission) Wissenschaftliche Bibliotheken in der Weimarer Republik Ikonographie der Bibliotheken Bibliotheken während des Nationalsozialismus Technische und naturwissenschaftliche Bibliotheken in ihrer historischen Entwicklung und Bedeutung für die Forschung Die Erforschung der Privatbibliotheken im 18. Jahrhundert Bibliothekshistorische Projekte in Deutschland. Arbeitsberichte und Desiderate Wissenschaftsentwicklung und Wissensvermittlung in Mathematik und Naturwissenschaften vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart im Spiegel von Fachliteratur und Fachbibliotheken Bibliotheken in der literarischen Darstellung/ Libraries in Literature (zugleich 1. Deutsch-britisches Seminar zur Bibliotheksgeschichte) Leserschichten und Lektüreinteressen im 19. und frühen 20. Jahrhundert The Universal Library. From Alexandria to the Internet (zugleich 2nd Anglo-German Seminar on Library History, London) Die Wissenschaftliche Stadtbibliothek und die Entwicklung kommunaler Bibliotheksstrukturen in Europa seit 1945 (in Zusammenarbeit mit der Stadtbibliothek Lübeck)
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3.1.3 Symposien
1988
Bibliothekshistorische Forschung im internationalen Kontext
Eine weitere, an Umfang bescheidenere Aktivität war die Funktion des Geschäftsausschusses als eine Art von Consulting-Agentur und Clearing-Stelle. Die Mitglieder beantworten Anfragen aus dem In- und Ausland bzw. leiten Fragen an Experten weiter. Als Resümee darf festgehalten werden, dass sich dank des Engagements des Arbeitskreises die bibliothekshistorischen Aktivitäten in Deutschland in den vergangenen 25 Jahren stärker entwickelt haben als all die Jahrzehnte zuvor. Alles in allem gilt aber auch für Deutschland die Beurteilung der Situation in Großbritannien durch Paul Sturges: »[…] there remains a real gulf between research and organization. On the one hand, there is a serious, maybe even fatal, weakness in the ability to generate anything like a research programme or develop a distinctive paradigm for library history. On the other hand the ability to document, to impose bibliographic control, and to address the problem of sources, is very well developed«.12
4 Der Wolfenbütteler Arbeitskreis für Bibliotheks-, Buch- und Mediengeschichte seit 1998 4.1 Der Vereinigungsprozess
Nachdem Raabe bereits in der Komiteesitzung vom 22. Mai 1979 eine enge Verknüpfung der beiden Arbeitskreise für »sehr erwünscht« erklärt hatte, wurde in dem ersten Prospekt des Arbeitskreises für Bibliotheksgeschichte die folgende Absichtserklärung aufgenommen: »Der ›Wolfenbütteler Arbeitskreis für Bibliotheksgeschichte‹ arbeitet mit dem ›Wolfenbütteler Arbeitskreis für Geschichte des Buchwesens‹ eng zusammen und führt mit ihm gemeinsam seine Jahrestagungen durch, in deren Themenfestsetzung und Organisation sich beide Arbeitskreise abwechseln«. Die gute Absicht wurde aber zunächst nicht verwirklicht. Ein neuer Anstoss erfolgte erst 1991, als Weyrauch in seiner Funktion als geschäftsführendes Mitglied des Arbeitskreises für Geschichte des Buchwesens dem Vorsitzenden des Arbeitskreises für Bibliotheksgeschichte in einem Brief vom 23. Februar von der geplanten Reorganisation seines Arbeitskreises informierte. Die Pläne standen im Zusammenhang mit 12
Sturges: Library history, S. 240.
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der Einsicht, dass nach der Wiedervereinigung Deutschlands im Oktober 1990 eine ›Bereinigung der Institutionenlandschaft‹ wünschenswert erschien, nicht zuletzt auch unter (arbeits-)ökonomischen Gesichtspunkten. Vodosek lud daraufhin für den 8. April 1991 zu einem Arbeitsgespräch »Bibliotheksgeschichte. Projekte und Veranstaltungen« nach Wolfenbüttel ein, an dem Vertreter der beiden Arbeitskreise, des Leipziger Arbeitskreises für Buchgeschichte, des Max-Planck-Instituts für Geschichte Göttingen, der Historischen Kommission des Börsenvereins des deutschen Buchhandels, der DFG, der Herzog August Bibliothek und der British Library teilnahmen. In diesem Gespräch wurde die Möglichkeit einer engeren Kooperation der Bereiche Buch- und Bibliotheksgeschichtsforschung ebenso diskutiert wie die einer Verknüpfung mit der Universitätsforschung, die in Deutschland bisher nicht geglückt sei.13 Wie die Protokolle zahlreicher Sitzungen, Diskussionspapiere und Notizen von Telefongesprächen zwischen 1992 und 1998 belegen, war es ein mühsamer Weg und ein ständiges Hin und Her, bis sich eine Lösung abzeichnete. Mit zur Einigung trug bei, dass Füssel, der Vorsitzende des Arbeitskreises für Geschichte des Buchwesens, nach Rücksprache mit seinem geschäftsführenden Vorstand seinen Kollegen vom anderen Arbeitskreis in einem Brief vom 19. November 1996 vorschlug, die Arbeit seines Arbeitskreises in Wolfenbüttel offiziell zu beenden und den Mitgliedern nahezulegen, sich bei weiterem Interesse dem Arbeitskreis für Bibliotheksgeschichte anzuschließen. Da auch die Herzog August Bibliothek angesichts der knapper gewordenen Ressourcen für eine Bündelung der Aktivitäten eintrat, kam es trotz zunächst noch vorhandener Vorbehalte am 4. Mai 1998 zum Vereinigungsbeschluss für einen Arbeitskreis für Bibliotheks- und Buchgeschichte. Am 28. September 1998 nahm der neue Arbeitskreis auf Vorschlag von Joachim-Felix Leonhard den nochmals erweiterten Namen Wolfenbütteler Arbeitskreis für Bibliotheks-, Buch- und Mediengeschichte an. 4.2 Der Geschäftsausschuss
Mit der Fusion wurde das bisherige Komitee des Arbeitskreises für Bibliotheksgeschichte aufgelöst, zumal der Großteil der Mitglieder schon seit Längerem ausgeschieden war. Ein als Ersatz angedachter Beirat wurde 13
Protokoll des Arbeitsgesprächs vom 8. April 1991.
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nicht realisiert. Der Geschäftsausschuss, bei dem sich geringfügige personelle Änderungen ergaben, setzte sich zu Beginn aus folgenden Mitgliedern zusammen: Werner Arnold, Jochen Brüning, Monika Estermann, Ursula Rautenberg, Helwig Schmidt-Glintzer, Wolfgang Schmitz, Reinhard Siegert und Vodosek. Als Vorsitzender wurde Vodosek bestätigt, der dann sein Amt 2004 an Schmitz übergab. 4.3 Die Zielsetzung
Im Sommer 2001 wurde die Herzog August Bibliothek durch die Wissenschaftliche Kommission Niedersachsen unter Vorsitz von Wolfgang Frühwald evaluiert. Aus dem Bericht und den Empfehlungen der Gutachter erarbeitete die Bibliothek für die Jahre 2003 bis 2008 ein Entwicklungskonzept 2002. Den Arbeitskreisen wurden dabei folgende Ziele gesetzt: »Die Arbeitskreise sollen mit ihren Komitees als verschlankte Fachberatergremien mit unabhängiger, aber forschungspraktisch auf die Bestände und Bedürfnisse der Herzog August Bibliothek bezogener Perspektive eine Hilfestellung bei Initiative, Durchführung und Bewertung der wissenschaftlichen Aktivitäten im Hause leisten«.14 Die interne Struktur der Arbeitskreise wurde in den neuen Statuten15 dahingehend geregelt, dass künftig die Mitglieder vom Direktor der Bibliothek auf fünf Jahre berufen werden sollten und aus ihrer Mitte der Vorsitzende ebenfalls für fünf Jahre gewählt würde. Für den Arbeitskreis hatte sich bereits durch seine Konstituierung 1998 die Notwendigkeit einer Zielbestimmung ergeben. Damals schon legte er, wie bereits ausgeführt, fest, die Interdisziplinarität zwischen Bibliotheks-, Buch- und Mediengeschichte im Zusammenhang mit der Wissens- und Wissenschaftsgeschichte zu verstärken. Der Name des Arbeitskreises und die Zusammensetzung des Geschäftsausschusses waren insofern bereits Programm. Die bisherigen und die geplanten Veranstaltungen zeigen den Weg, der in Zukunft beschritten werden soll. Ein in sich schlüssiges, längerfristig tragfähiges Konzept muss sich organisch entwickeln. Bei aller Forschungsorientierung sollte aber auch ein pragmatischer Gesichtspunkt nicht aus den Augen verloren werden. Gerade den Informationsberufen droht − nicht nur in Deutschland − das historische 14 15
Auszug aus dem Entwicklungskonzept 2002 (Zielsetzung 2003–2008) der Herzog August Bibliothek (Wolfenbüttel, im August 2002), S. 6. Seit August 2002 in Kraft.
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Bewusstsein abhanden zu kommen. Wenn durch die Bestrebungen des Arbeitskreises auch nur bei einigen Wenigen ein neues Gespür dafür entsteht, dass ein Beruf ohne Vergangenheit auch ein Beruf ohne Zukunftsperspektive ist, wäre schon Bedeutendes geleistet.16 4.4 Die Veranstaltungen
Bedauerlicherweise sind einer Ausweitung der Projekte enge finanzielle und personelle Grenzen gesetzt. Dies betrifft nicht nur die Ressourcen der Bibliothek sondern auch die einwerbbaren Drittmittel, insbesondere für die Veranstaltungen. Seit der Neugründung haben folgende Tagungen stattgefunden, wobei die Planung der ersten Veranstaltungen infolge der langen Vorlaufzeiten hinter das Jahr 1998 zurückreichen. 4.4.1 Jahrestagungen
2000 2002 2004 2006 2007 2008 2009 2010
Kooperation und Konkurrenz: Bibliotheken im Kontext von Kulturinstitutionen Bibliotheken, Bücher und andere Medien in der Zeit des Kalten Krieges Die 70er und 80er Jahre des 20. Jahrhunderts: Auf dem Weg in die Informationsgesellschaft Buchwissenschaftliche Forschung – Ergebnisse und Perspektiven Bibliotheken im Altertum Geheimliteratur und Geheimbuchhandel in Europa im 18. Jahrhundert Wissenschaftliche Bibliothekare in der Zeit des Nationalsozialismus Volksbildung durch Lesestoffe im 18. und 19. Jahrhundert 4.4.2 Seminare
Ab 2007 wurde die Unterscheidung zwischen jährlich alternierenden Jahrestagungen und Seminaren aufgegeben und die einheitliche Bezeichnung Jahrestagungen eingeführt.
16
Vodosek: Die Erforschung der Geschichte, S. 453.
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1999 2001 2005
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Der Wert der Bücher: Historische und praktische Gesichtspunkte zur Bewertung von Handschriften und Büchern Mäzenatentum für Bibliotheken/Philanthropy for Libraries (zugleich 3. Deutsch-britisches Seminar zur Bibliotheksgerschichte) Libraries and Innovation (zugleich 4th Anglo-German Seminar on Library History, London) 4.4.3 Symposien
2000 2003 2004 2005
Mit Information zum Wissen − Durch Wissen zur Information Wissensordnungen in der frühen Neuzeit Symposion zu Paul Schwenke Wissenschaftsverlag zwischen Professionalisierung und Popularisierung 4.4.4 Publikationen
In enger Verbindung mit der Veranstaltungstätigkeit stehen seit 1975 die Publikationen. Die fachlichen Ergebnisse der Jahrestagungen, Seminare und Symposien werden, sofern die Bibliothek nicht darauf verzichtet oder die Veranstalter eine andere Publikationsmöglichkeit vorziehen, in der Regel in der Schriftenreihe Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens veröffentlicht. Bisher konnten der Fachwelt 20 Bände vorgelegt werden, davon 17 innerhalb der genannten Reihe. Wie schon bei den entsprechenden Tagungen handelt es sich hier vielfach um die ersten umfänglichen Veröffentlichungen zum jeweiligen Thema überhaupt. Dies gilt besonders für die zwei Bände Bibliotheken während des Nationalsozialismus (1989 und 1992) und die Bände Die Entwicklung des Bibliothekswesens in Deutschland 1945−1965 (1993) und Geschichte des Bibliothekswesens in der DDR (1999), die gleich nach Erscheinen zu Standardwerken geworden sind. Außerdem gibt die Herzog August Bibliothek in Verbindung mit dem Arbeitskreis seit 1976 die jährlich mit zwei Heften erscheinende Zeitschrift Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte heraus.
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5 Literaturverzeichnis Arnold, Werner/Dittrich, Wolfgang/Zeller, Bernhard (Hrsg.): Die Erforschung der Buchund Bibliotheksgeschichte in Deutschland. Wiesbaden: Harrassowitz 1987. Kaegbein, Paul: Köln und Wolfenbüttel als Zentren bibliothekshistorischer Forschung. In: Festschrift für Hildebert Kirchner zum 65. Geburtstag. Hrsg. v. Wolfgang Dietz u. a. München: Beck 1985, S. 169−186. Dasselbe in Englisch: Two Centers of German research activities in library history: Cologne and Wolfenbüttel. In: The Journal of Library History 21 (1986), S. 456−473. Kaegbein, Paul/Sturges, Paul (Ed.): Library History Research in the International Context. Proceedings of an International Symposium 14.–15. April 1988 Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel, Germany. In: Libraries and Culture 25 (1990), H. 1, S. 1−150. Metzger, Philip A.: A New Library History Group is formed in Germany. In: Journal of Library History 15 (1980), H. 2, S. 199f. Ruppelt, Georg/Solf, Sabine (Hrsg.): Lexikon zur Geschichte und Gegenwart der Herzog August Bibliothek. Wiesbaden: Harrassowitz 1992 (Lexikon europäischer Bibliotheken. 1). Sturges, Paul: Library history. In: British Librarianship and Information Work 1986−90. Bd. 1: General Libraries and the Profession. Ed. by David W. Bromley and Angela M. Allott. London: Library Association Publishing 1992, S. 240. Vodosek, Peter (Hrsg.): Bibliotheksgeschichte als wissenschaftliche Disziplin. Beiträge zur Theorie und Praxis. Hamburg: Hauswedell 1980 (Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens. 7). Vodosek, Peter: Die Erforschung der Geschichte Öffentlicher Bibliotheken. In: Die Erforschung der Buch- und Bibliotheksgeschichte in Deutschland. Hrsg. v. Werner Arnold, Wolfgang Dittrich u. Bernhard Zeller. Wiesbaden: Harrassowitz 1987, S. 441−460. Vodosek, Peter: Forschung und Entwicklung am Beispiel der Bibliotheksgeschichte. In: FHB aktuell 1 (1991), H. 3, S. 20f. Vodosek, Peter: Zum Stand der bibliotheksgeschichtlichen Forschung. In: GJ 69 (1994), S. 307−310. Vodosek, Peter: Zur Geschichte des Öffentlichen Bibliothekswesens. Ein Forschungsbericht. In: Zur Geschichte der Öffentlichen Bibliotheken in Österreich. Hrsg. v. Alfred Pfoser u. Peter Vodosek. Wien: Büchereiverband Österreichs 1995 (BVÖ-Materialien. 2), S. 17−28. Vodosek, Peter: Bibliotheksgeschichte in Deutschland. Ein Überblick. In: Bibliotheken in der literarischen Darstellung. Libraries in Literature. Hrsg. v. Peter Vodosek u. Graham Jefcoate. Wiesbaden: Harrassowitz 1999 (Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens. 33), S. 11−22. Vodosek, Peter: Pamela Spence Richards. 2. Juni 1941−20. September 1999. In: WNB 25 (2000), H. 1, S. 53f. Vodosek, Peter: Library History in Germany: A Progress Report. In: Library History 17 (2001), H. 2, S. 119−126. Vodosek, Peter: Die Historische Kommission des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels und die Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert: ein Projekt und seine Vorgeschichte. In: Lifelong Education and Libraries 5 (March 2005), S. 163−174.
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Vodosek, Peter: Drei Jahrzehnte Bibliotheksgeschichte an einer Fachhochschule. Ein Rückblick. In: Der wissenschaftliche Bibliothekar. Hrsg. v. Detlev Hellfaier, Helwig Schmidt-Glitzner u. Wolfgang Schmidt. Wiesbaden: Harrassowitz 2009, S. 473–485. Vodosek, Peter/Komorowski, Manfred (Hrsg.): Bibliotheken während des Nationalsozialismus. Wiesbaden: Harrassowitz. Bd. 1: 1989. Bd. 2: 1992. (Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens. 16). Vodosek, Peter/Leonhard, Joachim-Felix (Hrsg.): Die Entwicklung des Bibliothekswesens in Deutschland 1945−1965. Wiesbaden: Harrassowitz 1993 (Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens. 19). Vodosek, Peter/Marwinski, Konrad (Hrsg.): Die Geschichte des Bibliothekswesens in der DDR. Wiesbaden: Harrassowitz 1999 (Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens. 31). Zahn, Peter: »Buch- und Bibliotheksgeschichte« − überflüssig in der BibliothekarAusbildung? In: Bibliotheksdienst 28 (1994), H. 4, S. 504−510.
WOLFGANG SCHMITZ
Die Internationale Buchwissenschaftliche Gesellschaft 1 2 3 4 5
Arbeitsgebiete Methoden Ziele Wirkung Literaturverzeichnis
Während die meisten buchwissenschaftlichen Gesellschaften vorwiegend historisch, also auf die Geschichte des Buchwesens ausgerichtet sind, verfolgt die Internationale (früher: Deutsche) Buchwissenschaftliche Gesellschaft (IBG) besonders zeitgenössische Probleme und Themen des Buchwesens. Sie berührt sich damit unter anderem mit Fragestellungen, die der Leipziger Lehrstuhl für Buchhandelsbetriebslehre unter Gerhard Menz in den 1930er Jahren bearbeitet hat. Unmittelbar wegweisend wurden die Ideen des Münchner Buchwissenschaftlers und Urheberrechtsspezialisten Ludwig Delp. Auf seine Initiative wurde die damalige »Deutsche Buchwissenschaftliche Gesellschaft« (DBG) am 25. März 1999 nach Vorbereitungen im Herbst 1998 in den Räumen des Deutschen Bucharchivs München gegründet; die erste Mitgliederversammlung fand in Stuttgart 1999 in der Hochschule für Bibliotheks- und Informationswesen (HBI) statt. Vorsitzende waren nacheinander Werner Faulstich, Lüneburg (1999/2000), Günther Häntzschel, München (2000–2004) und Wolfgang Schmitz, Köln (ab 2004). Auf der Münchner Jahresversammlung 2007 wurde eine Namensänderung in »Die Buchwissenschaftliche Gesellschaft« vorgenommen, um der engen Zusammenarbeit mit dem neuen »St. Galler Zentrum für das Buch« Rechnung zu tragen, das unter Mitwirkung des Deutschen Bucharchivs gegründet worden ist. Dadurch sollte eine Öffnung gegenüber allen deutschsprachigen Ländern erreicht werden. Auf der St. Galler Jahrestagung erfolgte am 13. Juni 2008 die Umbenennung in »Internationale Buchwissenschaftliche Gesellschaft«, um diesen Charakter noch stärker nach außen zu tragen.
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1 Arbeitsgebiete Im Mittelpunkt der Arbeit der Gesellschaft steht das Buch in der überkommenen Form auf Papier und Pergament, aber auch auf anderen Trägern wie Mikroformen und heute besonders Formen des elektronischen Buchs. Das Buch wird begriffen als »materialisierter Mittler geistiger Werte«1. Arbeitsgebiete sind, ausgehend vom Buch als materiellem Objekt seine Herstellung, seine Beschaffenheit, aber auch seine Verbreitung als kommerzieller Gegenstand und Nutzung, seine gesellschaftliche Wirkung und Bedeutung. Prinzipiell gehören entsprechend der thematischen Breite des Buchs und seiner Verwendung dazu die Schriftgeschichte, Typographie, die Beschreibstoffe und Trägermedien, die Illumination und Illustration sowie der Einband bis hin zu Werken der Buchkunst. Ebenso sind einbeschlossen die elektronischen Medien, Digitalisate, Digitalisierung und elektronische Plattformen (Zeitschriften). Neben das Buch selbst tritt die Herstellung und Verbreitung, also auch die Geschichte der Druckereien und Verlage, der Pressen sowie der verbreitende Buchhandel einschließlich der Buchgemeinschaften. Ein weiterer Bereich ist die Speicherung und Aufbewahrung der Bücher durch Bibliotheken und Literaturarchive. Schließlich ist auch der Nutzer zu sehen im Leser und Rezipienten, die Pflege des schönen Buchs samt Bibliophilie und die Nachnutzung in anderen Medienformen, z. B. Rundfunk und Film ebenso wie Fernsehen und Theater.
2 Methoden Das Buch ist Objekt vielfältiger Forschungsansätze und dahinter stehender Wissenschaften, neben den traditionellen buchwissenschaftlichen historische, kunsthistorische, literaturwissenschaftliche, soziologische, betriebs- und volkswirtschaftliche, juristische, technische, bibliothekswissenschaftliche. Die hier sozialisierten Forscher betreiben in ihrer angestammten Wissenschaftsdiziplin Buchforschung2. Daraus folgt: »Buchwissenschaftliche Forschungstätigkeit muss deshalb interdisziplinär entwickelt und kooperativ abgestimmt, aber monodisziplinär durchgeführt und als
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Delp: Buch und Wissenschaften, S. 776. Delp, S. 773.
Die Internationale Buchwissenschaftliche Gesellschaft
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Beitrag zu einem Gesamtprogramm mit buchwissenschaftlicher Zielsetzung verstanden werden.«3 Sie schränkt den oben genannten Rahmen insofern thematisch ein, indem sie auf die historische Betrachtung des Buchs weitgehend verzichtet, da es hierfür schon eine Reihe anderer Gesellschaften gibt (Wolfenbütteler Arbeitskreis für Bibliotheks-, Buch- und Mediengeschichte; Leipziger Arbeitskreis zur Geschichte des Buchwesens; Gutenberg-Gesellschaft Mainz). Ihre Arbeitsgebiete sind vorwiegend das deutschsprachige, mitteleuropäische Buchwesen mit Einbeziehung anderer nationaler Buchkulturen Europas und in Übersee, zeitlich die Gegenwart seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Satzungsänderung4 von 2007 macht eine Kurskorrektur in Hinsicht auf die ausdrückliche Einbeziehung der Praktiker aus dem Gebiet des Buchwesens (Druckereifachleute, Buchkünstler, Verleger, Buchhändler) deutlich. Die neue Formulierung lautet: »In der Buchwissenschaftlichen Gesellschaft haben sich Personen zur Förderung der Wissenschaft und Fachöffentlichkeit im Bereich des Buch- und Zeitschriftenwesens durch buchwissenschaftliche Forschung, Lehre, Dokumentation, Information und Nutzanwendung zusammengeschlossen.«5
3 Ziele Die IBG begreift sich also als Forum, auf dem sich alle am Buch Beteiligten zum Dialog zusammenfinden können: Autoren, Buchkünstler, Illustratoren, Verleger und Drucker, Buchhändler, Bibliothekare und die Vertreter der verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen, nicht zuletzt alle am Buch Interessierten. Die Mitglieder der Gesellschaft beschäftigen sich auf wissenschaftlicher Grundlage mit dem Buch, d. h. unter Anwendung wissenschaftlicher Methoden interdisziplinär. Die IBG –
möchte das Medium Buch im Mediensystem positionieren, das Buch soll nicht mehr isoliert, sondern im Kontext der gesamten Medienkultur begriffen und erforscht werden, um seine Formen und Funktionen im Hinblick auf die anderen Medien präziser zu erkennen und zu er-
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Delp, S. 773. Neue Satzung, S. 50–54. Änderung lt. Beschluss v. 21. Juni 2007.
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fassen; sie fördert die Öffnung der Buchforschung zur Medienforschung in Zusammenarbeit mit der Kommunikations- und Medienwissenschaft. Gleichzeitig sollen Wissenschaftler dieser Bereiche für die Buchforschung interessiert werden. will Forschung und Lehre zum Buch verbreiten. Derartige Lehr- und Forschungsinhalte sollen an den deutschen Universitäten und Fachhochschulen intensiviert werden mit neuen Forschungsansätzen und Aktionsfeldern, die sich aus der Öffnung zu den benachbarten Wissenschaften und durch Querverbindungen zu äquivalenten Phänomenen bei den anderen Medien ergeben. möchte die internationale Buchwissenschaft fördern und aktiv unterstützen. Deswegen versteht sich die IBG als Sektion einer Internationalen Medienwissenschaftlichen Gesellschaft. will mit dem Anfangsprogramm dazu beitragen, angesichts der rapiden und sich stark differenzierenden Entwicklung der Medienkultur der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Buch ein weiteres Schwergewicht zu verschaffen.
4 Wirkung Die Gesellschaft wirkt nach außen vor allem durch Publikationen6 und Tagungen: –
Mitgliederversammlungen 1999 und 2000 mit Vorträgen zum thematischen Schwerpunkt Buchwissenschaftliche Forschung in Europa
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Neue Perspektiven der deutschen Buchkultur in den 1950er Jahren (2002) Buchwissenschaft – Medienwissenschaft (2003) Literatur in der DDR im Spiegel ihrer Anthologien (2004) Das Buch in der Informationsgesellschaft (2005) Das Hörbuch (2006) Probleme des neuen Urheberrechts für die Wissenschaft, den Buchhandel und die Bibliotheken (2007) Buchgestaltung: Ein interdisziplinäres Forum (2008)
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Das Kinder- und Jugendbuch (2009)
6
Die Tagungsbände gehen den Mitgliedern als Jahresgabe zu.
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Internationale Buchwissenschaftliche Gesellschaft Vorsitz: Prof. Dr. Wolfgang Schmitz Mitglieder: 92 Adresse: Feldafinger Straße 43b 82343 Pöcking http://www.buchwiss.de [email protected]
5 Literaturverzeichnis Delp, Ludwig: Buch und Wissenschaften. Ein Beitrag zur Wissenschaftstheorie. In: Das Buch in Praxis und Wissenschaft. 40 Jahre Deutsches Bucharchiv München. Eine Festschrift. Hrsg. v. Peter Vodosek. Wiesbaden: Harrassowitz 1989 (Buchwissenschaftliche Beiträge. 25), S. 768–793. Delp, Ludwig (Hrsg.): Das Buch in der Informationsgesellschaft. Ein Symposion. Wiesbaden: Harrassowitz 2006 (Buchwissenschaftliche Beiträge. 6). Häntzschel, Günter (Hrsg.): Literatur in der DDR im Spiegel ihrer Anthologien. Ein Symposion. Wiesbaden: Harrassowitz 2005 (Buchwissenschaftliche Forschungen. 5). Kerlen, Dietrich (Hrsg.): Buchwissenschaft – Medienwissenschaft. Ein Symposion. Wiesbaden: Harrassowitz 2004 (Buchwissenschaftliche Forschungen. 4). Neue Satzung. In: Deutsche Buchwissenschaftliche Gesellschaft. Referate und Protokolle 1. Wiesbaden: Harrassowitz 2000, S. 50–54. Rautenberg, Ursula (Hrsg.): Das Hörbuch – Stimme und Inszenierung. Wiesbaden: Harrassowitz 2007 (Buchwissenschaftliche Forschungen. 7). Schmitz, Wolfgang: Rund um die Welt des Buches. In: Libernensis 2008, H. 2, S. 8–10. Schmitz, Wolfgang/Becker, Bernhard von/Hrubesch-Millauer, Stephanie (Hrsg.): Probleme des neuen Urheberrechts für die Wissenschaft, den Buchhandel und die Bibliotheken. Symposium am 21./22. Juni 2007 in München. Wiesbaden: Harrassowitz 2008 (Buchwissenschaftliche Forschungen. 8) .
IV Studium und Lehre
VOLKER TITEL
Zwischen allen Stühlen? Das universitäre Fach Buchwissenschaft in Erlangen 1 Einleitung Es fällt auf, dass aus dem Kreis buchwissenschaftlich Tätiger die Auseinandersetzung mit dem grundsätzlichen Warum des eigenen Tuns immer häufiger einen Ausgangspunkt bildet. Dies mag zum einen an dem unsicheren Status liegen, den das Medium Buch im Umfeld digital gestützter Kommunikation scheinbar hat: Wozu also noch der Aufwand? Aber auch, wenn man Buchwissenschaft als vorwiegend historisch begreift, ergibt sich keineswegs von selbst, warum es des spezifisch eigenen Engagements bedarf. Können dies nicht Kultur-, Wirtschafts-, Sozial-, Rechts-, Literatur- etc. Historiker ebenso oder gar besser erledigen? Beim Verlassen des akademischen Feldes wird die Ausgangslage nicht besser: Sie sind Professorin? Was ist Ihr Fachgebiet? – Buch … wissenschaft? – Da haben Sie wohl viel mit Literatur zu tun? – (Alternativ:) Wie schön, da haben Sie ja Zeit zum Lesen! – (Alternativ:) Wer studiert denn das? Gibt es da überhaupt Studenten? – (Alternativ:) Oh, Sie arbeiten in einer Bibliothek?!1
Dennoch gibt es das Fach Buchwissenschaft, studierbar an – wenn auch wenigen – Fachhochschulen und Universitäten. Diese Erfahrung kann das Unbehagen jedoch noch steigern: Warum gibt es gar Studiengänge für ein Fach, dessen Objekt womöglich in Auflösung begriffen ist und das hinreichend von anderen Disziplinen gewürdigt werden kann? Eine Antwort: Es gibt mit der Buchwirtschaft eine Referenzbranche, die als Perspektive für die Absolventen des Fachs Orientierung bieten kann. ›Praxisorientierung‹ heißt mithin vielfach das Motto, verstanden zumeist als berufspraktische Ausbildung – vorzugsweise durch Lehrende mit entsprechender Erfahrung. An der Hochschule der Medien (HdM) in Stuttgart und der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur (HTWK) in Leipzig ha1
Rautenberg: Wie, warum … studiert man, S. 1.
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Volker Titel
ben sich auf dieser Basis hervorragende Studienangebote entwickelt. Nun aber die Universitäten: Können und sollen wir wollen, mit den Angeboten dieser Hochschulen zu konkurrieren? Ein Dilemma, das durch die allenthalben entstehenden Bachelor- und Masterstudiengänge nicht verringert wird. Interessant ist, dass genau diese Situation der Unsicherheit zur Möglichkeit avanciert, über die Basis eines universitären buchwissenschaftlichen Faches zu reflektieren.
2 Grundlagen Verdeutlichen lässt sich dies am Beispiel der Digitalisierung. Sie rüttelt an den Grundfesten des Buchs in seiner konventionellen Form. Aber nein, so schlimm wird es nicht kommen, wenden viele ein, das gute alte gedruckte Buch bleibt uns erhalten, wir brauchen es als Kulturgut … und, so könnten wir zustimmen, als Legitimationspunkt für unsere Wissenschaft. Natürlich ist es spannend, diese Frage nach der Zukunft des traditionellen Codexbuchs im Kontext der Digitalisierung zu verfolgen, und wir werden es tun. Nicht aber aus defensivem Beharren, sondern aus offensiver, auch theoretischer Auseinandersetzung mit den Konsequenzen der Digitalisierung ergeben sich die eigentlichen Chancen, denn: »[…] weder das Buch noch die Wissenschaft davon bedürfen der ›Rettung‹ durch wohlmeinende Zivilisationskritiker. […] die Buchwissenschaft wird von den gegenwärtig zu beobachtenden Umbrüchen […] neue Impulse bekommen. […] Zwingt doch die neue mediale Durchlässigkeit zu einer Reflexion über die Medienspezifik des Buches und zum Nachdenken über eine allgemeine Medientheorie, die auch das Buch einbezieht.«2 Ausgangspunkt für eine solche Verortung des Buchs im Kontext der Medien kann die Beschäftigung mit dem Buchbegriff sein. Geschieht dies, so wird schnell deutlich, dass es hier keineswegs ›lediglich‹ um eine theoretische Übung geht, sondern dass zentrale Bereiche buchwissenschaftlicher Forschung und Lehre tangiert werden: Was also ist ein Buch? Unbestritten scheint, wenn auch durch die disziplinäre Praxis universitärer Forschung und Lehre nicht selten vernachlässigt, dass das Buch Bestandteil einer Medienkommunikation ist. Der Medienbegriff wiederum
2
Rautenberg/Wetzel: Buch, S. 14.
Das universitäre Fach Buchwissenschaft in Erlangen
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wird äußerst disparat gehandhabt.3 Es geht um die Speicherung und ggf. Übermittlung von Inhalten, im Buch realisiert durch Schrift- und Bildzeichen. Die Kettung der Zeichen im Buch führt zu Texten. Selbst wenn man jedoch von diesen Prämissen ausgeht, bleiben grundsätzliche wie spezifische Unklarheiten im Umgang mit dem Buchbegriff. Kann man beispielsweise von einem Buch nur dann sprechen, wenn die erwähnte Speicherung der Zeichenkomplexe auf Papyrus, Pergament oder Papier realisiert wird? Das so verstandene handgeschriebene oder gedruckte Buch als Materialobjekt steht traditionell im Zentrum buchwissenschaftlicher Forschung. Theoretische Schwierigkeiten bereitet dabei die Abgrenzung innerhalb des gesteckten Rahmens: Nicht alles Handgeschriebene oder Gedruckte ist ein Buch. Kommunikationsformen wie private Briefkorrespondenz, Flugblätter, Plakate, Zeitungen etc. lassen sich plausibel unterscheiden vom Buch. Auch das Kriterium der Veröffentlichung kann hinzugenommen werden, die sogenannte ›Graue Literatur‹ schwindet mit dieser Perspektive aus dem Fokus. Die Länge des Textes lässt sich zur Bestimmung des Buchbegriffes heranziehen, ebenso die herstellerische Verarbeitung. In der buchgewerblichen Praxis ist die Unterscheidung zwischen Buch und Broschur wichtig, die Frage also, welche Einbandart gewählt wird. Je nach Erkenntnisinteresse rücken einzelne dieser Kriterien verstärkt in Blickpunkt bzw. werden zu marginalen Schauplätzen. Möglich wäre, dies soll hier geschehen, ein ›Buch‹ als im urheberrechtlichen und buchhändlerischen Sinne veröffentlichtes Speichermedium zu fassen, Schrift- und stehende Bildzeichen enthaltend. Bezieht man den eben vorausgesetzten Begriff auf die Situation des modernen Buchmarkts bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, dann ergibt sich eine klare Orientierung auf das gedruckte Buch, so, wie es üblicherweise in unseren Regalen steht. Die geistige Leistung einer Autorin oder eines Autors manifestiert sich in einem Manuskript, das, seit Anfang des 20. Jahrhunderts meist als Typoskript, von einem Verlag betreut und bearbeitet zur physischen Herstellung des Buchobjektes an Drucker und Binder gereicht wird und nach der Fertigstellung über ein Netzwerk buchverbreitender Unternehmen und Institutionen an die Leserinnen und Leser gelangt. Mit der seit Ausgang des letzten Jahrhunderts üblichen Umwandlung analoger Informationen in digitale Formen verändern sich die Optionen der Speicherung und damit Verarbeitung von Manuskripten erheblich. 3
Vgl. u. a. Faulstich: Medienwissenschaft; Kübler: Mediale Kommunikation.
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Dies beeinflusst sowohl den Prozess der Herstellung konventioneller, gedruckter Bücher als auch die Optionen der Veröffentlichung selbst. Wie ergeht es dem Buchbegriff dabei? Ein Schlüsselbegriff innerhalb der digitalen Revolution scheint ›Multimedia‹ zu sein. Die »vielfältige Kombination aller denkbaren Zeichensysteme, also von Schriften, Grafiken, Tönen, statischen und bewegten Bildern, und deren je individuelle Komposition in Hybridmedien« 4 sei der bestimmende Faktor künftiger medialer Produktion und Rezeption. Die Frage ist, welche Position elektronische Bücher in diesem Kontext einnehmen. In theoretischer Perspektive ist der Begriff Multimedia interessant, weil er ein Gerüst für die Verortung der Einzelmedien bietet. Die multimedialen Kernelemente sind Schrift und stehendes Bild, Bewegtbild (Video) und Ton (Audio). Bücher sind Speichermedien für Schrift und/oder stehendes Bild. Das Verknüpfen dieser beiden Elemente könnte man zwar prinzipiell bereits multimedial nennen, ebenso die Verbindung von Bewegtbild und Ton. Die eigentliche Richtung und der Reiz des Begriffs zielt aber darauf, »dass die Darstellung statischer Elemente wie Text, Grafik, Standbild mit dynamischen wie Audio- oder Videosignalen kombiniert werden.«5 Entscheidend ist zudem die Synthese in einem Produkt, ›Cross Media‹ im additiven Sinne, also die Verwertung eines Sujets in mehreren medialen Umgebungen, dies ist nicht multimedial im hier gebrauchten Verständnis. 6 Auch die Übertragung eines schriftlichen Buchinhalts in ein Hörbuch ist kein multi-, sondern ein transmedialer Akt (insofern ist medientheoretisch der Begriff Hörbuch falsch – man kann es nicht lesen). Der Begriff Multimedia deutet auf ein weiteres Problem: Sind die (digitalen) Neuen Medien wirklich grundlegend ›neue‹ Medien? Geht man von den genannten medialen Kernelementen aus, so hat sich mit der Digitalisierung lediglich, wenn auch beträchtlich, das Prinzip der Speicherung geändert. 7 Die vielfach praktizierte Übertragung des Begriffes ›Medien4 5 6 7
Kübler: Mediale Kommunikation, S. 1f. Zimmer: Multimedia, S. 359f. Ein anderes Verständnis favorisiert beispielsweise Werner Faulstich, in dem er u. a. Peter Alexander als »Multimedienstar« bezeichnet, da dieser mit verschiedenen Einzelmedien (Kinofilm, Schallplatte, Fernsehen) erfolgreich war. Vgl. Faulstich: Medienwissenschaft 2002, S. 258f. Als Ergebnis eines gemeinsamen Projekts des Büros für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) in Berlin und des Instituts für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) in Karlsruhe veröffentlichte ein Autorenkollektiv 2003 eine 470seitige »kritische Bestandsaufnahme« zum E-Commerce in Deutschland. Ein interessanter Aspekt ergibt sich durch den Aufbau der Studie für die Beschäftigung mit dem Medienbegriff. Die Autoren haben das ›Buch‹ neben ›Tonträger‹ und ›Video‹ dem »Handel mit Medienprodukten« zugeordnet – eine sinnvolle Praxis, die nicht, wie bei so vielen anderen
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konkurrenz‹ auf das Verhältnis traditionelle vs. Neue Medien ist theoretisch nicht befriedigend. Gleiches gilt für die Bezeichnung ›digitale Medien‹ – ›digitalisierte Medien‹ sind gemeint, auch und gerade im Sinne von Multimedia. ›Digital‹ ist die Technologie, auf deren Basis die Medien gespeichert werden. Durch die Digitalisierung verbessern sich die Möglichkeiten zur Schaffung multimedialer Produkte beachtlich; auch ein Buch kann nun mit Video und/oder Audio zu einem Werk verbunden werden. Allerdings kann, denn es gibt keine plausible Veranlassung, aus der Digitalisierung eines Buchs zwangsläufig dessen Multimedialisierung zu folgern. Die gleiche Einschränkung ist bei dem zweiten großen Neuheitspostulat zu beachten: ›Interaktivität‹ kann, mit unterschiedlicher Ausprägung, zu den Funktionalitäten digitalisierter Bücher gehören. Geschieht dies, so könnte dies tendenziell zur »Aufhebung der Einseitigkeit [führen], wie sie für etablierte Massenkommunikation vom Sender zum Empfänger charakteristisch ist; möglich wird also Interaktivität, die wie bei der personalen Kommunikation jeden Teilnehmer technisch gleichberechtigt kommunizieren lässt.«8 Freilich ist dies eine eher entrückte Erörterung möglicher Potenziale. Man muss sich fragen, inwiefern die hier letztlich intendierte Verständigung zwischen Autor bzw. Werk und Rezipient – »wie bei der personalen Kommunikation« – tatsächlich, und zwar mit unmittelbarem Bezug zur Werknutzung, realisiert (werden) wird. Es besteht die Gefahr, den Begriff der Interaktivität im Kontext medialer Produktion theoretisch zu überlasten. Was kann es bedeuten, wenn einem digitalen Produkt Interaktivität bescheinigt wird? Zunächst geht es schlicht um die »Benutzerführung in Anwenderprogrammen oder Multimediaanwendungen, die dem Anwender über Menüs und Dialogboxen bzw. Programmmeldungen und Schaltknöpfe oder Programmverzweigungen bei Spielen etc. Entscheidungsmöglichkeiten anbieten.«9 Das Umgehen der traditionellen Linearität ›klassischer‹ medialer Formen wird wesentlich erleichtert, dies betrifft Grundfunktionen etwa des Aufsuchens bestimmter Seiten bzw. Textstellen und lässt sich – bei entsprechender Programmierung – beziehen auf die nun leichtere Komposition einzelner Werkteile bis hin zur personalisierten Veranlassung und ggf. Mitautorschaft zuvor nicht existierender Werke.
8 9
Studien, im Moment der Digitalisierung zugunsten einer neuen Medienkonkurrenz über Bord geworfen wird. Vgl. Riehm: E-Commerce in Deutschland. Kübler: Mediale Kommunikation, S. 1. Zimmer: Multimedia, S. 279.
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Die eben angesprochene Frage des technischen bzw. technologischen Aufwands hat schon vor der Digitalisierung ein viel beachtetes Modell hervorgebracht,10 das unmittelbare menschliche Kommunikation als medial primär fasst, sekundär jene Medien bezeichnet, für deren Produktion, nicht aber für deren Rezeption technische Unterstützung erforderlich ist und schließlich als tertiär jene Medien ansieht, die sowohl Produktion als auch Rezeption technisch unterstützt realisieren. Das Buch als Träger von Schrift- und stehenden Bildzeichen fand in diesem Schema seine Zuordnung als Sekundärmedium. Mit der Digitalisierung medialer Produktion und sukzessive auch Rezeption gerät das Modell jedoch ins Wanken. Die Möglichkeiten von Multimedia und Interaktivität bei digitalen medialen Formen haben daher in jüngster Zeit zu dem Vorschlag geführt, diese als quartär zu bezeichnen.11 Systematisch lässt sich das digitale QuartärMedium jedoch kaum in das Modell von Pross einfügen; es ist eher ein Sonderfall des Tertiär-Mediums – dessen Kriterium der technischen Unterstützung bleibt bestehen. Gravierend im Sinne des Modells ist hingegen, dass Schrift und stehendes Bild nun auch bei der Rezeption eine technische Unterstützung erfordern, das Buch mithin sowohl Sekundärals auch Tertiär-Medium sein kann. Was folgt aus alledem? Medientheoretisch ist kein Ende des Buchs in Sicht – weder für den Buchbegriff noch für Forschung und Lehre ist es daher sinnvoll, ihr Interesse auf das Materialobjekt zu beschränken. Dies ist ein für die Buchwissenschaft erfreulicher, weil zukunftsweisender Befund.12
3 Institutioneller Rahmen Das heutige Fach »Buchwissenschaft« an der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg (FAU) ging aus dem 1974 etablierten Studienschwerpunkt »Buch- und Bibliothekskunde« hervor. Realisiert wurde das Studienangebot zunächst auf Basis eines Lehrauftrages, den der Würzburger Historiker Otto Meyer übernommen hatte. 1983 wurde der Buchund Bibliothekskunde in Erlangen eine Professur zugewiesen, die ein Jahr darauf mit Alfred Świerk besetzt wurde. Institutionell war das Studium zunächst dem Lehrstuhl für Geschichte des Mittelalters und Historische Hilfswissenschaften zugeordnet, ab 1991 erhielt das Fach den Status einer 10 11 12
Vgl. Pross: Medienforschung. Vgl. u. a. Wetzel: Medium, S. 352. Vgl. Titel: Vom Schicksal des Buchbegriffs, S. 18f.
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eigenständigen Verwaltungs- und Organisationseinheit. 13 Begleitet wurde diese Entwicklung von einem wachsenden Zuspruch auf studentischer Seite, nicht jedoch von einem weiteren strukturellen Ausbau. Im April 1997 wurde nach dem Ausscheiden von Alfred Świerk die zweieinhalbjährige Vakanz durch die Berufung von Ursula Rautenberg beendet. Im Sommersemester 1998 wurde das Fach offiziell in »Buchwissenschaft« umbenannt. Hinter dieser Umbenennung stand das Konzept, das Fach inhaltlich auf eine breitere eigenständige Basis zu stellen.14 Damit verbunden war die Lösung von der ursprünglichen Orientierung auf Schwerpunkte der Historischen Hilfswissenschaften und die Hinwendung zu spezifisch buchwissenschaftlichen Themen in historischer und gegenwartsbezogener Perspektive, zunehmend unter Nutzung medien-, sozial- und wirtschaftswissenschaftlicher Methoden und Ansätze. Neben dieser konzeptionellen Entwicklung war für die Erlanger Buchwissenschaft das Jahrzehnt nach der Berufung Rautenbergs von deutlichem Wachstum und struktureller Konturierung gekennzeichnet. Von 1997 bis zum Wintersemester 2009/10 hat sich die Zahl der Studierenden von 83 auf 375 fast verfünffacht, und auch das Lehrprogramm konnte in diesem Zeitraum erheblich ausgebaut werden. Voraussetzung hierfür war eine Erweiterung der Stellenausstattung und des damit verbundenen Lehrdeputats. Begleitet wurde dieses Stammdeputat einerseits durch das Engagement von Honorarprofessoren auf dem Gebiet des Verlagsrechts – zunächst durch Ludwig Delp, ab Herbst 2006 durch Peter Lutz –, andererseits durch Lehrbeauftragte15 vorwiegend aus der buchhändlerischen bzw. verlegerischen Praxis und durch zahlreiche Gastreferenten, die innerhalb von regulären Lehrveranstaltungen mit Einzelvorträgen oder während der seit 1998 stattfindenden Vortragsreihe »Alles Buch« in Erlangen auftraten. Im Jahr 2004 konnte die Erlanger Buchwissenschaft einen erneuten wichtigen Meilenstein auf dem Weg des Ausbaus erreichen: Das Fach erhielt von der Universitätsleitung eine zweite Professur als Planstelle zugewiesen, realisiert zunächst durch eine zweijährige Anschubfinanzierung des Freistaates Bayern. Bemerkenswert ist diese Professur nicht nur wegen der damit einher gehenden Stellenerweiterung des Fachs. Durch die explizite Spezialisierung der Professur auf Prozesse 13 14 15
Vgl. Świerk: Buch- und Bibliothekskunde, S. 9–15. Vgl. Rautenberg: Bücher, S. 31–33. Als ›ständige‹ Lehrbeauftragte im Magisterstudiengang Buchwissenschaft wirken u. a.: Ernst W. Bork (Thalia Palm & Enke, Erlangen), Dr. Günther Fetzer (AIO Buch und Bücher, München), Dr. Martina Steinröder (Steinröder Publishing Consulting, München). Hinzu kamen wechselnde Lehrbeauftrage aus unterschiedlichen Bereichen des herstellenden und verbreitenden Buchhandels und der Branchenverbände.
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des Elektronischen Publizierens wurde ein deutliches Signal der weiteren Öffnung hin zu Fragen der Digitalisierung gesetzt, ein Schwerpunkt, der schon zuvor durch Themen in Forschung und Lehre berücksichtigt wurde, der von nun an aber zu einem festen Bestandteil innerhalb der Lehrveranstaltungen am Fach wurde. Im Zusammenhang mit der Einführung der Studienbeiträge in Bayern (2007) und der Umstellung auf BachelorStudiengänge erhielt das Fach weitere Mittel, aus denen u. a. eine Erweiterung des Seminarangebotes durch neue Lehrkräfte finanziert werden kann. Eine weitere erhebliche personelle Ausweitung konnte mit dem Wintersemester 2008/09 beginnen. Das Bayerische Staatsministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst hat die Erlanger Buchwissenschaft in den Katalog der Fächer an bayerischen Hochschulen aufgenommen, die bis 2012 ausgebaut werden sollen. Im Rahmen dieser Initiative werden über die bisherigen Zulassungszahlen hinaus bis 2012 weitere Studienanfängerplätze geschaffen. Bereits zum Wintersemester 2008/09 wurde eine weitere Akademische Ratsstelle zugewiesen und besetzt. Zum Sommersemester 2010 wird eine Juniorprofessorin oder ein Juniorprofessor nach Erlangen berufen. Zwei weitere wissenschaftliche Mitarbeiterstellen sind 2009 zugewiesen worden. Damit hat die Erlanger Buchwissenschaft hinreichende personelle Ressourcen, um Doppelkompetenzen in Lehre und Forschung einzuholen. Der Lehrstuhl für Buchwissenschaft vertritt das Fach in der ganzen Breite; die zweite Professur nimmt die buchwissenschaftliche Forschung und Lehre mit einem Schwerpunkt auf der Mediensoziologie wahr. Das Rechtsfeld wird weiterhin über die Honorarprofessur vertreten sein, während die Juniorprofessur den buchwirtschaftlichen Schwerpunkt einbringt. Auch die neu zu besetzenden Mitarbeiterstellen werden neben einem buchwissenschaftlichen Examen komplementäre Schwerpunkte einbringen, so zum Beispiel im Bereich der sog. Neuen Medien. Zum Wintersemester 2007/08 wurde eine neue gesamtuniversitäre Struktur geschaffen, die eine Untergliederung der fünf verbleibenden Großfakultäten in relativ eigenständige Verwaltungseinheiten auf der Departmentsebene vorsieht. Innerhalb der Philosophischen Fakultät sind die Fächer Theater- und Medienwissenschaft, Buchwissenschaft und Kunstgeschichte dem Department »Medienwissenschaften und Kunstgeschichte« zugeordnet. Fakultätsübergreifende Zweitmitgliedschaften bestehen mit den Fächern Christliche Publizistik und Kommunikationswissenschaften. Über diese formale universitäre Struktur hinaus beteiligt sich das Fach
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am Interdisziplinären Medienwissenschaftlichen Zentrum (IMZ),16 das als Forum des wissenschaftlichen Austauschs fungiert und seit 2008 den Rahmen für eine Graduate School bietet. Zu den wichtigen institutionellen Rahmenbedingungen, innerhalb derer die Erlanger Buchwissenschaft agiert, gehört im Sinne eines erfolgreichen Public Private Partnership der 2007 gegründete Freundeskreis der Erlanger Buchwissenschaft. Hiermit steht dem Fach ein Gremium für die ideelle, finanzielle und materielle Förderung der buchwissenschaftlichen Lehre und Forschung zur Seite. Persönlichkeiten in führenden Positionen aus unterschiedlichen Sparten des Buchhandels repräsentieren den Freundeskreis als Beiräte.17 Seit 2008 findet einmal jährlich der Studientag des Freundeskreises der Erlanger Buchwissenschaft in Erlangen statt. Anliegen dieser Veranstaltung ist die Vernetzung des Fachs und seiner Studierenden mit den Förderern und mit Praxisvertretern. In Praxisberichten und Workshops geben Referenten aus Verlagswesen, Buchhandel und weiteren Institutionen Einblick in ihre Tätigkeitsfelder. Es werden jeweils aktuelle Entwicklungen zu einem jährlich wechselnden Rahmenthema18 vorgestellt und diskutiert. Am 9. November 2006 wurde ein Kooperationsvertrag mit der Thalia Universitätsbuchhandlung GmbH unterzeichnet. Das Unternehmen stellt dem Fach Buchwissenschaft das Thalia-Promotionsstipendium zur Verfügung. Es wird jeweils für 24 Monate an eine herausragende Absolventin oder einen Absolventen des Fachs für die Anfertigung einer Dissertation aus dem Themenbereich »Marktstruktur, Unternehmensstrategien und Kundenverhalten im verbreitenden Buchhandel« vergeben.
4 Schwerpunkte in Forschung und Lehre Buchwissenschaft lässt sich als das Fach definieren, das das Buch als Überlieferungsmedium von Texten und Bildern erforscht und lehrt: seine medienspezifischen Eigenschaften, auch im Vergleich mit den anderen Medien, seine Herstellung und Gestaltung, den Verlagsbuchhandel, den verbreitenden Buchhandel und den Buchmarkt. 16 17
18
http://www.imz.uni-erlangen.de [09.12.2009]. http://www.buchwiss.uni-erlangen.de/freundeskreis [09.12.2009]. Als Beiräte fungieren derzeit: Jürgen Könnecke, Gesellschafter und Board-Mitglied Thalia Holding GmbH; Joerg Pfuhl, Vorsitzender der Geschäftsführung Verlagsgruppe Random House; Klaus G. Saur, Ehrensenator der FAU; Matthias Ulmer, Verleger Eugen Ulmer KG; Oliver Voerster, Geschäftsführender Gesellschafter, Koch, Neff & Volckmar GmbH. Der erste Studientag am 30. Mai 2008 stand unter dem Motto »Liest du noch oder kochst du schon? Aktuelle Trends im Kochbuchmarkt«. Am 10. Juli 2009 fand der zweite Studientag zum Thema »Der Duft der großen weiten Welt – internationales Lizenzgeschäft heute« statt.
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Einfacher kann man auch sagen: Buchwissenschaft begleitet den Publikationsprozess eines Buches vom Zeitpunkt, zu dem der Autor/Herausgeber die Feder fallen lässt oder die Hände von der Tastatur nimmt, bis zum fertigen ›Produkt‹ in der Buchhandlung oder im privaten Bücherregal. Darüber hinaus richtet sich das Interesse in der Leser und Buchmarktforschung auch auf den Käufer und Leser. […] Seine [des Buches] ›Inhalte‹ sind nur insofern relevant, als sie Buchtypen und Warengruppen, Leseinteressen und Zielgruppen konstituieren und so unter die Obhut spezieller Verlagstypen, Buchhandlungen, Marketingstrategien oder Kalkulationsmodelle fallen.19
Wichtig ist bei dieser Bestimmung, dass deren Elemente nicht ausschließlich auf die unmittelbare Analyse gegenwärtiger Prozesse bezogen werden. Das universitäre Fach Buchwissenschaft an der FAU pflegt daneben als ein wesentliches Profilierungsmerkmal in Forschung und Lehre die historischen Dimensionen buchwissenschaftlicher Themen. Richtet man den Blick exemplarisch, wie es im Folgenden geschehen soll, auf einige der in den letzten Jahren am Fach durchgeführten Forschungsprojekte, so wird die Koexistenz von historischen und aktuellen Schwerpunkten deutlich. Von großer, auch internationaler Bedeutung ist ein von der DFG gefördertes interdisziplinäres Kooperationsprojekt: die Erstellung und Betreuung des »Wissenschaftsportals Bibliotheks-, Buch- und Informationswissenschaften« (b2i), das bislang verstreut zugängliche Fachinformationen bündelt und unter einer einheitlichen Suchoberfläche zusammenführt.20 Mit ihrer Mitwirkung am Wissenschaftsportals b2i verfolgt die Erlanger Buchwissenschaft das Ziel, Forschungsergebnisse der deutschen Buchwissenschaft national wie international besser sichtbar und nachnutzbar zu machen und den Zugang zu digitaler Fachinformation zu erleichtern. Eine der wesentlichen Errungenschaften des frühen Buchdrucks ist die »Entstehung des Buchtitelblatts« mit dem gedruckten Buch in der Inkunabelzeit. Die Ergebnisse eines von der DFG von Januar 2000 bis März 2002 geförderten Forschungsprojektes sind in einzelnen Folgen im Archiv für Geschichte des Buchwesen publiziert worden.21 Das Material ist als Internet-Publikation Das frühe deutsche Buchtitelblatt. Mainz, Bamberg, Straßburg, Köln, Basel, Augsburg und Nürnberg. Bibliographische Daten und Abbildungen der weiteren Forschung zugänglich gemacht worden.22 19 20 21 22
Rautenberg: Wie, warum … studiert man, S. 1f. http://www.b2i.de; vgl. den Beitrag von Capellaro/Duntze in Bd. 2. Vgl. Rautenberg: Die Entstehung und Entwicklung; Gummlich-Wagner: Das Titelblatt in Köln; Duntze: Das Titelblatt in Augsburg; Herz: Das Titelblatt in Nürnberg. Weitere Folgen zum Titelblatt in Straßburg und Basel sind für die folgenden Jahrgänge des AGB vorgesehen. Im Juli 2004 online gestellt unter Rautenberg/Duntze: Das frühe deutsche Titelblatt. http://inkunabeln.ub.uni-koeln.de/titelblatt/ [23.03.2008].
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Seit Januar 2008 arbeitet ein interdisziplinäres, ebenfalls von der DFG gefördertes Projekt »Die ›Melusine‹ des Thüring von Ringoltingen in der deutschen Drucküberlieferung von ca. 1473/74 bis ins 19. Jahrhundert – Buch, Text und Bild«.23 Im Mittelpunkt steht der Prosaroman Melusine als Buch wie es der spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Buchhändler plante, verlegte, vertrieb und wie es der zeitgenössische Käufer und Leser in den Händen hielt und rezipierte. Das Untersuchungskorpus umfasst die Überlieferung vom Baseler Erstdruck (um 1473/74) bis zum Auslaufen der Ausgaben als populäres Kleinschrifttum in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Die Buch-, Text- und Illustrationsgeschichte eines populären Lesestoffs aus der Sicht der Buchwissenschaft, der Sprachgeschichte und der Kunstgeschichte wird über einen langen Zeitraum hinweg nachgezeichnet. In der Forschung, der medial konstituierten Öffentlichkeit sowie in der unmittelbaren Erziehungsarbeit in Kindergärten und Schulen haben Debatten um den Erwerb von Lese- und Medienkompetenz gegenwärtig einen hohen Stellenwert. Die Erlanger Buchwissenschaft greift dieses Themenfeld auf, in dem sie einerseits bestehende Forschungsansätze zur Frage der Lesesozialisation und des Medienkonsums analysiert und sich an deren theoretischer Fundierung beteiligt, andererseits mit Kooperationspartnern der pädagogischen Praxis (Kindergärten, Schulen) Möglichkeiten der Intervention im Sinne einer erfolgreichen Förderung von Medienkompetenz konzipiert und testet. Ziel des u. a. vom Stifterverband für die deutsche Wissenschaft geförderten Projektes »Abenteuer Buch« 24 ist es, Initiativbausteine zu entwickeln, mit deren Hilfe Kinder im Kindergartenalter ein verstärktes Interesse am Medium Buch aufbauen können. Der innovative Ansatz des Projektes ergibt sich daraus, dass nicht das unmittelbare Lesen bzw. Vorlesen im Zentrum der Aktivitäten steht, sondern zunächst das Buch selbst: die Geschichte, die Herstellung und der Gebrauch des Buchs im Alltag. Durch die Beachtung der Internationalität des Buchs kann zudem eine Sensibilisierung für ausländische Kultur- und Sprachräume geleistet werden, wie umgekehrt ein Beitrag für die Integration ausländischer Kinder geleistet wird. Es gibt kaum Fachliteratur zum deutschen Buchhandel in chinesischer Sprache. Einen Baustein legt nun das Erlanger Übersetzungsprojekt mit 23 24
http://www.buchwiss.uni-erlangen.de/forschung/laufende-projekte.shtml#melusine [05.12.2009]. http://www.abenteuerbuch.com [23.03.2008]. Vgl. Salomonsberger/Stricker/Titel: Leseförderung.
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»Deutsch-chinesisches Lexikon des Buchwesens«, das 2009 im Verlag China Book Press in Peking erschienen ist. Den Anlass zu diesem für einen deutschen buchwissenschaftlichen Studiengang ungewöhnlichen Publikationsprojekt sind die regen und vielfältigen Beziehungen des Fachs in die Volksrepublik China, die auf längeren Lehrtätigkeiten 1988/89 und 2005 von Rautenberg in Shanghai beruhen. Im Mai 2007 wurde zudem ein Kooperationsvertrag mit dem Studiengang »Publishing Science« an der Universität Wuhan unterzeichnet. Steht die Buchbranche vor einem Umbruch? Die Möglichkeiten der Digitalisierung und der global vernetzten Kommunikation haben sowohl die Herstellung literarischer Erzeugnisse als auch deren Vertrieb vor neue Herausforderungen gestellt, das Erlanger Projekt »E-Publishing und ECommerce im Buchmarkt« analysiert diese Entwicklung. Seit dem Ausgang des 20. Jahrhunderts geht es nicht mehr nur um Medienkonkurrenz, um das Nebeneinander etwa von Printmedien, Hörfunk und Film, mehr und mehr findet sich auch das geschriebene Wort eingebettet in multimediale Publikationen oder bemüht sich in elektronischen Büchern online und offline um Marktanteile. Während elektronisch gestütztes Publizieren, beginnend bei der Manuskripterstellung durch den Autor, bereits zum Alltag gehört, bleibt die Nutzung von CD-ROM-Editionen und online bereitgestellten Langtexten hinter den noch Mitte der 1990er Jahre vielfach euphorisch geäußerten Erwartungen zurück. Ähnliches lässt sich im Bereich der Vertriebswege konstatieren, wobei hier bereits – wie beim Antiquariatsbuchhandel – deutliche Veränderungen spürbar werden. Das Projekt bündelt den vor allem in Deutschland noch sehr disparaten Forschungsstand und ergänzt vorhandene empirische Analysen um Fallstudien und Umfragen zu Teilaspekten bzw. zur Betroffenheit einzelner Wirtschaftsstufen.25 Die Bedeutung eines Mediums im Kommunikationsgefüge einer Gesellschaft lässt sich auf unterschiedliche Weise bestimmen. Zu den geläufigen Methoden zählen empirische Erhebungen von Mediennutzungsdaten und die Analyse ökonomischer Faktoren. An das Medium Buch knüpft sich darüber hinaus ein komplexes Geflecht von Zuschreibungen, die individuell, sozial und kulturell bedingt sind. Sie erwachsen aus erlernten Vorstellungen, aber auch aus dem alltäglichen Umgang, den Erfahrungen, die ein Mensch macht, wenn er ein Buch nutzt. Damit tut sich das weite Feld des zeichenhaften Buchgebrauchs in der Alltagskultur auf, eine reiche 25
Vgl. u. a. Titel: The Digital Book; Kuhn/Titel: E-Commerce; Titel: Antiquarische Netzzeit.
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Fundgrube für das gerade aktuelle Buchimage. Seit 2005 baut die Erlanger Buchwissenschaft in einem Langzeitprojekt eine Beispiel-Datenbank auf.26 Dem vielfältigen Spektrum der hier skizzierten Projekte entspricht auch das Lehrangebot der letzten Jahre, aus dem sich oft auch die Themen für Abschlussarbeiten am Fach ergeben. Die besten von ihnen erhalten seit 2003 die Möglichkeit, durch die Online-Publikationsreihe Alles Buch 27 weltweit kostenlos zugänglich zu sein. Publiziert werden hier neben herausragenden Abschlussarbeiten auch Handreichungen für das Studium und Forschungsergebnisse der Lehrenden. Das übliche Potenzial elektronischer Bücher, zum Beispiel die Volltextrecherche, wird bei einigen Bänden durch Verlinkungen zu Bildergalerien ergänzt. Viele Zuschriften und Zitationen in elektronischen sowie gedruckten Dokumenten belegen den Erfolg der Reihe. Die Arbeit von Claudia Halbmeier (veröffentlicht als Band 16) wurde 2005 mit dem Dietrich-Kerlen-Preis der Medienstiftung der Sparkasse Leipzig ausgezeichnet.
5 Studiengänge Der Bachelorstudiengang »Buchwissenschaft«, begonnen mit dem Wintersemester 2007/08, hat das Ziel, grundlegende Kenntnisse über die Produktion, die Verbreitung und die Rezeption des Mediums Buch in historischer und aktueller Perspektive zu vermitteln. Studiengegenstand ist das Buch als Überlieferungsträger von Texten und Bildern in handschriftlicher, gedruckter und elektronischer Form. Zentrale Lehr- und Lerngegenstände sind darüber hinaus die Organisationsformen und Institutionen buchmedialer Kommunikation sowie die Buchwirtschaft. Die Schwerpunkte des Studiums liegen bei der Verbreitung buchtypischer Inhalte durch das Buch in der Codexform vom Mittelalter bis zur Gegenwart; mit der wachsenden Bedeutung der Digitalisierung öffnet sich das Fach den Strategien des E-Publishing und des E-Commerce. Die spezifischen Eigenschaften buchmedialer Kommunikation werden, auch im Vergleich mit den audiovisuellen Medien, durch die Anwendung interdisziplinärer Methoden herausgearbeitet. Erreicht werden soll der Erwerb einer doppelten Kompetenz: einerseits die Fähigkeit zur wis-
26 27
Vgl. Rautenberg: Das Buch in der Alltagskultur. Alles Buch. Studien der Erlanger Buchwissenschaft. Hrsg. v. Ursula Rautenberg u. Volker Titel. Erlangen 2003ff. http://www.alles-buch.uni-erlangen.de.
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senschaftlich fundierten Analyse, andererseits die an der Praxis orientierte Kenntnis buchbezogener Tätigkeitsbereiche. Das Studium ist so angelegt, dass es in sechs Semestern absolviert werden kann. Es besteht aus Pflicht- und Wahlpflichtmodulen und ist in drei Phasen gegliedert: In der ersten, einjährigen Studienphase erwerben die Studierenden eine breite Basis in den Bereichen Buchwissenschaftliche Grundlagen, Lesen und Leser, Moderner Buchmarkt und Typographie, indem sie einführende Veranstaltungen besuchen. In der zweiten Studienphase werden die fachlichen und methodischen Kompetenzen erweitert, spezialisiert und kontextualisiert. In der dritten Studienphase erfolgt die weiterführende Spezialisierung in ausgewählten Themenschwerpunkten der Bereiche Buch- und Buchhandelsgeschichte, Buchwirtschaft sowie Electronic Publishing und Electronic Commerce. Zum Wintersemester 2010/11 wird ein theoriebezogener, konsekutiver Masterstudiengang »Buchwissenschaft« etabliert. Dieser Studiengang wird als Ein-Fach-Master mit einer Regelstudienzeit von vier Semestern konzipiert. Die inhaltlichen Schwerpunkte bilden die buchmediale Kommunikation in historischer und aktueller Perspektive, die Buchnutzungsforschung, die Buchmarktanalyse, die Analyse internationaler Buchmärkte, E-Business und Cross-Media-Publishing, Buchmedienästhetik und Buchgestaltung sowie Buchwissenschaftliches Projektmanagement.
6 Resümee: Zwischen allen Stühlen! Buchwissenschaft ist dort, wo sie sich auch auf universitäre Lehre verwiesen findet, zur Beachtung der Berufsperspektiven ihrer Studierenden verpflichtet. Diese sind, das geht aus den Selbstdarstellungen der Studiengänge hervor, zu großen Teilen auf Tätigkeitsbereiche in der Buchwirtschaft gerichtet und hierin besonders auf den Verlagsbuchhandel. An den buchwissenschaftlichen Studiengängen wird dem u. a. durch Einbeziehung von Seminaren zum modernen Buchmarkt Rechnung getragen, z. T. durch externe Lehrbeauftragte aus diversen Bereichen unternehmerischer Praxis. Es bleibt aber die Frage nach der Spezifik universitärer Ausbildung, etwa im Vergleich zur sehr guten Fachhochschulausbildung. Buchwissenschaft darf nicht ein Zwitterleben führen, indem sie möglichst berufspraktisch ausbildet und zugleich möglichst ›scientific‹ forscht. So wichtig die Orientierung an der Praxis ist, universitäre Ausbildung und universitäre Forschung müssen über sie hinausgehen, nicht um sich zu überhe-
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ben, sondern um den Anspruch wissenschaftlicher Reflexion einzulösen. Der Ansatz hierfür mag ›kulturwissenschaftlich‹ genannt werden, wenn denn die so verstandene Buchwissenschaft eine »Integration der zersplitterten Wissenschaftsaspekte anstrebt«28. Wenn man sich zum Anspruch eines universitären Fachs bekennt, dann »muss sich ein an einer Universität angesiedeltes Fach als wissenschaftliches verstehen, sonst würde es nicht dorthin gehören. Die viel zitierte Schlüsseltugend der Reflexionsfähigkeit verstehen wir als analytische Durchdringung des Faktischen, als Nachfrage nach Grund und Ursache und in eigenständigem analytischem Denken und Arbeiten. Nicht das Wie, sondern das Warum steht an erster Stelle.« 29 Bezogen auf das eingangs bemühte Thema der Digitalisierung bedeutet dies zum Beispiel, deren Auswirkungen auf die Praxis nicht nur anhand der kompetenten Erfahrung in verschiedenen Unternehmensbereichen agierender Spezialisten darzustellen, sondern (medien)theoretisch einzuordnen und empirisch fundiert zu analysieren. Hier gibt es viel zu tun. Noch immer sind wir z. B. bei Branchenstatistiken weitgehend auf die Veröffentlichungen des Börsenvereins angewiesen, die, wie eine aufwendig betriebene AKEP-Umfrage belegt, 30 mitunter fragwürdige Datengrundlagen bieten und für sekundäranalytische Beanspruchungen nur bedingt tauglich sind. Beispielgebend für fundierte wissenschaftlichempirische Analysen ist seit mehreren Jahren das Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) am Forschungszentrum Karlsruhe,31 das mit einer Reihe von Projekten zum Elektronischen Publizieren und zum E-Commerce nicht nur für den Bereich der Medien wertvolle Erkenntnisse und Anregungen für buchwissenschaftliches Arbeiten liefert. Die Hinwendung zu neuen Informationstechnologien kann sinnvoll eingebettet werden in historische Forschungen und umgekehrt. Offensichtlich ist dies bei Schlagworten wie ›Innovation‹ oder ›Revolution‹, die für die Kennzeichnung von buchgeschichtlichen Entwicklungen durchaus häufige Anwendung finden. Selbst das vermeintlich klassisch-druckmedienorientierte Thema Typographie kann, ohne seine Grundlagen zu verlassen, auf elektronische Publikationsformen übertragen werden. 32 Gleiches gilt auch für die hiermit in Verbindung stehende Buchwirkungsforschung, die in historischer und aktueller Perspektive zu einem mögli28 29 30 31 32
Füssel: Buchwissenschaft als Kulturwissenschaft, S. 38. Rautenberg: Wie, warum … studiert man, S. 2. Vgl. AKEP/Börsenverein: 10 Jahre elektronisches Publizieren. Vgl. die Projektbeschreibungen auf http://www.itas.fzk.de [23.03.2008]. Vgl. u. a. Bayer: Bildschirmtypographie.
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chen Schlüssel für eine vergleichende Medientheorie werden kann.33 Der Ansatz, buchhandelsgeschichtliche Forschungen systemtheoretisch zu betreiben, 34 lässt sich auf die Analyse des gegenwärtigen digitalen Umbruchs insofern gut übertragen, als sich Produktion und Rezeption digitaler Bücher sinnvoll für differenzierte soziale Systeme darstellen lassen, wobei sich die Spannung gerade aus den Überlagerungen einzelner Felder ergibt. Der für gedruckte Bücher dargestellte Transfer des »kulturellen Treuhandsystems« in das »Wirtschaftssystem« als »Medienkonvertierung in Gestalt einer Doppelcodierung« 35 kann als Modell auch für die Analyse elektronisch gestützter Marktprozesse dienen. Und wie sieht es mit der Verortung der Buchwissenschaft im Kanon der universitären Disziplinen aus? Für welchen Stuhl sollen wir uns entscheiden? Wie es scheint, kommt es zu einer neuerlichen Erweiterung der Zahl an Disziplinen, mit denen sich Buchwissenschaft befassen muss. Dies jedoch nicht als dilettierender Zaungast, sondern aus eigener Profession und – Position.
33 34 35
Vgl. Kerlen: Lehrbuch der Buchverlagswirtschaft, S. 281–284. Vgl. u. a. Jäger: Keine Kulturtheorie ohne Geldtheorie, S. 24–40. Jäger, S. 31.
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7 Literaturverzeichnis Abenteuer Buch. Ein Projekt des Faches Buchwissenschaft an der Universität ErlangenNürnberg. In: Online-Familienhandbuch. Hrsg. v. Wassilos Fthenakis u. Martin R. Textor. www.familienhandbuch.de [13.07.2006]. AKEP/Börsenverein: 10 Jahre Elektronisches Publizieren. Rückblick und Ausschau. Branchenumfrage. Frankfurt a. M.: AKEP 2003. http://www.akep.de/download/ AKEPBranchenumfrage.pdf [23.03.2008]. Bayer, Sonja Katrin: Bildschirmtypographie. Technische und psychologische Determinanten der Gestaltung von Online-Dokumenten. Erlangen: Buchwissenschaft/Universität Erlangen-Nürnberg 2003 (Alles Buch. Studien der Erlanger Buchwissenschaft. 3). http://www.alles-buch.uni-erlangen.de/Bayer.pdf [31.07.2009]. Duntze, Oliver: Das Titelblatt in Augsburg: Der Einleitungsholzschnitt als Vorstufe und Alternative zum Titelblatt. In: AGB 63 (2008), S. 1–42. Faulstich Werner: Einführung in die Medienwissenschaft. München: Fink 2002. Füssel, Stephan: Buchwissenschaft als Kulturwissenschaft. In: Im Zentrum: Das Buch. 50 Jahre Buchwissenschaft in Mainz. Hrsg. v. Stephan Füssel. Mainz: GutenbergGesellschaft 1997 (Kleiner Druck der Gutenberg Gesellschaft. 112), S. 62–73. Gummlich-Wagner, Johanna: Das Titelblatt in Köln: Uni- und multivalente Titelholzschnitte aus der rheinischen Metropole des Inkunabeldrucks. In: AGB 62 (2008), S. 106–149. Herz, Randall: Das Titelblatt in Nürnberg: Entwicklungslinien der Titelblattmormulierung und Titelblattgestaltung. In: AGB 63 (2008), S. 43–90. Jäger, Georg: Keine Kulturtheorie ohne Geldtheorie. Grundlegung zu einer Theorie des Buchverlags. In: Empirische Literatur- und Medienforschung. Hrsg. v. Siegfried J. Schmidt. Siegen: LUMIS 1995 (LUMIS-Schriften, Sonderreihe. 7), S. 24–40. Kerlen, Dietrich: Lehrbuch der Buchverlagswirtschaft. Stuttgart: Hauswedell 2003, S. 281– 284. Kindergärten zu Lesehöhlen! Das Projekt Abenteuer Buch. In: Zeitschrift des Bayerischen Lehrerinnen- und Lehrerverbandes 2006, H. 12 v. 11. Dezember 2006, S. 28f. Kübler, Hans-Dieter: Mediale Kommunikation. Tübingen: Niemeyer 2000 (Grundlagen der Medienkommunikation. 9). Kuhn, Axel/Titel, Volker: E-Commerce. Auswirkungen auf den Bucheinzelhandel. 2., erw. Aufl. Erlangen: filos 2004. Pross, Harry: Medienforschung. Darmstadt: Deutsche Buchgemeinschaft 1972. Rautenberg, Ursula: Wir lesen Bücher, nicht Texte. Der Studiengang »Buchwissenschaft« an der Universität Erlangen. In: Buchwissenschaft und Buchwirkungsforschung. VIII. Leipziger Hochschultage für Medien und Kommunikation. Hrsg. v. Dietrich Kerlen u. Inka Kirste. Leipzig: Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft 2000, S. 31–42. Rautenberg, Ursula: Die Entstehung und Entwicklung des Buchtitelblatts in der Inkunabelzeit in Deutschland, den Niederlanden und Venedig – Quantitative und qualitative Studien. In: AGB 62 (2008), S. 1–105. Rautenberg, Ursula/Duntze, Oliver: Das frühe deutsche Buchtitelblatt. Mainz, Bamberg, Straßburg, Köln, Basel, Augsburg und Nürnberg. Bibliographische Daten und Abbildungen. http://inkunabeln.ub.uni-koeln.de/titelblatt/ [23.03.2008]. Rautenberg, Ursula/Wetzel, Dirk: Buch. Tübingen: Niemeyer 2001 (Grundlagen der Medienkommunikation. 11).
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Riehm, Ulrich u. a.: E-Commerce in Deutschland. Eine kritische Bestandsaufnahme zum elektronischen Handel. Berlin: ITAS 2003 (Studien des Büros für TechnikfolgenAbschätzung beim Deutschen Bundestag. 14). Salomonsberger, Stefan/Stricker, Normann/Titel, Volker (Hrsg.): Leseförderung im Kindergarten- und Grundschulalter. Wissenschaftlicher Diskurs und praktische Initiativen. Erlangen: Friedrich-Alexander-Universität/Buchwissenschaft 2009. Świerk, Alfred: Buch- und Bibliothekskunde an der FAU Erlangen. Rückblick und Perspektiven. In: »Es gibt keine Seligkeit ohne Bücher«. Kleine Festschrift zum zehnjährigen Bestehen der Buch- und Bibliothekskunde an der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg. Hrsg. v. Markus Breitwieser u. Marie-Christine Rumland. Erlangen: FAU 1994, S. 9–15. Titel, Volker: The Digital Book: A Medial Revolution without a New Medium. In: D-Lib Magazine 2003, H. 10. http://www.dlib.org, DOI 10.1045. Titel, Volker: Vom Schicksal des Buchbegriffs. Ein medientheoretischer Essay. In: Bbl. 173 (2006), H. 16, S. 18f. Titel, Volker: Antiquarische Netzzeit. Ein Diskussions- und Literaturbericht zum E-Commerce. In: AdA 2007, H. 3, S. 205–211 (T. 1) u. 2007, H. 4, S. 284–289 (T. 2). Wetzel, Dirk: Medium: In: Reclams Sachlexikon des Buches. Hrsg. v. Ursula Rautenberg. 2., verb. Aufl. Stuttgart: Reclam 2003, S. 352. Zimmer, Thomas: Multimedia. In: Reclams Sachlexikon des Buches. Hrsg. v. Ursula Rautenberg. 2., verb. Aufl. Stuttgart: Reclam 2003, S. 359f.
THOMAS KEIDERLING/SIEGFRIED LOKATIS
Buchwissenschaft als Kommunikations- und Medienwissenschaft Zur Geschichte, Ausprägung und Zukunft eines Leipziger Modells 1 Zur Tradition und Vorgeschichte der Leipziger Buchwissenschaft »Wissenschaft und Theorie kann dort beginnen, wo Selbstverständlichkeiten aufhören.«1 Dieses Motto des 2004 verstorbenen Gründungsprofessors der Buchwissenschaft an der Universität Leipzig – Dietrich Kerlen – lässt sich problemlos auch auf den Werdegang der Disziplin am Leipziger Standort anwenden. Am Beginn 20. Jahrhunderts stand die Buchstadt Leipzig kurz vor dem Zenit ihrer ökonomischen Entwicklung. Es verwundert nicht, dass auch die vorwissenschaftliche und wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Buch an Intensität gewann. An verschiedenen Leipziger Einrichtungen befasste man sich mit der Bibliotheks- und Leserforschung, Papierforschung, Druck- und Buchhandelsgeschichte sowie mit weiteren buchkundlichen Fragestellungen, die innerhalb sogenannter ›Hilfswissenschaften‹ wie Paläographie, Diplomatik, Bibliographie u. a. m. betrieben wurden. Beispielgebend müssen die Königliche Akademie für graphische Künste und Buchgewerbe (gegr. 1764, heute: Hochschule für Grafik und Buchkunst) genannt werden, die Historische Kommission des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler (gegr. 1876), das 1916 durch den Nationalökonom Karl Bücher etablierte Institut für Zeitungskunde an der Universität Leipzig sowie das Institut für Leser- und Schrifttumskunde von Walter Hofmann (gegr. 1926). Sie und weitere akademische Wirkungsstätten prägten früh Leipzigs Ruf als buchwissenschaftlicher Standort.2 1 2
Kerlen: Der Verlag, S. 281. Zur »Geschichte des Deutschen Buchhandels« (›Kapp/Goldfriedrich‹, 4 Bde.) als dem Hauptwerk der Historischen Kommission des Börsenvereins, vgl. Estermann: Buchhandelsge-
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Im Jahre 1903 gerieten – ebenfalls in Leipzig – die Buchbranche unter der Ägide des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler zu Leipzig (gegr. 1825) und die hiesige Universität unter Führung des Akademischen Schutzvereins (gegr. 1903) in einen heftigen Disput. Es ging um die Bewertung aktueller buchökonomischer Fragen, beispielsweise: Wurden die Bücher und Zeitschriften zu teuer kalkuliert und hergestellt? Stellte der Börsenverein der Deutschen Buchhändler ein Händlerkartell dar, das »zerschlagen« werden musste? War der verbreitende Buchhandel ein »Schmarotzer« am (wissenschaftlichen) Buch, dessen man sich entledigen sollte? Und welchen (Buch-)Preis sollten schließlich Akademiker für ihre eigene geistige Produktion zahlen? Gegenstand und Ausgang dieses Disputs, der in die Annalen unter der Bezeichnung »Bücher-Streit« einging, sind in der Forschung hinlänglich beschrieben worden.3 Ein wichtiges Ergebnis dieses Streits bestand darin, dass die Branche erkannte, es fehle an einer theoretisch-fundierten, wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Buch und dem Buchhandel. Im Jahre 1925 wurde maßgeblich auf Betreiben des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler hin eine damals in Deutschland einzigartige außerordentliche Professur für Buchhandelsbetriebslehre an der Leipziger Handelshochschule eingerichtet. Dieser institutionelle Schritt markierte eine neue bzw. veränderte Schwerpunktsetzung der »Buchwissenschaft« weg von eher bibliothekarischen und buchkundlichen Fragestellungen hin zu Problemen der Buchökonomie, des Buchmarkts und der Betriebswirtschaftslehre. In dieser Tradition stehen auch alle heutigen Hochschuleinrichtungen, die die Bezeichnung Buchwissenschaft tragen, wobei das Themenspektrum natürlich viele weitere Felder umfasst. Dem Inhaber der Leipziger Professur für Buchhandelsbetriebslehre, Gerhard Menz, kam bald eine Art Schlüsselfunktion bei der Ausbildung des akademischen buchhändlerischen Nachwuchses in Deutschland zu. Die Verbindung von Buchhandelsbetriebslehre, Publizistik und Zeitungswissenschaft machte Menz über die Branche hinaus bekannt.4 Er ist zweifelsohne ein herausragender Vertreter und Wegbereiter unseres Fachs. Seine Schule und vor allem seine Schüler sollten jahrzehntelang die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Buch und das wissenschaftliche
3 4
schichte. Zum Institut für Leser- und Schrifttumskunde, vgl. Kutsch/Töpp: Die Faktoren der Lektüre. Zuletzt: Fritzsch: Wissenschaft, Verlage und Buchhandel. Vgl. Jüttemeier/Otto: Gerhard Menz.
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Selbstverständnis der Buchbranche5 von der Weimarer Republik bis hin zur Bundesrepublik dominieren.6 Heute wird sein Werk und sein Verhalten in den Diktaturen allerdings in einem weitaus kritischeren Licht gesehen, als dies früher der Fall war.7 Nach der deutsch-deutschen Teilung wurde die Professur nicht – wie so viele Verlage, Buchhandlungen und der Börsenverein der Deutschen Buchhändler selbst – im Westen neu angesiedelt. Menz blieb in Leipzig und leistete als Direktor eines neuen Instituts für Publizistik der Universität Leipzig Aufbauarbeit, das nach einer Umgründung im Zeitraum 1949 bis 1951 sozialistisch überformt wurde.8 Neben diesem Institut gab es an der Universität Leipzig noch eine weitere Einrichtung, die sich unter sozialistischen Vorzeichen mit der »Buchwissenschaft« befasste. 1968 wurde ein Institut für Verlagswesen und Buchhandel gegründet, das vornehmlich Lektoren des DDR-Verlags ausbildete und auch politisch schulte (1992 abgewickelt).9 Nicht das Institut für Verlagswesen und Buchhandel, sondern die Menz’sche Professur stand Pate bei der Idee, nach der Wende von 1989/90 erneut eine Stiftungsprofessur für Buchwissenschaft an der Universität Leipzig zu etablieren. Wie damals sollte die Buchwissenschaft medienökonomisch aufgestellt sein. Aber es gab noch eine gewichtige Neuerung: Den Initiatoren aus Wissenschaft und Börsenverein des Deutschen Buchhandels ging es auch darum, die Buchwissenschaft in das Ensemble der modernen Massenmedien und somit in die Kommunikations- und Medienwissenschaft (KMW) zu stellen. Erste konzeptionelle Überlegungen hierzu gab es bereits 1991 im Zuge der Neugründung des Instituts für KMW an der Leipziger Universität. Ihr Gründungsdekan Karl Friedrich Reimers von der Hochschule für Fernsehen und Film in München entwickelte ein Fünf-Säulen5 6
7 8 9
Vgl. Altenhein: Es fehlt eine wechselseitige Verbindung, S. 767. Dazu gehörten etwa Friedrich Uhlig, Ludwig Delp (Deutsches Bucharchiv München), Peter Meyer-Dohm und Wolfgang Strauß (Institut für Buchmarkt-Forschung Hamburg), Bernhard Wendt (Börsenverein), Karl Ruf (Unternehmensberater). Im weiteren Sinne auch Annemarie Meiner und Horst Kliemann (Historische Kommission des Börsenvereins), des Weiteren Johann Schlemminger, Paul Liebe, Franz Hinze, Egon Lämpe, Edmund Winterhoff, Emil Niewöhner, Gerhard Schönfelder und viele andere. Der Begriff des Schülers meint im engeren Sinne Studenten und Gasthörer, im weiteren Sinne auch Sympathisanten. Die vorliegende Liste wurde unter Mithilfe von Hans Altenhein zusammengetragen. Vgl. ferner Uhlig: Der erste Hochschul-Lehrstuhl. Vgl. ferner Bez: Aufwind für die Medienstadt. Stellvertretend verweisen wir auf die jüngsten Beiträge von Altenhein: Gerhard Menz und die Leipziger Buchwissenschaft; sowie Altenhein: Gerhard Menz als Autor. Vgl. Jüttemeier/Otto: Gerhard Menz, S. 22. Vgl. Riese: Zwischenspiele.
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Modell, das die Kommunikations- und Medienwissenschaft mit neuen Ansätzen kombinierte. Das Modell integrierte die historische, systematische und empirische Kommunikations- und Medienwissenschaft mit der Journalistik. Zugleich wurde erstmalig im deutschsprachigen Raum ein Lehrstuhl für Öffentlichkeitsarbeit/PR geschaffen. Diese Grundstruktur besitzt das Instituts bis heute. Innerhalb des Bereichs (4) Medienwissenschaft sah Reimers mehrere Professuren für Medienpädagogik und Buchwissenschaft vor. Für letztere gab es auf dem Papier zwei Planstellen (Professuren), einmal für den Schwerpunkt Buchhandelsbetriebslehre dann für Bibliothekswissenschaft, die allerdings beide aufgrund der schwierigen Haushaltslage mit einen Sperrvermerk versehen wurden, also nicht besetzt werden konnten. »Der Bauplan« oder das »Fünf-Säulen-Modell« des Gründungsdekans K. F. Reimers (1991): Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft I. II. III. IV. V.
Historische und Systematische Kommunikationswissenschaft Empirische Kommunikations- und Medienwissenschaft Allgemeine und Spezielle Journalistik Medienwissenschaft/Medienpädagogik/Buchwissenschaft Öffentlichkeitsarbeit/Public Relations
1993 schien die Zeit reif, um in der Sache der angedachten Professur vorzustoßen. Im Sommer 1993 nahm der damalige geschäftsführende Institutsdirektor Rüdiger Steinmetz den Kontakt zum Börsenverein des Deutschen Buchhandels auf, insbesondere zum dortigen Vorsteher Gerhard Kurtze. Bald hatte sich eine Initiativgruppe gebildet, die unterschiedliche Kräfte der Universität Leipzig und des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels bündelte. Im Frühjahr 1994 gab das Sächsische Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst in Dresden grünes Licht, eine C3Professur für Buchwissenschaft einzurichten. Dies erfolgte »ohne Einschränkung« d. h. ohne zeitliche Befristung. Allerdings sollte der Börsenverein des Deutschen Buchhandels eine beträchtliche Anschubfinanzierung leisten. Im Jahre 1995 wurde mit Kerlen ein langjähriger Verlagspraktiker berufen. Bis zu seinem frühen Tod im Jahre 2004 prägte er den Leipziger Fachbereich. Nach einer fast zweijährigen Vakanz und Vertretung der Professur durch Erdmann Weyrauch, hat Siegfried Lokatis zu Beginn des Jahres 2007 die Professur übernommen.
Zur Geschichte, Ausprägung und Zukunft eines Leipziger Modells
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2 Ausprägung eines neuen Profils Die Buchwissenschaft an der Universität Leipzig – während der Tätigkeit von Kerlen war sie auch mit dem Zusatz »Buchwirtschaft« versehen – setzt in Lehre und Forschung auf drei inhaltlich-methodische Schwerpunkte: die Buchökonomie, die Buchgeschichte und die Buchtheorie. In den ersten zehn Jahren boten 21 Lehrkräfte 182 Lehrveranstaltungen an. Es wurden zahlreiche Magister-Abschlussarbeiten (Erst und Zweitbegutachtungen) betreut, deren Zahl zum Wintersemester 2005/06 die 100er Marke überschritt. Zudem gibt es diverse Kooperationen und Forschungsprojekte, von denen die großangelegte empirische Untersuchung zum Umgang Jugendlicher mit modernen Medien besonders hervorzuheben ist. Sie entstand in enger Zusammenarbeit mit der Stiftung Ravensburger Verlag.10 Last but not least gibt es seit 2005 einen mit 2 500 Euro dotierten Förderpreis Buchwissenschaft der Medienstiftung der Sparkasse Leipzig (in Erinnerung an Kerlen), der die beste buchwissenschaftliche Studienabschlussarbeit im deutschsprachigen Raum prämiert. Dass sich dieses Konzept bewährt hat, beweist die hohe Vermittlungsrate der Absolventen in die berufliche Praxis.11 Eine Besonderheit der Buchwissenschaft an der Universität Leipzig ist die bereits erwähnte Einbindung in das Institut für KMW. Es handelt sich mit 11 ordentlichen Professuren, 7 Honorarprofessuren, 34 Mitarbeiterstellen, 12 Drittmittelstellen und ca. 3 000 Studierenden (Stand 2009) nicht nur um eines der größten medienwissenschaftlichen Institute Deutschlands, sondern auch um eines der angesehensten. In Rankings erzielt Leipzig immer wieder vordere Plätze, beispielweise 2006 in der Zeitschrift Karriere. Das sorgt wiederum für einen enormen Zuspruch, so dass die Nachfrage in einigen Jahren die Zahl der Studienplätze um das Vierfache überwog. Zuletzt lag der Numerus Clausus des Magisterstudiengangs KMW bei der Abiturnote 1,6. Auch beim Bachelor hat sich dieser Durchschnitt mittlerweile eingepegelt. Der gute Stand Leipzigs ergibt sich, wie eben erläutert, aus einer ganzen Reihe von Faktoren. Zu nennen ist die Kombination von unterschiedlichen Studienangeboten. So erfreut sich beispielsweise die Abteilung Öffentlichkeitsarbeit/Public Relations einer großen Nachfrage bei der Studentenschaft, was sich auch in unserem Bereich widerspiegelt. Es entstan-
10 11
Vgl. Kerlen: Jugend und Medien. Weitere Informationen bei Keiderling/Weyrauch: Buch-Stätte, S. 94–99.
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den an der Professur für Buchwissenschaft mehrere Arbeiten zur Öffentlichkeitsarbeit und Werbung im Buchverlag. Die Studierenden der Leipziger Kommunikations- und Medienwissenschaft durchlaufen alle Abteilungen des Instituts nach Interesse und nach einem bestimmten Schlüssel. Nur so wird eine umfassende mediale Ausbildung garantiert. Andersherum nehmen fast alle Studierenden mindestens einmal in ihrem Studium an einer Veranstaltung der Buchwissenschaft teil. Das schafft bei potenziellen Teilnehmern der Medienbranchen und künftigen Medienwissenschaftlern eine neue Selbstverständlichkeit, die Buchwissenschaft als einen integralen Bestandteil der KMW zu begreifen. Das Buch (gleich welcher Trägergestalt, ob Codex-, E- oder Hörbuch) ist und bleibt ein wichtiges Medium unserer Gesellschaft und gehört selbstverständlich in ein Fach, das sich mit den modernen Medien befasst. In einer Zeit, in der die Flexibilität der Arbeitnehmer an Bedeutung gewinnt, geben wir unseren Absolventen mit der medienübergreifenden Ausbildung ein Plus an Erfahrungen mit und somit auch eine breitere Anwendbarkeit ihres Wissens. Das mag für viele Studierende ein wesentlicher Punkt gewesen sein, sich für das »Leipziger Modell« zu entscheiden. Diese Feststellung ließe sich argumentativ natürlich auch umkehren: Wer schon vor oder während seines Studiums weiß, dass er nur in der Buchbranche glücklich wird, dem wird an einem Institut für Buchwissenschaft beispielsweise in Erlangen oder Mainz mehr geboten. Dort ist das speziell buchwissenschaftliche Lehrangebot aufgrund der größeren Lehrkapazitäten auch umfangreicher. Es soll an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, dass die Einbindung der Buchwissenschaft in die Medienwissenschaft nach wie vor ein Pilotprojekt ist und nicht überall auf Anerkennung stößt. In fast allen der mehr als 60 deutschen Institute und Fachstudiengängen der Kommunikations- und Medienwissenschaft wird das Buch außen vor gelassen; das ist aus unserer Sicht ein nicht zu akzeptierender Zustand. Zudem bleibt in zahlreichen Lehrbüchern und Grundlagenwerken der Kommunikationsund Medienwissenschaft, aber auch in einschlägigen Zeitschriften, das Buch nahezu unberücksichtigt.12 Im Jahre 2003 fand eine Tagung »Buchwissenschaft und Medienwissenschaft« auf Einladung der Deutschen Buchwissenschaftlichen Gesellschaft in Köln statt, an der sich unter anderem Erlanger, Kölner und Leipziger Buchwissenschaftler beteiligten. Auch dort wurden an den 12
Vgl. Kerlen: Buchwissenschaft – Medienwissenschaft.
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Beiträgen der nicht buchwissenschaftlichen Medienforscher unterschwellig und manchmal sehr offen die Ressentiments und Berührungsängste gegenüber der Buchwissenschaft deutlich. Es geht weniger darum, dass sie das Buch nicht als Medium schätzen oder anerkennen würden. Nur aus fachhistorischer Sicht meinen sie, dass sich die KMW ausschließlich mit den ›modernen‹ Massenmedien wie Zeitung, Fernsehen, Radio oder Internet befassen sollen. Demgegenüber erscheint das Buch als ein sogenanntes Individualmedium. Jüngere Untersuchungen zeigen hingegen, dass diese Unterscheidung – Massenmedium hier und Individualmedium dort – durch die derzeitige Entwicklung verwischt wird. Insbesondere sorgen Podcasts dafür, dass sich Massenmedien zunehmend individualisieren; sie entdecken Tugenden, die bislang nur dem Buch vorbehalten waren.13 Neben der Lehre spielt für einen universitären Studiengang auch die Forschung eine besondere Rolle. Leipzig verfügt mit seinen Archiven, vor allem mit den Beständen des Sächsischen Staatsarchivs Leipzig, über die bedeutendsten buch- und verlagshistorischen Nachlässe im mitteldeutschen Raum. Immer wieder werden Forschungsanfragen und Projekte an unseren Bereich herangetragen, ja es gibt auch eine große öffentliche Erwartungshaltung, dass wir uns von wissenschaftlicher Seite her mit aktuellen Problemen der Branche befassen. So wurden wir nach der Zukunft der Buchstadt Leipzig befragt, als der Reclam Verlag Leipzig (2006) und der Lexikonverlag Brockhaus (2009) ihre Pforten schlossen. Auch eine große Tagung zum »Heimlichen Leser in der DDR« im September 2007 sorgte für eine große Mediennachfrage. Während in früheren Jahren die verlagshistorische Forschung, etwa zu Brockhaus oder einzelnen Unternehmen des Zwischenbuchhandels, eher sporadisch blieb, wurde sie in jüngster Zeit auf eine neue Stufe gestellt. Die moderne verlagshistorische Forschung stellt nun einen Forschungsschwerpunkt dar und bietet vielen Absolventen die Möglichkeit, sich theoretisch-methodisch mit der Buchbranche auseinander zu setzen. Um die diesbezüglichen Tätigkeiten auszubauen, wurden 2007 Archivräumlichkeiten in der Hainstraße angemietet, in die nach und nach verschiedene Aktenbestände eingelagert und den Studierenden zugänglich gemacht werden. 2007 gelang mit dem Reclam Verlag in Stuttgart eine Kooperationsvereinbarung. Danach kamen Teile des Verlagsarchivs von Ph. Reclam jun. Stuttgart zunächst in die Hainstraße, um dort der Forschung zur Verfügung zu stehen. Mit der Holtzbrinck-Gruppe besteht ebenfalls seit dem letzten 13
Vgl. hierzu auch Steinmetz: Vom Lesen übers Broadcasten.
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Jahr eine Kooperation zur Aufarbeitung der Konzern-Geschichte. Des Weiteren laufen viel versprechende Abschluss- und Promotionsarbeiten zur Leipziger Messegeschichte, zur Geschichte und Entwicklung der Buchstadt Leipzig und weiterer Verlage oder Verlagsgruppen (Volk und Wissen, E. A. Seemann, de Gruyter, Henschel-Verlag, Sportverlag, Buchgemeinschaften etc.). Studentische Forschergruppen werden auch innerhalb seminaristischer Übungen zur systematischen Auswertung weiterer Verlagsarchive herangezogen. Hier bestehen mehrere Kooperationen mit weiteren Zentren der Leipziger Buchforschung wie der Deutschen Nationalbibliothek, dem Buch- und Schriftmuseum sowie dem Druckmuseum in der Nonnenstrasse.
3 Der aktuelle Bachelor- und Master-Studiengang Der BA-Studiengang KMW (eingerichtet im Wintersemester 2006/07) wird mit einer Regelstudienzeit von sechs Semestern studiert und schließt mit dem Titel »Bachelor of Arts« ab. Zulassungsvoraussetzung sind neben der allgemeinen Hochschulreife zwei moderne Fremdsprachen. Das Fach hat eine örtliche Zulassungsbeschränkung (NCU). Das Studium besteht aus sieben Lehrbereichen, die nach einem bestimmten Schlüssel besucht werden: Historische und Systematische Kommunikationswissenschaft, Empirische Kommunikations- und Medienforschung, Medienwissenschaft und Medienkultur, Medienpädagogik, Buchwissenschaft, Öffentlichkeitsarbeit/ PR Kommunikationsmanagement und Journalistik. Durch die Kombination dieser Abteilungen werden die Studierenden mit allen kommunikations- und medienwissenschaftlichen Bereichen vertraut gemacht. Die Bachelorarbeit wird in einem der Lehrbereiche geschrieben. Durch die Einbindung in zwei Pflichtmodule mit insgesamt zwölf Bachelor-Seminaren für ca. 360 Studenten jährlich und weiteren Vorlesungsveranstaltungen vor ca. 180 Studenten ist die Buchwissenschaft noch mehr als zuvor integraler Bestandteil der Kommunikations- und Medienwissenschaft.14 Maximal 22 Absolventen eines relevanten BA-Studiengangs haben seit dem Wintersemester 2009/10 die Möglichkeit, sich für den MA-Studiengang KMW/Schwerpunkt Buchwissenschaft zu bewerben, der mit dem Titel »Master of Arts« abschließt (Einschreibung nur im Wintersemester möglich). Es handelt sich um einen stärker forschungsorientierten, konseku14
Studien und Prüfungsordnung des BA und MA Kommunikations- und Medienwissenschaft ist unserer Homepage zu entnehmen: http://www.kmw.uni-leipzig.de.
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tiven Studiengang. Im Bereich Buchwissenschaft werden u. a. folgende Themenschwerpunkte angeboten: Moderne Deutsche Verlagsgeschichte der NS-Zeit, der DDR und der BRD, Buchökonomie (Produktion, Kalkulation, Marketing, Management etc.), Buchgeschichte (Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte des Buchhandels, Mentalitätsgeschichte des Lesers) sowie die Buchtheorie (Theorie des Einzelmediums Buch im Vergleich zu anderen Medien). Dank einer intensiveren Betreuung ist es im Masterstudiengang möglich, auf individuelle Spezialisierungen in einem stärkeren Maße einzugehen, als dies im Bachelorstudiengang der Fall ist. Wir zeigen uns optimistisch, dass die hohe Absolventen-Vermittlungsrate in die Medienwirtschaft, die unsere Studiengänge seit Jahren zu verzeichnen haben, auch in Zukunft auf hohem Niveau gehalten bzw. sogar verbessert werden kann.
4 Literaturverzeichnis Altenhein, Hans: Es fehlt eine wechselseitige Verbindung mit den Wissenschaften. In: Bbl. (Frankfurter Ausgabe) 42 (1986), H. 21, S. 767. Altenhein, Hans: Gerhard Menz als Autor. Zur Funktion des Buch- und Zeitschriftenwesens im 20. Jahrhundert. In: LJB 14 (2005), S. 153–187. Altenhein, Hans: Gerhard Menz und die Leipziger Buchwissenschaft 1925–1945. Eine Nachprüfung. In: Buch-Stätte. Geschichte und Perspektiven der Leipziger Buchwissenschaft. Hrsg. v. Thomas Keiderling u. Erdmann Weyrauch. Erlangen: filos 2006, S. 9–28. Bez, Thomas: Aufwind für die Medienstadt. In: Bbl. 161 (1994), H. 59, S. 4. Estermann, Monika: Buchhandelsgeschichte in kulturhistorischer Absicht. Johann Goldfriedrich und Karl Lamprecht. In: Buchkulturen. Beiträge zur Geschichte der Literaturvermittlung. Festschrift für Reinhard Wittmann. Hrsg. v. Monika Estermann, Ernst Fischer u. Ute Schneider. Wiesbaden: Harrassowitz 2005, S. 1–36. Fritzsch, Alexandra: Wissenschaft, Verlage und Buchhandel im Deutschen Kaiserreich. Der Bücher-Streit von 1903. In: Geschichtswissenschaft und Buchhandel in der Krisenspirale? Eine Inspektion des Feldes in historischer, internationaler und wirtschaftlicher Perspektive. Hrsg. v. Olaf Blaschke u. Hagen Schulze. München: Oldenbourg 2006, S. 21–32. Jüttemeier, Birgit/Otto, Dorothee: Gerhard Menz (1888–1954). In: Zeitungswissenschaftler im Dritten Reich. Hrsg. v. Arnulf Kutsch. Köln: Hayit 1984, S. 3–43. Keiderling, Thomas/Weyrauch, Erdmann (Hrsg.): Buch-Stätte. Geschichte und Perspektiven der Leipziger Buchwissenschaft. Erlangen: filos 2006. Kerlen, Dietrich (Hrsg.): Buchwissenschaft – Medienwissenschaft. Ein Symposion. Wiesbaden: Harrassowitz 2004 (Buchwissenschaftliche Forschungen. 4). Kerlen, Dietrich: Jugend und Medien in Deutschland. Eine kulturhistorische Studie. Hrsg. v. Matthias Rath u. Gudrun Marci-Boehncke. Weinheim/Basel: Beltz 2005. Kerlen, Dietrich: Der Verlag. Lehrbuch der Buchverlagswirtschaft. 14. Aufl. Stuttgart: Hauswedell 2006. Kutsch, Arnulf/Töpp, Nadja: Die Faktoren der Lektüre. Zur empirischen Leserforschung von Walter Hofmann. In: Buch – Markt – Theorie. Kommunikations- und medien-
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wissenschaftliche Perspektiven. Hrsg. v. Thomas Keiderling, Arnulf Kutsch u. Rüdiger Steinmetz. Erlangen: filos 2007, S. 63–127. Lokatis, Siegfried/Sonntag, Ingrid (Hrsg.): Heimliche Leser in der DDR. Kontrolle und Verbreitung unerlaubter Literatur. Berlin: Links 2008. Riese, Reimar: Zwischenspiele. Das Institut für Verlagswesen und Buchhandel in Leipzig und die Buchwissenschaft in der DDR. In: Buch-Stätte. Geschichte und Perspektiven der Leipziger Buchwissenschaft. Hrsg. v. Thomas Keiderling u. Erdmann Weyrauch. Erlangen: filos 2006, S. 43–78. Steinmetz, Rüdiger: Vom Lesen übers Broadcasten zum Podcasten und mobilen Fernsehen: Der Weg zurück zur individuellen Kommunikation in Zeiten des allgegenwärtigen Netzes? In: Buch – Markt – Theorie. Kommunikations- und medienwissenschaftliche Perspektiven. Hrsg. v. Thomas Keiderling, Arnulf Kutsch u. Rüdiger Steinmetz. Erlangen: filos 2007, S. 225–249. Uhlig, Friedrich: Der erste Hochschul-Lehrstuhl für Buchhandelsbetriebslehre. In: Buchhandel und Wissenschaft. Hrsg. v. Friedrich Uhlig. Gütersloh: Bertelsmann 1965 (Schriften zur Buchmarkt-Forschung. 5), S. 34–36.
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Mit Gutenberg in die digitale Zukunft Das Mainzer Institut für Buchwissenschaft zwischen historischer Kulturwissenschaft und Medienwissenschaft 1 Ein Blick zurück Das Institut für Buchwissenschaft geht direkt auf die Wiederbegründung der Universität Mainz im Jahre 1946 und ihre Benennung mit Johannes Gutenberg zurück. Im Sommersemester 1947 erhielt der bekannte Gutenberg-Forscher Aloys Ruppel, der u. a. seit 1926 das GutenbergJahrbuch herausgab und in Personalunion Direktor der Mainzer Stadtbibliothek, des Stadtarchives und des Gutenberg-Museums war, eine Stiftungsprofessur für »Buch-, Schrift- und Druckwesen« als »GutenbergLehrstuhl« der Stadt Mainz, die zum 1. Mai 1949 in eine ordentliche Professur verwandelt wurde. Am Anfang stand daher Gutenberg-Forschung im engeren Sinne, die prosopographische Erforschung seines Lebens, zu der Ruppel eine veritable Monographie vorgelegt hatte,1 daneben aber auch die Materialität der Kommunikation, die Ruppel im Gutenberg-Jahrbuch der zurückliegenden Jahrzehnte detailliert und vor allen Dingen im internationalen Kontext erarbeitet hatte.2 Der erste Lehrstuhlinhaber pflegte besonders die internationalen buchwissenschaftlichen Kontakte, er war mehrfach in Asien und in den USA und wurde zu einem angesehenen Vertreter deutscher buchwissenschaftlicher Forschung in der ganzen Welt.3 Die ersten Dissertationen beschäftigten sich konsequenterweise mit dem Frühdruck. Zu den frühen Studenten gehörte der Stuttgarter Verleger Reimar Walter Fuchs, der eine Arbeit über Mainzer Frühdrucke mit Buchholzschnitten 1480–1500 4 anfertigte; Peter Baader untersuchte Das Druck- und 1 2 3 4
Ruppel: Johannes Gutenberg, 1. Aufl. 1939, 2. Aufl. 1947. Füssel: Gutenberg-Forschung, S. 10f. Schütz: Aloys Ruppel. Leben und Werk, S. 12–17. Fuchs: Mainzer Frühdrucke.
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Verlagshaus Albin-Strohecker zu Mainz (1598–1631)5 und Hildegard Starp Das Frankfurter Verlagshaus Schönwetter 1598–1726.6 Nach der Emeritierung Ruppels wurde 1968 Hans Widmann aus Tübingen berufen, gleichzeitig der Lehrstuhl vom Land Rheinland-Pfalz übernommen und mit dem Auftrag versehen, das »Buchwesen vom Altertum bis zur Gegenwart« zum Lehrgegenstand zu machen; wissenschaftlicher Assistent war von 1968 bis 1983 Alfred Świerk, der bis 1994 die Professur für Buchwissenschaft in Erlangen innehatte. In die Phase von Widmann fiel die deutliche Ausweitung der Themengebiete; als klassischer Philologe und Bibliothekar beschäftigte er sich auch dezidiert mit dem Buchwesen der Antike und der Renaissance.7 1976 wurde der Bibliothekar und Bibliograph Hans-Joachim Koppitz ordentlicher Professor für Buchwesen, der den Lehrstuhl bis 1992 innehatte. In seine Zeit fiel der drastische Anstieg der Studierendenzahlen von 290 im Jahre 1980 auf 460 im Jahre 1989. Dieser Zeitraum ist durch eine Erweiterung der Themenschwerpunkte geprägt: entsprechend der wissenschaftsgeschichtlichen Situation nach 1968 wurden sozialhistorische und kommunikationshistorische Fragestellungen aufgenommen – so wurde u. a. eine Dissertationen zum Buchumschlag als Gegenstand kommunikationswissenschaftlicher Forschung8 angeregt – zunehmend auch druckhistorische Forschungen und verlagshistorische Arbeiten zum 17. und 18. Jahrhundert, zu Cotta, zum Druckwesen in Griechenland, zur Lesekultur etc. 1980 bis 1983 war Gabriele Müller-Oberhäuser als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut beschäftigt, die heute den Masterstudiengang Book-Studies an der Universität Münster leitet. Nach der Übernahme des Lehrstuhls durch Stephan Füssel 1992 und einem weiteren massiven Anstieg der Studierendenzahlen auf über 800 gelang es, das Personal deutlich auszuweiten; eine zweite Professur konnte mit Ernst Fischer besetzt werden, daneben wurden aus Drittmitteln und aus Mitteln des Landes drei weitere Assistentenstellen eingerichtet. Die Methodenreflexion wurde vorangebracht, die Internationalisierung und auch die Zusammenarbeit mit der Praxis wurden verstärkt. Der Praxisbezug wird seit 1993 u. a. durch das jährliche »Mainzer Kolloquium« in Zusammenarbeit mit dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels hergestellt, ferner durch die Berufung von Lehrbeauftragten 5 6 7 8
Baader: Das Druck- und Verlagshaus Albin-Strohecker. Starp: Das Frankfurter Verlagshaus Schönwetter. Widmann: Die Wirkung des Buchdrucks. Kroehl: Buchumschlag.
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aus der Branche und durch die Praktika der Studierenden. Das erste Mainzer Kolloquium beschäftigte sich gleich 1993 mit dem zentralen Thema »Der Verlag als Geschäftsbetrieb«,9 bei dem unter der Moderation von Hans Altenhein u. a. die Wirtschaftswissenschaftler Bert Rürup (Darmstadt), Hans Günther Meissner (Dortmund) und Michael Hutter (Witten-Herdecke) sowie der Wirtschaftsjurist Gerhard Prosi (Kiel) mitwirkten. Themen der nachfolgenden Jahre waren das Elektronische Publizieren,10 Buchillustration,11 Lektorat,12 Markenbildung, Junge Verlage, Literaturagenten oder die Zukunft der Debattenkommunikation (2008). Als Lehrbeauftragte konnten u. a. Franz Josef Görtz von der FAZ, vom S. Fischer Verlag Uwe Wittstock oder von der Herzog August Bibliothek aus Wolfenbüttel für den Handschriftenbereich Wolfgang Milde, ferner der Geschäftsführer der Buchhändlervereinigung, W. Robert Müller, und von der Historischen Kommission des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels Monika Estermann gewonnen werden. Privatdozent Alfred Estermann (1938–2008) konnte 1998 von Siegen nach Mainz umhabilitiert und im Jahre 2000 zum apl. Professor ernannt werden. Die Lehrdruckerei, die Claus W. Gerhard 1989 eingerichtet hatte, wurde 1995 um den Bereich des Desktop Publishings erweitert und zu dem Zeitpunkt bereits mit einer dtp-Anlage mit sechs Arbeitsplätzen ausgestattet, im Jahre 2008 wurde sie grundlegend modernisiert und auf zehn Arbeitsplätze erweitert. Eine exemplarische Dissertation aus diesem Zeitraum beschäftigte sich mit der Aufhebung der Preisbindung für Bücher am Fallbeispiel Schweden,13 einem Forschungsschwerpunkt der neunziger Jahre,14 neben der Geschichte des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels15 und der Buchmesse.16 Aus Anlass der 50-Jahr-Feier des Instituts für Buchwissenschaft 1997 wurde der internationale Austausch verstärkt, u. a. mit Robert Baensch, New York University, und mit den Universitäten in Edinburgh/Schottland, mit Lund in Schweden, mit Krakau in Polen, mit Szeged in Ungarn und Lyon in Frankreich, mit Leiden in den Niederlanden und mit Udine in Italien. Im Gutenbergjahr 2000 hielt der Weltverband 9 10 11 12 13 14 15 16
Altenhein: Probleme des Verlagsgeschäfts. Müller: Elektronisches Publizieren. Neugebauer: Aspekte der literarischen Buchillustration. Schneider: Lektorat. Richter: Die Aufhebung der Preisbindung. Everling/Füssel/Rürup: Buchpreisbindung. Füssel/Jäger/Staub: Börsenverein des Deutschen Buchhandels. Füssel: 50 Jahre Frankfurter Buchmesse.
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der Buch- und Medienhistoriker, die Society of the History of Authorship, Reading and Publishing (SHARP) sein Annual Meeting in Mainz ab; seit 2001 gehört Stephan Füssel zum Board of Directors. Honorarprofessor Elmar Mittler, bis 2006 Direktor der Universitätsbibliothek in Göttingen, bietet regelmäßig Lehrveranstaltungen zur Bibliotheksgeschichte und seit Mitte der 1990er Jahre auch zur Digitalisierung an. Seine Exkursionen zu den oberitalienische Bibliotheken oder nach Rom, Paris oder Prag vertiefen sinnvoll die historische Buch- und Bibliotheksgeschichte. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts fanden die ersten beiden Habilitationen der Mainzer Buchwissenschaft statt: die wissenschaftliche Mitarbeiterin Christine Haug konnte daraufhin 2006 die Professur von Georg Jäger an der LMU München übernehmen; Ute Schneider wurde 2007 Professorin am Mainzer Institut für Buchwissenschaft.
2 Die Lehre im Jahre 2009 Die gegenwärtige Situation ist durch eine hohe Lehrbelastung gekennzeichnet. Zurzeit studieren bei einem strengen Numerus Clausus 386 Haupt- und 320 Nebenfachstudierende, von denen pro Jahr etwa 40 ihr Magisterexamen ablegen und 3 bis 5 promoviert werden; zum Wintersemester 2008/09 wurde der Studienbetrieb auf BA/MA-Abschlüsse umgestellt; mit Christoph Bläsi konnte die vierte Professur eingerichtet werden. In den zurückliegenden 15 Jahren konnte die Studienverweildauer im Magisterexamen von 12,9 auf 10,2 Semester reduziert werden. 94 % der Studierenden erhalten unmittelbar nach dem Examen eine Erstanstellung – in der Regel im Verlagswesen. Wir führen dies zum einen auf die Tatsache zurück, dass 36 % unserer Studierenden bereits mit einer einschlägigen Lehre das Studium aufnehmen, und dass wir zum anderen sehr viele Brückenkurse zur Praxis und zwei Praktika anbieten. Ebenfalls können alle Studierenden in der Lehrdruckerei nicht nur einen Kurs im Blei- und Fotosatz, sondern auch in Desktop Publishing (QuarkXPress und Indesign) und in den Internet-Sprachen html und xml absolvieren. Darüber hinaus ist mit Albert Ernst seit sechs Jahren ein Diplomdesigner und Typograph am Institut beschäftigt, der Fragen der allgemeinen Typographie erörtert, aber auch in der vorlesungsfreien Zeit u. a. ein »Bewerbungsmappentraining« durchführt. Zu den weiteren soft skills gehören Rhetorik-Kurse und ein »Medientraining vor Mikrophon und Kamera«.
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Eckhard Bernstein aus Worcester/Mass. bietet regelmäßig Seminare oder Vorlesungen in englischer Sprache an und damit im Zusammenhang Exkursionen zu den Bibliotheken und Universitäten der Ostküste der USA oder zu den buchwissenschaftlichen Institutionen in Großbritannien. Zu den Ausnahmeregelungen im Examen gehören Studierende ohne Abitur, die nach einer einschlägigen Fachausbildung studieren können; es handelt sich meist um Schulabbrecher der Oberstufe, die dann eine Buchhändler- oder z. B. Setzerlehre mit gutem Erfolg absolviert haben. Ebenso bietet Mainz die Möglichkeit, nach einem einschlägigen Fachhochschulabschluss direkt zu promovieren: mit Diplom bzw. MA mit mindestens der Abschlussnote von 2,0 und einer Eignungsprüfung. Auf diese Art und Weise wurden herausragende Doktorandinnen und Doktoranden für das Institut gewonnen, von denen zurzeit fünf ihre Dissertation zum Abschluss bringen. Zu den vernetzten Aufgaben an der Universität Mainz gehört das Angebot als Wahlpflichtfach für die Kommilitonen des Diplom-Studienganges (künftig: Master) Medienmanagement. 2009 konnte das »Mainzer Verlagsarchiv« mit den Beständen von Rowohlt, EVA, Rotbuch und Syndikat eingerichtet werden, das die Lehre und die Forschung (Geschichte des Buchhandels der BRD) bereichert.
3 Methodische Überlegungen Das Institut hat sich – wie ausgeführt – aus der Gutenberg-Forschung entwickelt, wobei am Anfang die Materialität der Kommunikation und die Inkunabelforschung im Mittelpunkt standen. Bedingt durch die wissenschaftsgeschichtlichen Fortschritte und die Schwerpunkte der Lehrstuhlinhaber standen danach z. B. die Bibliographie oder die Sozialgeschichte der Literatur im Mittelpunkt; die enge Wechselbeziehung zwischen Wissenschaftsgeschichte und Buchgeschichte17 wurde stets thematisiert. Seit den neunziger Jahren versteht sich die Mainzer Buchwissenschaft als eine historische Kulturwissenschaft, orientiert an der französischen Schule der Annales mit ihrem deutlichen Bekenntnis zu aussagekräftigem, statistischem Material und ihrer sozialen Situierung des Buchmarkts. Eine weitere wichtige Anregung verdankt sie den anglo-amerikanischen Cultural Studies. Eine den spezifischen Eigenschaften des Buchs und seiner Rolle 17
Schneider: Buchwissenschaft und Wissenschaftsgeschichte.
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und Bedeutung in der Kultur und in der Gesellschaft gerecht werdende Fragestellung bietet eine eindeutige kulturwissenschaftliche Perspektivierung, die sich als Wissenschaft vom Menschen und der von ihm gestalteten Welt begreift, und die eine Integration der zersplitterten Wissenschaftsaspekte anstrebt, die Inhaltsanalyse und äußere Form, Biographie und Soziologie, Theologie und Philosophie, Handwerks- und Sozialgeschichte, rechtsund wirtschaftswissenschaftliche Aspekte synthetisieren kann. Der Doppelcharakter des Buchs als eines geistigen Werts und als ein Handelsobjekt wird gerade dann genauer erfasst, wenn alle ideellen Strömungen einer Epoche ebenso berücksichtigt werden wie die zeitgenössischen ökonomischen, rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen. Eine kulturwissenschaftlich orientierte Buchwissenschaft wird, um ein Beispiel zu geben, beim Bestsellererfolg von Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues (1929) nicht nur die literarischen Qualitäten, die Elemente des zeitgenössischen Antikriegsromans, sondern auch die Werbestrategien und die Marketingkonzepte des Verlags untersuchen, die Wechselwirkung mit der Verfilmung und vor allen Dingen die geistige Verfasstheit am desillusionierenden Ende der Goldenen 1920er Jahre. Die erst zehn Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs einsetzende geistige Bewältigung des Schreckens des Kriegs in Bildender Kunst und Graphik, Musik und Literatur kann den Schlüssel zu einem Buchmarkterfolg liefern, der vorschnell nur auf äußere Marketingstrategien hin interpretiert werden könnte.18 Beispielhaft für solche methodischen Überlegungen ist der Begriff der Kulturwissenschaft, den Aby M. Warburg entwickelt hat, der bereits in den 1920er Jahren die Kunstgeschichte aus dem engen Korsett einer rein ästhetisierenden Stilkritik herausgeführt hat und der mit einem bestechenden »Blick auf das Detail und in einer gelebten Interdisziplinarität« alles Verfügbare um ein Kunstwerk herum versammelt, damit es dann »historisch gerecht und überzeitlich verbindlich«19 – in allen seinen Bedeutungsfacetten gesehen werden kann. Geradezu legendär ist Warburgs Beschäftigung mit einer Truhen-Vorderseite aus der Renaissance über zwei Semester. Da er sowohl über das Material als auch über die Farbgebung handelte, über die Tradition der bildlichen Darstellung, die Art der Beschriftung und der literarischen Bezüge, wird seine leitende Maxime »Der liebe Gott steckt im Detail« am konkreten Beispiel verständlich. Darüber hinaus fragte er nach dem Gebrauchswert und dem Brauchtumswert dieser Truhe und zog Verkaufs18 19
Folgt Füssel: Buchwissenschaft als Kulturwissenschaft, S. 63f. Wuttke: Warburgs Methode, S. 34.
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rechnungen und die Tagebücher der Künstler ebenso für die Interpretation heran wie die Fragen der Bildtradition und der Ästhetik. Die Buchwissenschaft kann aus dieser Fragestellung viel Kapital ziehen. Denn die Wechselwirkung von Technikgeschichte und Geistesgeschichte macht das Faszinosum dieser Disziplin aus. Sie fragt nicht nur, was Gutenberg entwickelt hat, sondern in welchen Zusammenhängen er technikgeschichtlich stand, was er aus seinen Vorgängerinstitutionen übernommen hat, was von der Handschriftenära sinnvollerweise übernommen wurde, welche Leitgedanken seiner technischen Entwicklung und auch der Auswahl seiner Schriften zugrunde lagen. So müssen, ausgehend von der Materialität, auch immer die geistigen Zusammenhänge, etwa der Theologie und des Humanismus, ebenso aber auch die rechtlichen Grundlagen und die wirtschaftlichen Faktoren zusammengeführt werden.20 Die Berücksichtigung des Markts und der Kommunikationssituation gehören zu einem grundlegenden kulturwissenschaftlichen Ansatz; in einer Zeit des Medienumbruchs, in dem wir uns im Moment befinden, in einer Zeit der Medienkonvergenz ist es nötig, mit den Nachbardisziplinen enger denn je zu kooperieren. Praktisch geschieht dies an der Universität Mainz im Moment dadurch, dass ein »Schwerpunkt« der Medienfächer (Publizistik, Journalismus, Buch-, Film-, Theaterwissenschaft, Medienrecht, Unternehmenskommunikation, Medienmanagement, Musikinformatik, Neue Musik, Videokunst u. a.) gegründet wurde, als dessen Sprecher Stephan Füssel als Institutsleiter der Buchwissenschaft fungiert. Die BA/MA-Studiengänge wurden enger miteinander verzahnt, aber auch die Forschungsperspektiven aufeinander abgestimmt. Aus diesem Grund wird ab dem Wintersemester 2008/09 der Bachelor-Studiengang »Buchwissenschaft« angeboten, der Anknüpfungspunkte sowohl für kulturwissenschaftliche als auch für medienwissenschaftliche Fragestellungen bietet, dem ein konsekutiver Master »Buchwissenschaft« folgen wird. In diesen Studiengang sind ebenso Fragen des Medienrechts wie der Medienökonomie impliziert, die in einem Weiterbildungsangebot, dem »Master in Publishing«, dominieren. Ein erster sichtbarer Erfolg des neuen Schwerpunkts Medien ist es, dass eine neue W3-Stelle für Medienrecht und eine weitere W2-Professur für [den] »Internationalen Buchmarkt« zugewiesen wurden, die beide zum WS 2008/09 besetzt werden konnten. Die gemeinsame Fragestellung der Mainzer Medienfächer kreist um die Konvergenz der Medien. Mit zunehmender Geschwindigkeit und Breiten20
Füssel: Buchwissenschaft als Kulturwissenschaft, S. 63f.
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wirkung findet eine umfassende Mediatisierung der Lebenswelt statt. Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit erfolgt im öffentlichen wie im nicht-öffentlichen Raum mittlerweile fast ausnahmslos über Medien, die im Zuge der Digitalisierung interaktiv und multimedial geworden sind – also mehrere Sinne gleichzeitig ansprechen und eine dialogische Kommunikation ermöglichen, die nicht mehr ausschließlich nach der Lasswell-Formel von 1948 (Who says what in which channel to whom with what effect?) untersucht werden kann. Die Folgen sind theoretischer wie praktischer, methodischer und gestalterischer Art, da sie den Begriff der Medien ebenso stark verändern wie das Tätigkeitsfeld der Medienberufe und die Forschung, die sich mit diesem Tätigkeitsfeld und der von ihr ausgehenden Wirkung unter kulturellen, technischen, ökonomischen und juristischen Gesichtspunkten beschäftigt. Ebenso wie die soziale Teilhabe an der medialen Konstruktion von Wirklichkeit weist daher die Medienforschung eine dezidiert performative Dimension auf, die sich u. a. darin zeigt, dass die alltägliche Nutzung des Internets eine explorative Funktion besitzt, die mit der Medienevolution rückgekoppelt ist und neue Verhaltens- und Denkweisen kreiert. Um diese Zusammenhänge zu erfassen, ist die Forschung gehalten, ihrerseits Methoden der Exploration zu entwickeln, die einen performativen Charakter haben. Die Johannes Gutenberg-Universität ist nachhaltig bemüht, diese Infrastruktur gemäß der Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Kommunikations- und Medienwissenschaften in Deutschland auszubauen, die der Wissenschaftsrat am 25. Mai 2007 beschlossen hat. Angestrebt wird ein systematischer Ausbau des interdisziplinären Forschungsfelds, in dem u. a. die Publizistikwissenschaft und das Medienrecht, die Buchwissenschaft, die Kulturanthropologie und die Medienkünste aufeinander treffen. Die mit den Stichworten der Digitalisierung und der Medienkonvergenz benannte Fusion von Text, Bild und Ton sowie die zunehmend interaktiven Formen der Mediennutzung führen – nicht nur im Internet – zu einer Neuorganisation des kulturellen Wissens wie des sozialen Gedächtnisses, die intensiv untersucht und pädagogisch begleitet werden muss. Nur in der verstärkten Zusammenarbeit sozial- und kulturwissenschaftlich orientierter Disziplinen, empirischer und hermeneutischer Methoden, technologischer und philosophischer Bemühungen kann es nach Auffassung des Wissenschaftsrats gelingen, die rechtlichen und wirtschaftlichen Folgen der Medienevolution, ihre kulturellen Potenziale und kreativen Möglichkeiten kritisch zu erfassen und wissenschaftlich aufzuarbeiten. Wir untersuchen seit acht Jahren die Folgen der Digitalisierung für den Buchmarkt (und begannen mit einer Digitalisierung der Göttinger Gutenberg-
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Bibel, 2000)21 und für die Kommunikation; im Rahmen der Exzellenzinitiative des Landes Rheinland Pfalz bearbeiten wir gemeinsam mit den Publizisten die Fragestellung der »Mediatization of Society«.22 Der Buchwissenschaft ist der wegweisende Titel von Elizabeth Eisenstein The printing press as an agent of change wohlvertraut. Wir übertragen diese in den 1970er Jahren entwickelte Idee auf die Fragestellung, wie z. B. in den 1920er Jahren neue Medien zu Medientransformationen und damit zu Veränderungen von Kommunikationssituationen geführt haben, wie aber auch z. B. in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland diese Medientransformation zu einem anderen Zugang zu Wissen und Bildung führte und welche Folgen dadurch künftig zu erwarten sind.23 Im siebten Jahrzehnt der Institutsgeschichte entwickelt sich die Buchwissenschaft methodisch und inhaltlich weiter, ohne die Wurzeln, die Gutenberg-Forschung, die Verlagsforschung und die kulturwissenschaftliche Perspektive aufgeben zu müssen.
4 Literaturverzeichnis Altenhein, Hans (Hrsg.): Probleme des Verlagsgeschäfts. Beiträge zur Entwicklung des Literaturmarktes. Wiesbaden: Harrassowitz 1995 (Mainzer Studien zur Buchwissenschaft. 2). Baader, Peter: Das Druck- und Verlagshaus Albin-Strohecker zu Mainz (1598–1631). In: AGB 1 (1958), S. 513–569. Corsten, Severin/Füssel, Stephan/Pflug, Günther (Hrsg.): Lexikon des gesamten Buchwesens. Bd. 1–8. 2., neubearb. Aufl. Stuttgart: Anton Hiersemann 1987–2009. Everling, Ulrich/Füssel, Stephan/Rürup, Bert: Die Buchpreisbindung aus europarechtlicher, ökonomischer und kulturhistorischer Sicht. Frankfurt a. M.: BuchhändlerVereinigung 1997. Fischer, Ernst: Buchwissenschaft in Mainz. In: Buchwissenschaft und Buchwirkungsforschung. VII. Leipziger Hochschultage für Medien und Kommunikation. Hrsg. v. Dietrich Kerlen und Inka Kirste. Leipzig: Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft 2000, S. 13–29. Fischer, Ernst/Füssel, Stephan (Hrsg.): Geschichte des Buchhandel im 19. und 20. Jahrhundert. Bd. 2: Weimarer Republik. München: Saur 2007. Frühwald, Wolfgang/Füssel, Stephan (Hrsg.): Widerreden. 60 Jahre Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Frankfurt a. M.: MVB 2008. Fuchs, Reimar Walter: Die Mainzer Frühdrucke mit Buchholzschnitten 1480–1500. In: AGB 2 (1960), S. 1–129.
21 22 23
Hrsg. v. Elmar Mittler und Stephan Füssel. Vertrieb der CDs durch K. G. Saur Verlag; siehe auch http//www.gutenberg-digital.de [25.9.2008]. Füssel: Electronic Paper. Füssel: Medien – ein interdisziplinäres Forschungsfeld, S. 6f.
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Stephan Füssel
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CHRISTINE HAUG/FRANZISKA MAYER
Die Münchner Buchwissenschaft: Methoden – Modelle – Theorien 1 Einleitung Im Sommer 2006 hat in der Buchwissenschaft München mit der Emeritierung von Georg Jäger, dem maßgeblichen Gestalter der Studiengänge Buchwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU), ein grundlegender Generationswechsel stattgefunden. Der personelle Wechsel ist mit drei für die Münchner Buchwissenschaft bedeutsamen Jubiläen zusammengefallen: So konnte der Diplomstudiengang Buchwissenschaft im WS 2006/07 sein zehnjähriges Bestehen feiern; nur ein Jahr später, im WS 2007/08, beging der Aufbaustudiengang sein zwanzigjähriges Jubiläum, und im selben Jahr galt es, den 100. Geburtstag des Begründers buchwissenschaftlicher Forschungen am Institut für Deutsche Philologie vorzubereiten: Herbert G. Göpfert, langjähriger Cheflektor des Hanser-Verlags und Honorarprofessor am Institut für Deutsche Philologie, war nur wenige Wochen vor seinem 100. Geburtstag am 20. April 2007 verstorben.1 Der personelle Wechsel und diese Jahrestage sind Anlass genug, an dieser Stelle mit der Vorstellung der Münchner Buchwissenschaft und der Formulierung von Zukunftsperspektiven vor dem Hintergrund des BolognaProzesses eine historische Replik zu verbinden. Der Beitrag gliedert sich daher in zwei Hauptabschnitte: In einem ersten Schritt werden die Gründungsgeschichte, die Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte der Münchner Buchwissenschaft vorgestellt; in einem zweiten Schritt werden das inhaltliche Profil des Lehrangebots, die Zugangsvoraussetzungen und Zielsetzungen des Diplom- und Aufbaustudiengangs beschrieben, wobei ein Fokus auf dem Lehrangebot liegt, das – unabhängig von der Methodendebatte innerhalb der Buchwissenschaft – den Studierenden das wissenschaftlich-handwerkliche Rüstzeug an die Hand geben soll, das sie für den Berufseinstieg in Buchhandel und Verlag oder im Wissenschaftsbetrieb benötigen. 1
Vgl. Ziegler: Ein Leben für das Buch, S. 421–427.
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Die Buchwissenschaft zeichnet sich einerseits durch einen wissenschaftlichen Methodenpluralismus aus, andererseits durch ein beachtliches Defizit auf dem Sektor einer theoriegeleiteten Methodendebatte. Die Möglichkeiten ihrer Anwendbarkeit und das zu erwartende Erkenntnisinteresse gilt es in der Lehre den Studierenden zu vermitteln. Deshalb positioniert sich die Münchner Buchwissenschaft auch nicht dezidiert als Kultur- oder Medienwissenschaft, zumal diese Termini vor dem Hintergrund der Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen längst eine diffuse Beliebigkeit erfahren haben (und sich zukünftige BA- und MA-Studierende schwertun werden, die für sie optimalen Studiengänge zu finden). Die Münchner Buchwissenschaft möchte allerdings an eine Tradition anschließen (ohne aktuelle medien- und kommunikationswissenschaftliche Perspektiven vernachlässigen zu wollen), nämlich die Buchwissenschaft innerhalb einer im Moment neuerlich zur Diskussion gestellten Sozialgeschichte der Literatur neu zu positionieren. Das jüngst von Jörg Schönert, Martin Huber und Gerhard Lauer neu eröffnete Diskussionsfeld ›Nach der Sozialgeschichte‹ und die hier von den Herausgebern aufgezeigten Perspektiven, die sich allein für das Themenfeld der ›Neuen Medien‹ entwickeln lassen, gilt es auf Anschlussstellen für die buchwissenschaftliche Forschung zu überprüfen.2 Eine erschöpfende Methodendebatte kann an dieser Stelle selbstverständlich nicht geführt werden. Doch zunächst eine kurze historische Replik auf die Anfänge buchwissenschaftlicher Forschungen an der LMU, die schließlich unmittelbar mit der Etablierung einer Sozialgeschichte der Literatur in den siebziger Jahren in München einhergingen.
2 Zur Gründungsgeschichte der Buchwissenschaft Einen buchwissenschaftlichen Schwerpunkt setzte erstmalig Göpfert (geb. 1907). Göpfert, in den Jahren 1935 bis 1941 Cheflektor beim LangenMüller-Verlag in München, anschließend Kriegsdienst und Kriegsgefangenschaft, kehrte 1948 in die Verlagsbranche zurück. Von 1948 an baute er die belletristische Abteilung des Carl-Hanser-Verlags auf, ab 1953 leitete er dessen literarische Abteilung. Mit Annahme einer Honorarprofessur 2
Die Buchwissenschaft München (unterstützt u. a. von Georg Jäger) plant langfristig ein erstes wissenschaftliches Arbeitsgespräch, das zu einer Methodendiskussion auffordern und erste Impulse zu einem zwar längst überfälligen, ohne intensive wissenschaftliche Methodendebatte unter den Vertretern der Buchwissenschaft und ihren benachbarten Fachdisziplinen aber gar nicht denkbaren Handbuch der Buchwissenschaft »Methoden – Theorien – Modelle« geben möchte.
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für Buch- und Verlagswesen im Jahr 1964 etablierte Göpfert die buchwissenschaftlichen Forschungen im Lehrbetrieb der Münchner Germanistik. Er formulierte die auch noch heute die Studiengänge Buchwissenschaft prägenden Zielsetzungen, das Buch in seiner Mehrfachperspektivierung, also in seinen kulturellen, wirtschaftlichen und technischen Eigenschaften, zu erfassen, und machte die fruchtbare Verbindung von Wissenschaft und Praxis zugleich zum Markenzeichen der Münchner Buchwissenschaft.3 In den frühen achtziger Jahren stellten die buchwissenschaftlichen Forschungen einen Schwerpunkt im Lehrprogramm des Instituts für Deutsche Philologie dar, doch das Konzept entwickelte sich allein durch die steigenden Studierendenzahlen und Interessenten an diesem Themenfeld weiter. 1987 wurde zunächst der Aufbaustudiengang Buchwissenschaft gegründet, 1996 folgte die Einrichtung des Diplomstudiengangs Buchwissenschaft. An der konzeptuellen Gestaltung der beiden Studiengänge waren neben Göpfert insbesondere Jäger, Reinhard Wittmann und Edda Ziegler beteiligt. Die inhaltliche Ausgestaltung der buchwissenschaftlichen Studiengänge war und ist noch immer stark geprägt von den Forschungen der Münchner DFG-Forschergruppe »Theorie und Praxis zur Sozialgeschichte der Literatur«, ein Forschungsprogramm, das über viele Jahre von der DFG gefördert wurde und eine Vielzahl von grundlegenden, buchwissenschaftlich orientierten Studien hervorbrachte, an deren Entstehung insbesondere Jäger und Wittmann beteiligt waren.
3 Methoden, Modelle und Theorien der Münchner Buchwissenschaft 2007 zog Schönert in seinem Band Perspektiven zur Sozialgeschichte der Literatur. Beiträge zu Theorie und Praxis (ein Band, den Schönert nicht ohne Selbstironie als »Ersatz-Festschrift« zu seinem 70. Geburtstag bereits 2001 projektiert hatte) zwar eine kritische Bilanz (der erste Beitrag handelt »Vom gegenwärtigen Elend einer Sozialgeschichte der deutschen Literatur«), verleiht aber seiner Hoffnung Ausdruck, »dass zumindest denjenigen, die in den 1970er und 1980er Jahren noch zur Schule gingen und heute die Fachdiskussionen bestimmen, ein ›mehrperspektivisches‹ Bild für mögliche Verbindungen zwischen Gesellschaftsgeschichte und Literaturgeschichte, zwischen literari3
Vgl. Göpfert: Vom Autor zum Leser.
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schen Texten und sozialen Kontexten, erschlossen wird«.4 Ein Wunsch, dem die Münchner Buchwissenschaft durch ein einschlägiges Seminarangebot gerecht werden möchte. In den siebziger Jahren hatten sozialgeschichtlich orientierte Literaturgeschichten Konjunktur und begleiteten das wissenschaftliche Unternehmen »Sozialgeschichte der deutschen Literatur«, »das in den 1970er Jahren begonnen worden war, um nach der Distanzierung von der politischen Kooperation einer ›völkischen Germanistik‹ mit dem Nationalsozialismus und der Rückzugsbewegung der ›werkimmanenten Interpretation‹ die Leistungsfähigkeit einer ›künftigen Germanistik‹ im Zeichen gesellschaftsgeschichtlichen Engagements zu beweisen«.5 Das Erscheinen des ersten Bands von Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1980 kam daher noch einer Revolutionierung der Literaturgeschichtsschreibung gleich (und noch immer lesenswert ist übrigens der dem Band Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution 1680–1789 vorangestellte programmatische Essay des Hauptherausgebers Rolf Grimminger6). Andere ähnlich gelagerte, ambitionierte Literaturgeschichten scheiterten oder wurden letztendlich ihrem eigenen Anspruch, den neuen Weg einer Sozialgeschichte der Literatur zu gehen, nicht gerecht.7 Der jeweils aktuelle Diskussionsstand zum Konzept einer Sozialgeschichte der Literatur lässt sich besonders eindrücklich bei Erscheinen neuer Bände von Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur ablesen.8 Geret Luhr betitelte z. B. seine Besprechung des von Albert Meier herausgegebenen Bands Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Endliches Lesen und ewiges Leben: eine sozialgeschichtliche Darstellung der Literatur des Barock (1999) mit »Ein Lichtblick nach dem Debakel«.9 Als Debakel galt dem Rezensenten der 1996 erschienene Band Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit: Als unfreiwillige Ironie der Wissenschaft mußte es verstanden werden, daß gerade im wichtigsten Verbreitungsmedium der sozialgeschichtlichen Literaturforschung, in Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, die Sozialgeschichte als Methode ihr Ende finden sollte.
Während Luhr den Herausgebern des sechsten Bands eine regelrechte »Inszenierung der Krise des sozialgeschichtlichen Paradigmas« anlastete, würdigte er den von Meier herausgegebenen Band über die Literatur des 17. Jahrhunderts als anregende Wiederbelebung der sozialgeschichtlichen 4 5 6 7 8 9
Schönert: Perspektiven zur Sozialgeschichte der Literatur, S. 2. Schönert, S. 5. Grimminger: Aufklärung, Absolutismus und bürgerliche Individuen. Vgl. hierzu die kritische Übersicht von Grimm: Auf der Wiese der Soziologie. Vgl. Ort: »Sozialgeschichte« als Herausforderung der Literaturwissenschaft, S. 113–128. Hier und im Folgenden: Luhr: Ein Lichtblick nach dem Debakel.
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Methode der Literaturgeschichtsschreibung (wie sehr diese Annahme übrigens zutrifft, zeigt der eindrucksvolle Beitrag von Anke-Marie Lohmeier über den Literaturbetrieb im 17. Jahrhundert und das Selbstverständnis des Barockautors): Nun könnte eine sich modern verstehende Sozialgeschichte ohne weiteres (und das heißt mit nur wenig Kosmetik) auf den Zug des New Historicism aufspringen – doch diesen eher einfachen Weg wählte Meier nicht. Das modische Paradigma der ›Kulturwissenschaft‹ wird in seinem Vorwort nicht einmal erwähnt, geschweige denn, daß er mit ihm kokettierte. Dagegen beruft Meier sich auf die gewissermaßen einmalige Chance, die das 17. Jahrhundert der Hanser-Geschichte biete: denn auf keine andere Epoche der deutschen Dichtung würde eine sozialgeschichtlich perspektivierte Darstellung so gut passen wie auf die Literatur der Barockzeit, deren normative Regelhaftigkeit unmittelbar von den Gesellschaftsstrukturen hergeleitet wurde.
Längst könnte also eine Geschichte der Sozialgeschichte der Literatur geschrieben werden, allein über die Geschichte der verschiedenen sozialgeschichtlich orientierten Literaturgeschichten, die den Terminus ›Sozialgeschichte der Literatur‹ im Titel führen. Die extrem lange Erscheinungsdauer von Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur – der letzte Band ist jüngst erschienen – regt die Diskussion über ihre Programmatik mit Erscheinen eines neuen Bands jedenfalls stets aufs Neue an.10 3.1 Zur Neuformulierung einer Sozialgeschichte der Literatur
Gleichwohl: Das Konzept einer Sozialgeschichte der Literatur hatte sich in den siebziger Jahren als erfolgreich erwiesen und demonstrierte zugleich einen »Ausbruch aus einer interpretationsorientierten Literaturwissenschaft hin zu rezeptions- und distributionshistorischen Fragestellungen«.11 Das Konzept war von Anbeginn an methodisch reflektiert; es etablierte sich die Münchner Forschergruppe für »Sozialgeschichte der deutschen Literatur (1770–1900)«, die von 1978 bis 1984 durch die DFG gefördert worden ist. Das Internationale Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, das im Jahr 2000 im 25. Jahrgang erschien, gehört zu den eindrucksvollsten Ergebnissen der Münchner Forschergruppe, und die Gründungsphase war maßgeblich geprägt von den beiden Münchner Literaturwissenschaftlern Wolfgang Frühwald und Jäger. So verwundert es 10
11
Thema einer wissenschaftlichen Qualifikationsarbeit könnte z. B. die Entwicklung von »Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur« seit den achtziger Jahren, ihre konzeptionelle Idee und Fortentwicklung sein. Eine Studie, die – jetzt, nach Erscheinen des letzten Bandes – beispielsweise einer preiswerten Sonder- und Neuausgabe als Meta-Band beigegeben werden könnte. Huber/Lauer: Nach der Sozialgeschichte, S. IX.
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nicht, dass sich in diesem Wissenschaftsmilieu am Münchner Institut für Deutsche Philologie ein Forschungsschwerpunkt Buch- und Verlagsgeschichte herausbildete und zahlreiche wegweisende Studien zur Autorund Lesersoziologie, Buchhandels- und Pressegeschichte, Bildungs- und Bibliotheksgeschichte hervorbrachte. Der von Huber (Fernuniversität Siegen) und Lauer (Universität Göttingen) im Jahr 2000 herausgegebene, opulente Sammelband mit dem programmatischen Titel Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie macht sich eine kritische Bestandsaufnahme des Paradigmas »Sozialgeschichte der Literatur« im gegenwärtigen Literaturbetrieb zur Aufgabe, aber auch die Formulierung einer Neupositionierung des Konzepts vor allem im Verhältnis von Sozialsystem und Symbolsystem, einem produktiven Spannungsfeld, dem sich die Mehrzahl der im Sammelband vereinigten Beiträge auch widmet.12 Die Herausgeber konstatieren, dass zum jetzigen Zeitpunkt von einer konzeptionellen Fortentwicklung der sozialgeschichtlich orientierten Literaturwissenschaft keinesfalls gesprochen werden kann und im Vergleich zu den Nachbardisziplinen ein erhebliches Diskussionsdefizit vorherrsche. Von dieser »Immunisierung der Argumentationen der verschiedenen Ansätze gegeneinander« ausgehend,13 formulieren die Herausgeber vier Positionen für eine neue Profilbildung innerhalb einer Sozialgeschichte der Literatur. Die vier Positionen sollen hier wenigstens skizziert werden, um die Anschlussstellen für die Buchwissenschaft aufzuzeigen:14 –
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12 13 14
Sozialgeschichte der Literatur und Medien: Bildungs-, Buchhandelsund Pressegeschichte gehören schon seit den siebziger Jahren zu den Kernbereichen sozialgeschichtlicher Literaturforschung. Der Wandel des Medienbegriffs im Kontext der elektronischen Datenverarbeitung stellt dabei die sozialgeschichtlich orientierte Literaturforschung vor neue Herausforderungen. Von besonderem Interesse für die Buchwissenschaft ist die Erweiterung der Sozialgeschichte der Literatur um das Segment der Neuen Medien. Sozialgeschichte der Literatur und die Geschichtswissenschaften: Auf den Prüfstand stellen Huber/Lauer die bisherige Orientierung der Sozialgeschichte am Modell des Bürgertums und ihre Fokussierung auf dessen Sozialstruktur und plädieren für die Befragung konkurrierenHuber/Lauer, S. IX–XIII. Huber/Lauer, S. X. Vgl. die Beschreibung der Problemfelder in Huber/Lauer, S. XIf.
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der Konzepte der Gesellschaftsgeschichte, Modernisierungstheorie und Kulturgeschichte, wie sie die Geschichtswissenschaften herausgebildet haben, inwiefern diese »eingeübte Muster der Literaturgeschichtsschreibung in Frage zu stellen« vermögen.15 Sozialgeschichte der Literatur und die Humanwissenschaften: Die Öffnung der Sozialgeschichte der Literatur in die Humanwissenschaften wiederum berge Erkenntnispotenzial nicht nur für die Literaturwissenschaft – hier insbesondere auf den Gebieten Selbst- und Fremdwahrnehmung, Gedächtnis und Affekte.16 Neurobiologische Erkenntnisse können nutzbar gemacht werden für Fragen neurophysiologischer Prozesse bei der Informationsverarbeitung und Mediennutzung.17 Sozialgeschichte der Literatur und die Theorieentwicklung: Eine Weiterentwicklung des Konzepts einer Sozialgeschichte der Literatur bedarf in einem ersten Schritt einer kritischen Bestandsaufnahme und Neuformulierung des Konzepts unter Einbeziehung der Theoriediskussionen der Nachbardisziplinen. Huber/Lauer schlagen die (auch bereits im Lehrangebot der Münchner Buchwissenschaft aufgenommenen) Theorien des sozialen Feldes (Bourdieu), der Systemtheorie, der semiotischen Ansätze (mit Rekurs auf Peirce) und die Erweiterung um kulturtheoretische Fragestellungen vor.
Produktive Anschlussstellen bieten aber nicht nur die Philologien, Kultur-, Kommunikations- und Medienwissenschaften, sondern auch Theorien und Modelle der Betriebswirtschaftslehre, die in der Münchner Buchwissenschaft einen breiten Raum einnehmen. Die Studierenden der Münchner Buchwissenschaft profitieren hier vom Lehrangebot der Allgemeinen Betriebswirtschaftslehre und von den Kursangeboten am Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik und Neue Medien.18
15 16 17 18
Vgl. Huber/Lauer, S. XI. Huber/Lauer, S. XIf. Vgl. hier Giesecke: Literatur als Produkt, S. 359–384. Eine für die Studierenden beider Fächer fruchtbare Kooperation zwischen dem Lehrstuhlinhaber Thomas Hess und der Buchwissenschaft gelingt in Gestalt von gemeinsamen Vortragsreihen und Seminaren. Eine große Resonanz, auch in der Verlagsbranche, erfuhr die im WS 2007/08 gemeinsam durchgeführte Vortragsreihe »Digitale Bücherwelten und ihre Ökonomie« mit einem gemeinsamen Abschlusskolloquium.
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3.2 Medienökonomie und Medienmanagement
Einen Schwerpunkt des Lehrstuhls für Wirtschaftsinformatik und Neue Medien stellen die Entwicklung von Medienmärkten und die Frage nach Aufgabe, Organisation und Besonderheiten von Medienunternehmen im Kontext einer innovativen Informations- und Kommunikationstechnologie dar. Auch an der LMU ist eine Medienwirtschaftslehre als Teildisziplin der Speziellen Betriebswirtschaftslehre entstanden, die sich in Lehr- und Forschungsschwerpunkten mit medienwirtschaftlicher Ausrichtung widerspiegelt.19 Flankiert wird die Medienökonomie und Medienwirtschaftslehre von der Herausbildung eines wissenschaftlichen Konzepts des Medienmanagements. Längst arbeiten Betriebswirtschaftslehre und Medienmanagement mit einer interdisziplinären, nicht rein wirtschaftlichen Perspektivierung – eine Perspektivenweitung, die der Münchner Buchwissenschaft wichtige Anknüpfungspunkte liefert (so entstehen in der Buchwissenschaft Diplomarbeiten, die mit den Theorien und Modellen der Allgemeinen Betriebswirtschaftslehre arbeiten, u. a. der Diffusionstheorie von Everett M. Rogers, um nur ein Beispiel zu nennen, um innovative Prozesse in der Buchbranche aufzuzeigen).20 Das Medienmanagement profiliert sich als ganzheitliche, vieldimensionale Unternehmenslehre und Unternehmensführungslehre, zu deren Grundlage ein Management-Denken mit gesellschaftlicher Verantwortung gehört.21 Es ergeben sich also wichtige Schnittstellen für die Buchwissenschaft, die es zu diskutieren und produktiv zu nutzen gilt. Mit der verstärkten Ausrichtung an Konsensmodellen (z. B. Shareholder-Value und Stakeholder-Value) fokussiert das Medienmanagement die Frage nach dem »Maß der Integration von Ökonomie und gesellschaftlicher Verantwortung«.22 Das Modell einer ganzheitlichen Managementlehre, also einer Betriebswirtschaftslehre der Medien und Medienunternehmungen, forciert somit das produktive Zusammenspiel von Medienökonomie, Publizistik und Kommunikationswissenschaft – ein Modell, das zugleich zur Erklärung publizistischer Phänomene dient, Medienmanagement als interdisziplinär ausgerichteten Ansatz unter dem Primat der kommunikativen Dimension versteht und unmittelbare Anschlussstellen für die Buchwissenschaft anbietet (die sich in den Themenstellungen von Diplomarbeiten 19 20 21 22
Vgl. hier Schumann/Hess: Grundfragen der Medienwirtschaft. Vgl. Rogers: Diffusion of Innovations. Vgl. das jüngst erschienene Studienhandbuch Gläser: Medienmanagement. Gläser, S. 8.
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spiegeln und teilweise gemeinsam von der Buchwissenschaft und Kollegen aus der BWL betreut werden).23
4 Konzeptionelle Anlage der Studiengänge Buchwissenschaft Die konzeptionelle Anlage der Studiengänge Buchwissenschaft streicht den transdisziplinären Charakter des Buchs heraus, der ein ›QuerschnittKonzept‹ in Forschung und Lehre zur Folge hat. Die produktive Verflechtung von Wissenschafts- und Praxisorientierung ist noch immer konstitutives Merkmal der Münchner Buchwissenschaft und spiegelt sich im Lehrangebot, das neben einem facettenreichen berufspraktischen Kursangebot Wissensbestandteile aus Betriebswirtschaft, Geschichte, Philologie, Jura und Technik umfasst.24 Im Folgenden werden als Beispiel die Lehrinhalte eines Kurses zu den methodischen Grundlagen der Buchwissenschaft, der für alle Studierenden des Bachelorstudiengangs im zweiten Semester verpflichtend ist und auf dem die weiteren Lehrveranstaltungen aufbauen, ausführlicher vorgestellt. Es versteht sich von selbst, dass das Seminarangebot in der Buchwissenschaft in den verschiedenen Seminaren dezidiert auch buchhistorische, wirtschafts- und unternehmensgeschichtliche Fragestellungen, Fragestellungen der Buchhandels- und Verlagsgeschichtsschreibung usw. aufgreift. 4.1 Zu den theoretischen Grundlagen im Lehrangebot
Um die methodische Ausrichtung der Lehre zu konkretisieren, sollen nun exemplarisch die theoretischen Inhalte des Grundkurses Buchwissenschaft in München dargestellt werden.25 Die Auswahl theoretischer Texte folgt einerseits der methodischen Tradition der Münchner Buchwissen-
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Gläser, S. 9. Vgl. Jäger: Buchwissenschaft – das Münchner Modell, S. B 94–B 96; Jäger/Schönert: Perspektiven zur wissenschaftstheoretischen Begründung, S. 31–43; Jäger/Schönert: Wissenschaft und Berufspraxis. Der Grundkurs im ersten Semester des Bachelorstudiums deckt die im Hochschulbereich üblichen propädeutischen Inhalte ab wie Einführung ins Bibliographieren, Recherchieren und wissenschaftliche Arbeiten, in die verschiedenen wissenschaftlichen Präsentationsformen (Referat/Vortrag, Thesenpapier, Seminararbeit/Aufsatz) sowie praktisch orientierte, spezifisch buchwissenschaftliche Themen wie Überblick über die Verlagslandschaft in Deutschland, Organisationsformen der Verlage, rechtliche Grundlagen der Verlagsarbeit etc.
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schaft, wie sie von Jäger geschaffen wurde, ist aber in ihren Schwerpunkten teilweise modifiziert und aktualisiert worden. Entsprechend der Einbindung der Münchner Buchwissenschaft in das Institut für Deutsche Philologie der LMU, steht die Semiotik an erster Stelle der Theoriemodelle, die im zweiten Semester des Studiums vermittelt werden. Einer Einführung in elementare (konkurrierende) Zeichenbegriffe (Ferdinand de Saussure, Charles S. Peirce etc.) folgen Analysen der Semantik zentraler Elemente des Buchs, von Typographie,26 literarischen Texten als sekundären modellbildenden Systemen27 über Text-BildBeziehungen28 bis hin zur Buchgestaltung insgesamt. Dabei erweist sich vor allem der von Roland Barthes für die Sprache der Mode fruchtbar gemachte Begriff des Metazeichens29 als ausgesprochen brauchbar, um zu erklären, wie das Buchdesign, aber auch Aspekte der Distribution (etwa der Präsentation im Buchhandel), die Semantik des Großzeichens ›Buch‹ beeinflussen. Im Metazeichen – verstanden als komplementärer Begriff zu dem der Konnotation – wird ein primäres Zeichen (in diesem Fall etwa der Buchtext) zum Signifikat eines sekundären Zeichens ›Buch‹, während die äußere Gestaltung des Gegenstands (bzw. spezifische Varianten der Präsentation im Handel) als neuer Signifikant hinzukommt.30 Die Funktion von Metazeichen erklärt Ugo Volli 2002 wie folgt: Ein typisches Metazeichen gibt an, welches Register man in der Kommunikation verwenden möchte, zum Beispiel, ob ein bestimmter Satz ernst genommen oder aber als Spaß verstanden werden soll, […] ob ein Buch eher zu einer bestimmten Gattung gehört als zu einer anderen, usw. Ein Metazeichen verwendet also bestimmte Eigenschaften des Signifikanten eines Zeichens, um damit einige A n w e i s u n g e n z u m G e b r a u c h des Zeichens selbst zu vermitteln. Hier liegt eine für jegliche Kommunikation überaus bedeutsame und allgemeine Funktion vor, die für deren richtigen Ablauf nahezu immer notwendig ist.31
Damit lässt sich die Funktionsweise dessen, was Verlage und Buchhandel zum Endprodukt des Buchs beitragen, verdeutlichen: Verlage lenken die 26 27
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Vgl. dazu exemplarisch: Wehde: Typographische Kultur. Hier vor allem zur Raumsemantik; vgl. Lotman: Die Struktur literarischer Texte; Krah: Einführung in die Literaturwissenschaft. Es ist auch denkbar, die Semantik rhetorischer Mittel oder narrativer Strategien zu untersuchen. Letztlich sollen hier exemplarisch semantische Strukturen von Texten bzw. Selektionsvarianten der Textproduktion dargestellt werden, um die Sensibilität für die Funktionsweise von ›Text‹ zu wecken. Vgl. Titzmann: Interaktion und Kooperation, S. 215–248. Barthes: Die Sprache der Mode, S. 37f.; Volli: Semiotik, S. 47f.; zur Konnotation S. 45–47. Diesem Konzept liegt also ein zweiwertiger Zeichenbegriff im Sinne Ferdinand de Saussures zugrunde, der die zwei Aspekte des Zeichens (Ausdruck- und Inhaltsseite) als ›Signifikat‹ und ›Signifikant‹ fasst. Volli: Semiotik, S. 47 (Hervorhebung im Original).
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Rezeption des Textes etwa durch die Wahl der Typographie, des Satzspiegels, des Formats, Papiers etc. wie auch durch die Hinzufügung von Paratexten, Kommentaren, Vor- oder Nachworten.32 Im Vordergrund steht im Seminar die möglichst eigenständige Überprüfung solcher Modelle an Beispielen aus der Praxis, etwa durch den Vergleich konkurrierender Ausgaben desselben Textes, um so die Konsequenzen und Funktionen verlegerischer Entscheidungen besser zu verstehen. Während sich semiotische Modelle vor allem eignen, um Bedeutungen des Buchs zu rekonstruieren, zu hierarchisieren und zu funktionalisieren, geht es im Weiteren darum, die Relationen zwischen Akteuren des Buchmarkts näher zu untersuchen. Dafür bieten sich vor allem aus der Soziologie stammende Beschreibungsmodelle an, die Lösungen offerieren, um mit der mehrfach als Problem der Buchwissenschaft erkannten Transdisziplinarität des Gegenstandes33 zurechtzukommen. Vor allem systemtheoretische und kultursoziologische Ansätze Niklas Luhmanns und Pierre Bourdieus dienen dazu, spezifische Strukturen des Buchmarkts, in dem sich verschiedene Subsysteme oder ›Felder‹ überschneiden und untereinander interagieren, herauszuarbeiten. Die wenig systematische und – etwa in der Ausdifferenzierung verschiedener ›Kapital‹-Sorten – stark metaphorische Konzipierung des literarischen Feldes, wie sie Bourdieu in mehreren Texten ausgeführt hat,34 hat mittlerweile verschiedene Konkretisierungen und Anwendungsmöglichkeiten in den Kulturwissenschaften gefunden.35 Die Vorteile des im Vergleich zu systemtheoretischen Konzepten flexibleren Modells liegen in der unmittelbaren Anwendbarkeit auf den Buchmarkt. Vor allem die mit jedem Strukturwandel einhergehenden ›Kämpfe‹ innerhalb eines Feldes um die Hierarchisierung von ›Kapital‹-Sorten und Stellungen lassen sich mit Hilfe dieses Modells nachvollziehbar darstellen und analysieren. Dabei können etwa Fragen des Epochenwandels, der Kanonisierung von Texten, von Wertungen allgemein, aber auch von sich wandelnden Märkten – etwa im Zuge der Digitalisierung – als Beispiele herangezogen werden. Auch hier kommt es darauf an, das Modell eigenständig den jeweiligen Fragestellungen anzupassen und auf seine Tragfähigkeit hin zu überprüfen. Zugleich wird somit die Konstruktion des Ansatzes hinterfragt, der 32 33 34 35
Zum Begriff des Paratextes vgl. Genette: Paratexte. Vgl. Jäger: Buchwissenschaftliche Studiengänge, S. 274. Bourdieu/Wacquant: Reflexive Anthropologie; Bourdieu: Das literarische Feld; Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Exemplarisch etwa Jurt: Das literarische Feld.
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einer stärkeren Historisierung und Anpassung an alternative Kulturräume bedarf. So ist die These Bourdieus, das literarische Feld sei im Verhältnis zu anderen Feldern weitgehend autonom und verhalte sich chiastisch etwa zum politischen oder ökonomischen Feld,36 im Seminar für verschiedene diachrone Zustände des Feldes zu problematisieren. Daneben bietet sich auch eine Applikation des Habitus-Konzepts auf Unternehmensgeschichten – im Falle der Buchwissenschaft häufig: Verlagsgeschichten – an. So lassen sich Wandlungsprozesse und Krisen etwa infolge von Fusionsprozessen sinnvoll anhand dieses Modells analysieren. Zugleich liefert der kultursoziologische Habitus-Begriff ein starkes Argument für die Notwendigkeit historischer Forschung auf diesem Gebiet: Bildet doch beispielsweise die Geschichte eines Verlags dessen Identität in besonderem Maß und prägt im Weiteren die Wahrnehmung, das Denken und Handeln des Unternehmens. Bereits hier geraten Fragen der Interaktion verschiedener Felder in den Blick, deren spezifische Leistungen sich mit Hilfe systemtheoretischer Ansätze noch genauer interpretieren lassen. Dazu wird das Luhmann’sche Konzept von Kommunikation als einer Einheit dreier Selektionen – Information, Mitteilung und Verstehen37 – ebenso thematisiert wie die von ihm beschriebenen Unwahrscheinlichkeiten für das Zustandekommen von Kommunikation.38 Dass sie dennoch funktioniert bzw. autopoietisch ständig Anschlusskommunikationen generiert, verdankt sich in Luhmanns Ansatz der evolutionären Entstehung von Medien, die diese Unwahrscheinlichkeiten begrenzen. Hiermit lassen sich Wandlungsprozesse durch die Entstehung neuer Medien und deren Funktionen plausibilisieren, etwa die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern oder die Entwicklung elektronischer Medien.39 Die Funktionsweise von Verlagen, die sich als Interpenetrationszonen verschiedener sozialer Subsysteme – im Wesentlichen des ökonomischen
36
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Vgl. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 136. Tatsächlich geht auch schon Bourdieu davon aus, dass der Grad der Autonomie des literarischen Feldes historisch variabel ist; allerdings postuliert er eine zunehmende Autonomisierung und Ausdifferenzierung des literarischen Feldes; vgl. Jurt: Bourdieus Analyse, S. 171. Verstanden als Einheit der Differenz von Information und Mitteilung – es geht in diesem Kommunikationsmodell nicht um das Verstehen einer Bedeutung, die nach Luhmanns Theorie ohnehin nicht außerhalb der informationsverarbeitenden Prozessoren existiert. Vgl. Luhmann: Soziale Systeme, S. 198. Luhmann nennt die Unwahrscheinlichkeiten des Erreichens, des Verstehens und des Erfolgs; vgl. Luhmann: Soziale Systeme, S. 217f. Dazu exemplarisch Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit.
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Systems und des kulturellen Treuhandsystems40 – beschreiben lassen, kann durch die Analyse der Mechanismen von Entscheidungsfindungen, die durch Übertragung von Selektionen des einen Subsystems ins andere erfolgen,41 transparenter gemacht werden. Die für diese Leistung nötige spezifische Arbeitsteilung kann daher mit Hilfe des Modells am Beispiel von Verlagen ebenso vorgeführt werden wie die Unterstützung dieser Vorgänge durch symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien.42 Alles in allem ist diese Auswahl theoretischer Ansätze nicht abschließend gedacht. Vielmehr soll im Rahmen des Methodenkurses an den vorgestellten Modellen vorgeführt werden, was ›Modelle‹ sind,43 was sie leisten können und wie einzelne buchwissenschaftliche Fragestellungen mit der Wahl eines theoretischen Modells korreliert sind. 4.2 Zugangsvoraussetzungen und Berufsperspektiven
Im zum WS 2009/10 eingeführten Bachelorstudiengang können gelernte Buchhändler/innen und Medienkaufleute ihre Perspektiven im Berufsfeld Buch ausbauen. Neben einer fundierten betriebswirtschaftlichen Ausbildung erlernen die Studenten in Seminaren zur Buch- und Buchhandelsgeschichte wissenschaftliche Methoden zur Analyse kultureller Phänomene (und können so Themen, die sie schon während der Ausbildung interessierten, vertiefen). Das Lehrangebot ist geprägt von einer engen Verzahnung wissenschaftlicher Perspektivierung und Praxisorientierung, einer idealen Kombination aus theoretisch und historisch ausgerichteten Kursen. Ein wichtiges Studienelement ist der Erwerb von betriebswirtschaftlichem Grundlagenwissen. Das Lehrangebot wird gewährleistet durch Universitätsdozenten und Lehrbeauftragte aus der Buch- und Verlagsbranche. Gerade durch die Dozenten aus der Praxis lernen unsere Absolventen aktuelle Kompetenzen in der Verlagsarbeit und im Marketing kennen. Durch die Wahl eines Nebenfachs können die Studierenden ihrer Neigung 40 41 42 43
Die Begrifflichkeit folgt hierbei Talcott Parsons; vgl. dazu auch Meyer/Ort: Konzept eines struktural-funktionalen Theoriemodells, S. 85–184. Vgl. Jäger: Keine Kulturtheorie ohne Geldtheorie, S. 68. Vgl. Luhmann: Soziale Systeme, S. 222. Nicht zuletzt geht es freilich auch um ein erstes Verständnis wissenschaftlich-theoretischer Texte, eine Hürde, die oft nur mit zusätzlichen Gesprächsangeboten durch den Dozenten zu nehmen ist. Zugleich ist auch der Einwand zu entkräften, solche Themen seien im zweiten Semester fehl am Platz: Je früher die Scheu vor theoretischen Texten überwunden wird, desto besser kann der Umgang mit ihnen habitualisiert werden, wie die Erfahrung zeigt.
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entsprechend Kenntnisse vertiefen oder völlig neue Interessen entwickeln. Nach einer Regelstudienzeit von sechs Semestern nehmen die Absolventen kreative und verantwortliche Positionen in der Buch- und Medienbranche ein oder gehen den Schritt in die Selbständigkeit.44 Der Aufbaustudiengang Buchwissenschaft wiederum richtet sich an alle, die nach dem erfolgreichen Abschluss eines Hochschulstudiums (mindestens Note »Gut«) eine fundierte Zusatzausbildung anstreben. Mehrheitlich handelt es sich um Absolventen eines geisteswissenschaftlichen Studiums, aber auch Juristen oder Architekten wählen den Aufbaustudiengang, um ihre Einstiegschancen in einschlägigen Verlagen zu optimieren. Das Lehrangebot des zweisemestrigen Studiums vermittelt erstens den Erwerb praktischer Fähigkeiten, zweitens fundierte Kenntnisse im Bereich organisatorischer, wirtschaftlicher und rechtlicher Grundlagen des Buchhandels und des Verlagswesens sowie drittens Einblicke in die Geschichte des Buchhandels. Daher bieten wir regelmäßig berufspraktische Kurse zu den Themen verlegerische Programmplanung, Lektorat, Vertrieb und Marketing, Urheberrecht und Lizenzgeschäft, Buch- und Verlagswirtschaft, Öffentlichkeits- und Pressearbeit oder Neue Medien (Elektronisches Publizieren, Books on Demand) an. Wesentlicher Bestandteil dieses Studiums ist die gemeinschaftliche Erstellung einer »Visitenkarte« eines jeden Jahrgangs in Form einer größeren Publikation, die von einem professionellen Hersteller begleitet wird. Das gemeinsame Abschlussprojekt – eine Gruppenarbeit in Echtzeit – gewährleistet den Studierenden des Aufbaustudiengangs die aktive Mitwirkung an Herstellungsfragen, beispielsweise Kostenkalkulation, Einbandgestaltung, Illustrationen, aber auch an Vertrieb und Marketing sowie an Werbung, Öffentlichkeitsarbeit und Sponsoring. Hier lernen unsere Buchwissenschaftler selbständiges Arbeiten, Kommunizieren und Führungsstärke.45 Längerfristig wird der Aufbaustudiengang in einen Masterstudiengang überführt.
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Voraussetzungen: Abitur oder fachgebundene Hochschulreife (Fachrichtung: Wirtschaft), Ausbildung im Verlag oder Sortiment; Fächer: Buchwissenschaft inkl. Betriebswirtschaftslehre (120 ECTS-Punkte), Nebenfach (60 ECTS-Punkte; mögliche Fächer derzeit: Antike und Orient, Geschichte, Kunst/Musik/Theater, Philosophie, Sprache/Literatur/Kultur, Vergleichende Kultur- und Religionswissenschaft); Studiendauer: Regelstudienzeit sechs Semester, Beginn im Wintersemester; Abschluss: Bachelors of Arts Buchwissenschaft. Voraussetzungen: abgeschlossenes Hochschulstudium (mindestens Note »Gut«), vor Beginn Absolvierung eines viermonatigen Praktikums in Verlag oder Sortiment (davon zwei Monate im Verlag); Eignungstest; Studiendauer: zwei Semester, Beginn im Wintersemester; Abschluss: Zertifikat Aufbaustudiengang Buchwissenschaft.
Die Münchner Buchwissenschaft: Methoden – Modelle – Theorien
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5 Zukunftsperspektiven – Das »Münchner Modell« und die Hochschulreform Hochschulreform und Bologna-Prozess, die eine Umstellung aller Studiengänge in Bachelor- und Masterstudiengänge auch in München ab WS 2009/10 vorsahen, bestärken die Münchner Buchwissenschaft in ihrem bisherigen Konzept, nämlich einer optimalen Verbindung von wissenschaftlich-historischem Arbeiten auf der einen Seite und einer praxisintensiven Vorbereitung auf das Berufsleben auf der anderen Seite. In engem Austausch mit der Verlagsbranche wurden zunächst die Voraussetzungen zur Einrichtung eines »BA Buchwissenschaft« geschaffen. Die Münchner Buchwissenschaft strebt dabei auch einen stärkeren internationalen Austausch an, entweder durch Auslandssemester an Partneruniversitäten oder durch Vermittlung von Auslandspraktika, flankiert von einem verstärkten Angebot an englischsprachigen Lehrveranstaltungen. Die Umstellung des Diplomstudiengangs auf einen Bachelorstudiengang stellte die Münchner Buchwissenschaft gewiss vor geringere Probleme, praktizierten die Begründer der buchwissenschaftlichen Studiengänge – insbesondere Jäger und seine Mitarbeiter – bereits »Bologna«, bevor die namengebende Hochschulkonferenz überhaupt stattgefunden hatte. Gleichwohl barg die Umstellung formalrechtliche Tücken, die vor dem Hintergrund von der Hochschulleitung gewünschter maximal einheitlicher Rahmenbedingungen zum Nachteil eines so speziellen und nach anderen Regeln funktionierenden Fachs Buchwissenschaft hätten ausschlagen können. Erfolgreich durchgesetzt werden konnten inzwischen zwei entscheidende Strukturmerkmale der Münchner Studiengänge: Mit Einführung des BA Buchwissenschaft im WS 2009/10 bleibt die abgeschlossene Berufsausbildung im Buchhandel oder im Verlag Zugangsvoraussetzung, und der hohe Anteil von freien Dozenten aus der Verlagspraxis kann beibehalten werden.
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Die Münchner Buchwissenschaft: Methoden – Modelle – Theorien
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Saussure, Ferdinand de: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Hrsg. v. Charles Bally u. Albert Sechehaye. Übers. v. Herman Lommel. 3., erw. Aufl. Berlin/New York: de Gruyter 2001 (De-Gruyter-Studienbuch). Schönert, Jörg: Perspektiven zur Sozialgeschichte der Literatur. Beiträge zu Theorie und Praxis. Tübingen: Niemeyer 2007 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur. 87). Schumann, Matthias/Hess, Thomas: Grundfragen der Medienwirtschaft. Eine betriebswirtschaftliche Einführung. 3., aktualisierte u. überarb. Aufl. Berlin/Heidelberg: Springer 2006. Titzmann, Michael: Interaktion und Kooperation von Texten und Bildern. In: Medien und Kommunikation. Eine interdisziplinäre Einführung. Hrsg. v. Hans Krah u. Michael Titzmann. Passau: Stutz 2006, S. 215–248. Volli, Ugo: Semiotik. Eine Einführung in ihre Grundbegriffe. Tübingen/Basel: Francke 2002 (UTB. 2318). Wehde, Susanne: Typographische Kultur. Eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung. Tübingen: Niemeyer 2000 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur. 69). Ziegler, Edda: Ein Leben für das Buch. Herbert G. Göpfert, dem Lektor und akademischen Lehrer, zum 100. Geburtstag. In: LJB 16 (2007), S. 421–427.
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Ein betriebswirtschaftliches Studium für die Buch- und Medienbranche: Buchhandel/Verlagswirtschaft an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig Als der Autor dieses Beitrags sich Anfang der 1980er Jahre für ein Studium am Institut für Buchwesen der Johannes Gutenberg Universität Mainz entschied, wurde ihm folgende Belehrung zuteil: »Studieren Sie Mathematik, so können Sie Mathelehrer werden. Studieren Sie Medizin, dann Arzt. Nach einem Jurastudium werden Sie Richter oder Rechtsanwalt. Wenn Sie jedoch Buchwesen studieren wollen, dafür gibt es eigentlich keinen richtigen Beruf … da müssen Sie sich schon selber etwas ausdenken.« Bereits aus dieser knappen Anmerkung wird deutlich, wie wenig direkt berufsbezogenes Wissen in diesem Studium vermittelt wurde. Und auch wenn sich am mittlerweile umbenannten Institut für Buchwissenschaft in Mainz in der Zwischenzeit viel verändert hat, stellt sich doch die Frage, inwieweit ein Universitätsstudium berufsbezogenes Wissen vermitteln kann und soll. Gleichwohl ist berufsbezogenes Wissen heute mehr denn je in Buch- und Presseverlagen aber auch im Handel gefragt. Nun ist die Institution, an der der Autor tätig ist keine Universität, sondern eine Fachhochschule und deren Aufgabe ist die Vermittlung anwendungsorientierten Wissens. Auf diesen Punkt soll etwas tiefer eingegangen werden. Die Gründung von Fachhochschulen in Deutschland geht auf ein »Abkommen der Länder der Bundesrepublik Deutschland zur Vereinheitlichung des Fachhochschulwesens« aus dem Jahr 1968 zurück.1 Diese bildungspolitische Entscheidung, einen neuen Hochschultyp zu 1
Vgl. Wissenschaftsrat: Empfehlungen zu Aufgaben, S. 7 (Die Vorgeschichte dieses Beschlusses sowie eine Darstellung der Umsetzung würden den Rahmen dieses Beitrages sprengen, weiterführende Literaturangaben finden sich in der zitierten Publikation des Wissenschaftsrats). Die meisten Fachhochschulen entstanden zwischen 1969 und 1971 sowohl durch Umwandlung bereits bestehender Bildungseinrichtungen als auch in Form von Neugründungen. Gleiches gilt für die ab 1990 in den neuen Bundesländern gegründeten Fachhochschulen. Heute gibt es in Deutschland 167 Fachhochschulen, davon 65 in nichtstaatlicher Trägerschaft.
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schaffen, beruhte auf der Erkenntnis, dass der Bedarf an wissenschaftlichanwendungsorientiert ausgebildeten jungen Menschen sowie die Nachfrage nach differenzierten Ausbildungsprofilen stetig wuchs und auch weiterhin zunehmen würde.2 Dementsprechend sollten die Fachhochschulen eine auf wissenschaftlicher Grundlage beruhende, berufsbezogene Bildung vermitteln. Oder konkreter: Aufgabe der Fachhochschule ist die Vermittlung einer anwendungs-orientierten wissenschaftlichen Ausbildung, die zur Beherrschung und Anwendung des Standes der Technik bzw. der in der Praxis eingeführten wissenschaftlichen Verfahrensweisen und zur Anwendung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse befähigen und damit [eine bestimmte] Problemlösungskompetenz vermitteln soll. Fachhochschulstudium bedeutet in diesem Sinne Vorbereitung auf Berufsfelder, jedoch nicht auf konkrete Berufsbilder, die innerhalb von Berufsfeldern in großer Anzahl und unterschiedlicher Art bestehen und sich häufig ändern.3
Bei der Zuweisung der Aufgaben an die Fachhochschulen spielte die Forschung zunächst eine eher untergeordnete Rolle. Seit Anfang der 1990er Jahre wurden die Hochschulgesetze der Länder jedoch – das Aufgabenspektrum der Fachhochschulen betreffend – erheblich erweitert und der anwendungsorientierten Forschung und Entwicklung an den Fachhochschulen ein größeres Gewicht zugemessen. So wurde die Forschung in vielen Ländern als institutionelle Aufgabe der Fachhochschulen festgeschrieben; auch im Sächsischen Hochschulgesetz (Stand 23. Mai 2004).4
1 Charakteristika von Fachhochschulen Kennzeichnend für ein Fachhochschulstudium ist die betonte Anwendungsorientierung analog den jeweiligen Berufsfeldern. Der Anteil an praktischen Übungen, Projektarbeiten usw. ist entsprechend hoch und orientiert sich an Aufgaben und Fragestellungen aus der Praxis. Ein mehrmonatiges Praktikum ist fester Bestandteil des Studiums. Ein weite2 3 4
Hochschulrektorenkonferenz: Profilelemente von Universitäten, Abs. C. I. Hochschulrektorenkonferenz: Profilelemente von Universitäten, Abs. C. II. § 4 »Die Hochschulen dienen ihrer Aufgabenstellung und ihrem fachlichen Profil entsprechend der Pflege und Entwicklung der Wissenschaften und Künste durch Forschung, Lehre, Studium und Weiterbildung in einem freiheitlichen, demokratischen und sozialen Rechtsstaat. Neben ihrer Verantwortung für Wissenschaft, Kunst und Bildung bereiten die Hochschulen auf berufliche Tätigkeiten vor, die die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse und wissenschaftlicher Methoden oder die Fähigkeit zu künstlerischer Gestaltung erfordern. Im Rahmen dieser Aufgabenstellung dienen die Fachhochschulen den angewandten Wissenschaften und der angewandten Kunst und nehmen praxisnahe Forschungs- und Entwicklungsaufgaben wahr.«
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res Kennzeichen ist die hohe Verbindlichkeit der Curricula, die den Studierenden einen erfolgreichen Abschluss im Rahmen der Regelstudienzeit ermöglichen soll. Bei den im Jahr 2011 auslaufenden Diplomstudiengängen beträgt die Regelstudienzeit acht Semester. Diese gliedert sich in ein dreisemestriges Grund- und ein fünfsemestriges Hauptstudium und enthält ein bzw. zwei Praktikumssemester in einem Unternehmen oder einer Institution des beruflichen Umfelds. Der im jeweiligen Curriculum festgelegte Studienablauf wird sichergestellt durch ein komplexes System studienbegleitender Leistungsnachweise. Diesen eingespielten Studienablauf in Bachelor- und Masterstrukturen zu überführen, gestaltet sich nicht ganz einfach. Dazu jedoch später. Auch ist die strikte Zulassungsbeschränkung ist als charakteristisch zu nennen. Sie ist Grundlage für eine intensive Lehrvermittlung in kleinen Gruppen. Die Gruppengröße ist eine wichtige Voraussetzung, um eine qualifizierte Hochschulausbildung in der vorgegebenen Zeit nach dem o. a. verbindlichen Curriculum zu ermöglichen. Typisch für ein Fachhochschulstudium ist aber auch eine hohe Belastung der Studierenden durch Vorlesungen, Übungen und Seminare mit bis zu 30 Semesterwochenstunden und die damit verbundenen Leistungsnachweise. Die dadurch eingeschränkten Möglichkeiten eines selbstbestimmten Studiums dürfen hier nicht verschwiegen werden. Schließlich sind kennzeichnend für Fachhochschulen die intensiven Kontakte zu Wirtschaftsunternehmen und Institutionen in der Region, bei singulären Studienangeboten aber auch weit darüber hinaus. Denn der anwendungsorientierte Ansatz der Fachhochschulen macht deren Studiengänge besonders interessant für Partner aus der Praxis – umgekehrt sind die Fachhochschulen aber auch auf diese Kontakte angewiesen, um entsprechend aktuellen Bedürfnissen berufsfeldbezogen ausbilden zu können.
2 Der Studiengang Buchhandel/Verlagswirtschaft Die Fachhochschulen mit ihren Studienangeboten waren und sind eine gewollte und deutliche Alternative und zugleich Ergänzung zu den Universitäten.5 Was dies konkret für das Studium Buchhandel/Verlagswirtschaft an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur (HTWK) Leipzig bedeutet, soll in der Folge dargestellt werden. 5
Wissenschaftsrat: Empfehlungen zu Aufgaben, S. 8.
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Die Anfänge der praxisorientieren Hochschulausbildung für die Buchbranche gehen auf das Jahr 1977 zurück, in dem die Fachhochschule für Druck in Stuttgart (heute: Hochschule der Medien) einen Studiengang Verlagswirtschaft und Verlagsherstellung einrichtete. Dieses Studienangebot existiert bis heute, jetzt allerdings unter dem Namen Mediapublishing. Als Anfang der 1990er Jahre in Leipzig über ein neues Fachhochschulstudium für die Buch- und Medienbranche diskutiert wurde, zeigte sich, dass ein ausdrücklich betriebswirtschaftlich orientiertes Studium für alle Sparten der Buchwirtschaft und daran angrenzende Bereiche der Kultur- und Medienwirtschaft fehlte.6 Für den aus diesen Überlegungen hervorgegangenen Studiengang Buchhandel/Verlagswirtschaft wurde erstmals im Wintersemester 1992/93 an der vom Freistaat Sachsen neu gegründeten HTWK in Leipzig immatrikuliert. Vorausgegangen waren intensive Gespräche mit Kollegen anderer, ähnlich ausgerichteter Studiengänge. Darüber hinaus waren Berufspraktiker an der Entwicklung des Curriculums beteiligt. So wurde ein Studienangebot entwickelt, das für verantwortliche Tätigkeiten in der Buch- und Medienwirtschaft berufsqualifizierend war und ist. Den Studiengang Buchhandel/Verlagswirtschaft charakterisieren die Wirtschafts-, Medien- und Kulturwissenschaften als Referenzwissenschaften. Das auf diesen Referenzwissenschaften basierende Grundkonzept sieht eine Verbindung des vorrangig betriebswirtschaftlichen Schwerpunkts mit medien- und kulturwissenschaftlichen Betrachtungsweisen vor. Durch die Orientierung an den Erfordernissen der Buch- und Pressebranche ergibt sich zwangsläufig eine kombinatorische Wissenschaft. Dabei unterscheidet sich der Studiengang Buchhandel/Verlagswirtschaft von anderen ähnlich ausgerichteten Angeboten an Universitäten und Fachhochschulen durch seine eindeutige betriebswirtschaftliche Orientierung. Diese manifestiert sich in Fächern wie Rechnungswesen, Controlling, Personalmanagement, Unternehmensgründung und -führung etc. – zugeschnitten auf die Bedürfnisse der Buch- und Medienbranche. Ebenfalls einmalig ist die Einbeziehung des herstellenden und des verbreitenden Buch- und Pressehandels sowie der eindeutig branchenbezogene Ansatz gegenüber den fachbezogenen Ansätzen anderer Studiengänge. Das Curriculum des seit 16 Jahren bestehenden Studiengangs wurde im Jahr 2000 grundlegend überarbeitet und aktuellen Entwicklungen an-
6
Vgl. hierzu auch Uhlig: Fachhochschulstudium für Buchhändler, S. 71f.
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gepasst.7 Dieses überarbeitete Curriculum, das den Studierenden erweiterte Möglichkeiten für ein selbstbestimmtes Studium bietet, hat bis heute Bestand. Ohne allzu sehr in die Details gehen zu wollen, sei zur Verdeutlichung der Studienablauf in seinen Grundzügen beschrieben. Die Regelstudienzeit des achtsemestrigen Diplomstudiengangs ist unterteilt in das Grundstudium, das nach dem dritten Semester mit dem Vordiplom abschließt, und das Hauptstudium. Das Grundstudium macht die Studierenden in Vorlesungen, Übungen und Seminaren mit den rechtlichen, organisatorischen, wirtschaftlichen und informationstechnischen Grundlagen der Medienwirtschaft vertraut und führt sie an betriebswirtschaftliche Denk- und Handlungsweisen heran. Den Internationalisierungstendenzen der Branche wird u. a. durch das Pflichtfach Wirtschaftsenglisch entsprochen. Das Lehrangebot im Hauptstudium führt ein in moderne Management-, Planungs- und Controllingmethoden, ohne deren Anwendung erfolgreiche Unternehmensführung nicht mehr denkbar ist. Dabei sollen die Studierenden die in Praktika gesammelten Erfahrungen anwenden und theoretisch verallgemeinern. Im Hauptstudium entscheiden sich die Studierenden für zwei von vier frei zu wählenden Schwerpunkten und erarbeiten sich so ein individuelles Profil, das ihren Neigungen und beruflichen Zielen entspricht. Die derzeit angebotenen Studienschwerpunkte sind: Unternehmensgründung und -führung, Marketing, Produktentwicklung und -gestaltung sowie Medienund Marktforschung. In Seminaren und Diskussionen mit Vertretern aus der Praxis werden spezielle Fragestellungen des Fachgebiets angesprochen und vertieft. Die Belastung der Studierenden konnte gegenüber anderen – insbesondere technischen Studiengängen – auf durchschnittlich 23 Semesterwochenstunden begrenzt werden, um Freiraum für ein intensives Selbststudium zu schaffen.
3 Praxisorientierung des Studiums Um für zukünftige Tätigkeiten in der Buch- und Medienbranche gerüstet zu sein, sind praktische Erfahrungen unabdingbar. Diesem Ziel dient neben einem 12-wöchigen Vorpraktikum vor allem ein praktisches Studiensemester (24 Wochen im 5. Semester) in einem Unternehmen der 7
Letzmalig wurden zum Wintersemester 2007/08 Studierende für den Diplomstudiengang immatrikuliert. Diesem folgte der Bachelorstudiengang gleichen Namens nach; vgl. S. 863.
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Branche. Neben der Anwendung, Vertiefung und Erweiterung der im Studium erworbenen Kenntnisse soll bis dahin erworbenes Fachwissen in dieser berufspraktischen Phase kritisch reflektiert werden. Im Bereich der Praktika gibt es eine intensive Zusammenarbeit mit vielen namhaften deutschen, aber auch ausländischen Unternehmen, da der Wunsch der Studierenden nach Auslandserfahrungen ausdrücklich befürwortet und gefördert wird. Darüber hinaus können befähigte und interessierte Studierende ein Semester an Partnerhochschulen in Großbritannien, Frankreich, Slowenien, Spanien sowie an Hochschulen in anderen Ländern studieren. Dort erbrachte Studienleistungen werden weitgehend anerkannt. Praxisorientierte Projektarbeit in studentischen Arbeitsgruppen ist wesentlicher Bestandteil des Grund- wie Hauptstudiums.8 Hierzu zählen ständig laufende Projekte, wie Aufbau und die Pflege eines Alumninetzwerks, das Buchmesseprojekt, die Studiengangszeitschrift oder die Lehrbuchhandlung. Temporäre Projekte, die in enger Kooperation mit Unternehmen der Branche durchgeführt werden, gewinnen zunehmend an Bedeutung. Gerade diese von der Praxis initiierten Projekte zu aktuellen Fragestellung führen zu einer engen Verzahnung von Studium und Praxis. Mit der Projektarbeit sollen die Studierenden zeigen, dass sie in der Lage sind – entsprechend den Anforderungen zukunftsorientierter Berufsfelder – eine praktische Aufgabe zu bewältigen. Das heißt, dass sie die dafür nötigen theoretischen Kenntnisse und praktischen Fertigkeiten gezielt erwerben und anwenden können. So gilt die Projektarbeit dem Training methodischer Fähigkeiten für Problemlösungsprozesse sowie der Ausbildung sozialer Kompetenzen wie Teamfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit und Vermittlungsbereitschaft.
4 Erfolg durch Theorie und Praxis In den 16 Jahren seines Bestehens hat sich der Studiengang Buchhandel/Verlagswirtschaft erfolgreich neben den anderen Studienangeboten für die Buch- und Medienbranche etablieren können. Dies drückt sich auch darin aus, dass dieser bundesweit so gefragt ist, dass ein örtlicher Numerus Clausus eingeführt werden musste, der seit Jahren zwischen 1,8 und 2,0 liegt. Und wer einen solchen Studienplatz erhalten hat, der hat nach einem erfolgreichen Abschluss auch sehr gute Chancen auf dem
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Rahmenbedingungen sowie Projektablauf werden in einer Projektordnung geregelt.
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Arbeitsmarkt. Den meisten Absolventen gelingt es zeitnah einen adäquaten Arbeitsplatz zu besetzen. Die Gründe für die erfolgreiche Etablierung des Studienangebots Buchhandel/Verlagswirtschaft sind vielfältig. Einige sollen hier aufgeführt werden. Das Studium vermittelt den Studierenden in hohem Maße wissenschaftlich theoretisches Fachwissen, das sie zu einer verantwortlichen Tätigkeit in einem Unternehmen der Buch- und Medienwirtschaft befähigt. Daneben weist dieses Studium einen deutlichen Anwendungsbezug auf. Alle lehrenden Kolleginnen und Kollegen waren nach Studium und Graduierung mehrere Jahre in einem Unternehmen der Medienwirtschaft tätig, bevor sie an die HTWK kamen. Darüber hinaus wird die Nähe zur Praxis durch einen Studiengangsbeirat, der mit maßgebenden Vertretern aus allen Zweigen der Branche besetzt ist, gewährleistet. Dieser steht in Kontakt mit Lehrenden wie auch Studierenden und unterstützt diese in vielerlei Hinsicht. Anwendungsorientierte Entwicklung und Forschung – häufig in Kooperation mit der Praxis – steigert die Qualität der Lehre und fördert langfristige Beziehungen zwischen Studiengang und Unternehmen der Branche. Die deutliche Projektorientierung des Studiums wird den Anforderungen der Unternehmenspraxis gerecht, was durch Arbeitgeber aber auch ehemalige Studierende bestätigt wird. Hinzu kommt, dass die Studierenden durch die während des Studiums geleisteten Pflichtpraktika den beruflichen Alltag bereits kennen, wenn sie nach dem erfolgreichen Abschluss in einem Unternehmen anfangen. Kurze Einarbeitungszeiten und eine realistische Einschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit sind die Folge. Schließlich ist die eingangs erwähnte Ausrichtung des Studiengangsprofils auf Verlagsund Handelunternehmen nicht nur Alleinstellungs- sondern auch wesentliches Erfolgsmerkmal. Diese Erfolgsfaktoren sind bei der Umstellung des Diplomstudiengangs auf den Bachelorstudiengang erhalten worden und wurden bei der Entwicklung des Curriculums für den darauf aufbauenden Master Verlags- und Handelsmanagement berücksichtigt.
5 Bachelor und Master Der Studiengang Buchhandel/Verlagswirtschaft war bis 2006 zusammen mit den Studiengängen Bibliotheks- und Informationswissenschaft und Museologie am Fachbereich Buch und Museum der HTWK angesiedelt. Daneben existierten an der HTWK aber noch weitere Studienangebote
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aus dem Bereich der Medien. Diese Tatsache und die dynamische Entwicklung in der Medien-, Multimedia- und IT-Branche im Zusammenhang mit dem sich verstärkenden Trend der Medienkonvergenz erforderte eine Bündelung der Kräfte. Daher wurden im Jahr 2006 alle Medienstudiengänge dieser Hochschule in einem gemeinsamen Fachbereich zusammengeführt. Dazu gehören – neben den bereits genannten – die Studiengänge Druck- und Verpackungstechnik, Medientechnik, Verlagsherstellung und Fernsehproduktion. Das bedeutet eine Integration der Medienkompetenz der HTWK Leipzig unter einem Dach, eine Organisationsstruktur und damit die praktisch vollzogene Konvergenz der unterschiedlichen Medienbereiche. Auch wenn dieser neue Fachbereich noch nicht lange existiert, so werden die Vorteile des Zusammenschlusses bereits sichtbar. Erste studiengangsübergreifende Seminare und Projekte wurden bereits initiiert. Gemeinsame Forschungs- und Entwicklungsvorhaben wirken sich positiv auf die Qualität im Bereich der Lehre und Forschung aus. Gerade die dynamischen Entwicklungen in Verbindung mit dem Internet und neuen elektronischen Publikationsformen fordern von uns und unseren Studierenden mehr als einen Blick über den Tellerrand. Längst beschäftigen wir uns nicht mehr nur mit dem gedruckten Buch … Zum Wintersemester 2008/09 wurden alle Studiengänge des Fachbereichs auf Bachelor- und Masterabschlüsse umgestellt. Der Einführung des Bachelorstudiengangs Buchhandel/Verlagswirtschaft folgt dann zum Wintersemester 2010/11 ein konsekutiver Masterstudiengang Verlagsund Handelsmanagement. Dieser steht auch Absolventen ähnlicher Bachelorstudiengänge offen, sofern diese medienwirtschaftliche Kompetenz nachweisen können. Bei der Entwicklung des Bachelorstudiengangs wurde darauf geachtet, die genannten Stärken des Diplomstudiengangs zu erhalten. Gleichwohl handelt es sich nicht um einen auf sechs Semester beschnittenen Diplomstudiengang, denn das Curriculum wurde entsprechend den aktuellen Anforderungen der Praxis neu entwickelt und mit Branchenvertretern ausgiebig diskutiert. Auch der neue Studiengang weist eine eindeutig betriebswirtschaftliche Orientierung auf, hat den Fokus auf Verlag und Handel und wird dem Anspruch eines praxisorientierten Studiums gerecht. Dementsprechend sind die beruflichen Aussichten der Absolventen als sehr gut zu beurteilen, denn insbesondere die ausgeprägt betriebswirtschaftliche Ausrichtung der Studieninhalte entspricht den Bedürfnissen der Branche.
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Der auf den Bachelor aufbauende, konsekutive Masterstudiengang Verlags- und Handelsmanagement soll die Studierenden für leitende Fachoder Führungsaufgaben in der Buch- und Medienwirtschaft qualifizieren. Marketing- und Management-Inhalte stehen im Mittelpunkt dieses Studiums, welches ebenfalls eine klare Praxisorientierung aufweist.
6 Ausblick Die Umstellung aller Abschlüsse im Sinne des Bologna-Prozesses stellt Fachhochschul- wie universitäre Studienangebote vor erhebliche Probleme. Dies trifft auch auf den kleinen Kreis der Studiengänge zu, die sich in Deutschland mit Buchwissenschaft und Buchwirtschaft beschäftigen. Die Unterscheidung zwischen den anwendungsorientierten Studienangeboten der Fachhochschulen in Stuttgart und Leipzig und den forschungsorientieren Angeboten der Universitäten in Erlangen-Nürnberg, Mainz, München und Leipzig wird in Zukunft schwieriger. Sie wird schwieriger, wenn nicht gar unmöglich, folgt man den Empfehlungen der Kultusministerkonferenz, die für den Bachelor in jedem Falle ein »eigenständiges, berufsqualifizierendes Profil« vorsieht.9 Lediglich im Bereich der Masterabschlüsse ist ein Weiterbestehen der Unterscheidungsmerkmale Anwendungsorientierung bzw. Forschungsorientierung vorgesehen – aber nicht vorgeschrieben. Die Aufgabe der Fachhochschule als vom Gesetzgeber gewollte »deutliche Alternative und zugleich Ergänzung zur Universität«10 scheint von dieser Entwicklung infrage gestellt. Ist eine Angleichung der Studienangebote von Universitäten und Fachhochschulen für den Bachelor und den Master sinnvoll? Nach heutigem Erkenntnisstand wohl eher nicht. Aber eine enge Zusammenarbeit und sinnvolle Ergänzung der Studienangebote sehr wohl. Die Chancen für die Zukunft liegen in der Ergänzung beider Bereiche, die ihre jeweiligen Stärken einbringen, um so neben den bestehenden, neue und innovative Bildungsangebote zu entwickeln. Als Beispiel sei hier abschließend die Entwicklung eines internationalen Masterstudiengangs European Master in Publishing genannt, an welcher der Studiengang Buchhandel/Verlagswirtschaft beteiligt war. Ziel dieses Projekts, das mittlerweile erfolgreich abgeschlossen wurde, war die 9 10
10 Thesen zur Bachelor- und Masterstruktur, These 3 Berufsqualifizierung. Wissenschaftsrat: Empfehlungen zu Aufgaben, S. 8.
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gemeinsame Entwicklung eines international integrierten Lehrangebots mit der Absicht, zukünftige Verleger für Europa auszubilden. Damit reagieren die beteiligten Hochschulen auf aktuelle Entwicklungen im internationalen Verlagswesen.11 Die Partner nehmen eine führende Rolle in der Ausbildung von Verlagsspezialisten in ihrem Land ein. Es handelt sich hierbei um die Oxford Brookes University (Oxford International Centre for Publishing Studies), die Université Internationale de l’Ouest de Paris (I.U.P Métiers des Arts et de la Culture), die Universität von Ljubljana (Department of Library and Information Science and Publishing Studies) und schließlich die HTWK Leipzig (Fachbereich Medien). Projektstart war im Oktober 2004. Bei den ersten Treffen wurde Übereinkunft zum Absolventenprofil, zu den Inhalten und zur grundlegenden Struktur des Studiengangs erzielt. Die Entwicklung des Curriculums ist mittlerweile abgeschlossen; hier bringen die beteiligten Studiengänge ihre unterschiedlichen Stärken und Erfahrungen ein. Dies geschieht mit dem Ziel, ein attraktives und zukunftsfähiges Studienangebot anzubieten. Dass dies geglückt ist, zeigt sich am regen Interesse in allen beteiligten Ländern – erste Interessenten haben das Studium bereits aufgenommen. Der European Master in Publishing ist ein gebührenpflichtiges, viersemestriges Masterstudium, wobei die Studierenden mindestens ein Semester an einer der Partnerhochschulen absolvieren müssen. Abschluss ist ein Joint Degree der beteiligten Bildungseinrichtungen. Bewerbungen um einen Studienplatz sind in Oxford möglich.12 Die Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Hochschulen funktioniert nicht nur problemlos sondern außerordentlich gut – Vorbehalte zwischen den beiden anwendungsorientierten Hochschulen in Leipzig und Oxford und den beiden forschungsorientierten Einrichtungen in Paris und Ljubljana existieren nicht. Vielmehr wird die unterschiedliche Ausrichtung als Bereicherung empfunden. Aber auch die deutschen buchwissenschaftlichen und buchwirtschaftlichen Studiengänge arbeiten seit langem zusammen, nicht nur auf den gemeinsamen Messeständen auf den Buchmessen in Frankfurt und Leipzig. Gerade die Einführung der Bachelor- und Masterabschlüsse bietet eine Reihe interessanter Ansatzpunkte und somit Chancen für eine weitergehende Zusammenarbeit. Chancen, die hoffentlich ergriffen werden. 11 12
Zur Entwicklung von Lehrplan und Lehrinhalten wurden Mittel des Europäischen Bildungsprogramms (Sokrates/Erasmus) für den Zeitraum von drei Jahren zur Verfügung gestellt. http://ah.brookes.ac.uk/publishing/euro_masters/ [05.12.2009]
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7 Literaturverzeichnis Baier, Hans: Studiengang bundesweit gefragt. In: Buchhändler heute 2001, H. 1–2, S. 56f. Biesalski, Ernst-Peter: Ein anwendungsorientiertes Studium für die Buch- und Medienbranche. Der Studiengang Buchhandel/Verlagswirtschaft an der HTWK Leipzig. In: Buch-Stätte. Geschichte und Perspektiven der Leipziger Buchwissenschaft. Hrsg. Thomas Keiderling und Erdmann Weyrauch. Erlangen: filos 2006, S. 101–109. Hochschulrektorenkonferenz: Profilelemente von Universitäten und Fachhochschulen. Beschluß vom 24./25. Februar 1997. Bonn 1997. Pendt, Claudia: Ein Tag im Studiengang Buchhandel/Verlagswirtschaft. In: Buchhändler heute 2000, H. 10, S. 82. Plassmann, Engelbert: Ich bin so eine Art freischwebende Stabsstelle. In: Bbl. 159 (1992), H. 10, S. 10–13. Uhlig, Christian: Fachhochschulstudium für Buchhändler am Leipziger Platz. In: Bibliothekarisches Studium in Vergangenheit und Gegenwart. Festschrift aus Anlass des 80jährigen Bestehens der bibliothekarischen Ausbildung in Leipzig im Oktober 1994. Hrsg. v. Engelbert Plassmann u. Dietmar Kummer. Frankfurt a. M.: Klostermann 1995, S. 69–75. Wattig, Leander: Erlerntes anwenden. In: Bbl. 173 (2006), H. 6, S. 24. Wissenschaftsrat (Hrsg.): Empfehlungen zu Aufgaben und Stellung der Fachhochschulen. Köln 1981. 10 Thesen zur Bachelor- und Masterstruktur in Deutschland. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 12. Juni 2003. Hrsg. v. Sekretariat der ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik. Bonn 2003. www.kmk.org/doc/beschl/ BMThesen.pdf [23.11.2007].
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Gregor Samsa und der Stein der Weisen Medienkonvergenz als Herausforderung für die Ausbildung des Branchennachwuchses an der Hochschule der Medien Stuttgart 1 Den Wandel gestalten Als Gregor Samsa, der Protagonist in Franz Kafkas Erzählung Die Verwandlung 1, eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, war nichts mehr wie zuvor: Aus dem fleißigen Handlungsreisenden war ein unnützes Ungeziefer geworden, ein Wesen, das sich wie »mit einem Fußtritt aus der Welt geworfen«2 sah – einer Welt, die sich als abweisend, ja feindlich entpuppt und den traurigen Helden ins Abseits und schließlich aus dem Leben drängt. Es ist fast 100 Jahre her, dass der damals 29-jährige Kafka mit seinem Alter ego Gregor Samsa eine literarische Figur schuf, deren Unglück in einer unheimlich gewöhnlichen Welt uns immer noch – oder schon wieder – höchst vertraut erscheint. Die moderne WWW-Community wirbt mit virtuellen Welten wie Second Life oder neuen ›sozialen Netzwerken‹ wie mySpace für den Aufbruch in ein Jahrtausend, in dem bewährte Medien wie Bücher und Zeitungen sowie traditionelle Kommunikationsformen wie der klassische Brief obsolet wirken. Macht es in solchen Zeiten überhaupt noch Sinn, junge Menschen für den Umgang mit gedruckten Medien auszubilden? Oder anders – nämlich weniger defensiv-defätistisch – gefragt: Wie muss eine Ausbildung junger Menschen in solchen Zeiten aussehen, damit sie Sinn macht, also zukunftsorientiert ist? Und dies nicht nur im abstrakt philosophischen, sondern auch im konkret ökonomischen Sinn, der sich letztlich an der Frage festmachen lässt: Kann jemand mit den in seiner Ausbildung erworbenen Kenntnissen und Fertigkeiten auch künftig noch seinen Lebensunterhalt bestreiten? 1 2
Kafka: Die Verwandlung. Kafka: Tagebücher 1909–1923, Eintrag vom 19. November 1912.
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Im Folgenden soll gezeigt werden, wie der Studiengang Mediapublishing an der Stuttgarter Hochschule der Medien3 dieser Aufgabenstellung gerecht werden will. Dazu werden zunächst die wichtigsten Basisinformationen zu diesem Ausbildungsweg gegeben, um anschließend die Neukonzeption der Lehrinhalte und -formen vorzustellen, die im Rahmen der Umstellung des ehemaligen Diplomstudiengangs auf die internationalen Abschlüsse Bachelor und Master ab 2004/05 erfolgte. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei der allgemein als Medienkonvergenz bezeichneten Verschmelzung von Print und New Media gewidmet, durch die für Verlage und deren Mitarbeiter neue Aufgaben und Herausforderungen entstehen.
2 Der Studiengang »Mediapublishing« Der Studiengang wurde bereits 1977 unter der Bezeichnung »Verlagswirtschaft und Verlagsherstellung« gegründet und gehört damit zu den traditionsreichsten akademischen Ausbildungsangeboten für das Verlagswesen in Deutschland. Die Umbenennung in »Mediapublishing« erfolgte 2001, um mehr Studienbewerber für diesen Ausbildungsweg im Mediensektor zu interessieren. Der danach zu verzeichnende Anstieg der Immatrikulationszahlen zeugt vom Erfolg dieser Maßnahme. Im Lauf von drei Jahrzehnten hat sich nicht nur der Name des Studiengangs geändert, auch die Lehr- und Forschungsinhalte wurden kontinuierlich den Anforderungen der Verlagsbranche angepasst. Enge Beziehungen der Hochschule zu den unterschiedlichsten Verlagen garantieren einen permanenten Dialog zwischen Wirtschaft und Lehre. Damit ist die Basis für eine praxisorientierte Zusammenarbeit in Projekten oder Forschungsvorhaben gegeben. Etwa drei Viertel der »Mediapublishing«-Studierenden4 haben vor Aufnahme ihres Studiums bereits eine Ausbildung abgeschlossen, überwiegend als Buchhändler, Verlagskaufleute oder Mediengestalter. Dieser Anteil ist so 3
4
Die Hochschule der Medien (HdM) entstand 2001 durch den Zusammenschluss der Hochschule für Druck und Medien (HDM) und der Hochschule für Bibliotheks- und Informationswesen (HBI), beide in Stuttgart. Im Sommer 2009 waren gut 3 000 Studierende in den drei Fakultäten (Druck und Medien, Electronic Media, Information und Kommunikation) eingeschrieben. Der Studiengang nimmt derzeit mindestens 25 Bewerber pro Semester auf; ein Ausbau auf 30 Studienplätze wird bis 2012 erfolgen. Das Verhältnis von Bewerbern zu Studienplätzen lag 2009 bei 7:1.
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hoch, weil die verlagsbezogene Ausbildung mit einem Bonus in die Bewerber-Note für den mit einem NC belegten Studiengang eingeht. Den Studierenden werden im Lauf von sechs Semestern umfassende Kenntnisse über die Zusammenhänge in Buch- und Presseverlagen vermittelt. Die ersten beiden Studiensemester bilden das Grundstudium; es besteht ausschließlich aus Pflichtmodulen in einem Umfang von 60 ECTS-Punkten. Das Hauptstudium (120 ECTS) umfasst die folgenden vier Studiensemester einschließlich eines Integrierten Praktischen Studiensemesters5 und wird mit einer Bachelor Thesis abgeschlossen. Die Studieninhalte sind modular strukturiert und inhaltlich in drei Themenfelder unterteilt: Verlag, Technik und Wirtschaft. Um den Studierenden hinreichende Kenntnisse für die vielfältigen praktischen Anforderungen im Verlagswesen zu vermitteln, hält das »Stuttgarter Modell« eine derart breit angelegte Ausbildung im Bachelor-Studium für sinnvoll und zielführend. Die Verlagsmodule vermitteln fachspezifisches Wissen zu Buch- und Presseprodukten sowie den Arbeitsabläufen in Buch- und Presseverlagen. Dazu kommen praktische Fertigkeiten in den Bereichen Typographie und Gestaltung, deren Beherrschung von den Studierenden in Semesterarbeiten nachgewiesen werden muss. Fallstudien und Praxisbeispiele aus den Bereichen Marketing sowie Markt- und Medienforschung runden die Ausbildung in diesem Themenfeld ab. Dabei stehen den Studierenden mit einem vollständig eingerichteten Newsroom, einem Anzeigen- und Redaktionssystem für Zeitungsverlage sowie einem Eye Tracking-System zur Aufzeichnung und Auswertung von Blickbewegungen modernste Hilfsmittel zur Verfügung. Die technischen Module vermitteln zunächst Grundlagenwissen in Mathematik und Statistik und legen ein solides Fundament für alle Stufen der Drucktechnik (Druckverfahren, Werkstoffe, Color Management, Verarbeitung und Veredlung, PrePress – Press – PostPress). Im Fokus der Wirtschaftsmodule stehen nach allgemeinen Einführungen in Betriebswirtschaft, Rechnungswesen sowie Qualitäts- und Projektmanagement vorwiegend Fragen der Medienökonomie und des Verlagsmanagements. Die Lehrveranstaltungen variieren stark in ihrer Form: Das Angebot reicht von klassischen Vorlesungen in Grundlagenfächern über Seminare 5
Das Integrierte Praktische Studiensemester dauert in der Regel 26 Wochen und wird im 5. Studiensemester in einem Verlag oder Medienunternehmen absolviert. Den Abschluss bilden zwei schriftliche Arbeiten: ein praktischer Tätigkeitsbericht sowie eine theoretische Dokumentation des praxisbegleitenden Literaturstudiums.
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und Übungen bis zu praktischer Projektarbeit, die teils fächerübergreifend organisiert ist. Dieser Vielfalt entsprechen auch die Lehrmethoden, die immer wieder auf selbstverantwortliches Lernen abzielen und die Eigeninitiative der Studierenden zu fördern suchen. Im Ergebnis verfügen die Absolventen des Studiengangs »Mediapublishing« – es wird der Titel »Bachelor of Science« (B. Sc.) vergeben – über umfangreiche Kompetenzen in den Bereichen Wirtschaft, Management, Marketing, Technik und Gestaltung. Damit sind sie für die vielfältigen Aufgaben in Buch- und Presseverlagen bestens gerüstet und können in unterschiedlichsten Bereichen eingesetzt werden. Da die Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt gegenwärtig die Anzahl der Absolventen übersteigt, finden die meisten direkt nach dem Studium eine Anstellung mit guten Karriereaussichten. Aufgrund der strukturellen Veränderungen in der Verlagsbranche steigt der Bedarf an Führungskräften mit hohem fachlichen, technischen und betriebswirtschaftlichen Know-how sowie ausgeprägter Kreativität bei entsprechendem Durchsetzungsvermögen. Daher bietet die Hochschule der Medien seit Wintersemester 2007/08 einen Masterabschluss (Studiengang »Print & Publishing«) an: Hier können fertige Bachelors in vier Semestern ihr Wissen vertiefen und sich im Hinblick auf ihre beruflichen Zielsetzungen auf einen von drei inhaltlichen Schwerpunkten konzentrieren: Management, Publishing oder Technology. Eines der vier Semester kann auch an einer ausländischen Partnerhochschule absolviert werden.
3 Medienkonvergenz als Herausforderung Die verlagsorientierten Ausbildungswege stehen vor großen Herausforderungen: Die Verschmelzung von Printprodukten und Neuen Medien verlangt veränderte, genauer: weiter gefasste Ausbildungsinhalte. Um diese bedarfsgerecht bestimmen zu können, soll zunächst der Prozess beschrieben werden, der diesen neuen Ansprüchen zu Grunde liegt und allgemein unter dem Begriff ›Medienkonvergenz‹ zusammengefasst wird. Konvergenz bezeichnet den Prozess oder Status einer Annäherung. Im Bereich der Medien wird darunter der Wandel des medialen Systems verstanden, bei dem vormals getrennte Mediengattungen zusammenwachsen. Dabei lassen sich zwei Richtungen des Konvergenzprozesses unterscheiden:
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– –
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Neuentwicklungen in den Endgeräten (und bei der Netztechnologie) ermöglichen die Integration von Inhalten und Funktionen in einem Träger-/Übermittler-Medium (»All in One«). Da der Inhalt – und damit der Kern eines jeden Medienprodukts – inzwischen in digitaler Form vorliegt, kann ein Inhalt zugleich auch über alle Träger-/Übermittler-Medien verbreitet werden (»One in All«).
Die sog. medienneutrale Datenhaltung ermöglicht die Speicherung der Inhalte (auf dieser Ebene meist nur noch als »Content« bezeichnet) unabhängig vom späteren Ausgabemedium und -format. Neben der Digitalisierung ist die zunehmende Vernetzung der Rezipienten (Nutzer/User) ein wesentlicher Treiber der Medienkonvergenz. Mit dem Internet sind aber nicht nur neue Distributionskanäle für Inhalte in jedweder Form (Texte, Bilder, Filme, Musik etc.) entstanden. Es existiert auch erstmals ein Massenmedium, das eine unbegrenzte Kommunikation in beide Richtungen erlaubt, also rückkanalfähig ist und dem Empfänger Reaktionsmöglichkeiten gibt. Das mit dem Schlagwort Web 2.0 beschriebene interaktive Internet fügt dem eine weitere Komponente hinzu: den vom Nutzer selbst geschaffenen Inhalt (»User Generated Content«, kurz UGC). Und dies hat Auswirkungen, wie Stephan Roppel, Leiter der Abteilung Unternehmensentwicklung der Verlagsgruppe Holtzbrinck, erklärt: »Indem Nutzer Inhalte, Kommentare, Bewertung beisteuern, sorgen sie oft dafür, dass Information glaubwürdiger wird.«6 Mit der Glaubwürdigkeit steigen die Vermarktbarkeit und damit der Wert des Inhalts, womit die ökonomische Seite der Medienkonvergenz angesprochen ist. Durch die Annäherung vormals getrennter Mediengattungen kommt es zu wirtschaftlichen Aktivitäten über die Grenzen der traditionellen Branchen hinweg, und die Wertschöpfungsprozesse der Medienunternehmen gleichen sich einander an: Aus klassischen Verlagshäusern werden Medienhäuser, die ihr Geschäft zunehmend auf dem Feld der Neuen Medien suchen. Es besteht allgemein Konsens darüber, dass die Wertschöpfung mit gedruckten Inhalten kontinuierlich sinken wird und daher durch alternative Angebote substituiert werden muss. Diese Entwicklung sollte nicht vorschnell mit dem oft prophezeiten Untergang der Printprodukte Buch, Zeitung, Zeitschrift gleichgesetzt werden. Auch sie haben noch ihre Chance, wenn ihre Macher den Wandel 6
Roppel: Das ganze Web ist ein Labor, S. 4.
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aktiv mitgestalten: »Frühere Einzel-Medium-Verlage werden [dann] zu Information Providers oder Entertainment Providers, die alle Kanäle nutzen, also auch Print«, so der Unternehmensberater Ulrich Spiller.7
4 Aufgabenstellung für die Verlage Die Zeitungs- und Zeitschriftenverleger waren die ersten, die sich intensiver mit den Herausforderungen des Web 2.0 beschäftigten, ist doch ihr Geschäftsmodell – der Verkauf von Inhalten und Werbeplätzen – gleich zweifach bedroht: durch den User Generated Content (UGC) und die Konkurrenz des Internets als Werbeträger. Ein Vergleich von Nutzungsanteil und Werbemarktanteil macht dies offensichtlich: – –
Zeitungen und Zeitschriften können derzeit nur noch einen Anteil von 11,4 % am täglichen Zeitbudget der Mediennutzer für sich reklamieren, vereinen aber 43,5 % des Werbebudgets auf sich. Dagegen machen Online-Angebote mindestens 15,0 % der täglichen Mediennutzung aus, ihr Anteil am Werbemarkt liegt aber erst bei 12,5 %. (Die Angaben für die Internet-Nutzung basieren auf Hochrechnungen, da es kaum aktuelle Studien zum Mediennutzungsverhalten der werberelevanten Zielgruppen gibt. Fachleute gehen davon aus, dass der Anteil des Internets bereits deutlich höher ist.)8
Diese Lücke wird mit zunehmender Internetnutzung schwinden – zu Lasten der Printanbieter, die erkannt haben, dass sie ihr Leistungsangebot translozieren müssen, wenn sie nicht weiter rückläufige Werbeeinnahmen verzeichnen wollen. Es geht also darum, sich vom Offline-Werbeträger zum Online-Werbeträger zu wandeln, wobei zumindest mittelfristig noch beide Angebotsformen bedient werden müssen. Die Voraussetzungen dafür sind nicht schlecht, denn auch die Nutzer der Online-Welt orientieren sich an den Marken der Offline-Welt.9 Oder anders ausgedrückt: Je 7 8 9
Spiller: Medienkonvergenz. Vgl. Online-Vermarkterkreis im BVDW: OVK Online-Report 2008/01. Ein signifikantes Beispiel dafür liefert die »New York Times«, die täglich mehr als 1,5 Mio. Leser ihrer Internet-Ausgabe registriert (bei 1,1 Mio. Lesern der Print-Ausgabe) und im September 2007 ihre kompletten Inhalte zur kostenlosen Nutzung ins Netz gestellt hat. Verleger Arthur Sulzberger hatte bereits im Februar 2007 in einem Interview mit der englischsprachigen israelischen Zeitung »Haaretz« erklärt: »I really don’t know whether we’ll be printing the Times in five years, and you know what? I don’t care either. – The Internet is a wonderful place to be, and we’re leading there.« Avriel: NY Times publisher: Our goal is to manage.
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größer die Reichweite einer Verlagsmarke mit ihren Printprodukten, desto größer wird auch ihre Online-Reichweite sein. Die neue Konkurrenz des UGC betrifft dagegen sowohl Presse- als auch Buchverlage: Ersetzt oder entwertet der von Nutzern geschaffene Inhalt die Nachrichten, Hintergrundberichte, Einschätzungen und Serviceangebote professioneller Redaktionen? Werden gedruckte Ratgeber, Sachbücher und Nachschlagewerke überflüssig, wenn sich im Internet auf nahezu jede denkbare Frage eine kostenlose Antwort findet? Zu Beginn des Internet-Hypes um die letzte Jahrtausendwende glaubten viele Verlagsleute, die Entscheidung falle allein auf der Qualitätsebene: Der von kenntnisreichen Autoren geschriebene, von erfahrenen Redakteuren/Lektoren bearbeitete und von ausgebildeten Gestaltern optimal präsentierte Inhalt der Printprodukte werde sich letztlich wohltuend von den zufällig zusammengetragenen Informationshalden der zahlreichen Internet-Wikis10, -Foren11 und Blogs12 abheben und damit ein schlagendes Argument für den Kauf der kostenpflichtigen Angebote Buch, Zeitung, Zeitschrift liefern. Diese Hoffnung war ein Irrglaube. Zum einen hat sich die inhaltliche Qualität der Wiki-Angebote sehr schnell verbessert – teils unter klandestiner Mitwirkung der betroffenen Verlage, deren Interesse an einer optimalen (Selbst-)Darstellung ihrer Produkte/Autoren die Abscheu vor dem ungeliebten, aber von vielen genutzten Konkurrenten überwog. Zum anderen haben die Verlage durch Sparmaßnahmen in den Redaktionen/Lektoraten die Qualität ihrer eigenen Produkte geschmälert und damit selbst den Abstand zu den kostenlosen Online-Angeboten verringert. Außerdem wurde die soziale Komponente des Internets stark unterschätzt: Der Austausch über Fragen und Probleme führte zur Bildung von sozialen Netzwerken und Gemeinschaften (Communities), die optimal auf die Interessen auch kleinster Gruppen zugeschnitten sind und maßgeschneiderte Problemlösungen anbieten, wie es kein Printprodukt je leisten kann. »Unter den richtigen Umständen sind Gruppen bemerkenswert intelligent – und oft klüger als die Gescheitesten in ihrer Mitte«, schreibt der US-amerikanische Wirtschaftsjournalist James Surowiecki in seinem Buch 10 11 12
Webseiten, auf denen jeder Internet-User Texte veröffentlichen und/oder bearbeiten kann. Erfolgreichstes Beispiel ist die Internet-Enzyklopädie Wikipedia (deutsche Ausgabe unter http://de.wikipedia.org/wiki/Hauptseite). Internetforen sind virtuelle Orte zum Austausch von Meinungen und Gedanken im Internet. Als Blogs (eigentlich: Weblogs) werden im Internet öffentlich geführte Tagebücher oder Journale bezeichnet.
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Die Weisheit der Vielen13 und folgert daraus: »Im kollektiven Wissen liegt die Lösung.« Diese Erkenntnis hat sich inzwischen auch in einigen deutschen Verlagshäusern durchgesetzt. So hat der zur Stuttgarter KlettGruppe gehörende Pons Verlag im Oktober 2008 ein werbefinanziertes Online-Wörterbuch freigeschaltet, in dem Nutzer nicht nur kostenfrei mehrere Millionen Wörter und Wendungen nachschlagen, sondern bei einigen der angebotenen Sprachen auch selbst Ergänzungen vornehmen können. In der Pressemeldung von Pons heißt es dazu: »Jeder kann nach kurzer Anmeldung an diesem Wörterbuch mitschreiben«. Der Verlag sieht darin vor allem eine attraktive Selbstvermarktungsplattform für Übersetzer und Sprachtrainer. Das Open Dictionary wird von Pons als »Web 2.0 in Reinform« apostrophiert, denn »www.pons.eu ist das erste Online-Wörterbuch, in dem Marken-Content und Benutzer-Beiträge zusammenführt sind«.14 Der User Generated Content ist für alle Nutzer sichtbar, wird aber farblich vom Marken-Inhalt unterschieden, bis die Redaktion den Eintrag geprüft hat. Ob die Vielen wirklich weiser sind, wird noch kontrolliert. Anders als die auf Wörterbücher und Sprachlehrwerke spezialisierte Klett-Tochter setzt die Verlagsgruppe Holtzbrinck, zu der Publikumsverlage wie S. Fischer, Rowohlt oder Kiepenheuer & Witsch gehören, auf den Aufbau eines sozialen Netzwerks im Internet. Die im Dezember 2006 ins Leben gerufene Buch-Community LovelyBooks soll Menschen, die sich für Bücher begeistern, zusammenbringen: »Unser Ziel ist es, eine offene Plattform aufzubauen, die eine Kommunikation zwischen Lesern, Autoren, Verlagen und Buchhandlungen ermöglicht«, so Sandra Dittert und Lothar Kleiner, Geschäftsführer der Betreiberfirma Aboutbooks, einer Holtzbrinck-Tochtergesellschaft.14 Ob dies gelingt, ist noch offen: Nach einem Jahr verzeichnete das Forum 5 470 registrierte Mitglieder; seither werden keine aktuellen Mitgliederzahlen mehr veröffentlicht.15 Auch beim Thema Podcasting16 zählte Holtzbrinck zu den Vorreitern – allerdings zunächst in den USA. Im September 2005 schaltete die US-Tochter Holtzbrinck Publishers New York die Website 13 14 15
16
Surowiecki: Die Weisheit der Vielen. PONS GmbH: PONS stellt sein neues Onlinewörterbuch www.pons.eu ins Netz. Angabe laut LovelyBooks. www.lovelybooks.de/ [07.11.2007]; zum Vergleich: Die größte Internet-Studenten-Community ›StudiVZ‹ hatte zum selben Zeitpunkt bereits 3 Mio. registrierte Mitglieder im deutschsprachigen Raum; vgl. StudiVZ. www.studivz.net/l/press/ [07.11.2007]. Podcasts (ein Kompositum aus »iPod« und »Broadcasting«) sind Audiodateien, die über das Internet verbreitet werden.
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www.holtzbrinckpodcasts.com frei, von der nicht nur wöchentlich aktualisierte Hörbuchauszüge, sondern auch Autorenlesungen und -interviews heruntergeladen werden konnten. Die damit verbundene Absicht erklärte Jeff Gomez, Leiter des Internet-Marketing bei Holtzbrinck, New York, wie folgt: »What we’re doing as a trade publisher is allowing users to experience new books whenever they want, the same way that they might not have the time to listen to a radio show the day it’s broadcast, but will listen to it later.«17 Vor allem Hörbuchverlage nutzen inzwischen diese Möglichkeit, ihre Zielgruppe zu erreichen, aber auch immer mehr Buchverlage bieten für ihre Schwerpunkttitel und Bestsellerautoren wie Diana Gabaldon, Michael Connelly oder auch Thomas Glavinic Podcasts an. Auch die Süddeutsche Zeitung hat zum Erscheinen ihrer SZ-Hörbuch-Edition Bibliothek der Erzähler im November 2006 mit einem Podcast bis zu 50 000 Downloads verzeichnen können.18 Im Zeitschriftenbereich kann das Verlagshaus Gruner + Jahr als Beispiel dienen, das seit März 2006 für seinen PremiumTitel GEO einen Podcast anbietet (Claim: »Mit den Ohren reisen«) und wöchentlich fast 11 000 Downloads meldet.19 Diese Beispiele zeigen, dass viele digitale und Web 2.0-Anwendungen das ureigene Geschäft der Verlage tangieren – und dies nicht nur in Programmbereichen, die sich an die besonders internetaffine Zielgruppe der Jugendlichen wendet (wie Comics, Manga, Jugendbücher). Dass die auf dieses Segment spezialisierte Verlagsgruppe Egmont mit ihrem Versuch, eine eigene Leser-Community aufzubauen, scheiterte und das Portal FunOnline 2003 einstellte20, belegt nur, dass vom Leben auch bestraft wird, wer zu früh kommt. Der Spiegel-Redakteur Frank Hornig hat in einer viel beachteten Titelgeschichte des Nachrichtenmagazins über das Phänomen Web 2.0 folgendes Fazit gezogen: »Hobbyschreiber, -fotografen, -filmer und -moderatoren, die im Internet kostenlos gegen ihre professionellen Kollegen konkurrieren; Informations- und Unterhaltungsformen, die bestens ohne Sendeanstalt und Verlag funktionieren: Solche Herausforderungen hat es für die Medien – und die Mediengesellschaft – bislang nicht gegeben.«21 17 18 19 20 21
Alam Khan: Book Publisher Enters World of Podcasting. Vgl. Lenz: Podcasts sind in Verlagen noch nicht angekommen, S. 66f. Geo.de. www.geo.de/GEO/reisen/5095.html [07.11.2007]. Die Mitglieder wurden an die haefft.de-Community übergeben, die vom Münchner Schülerkalenderverlag Haefft betrieben wird. Hornig: Du bist das Netz!, S. 74.
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Welche Schlussfolgerungen sollten Verlage aus den beschriebenen Medienkonvergenz-Prozessen ziehen? Hier lassen sich drei Hauptaufgaben formulieren: –
– –
Verlage müssen ihre Informationsangebote durch die Integration von Audio- und Video-Dateien anreichern (Rich Media), die Inhalte künftig auch multimedial zur Verfügung stellen und kundenspezifische Nutzungsmöglichkeiten (durch die individuelle Zusammenstellung von Informationspaketen, Stichwort: Customizing) anbieten. Verlage sollten ihre Inhalte um User Generated Content erweitern, um aus potenziellen Wettbewerbern Co-Produzenten zu machen und die Glaubwürdigkeit ihrer Angebote zu erhöhen.22 Verlage sollten die durch die Neuen Medien entstandenen neuen Vertriebs- und Anzeigenmöglichkeiten (Marktplätze) nutzen und durch die Beteiligung an bzw. den Aufbau von sozialen Netzwerken (Communities) ihren Kunden einen Mehrwert bieten.
5 Aufgabenstellung für die Ausbildung Für einen praxisorientierten Studiengang wie »Mediapublishing« sind die beschriebenen Veränderungen in der Verlagswelt Herausforderung und Chance zugleich: Herausforderung, weil die Lehrinhalte stetig an die neuen Entwicklungen angepasst werden müssen, Chance, weil die Verlage auf gut ausgebildeten Nachwuchs warten, um ihrem Mitarbeiterstamm neue Impulse zu geben. Obwohl das Verlagswesen als sehr traditionsbewusste und stark wertorientierte Branche gilt, haben auch hier moderne Unternehmenskulturen und -strukturen Einzug gehalten. Wirtschaftliches Denken bestimmt heute die Herstellung des und den Handel mit dem ›Kulturgut Buch‹ bzw. der meinungsbildenden Ware Information. Den Studierenden dieses Spannungsverhältnis zwischen gesellschaftlichem Auftrag und ökonomischer Verantwortung bewusst zu machen und ihnen geeignete Instrumente zur Bewältigung dieser Aufgabenstellung an die Hand zu geben ist eine wesentliche Zielsetzung der Ausbildung im Studiengang »Mediapublishing«.23 22 23
Hierzu noch einmal der »New York Times«-Verleger Arthur Sulzberger: »[…] the paper can integrate material from bloggers and external writers. We need to be part of that community and to have dialogue with the online world.« Avriel: NY Times publisher: Our goal is to manage. Vgl. Studiengang Mediapublishing: Selbstdokumentation.
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Dazu gehört auch die Persönlichkeitsbildung der künftigen Verlagsmitarbeiter. Der verantwortungsvolle Umgang mit urheberrechtlich geschützten Werken kreativer Persönlichkeiten (Text- und Bildautoren) erfordert nicht nur fachliches Know-how, sondern auch Achtung vor der schöpferischen Leistung Dritter sowie Verständnis für die Rolle der Pressemedien in der modernen Gesellschaft. Deshalb gehören auch Fragen der Medienethik in den Ausbildungskanon. Sozialkompetenz und Verantwortungsbewusstsein sind weitere Schlüsselqualifikationen, über die Absolventen des Studiengangs verfügen sollen. Diese können in den Seminaren, vor allem aber in den zahlreichen studienbegleitenden Projekten erlernt und trainiert werden. Konvergente Medienproduktion in Verlagen betrifft Menschen und Prozesse. Künftige Mitarbeiter müssen für die Erstellung und Vermarktung von multimedialen Verlagsprodukten ausgebildet sein und die Prozesse medienneutralen Publizierens kennen. Durch eine Vielzahl von Kooperationen mit Verlagen, Branchenverbänden und Stiftungen findet ein permanentes Abgleichen der Lehrinhalte mit den Anforderungen der Wirtschaft statt. Dazu trägt auch das Integrierte Praktische Studiensemester bei, das immer häufiger in ausländischen Verlagsunternehmen absolviert wird, vorwiegend im angloamerikanischen und frankophonen, zunehmend aber auch im spanischsprachigen Ausland. Wenn die Verlage verhindern wollen, dass sie – wie Kafkas trauriger Held Gregor Samsa – eines Tages aufwachen und feststellen, dass die Welt beschlossen hat, ohne sie auszukommen, weil sie fremdartig und unnütz geworden sind, dann müssen sie jetzt handeln. Die Jugendlichen von heute werden mit ihrem Mediennutzungsverhalten in 20 Jahren Vorbildfunktion übernehmen; welche Rolle dabei Verlagsmedien spielen, entscheidet sich deshalb weitestgehend schon heute. Dem Verlagsnachwuchs wird dabei eine wichtige Schnittstellenfunktion zukommen: Vertraut mit alten und neuen Medien, verknüpft mit der Gefühls- und Gedankenwelt der künftigen Mediennutzer, aber selbst noch verbunden mit den Traditionen der Printmedien, kann er den notwendigen Wandel in den Verlagen antreiben. Es sind keine Zauberlehrlinge wie Harry Potter, ausgestattet mit dem Stein der Weisen, sondern engagierte junge Menschen, die mit Internet und iPod ebenso selbstverständlich umzugehen verstehen wie mit Büchern und Zeitungen. Aber vielleicht besteht gerade darin ihre Chance, dass sie den Wandel als selbstverständlich ansehen, ihm selbstbewusst begegnen und ihn selbst zu gestalten suchen.
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6 Literaturverzeichnis Aboutbooks GmbH: Lovelybooks.de – Die Community für Buchenthusiasten. Pressemitteilung v. 10.05.2007. Alam Khan, Mickey: Book Publisher Enters World of Podcasting. In: DMNews v. 07.09.2005. www.dmnews.com/cms/dm-news/internet-marketing/33973.html [07.09.2007]. Avriel, Eytan: NY Times publisher: Our goal is to manage the transition from print to internet. In: Haaretz vom 20. Shvat 5767 [= 08.02.2007]. http://www.haaretz.com/ hasen/spages/822775.html [11.11.2007]. GEO.de. www.geo.de/GEO/reisen/5095.html [07.11.2007]. Hornig, Rank: Du bist das Netz! In: Der Spiegel 2006, H. 29, S. 60–74. Kafka, Franz: Tagebücher 1909–1923. Frankfurt a. M.: S. Fischer 1997 (Gesammelte Werke in Einzelbänden in der Fassung der Handschrift), Eintrag vom 19. November 1912. Kafka, Franz: Die Verwandlung [entstanden 1912]. Erstausgabe München/Leipzig: Kurt Wolff 1915. Lenz, Daniel: Podcasts sind in Verlagen noch nicht angekommen. In: buchreport.magazin 2007, H. 3, S. 66f. LovelyBooks. www.lovelybooks.de/ [07.11.2007]. Online-Vermarkterkreis im BVDW (Hrsg.): OVK Online-Report 2008/01. Zahlen und Trends im Überblick. http://www.bvdw.org/fileadmin/downloads/marktzahlen/ basispraesentationen/OVK_Online_Report_200801_Webversion.pdf [28.04.2008]. PONS GmbH: PONS stellt sein neues Onlinewörterbuch www.pons.eu ins Netz. www.pons.de/home/presse/pressemitteilungen/7660/ [15.10.2008] Roppel, Stephan: Das ganze Web ist ein Labor. In: buchreport.express 2006, H. 32, S. 4. Spiller, Ulrich: Medienkonvergenz – bleibt da noch Platz für Printprodukte? Vortrag auf der Frankfurter Buchmesse 2005. http://www.hspartner.de/jsp292/contentPath= hauptmenue/publikationen/vortraege [30.04.2007]. StudiVZ. www.studivz.net/l/press/ [07.11.2007]. Studiengang Mediapublishing: Selbstdokumentation des Studiengangs Mediapublishing im Rahmen der Akkreditierung durch die Agentur ACQUIN. Stuttgart: Hochschule der Medien 2005. Surowiecki, James: Die Weisheit der Vielen [The Wisdom of Crowds, 2004]. München: C. Bertelsmann 2005. Wikipedia (deutsche Ausgabe). http://de.wikipedia.org/wiki/Hauptseite.
JULIA BLUME
Das Buch als Thema Zur Bedeutung von Buchgestaltung und Typographie innerhalb der Studienangebote der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig In Leipzig wurde vor mehr als einhundert Jahren die erste deutsche Kunstakademie unter dem Namen »Königliche Akademie für graphische Künste und Buchgewerbe« ausschließlich auf das Buch ausgerichtet. Das neue Profil, das auch durch die beharrlichen Forderungen des Deutschen Buchgewerbevereins1 definiert wurde, spezialisierte die Lehrangebote der bisherigen Kunstgewerbeschule und Kunstakademie, die bereits 1764 unter Adam Friedrich Oeser2 gegründet worden war und seit 1871 einen von Ludwig Nieper3 verantworteten grundlegenden Reformprozess durchlaufen hatte. Mit Max Seliger4 leitete zwischen 1901 und 1920 eine Persönlichkeit die Akademie, die junge Gestalter in Lehrverantwortung berief und mit ihnen gemeinsam das besondere Gesicht der Schule prägte. Auf Basis der 1899/1900 publizierten Überlegungen von Peter Jessen5 und unter Einbeziehung praxisnaher Erfahrungen der Mitglieder des Deutschen Buchgewerbevereins sowie von Impulsen aus England, die z. B. durch Carl Ernst Poeschel6 1904 referiert wurden, bildeten sich Lehr-
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Der deutsche Buchgewerbeverein wurde 1884 als »Centralverein für das deutsche Buchgewerbe« gegründet und strebte offensiv seit 1891 die Gründung einer Buchgewerbeakademie an. Vgl.: Sächs. Hauptstaatsarchiv Dresden, Königliche Akademie für graphische Künste und Buchgewerbe, Nr. 18111. Adam Friedrich Oeser (1717–1799), 1764–1799 Direktor der »Mahlerey-, Zeichnungs-und Architekturakademie« Leipzig. Ludwig Nieper (1826–1906), ab 1870 Lehrer, 1871–1901 Direktor der Leipziger Kunstakademie, 1875–1892 zugleich Direktor der Städtischen Gewerbeschule, 1883 Dr. phil. h.c. der Universität Leipzig. Max Seliger (1865–1920), 1901–1920 Direktor der Akademie für graphische Künste und Buchgewerbe, Mitglied im Vorstand des deutschen Buchgewerbevereins. Jessen: Die neue Kunst. Carl Ernst Poeschel (1874–1944), 1898–1900 USA-Aufenthalt, 1904 Englandreise, Bekanntschaft mit Th. Cobden-Sanderson und der Doves-Press. Verarbeitet Erfahrungen im
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konzepte heraus, die nach der Ausbildung von Einzelqualifikationen im Schriftschreiben, Zeichnen, ornamentalen und typographischen Übungen, Illustrationstechniken und Buchbinden deren Zusammenführung im Gesamtkörper Buch thematisierten. Im Namen der Akademie drückte sich die Nähe zur Buchindustrie und zur Buchvermarktung ebenso aus, wie die Pflege der technischen Voraussetzungen zur Herstellung. Die bereits im Neubau der Schule 1890 angelegten Werkstätten wurden ergänzt und auf den neuen Bedarf zugeschnitten, so dass die Akademie nun neben Holzschnitt, Radierung und Lithographie auch Schriftsatz und Buchdruck als technische Kurse anbot und vor allem reprographische Labore und eine Buchbinderei einrichtete. Erklärtes Ziel war ein Ineinandergreifen von Entwurfsidee und deren ergebnisorientierter Umsetzung. Mit diesem modernen Lehrkonzept war die Akademie in Leipzig ein impulsgebendes Beispiel für künstlerische Ausbildungsmodelle im frühen 20. Jahrhundert. Schlüsselfiguren dieser Zeit der Neubestimmung wurden neben dem Direktor auch Hugo Steiner-Prag7 und Walter Tiemann8. Vor dem Hintergrund eines in bürgerliche Werte eingebundenen Buchdiskurses entstand ein offenes Klima, in dem handwerkliche Voraussetzungen ausgebildet wurden und das klassische Erbe der Printmediengestaltung rezipiert wurde. Mit der Verbindung der Akademie zu Wirtschaftsinstitutionen und Industriebetrieben der Stadt konnte sie zeitweise zum wichtigen Kulturfaktor in einer Region werden, die das Buch zu einem ihrer Leitbilder machte. Unterstützt wurde der Anspruch durch publizierte Akademiedrucke in bibliophiler Ausstattung sowie durch die aktive Rolle, die Professoren bei der Herstellung einer internationalen Ausstellungsplattform des kulturellen Vergleichs spielten.9 Mit Jan Tschichold absolvierte
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Werk »Zeitgemäße Buchdruckerkunst«, Leipzig 1904, 1907–1923 betreibt er mit Walter Tiemann die Janus-Presse in Leipzig. Hugo Steiner-Prag (1880–1945), 1907–1933 Professor an der Akademie für graphische Künste und Buchgewerbe Leipzig, 1925 Vorsitzender des Vereins Deutscher Buchkünstler, 1927 Präsident der Internationalen Buchkunstausstellung, 1933 Emigration nach Prag, 1938 nach Stockholm, 1941 nach New York. Walter Tiemann (1876–1951), 1903–1941 Professor an der Akademie für graphische Künste und Buchgewerbe Leipzig, 1920–1941 und 1945–1946 Direktor ebenda. Der Verein Deutscher Buchkünstler (1909 in der Akademie gegründet), dem Max Seliger, Walter Tiemann und Hugo Steiner-Prag angehörten, wurde zum Initiator der Internationalen Buch- und Grafikausstellung 1914 (Bugra), deren Eröffnung mit dem 150. Geburtstag der Akademie verbunden wurde. Steiner-Prag war ebenfalls der Präsident der Internationalen Buchkunstausstellung (IBA) 1927 und regte den Beginn des deutschen Wettbewerbs um die schönsten Bücher (1929) an.
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1922 ein Student diese Ausbildungsstätte, dessen Name zum Pseudonym für moderne Typographie wurde. Die Konzentration der Akademie auf das Medium Buch wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs so nicht aufrechterhalten. Das für die Akademie einst belebende Netzwerk aus buchgewerblichen Betrieben und deutschlandweit wichtigen Verlagen war in Leipzig zerstört und das Hochschulwesen wurde neu geordnet. In Differenz zu den anderen Kunsthochschulen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR nach 1949 blieben an der Hochschule für Grafik und Buchkunst10 neben den sich etablierenden Malereiklassen die Buchgestaltung und die dokumentarische Photographie wichtige Säulen der Ausbildung. Es bildeten sich, maßgeblich getragen durch Albert Kapr11, Walter Schiller12 und Gert Wunderlich13, formale Kriterien der Buchgestaltung heraus, die sich, in Anknüpfung an die 1920er Jahre, durch einen sorgsamen Umgang mit dem typographischen Detail, mit der Druck- und Verarbeitungstechnik und auch durch die Verwendung von in der Hochschule entwickelten Satzschriften auszeichnete. Sie bevorzugten eine kommentierende, inszenierende Typographie sowie im illustrierten Buch das fast symbiotische Zusammenspiel von Schrift und graphischen Bildern. Das Selbstverständnis der Rolle der Buchkünstler definierte sich dabei als eine dem übergeordneten Text dienende. Mit dem 1955 gegründeten »Institut für Buchgestaltung« wurde innerhalb der Hochschule eine Funktionseinheit geschaffen, die prototypische Gestaltungsentwürfe für Verlage und politische Institutionen entwickeln sollte, die sich aber auch der Schriftforschung und Typenentwicklung widmete.14 Personen wie Albert Kapr, zeitweise auch Rektor der Hochschule für Grafik und Buchkunst, wurden zu Kompetenzträgern in Fragen der Buchgestaltung. Nicht zuletzt ihre präsente Autorenschaft in Fachzeitschriften der DDR führte dazu, dass neben ihren gestalterischen Werken 10 11
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Ab 1950 trägt die Akademie den Namen »Hochschule für Grafik und Buchkunst« mit der offiziellen Abkürzung HGB. Albert Kapr (1918–1995), 1951–1983 Professor für Gebrauchsgraphik an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig, ab 1955 zugleich Leiter des Instituts für Buchgestaltung, 1959–1961 und 1966–1973 Rektor der HGB, 1977 Promotion zum Dr. phil. an der Karl-Marx-Universität Leipzig. Walter Schiller (geb. 1920), 1953–1958 Assistent an der HGB, 1958–1964 Dozent, 1964– 1984 Professor für Typographie ebenda, 1971 Vorsitzender der Internationalen Buchkunstausstellung Leipzig. Gert Wunderlich (geb. 1933) 1966–1971 Assistent an der HGB, 1971–1979 Dozent, 1979– 1999 Professor für Typographie und Plakatgestaltung ebenda. Akten des Instituts für Buchkunst, Archiv der HGB, IFBK Nr.1.
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auch ihre Texte geschmacksbildend wirken konnten. Das »Institut für Buchgestaltung« wurde zwischen den 1960er und 1980er Jahren zum Labor des Studiengangs Buchgestaltung, in dem vor allem Schriftschnitte erprobt wurden und das bewährte Zusammenspiel zwischen originalgraphischer Illustration und ausgewählter Typographie artifiziell ausgereizt wurde. Die Möglichkeiten, die das photographische Bild im Buch entfalten kann, blieb in diesen Jahrzehnten ebenso unbefragt wie die künstlerisch-kommunikativen Prozesse z. B. im Kontext des Fluxus, die Printmedien in ihrer Wirkungsmöglichkeit jenseits des Bibliophilen oder Angewandten thematisierten. Neben ästhetisch bemerkenswerten Büchern wie dem Großen Totentanz von Basel 15 oder auch der Mutter Courage16, wurde das Institut für Buchgestaltung auch zur Realisierung staatlicher Aufträge genutzt, z. B. für die typographische Ausstattung des Programms der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Einer der wohl nachhaltigsten Erfolge waren neben der Entwicklung der Satzschrift »Maxima« von Wunderlich17 die Einführung der Schulausgangsschrift von Renate Tost18 in allen Schulen der DDR. In den für alle Studierenden verbindlichen Studienangeboten der Hochschule gab es zwischen 1947 und 1990 keinen Raum für eine vertiefende theoretische und wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Medium Buch. Neben allgemeiner Kunstgeschichte wurden außerhalb des Klassendiskurses keine Inhalte angeboten, die aktuelle Gestaltungstendenzen in einen zeitgenössischen Rahmen stellten oder die historischen Bezugssysteme des Mediums und seiner Bausteine aufzeigten. Ein lebendiger formal-ästhetischer Austausch war jedoch durch internationale Vergleiche in Buchwettbewerben und Ausstellungen gegeben.19 Die Studieninhalte innerhalb der Fachrichtung Buchkunst/GraphikDesign wurden nach 1990 insofern reformiert, dass neben dem Unterricht in Typographie, Schrift und Zeichnen die Vermittlung von Grundlagen des Graphik-Designs in den ersten vier Semestern verbindlich wurde und 15 16 17
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Grieshaber: Der Totentanz. Brecht: Mutter Courage. »Maxima« ist eine umfangreiche Schriftfamilie einer Groteskschrift in 26 Garnituren und 19 Fremdsprachen, deren erste Probeschnitte 1964 erfolgten und die nach der Übernahme durch Typoart Dresden bis 1989 ständig weiterentwickelt wurde. Siehe auch: Berger: Der Schriftkünstler. Tost: Die Schrift in der Schule. In Leipzig fanden 1959, 1965, 1971, 1977, 1982 und 1989 internationale Buchkunstausstellungen statt. Kapr, Schiller, Wunderlich gehörten zu den Ausstellungsleitungen.
Buchgestaltung und Typographie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst
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zu den gestalterisch-künstlerischen Übungen in den Druckwerkstätten der Hochschule eine umfassende Ausbildung am Computer trat. Ein theoretischer Fächerkanon, in dem Philosophie, Bildwissenschaft, Medientheorie und die Vermittlung der Geschichte von Schrift und Bild im Buch obligatorische Angebote für alle Studierende darstellen, entwickelte sich zum selbstverständlichen Bestandteil der Lehre. Seit Mitte der 1990er Jahre wird das Profil auch in den künstlerisch-gestalterischen Fächern durch Lehrende geprägt, die das Medium Buch in seiner Zeitgenossenschaft auf den Prüfstein stellen und zugleich Gestaltungsentscheidungen auf ihre Sinnfälligkeit prüften und sie in den Kontext medialer Alltagsvielfalt stellen. Heute liegen die Ausbildungsschwerpunkte des Studiengangs Buchkunst/Graphik-Design in den vier Klassen Typographie, Illustration, Schrift sowie System-Design. In der Typographie-Klasse, geleitet von Günter Karl Bose20, sind die genaue Analyse des Buchs als Medium und der Entwurf von Ordnungssystemen für Texte Themen des Unterrichts. Die inhaltliche Relevanz der jeweiligen Gestaltungsentwürfe wird in Gruppen- und Einzelgesprächen kritisch befragt. Buchkunst wird in dieser Klasse als Möglichkeit verstanden, eine Betrachtung des Werks auch jenseits des unmittelbaren Gebrauchs zu diskutieren. Vor dem Hintergrund einer Auseinandersetzung mit modischen Attitüden werden die Informationsdichte sowie das Beziehungsgefüge von Bildern und Texten untersucht. Das Bedürfnis nach einer gestalterischen Autorenschaft verlangt ein komplexes Wissen, das jede Buchidee durch einen zusätzlichen Kontrollfilter gehen lässt. Die Studierenden der Klasse sind zuerst Lesende, Sammelnde und Auswählende, bevor sie zu Entwerfenden werden. Ergänzt wird das Studium durch kleine Ausstellungen, die oft die Aufmerksamkeiten auf scheinbare Randgebiete des Fachs lenken.21
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Günter Karl Bose (geb. 1951) seit 1993 Professor für Typographie erst im Grundstudium, seit 1999 im Hauptstudium, seit 1997 Leitung des Instituts für Buchkunst gemeinsam mit Julia Blume. Gemeinsam mit dem Institut für Buchkunst werden ein bis zwei Mal im Semester Vitrinenausstellungen gezeigt, die Anregungen geben sollen, nichts Schriftliches unbeachtet zu lassen, auf den ersten Blick Unspektakulärem und scheinbar Alltäglichem Aufmerksamkeit zu schenken, und sich dabei aktiv mit den Objekten und deren Informationen auseinanderzusetzen. Der aktuell gezeigten Sammlung von Fotolehrbüchern wird eine Zusammenstellung von gefundenen Zetteln folgen. Die Bibliothek der HGB, die bedingt durch die Geschichte der Akademie hervorragende Buchbeispiele beherbergt, ermöglicht das Zeigen von Objekten nach unterschiedlichen Fragestellungen.
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In der Klasse für Illustration, vertreten durch Thomas Matthäus Müller22, steht die Beschäftigung mit dem klassischen Bilderbuch und die Bildfindung zu literarischen Texten ebenso auf dem Programm wie das Erzählen mit Bildern im Comic oder im Animationsfilm. Das regelmäßige Zeichnen bleibt Grundkompetenz für alle hier Studierenden, verbunden mit Überlegungen zur möglichst dem Entwurf entsprechenden reprographischen Wiedergabe der Bilder. Offsetlithographien, die den Schein des Unikats vermitteln, haben innerhalb der Hochschule bereits eine eigene Tradition entwickelt. Der lustvolle Einsatz der breiten technischen Möglichkeiten von Holzschnitt und Radierung bis hin zu Kopien oder Laserausdrucken begleitet die jeweilige Erzählung. Das gezeichnete Bild im Buch kann dabei textnahe Ergänzung sein, sollte aber im Wesentlichen einem assoziativen Prozess folgen. Ein Anliegen ist es, die Vertiefung des Gelesenen durch Bildkommentare zu ermöglichen, oder einen Zugewinn für den Betrachter zu erreichen, indem dieser durch das Bild einen erweiterten Blick auf das Beschriebene erhält. Der aktive Austausch mit verwandten Ausbildungsschwerpunkten an anderen Hochschulen wird in gemeinsamen Projekten z. B. mit der Universität der Künste Berlin und der Hochschule für Bildende Künste Stuttgart gepflegt. Eine Besonderheit in Deutschland ist die Klasse für Schrift unter der Leitung des niederländischen Schriftgestalters und Schriftforschers Fred Smeijers23, in der seit fünf Jahren Schriften für analoge und digitale Anwendungen entwickelt werden. Die historische Dimension jeder einzelnen Schrift, ihre Zeichenhaftigkeit und der gesellschaftliche Kontext ihrer Entstehung oder Neuanwendung werden hier benannt. Eine vertiefte Recherche, die sich nicht nur auf die konkrete Schriftfamilie bezieht, sondern auch den Charakter dieses komplexen Zeichensystems und seine Wirkungsmöglichkeiten thematisiert, steht vor jedem Neuentwurf. Studierende dieser Klasse stellen ihre Ergebnisse auf Foren und Kolloquien vor. Eine Nähe zu Wissenschaftszweigen wie zur Mathematik zeichnet sich in jüngerer Zeit ab und bringt eine andere Betrachtungsweise scheinbar bekannter Phänomene mit sich. Eine große Sorgfalt und die Liebe zum Detail sind grundlegende Voraussetzungen für die Studierende der Klasse, selbstverständlich begleitet von hoher technischer Kompetenz hinsichtlich der Digitalisierungsmöglichkeiten von Schrift.
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Thomas Matthäus Müller (geb. 1966), seit 2007 Professor für Illustration im Hauptstudium. Fred Smeijers (geb. 1961), seit 2004 Professor für Schrift im Hauptstudium.
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Der praxisnahe Entwurf von Orientierungssystemen für öffentliche oder kulturell definierte Räume ist wesentlicher Inhalt des Lehrangebots in der Klasse »System-Design«, die von Oliver Klimpel geleitet wird.24 Schrift in ihrer Anwendung als Zeichen und Orientierungselement in Printmedien, Räumen und den elektronischen Medien wird zum Gegenstand näherer Betrachtung. Eine bedarfsgerechte Weiterentwicklung von Informationsdesign einschließlich kartographischer Organisation von Wissen, die Möglichkeiten der Visualisierung ökonomischer und gesellschaftlicher Untersuchungen zeigt die Bandbreite der Themen, die in Projekten oder im Eigenauftrag der Studienreden eine Rolle spielen. Die Lehre von Ruedi Baur25 hat hier eine internationale Dimension der Verantwortung des Graphikdesigners thematisiert, die seitdem ein zusätzliches Qualitätskriterium geworden ist. Das Buch als ein mögliches Ergebnis wird in jedem Projekt diskutiert. Einbindung photographischer Bilder oder von Aufzeichnungssystemen beispielsweise musikalischer Herkunft sind selbstverständliche Handlungen. Die Nähe zum Graphikdesign ist in dieser Klasse ausgeprägt. Die bereits in den ersten Semestern des Studiums geforderte theoretische Auseinandersetzung mit dem gewählten Fach und den vorgegebenen wie auch individuellen Projekten findet ihren konzentrierten Ausdruck in einer umfassenden theoretischen Diplomarbeit, die dem künstlerischen Diplom unmittelbar vorangestellt ist. Auf bis zu 50 Seiten soll die Fähigkeit zu wissenschaftlicher Arbeitsweise aufgezeigt werden anhand von Themen, die den Kontext der eigenen Arbeit ebenso untersuchen können wie ergänzende Gedanken oder historische und philosophische Überlegungen einbinden. Das »Institut für Buchgestaltung« entwickelte sein heutiges Profil als »Institut für Buchkunst« seit den späten 1990er Jahren. In jedem Frühjahr können sich Studierende aller Fachrichtungen im Rahmen eines Wettbewerbs mit Buchentwürfen um die drucktechnische Realisierung ihrer Idee bewerben. Das Institut fördert dabei dezidiert die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen den Studierenden verschiedener Fachrichtungen und Projekte, die die Möglichkeiten des gewählten Mediums Buch nicht als modische Attitüde auskosten, sondern sich bei jeder Entscheidung über deren inhaltliche und ästhetische Tragweite austauschen. 24 25
Oliver Klimpel (geb. 1973), Professor für Systemdesign im Hauptstudium. Ruedi Baur (geb. 1956), 1995–2004 Professor für System-Design im Hauptstudium, 1997– 2000 Rektor der HGB, seit 2004 Leiter des Instituts für Design an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Zürich (HGKZ).
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Das Institut, dessen verantwortliche Leitung in den Händen des Typographieprofessors und einer Buchtheoretikern liegt, ist dabei zwar ein Praxismodell, bildet aber zugleich eine merkantil geschützte Zone für die intensive Auseinandersetzung um die jeweils möglichst optimale Lösung. Dass hier in der Diskussion verschiedene Gesichtspunkte und begründete Urteile besprochen werden, bringt allen Beteiligten Erfahrungsgewinn und führte in der jüngsten Vergangenheit zu qualitätvollen bereichsübergreifenden Ergebnissen26. Von zusätzlichem Wert ist die im Institut gebotene Möglichkeit des intensiven Einblicks in die Buchherstellungspraxis, die sonst innerhalb des Studiums zu Gunsten künstlerischer und theoretischer Angebote einen geringeren Raum einnimmt. Auffallend interessante Wettbewerbsbeiträge kommen jährlich aus dem Fachgebiet Photographie, wo das Buch als Präsentationsraum und zur Verdeutlichung von Erzählstrategien sehr bewusst genutzt wird. Regelmäßig sind Publikationen des Instituts mit Preisen der »Schönsten Bücher« im nationalen und internationalen Wettbewerbe ausgezeichnet worden, jüngst die Entenrepublik Gamsenteich von Claudia Siegel und Bertram Haude und das Handbuch der wildwachsenden Großstadtpflanzen von Helmut Völter. Das Buch als Medium wird in jedem Falle auf seine Möglichkeiten und Grenzen untersucht, Träger für literarische oder wissenschaftliche Texte zu sein, als Informationsspeicher zu funktionieren oder lebendiges Archiv zu sein. Wenn es dabei gelingt, neben der genauen Analyse der inhaltsadäquaten Form, die Erfahrungen der Semiotik einbezieht, den spielerischen Einsatz der Mittel offen zu halten, entstehen die interessantesten Ergebnisse. In der Studienreihe allaphbed werden Texte publiziert, die auf Vorträge von eingeladenen Wissenschaftler/innen und Gestalter/innen zurückgehen, die sich Fragen zum Buch, zur Schrift, zur Narration von Text und Bild sowie zu Zeichensystemen als Navigationsmittel stellen. Im farbigen Grau der Theorie erscheinen die sorgfältig gesetzten Bände, denen hin und wieder eine von den Gestaltern ergänzte und recherchierte Bildebene zugeordnet ist, in loser Folge. Die Hochschule für Graphik und Buchkunst entlässt Absolventinnen und Absolventen, die neben hervorragenden technischen Kenntnissen über eine ausgebildete Reflexionsfähigkeit verfügen und sich auch als Gestalter/innen zur bewussten Autorenschaft bekennen. Es sind eher die selbstbestimmten Berufsfelder, die sie für sich erschließen, sei es als Gra26
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phikdesigner/innen in freier Vernetzung je nach Auftragslage oder als autonom arbeitende Gestalter/innen in Teams, die Kompetenzen verschiedener Berufszweige in sich vereinen.27 Wenn sie mit dem Meisterschülertitel der Hochschule einen postgraduierten Abschluss erreicht haben, so können sie auch auf eigene Lehrerfahrungen in der Abendakademie28 der HGB zurückschauen, die sie für Lehraufgaben in verwandten Einrichtungen attraktiv macht.
Quellenverzeichnis Akten des Institutes für Buchkunst, Archiv der HGB, IFBK Nr. 1. Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, Königliche Akademie für graphische Künste und Buchgewerbe, Nr. 18111.
Literaturverzeichnis Berger, Walter: Der Schriftkünstler. In: Von zart bis extrafett. Typo-Grafik von Gert Wunderlich 1957–1998. Leipzig: Galerie der Hochschule für Grafik und Buchkunst 1999, S. 29–36. Brecht, Bertolt: Mutter Courage und ihre Kinder. Mit 25 (zum Teil farbigen) Zeichnungen von Bernhard Heisig. Leipzig: Institut für Buchgestaltung 1965. Grieshaber, H(ans) A(ndreas) P(aul): Der Totentanz von Basel. Dresden/Leipzig: Verlag der Kunst und Institut für Buchkunst 1966. Jessen, Peter: Die neue Kunst und das Buchgewerbe. Vorträge, gehalten im deutschen Buchgewerbeverein zu Leipzig. In: Archiv für Buchgewerbe 1899, H. 2, Sp. 49–56; H. 3, Sp. 97–106; H. 4, Sp. 145–152; H. 5, Sp. 195–205; H. 6, Sp. 241–250; H. 7, Sp. 307–314. Johne, Sven/Niessen, Claudius: Vinta. Leipzig: Institut für Buchkunst 2005. Klaus, Katja: Berufsperspektiven junger Buchgestalter. Eine Absolventenbefragung an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig. Fachbereich Buchkunst/Grafikdesign, Jahrgänge 1993–2002. Magisterarbeit. Universität Leipzig, Institut für Kommunikationsund Medienwissenschaft 2002. [Typographisches Ms.] Tost, Renate: Die Schrift in der Schule. Ein Beitrag zur Perspektive der Schreiberziehung in den allgemeinen polytechnischen Oberschulen. Leipzig: Institut für Buchgestaltung 1968.
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Klaus: Berufsperspektiven junger Buchgestalter. Die Abendakademie der HGB bietet Kurse für junge, künstlerisch begabte Menschen ab 15 Jahren an. Das Lehrangebot spiegelt das Studienangebot der HGB. Es unterrichten ausschließlich Meisterschüler/innen, die damit eine zusätzliche Qualifikation erwerben.
WOLFGANG SCHMITZ
Buchwissenschaftliche Themen im Rahmen der Ausbildung der wissenschaftlichen Bibliothekare in Deutschland »Es gibt kaum einen Beruf, der inhaltlich so umstritten ist als der Beruf des Bibliothekars… « (Georg Leyh) Buch und Bibliothekar – so denkt man – gehören zusammen. Wer soll sich mit dem Buch an sich beschäftigen, wenn nicht der, der zu seinem Hüter und Vermittler bestimmt ist? Aber wenn wir genau hinsehen, dann stellen wir fest, dass sich dieses Verhältnis sehr ambivalent gestaltet und im Laufe der Zeit einer starken Veränderung unterworfen war.1 Der Bibliothekar des ausgehenden 19. Jahrhunderts wurde als gelehrter Kenner des Buchs verstanden, ob in praxi zu Recht oder nicht. Der heutige ist das mehrheitlich von seinem Selbstverständnis her sicherlich nicht. Im Verhältnis des Bibliothekars zum Buch an sich und seiner Erforschung spiegelt sich Wesentliches vom bibliothekarischen Selbstverständnis und seinem Wandel. Dies aufzuzeigen ist Anliegen dieses Beitrags.2 1
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Ich verwende stets den Begriff ›Buchwissenschaft‹, obwohl im bibliothekarischen Bereich traditionell von Buchkunde die Rede ist. Moderne Fragen um das Buch, die heute selbstverständlich von der Buchwissenschaft mitbehandelt werden, werden in unserer Abhandlung mit berücksichtigt; sie sind aber vergleichsweise untergeordnet. Wissenschaftstheoretisch ist interessant, dass die heute unter Buchwissenschaft subsumierten Fächer vielfach als Teil der Bibliothekswissenschaft fungieren, so wie es noch die Fächeraufgliederung des Kölner Lehrstuhls für Bibliothekswissenschaft 1975 getan hat. Um einen wissenschaftstheoretischen Diskurs geht es hier nicht und so möchte ich mit dem Problem ebenso pragmatisch umgehen, wie es Fritz Milkau in seinem Beitrag »Bibliothekswissenschaft als Universitätsfach« getan hat (S. 27). Bemerkenswerterweise schreibt Milkau in seinem genannten Aufsatz: »daß man heute […] unter Bibliothekswissenschaft […] ziemlich allgemein die Summe aller Bemühungen versteht, die sich auf die Erkenntnis und wissenschaftliche Durchdringung des Buchwesens im weitesten Sinne des Wortes richten […].« (S. 27), damit könnte diese Wissenschaft aber besser als ›Buchwissenschaft‹ bezeichnet werden. Dabei kann es nicht Aufgabe dieser Spezialstudie sein, das schon mehrfach faktenreich und niveauvoll dargestellte grundsätzliche Problem des wissenschaftlichen Charakters des Bibliothekarsberufs darzustellen. Allerdings greift dieser Aspekt – wie man sieht – an vielen Stellen auf unser Problem der Bedeutung der Buchwissenschaften für die bibliothekarische Ausbildung über.
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Wolfgang Schmitz
1 Der Berufsbibliothekar Das 18. Jahrhundert hat sich schon intensiv Gedanken über den Beruf des Bibliothekars gemacht. Vor allem die Sicht des Göttinger UniversitätsBibliothekars Johann Matthias Gesner ist berühmt.3 Er nennt als wichtige Charaktereigenschaften Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit, Einfühlungsvermögen und Dienstfertigkeit, aber auch die wissenschaftlichen Anforderungen wie ausgedehnte Sprachenkenntnisse und als Herz des Berufs eine umfassende Beherrschung der Gelehrten-Historie. Dies alles trägt zu einer kenntnisreichen Ausübung der Profession bei: Bearbeitung der Kataloge, richtiges Einstellen in die Sachgruppen, Erwerbung, Erteilung von guten Auskünften und Pflege des Bestands. Von der Erforschung des Buchs ist hier nicht ausdrücklich die Rede und doch wird sie implizit einbezogen: Zur rechten Erstellung eines guten Katalogs braucht er bei Handschriften die Handschriftenkunde, bei Drucken die Druckgeschichte usw. und nicht zuletzt finden wir die Anfänge intensiver Bemühungen zur Erschließung der Inkunabeln, jener kostbaren Zeugnisse der frühen Druckkunst.4 Wird der Bibliothekar hier noch mit dem Kenner der GelehrtenHistorie in eins gesetzt, so wandelt sich das Bild seit der Säkularisation. Der Zustrom gewaltiger Büchermassen, dann aber auch die durch neue Techniken immer stärker anschwellenden Ströme der Druckproduktion, die wachsenden Anforderungen der Wissenschaft an die Bibliotheken, die zuerst allmählich, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts stärker steigende Zahl der wissenschaftlich Tätigen und der Studenten verlangen einen Bibliothekar, der mehr ist als nur Kenner der Gelehrten-Historie. Der auf dem Hintergrund einer umfassenden gelehrten Bildung praktisch geschulte und in der Verwaltung der Bibliothek und ihren Arbeitsgängen versierte Bibliothekar wird jetzt als Ideal skizziert. Das gilt gleichermaßen von Martin Schrettingers Handbuch der Bibliothek-Wissenschaft 5 von 1807 und Friedrich Adolf Eberts Bildung des Bibliothekars 6, wie unterschiedlich die Akzen3 4 5
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Vgl. Franke: Ein Gutachten Johann Matthias Gesners, S. 98–104. Vgl. Schmitz: Klösterliche Wissenschaftspflege, S. 111–121, mit weiterführender Literatur. Er vertritt darin die Überzeugung, »daß nicht jeder literarisch gebildete Mann ohne weiters für eine Bibliothekarsstelle geeignet sey; sondern daß auch der gründlichste Gelehrte, ja sogar ein wahrer Polyhistor, erst noch hiezu eines besonders Studium und einer eben so langwierigen als unerlässlichen Praxis bedarf […].« (S. 150) und er verweist auf das hier genannte Buch von F. A. Ebert. Vgl. Leyh: Friedrich Adolf Ebert, S. 129–135; Scholl: Bibliothekar und Wissenschaft, S. 145–149; Nestler: Friedrich Adolf Ebert.
Ausbildung wissenschaftlicher Bibliothekare
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te in beiden Studien auch gesetzt sein mögen. Der Bibliothekar wird jetzt als vollgültiger eigener Beruf begriffen und folgerichtig der Berufsbibliothekar gefordert, der sich diesem Beruf nicht mehr nebenamtlich, sondern hauptamtlich zu widmen hat und durch die Professionalisierung der Arbeit zur Entwicklung der Bibliothek und ihrer Geschäftsgänge beiträgt.7 Das wendet sich nicht zuletzt gegen die nebenamtliche Leitung durch die Professorenbibliothekare, die häufig über keinerlei oder wenig bibliothekarische Kenntnisse und auch nicht über ein besonderes diesbezügliches Interesse verfügten.8 Es bedeutet jedoch nicht, dass man grundsätzlich auf die wissenschaftliche Seite des Bibliothekars verzichtet hat, die Frage der Verteilung des Gewichts auf wissenschaftlich fundierte oder vorwiegende Verwaltungstätigkeit verstummt allerdings nicht. Regelmäßige Etats und gute Öffnungszeiten, liberale Benutzung und fachliche Erschließung, zureichende Gebäude und eine ausreichende Mitarbeiterzahl wurden zur Forderung des bibliothekarischen Stands und doch hat es bis fast zum Ende des 19. Jahrhunderts gedauert, bis unter dem Druck steigender Anforderungen der Berufsbibliothekar durch die Regelung seiner Zulassung und Prüfung voll institutionalisiert wurde.9 Die Bestimmungen von 1893 in Preußen markieren hier eine neue Qualität. Sie eröffnen gleichzeitig den Bibliothekaren die Möglichkeit einer geregelten Beamten-Laufbahn des Höheren Dienstes.
2 Die Bibliothekswissenschaft und das Verhältnis zur Buchwissenschaft Doch fragen wir im Sinne unserer Aufgabenstellung: Was war denn die Profession des Bibliothekars und wie verhielt es sich dabei mit der Erforschung des Buchs.10
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Vgl. Schochow: Der Berufsbibliothekar, S. 56–101; immer noch wegen des Faktenreichtums lesenswert Leyh: Der Bibliothekar und sein Beruf, S. 1–112; Jochum: Bildungsgrenzen, S. 231–253. Eine positivere Beurteilung der Leistung der Professorenbibliothekare im Anschluss an Leyh: Friedrich Adolf Ebert sowie Scholl: Bibliothekar und Wissenschaft, S. 149–162; ebenso wird die Leistung der Professorenbibliothekare differenzierter und die Herausbildung des reinen oder vorwiegenden verwaltenden Wissenschaftlichen Bibliothekars kritischer gesehen bei Jochum: Das Opfer der Schrift, S. 166–184. Vgl. Habermann: Der wissenschaftliche Bibliothekar, S. 41–58. Vgl. Schmidt: Die Bibliothekswissenschaft in Deutschland, S. 9–32; Dube: Geschichte der Bibliothekswissenschaft.
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Schrettingers Handbuch der Bibliothek-Wissenschaft wie das vorhergehende Versuch eines vollständigen Lehrbuchs der Bibliothek-Wissenschaft verraten ihren Ursprung, die Nöte der Praxis, die der Ex-Benediktiner bei der Einarbeitung der gewaltigen Säkularisationsmassen in die Münchner Hof- und Staatsbibliothek erfahren musste, als über 200 000 Bände der Neuaufstellung und Katalogisierung harrten. So ist für den Praktiker Schrettinger die Kenntnis der Einrichtung (Aufstellung und Katalogisierung) und Verwaltung (Bewahrung, Vermehrung, Benutzung) der Bücher das Zentrum bibliothekarischen Tuns, dem er erstmals den Charakter einer Bibliothekswissenschaft zuspricht. Damit war sicherlich auch eine programmatische Absicht verbunden, eben über die Definition einer eigenen Wissenschaft die Konstituierung des Berufsbibliothekars voranzutreiben.11 In den praktischen Dingen weicht sein kritischer Zeitgenosse Ebert nicht weit von ihm ab, soviel er auch im Konkreten an seinem Werk auszusetzen hat. Spielt bei diesem praxisorientierten Werk das, was wir buchwissenschaftliche Kenntnisse nennen, eine Rolle? Eindeutig ja, denn im Mittelpunkt steht, wie gesagt, die Einrichtung und Verwaltung der Bibliotheken, aber bei der Katalogisierung, damals einem Zentrum bibliothekarischer Tätigkeit, sind Kenntnisse dieser Art einschließlich bibliothekshistorischer notwendig, um die Sammlungsgeschichte bestimmen zu können. Ebert erwartet, dass man sich diese Fertigkeiten erwirbt, meist erst während der Berufsausübung, da sich vorher selten Gelegenheit bietet. Solche Kenntnisse versetzen den Bibliothekar in den Stand, ergebnisreiche Forschungen zu betreiben: Bringt uns auch kein codex rescriptus in den Fall, Knitel’s oder Angelo Mai’s freudige Erfahrungen zu machen, so können wir doch vielleicht aus dem Wuste unscheinbarer Papiere einen Lessing’schen Berengarius retten, oder den Drucker einer bisher unentzifferten Incunabel entdecken, oder in einer alten Bibel oder einem Eber’schen calendarium wichtige Familiennachrichten finden, oder aus einem alten Einbande Bruchstücke alter Handschriften oder unbekannter Drucke hervorziehen. Und giebt im äussersten Falle nicht noch das gehaltloseste Manuscript eine Gelegenheit zur nähern Bestimmung irgendeines diplomatischen Lehrsatzes, das entschieden schlechteste Buch einen Beitrag zum Jöcher oder zur Buchdruckergeschichte oder endlich zur Geschichte der Buchbinderkunst.12
Wie sehr für Ebert buchgeschichtliche Kenntnisse zum Handwerkszeug des Bibliothekars gehörten, erhellt auch daraus, dass er seine Arbeit zur Handschriftenkunde als zweites Bändchen seiner Bildung des Bibliothekars bezeichnete, und er auch Material für eine große Geschichte der Buchdru11 12
Vgl. Zitat in Anm. 5. Ebert: Bildung des Bibliothekars, S. 50.
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ckerkunst sammelte, für die ein Aufsatz über die Coster-Gutenberg-Frage (1823) einen Vorläufer bildete. Der Streit um die rechte Bibliothekswissenschaft begleitet die Herausbildung des modernen bibliothekarischen Berufs bis heute. Schieben wir die für uns hier weniger relevante wissenschaftstheoretische Frage zur Seite, ob sie wirklich eine ε· πιστημη´ oder nach Pietschmann doch nur eine τε´χυη, eine ars, sei,13 und fragen wir vielmehr, was man im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts darunter verstand und wie sich denn das Buchwesen hier wiederfand. Diese Antworten fallen in mancher Beziehung unterschiedlich aus, doch schimmern vor allem Eberts Vorstellungen immer wieder durch, sie werden zum lange leuchtenden Leitstern. Der Klagenfurter Bibliothekar Peter Alcantara Budik (1792–1858) schloss in seinen Vorbereitungsstudien für den angehenden Bibliothekar (Wien 1834) ausdrücklich die Buchkunde ein, ebenso 1855 der Stuttgarter, später Nürnberger Buchhändler und Bibliothekssekretär am Germanischen Nationalmuseum Johann Georg Seizinger (1810–1865) in seiner Theorie und Praxis der Bibliothekswissenschaft (Dresden 1863) und schließlich noch Victor Gardthausens (1843–1925) Handbuch der wissenschaftlichen Bibliothekskunde (Leipzig 1920). Weiter ging noch der Ilmenauer Diakon Johann August Schmidt mit seinem Handbuch der Bibliothekswissenschaft, der Literatur- und Bücherkunde (Weimar 1840), der außer Bibliotheksökonomie und Buchkunde auch Handschriftenkunde, Geschichte des Buchhandels, Bibliographie, Literärgeschichte und Bibliothekenkunde einbezogen wissen wollte. Diese Arbeiten stießen allerdings bei der zeitgenössischen Fachwelt wegen ihrer weit gefassten Definition auf heftige Kritik. Nicht von ungefähr spielt dabei die Frage nach dem Stellenwert der Erforschung des Buchwesens eine Rolle. Ausgreifend spricht Ferdinand Eichler in seinem Wiener Vortrag von 1896 vom Gesamtgebiet als Bibliothekswissenschaft, später dann auch von Buch- und Bibliothekswissenschaft. »Die Bibliothekswissenschaft ist« für ihn »die Erforschung der litterarischen Denkmäler mit Rücksicht auf die Voraussetzungen und die Art ihrer Entstehung, Verbreitung und Benutzung.«14 Sie beschäftigt sich demzufolge ebenso mit der Begründung, Erhaltung und Verwaltung, Be13
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Vgl. Leyh: Richard Pietschmann, S. 84. In die gleiche Richtung der Ablehnung einer Existenz einer Bibliothekswissenschaft äußerten sich auch z. B. der Heidelberger Bibliotheksdirektor Karl Zangemeister, vgl. Deutsch: Zangemeisters Berufung als Oberbibliothekar und Milkau: Bibliothekswissenschaft als Universitätsfach. Vgl. auch die Diskussion bei Leyh: Der Bibliothekar und sein Beruf, S. 75–81. Eichler: Begriff und Aufgabe, S. 17.
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nutzung, Geschichte und Statistik der Bibliotheken wie der Entstehung und Verbreitung der Schrift und der schriftlichen Denkmäler, der Geschichte des Buchdrucks, des Handschriften- und Buchhandels und der Universitäten. Alles gruppiert sich um das Buch, weswegen man bei ihm eher von einer Buch- als der Bibliothekswissenschaft sprechen könnte.15 Schwergewichtig und für die praktische Ausbildung ganzer Generationen prägend waren die Darstellungen von Julius Petzholdt und in seiner Nachfolge von Arnim Graesel, die unter Verzicht auf buchwissenschaftliche Fächer die Bibliothekslehre als systematisch geordnete Summe aller unmittelbar auf die Bibliothek bezüglichen Kenntnisse definierten. »Wir trennen Buch- und Bibliothekswissenschaft voneinander und verweisen Buch- und Schriftwesen in das Gebiet der Bibliothekshilfswissenschaften, wie sie unter dieser Bezeichnung bekanntlich auch den Gegenstand wissenschaftlicher Lehrvorträge an der Universität zu Göttingen bilden.«16 Karl Dziatzko spricht von »Schrift-, Buch- und Bibliothekswesen«, drei Gebiete, die nach ihm aufs engste zusammengehören, denn »dass Schrift- und Buchwesen die Grundlage und unerlässliche Ergänzung des Bibliothekswesens ist, bedarf wohl keines besonderen Nachweises und ergibt sich zum Teil schon aus dem Wort ›Bibliothek‹.«17 Auch sein Nachfolger Richard Pietschmann war von der populären Anschauung weit entfernt, als ob nur das alte Buch und die Handschrift ein des Bibliothekars würdiger Gegenstand der Betätigung sei. Er war aus diesem Grund gegen eine deutsche »École des chartes«.18 Andererseits galt die Bibliothekslehre um 1900 im Gegensatz zur Zeit Schrettingers und Eberts als zu ›praktisch‹ und profan, als dass sie Mittelpunkt einer Bibliothekswissenschaft hätte sein können. Der Wissenschaftsbegriff war jetzt ein anderer als noch zu Zeiten Schrettingers. Damals galt als Wissenschaft ein aus dem gesamten menschlichen Wissensstoff abgesondertes und nach Prinzipien geordnetes Ganzes gleichartiger Erkenntnisse, jetzt wurde ein System von apriorischen, nach Prinzipien
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Vgl. Eichler, S. 30: »Unzweideutiger würden wir das behandelte Gebiet mit dem Ausdrucke Buch- und Bibliothekswissenschaft begrenzen. Natürlich könnte sich auch jemand mit dem Ausdruck Buchwissenschaft […] erklären.« Graesel: Handbuch der Bibliothekslehre, S. 8. In die gleiche Richtung geht Gerhard: Die Vorbildung, S. 10: »[…] jedenfalls sollte er [der Begriff Bibliothekswissenschaft] nur auf die Kenntnisse angewandt werden, die sich wirklich auf die Bibliothek, ihre Einrichtung, Verwaltung, Geschichte usw. beziehen, wie es auch von Graesel geschieht.« Dziatzko: Sammlung Bibliothekswissenschaftlicher Arbeiten, Vorrede S. 1. Leyh: Richard Pietschmann, S. 86.
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der Logik begründeten allgemeinen und wahren Sätzen verlangt.19 Daraus wird die Dominanz der buch- und bibliothekshistorischen Disziplinen als historisch-philologische Fächer erklärlich, sie wurden innerhalb der Bibliothekswissenschaft als die eigentlich wissenschaftlichen anerkannt. In diesen Fächern konnten die Bibliotheken im 19. Jahrhundert (z. B. das Wirken von Johann Andreas Schmeller an der Münchner Hofbibliothek) und gerade an seinem Ende eine Fülle beachtlicher Ergebnisse aufweisen, erinnert sei nur an die Fortschritte im Bereich der Inkunabelforschung wie die Etablierung der sog. Haebler’schen Methode im Typenrepertorium der Wiegendrucke (1905–1924), durch die nicht firmierte Drucke mit ziemlicher Treffsicherheit bestimmten Offizinen zugewiesen werden können. Aber auch die Erforschung der Druckgeschichte einzelner Orte, des Buchhandels und die Erstellung namhafter Kataloge von Handschriften (vgl. zum Beispiel die exzellenten Handschriftenkataloge Valentin Roses für die Königliche Bibliothek Berlin) und Verzeichnisse von alten Druckbeständen (vor allem der Gesamtkatalog der Wiegendrucke) charakterisieren diese Entwicklung. Es tritt also der merkwürdige Gegensatz auf, dass das Alltagsgeschäft der Bibliotheken schon damals stark vom Kanon der Fächer bestimmt war, die in der Bibliothekslehre zusammengefasst sind (also der Verwaltung), dass aber das Selbstverständnis der Bibliothekare als Bibliothekswissenschaftler sich schwerpunktmäßig von den historischen Disziplinen her definierte. Werner Dube hat das vom Standpunkt der marxistischen Bibliothekswissenschaft heftig kritisiert als »wahrhaftiges Refugium, eine Insel, auf der gelehrten Ambitionen unberührt von den sozialen und politischen Kämpfen der Zeit gefrönt werden konnte«20 und »Die Höhenluft der ›reinen‹, in entfernten Gefilden angesiedelten Wissenschaft wurde als Heilmittel gegen die stupide, schmutzige Alltagsarbeit empfohlen«.21 Wenn er damit ausdrücken wollte, dass sich die Bibliothekare in ihrer großen Mehrheit im wilhelminischen Staat eingerichtet hatten, wissenschaftlich den historischen Disziplinen des Buch- und Bibliothekswesens frönten und keine revolutionären Tendenzen verfochten, hat er damit so Unrecht nicht! Diese Ambivalenz verfestigte sich, weil die Wissenschaftlichkeit ihres Berufs angesichts der zunehmenden Verwaltungstätigkeit für die überwiegende Zahl der wissenschaftlichen Bibliothekare und ihre Sprecher damals 19 20 21
Vgl. Buzas: Deutsche Bibliotheksgeschichte, S. 105. Dube: Geschichte der Bibliothekswissenschaft, S. 101. Dube, S. 103.
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von unerlässlicher Bedeutung war. Diese Wissenschaftlichkeit fundierte allerdings – um keinen falschen Eindruck zu vermitteln – nicht nur in der Beschäftigung des Bibliothekars mit der Bibliothekswissenschaft, sondern sie konnte sich ebenso im regen Kontakt mit seiner Fachwissenschaft als Philologe, Theologe, Jurist usw. manifestieren. Auch hier haben Bibliothekare Beachtliches geleistet, z. B. in der Anfertigung von Bibliographien, Verzeichnissen, Ausstellungskatalogen und gelehrten Abhandlungen. Leyh ging allerdings noch weiter und sprach dem Wissenschaftlichen Bibliothekar auf anderen Wissenschaftsgebieten einen »gelehrten Dilettantismus«22 zu. Adolf von Harnack suchte einen Ausweg aus der zunehmenden Geschichtsorientierung und lenkte 1920 den Blick auf das zeitgenössische Buchwesen, indem er die »Nationalökonomik des Geistes« als Mittelpunkt der Bibliothekswissenschaft definierte, die aber wohl dann eher eine Buchwissenschaft war. Darunter subsumierte er die Statistik des Buchwesens, die Bedingungen der Bücherproduktion, die Aufgaben des Verlegerberufes und des Buchhandels in Konnex mit den Anforderungen der Wissenschaft und Literatur.23 Sein Ansatz blieb ohne große Resonanz. Wenig später referiert Fritz Milkau Harnacks Ansatz, um dann doch als Objekte der wissenschaftlichen Durchdringung des Buchwesens 1. Schriftgeschichte, 2. Buchwesen und Buchgeschichte und 3. Bibliothekswesen und Bibliotheksgeschichte zu bestimmen.24 Es führt in unserem Rahmen zu weit, alle die verschiedenen und doch wenig unterschiedlichen Definitions- und Abgrenzungsversuche aufzuzeigen, weitgehend wird die Bibliothekswissenschaft als gemeinsames Dach von praktischer Bibliothekslehre und der historisch-philologischen Bibliotheks- und Buchgeschichte verstanden, wobei die Probleme des zeitgenössischen Buchs und des Buchhandels, die heute selbstverständlich wichtiger Teil der Buchwissenschaft sind, offenbar – da praxisrelevant – eher im Konnex der Bibliothekslehre gesehen wurden. Letztlich wurde keine befriedigende Lösung in der theoretischen Fragestellung gefunden, ob denn die verschiedenen Disziplinen Bibliothekslehre und historisch-philologische Fächer zu einer einheitlichen Bibliothekswissenschaft zusammenzuschließen seien. Leyh, einer der Protagonisten der deutschen Bibliothekare zwischen den Weltkriegen und auch noch danach, vermisste den kristallisierenden Kern, der das 22 23 24
Leyh: Die Bildung des Bibliothekars, S. 15–17 u. S. 94–106. Harnack: Die Professur für Bibliothekswissenschaft, S. 218–223. Milkau: Bibliothekswissenschaft als Universitätsfach, S. 27f.
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Ganze zusammenhielt,25 kam aber bei eigenen Definitionen auch nicht weiter. Im Grunde wurde die aus dem 19. Jahrhundert stammende Dominanz der Buchwissenschaften bei dem wissenschaftlichen Charakter des Fachs aber auch nach 1945 sowohl im Westen wie im Osten Deutschlands beibehalten, bis es dann unter ausländischem Einfluss zu neuartigen Definitionen der Bibliothekswissenschaft kam. Die Folgen für die Beschäftigung mit dem Buch waren deutlich, gleichgültig ob neue kommunikationswissenschaftliche Ansätze ins Spiel gebracht wurden26 oder ob ihr Zentrum eine neue Bibliotheksbetriebslehre sein sollte. 1969 fand ein weit beachtetes Kölner Kolloquium zur Bibliothekswissenschaft statt. Es wies der bislang wissenschaftlich dominierenden historischphilologischen Richtung eine Randlage zu: Natürlich bleibt auch künftig die Erforschung der Geschichte der Bibliotheken eine legitime Aufgabe der Bibliothekswissenschaft. Auf natürliche Weise verbindet sich damit die Erforschung der Geschichte des Buches. Die Methoden, die hier angewandt werden, sind die der historischen, kunsthistorischen und philologischen Wissenschaften. Allerdings werden die Buch- und Bibliotheksgeschichte, denen früher innerhalb der Bibliothekswissenschaft meist allein das Prädikat der Wissenschaftlichkeit zugebilligt wurde, künftig nicht mehr in das Zentrum der Bibliothekswissenschaft gehören.27
Paul Kaegbeins Ansatz von Bibliothekswissenschaft als spezieller Informationswissenschaft, den er dem Curriculum seines Kölner Lehrstuhls zugrundelegte, schloss freilich die historischen Disziplinen und die Publikationsformen in Vergangenheit und Gegenwart ein.28 Hier wird deutlich: die Dominanz des historischen Zeitalters, immer noch gespeist von der großen philologisch-historischen Tradition des 19. Jahrhunderts, klang jetzt aus. Ein neuer Ansatz zur Wissenschaftlichkeit wurde gesucht, der nicht mehr in der Beschäftigung mit dem Buch und der Geschichte, sondern in der Verwissenschaftlichung der bibliothekarischen Praxis lag, wenn man so will eine Rückkehr zu den Wurzeln. Namentlich geschah
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Leyh: Die Bildung des Bibliothekars, S. 89f.: »Denn der Bibliothekswissenschaft fehlt als Ganzes der kristallisierende Kern, aus dem sie sich entfaltet. […] Tatsächlich handelt es sich bei der Bibliothekswissenschaft wie sie sich besonders deutlich im ›Handbuch‹ abzeichnet, um ein Nebeneinander von einzelnen Disziplinen, die unter sich nicht inhaltlich, sondern nur durch eine mehr zufällige äussere Schale, den Buchkörper, verwandt sind, freilich aber auch […] von Sachkennern gepflegt werden müssen; ohne ihre Arbeit würde eine Kulturlücke entstehen, die als unwürdig gelten müsste.« Kluth: Grundriß der Bibliothekslehre, S. 42. Memorandum der Deutschen Bibliothekskonferenz als Ergebnis des Kolloquiums im Februar 1970 vorgelegt, in: Krieg: Bibliothekswissenschaft, S. 157–161. Vgl. Kaegbein: Bibliothekswissenschaft, mit Vorträgen und Berichten zum sog. Zweiten Kölner Kolloquium zur Bibliothekswissenschaft von 1985.
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eine Neubesinnung unter dem Einfluss neuer amerikanischer Bibliothekskonzeptionen.29 Das verstärkte sich, je mehr sich die Bibliotheken einem Innovationsdruck ihrer Geschäftsgänge ausgesetzt sahen und je mehr neben das traditionelle dominierende Buch neue Träger, zunächst die Mikroformen, dann aber mit aller Macht die elektronischen Medien traten. Ihre Beherrschung, ihre Handhabung, ihre Förderung nahm von nun an eine wachsende Rolle in den Bibliotheken ein: zunächst für Listen und Bandkataloge eingesetzt, dann flächendeckend für Kataloge, dann als gewaltiges Potenzial für die Volltexte. Das neue Ideal war die Informationsbibliothek.30 Neben die Technik trat anstelle der alten Bibliotheksverwaltung ein neu orientiertes Management als Inhalt des bibliothekarischen Berufs und seiner wissenschaftlichen Erforschung. Die historischen Fragestellungen, auch die in Bezug auf das Buch rückten unter den Anforderungen der Praxis auch im theoretischen Überbau der Bibliothekswissenschaft immer weiter an die Seite. Buchwissenschaftliche Fragestellungen betreffen nur noch einen kleinen Teil der Bibliothekare und zumal historisch-philologische Themen gehören nur noch am Rande zum Szenarium bibliothekarischer Tagungen. Wenn das Buch als Objekt bibliothekarischer Betätigung Resonanz findet, dann vor allem unter Management-Gesichtspunkten wie etwa dem drängenden Problem der Bestandserhaltung.
3 Die bibliothekarische Ausbildung des Höheren Bibliotheksdienstes und die Buchwissenschaft Wie vollzieht sich, vollzog sich vor diesem Hintergrund die Ausbildung zum Bibliothekar? Es ist klar, dass das Bestreben, den Bibliothekar als eigenen Beruf zu etablieren, gleichzeitig zu einer speziellen Ausbildung tendierte. Ebert plädierte für eine nachweisbare Qualifikation,31 indem in den Bibliotheken für den künftigen Nachfolger eine Supernumerarstelle eingerichtet wird: »So hätte der Bibliothekar die Freude, seinen künftigen Nachfolger selbst zu 29 30 31
Vgl. z. B. die Ideen von Shera: The foundations of education. Vgl. z. B. die Überlegungen zur Reform der Ausbildung des höheren Dienstes von 1973. »Der Besetzung der gemeinsten und unbedeutendsten Aemter des gewöhnlichen Lebens geht eine Prüfung oder doch die Forderung einer beglaubigten Nachweisung früher Vorbereitung voraus; nur das Amt eines Bibliothekars ist bisher ohne alle Prüfung vergeben – ja wohl oft geradezu als bequeme Sinecurastelle fügsamer Gesellschafter oder als milde Versorgung verunglückter Erziehungskünstler ertheilt worden.« (Ebert: Bildung des Bibliothekars, S. 58f.).
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bilden […].«32 Schrettinger hatte die Einrichtung von Bibliothekar-Pflanzschulen empfohlen33 und ebenso Edmund Zoller 1848 in seinem mehrere Folgen umfassenden Beitrag über Bibliothekswissenschaft;34 beide votierten für die Verbindung mit einer großen Bibliothek. Die Bayerische Staatsbibliothek votierte laut ihren Dienstordnungen von 1811 und 1827 für die einzustellenden Kandidaten für Kenntnisse in Sprachen, Handschriftenkunde, Diplomatik, altdeutscher Literatur und Wissenschaftskunde.35 Philipp Lichtenthaler schlug 1827 in einem Antrag eine Ausbildung in diesen Gebieten vor, die laut Bericht von 1833 auch teilweise stattfand.36 Im 19. Jahrhundert machte man sich da viele Gedanken. So Felix Rullmann, der die Ausbildung als ein dreijähriges Universitätsstudium mit Examen organisieren und »rein auf die Bibliothekswissenschaft bezügliche Vorlesungen«37 beschränken wollte. Er orientiert sich am Fächerkanon Eberts und fordert eine Entwicklungsgeschichte der Buchdruckerkunst und des Buchhandels neben der Bibliothekenkunde und der Bibliothekenlehre mit einem Praktikum in Katalogisieren und Klassifizieren, wobei das Vorbild der »École des chartes« mitgespielt haben mag. Sein Vorschlag einer Bibliothekswissenschaft als alleiniges Studienfach für die wissenschaftlichen Bibliothekare wurde allgemein ungnädig aufgenommen. Viele Kritiker vermissten ein unbedingt notwendiges Fachstudium als Grundlage und Emil Steffenhagen aus Kiel replizierte scharf und hob auf die Bedeutung der Praxis ab38, ihm sind die Bibliothekare in der Tendenz allgemein gefolgt. 1893 war ein Meilenstein auf dem Weg zum Wissenschaftlichen Berufsbibliothekar, insofern man nun endlich die schon von Ebert geforderte Zulassung und Prüfung festlegte, dagegen nicht die Ausbildung selbst.39 Zugelassen wurden die Absolventen eines humanistischen Gymnasiums mit dem Studienabschluß als Theologe, Jurist, Arzt und Philologe, allesamt mit Promotion (§ 2). Deutlich ist schon durch den Schulabschluß eine starke Orientierung auf die klassische Bildungstradition, wobei aller-
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Ebert, S. 61. Schrettinger: Handbuch der Bibliothek-Wissenschaft, S. 149: »b) bei der Haupt-Bibliothek des Landes errichte man eine Art Bibliothekar-Pflanzschule, woraus die übrigen Bibliotheken mit tüchtigen Subjecten versehen, und dadurch zugleich eine übereinstimmende Bearbeitung und Verwaltug (!) derselben erzielt werden kann.« Zoller: Die Bibliothekwissenschaft, S. 33–35, 129–136, 157–160, 268–271, 285–287. Dienst-Ordnung für die Königliche Central-Bibliothek. Ruf: Schmeller als Bibliothekar, S. 86; Leyh: Der Bibliothekar und sein Beruf, S. 8f. Rullmann: Die Bibliothekseinrichtungskunde, S. 22–24. Steffenhagen: Zur Reform unserer öffentlichen Bibliotheken, S. 458. Erlaß betreffend die Befähigung zum wissenschaftlichen Bibliotheksdienst (1894), S. 77–79.
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dings unter den Philologen auch die klassischen Naturwissenschaften der Biologen, Chemiker, Physiker und die Mathematiker zu verstehen waren. Natürlich wurden in der Prüfung die Kenntnisse der Bibliotheksverwaltungslehre erwartet, die die praktische Tätigkeit prägten. Stark war aber das Gewicht der buchwissenschaftlichen Fächer im Gesamtkanon der Prüfung, indem neben ausgedehnteren Sprachkenntnissen, Literärgeschichte, Bibliographie und Bibliothekslehre eine »allgemeine Bekanntschaft mit der Geschichte des Schrift- und Buchwesens erwartet wurde. Es gereicht dem Kandidaten zur Empfehlung, wenn er sich specielle Kenntnisse auf dem Gebiet der Paläographie oder der Inkunabelkunde erworben hat« (§ 7). Wie konnten die Kenntnisse erworben werden? Das Volontariat dauerte zwei Jahre, das erste Jahr an einer Universitätsbibliothek, das zweite konnte [!] an der Universität Göttingen absolviert werden, um sich einem zweisemestrigen Studium am dort 1886 eingerichteten Lehrstuhl für Bibliothekshilfswissenschaften zu widmen, der vom Direktor der Universitätsbibliothek Dziatzko bekleidet wurde. Er, ein Schüler Friedrich Ritschls in Bonn, hatte sich in klassischer Philologie habilitiert und sich dann als Bibliothekspraktiker in Breslau und Göttingen einen Namen gemacht (u. a. als Wegbereiter der sog. Preußischen Instruktionen). Seine Lehrtätigkeit richtete er auf einen viersemestrigen Kursus von 2-3stündigen Vorlesungen ein, der sich mit der Zeit so ausgestaltete, dass er Bibliotheksverwaltungslehre (oder, wie er es später nannte, Geschichte und Entwicklung des modernen Bibliothekswesens), Schrift- und Buchwesen des Altertums und in zwei Abteilungen Geschichte der Buchdruckerkunst und des Buchhandels (bis zur Reformation und seit der Reformation) umfasste. Ausser der Reihe standen Vorlesungen über Handschriftenkunde der lateinischen Schriftsteller und über Autor- und Verlagsrecht in der Geschichte des Buchhandels. Nebenher liefen fast regelmäßig bibliographische Uebungen, in denen er über bestimmte Gegenstände referieren oder praktische Aufgaben lösen liess. Eine ganze Anzahl von Beiträgen zu seiner ›Sammlung bibliothekswissenschaftlicher Abhandlungen‹ verdankt diesen anregenden Uebungen ihre Entstehung. In den letzten Jahren galten sie hauptsächlich der Beschreibung der Göttinger Inkunabeln und der Feststellung der Typen und der Druckerpraxis des 15. Jahrhunderts.40
Sein Nachfolger Pietschmann hat es ähnlich gehandhabt. Wer aber das zweite Volontariatsjahr nicht in Göttingen absolvierte, der war in seiner Bibliothek auf sich selbst gestellt.41 Auf der Vierten Bi40 41
Schwenke: Karl Dziatzko, S. 135. Milkau rügte die geringe Teilnahme an der Göttinger Ausbildung, da kaum die Hälfte der preußischen Volontäre diese nutzte. Aber es gab auch Kritik: »Die von Dziatzko, dann von Richard Pietschmann, seinem gelehrten Nachfolger, im Nebenamt wahrgenommenen Vorlesungen vermitteln zudem statt einer systematischen Unterweisung nicht viel mehr als Ausschnitte aus
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bliothekarsversammlung in Halle wurde die bibliothekarische Ausbildung thematisiert und Paul Schwenke konstatierte, da »[…] hängt es ganz vom Zufall ab, ob sie in die Hände von Vorgesetzten kommen, die Lehrtalent und zugleich Zeit haben sich um die Volontäre zu kümmern. Mehr oder weniger sind diese doch auf Selbstbelehrung angewiesen, und so gute Seiten diese auch haben mag, lückenhaft wird sie immer bleiben.«42 Franz Schnorr von Carolsfeld, der Direktor der Münchner Hof- und Staatsbibliothek, skizzierte beim selben Treffen das bayerische Gegenmodell. Die zweijährige Ausbildung soll an der Hauptbibliothek des Landes erfolgen. »Eine Professur für Bibliothekswissenschaft genügt unserem Bedürfnisse nicht. Die Ausbildung muß in engstem Zusammenhang mit der Praxis geschehen, in den Räumen einer großen Bibliothek, die das nötige Material bietet, den Unterricht zu beleben und zu illustrieren«.43 Das erfolgte durch mehrere in der Praxis stehende Beamte unter Einbeziehung von Universitätsdozenten. Der Fächerkanon zeigt wie in Preußen eine starke Dominanz der historisch-philologischen, also der buchwissenschaftlichen Fächer, unbeschadet des in München betonten stärkeren Praxisbezugs gegenüber dem bibliothekswissenschaftlichen Ansatz in Berlin: – – – – – – – – – – – –
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Geschichte des Buchs Geschichte der Buchdruckerkunst Geschichte des Buchhandels Moderne Herstellung des Buchs Moderner Buchhandel Recht des Buchs Bibliothekswesen mit Bibliographie Bibliothekswesen mit Landesbibliothek Bibliothekswesen anderer Bibliotheken Bibliotheksbauten und -einrichtung Handschriftenkunde Sprachwissenschaft44 einem weit gefassten Fächerkanon.« Schochow: Der Berufsbibliothekar, S. 81 mit Verweisung auf den Diskussionsbeitrag von Paalzow auf dem 7. Bibliothekartag in Berlin, wiedergegeben in ZfB 23 (1906), S. 303. Schochow weist auch ebd. darauf hin, dass die bayerische Ausbildung in Hauskursen eine breitere Auffächerung besaß und systematischer verlief als in Göttingen. Die Vorbildung zum bibliothekarischen Beruf, S. 26; Schnorr von Carolsfeld: Die Münchener Bibliothekskurse, S. 293–299. Die Vorbildung zum bibliothekarischen Beruf, S. 17. Die Vorbildung zum bibliothekarischen Beruf, S. 17f.
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So wird es auch bei der Neuordnung der Zulassung zur Bibliothekslaufbahn in Bayern 1905 festgeschrieben.45 Der Vorbereitungsdienst dauert nur anderthalb statt in Preußen zwei Jahre, davon war die Hälfte an der Bayerische Staatsbibliothek zuzubringen, um dort die genannten Kurse zu besuchen. In § 11 werden die genannten Fächer aufgeführt: Buchdruckerkunst und Buchhandel, Handschriftenwesen, Bibliothekswesen (Bibliotheksbauten, Einrichtung und Verwaltung der Bibliotheken, Bibliotheksgeschichte), Bibliographie und das korrespondiert in der Prüfung § 15, in dem als Gegenstände der Prüfung Buchdruckerkunst und Buchhandel, Handschriftenwesen, Bibliothekswesen, Bibliographie und Sprachenkunde, soweit sie zum bibliographischen Verständnis der Bücher erforderlich ist, genannt werden. Was verstand man unter den buchwissenschaftlichen Fächern? Es waren sehr unterschiedliche Darbietungen und Abhandlungen, meist positivistisch geprägte Aufarbeitungen der Buch- und Bibliotheksgeschichte, ein Sammeln der Fakten und Quellen sowie deren Bearbeitung hinsichtlich des Lebens und Schaffens einzelner Offizinen und Buchhändler sowie die Erarbeitung der Geschichte der Bibliotheken. Typographische Studien spielten eine große Rolle. Sie legten vielfach das Fundament der Forschung bis heute. Diese deutliche historisch-philologische Ausrichtung ist aber damals in dieser Absolutheit bei vielen Kollegen nicht mehr unbestritten, das zeigt die Diskussion um das Selbstverständnis der Bibliothekare, wie sie sich im Vorfeld der Gründung des Vereins Deutscher Bibliothekare manifestiert, als z. B. Dziatzko zäh gegen eine Verselbstständigung der Bibliothekare in einem eigenen Verein und für die weitere Teilnahme am Philologenverband stritt, während eine wachsende Majorität 1900 einen eigenen Verband durchsetzte, da man sich nicht mehr als Philologen fühlte.46 Ein Protagonist war Wilhelm Erman, von Hause aus Geograph. Diesem stärkeren Gewicht der nichtphilologischen Fächer kam dann die revidierte preußische Prüfungsordnung von 1912 entgegen.47 Wie bereits in München 1905 werden jetzt Absolventen der Realgymnasien oder der Oberrealschulen zugelassen, ebenso dann zusätzlich zu dem 1893 bestimmten Kreis die Absolventen und Doktoren der Technischen Hochschulen. Man sieht, dass man den Beruf den neu sich etablierenden Stu45 46 47
Schnorr von Carolsfeld: Neuordnung der Zulassung zur Bibliothekslaufbahn in Bayern, S. 318–323. Schmitz: Das deutsche Bibliothekswesen, S. 17–40. Erlaß betreffend die Befähigung zum wissenschaftlichen Bibliotheksdienst (1912), S. 75–78.
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dienrichtungen öffnete, die man ja auch zur Führung entsprechender Bibliotheken brauchte. Zwar folgt die Ordnung von 1912 im Aufbau, ja im Wortlaut noch weitgehend derjenigen von 1893, aber gerade bei der Darstellung der Prüfungsfächer in § 7 wird in Punkt 1 die Bibliotheksverwaltungslehre hervorgehoben und differenzierter ausgeführt.48 Bibliographie und Literärgeschichte mit dem enzyklopädischen Element und den Hauptmomenten der Wissenschaftsgeschichte stehen in alter Tradition (§ 7.2). Schrift- und Buchwesen haben noch eine starke Stellung (hier § 7.3 stärker differenziert als 1893), aber Paläographie und Inkunabelkunde werden nicht mehr erwähnt. Stattdessen heißt es da: Es wird verlangt Uebersicht über den Entwicklungsgang und die geschichtlichen Zusammenhänge des Schrift-, Buch- und Bibliothekswesens. Hierzu gehören auch die Kenntnis der wichtigsten Tatsachen des Handschriftenwesens und der älteren Druckergeschichte; für diese können jedoch bei einzelnen Bewerbern besondere für den wissenschaftlichen Bibliotheksdienst wertvolle Fachkenntnisse kompensierend eintreten – z.B. außergewöhnliche Sprachkenntnisse, Kenntnisse in den Exakten und den Naturwissenschaften oder der Technik. (§ 7.3)
Das ist ein Tribut an die Absolventen, die zur Pflege und Führung naturwissenschaftlicher und technischer Bibliotheken oder Bestände in den Bibliotheksdienst eintraten. Es ist eine Paradoxon, dass man zwar dem Bedarf der Bibliotheken nach nicht-philologischen Studiengängen in der Einstellungsvoraussetzung Rechnung trug, aber in der Ausbildung nach wie vor die philologisch-historischen Fächer dominierten. Allerdings bildeten die Philologen zahlenmäßig mit ca. 70 % eine erdrückende Übermacht.49 Nicht unwichtig ist 1912 die verpflichtende Festschreibung der theoretischen Ausbildung im zweiten Jahr, die entweder in Göttingen oder jetzt in Hauskursen an der Kgl. Bibliothek Berlin abgelegt werden muß (§ 5).50 Die Zulassungsbestimmungen in den Ordnungen von 1928 und 1938, die nun neben Zulassung und Prüfung auch die Inhalte der Ausbildung 48
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Kenntnisse sind hier zu erwerben »im Gebiet des Verwaltungswesens und der technischen Einrichtungen der Bibliotheken des In- und Auslandes, sowie der Organisation des Buchhandels und der Technik des Bucheinbandes«. Also auch hier spielt das Buch noch eine wesentliche Rolle, das moderne Buch wird aber offensichtlich der Bibliotheksverwaltungslehre zugeordnet. So Buzas: Deutsche Bibliotheksgeschichte, S. 114f.: Liste der Studienfächer 1902–1942. 1919 wurde eine eigene sächsische Prüfungsordnung erlassen (vgl. Sächsische Bekanntmachung über die Prüfungen für den höheren Dienst an wissenschaftlichen Bibliotheken), die aber inhaltlich nichts Neues brachte, ebenso wie die später erlassenen Vorschriften für die südwestdeutschen Länder; vgl. Leyh: Die Neuregelung des Höheren Bibliotheksdienstes, S. 564–567. Württemberg verzichtet auf eine eigene theoretische Ausbildung und schickt seine Absolventen im zweiten Jahr nach Preußen, Bayern oder Sachsen.
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selbst regeln (1912 war nur die Tatsache des begleitenden Unterrichts festgeschrieben worden, Inhalte tauchten nur bei der Prüfung auf, von jetzt an ist es umgekehrt), verstärken diesen Trend. 1928 ist der Kreis der Studienabschlüsse nochmals gegenüber 1912 um die Absolventen der Wirtschaftsund Sozialwissenschaftlichen Fakultät und der Landwirtschaft erweitert worden. Im ersten Jahr, dem Praxisjahr, an einer Universitäts- oder Technischen Hochschul-Bibliothek abzuleisten, soll der Volontär als Ergänzung Lehrveranstaltungen an der Universität oder Technischen Hochschule besuchen, »wenn sie seinen Beruf berühren, wozu, von den bibliothekswissenschaftlichen Fächern abgesehen, namentlich auch Einführungen in das Verständnis von Wirtschaft und Verwaltung sowie Übungen im Gebrauch der modernen Fremdsprachen gehören, über die er sich bei der Fachprüfung auszuweisen haben wird« (§ 5.2). Aber in der theoretischen Ausbildung des zweiten Jahres, soweit sie an der Staatsbibliothek Berlin stattfinden sollte, folgte man noch dem alten Schema und der Lehrstoff am 1928 von Milkau an der Berliner Universität eingerichteten »Bibliothekswissenschaftlichen Institut« ist nahezu ausschließlich philologisch-historisch orientiert.51 Die theoretische Durchdringung der Bibliothekspraxis in der Bibliothekslehre wurde dagegen einer großen Zahl sog. verpflichteter Hauskurse in der Staatsbibliothek übertragen, die durch die DienststellenVorsteher abgehalten wurden und deren stark differenzierte Auflistung ihr wachsendes Gewicht belegt (§ 5 Abs. 6), wenn auch Milkau die Bibliothekslehre offensichtlich nicht als wissenschaftstauglich galt. Diese Themen waren andererseits durchaus prüfungsrelevant: »Die mündliche Prüfung erstreckt sich auf sämtliche Gebiete, die während der zweijährigen Ausbildungszeit Gegenstand praktischer oder theoretischer Unterweisung gewesen sind.« (§ 8 Abs. 6). Also gab es wieder wissenschaftstaugliche philologisch-historische Fächer innerhalb des universitären Instituts für Bibliothekswissenschaft und die theoretisch vertiefte praxisorientierte Bibliothekslehre in einer Vielzahl differenzierter Hauskurse. Die alte Zweiteilung. Beides war aber prüfungsrelevant.
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Ordnung für die Annahme, Ausbildung und Prüfung, § 5. Die Auflistung der Unterrichtsgegenstände für eine zweisemestrige Ausbildung am Institut umfassen: »Allgemeine Sprachgeschichte – Entwicklungsgeschichte der Schrift – Geschichte des Bildungswesens – Organisation der Wissenschaft – Lateinische Paläographie – Handschriftenkunde und Überlieferungsgeschichte – Geschichte der Buchmalerei – Geschichte und Technik der Buchillustration – Geschichte des Buchdrucks – Geschichte des Buchhandels – Bibliotheksrecht – Geschichte und Theorie der Bibliographie – Geschichte und Technik des Einbands – Geschichte der Bibliotheken.« (S. 696f.); eine Übersicht bei Milkau: Bibliothekswissenschaft als Universitätsfach.
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Die folgende Ausbildungs- und Prüfungsordnung von 1938 galt erstmals nicht nur für Preußen, sondern für das ganze Reich.52 Neu ist die Bestimmung, am Ende des ersten Vorbereitungsjahres einen Monat an der Deutschen Bücherei in Leipzig zu verbringen, um dort u. a. die Einrichtungen des Deutschen Buchhandels kennenzulernen (§ 8). Das zweite Ausbildungsjahr an den beiden Staatsbibliotheken in Berlin oder München diente der Ergänzung der praktischen Ausbildung und der theoretischen Unterweisung, daher sollte neben der praktischen Ausbildung, die höchstens die Hälfte der üblichen Arbeitszeit betraf, durch Vorträge und Übungen eine Vertiefung stattfinden und zwar in den Gebieten »Nationalsozialistisches Schrifttum, Bibliotheksverwaltung, Bibliotheksrecht, Bibliographie, Erwerbung, Benutzung, Katalogisierung, Geschichte der Bibliotheken, Buchkunde, Handschriftenkunde und Schriftgeschichte« (§ 9). Das Milkau’sche Institut für Bibliothekswissenschaft mit seiner buchwissenschaftlichen Ausrichtung gab es seit 1934 nicht mehr; die dort gehaltenen Themata und die Themata aus den damals parallelen Hauskursen an der Berliner Staatsbibliothek werden jetzt in Hauskursen zusammengefasst. Gegenüber früher, aber schon 1912 und 1928 angelegt, war die Berücksichtigung der Bibliothekslehre mit ihren Gebieten stärker. Die Buchwissenschaft ist noch sehr gut vertreten, dominierte aber nicht mehr so sehr die Ausbildung und die Prüfung. Die Erfordernisse der Praxis haben hier kräftig durchgeschlagen. Diese Prüfungsordnung galt in der Bundesrepublik Deutschland, befreit von den NS-Ingredienzen, zunächst auch nach 1945. Ausbildungsstätten waren das Bibliothekar-Lehrinstitut in Köln und die Institute in München, Frankfurt und vorübergehend in Hamburg. Ich selbst bin am BibliothekarLehrinstitut Köln in den Jahren 1975 bis 1977 noch nach dieser Ordnung ausgebildet worden. Der abschließenden Assessorenprüfung lagen neben einer Klausur sechs Prüfungsgebiete für die mündliche Prüfung zugrunde, jeweils 10 Minuten zu prüfen: Bibliothekarische Kooperation, Bibliotheksorganisation und -technik, Literaturerschließung, dann Bibliotheksgeschichte, Buchkunde und Buchhandel und Bibliographie.53 Die bibliothekarische Praxis und die Bibliothekslehre haben sich damit stark niedergeschlagen, aber die Buchwissenschaft mit einem Sechstel der Zeit, zusammen mit der Bibliotheksgeschichte mit einem Drittel der 52 53
Ausbildungs- und Prüfungsordnung, S. 612–621. Ausbildungsbibliotheken waren für das erste Jahr die Universitätsbibliotheken, die Landesbibliotheken in Dresden und Stuttgart und die Deutsche Bücherei Leipzig, für das zweite Jahr die Staatsbibliotheken in Berlin und München. Zweiblättrige Übersicht »Prüfung für den höheren Dienst an wiss. Bibliotheken«.
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Zeit sich gut behauptet. Als verpflichtende Hausarbeiten sind in der Tradition der Berliner Ausbildung eine Vielzahl historisch orientierter Themen zum Buch- und Bibliothekswesen und zum modernen Buchwesen vergeben worden (Arbeiten aus dem Bibliothekar-Lehrinstitut Köln).54 Parallel dazu gab es noch ein gutes Angebot buchwissenschaftlicher und bibliotheksgeschichtlicher Lehrveranstaltungen.55 Auch in der SBZ/DDR setzte sich nach 1945 zunächst die starke Betonung der Buchwissenschaft fort, wenn auch unter dem neuen marxistischen Vorzeichen der Bibliothekslehre eifrig Tribut gezollt und das ganze Bibliothekswesen unter politisch-gesellschaftlichen Auspizien neu gesehen wurde. Zahlreiche ausgezeichnete Lehrbücher wie Horst Kunzes Bibliothekslehre oder Fritz Funkes Buchkunde und andere dienten dem theoretischen Unterricht, der sich bald von den überkommenen Strukturen entfernte und im Berliner Institut für Bibliothekswissenschaft als Universitätsfach wieder eine Heimstatt fand.56
4 Und heute? Die Bibliotheken haben sich in den letzten zwanzig Jahren grundlegend verändert. Der Einzug verstärkten wirtschaftlichen Denkens und vor allem der elektronischen Datenverarbeitung in nahezu allen Arbeitsgebieten haben die Bibliotheken tief geprägt. Die Beschäftigung mit der Informationstechnik gehört heute zum notwendigen Standard im bibliothekarischen Alltag und hat die Ausbildung grundlegend umstrukturiert. Das ging eindeutig auf Kosten der buchwissenschaftlichen Themen (historischen wie modernen bzw. zeitgenössischen), die aus dem Lehrkanon weitgehend herausgedrückt wurden, die in den »Vorschlägen für die künftige Ausbildung« von 1973 mit 80 Stunden noch recht gut vertreten waren.57 Heute führen in der FH Köln z. B. Bibliotheksgeschichte und Buchgeschichte mit zwei einstündigen Kursen nur noch eine Randexistenz, konsequenterweise bilden sie bei den sog. MALIS (Master of Library and Information Science)-Thesen nur noch eine exotische Minderheit. In den anderen Ausbildungsstätten, die den wissenschaftlichen Bibliotheksdienst ausbil54 55 56 57
Konze: Verzeichnis der Kölner Hausarbeiten. Vgl. Bibliothekar-Lehrinstitut Köln. Vorlesungsverzeichnis WS 1976/77; dasselbe SS 1977. Vgl. die Mehrjahresberichte des Instituts für Bibliothekswissenschaft in Berlin. Kunze: Bibliothekar und Bibliophilie, S. 284–297; Corsten: Das Ältere Buch in der Ausbildung, S. 123–131. Ein unermüdlicher Mahner für die Belange des alten und kostbaren Buches ist auch Paul Raabe in vielen Beiträgen, vgl. z. B.: Raabe: Das alte und kostbare Buch, S. 267–286.
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den, ist es nicht so stringent, liegt aber im gleichen Trend. Akzeptanz aber finden Themen aus dem Bereich des Buchwesens, wenn sie dem allgemeinen Trend folgen und einen Praxisbezug enthalten, d. h. weniger historisch als managementorientiert sind. Wenn das Buch behandelt wird, dann weniger unter traditionellen oder neueren buchwissenschaftlichen Fragestellungen als unter dem Aspekt der Verwaltung: Bestandspflege, Bestandserhaltung sind hier zentrale Themen in den Rare-Book-Departments. Die alte Schreckensvision eines Milkau oder Leyh oder auch Harnacks, dass der Wissenschaftliche Bibliothekar sich in reiner Verwaltungsarbeit erschöpfen könnte, schreckt heute offenbar niemand oder fast niemand mehr58: im Gegenteil versteht man sich häufig bewusst so. Wissenschaftliche Betätigung, es sei denn praxisorientiert im Sinne der Bibliothekslehre, gilt als entbehrlich. Ich ziehe das Fazit in einigen Thesen: 1. In der Theorie der Bibliothekswissenschaft gibt es das Problem einer ganzheitlichen Konstruktion. Der Umfang wird unterschiedlich definiert. Am Anfang stand die Bibliothekslehre im Mittelpunkt, mit ihr wurden die buchwissenschaftlichen Disziplinen zu einer Bibliothekswissenschaft verbunden. Die Herausstellung einer Bibliothekswissenschaft wurde als unerlässlich für die Professionalisierung des Berufsstandes und der Abtrennung vom reinen Gelehrten empfunden. 2. Es gab auch die Tendenz, die Bibliothekslehre in den Mittelpunkt zu stellen. 3. Die historisch-philologischen Disziplinen sicherten am ehesten den Anspruch des Bibliothekars als Wissenschaftler, die Praxis galt häufig eher als ›ars‹. 4. Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts gab es meist unter amerikanischem Einfluß, aber auch angesichts der sich wandelnden Aufgaben Neudefinitionen der Bibliothekswissenschaft, die der Buchwissenschaft und allen historischen Aspekten eine Randlage zuwiesen. 5. In der Ausbildung spielten seit dem 19. Jahrhundert aus den genannten Gründen die historisch-philologischen Disziplinen eine bedeutende Rolle. Allerdings wuchs die sorgfältige, auch theoretisch fundierte Einführung in die Bibliothekslehre, je mehr über die Prüfungsord-
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Eine kräftige Stimme gegen den bibliothekarischen Zeitgeist in dieser Hinsicht ist Uwe Jochum (Konstanz) in vielen Beiträgen, z. B. Jochum: Die Situation des höheren Dienstes, S. 241–247; Jochum/Oeling: Die das falsche Steckenpferd, S. 857–865.
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nung hinaus die begleitende theoretische und unterfassende Ausbildung organisiert wurde. 6. In den letzten Jahren gewinnen dagegen die Ausbildungsinhalte vor allem aus dem Umkreis der Informationstechnik und des Managements die Oberhand, die buchwissenschaftlichen Disziplinen wandern an den Rand oder verschwinden ganz. Unter dem neuen Ideal des Bibliothekars als Manager haben am ehesten praxisrelevante Themen wie Bestandserhaltung u. ä. eine Chance.
5 Literaturverzeichnis Ausbildungs- und Prüfungsordnung für den wissenschaftlichen Bibliotheksdienst. In: ZfB 55 (1938), S. 612–621. Bornhöft, Margrit: Bibliothekswissenschaft in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme. Aachen: Wissenschaftsverlag Mainz 1999. Budik, Peter Alcantara: Vorbereitungsstudien für den angehenden Bibliothekar. Wien: Gerold 1834. Buzas, Ladislaus: Deutsche Bibliotheksgeschichte der neuesten Zeit (1800–1945). Wiesbaden: Reichert 1978. Corsten, Severin: Das Ältere Buch in der Ausbildung des Höheren Dienstes. Ein Bericht. In: Bibliothekarische Ausbildung in Theorie und Praxis. Beiträge zum 25jährigen Bestehen des Bibliothekar-Lehrinstituts des Landes Nordrhein-Westfalen am 4. Februar 1974. Hrsg. v. Rudolf Jung u. Ludwig Sickmann. Köln: Lang 1975 (Arbeiten aus dem BLI. 45), S. 123–131. Deutsch, Joseph: Zangemeisters Berufung als Oberbibliothekar an die Universitätsbibliothek Heidelberg 1873. In: Neue Heidelberger Jahrbücher N. F. 1950, S. 19–44. Die Vorbildung zum bibliothekarischen Beruf. In: ZfB 21 (1904), S. 6–26. Dienst-Ordnung für die Königliche Central-Bibliothek zu München. München 1811. Dube, Werner: Geschichte der Bibliothekswissenschaft: T. 1: Lehrbrief. 4., unver. Aufl. Dresden: Zentralstelle für das Hochschulfernstudium 1987 (Lehrmaterial für das Hochschulfernstudium). Dziatzko, Karl: Vorrede. In: Sammlung Bibliothekswissenschaftlicher Arbeiten 10 (1896), S. 1. Ebert, Friedrich Adolf: Bildung des Bibliothekars. Faksimile-Ausgabe der 2. umgearb. Ausg. v. 1820. Mit einem Nachwort v. Horst Kunze. Leipzig: Harrassowitz 1958. Eichler, Ferdinand: Begriff und Aufgabe der Bibliothekswissenschaft. Leipzig: Harrassowitz 1896. Erlaß betreffend die Befähigung zum wissenschaftlichen Bibliotheksdienst bei der Königlichen Bibliothek zu Berlin und den Königlichen Universitäts-Bibliotheken. In: ZfB 11 (1894), S. 77–79. Erlaß betreffend die Befähigung zum wissenschaftlichen Bibliotheksdienst bei der Königlichen Bibliothek zu Berlin und den Königlichen Universitäts-Bibliotheken. In: ZfB 29 (1912), S. 75–78. Franke, Johannes: Ein Gutachten Johann Matthias Gesners über die Anforderungen des bibliothekarischen Berufs. In: Sammlung bibliothekswissenschaftlicher Arbeiten 8 (1895), S. 98–104.
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Das Lehrprogramm Buchwissenschaften an der Universität St. Gallen 1 Vorgeschichte Ernste Beachtung hingegen verdient sein Bemühen um die Beschaffung von Büchern. Er sammelte viele, schön geschriebene Exemplare, und der Gebrauch, den er von ihnen machte, war noch anerkennenswerter als die Erwerbung, indem er nämlich die Bibliothek für alle offen hielt und in die sie umgebenden Wandelhallen und Arbeitsräume den Griechen ungehinderten Zutritt gestattete, welche dorthin wie in eine Freistatt der Musen kamen und den Tag miteinander verbrachten, den anderen Geschäften gern entronnen.1
Mit diesen Worten hebt Plutarch in seinen ab 96 n. Chr. entstandenen Vitae parallelae, den »Parallelen Lebensbeschreibungen«, das außergewöhnliche und verdienstvolle Engagement von Lucullus für die öffentliche Nutzung seiner Bücher hervor. Plutarch wollte mit der Erwähnung der bibliophilen Vorlieben und der Belesenheit sowie der bereitwillig zugänglich gemachten Büchersammlung des römischen Feldherrn und Konsuls dessen geistigen Rang und kulturelle Verantwortung als herausragende Persönlichkeitsmerkmale und als gesellschaftliche Meriten betonen. Mit Bezug auf dieses antike Beispiel hingebungsvoller Pflege der Buchkultur können Veranlassung und Voraussetzung des Lehrprogramms Buchwissenschaften an der Universität St. Gallen ein wenig idealisiert veranschaulicht werden. Seit 1948 hatte der Volkswirt und Rechtsanwalt Ludwig Delp das Deutsche Bucharchiv München nach dem Vorbild des im Zweiten Weltkrieg völlig zerstörten Leipziger Archivs des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels aufgebaut und geleitet. Eine gemeinnützige Stiftung verfolgte seit ihrer Gründung den Ausbau der Institution als Informations- und Dokumentationseinrichtung. Während rund 60 Jahren sammelte, erschloss und stellte die Institution Bücher, Zeitschriften und audio-visuelle 1
Plutarch: Kimon und Lucullus. In: Große Griechen und Römer. Eingel. u. übers. v. Konrat Ziegler. Bd. 2. Zürich/Stuttgart: Artemis 1955 (Die Bibliothek der Alten Welt. Griechische Reihe), S. 96.
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Medien zum Buch- und Zeitschriftenwesen zur wissenschaftlichen Nutzung bereit. Diesen Anspruch dokumentiere die Zusatzbezeichnung des Archivs als »Institut für Buchwissenschaften«. Unter Delps Obhut war diese Spezialbibliothek aber stets auch Bildungsstätte sowie Begegnungsort – seit dem Aufkommen des Internets ebenfalls virtueller – für alle, die sich mit dem Buch befassen und für die Buchkultur ein gesellschaftliches Anliegen ist. Angeregt von einer Bestandsaufnahme Claudia Englers der Buchforschung in der Schweiz2 nahm Delp Kontakt mit Wissenschaftlern der Universität St. Gallen mit dem Ziel auf, die Buchwissenschaften dort anzusiedeln. Damit sollte dem schon lange gehegten Wunsch nach einer engen Anbindung des Deutschen Bucharchivs an universitäre buchwissenschaftliche Forschung und Lehre entsprochen werden. Eine informelle Umfrage (im Zuge der Neukonzeption der Lehre der Universität St. Gallen) bei vornehmlich schweizerischen Fachverbänden, Berufsorganisationen, Medienunternehmen und beim Management der Buchbranche zeigte, dass Bedarf an Nachwuchskräften mit einer buchwissenschaftlichen Ausbildung mit ökonomisch-juristischer Ausrichtung besteht. Aus den Experteninterviews ging ebenfalls hervor, dass derart fachspezifisch zusätzlich ausgebildete Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen mit einem nach generalistischem Bildungskonzept gestalteten Studium, wie es die Universität St. Gallen bietet, besonders gefragt sind. Für diese Zielgruppe schien deshalb eine buchwissenschaftliche Ausbildung als akademische Zusatzqualifikation eine realistische Marktchance zu haben. Der Leistungsausweis und die internationale Reputation der Universität St. Gallen ließen eine erfolgreiche akademische Positionierung und eine positive Akzeptanz einer derartigen Zusatzausbildung erwarten. Mit der Stiftsbibliothek und der Vadiana, der heutigen Kantonsbibliothek, verfügt St. Gallen über zwei traditionsreiche und bedeutende Institutionen der Buchkultur und des Bibliothekswesens.3 Die in St. Gallen beheimatete Buchgestaltung4 genießt international hohes Ansehen. Zu Unternehmen, Institutionen und Organisationen der Buchwirtschaft und der Medienbranchen bestehen nicht zuletzt dank der Universität und ihrem Institut für Medien- und Kommunikationsmanagement (MCM) sehr gute Verbindungen, die der externen Vernetzung der zu schaffenden Einrichtung mit Wissenschaft und Praxis und seiner Einbindung in For2 3 4
Engler: Buchwesen und Wissenschaft in der Schweiz, S. 8f. Vgl. Kalkofen: Literarisches Leben, S. 759–861. Vgl. Hochuli/Kinross: Bücher machen, S. 117–162 sowie die beiden Titel Blume: Jost Hochuli; Früh: Buchgestaltung in St. Gallen.
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schungs- und Lehrkooperationen sowie Partnerschaften mit Fachorganisationen, Fachinstitutionen und Unternehmen dienlich sein können. Darüber hinaus bieten Universität und Institut optimale wissenschaftliche Voraussetzungen, um das Buch als Medium, als Rechtsobjekt sowie als Wirtschafts- und Kulturgut interdisziplinär zu behandeln. Vor diesem Hintergrund kamen nach erfolgreichen Verhandlungen Kantonsregierung und Universität St. Gallen einerseits und das Deutsche Bucharchiv München andererseits überein, die Archivbestände von München nach St. Gallen zu überführen. Verbunden damit war die Gründung des interdisziplinären »Kompetenzbereich Buchwissenschaften« am MCM, wo sich Fragestellungen der Praxis und wissenschaftliche Interessen von Betriebswirtschaft und Volkswirtschaft, Rechtswissenschaft sowie Kulturwissenschaften begegnen. Außerdem wurde formell beschlossen, die Buchwissenschaften in die universitäre Lehre aufzunehmen. Im Juni 2006 riefen die genannten drei Vertragspartner die gemeinsame Stiftung »St. Galler Zentrum für das Buch« ins Leben. Der Stiftungszweck ist die Förderung buchwissenschaftlicher Forschung und Lehre. Konkret bedeutete das die Verpflichtung zur Entwicklung eines buchwissenschaftlichen Studiengangs als Ergänzung der bestehenden Studiengänge der Universität St. Gallen. Im Herbst 2006 waren der Umzug der Archivbestände von München nach St. Gallen und deren Unterbringung als Spezialabteilung »Zentrum für das Buch« (ZeBu)5 in der Kantonsbibliothek abgeschlossen. Seither steht dem Wissenschaftsbetrieb in St. Gallen eine einzigartige Sammlung für die interdisziplinäre buchwissenschaftliche Forschung und Lehre zur Verfügung. Unter diesen Voraussetzungen und auf dieser Grundlage konnte die Konzeption des vertraglich vereinbarten Studiengangs beginnen. Aufgrund des Stiftungsvertrags wurde dieser am Lehrstuhl Medien und Kultur6 des MCM-Instituts angesiedelt.
2 Das Studiensystem der Universität St. Gallen Um Konzept und Curriculum sowie die Implementierung des buchwissenschaftlichen Studiengangs darstellen und in seiner Spezifität verständlich machen zu können, ist eine knappe Beschreibung des Studiensystems im Hinblick auf die Buchwissenschaften erforderlich. Die Universität 5 6
Ca. 30 000 Monographien, ca. 170 laufende und 300 abgeschlossene Zeitschriften, ca. 6 000 Einheiten ›grauer Literatur‹, ca. 40 000 Zeitungsausschnitte. Derzeitiger Lehrstuhlinhaber ist der Verfasser dieses Beitrags.
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St. Gallen hat als international eingeführtes Markenzeichen die Abkürzung HSG für »Hochschule für Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften St. Gallen« als offiziellen Zusatz ihrer Bezeichnung beibehalten. Sie verwendet diesen in ihren Medien und Publikationen, und auch in der Öffentlichkeit wird die Universität St. Gallen gemeinhin HSG genannt. Deshalb wird im Folgenden diese Abkürzung verwendet, wenn von der Universität St. Gallen die Rede ist. Die HSG ist keine sogenannte Volluniversität, sondern sie konzentriert Schwerpunktfächer in vier Abteilungen (Fakultäten). Es sind die Betriebswirtschaftliche, Volkswirtschaftliche, Rechtswissenschaftliche und Kulturwissenschaftliche Abteilung. Traditionell sind an der HSG Fachstudium und Bildungskonzept ganzheitlich ausgerichtet. Die integrative Sicht von Wirtschafts- und Rechtswissenschaften, Sozial- und Kulturwissenschaften und ein markanter Praxisbezug prägen das Profil der HSG. Als erste Schweizer Universität hat die HSG 2001 aufgrund der europäischen BolognaDeklaration ihre Lehre neu konzipiert und Bachelor- und Masterstudiengänge in den drei Kernfächern BWL, VWL und Recht eingeführt.7 Getragen wird die Studienarchitektur der drei Stufen (Assessment-Stufe als integrale Grundstufe, Bachelor-Stufe, Master-Stufe; die Bachelorausbildung umfasst Assessment- und Bachelor-Stufe) von drei Säulen: Kontaktstudium (50 %), Selbststudium (25 %), Kontextstudium (25 %). Zusätzlich gibt es Doktorat- und PhD-Programme. Kontakt- und Selbststudium vermitteln den Lehrstoff des Fachstudiums in den drei Kernfächern, die das Kontextstudium als Studium integrale fachübergreifend und interdisziplinär in ihre gesellschaftlichen, politischen, historischen, geistigen, psychologischen und ästhetischen Zusammenhänge einordnet. Im Rahmen dieses international kompatiblen Studiensystems musste auch die buchwissenschaftliche Zusatzausbildung definiert und implementiert werden. Die Assessment-Stufe selektiert und qualifiziert die Studierenden für das Bachelorstudium. Das Assessmentjahr muss insgesamt bestanden werden, um auf der Bachelor-Stufe zugelassen zu werden. Das Bachelorstudium führt in einem Major zu einem allgemein wissenschaftlich qualifizierenden Abschluss. Das Fachstudium in den 5 Majors Betriebswirtschaftslehre, Volkswirtschaftslehre, Rechtswissenschaft, Internationale Beziehungen und Rechtswissenschaft mit Wirtschaftswissenschaften bereitet zusammen mit der generalistisch orientieren Bildung zum einen auf vielfältige und anspruchsvolle Aufgaben in der Praxis und zum anderen 7
Vgl. Spoun: Studienreform, S. 185–202.
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auf ein weiterführendes Masterstudium vor. Im Rahmen des HSGStudiums können zwei Zusatzabschlüsse gemacht werden, und zwar mit dem Abschluss des »Master of Arts HSG« in Wirtschaftspädagogik und seit 2007/08 mit dem Abschluss des »Bachelor of Arts HSG« in Buchwissenschaften. Die Gründe für die Installierung der buchwissenschaftlichen Zusatzausbildung auf der Bachelor-Stufe liegen demnach einerseits in der Studienstruktur, den Fach- und Bildungsinhalten sowie den Qualifikationszielen des HSG-Bachelorstudiums und andererseits in den damit kompatiblen Inhalten und Zielen der Zusatzausbildung in den Buchwissenschaften. Struktur und Curriculum des Bachelorstudiums liefern die Vorgaben für die fachlichen und didaktischen Komponenten und legen die Rahmenbedingungen für Aufbau, Inhalte und Ziele der Zusatzausbildungen fest. Von konstituierender Bedeutung für die Konzeption der buchwissenschaftlichen Zusatzausbildung, für ihre Eingliederung ins Studiensystem und ihre Integration in die fünf Majors waren deshalb akademische und unternehmerische Leitlinien, fachliche Merkmale sowie didaktische Prinzipien des HSG-Studiensystems als ganzes und der Bachelor-Stufe insonderheit, denen sich die Zusatzausbildung anzupassen hatte bzw. die sie sich zunutze machen musste. Konstitutiv für die gestuften Studiengänge der HSG und damit für die buchwissenschaftliche Zusatzausbildung ist die Modularisierung der Lehre. Stoffgebiete werden zu thematisch und zeitlich in sich abgeschlossenen, gleichwohl spiralartig aufeinander aufbauenden und miteinander abgestimmten Einheiten nach fachlichen und didaktischen Lernzielen mittels differenzierter Lehrformen und gezielt eingesetzten multiplen Lernformaten vermittelt und studienbegleitend geprüft. Die Leistungen werden mit Leistungspunkten nach dem European Credit Transfer System (ECTS) zur Anrechnung, Übertragung und Akkumulierung von Studienleistungen gewichtet, bewertet und benotet. Die Bachelorausbildung umfasst insgesamt sechs Semester; zwei entfallen auf die Assessment-Stufe und vier auf die Bachelor-Stufe. Das Studienjahr beginnt mit dem Herbstsemester, mit dem in der Regel auch das Studium aufgenommen wird. Das Semester umfasst 14 Wochen. Zwischen dem ersten und dem zweiten Quartal im Umfang von jeweils sechs Wochen liegt ein zweiwöchiger Break für Blockveranstaltungen, Stützkurse, externe Praxisprojekte, Campusprojekte, Exkursionen, interaktives Selbststudium, Seminararbeiten, Prüfungsvorbereitungen u. ä.
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Aufgrund der Prüfungsergebnisse bescheinigt die HSG die erfolgreiche Teilnahme in beiden Zusatzausbildungen mit einem »Diploma Supplement«, das die akademische und berufliche Anerkennung für die jeweils spezifischen Fach- und Berufsfelder dokumentiert. Für die Zusatzausbildung der Buchwissenschaften bedeutet dies, dass sie als integraler Bestandteil des Bachelorstudiums nach den Vorschriften der Conférence des Recteurs des Universités Suisses (CRUS) mindestens 20 Credits vergeben muss, um als qualifiziertes und zertifiziertes Lehrprogramm eingerichtet und durchgeführt werden zu können. Auf all diese wesentlichen Grundlagen und Elemente des Bachelorstudiums muss die Zusatzausbildung des Lehrprogramms Buchwissenschaften aufbauen und kann sie mittels einer Modulmatrix als geeigneter Organisationsform der Lehre in ihrem fachlichen Bereich anwenden und vertiefen.
3 Studiengegenstand Buch »Studiengegenstand ist das Buch als Überlieferungsträger von Texten und Bildern in handschriftlicher, gedruckter und elektronischer Form.«8 Mit dieser prägnanten und präzisen Definition Ursula Rautenbergs lässt sich das Objekt buchwissenschaftlicher Lehre auf seinen Begriff bringen und typologisch mit seinen Erscheinungsformen klassifizieren. Davon lassen sich die für den Lehrstoff bedeutsamen Sachverhalte ableiten sowie die dafür zu wählenden Perspektiven und Zugänge festlegen. Die in einem Buch gespeicherten und vermittelten Zeichen, Daten und Informationen sind an die Materialität von Beschreib- und Bedruckstoffen, Schrift und Typographie, elektronische Apparate und digitale Datenträger und die damit verbundenen Herstellungstechniken und -abläufe sowie die Gestaltungsprozesse gebunden. Diese Faktoren beeinflussen im Ergebnis zusammen mit dem Inhalt die Nutzung eines Buchs durch Individuum und Gesellschaft. Dies gilt für alle historischen Etappen der Buchentwicklung, vom Manuskript über das gedruckte Buch bis zum digitalisierten Buch; dies gilt für alle Erscheinungsformen des Buchs, von der Papyrusrolle über den Pergamentkodex bis zum Erzeugnis des Buchdrucks und bis zum E-Book in Online- oder Offline-Version diverser elektronischer Datenspeicher und Wiedergabegeräte. Form, Herstellung und Ausstattung 8
Rautenberg: Der Studiengang »Buchwissenschaft«, S. 33.
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des Buchs sind vom kulturellen Entwicklungsstand einer Gesellschaft abhängig, d. h. technische und ökonomische Möglichkeiten, politische und gesellschaftliche Bedingungen, geistige und künstlerische Potenziale beeinflussen Aussehen und Beschaffenheit, Produktion und Verbreitung, Nutzung und Wirkung des Buchs in Geschichte und Gegenwart und lassen Annahmen für die künftige Gestalt, Rolle und Funktionen des Buchs zu. Das Buch ist aufgrund seiner Inhalte und seiner Gestalt nicht nur kultureller Zeuge und geistiges Dokument seiner Zeit, sondern just dieser Funktionen wegen ein Medium der Kommunikation, und zwar der synchronen wie der diachronen. Die Informationen eines Autors, die ein Buch speichert und weitergibt, richten sich an Adressaten der eigenen Zeit und schlagen Brücken über Generationen und Zeiten hinweg. Als Kommunikationsmedium fungiert das Buch als zentraler Speicher für das kulturelle Gedächtnis, ist als Informationsträger ein Medium der kulturellen Erinnerung und der aktuellen kulturellen Verständigung und Interaktion, ist Bildungs-, Lern- und Lehrmittel, Informations-, Unterhaltungs- und Wissensmedium, stiftet als Geistesgut nationale und soziale Identität und löst als Diskussionsforum internationale sowie globale Diskurse aus. Rezeption und Wirkung des Buchs als Medium sind sowohl vom Entwicklungsstand und der Verbreitung von Kulturtechniken als auch von gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und geistigen Rahmenbedingungen sowie des Weiteren von individuellen Zugangs- und Aufnahmeweisen, von subjektiven Nutzungsbedürfnissen und einzelnen Verwertungsinteressen abhängig. Seine Materialität und sein Inhalt machen das Medium Buch unter den eben genannten Aspekten zu einem Kulturgut, wobei Kultur in einem universellen Verständnis Gestaltung und Deutung der Welt durch den Menschen meint und sich auf alle Bereiche und die Vielfalt menschlichen Daseins bezieht. Das Buch ist aber auch zentraler Bestandteil von Systemen. Es ist ein Produkt, an dessen Entstehung, Herstellung und Verbreitung, Aufnahme und Nutzung mehrere Rollenträger, Institutionen und Branchen in kommunikativen, ökonomischen, arbeitsteiligen und sozialen Handlungsprozessen beteiligt sind. Aus literatursoziologischer Sicht lassen sich diese Komponenten und Prozesse als Literatursystem mit den zueinander in Wechselwirkung stehenden Faktoren Autorschaft, Herstellung, Vertrieb und Aufbewahrung und Rezeption sowie mit den auf das System einwirkenden politischen, geistigen und gesellschaftlichen Kräften beschreiben.
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Unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten ist das Buch ein immaterielles Gut, das von ›human resources‹ geschaffen wird, als materielles Gut vom Verlag produziert und als Ware auf den Markt eingeführt, über den Buchhandel an Käufer gebracht, von öffentlichen Einrichtungen wie Bibliotheken und Bildungsstätten beschafft oder von anderen Medienunternehmen und Massenmedien zu sekundären Verwertungszwecken für Film und Fernsehen, Radio und Theater erworben wird. Es entsteht eine Wertschöpfungskette, an der verschiedene Anspruchsgruppen – Menschen, Institutionen, Unternehmen, Branchen – mitwirken. Jede dieser Anspruchsgruppen hat ihre spezifischen Organisationsformen, Anliegen, Interessen, Normen und Werte, ihre je eigenen Umweltsphären, Ressourcen und Wertschöpfungsaktivitäten, ihre besonderen Geschäftsmodelle und -prozesse sowie je nach Branche und Tätigkeitsschwerpunkten einander oftmals widerstreitende Ordnungsmomente und macht unterschiedliche Entwicklungstendenzen durch. Die Vielfalt von Beziehungen, Interaktionen, Strategien und Wechselwirkungen in den einzelnen Organisationen als kulturelle Institutionen, soziale Gemeinschaften und wirtschaftliche Einheiten und die Korrelationen zwischen ihnen erfordern strukturierende Einflussmomente und ordnende Kräfte, um im kreativen, fachlich-sachlichen und ökonomischen Wettbewerb erfolgreich zu sein. Staatliche Normen und gesetzliche Grundlagen liefern für die Abläufe und Anspruchsgruppen, für das Objekt Buch sowie für die Wege und Märkte des Buchabsatzes wichtige Regulierungsinstrumente, die Delikte ahnden, Rechte schützen und vertragliche Beziehungen zwischen den Akteuren des Literatursystems und den Institutionen des Buchsystems als eines Wirtschaftssystems stiften. Die Vielfalt von Elementen und von Wechselwirkungen zwischen all diesen Komponenten begründet die Komplexität dieses Systems als einer Ganzheit, die von materiellen wie immateriellen Elementen konstituiert wird.9 Die Dynamik und die Differenziertheit des – wenn wir es so nennen wollen – Buchsystems lassen nicht zu, dass sich dieses System von einer Instanz und aus einer Perspektive ›objektiv‹ beschreiben und ›korrekt‹ darstellen ließe. Die Beschreibung eines komplexen Systems hängt zum einen von unserem Standort, unserem Beobachtungsausschnitt und unserem Horizont ab. Zum anderen hängt die Erklärung bzw. die Interpretation einer Systembeschreibung wesentlich vom Kontext ab, innerhalb 9
Für die folgenden Ausführungen vgl. Rüegg-Stürm: Das neue St. Galler ManagementModell, S. 13–23; Schwaninger: Was ist ein Modell?, Bd. 1, S. 53–62.
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dessen wir das System und seine Komponenten wahrnehmen, verstehen und erklären. Für den Gegenstand Buch beispielsweise sind gegenwärtig und künftig die Konkurrenz anderer Medien sowie die ordnungspolitischen Maßnahmen ökonomischer und rechtlicher Art als Kontexte für die Wahrnehmung von Veränderungen entweder als Probleme oder als Chancen von zentraler Bedeutung. Insofern sind Beschreibung und Interpretation des Buchsystems und des Geschehens in ihm und um es herum selektiv, d. h. nach Niklas Luhmann mit kontingenten Selektionsleistungen verbunden.10 Je nach Kontext und Standort, Perspektive und Horizont, die von diesen Selektionsleistungen abhängen, erscheinen deshalb das Buchsystem und seine Komponenten in einem anderen Licht, woraus sich naturgemäß unterschiedliche Problemstellungen und Arbeitsschwerpunkte für die wissenschaftliche Beschäftigung, d. h. für Forschung und Lehre, ergeben.
4 Buchwissenschaften an der HSG Aus dem skizzierten Studiensystem sowie dem Systemverständnis, das auch und gerade für das Gesamtcurriculum und für zentrale Fachgebiete wie die Managementlehre eine wichtige Rolle spielt, sind die Grundlagen und die Struktur, die Gegenstände und die Themen der Buchwissenschaften an der HSG abgeleitet. Der mehrdimensionale Studiengegenstand Buch erfordert aus fachlichen und studientechnischen Gründen eine Ganzheit mehrerer Fächer und Wissenschaftsgebiete, die das Buchsystem einschließlich des Zeitschriftenwesens interdisziplinär behandelt. Dieses Ensemble von verschiedenen Disziplinen und ihrer für die Beschreibung und Interpretation des Buchsystems als geeignet ausgewählten Methoden und Modelle, Instrumente und Erkenntnisse wird als ein integrales Lehrprogramm organisiert. Typisch für ein Lehrprogramm im hochschuldidaktischen Verständnis sind die systematisch geordneten und in ihrer Anzahl (freilich nicht in ihrer Abfolge) festgelegten Lehrmodule, Projekte und Aktivitäten, die auf den wissenschaftlichen Ressourcen von HSG und MCM-Institut sowie auf externem Expertentum beruhen und auf vereinbarte Studienziele bei der Zielgruppe gerichtet sind. Das fachliche Spektrum des Lehrprogramms wird von den Schwerpunkten Wirtschaftswissenschaften (Betriebswirtschaftslehre, Volkswirt10
Luhmann: Gesellschaft in der Gesellschaft, S. 332–340.
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schaftslehre) und Rechtswissenschaft sowie Kulturwissenschaften (mit dem Fokus auf Literatur im Sinne eines horizontal und vertikal weit gefassten Begriffs, auf Medien und Kommunikation sowie auf Geschichte und Gesellschaft) gebildet. Nach Delps Vorschlag wird dieses Ensemble aus mehreren Fächern, Arbeitsgebieten und Methoden mit der Pluralform Buchwissenschaften bezeichnet.11 Sinn und Bedeutung des verwendeten Begriffs entsprechen weitgehend dem Verständnis von der Buchwissenschaft als einer sogenannten Querschnittswissenschaft, die sich aus verschiedenen, auf einen Gegenstand fokussierten Disziplinen zusammensetzt. Versteht man die mit dieser inhaltlichen Auffassung, mit diesem methodischen Ansatz und mit diesem begrifflichen Verständnis so definierten Buchwissenschaften als eine Gesamtheit von Teildisziplinen und ihrer Erkenntnisse, die sich auf den Gegenstandsbereich Buch beziehen und nach theoretisch begründeten und praktisch erprobten Methoden erworben, systematisch geordnet sowie verständlich erklärt werden und in einem intersubjektiv nachvollziehbaren Begründungszusammenhang stehen, sind Wissenschaftlichkeit und Interdisziplinarität als substanzielle Merkmale der Buchwissenschaften gegeben und der pluralische Begriff ist zur Bezeichnung des Lehrprogramm gerechtfertigt. Dieses dem gewählten pluralen Begriff zugrunde liegende Verständnis von System ist kompatibel mit der curricularen Vorstellung von Ganzheitlichkeit an der HSG und ist für das zertifizierte Lehrprogramm Buchwissenschaften konsitutiv.
5 Struktur und Regelungen, Inhalte und Ziele des Lehrprogramms Buchwissenschaften (LBW) Die Ausbildung des LBW12 bezweckt, entsprechend einer Leitidee der neu konzipierten Lehre an der HSG, Studierenden die Möglichkeiten und die Gelegenheit zur Entwicklung und Vertiefung persönlicher Fachinteressen und thematisch-inhaltlicher Neigungen zu bieten. Angestrebt wird eine dem anspruchsvollen Studienkonzept der HSG adäquate fachlich und didaktisch hochstehende Lehre. Deren Ziel ist die Vermittlung wissen-
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Vgl. Delp: Buch und Wissenschaften, S. 768–793. Besonderer Dank gebührt dem langjährigen Studiensekretär der HSG, Hans-Ulrich Bösch, für seine intensive Mitwirkung an der Entstehung des Lehrprogramms, für seine Unterstützung bei der Planung, beim Aufbau der administrativen Leitung sowie bei der organisatorischen Umsetzung und insbesondere für die Ausarbeitung des Reglements.
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schaftlich basierter Beschäftigungsfähigkeit in Unternehmen, Organisationen und Institutionen der Buch- und Medienbranchen. Die fachliche und organisatorische Gesamtverantwortung für das LBW liegt bei der Programmleitung, die institutionell dem Kompetenzbereich Buchwissenschaften des MCM 3-Lehrstuhls Medien und Kultur zugewiesen ist. Die fachliche Betreuung und die inhaltliche Gestaltung der Kurse liegen jeweils bei einem bzw. einer Hauptdozierenden aus den betreffenden Kernfächern und aus dem Kontextstudium. Für die Lehre stehen außerdem buchwissenschaftliche Experten bzw. Expertinnen sowie Fachleute aus der Branchen- und Unternehmenspraxis als Lehrbeauftragte und Referenten bzw. Referentinnen zur Verfügung. Die administrative Leitung ist mit der operativen Durchführung des Programms betraut. Das LBW ist Bestandteil eines wirtschafts- oder rechts- bzw. staatswissenschaftlichen Fachstudiums auf der Bachelor-Stufe. Als Zusatzausbildung entspricht das LBW den rechtlichen Grundlagen der Studien- und Prüfungsordnung für das Bachelorstudium, den Bologna-Richtlinien sowie den Empfehlungen der CRUS für die Anwendung des European Credit Transfer and Accumulation System.13 Das LBW ist – wie die Majors auch – auf die Studiensäulen des Kontakt-, des Selbst- und des Kontextstudiums verteilt und wird im Rahmen der fünf genannten Majors absolviert. Geplant sind für die kommenden Jahre auch Angebote für den tertiären Bildungssektor. Ein zertifiziertes Weiterbildungsprogramm Buchwirtschaft (nach den Vorgaben der CRUS für derartige Weiter- und Fortbildungseinrichtungen auf dem akademischen Sektor) für Nachwuchskader der Buchverlagswirtschaft ist in der Planungsphase. Daneben soll es Einzelkurse zu aktuellen Themen für Bibliotheks- und Buchhandelspersonal geben. Weiterbildungsprogramm und Weiterbildungskurse werden ebenfalls vom Kompetenzbereich am MCM betreut und auf der Weiterbildungsstufe der HSG integraler Bestandteil des kompletten Weiterbildungsangebots der HSG sein. Zum Lehrprogramm wird zugelassen, wer an der Universität St. Gallen auf der Bachelor-, Master- oder Doktorats-Stufe studiert oder zu einem früheren Zeitpunkt einen akademischen Abschluss an der HSG erworben hat.14 13 14
Siehe dazu CRUS: Gliederung und Abschlüsse; CRUS: Empfehlungen für die Anwendung von ECTS. Zum Studium an der HSG wird ohne Prüfung zugelassen, wer eine schweizerische oder liechtensteinische Matura besitzt. Die Quote ausländischer Studierender ist per Gesetz gesamthaft auf 25 % festgelegt. Da die Zahl der Bewerbungen die aufgrund dieser Quote zu
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Studierende von anderen schweizerischen Universitäten und Hochschulen können zugelassen werden, wenn sie sich im Bachelorstudium befinden und den Erwerb von mindestens 60 Credits nachweisen oder wenn sie sich im Master- oder Doktoratstudium befinden. Die Wahl der Studienrichtung ist für die Zulassung nicht maßgebend. Die Zulassung erfolgt nach einer Einzelfallprüfung, gegebenenfalls ergänzt durch ein Motivationsschreiben und ein Bewerbungsinterview. Grundsätzlich können die Lehrveranstaltungen des LBW von allen Studierenden der Bachelor-Stufe über das bestehende Bidding-System15 im Rahmen ihrer freien Möglichkeiten selbst Schwerpunkte im Studium zu bilden, belegt werden, ohne das Zertifikat anzustreben. Ausgenommen davon ist das Integrationsseminar, das die Stoffe und Themen der übrigen Kurse voraussetzt und deshalb nur den LBW-Studierenden offen steht. Studierende der Master-Stufe und der Doktorats-Stufe können das LBW nur als ganzes belegen; die Credits werden nicht für Master, Doktorat- und PhD-Programme angerechnet. Grundsätzlich können auch Bachelor-, Master- und Doktorarbeiten ein buchwissenschaftliches Thema behandeln. Alle weiteren Angaben über Programmdauer, Arbeitsaufwand, Lehrstoff, Studienstruktur, Kursthemen, Praxisprojekt, Prüfungen und Zertifikat sind mühelos den einschlägigen Informationsmedien zu entnehmen.16
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Beginn eines Studienjahres verfügbaren Studienplätze bei weitem übersteigt, wird das zum Auffüllen der Quote errechnete Kontingent ausländischer Studienbewerber und -bewerberinnen für alle Studienstufen aufgrund der Ergebnisse eines Studierfähigkeitstest zugelassen. Quereinsteiger auf der Bachelor- und Master-Stufe müssen zudem Leistungsnachweise für das gewählte Fachgebiet vorlegen. Bidding [bid = (An-)Gebot] ist das elektronische Kurszuteilungsverfahren der HSG. Mittels Bidding geben die Studierenden vor jedem Semester ihre Interessen und deren Intensitäten für die gewünschten Kurse ab. Die meisten Kurse werden durch Einsatz von Punkten gewählt. Für das Fachstudium (Kontakt- und Selbststudium) stehen 500 Punkte und für das Kontextstudium ebenfalls 500 Punkte zur Verfügung. Anhand der erhaltenen Informationen teilt das System die Kurse automatisch zu: Die Interessen werden pro Kurs nach absteigenden Intensitäten berücksichtigt; wo dies nicht möglich ist, gilt das Zufallsprinzip und nur in speziellen Fällen das First-Come-First-Served-Prinzip. Die Broschüre Das Lehrprogramm Buchwissenschaften, die Homepage des MCM-Instituts, die Website http://www.lbw.unisg.ch sowie Präsentationen im Rahmen des BachelorInformationstages und bei Anlässen wie etwa Tagungen oder Schulbesuchen informieren über die Voraussetzungen für die Teilnahme am LBW, die Verwendbarkeit des erworbenen Wissens, die Bedingungen für die Vergabe und die Anrechenbarkeit von Credits, Prüfungsformate und Notensystem, Studienstruktur, Dauer und Frequenz des LBW sowie über den Arbeitsaufwand.
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6 Kooperation mit dem St. Galler Zentrum für das Buch Der Archivbestand des in der Kantonsbibliothek inkorporierten ZeBu stellt die Literaturgrundlage für das HSG-Studium der Buchwissenschaften bereit. Für die Studierenden des LBW stehen im ZeBu Arbeitsplätze zur Verfügung. Außerdem befinden sich dort Semesterapparate für die jeweiligen Kurse. Zu Studienbeginn wird eine Einführung in die Benutzung des ZeBu angeboten. Zudem werden dort gegebenenfalls auch einzelne Sitzungen des LBW durchgeführt.
7 Kontakt Universität St. Gallen Institut für Medien- und Kommunikationsmanagement (MCM-HSG) Kompetenzbereich Buchwissenschaften Blumenbergplatz 9 CH-90 St. Gallen http://[email protected]
8 Literaturverzeichnis Bernhard, Volker u. a.: Universität St. Gallen: Bachelor-Studium. Undergraduate Studies. 2007/08. St. Gallen: Universität St. Gallen 2006. Blume, Julia (Hrsg.): Jost Hochuli. Leipzig: Institut für Buchkunst 2000. Böhme, Hartmut/Matussek, Peter/Müller, Lothar: Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2000 (rowohlts enzyklopädie/re. 55608). CRUS: Empfehlungen für die Anwendung von ECTS (European Credit Transfer and Accumulation System) an den universitären Hochschulen der Schweiz. http://www.crus.ch [18.05.2007]. CRUS: Gliederung und Abschlüsse in der universitären Weiterbildung. Harmonisierungsgrundsätze im Rahmen der Bologna-Reform. http://www.crus.ch/docs/lehre.pdf [20.05.2007]. Delp, Ludwig: Buch und Wissenschaften. Ein Beitrag zur Wissenschaftstheorie. In: Das Buch in Praxis und Wissenschaft. 40 Jahre Deutsches Bucharchiv München. Eine Festschrift. Hrsg. v. Peter Vodosek. Wiesbaden: Harrassowitz 1989 (Buchwissenschaftliche Beiträge. 25), S. 768–793. Delp, Ludwig: Buchwissenschaften – Dokumentation und Information. Fünfzig Jahre Deutsches Bucharchiv München, eine zeitdokumentarische Bestandsaufnahme. Wies-
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Spoun, Sascha: Studienreform im Zuge des Bologna-Prozesses. Konzept, Umsetzung und Erfahrungen am Beispiel der Universität St. Gallen. In: Sozialwissenschaften und Berufspraxis 27 (2004), S. 185–202. Spoun, Sascha/Wunderlich, Werner (Hrsg.): Studienziel Persönlichkeit. Beiträge zum Bildungsauftrag der Universität heute. Frankfurt a. M./New York: Campus 2005. Tietzel, Manfred: Literaturökonomik. Tübingen: Mohr 1995. Universität St. Gallen: Vision 2010 und Leitbild. http://www.unisg.ch [25.05.2006]. Vodosek, Peter (Hrsg.): Das Buch in Praxis und Wissenschaft. 40 Jahre Deutsches Bucharchiv München. Eine Festschrift. Wiesbaden: Harrassowitz 1989 (Buchwissenschaftliche Beiträge. 25). Wex, Peter: Bachelor und Master. Die Grundlagen des neuen Studiensystems in Deutschland. Ein Handbuch. Berlin: Duncker & Humblot 2005. Wunderlich, Werner (Hrsg.): St. Gallen. Geschichte einer literarischen Kultur. Kloster, Stadt, Kanton, Region. Bd. 1: Darstellung; Bd. 2: Quellen. St. Gallen: UVK 1999.
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Fast gar nichts da? Buchwissenschaft in Österreich und ihre Institutionen 1 Zur Situation der Buchwissenschaft in Österreich »Es ist fast gar nichts da …« So nannte Peter R. Frank einen Aufsatz, der sich mit der Buchproduktion der Habsburgermonarchie im 18. und 19. Jahrhundert befasste1. Der Titel bezieht sich dabei auf eine bekannte, wenn auch nicht authentische Äußerung der Kaiserin Maria Theresia. Sie soll ihren Hofbuchdrucker Johann Thomas von Trattner mit diesen Worten zu seiner umfassenden und berüchtigten Nachdruckpraxis ermuntert haben2. Der Aufsatz von Frank findet seine Pointe in der Folge jedoch darin, dass er auf 32 engbedruckten Seiten nichts anderes als eine Widerlegung seines Titels ist. Denn was folgt, ist eine durchaus eindrucksvolle Leistungsschau der terra incognita des habsburgischen Buchwesens. So ist die Literatur neben der sehr umfangreichen Nachdruckproduktion mit Erst- und Gesamtausgaben von Abraham a Sancta Clara, Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Schlegel, Adam Müller, Friedrich Hebbel, Franz Grillparzer, Ferdinand Raimund, Johann Nestroy und Adalbert Stifter vertreten. Die zeitweise drückende Zensur und politische Umbrüche verhinderten und unterbrachen immer wieder das Entstehen rein belletristischer Verlage in Österreich. Die Ansätze der josephinischen Literatur versandeten, ein neuer Aufbruch nach 1918 mit erfolgreichen belletristischen Verlagen wie Zsolnay fand 1938 ein schnelles Ende. Österreichische Autoren der schönen Literatur wanderten immer wieder zu deutschen Verlagen ab und stärkten sie zugleich. So entstand ein Sog, der bis heute anhält. Im Gegensatz dazu konnten wissenschaftliche und Fachverlage einen Auf1 2
Frank: »Es ist fast gar nichts da …«. »Unterdessen aber, lieber Trattner, sagen Wir Ihm, dass es unser Staatsprinzip sei, Bücher hervorbringen zu lassen, es ist fast gar nichts da, es muss viel gedruckt werden. Er muss Nachdrücke unternehmen, bis Originalwerke zustande kommen.« Zitiert nach: Gräffer: Kleine Wiener Memoiren, S. 63.
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schwung nehmen. Dominierte im 18. Jahrhundert zunächst eine breite Literatur an religiösen Schriften und Militaria, so zeigte sich schon bald eine Spezialisierung mit bedeutenden Kunst-, Musik- (Artaria u. a.) und Theaterverlagen (Wallishausser) sowie mit juristischen und medizinischen Verlagen. Letztere waren im 19. Jahrhundert mit Firmen wie Beck, Gerold, Manz oder Braumüller vertreten, wobei Braumüller schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt zum medizinischen Fachverlag wurde und so gut wie alle berühmten Ärzte der zweiten Wiener medizinischen Schule zu seinen Autoren zählen konnte. Dazu kam eine reiche Produktion an Werken anderer Naturwissenschaften, Philosophie (Clemens Brentano, Bernhard Bolzano) historische und ökonomische Werke (Grenznutzenschule) sowie eine weitläufige Gebrauchsliteratur. Ein weiteres Charakteristikum, das das österreichische von dem deutschen Verlagswesen unterschied, war seine Vielsprachigkeit. Neben deutschen Zuwanderern waren es Franzosen, Niederländer, Italiener, Griechen, Tschechen, die auch im deutschsprachigen Teil der Monarchie das Buchhandelsgewerbe prägten. Zu der lateinischen und deutschsprachigen kam eine Produktion auf Hebräisch, Griechisch und in orientalischen Sprachen, die schließlich zunehmend auch alle Sprachen der Monarchie umfasste. So erstaunt es auch nicht, dass Firmen wie Kurzböck, Anton Schmid und später vor allem die Hof- und Staatsdruckerei im Fremdsprachendruck bedeutende Leistungen vollbrachten. »Es ist fast gar nichts da …« Auf den ersten Blick ist man geneigt, die Frage nach buchwissenschaftlicher Forschung und Lehre in Österreich mit ebendiesen Worten zu beschreiben. Was deren Stand betrifft, musste Murray Hall noch 1985 konstatieren: »Das mangelnde Interesse in Österreich an der Geschichte des Buchhandels und Verlagswesens […] kann durch nichts auffälliger dokumentiert werden als durch das Fehlen nicht nur von einschlägigen Forschungen, sondern an Stellungnahmen überhaupt. […] Aktives Interesse besteht weder von seiten der Standesvertretung noch von seiten der Unternehmer.«3 Seither hat sich freilich vieles verändert. Dennoch, das Fach Buchwissenschaft hat in Österreich nach wie vor keine institutionelle Verankerung, weder an Universitäten noch an der Akademie der Wissenschaften. An einzelnen Instituten – so an der Universität Wien die Abteilung für Vergleichende Literaturwissenschaft und das Institut für Germanistik – entstehen zwar regelmäßig buch- und verlagsgeschichtliche Diplomarbei3
Hall: Österreichische Verlagsgeschichte, Bd. 1, S. 12.
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ten und Dissertationen, naturgemäß kann diese Thematik aber nicht deren zentraler Schwerpunkt ein. Die österreichischen Buchverlage befinden sich anscheinend auch unter der Wahrnehmungsschwelle der Institute für Publizistik und Kommunikationswissenschaft in Wien, Salzburg und Klagenfurt, in deren Programm sich nur selten Lehrveranstaltungen mit buchwissenschaftlichen Themen verirren. Nachdem das Zentrum für Wort und Text: Verlagswesen. Dokumentation an der Donau-Universität Krems seine Tätigkeit eingestellt hat, sucht man Buchwissenschaft auch an Fachhochschulen und Weiterbildungseinrichtungen vergebens. Die bibliothekswissenschaftlichen Lehrgänge auf die weiter unten näher eingegangen wird, vermeiden es geflissentlich, irgendwo in ihren Lehrplänen den Begriff ›Buch‹ zu erwähnen. Auch die österreichische Interessensvertretung der Buchhandlungen, Verlage, Antiquariate und Verlagsvertreter, der Hauptverband des Österreichischen Buchhandels, hat im Gegensatz zu seinem Pendant in Deutschland, dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels, keine Historische Kommission.4 Der 1859 gegründete Verein verfügt zwar über ein wichtiges Archiv und eine bedeutende Bibliothek. Das Archiv des Hauptverbandes wurde 2009 von der Österreichischen Nationalbibliothek übernommen. In privater Initiative wird derzeit die Bibliothek katalogisiert.5 Das Archiv der Fachgruppe Buch- und Medienwirtschaft befindet sich nun in der Österreichischen Wirtschaftskammer, dort steht unter anderem das größte Festschriften-Archiv Österreichs zur Verfügung.6 Angesichts dieser Situation war und ist Buchwissenschaft in Österreich auf die Initiative einzelner Forscher angewiesen und umso bemerkenswerter sind deren teils sehr bedeutsamen Erträge – zur Buchgeschichte und Bibliographie ebenso wie zur Papier- und Einbandkunde.7 Ein herausragendes Beispiel österreichischer Forschung aus dem 19. Jahrhundert ist Anton Mayers äußerst gründliche zweibändige Wiener Buchdruckergeschichte, die 4 5
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Vgl. Franks [folgenlosen] Aufruf an den österreichischen Buchhandel zur Gründung einer Historischen Kommission. Nicht zuletzt das Desinteresse seitens des Buchhandels gab den Anstoß zur Gründung der Gesellschaft für Buchforschung in Österreich. Adresse des Hauptverbandes: Buchgewerbehaus, Grünangergasse 4, A-1010 Wien. Dort befindet sich auch der Verband Druck- und Medientechnik und seine Archivalien. Die Katalogisierung der Bibliothek des Hauptverbandes erfolgt unter der Leitung von Norbert Donhofer, Vorsitzender des Verbandes der Antiquare Österreichs. Adresse: Wiedner Hauptstraße 63, A-1040 Wien. Einen ersten, vorläufigen Überblick gaben Frank und Otto Mazal im Artikel Österreich im LGB2. Was die Bibliothekswissenschaft betrifft, finden sich Hinweise auf österreichische Beiträge in dem von Helmut W. Lang in Zusammenarbeit mit Bernhard Fabian herausgegebenen Handbuch der historischen Buchbestände in Österreich.
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1882 anlässlich des 400. Jubiläums des Wiener Erstdrucks entstand8. Es gibt wohl wenige deutsche Großstädte, die eine vergleichbar solide Geschichte ihrer Buchdruckereien aufweisen können. Das 20. Jahrhundert weist Namen wie Josef Körner9, Wilhelm Kosch10, Hanns Bohatta11, Gustav Gugitz12, Carl Junker13, Max von Portheim14, Gert A. Zischka15, Anton Durstmüller16 oder Karl F. Stock17 auf. Für die Gegenwart wären etwa die Forschungen von Murray G. Hall zu nennen, der eine umfassende Geschichte des Zsolnay-Verlags publizierte und sich in seiner Österreichischen Verlagsgeschichte 1918 bis 1938 bereits zu einem Zeitpunkt ausführlich mit Raub und Enteignung im Nationalsozialismus beschäftigte, als dies noch nicht zum mainstream der zeitgeschichtlichen Forschung gehörte.18 2006 erschien die von Hall gemeinsam mit Christina Köstner verfasste Geschichte der Nationalbibliothek zur Zeit des Nationalsozialismus.19 Weitere wichtige Publikationen der jüngeren Zeit sind die österreichische Buchhandelsgeschichte von Norbert Bachleitner, Franz M. Eybl und Ernst Fischer (2000)20 oder Alberto Martinos am Institut für Komparatistik in Wien entstandene Geschichte der deutschen Leihbibliothek (1990).21 Eine fortlaufende Österreichische Bibliographie existiert seit 1946; nach wie vor ist Österreich allerdings eines der wenigen europäischen Länder ohne retrospektive Bibliographie. Seit über fünfzehn Jahren wurden nun an der Österreichischen Nationalbibliothek bibliographische Daten zu Drucken aus Österreich gesammelt, die in die im Entstehen begriffene Österreichische Retrospektive Bibliographie (ORBI) einfließen. Die Österreichische Retrospektive Bibliographie, die sich auf das Gebiet des heutigen Österreich beschränkt, gliedert sich in mehrere Reihen: Reihe 1 Österreichische Drucke (Monographien) 1461ff., Reihe 2 Österreichische 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21
Mayer: Wiens Buchdruckergeschichte 1482–1882; Mayer: Ein kleiner Nachtrag. Vgl. Körner: Philologische Schriften und Briefe. Vgl. Menges: Wilhelm Kosch. Zu dem Bibliothekar, Bibliographen und Mitverfasser des Deutschen Anonymen Lexikons vgl. jetzt: Winter: Hanns Bohatta. Vgl. Schmidt: Bibliographie Gustav Gugitz; Peterson: Gustav Gugitz. Vgl. Junker: Zum Buchwesen in Österreich. Vgl. dazu den Katalog: Buchberger/Renner/Wasner-Peter: Portheim sammeln & verzetteln. Vgl. Seemann: Gert A. Zischka. Durstmüller: 500 Jahre Druck in Österreich. Vgl. Stock: Bibliographie. Vgl. Hall: Der Paul Zsolnay Verlag; Hall: Österreichische Verlagsgeschichte. Hall/Köstner: … Allerlei für die Nationalbibliothek zu ergattern. Vgl. auch: Hall/Köstner/ Werner: Geraubte Bücher. Bachleitner/Eybl/Fischer: Geschichte des Buchhandels in Österreich. Martino: Die deutsche Leihbibliothek.
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Zeitungen 1492–1945, Reihe 3 Österreichische Zeitschriften 1704–1945, Reihe 4 Spezialbibliographien (Verleger bzw. Druckerbibliographien, medienspezifische Bibliographien usw.). Bisher sind in der von Lang herausgegebenen und an der Österreichischen Nationalbibliothek bearbeiteten Bibliographie Reihe 2 (Zeitungen) und Reihe 3 (Zeitschriften) erschienen.22 Allerdings scheint die Fortführung des Projekts an der Österreichischen Nationalbibliothek nun gefährdet; eine Einstellung würde für die österreichische Buchwissenschaft einen gravierenden Rückschlag bedeuten. Ebenfalls von der Nationalbibliothek herausgegeben wird die Zeitschrift biblos. Beiträge zu Buch, Bibliothek und Schrift (Phoibos Verlag) sowie die Reihe biblos Schriften.23 Der Arbeitskreis für historische Kommunikationsforschung (AHK) in Wien gibt die Zeitschrift Medien & Zeit heraus. Ein wichtiges Forum der österreichischen Buch- und Bibliothekswissenschaft sind schließlich auch die Mitteilungen der Vereinigung österreichischer Bibliothekarinnen und Bibliothekare.
2 Institutionen 2.1 Die Gesellschaft für Buchforschung in Österreich
Spätestens seit Robert Darnton Anfang der 1980er Jahre Buchgeschichte als »the social and cultural history of communication by print« 24 definierte, hat sich Book History in den Humanwissenschaften als stetig expandierender Forschungszweig etabliert. Dies gilt besonders für den angelsächsischen Sprachraum, aber auch für entsprechende Forschungseinrichtungen etwa in Frankreich und Deutschland. Damit Österreich von dieser internationalen Entwicklung nicht gänzlich abgekoppelt bleibt und die hiesige buchgeschichtliche Forschung eine gemeinsame Plattform erhält, gründeten Frank und Hall 1998 die Gesellschaft für Buchforschung in Österreich. Sie sieht es als ihre Aufgabe, durch die Durchführung von Projekten sowie die Herausgabe einer Buchreihe und eines Periodikums den Anschluss an die internationale Forschung herzustellen. Ihre Interessen erstrecken sich auf das gesamte Gebiet der habsburgischen Monarchie 22 23 24
Lang: Österreichische Retrospektive Bibliographie (ORBI). Dort erschienen zuletzt: Pipp, Eveline (Hrsg.): Ein Jahrzehnt World Wide Web; biblos 56 (2007), H. 1 widmet sich dem Themenschwerpunkt Südosteuropa (vgl. auch http://www.onb.ac.at/biblos). Darnton: What is the history of books?, S. 9.
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bis 1918 (in Österreich und den Nachfolgestaaten) sowie auf die Republiken, von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart. Besonderes innovatives Potenzial auch in Hinsicht auf die internationale Forschung liegt dabei in dem übernationalen Kontext der Buchgeschichte der Habsburgermonarchie. Mitzubedenken ist hier stets die Frage, wie die Zirkulation von Texten es ermöglicht, »in einem von Multiethnizität und Multikulturalität geprägten komplexen System miteinander zu kommunizieren«25. So ist die multinationale, multiethnische österreichischer Monarchie in vielen Aspekten ein Muster für die Situation im neuen Europa. Der Buchbegriff basiert dabei auf einem historisch fundierten Kommunikationsmodell, wie es etwa Herbert G. Göpfert oder Darnton entworfen haben. Die Interessen der Gesellschaft gelten entsprechend dem ganzen Spektrum des Buchwesens vom Autor zum Leser, den herstellenden und vermittelnden Institutionen – Druck, Buchhandel, Verlag, Bibliotheken, Zensur u. a. – und den Druckwerken – Büchern, Zeitungen, Zeitschriften, Musikalien, Landkarten, Plakaten, Lithographien u. a. m. Die zweimal jährlich erscheinenden Mitteilungen der Gesellschaft für Buchforschung in Österreich bieten neben Notizen und Rezensionen vor allem buchgeschichtliche Beiträge, die sich mit dem historischen Raum der Habsburgermonarchie und ihren Nachfolgerstaaten befassen. In regelmäßig erscheinenden Forschungsberichten wird über das Buchwesen in diesen Ländern und Regionen berichtet. Zudem gibt die Gesellschaft die Reihe Buchforschung. Beiträge zum Buchwesen in Österreich heraus.26 Das größte, seit fünf Jahren vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) geförderte Forschungsprojekt der Gesellschaft ist die von Frank initiierte »Topographie des Buchwesens in der Habsburgermonarchie 1750–1850«. In dem Projekt wird zum ersten Mal versucht, in enger Kooperation mit Forschern aus den verschiedenen Ländern einen Überblick über das Buchwesen der gesamten habsburgischen Monarchie zu geben. Neben dem deutschsprachigen werden auch der tschechische, ungarische, polnische, hebräische, orientalische und 25 26
Csáky: Pluralität, S. 11. Bisher erschienen: Bd. 1: Köllner, Alena: Buchwesen in Prag. Von Václav Matěj Kramerius bis Jan Otto. Wien: Praesens 2000. Bd. 2: Junker, Carl: Zum Buchwesen in Österreich. Gesammelte Schriften (1896–1927). Hrsg. v. Murray G. Hall. Wien: Praesens 2001. Bd. 3: Jaklin, Ingeborg: Das österreichische Schulbuch im 18. Jahrhundert aus dem Wiener Verlag Trattner und dem Schulbuchverlag. Wien: Praesens 2003. Frank, Peter R./Frimmel, Johannes: Buchwesen in Wien 1750–1850. Kommentiertes Verzeichnis der Buchdrucker, Buchhändler und Verleger. Wiesbaden: Harrassowitz 2008.
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südslawische Buchdruck und Buchhandel innerhalb der Monarchie berücksichtigt. Die Dokumentation des Buchwesens in den verschiedenen Städten und Regionen baut auf einem gleichbleibenden Schema der Erhebungen auf. Ermittelt werden (im Idealfall): Ort, Firmenname, Daten des Bestehens der Firma, Tätigkeit der Firma, firmengeschichtliche und biographische Daten, Filialen und Kommissionäre, sowie schließlich fakultativ weitere erwähnenswerte Details: Sprachen, Art der Produkte, besondere Schrifttypen. Dazu kommt ein Verzeichnis der Quellen und des Archivmaterials, Kataloge und Bibliographien sowie die Literatur zu den einzelnen Firmen. Die Anmerkungen bieten Platz für firmenhistorische Angaben, Adressen, Zensurvorfälle und anderes mehr. Damit soll für künftige Forschungen eine solide Basis gewährleistet sein. Der Band über Wien ist bereits in der Reihe Buchforschung erschienen, in der Folge sind zunächst Monographien über die weiteren Zentren des Buchhandels der Habsburgermonarchie in der Zeit von 1750–1850 (Prag, Preßburg/Pozsony/Bratislava, Buda-Pest) geplant. Darüber hinaus ist das Material in einer Datenbank erfasst, die für quantitative und qualitative Analysen der internationalen Forschung zur Verfügung steht und laufende Ergänzungen ermöglicht.27 Um die internationale Vernetzung der zentraleuropäischen Buchforscher zu fördern, wurde zudem 2007 gemeinsam mit der Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts eine Tagung durchgeführt, deren Beiträge ebenfalls in der Reihe Buchforschung publiziert werden sollen. Die Homepage der Gesellschaft umfasst unter anderem die älteren Beiträge der Mitteilungen der Gesellschaft für Buchforschung im Volltext sowie die einzig verfügbare Bibliographie österreichischer Hochschularbeiten zu buchwissenschaftlichen Themen.
Gesellschaft für Buchforschung in Österreich Vorsitz: Murray G. Hall Kulmgasse 30/12 A-1170 Wien http://www.buchforschung.at [email protected]
27
Zum Projekt vgl. Frank: Topographie; Frimmel: Das Netzwerk des Gedruckten.
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2.2 Das Institut für Jugendliteratur und die Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteraturforschung (ÖG-KJLF) 2.2.1 Das Institut für Jugendliteratur
Das Institut für Jugendliteratur, das 1965 als gemeinnütziger Verein gegründet wurde, ist ein praxisorientiertes Service- und Kommunikationszentrum für den kinder- und jugendliterarischen Bereich und sei hier stellvertretend für mehrere österreichische Einrichtungen mit vergleichbarer Zielsetzung genannt (z. B.: Studienberatungsstelle für Kinder und Jugendliteratur: www.stube.at, Buchklub der Jugend: www.buchklub.at, Buch.Zeit: Servicestelle für Bibliotheken in Oberösterreich: www.buchzeit.at, Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur: www.lesenetzwerk.at). Das Institut für Jugendliteratur übernimmt Beratungsfunktionen, organisiert Veranstaltungen (so das Festival Literatur für junge LeserInnen), Fortbildungsseminare, Aktivitäten zur Leseförderung und verfügt über eine umfangreiche Bibliothek mit Kinder- und Jugendbüchern sowie Fachliteratur. Das Institut gibt das Fachmagazin 1000 und 1 Buch (www.1001buch.at) heraus und veranstaltet jährliche Sommertagungen, deren Ergebnisse publiziert werden.
Institut für Jugendliteratur Mayerhofgasse 6 A-1040 Wien http://www.jugendliteratur.net [email protected] 2.2.2 Die Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteraturforschung (ÖG-KJLF)
Die wissenschaftliche Gesellschaft (Gründungsjahr 1999) veranstaltet jährlich internationale Symposien und veröffentlicht regelmäßig Publikationen. Auch Projekte zur Kinder- und Jugendbuchforschung werden erarbeitet (so ein Handbuch zur KJL in Österreich 1900–1950). In Zusammenarbeit mit der ÖG-KJLF finden am Institut für Germanistik der Universität Wien als einziger universitärer Institution in Österreich regelmäßig Lehrveranstaltungen zum Thema Kinder- und Jugendliteratur statt.
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Das Interesse der ÖG-KJLF gilt insbesondere der Kinder- und Jugendliteratur als zentralem Faktor in der Lesesozialisation im Hinblick darauf, dass Kinder- und Jugendliteratur das erste und in vieler Hinsicht prägende Medium im Erwerb von Lesekompetenzen ist. Die ÖG-KJLF versteht das literarische System Kinder- und Jugendliteratur als Teilsystem einer allgemeinen Poetik bzw. der allgemeinen Literaturgeschichte. Sie untersucht die jugendkulturellen Einflüsse und verfolgt interdisziplinäre Verweise auf Buchforschung, Kunstgeschichte, Bildwissenschaft, Theater-, Film- und Medienwissenschaften sowie Cultural Studies. Ausdrückliches Ziel ist es dabei, nicht nur die aktuelle literarische Produktion zu beobachten, sondern auch historische Kinder- und Jugendliteraturforschung zu betreiben und beide Teilbereiche in Zusammenhängen zu sehen. Kindheit bzw. Sozialisation als literarische Thematik soll im Kontext des gesamten literarischen Geschehens verstanden werden. Einzelne kinder- und jugendliterarische Veröffentlichungen insbesondere von AutorInnen der allgemeinen Literatur sollen nicht isoliert, sondern als Teil des jeweiligen Gesamtwerks untersucht werden. Die ÖG-KJLF sieht es auch als wichtigen Aspekt ihrer Forschungen, die nationalgeschichtlichen Bedingungen der Entstehung von Kinderund Jugendliteratur zu berücksichtigen. Der sehr weit ausdifferenzierte theoretische Diskurs der Kinder- und Jugendliteraturforschung in Deutschland wird dabei besonders berücksichtigt, zugleich jedoch die Anwendbarkeit dieses Diskurses auf die Entwicklung in Österreich kritisch überprüft und durch spezifische theoretische Ansätze relativiert.28
28
Die ÖG-KJLF gibt mehrere Publikationsreihen heraus: Kinder- und Jugendliteraturforschung in Österreich. Hrsg. v. Ernst Seibert und Heidi Lexe. Wien: Praesens Verlag. Darin erschienen: Bd. 1 (2001): Kinderbuchsammlungen. Das verborgene Kulturerbe. Hrsg. v. Ernst Seibert; Bd. 7 (2005): Mira Lobe ... in aller Kinder Welt. Hrsg. v. Heidi Lexe u. Ernst Seibert; Bd. 8 (2006): Felix Salten. Der unbekannte Bekannte. Hrsg. v. Ernst Seibert u. Susanne Blumesberger; Bd. 9 (2007): Zumutungen. Lene Mayer-Skumanz und die religiöse Kinderliteratur. Hrsg. v. Inge Cevela; Bd. 10 (2007): Wexberg, Kathrin: Verschriftlichte Heimat? Karl Bruckner – ein österreichischer Kinder- und Jugendbuchautor im Spannungsfeld zwischen Literatur und Gesellschaft. biofrafiA. Neue Ergebnisse der Frauenbiographieforschung. Hrsg. v. Ilse Korotin. Wien: Praesens Verlag. Darin erschienen: Bd. 3 (2007) Alex Wedding (1905–1966) und die proletarische Kinder- und Jugendliteratur. Hrsg. v. Susanne Blumesberger u. Ernst Seibert. libri liberorum. Mitteilungen der ÖG-KJLF. Darin erschienen (Auswahl): Sonderheft Oktober 2006: Verborgenes Kulturerbe. Wissen in historischen Kinder- und Schulbüchern. Sonderheft Juni 2007: Die Ästhetik des Unvollendeten. In memoriam der Kinderbuchsammlerin Johanna Monschein.
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Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteraturforschung Vorsitz: Ernst Seibert Universität Wien Institut für Germanistik TP 19 Dr. Karl Lueger- Ring 1 A-1010 Wien http://www.biblio.at/oegkjlf [email protected]. 2.3 Die Kommission für vergleichende Medien- und Kommunikationsforschung (KMK) an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften
Im Zentrum des Forschungsprogramms der Kommission für vergleichende Medien- und Kommunikationsforschung (KMK) steht die Untersuchung der Rolle der Medien in der politischen Kommunikation. Als zentrale Aufgabe unabhängiger Medienforschung sieht die KMK die längerfristige Untersuchung der Kommunikationsleistung der Massenmedien und die Einschätzung der damit verbundenen Chancen und Risiken für die Gesellschaft. Die KMK strebt dabei eine Verbindung zwischen österreichspezifischen Themen und der in der Kommunikationswissenschaft oft weniger berücksichtigten transnationalen und außenpolitischen vergleichenden Perspektive an. Dies zeigt sich auch an den zentralen Forschungsbereichen: Einen Schwerpunkt bildet die Beobachtung und Analyse des österreichischen Pressemarkts (Medienmärkte: Strukturen, Angebote, Nutzung). Weitere Forschungsschwerpunkte gelten den Themen Massenmedien und Wahlen sowie dem transatlantischen Vergleich der politischen Berichterstattung. Ein neuer Schwerpunkt der Kommission gilt dem Komplex Mediensysteme: Theorien, Modelle, Geschichte. Dazu heißt es auf der Website: Die Arbeiten im Schwerpunkt ›Mediensysteme: Theorien, Modelle, Geschichte‹ befassen sich mit der historischen Entwicklung von Mediensystemen und der theoretischen und methodischen Fundierung ihrer Analyse. Sie bauen auf den seit der Gründung der Kommission durchgeführten Analysen des strukturellen und organisatorischen Wandels der österreichischen Presse auf, die einen Bogen über 150 Jahre von der Entstehung der Massenpresse in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zur gegenwärtigen Situation spannen. Gemäß dem jeweiligen politisch-kulturellen Umfeld
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erfolgten sie von Anfang an im Vergleich zur Medienentwicklung in den Kronländern der Habsburgermonarchie, in der Weimarer Republik oder – in jüngster Zeit – in einem zunehmend integrierten Europa. Vor allem die Entwicklung neuer Kommunikationstechnologien, die fortschreitende ökonomische Globalisierung und die Deregulierung der Märkte machen jedoch besonders offenkundig, dass die nationalen Mediensysteme nur im grenzüberschreitenden Vergleich hinreichend analysiert werden können. Dieser Notwendigkeit stellt sich die Kommission durch Arbeiten zur theoretischen und methodischen Fundierung transnationaler Mediensystemanalyse und durch ihre Beteiligung an international vergleichenden Projekten.29
Dokumentiert werden die Forschungen der KMK durch eine rege Publikationstätigkeit: Die Buchreihe Relation30 untersucht in vergleichender Perspektive die vielfältigen Beziehungen zwischen Medien und Gesellschaft. Online verfügbar ist die Dokumentation HYPRESS Die österreichische Presse – Daten und Analysen (www.oeaw.ac.at/cmc/hypress), bisher mit Abschnitten zum Zeitungsmarkt in der Habsburgermonarchie, in der ersten Republik, den Jahren 1934–1945 sowie von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart. Eine umfassende pressegeschichtliche Dokumentation bietet die von Gabriele Melischek und Josef Seethaler herausgegebene Reihe Die Wiener Tageszeitungen: Eine Dokumentation.31
Kommission für vergleichende Medien- und Kommunikationsforschung an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Vorsitz: Herbert Matis Postgasse 7/4/1 A-1010 Wien http://www.oeaw.ac.at/cmc [email protected]
29 30
31
Kommission für vergleichende Medien- und Kommunikationsforschung: http://www.oeaw.ac.at/cmc/de/mediensysteme.html [01.10.2007]. Hrsg. v. Herbert Matis. Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1994ff.; erscheint auch online. Zuletzt erschienen: Schneider B./Schütz W. J. (Hrsg.): Europäische Pressemärkte/European Press Markets. 2004; Liepach, M./Melischek, G./Seethaler, J. (Hrsg.): Jewish Images in the Media. 2007. Frankfurt a. M. u. a.: Lang 1992ff.; bisher erschienen: Bd. 3: 1918–1938. 1992; Bd. 4: 1938–1945. Mit einem Überblick über die österreichische Tagespresse der NS-Zeit. 2003; Bd. 5: 1945–1955. Mit einem Überblick über die österreichische Tagespresse der Zweiten Republik bis 1998. 1999.
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2.4 Das Museum »druck werk«
Österreichs einziges Druckmuseum befindet sich in Dornbirn in Vorarlberg. »druck werk« ist ein gemeinnütziger Verein zur Erhaltung und Förderung der ›Schwarzen Kunst‹. Ziel ist es, sowohl den Buchdruck als Handwerk zu bewahren als auch den Besuchern historische Drucktechniken anschaulich vorzuführen. Dazu wurden Maschinen und Geräte aus fünf europäischen Ländern zusammengetragen. Alle Gerätschaften sind in Betrieb und werden auch von den ehrenamtlichen Mitarbeitern entsprechend betreut. Neben ca. 1 000 Setzkästen voll Bleilettern hütet das Museum noch ca. 1 600 Vierfarbsätze aus dem Kunstverlag Ackermann aus München. In seinem Bestand befinden sich Andruckpressen, Kniehebelund Bostonpressen, Tiegeldruckmaschinen, Stoppzylinderpressen, Eintourenzylinder, Schwingzylinder sowie Zeilengießmaschinen anhand derer die Kunst des Buchdrucks von 1850 bis zum Niedergang des Druckens mit beweglichen Lettern veranschaulicht werden kann. Der Besucher kann seine Schrift zusammenstellen und unter fachkundiger Anleitung seinen eigenen Druck verfertigen. Kurse werden in Papierschöpfen, Satz und Druck, Linol- und Holzschnitt, Buchgestaltung, Typographie, Plakatgestaltung, Plakatdruck angeboten, weiter veranstaltet »druck werk« Führungen, Dichterlesungen und Vorträge.
druck werk Museumsleitung: Eckhard H. Gorbach druck werk Dornbirn Arlbergstraße 7 A-6850 Dornbirn http://www.druckwerk-dornbirn.at [email protected] 2.5 Die Österreichische Exlibris-Gesellschaft (ÖEG)
Vereinsziel der traditionsreichen, 1903 gegründeten Gesellschaft ist es, das Exlibris als Kultur,- Kunst und Sammelgut zu pflegen. Die Gesellschaft ist Mitglied der Dachorganisation FISAE (Fédération Internationale des Societes d’Amateurs d’Exlibris) und steht in regem Austausch mit den Schwestergesellschaften u. a. in Zentral- und Osteuropa. Die ÖEG gibt
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bei Künstlern neue Blätter in Auftrag und organisiert Tauschveranstaltungen, Vorträge und Ausstellungen. Auf der Homepage der ÖEG sind unter anderem Artikel sowie eine online-Galerie österreichischer Exlibriskünstler mit Biographie, Abbildungen und einer Werkliste abrufbar. Das Archiv der ÖEG wird in der Österreichischen Nationalbibliothek verwahrt. Die Gesellschaft gibt regelmäßig erscheinende Mitteilungen und jedes zweite Jahr das seit der Gründung 1903 fortgeführte Österreichische Jahrbuch für Exlibris und Gebrauchsgraphik (zuletzt 64 (2005/06)) heraus. Daneben erscheinen in einer Sonderreihe Publikationen zum Thema österreichisches Exlibris.32.
Österreichische Exlibris-Gesellschaft (OEG) Vorsitz: Heinrich R. Scheffer Sieveringerstraße 150 A-1190 Wien www.exlibris-austria.com 2.6 Die Universitätslehrgänge Bibliotheks- und Informationswissenschaft in Wien und Krems 2.6.1 Library and Information Studies an der Universität Wien
Der von der Universität Wien in Kooperation mit der Österreichischen Nationalbibliothek durchgeführte Lehrgang bildet die Teilnehmer und Teilnehmerinnen für höherqualifizierte und qualifizierte Tätigkeitsbereiche des Informationsmanagements, insbesondere in Bibliotheken, Informationsund Dokumentationsstellen, Archiven und verwandten Einrichtungen aus. Vermittelt werden in dem Lehrgang Kenntnisse im Bereich des Bibliotheks-, Informations- und Dokumentationswesens (BID) sowie deren wissenschaftliche Vertiefung, Erweiterung und praktische Anwendung. Die theoretischen Grundlagen umfassen die folgenden Bereiche: Managementgrundlagen des BID in Österreich und im Ausland, Medientheoretische Grundlagen, Medienerschließung, Information Retrieval und Rechtsgrundlagen. 32
Zuletzt: Karolyi, Claudia/Smetana, Alexandra: Aufbruch und Idylle. Exlibris österreichischer Künstlerinnen 1900–1945. Wien: Österreichische Exlibris-Gesellschaft/Österreichischer Kunst- und Kulturverlag 2004; Scheffer, Heinrich R.: 100 Jahre Österreichisches Exlibris. Wien: Österreichische Exlibris-Gesellschaft/Österreichischer Kunst- und Kulturverlag 2004.
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Daneben wird in der Ausbildung auf einen umfangreichen Praxisteil und Berufsnähe geachtet. Die Ausbildung gliedert sich in einen Grund- und Aufbaulehrgang, wobei die erfolgreiche Absolvierung des Grundlehrgangs (1. und 2. Semester) zugleich die einheitliche Ausbildung für das Bibliothekspersonal aller Universitäten für den qualifizierten und höher qualifizierten Tätigkeitsbereich darstellt. Der Grundlehrgang umfasst 2 Semester zu insgesamt 32 Semesterstunden und eine Projektarbeit/60 ECTS sowie ein fachspezifisches Praktikum im Gesamtumfang von 100 Tagen/60 ECTS, und wird mit dem Grad »Akademischer Bibliotheks- und Informationsexperte/Akademische Bibliotheks- und Informationsexpertin« abgeschlossen. Voraussetzung für den Aufbaulehrgang sind die Absolvierung des Grundlehrgangs sowie ein abgeschlossenes Hochschulstudium. Der Aufbaulehrgang umfasst 2 Semester (berufsbegleitend) zu insgesamt 15 Semesterstunden und Masterthesis und Defensio/60 ECTS. Den Absolventen wird der akademische Grad »Master of Science (MSc) Library and Information Studies« verliehen.
Library and Information Studies Österreichische Nationalbibliothek Ausbildungsabteilung Josefsplatz 1 A-1015 Wien http://bibliothek.univie.ac.at/ulg/ [email protected] 2.6.2 Bibliotheks- und Informationsmanagement an der Donau-Universität Krems
Der viersemestrige berufsbegleitende Lehrgang wendet sich an Universitätsabsolventen, vorrangig an Führungskräfte und Projektverantwortliche aus allen Bereichen des Bibliotheks-, Archiv- und Informationswesens in der Wirtschaft wie im öffentlichen Dienst. Schwerpunkte des Lehrprogramms sind nachfolgende Bereiche: – –
Das Berufsbild »Bibliothekar/in« im Zeitalter der Digitalisierung Management und Marketing für Bibliotheken (Leitbildentwicklung, Qualitätsmanagement, Finanzierung und Controlling, Sponsoring, Öffentlichkeitsarbeit etc.)
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Bestandspolitik (Lieferantenauswahl und Kostenoptimierung beim Einkauf, Bedarfsanalyse und Nutzerforschung) Überblick über elektronische Bibliotheksverwaltungssysteme Rechtliche Grundlagen in der Bibliothekspraxis (insbesondere Urheberrecht, Online-Recht)
Der Lehrgang umfasst insgesamt 120 ETCS-Punkte und wird mit dem akademischen Grad »Master of Science« abgeschlossen.
Bibliotheks- und Informationsmanagement Donau-Universität Krems Department für Wissens- und Kommunikationsmanagement Dr.-Karl-Dorrek-Straße 30 A-3500 Krems [email protected]
3 Literaturverzeichnis Bachleitner, Norbert/Eybl, Franz M./Fischer, Ernst: Geschichte des Buchhandels in Österreich. Wiesbaden: Harrassowitz 2000 (Geschichte des Buchhandels. 6). Buchberger, Reinhard/Renner, Gerhard/Wasner-Peter, Isabella (Hrsg.): Portheim sammeln & verzetteln. Die Bibliothek und der Zettelkatalog des Sammlers Max von Portheim in der Wienbibliothek. Wien: Sonderzahl Verlagsgesellschaft 2007. Csáky, Moritz: Pluralität. Bemerkungen zum »Dichten System« der zentraleuropäischen Region. In: Neo-Helicon 23 (1996), H. 1, S. 9–30. Darnton Robert: What is the history of books? In: The Book History Reader. Ed. by David Finkelstein and Alistair McCleery. London/New York: Routledge 2002, S. 9–26. Durstmüller, Anton d. J.: 500 Jahre Druck in Österreich. Bd. 1: Die Entwicklungsgeschichte der graphischen Gewerbe von den Anfängen bis zur Gegenwart. 1981. Bd. 2: Die österreichischen graphischen Gewerbe zwischen Revolution und Weltkrieg 1848 bis 1918. V. Anton Durstmüller d. J. u. Norbert Frank. 1985. Bd. 3: Die österreichischen graphischen Gewerbe zwischen 1918 und 1982. Von Anton Durstmüller d. J. 1988. Wien: Hauptverband der graphischen Unternehmungen. Frank, Peter R.: Aufruf an den österreichischen Buchhandel zur Gründung einer Historischen Kommission. In: Anzeiger des österreichischen Buchhandels 118 (1983), S. 271–272. Frank, Peter R.: »Es ist fast gar nichts da …«. Der deutschsprachige Verlagsbuchhandel in Österreich vom 18. zum 19. Jahrhundert. In: LJB 5 (1995), S. 201–232. Frank, Peter R.: Topographie der Buchdrucker, Buchhändler und Verleger u. a. in der österreichischen Monarchie 1750–1850. Ein Arbeitsbericht. In: LJB 8 (1998), S. 327–332. Frimmel, Johannes: Das Netzwerk des Gedruckten. Überlegungen anläßlich eines Forschungsprojekts. http://www.kakanien.ac.at/beitr/ncs/JFrimmel1.pdf [2004/01.10.2007].
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Frimmel, Johannes/Wögerbauer, Michael: Tagung »Kommunikation und Information im 18. Jahrhundert. Das Beispiel der Habsburgermonarchie« an der Österreichischen Nationalbibliothek. Ein Bericht. In: Mitteilungen der Gesellschaft für Buchforschung 2007, H. 1, S. 36–42. Gräffer, Franz: Kleine Wiener Memoiren und Wiener Dosenstücke. T. 2. Wien: Beck 1845. Hall, Murray G.: Österreichische Verlagsgeschichte 1918–1945. 2 Bde. Wien u. a.: Böhlau 1985 (Literatur und Leben. N. F. 28). Hall, Murray G.: Der Paul Zsolnay Verlag: von der Gründung bis zur Rückkehr aus dem Exil. Tübingen: Niemeyer 1994 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur. 45). Hall, Murray G./Köstner, Christina: … Allerlei für die Nationalbibliothek zu ergattern …: eine österreichische Institution in der NS-Zeit. Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2006. Hall, Murray G./Köstner, Christina/Werner, Margot (Hrsg.): Geraubte Bücher: die Österreichische Nationalbibliothek stellt sich ihrer NS-Vergangenheit; Katalog zur Ausstellung vom 10. Dezember 2004 bis 23. Jänner 2005. Wien: Österreichische Nationalbibliothek 2004. Handbuch der historischen Buchbestände in Österreich. Hrsg. v. der Österreichischen Nationalbilbiothek unter Leitung v. Helmut W. Lang. In Zusammenarbeit mit dem Handbuch historischen Buchbestände in Deutschland. Hrsg. v. Bernhard Fabian. 4 Bde. Hildesheim/Zürich/New York: Olms 1994–1997. Junker, Carl: Zum Buchwesen in Österreich. Gesammelte Schriften (1896–1927). Hrsg. v. Murray G. Hall. Wien: Praesens 2001 (Buchforschung. Beiträge zum Buchwesen in Österreich. 2). Kommission für vergleichende Medien- und Kommunikationsforschung: http://www.oeaw.ac.at/cmc/de/mediensysteme.html [01.10.2007]. Körner, Josef: Philologische Schriften und Briefe. Hrsg. v. Ralf Klausnitzer. Mit einem Vorwort v. Hans Eichner. Göttingen: Wallstein 2001 (Marbacher Wissenschaftsgeschichte. 1). Martino, Alberto: Die deutsche Leihbibliothek. Geschichte einer literarischen Institution (1756–1914). Mit einem zusammen mit Georg Jäger erstellten Verzeichnis der erhaltenen Leihbibliothekskataloge. Wiesbaden: Harrassowitz 1990 (Beiträge zum Buchund Bibliothekswesen. 29). Mayer, Anton: Wiens Buchdruckergeschichte 1482–1882. Herausgegeben von den Buchdruckern Wiens. 2 Bde. Wien: In Kommission bei Wilhelm Frick 1882–1887. Mayer, Anton: Ein kleiner Nachtrag zu Wiens Buchdruckergeschichte (von 1637 bis 1740). In: Berichte und Mitteilungen des Altertumsvereins zu Wien 48 (1915), S. 65–81. Menges, Franz: Wilhelm Kosch. In: NDB 12 (1980), S. 606–608. Österreichische Retrospektive Bibliographie (ORBI). Bearbeitet an der Österreichischen Nationalbibliothek. München: Saur. Reihe 2: Österreichische Zeitungen 1492–1945. 5 Bde. 2001–2003. Reihe 3: Österreichische Zeitschriften 1704–1945. 3 Bde. 2006. Peterson, Helga: Gustav Gugitz, Leben und Werk. Wien 2003. [Diss. masch.] Schmidt, Leopold: Bibliographie Gustav Gugitz. In: Die Linzer Gnadenbilder und ihre Verbreitung durch das kleine Andachtsbild. V. Gustav Gugitz. Wien: Schroll 1965, S. 30–42. Seemann, Otmar: Gert A. Zischka. Bibliograph, Goetheforscher und Arzt. Wien: Hellwig 1991. Stock, Karl F.: Bibliographie der Veröffentlichungen 1956–2000 von Karl F. Stock. Graz: Stock & Stock 2000. Winter, Georg: Hanns Bohatta (1864–1947). Leben und Werk des Wiener Bibliothekars und von allem Bibliophilen. In: Wiener Bibliophilen-Gesellschaft. Jahresgabe 2006. Hrsg. v. Tillfried Cernajsek. Weitra: Bibliothek der Provinz 2006, S. 63–113.
V Forschungsbibliotheken und Museen
HELWIG SCHMIDT-GLINTZER
Buchwissenschaft in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel 1 Vorbemerkung Buchwissenschaft hat in Wolfenbüttel Tradition, was auch in dem 1976 gegründeten »Wolfenbütteler Arbeitskreis für Geschichte des Buchwesens« zum Ausdruck kommt, der im Jahre 1998 mit dem Arbeitskreis für Bibliotheksgeschichte zu dem Wolfenbütteler Arbeitskreis für Bibliotheks-, Buch- und Mediengeschichte verschmolzen wurde.1 Buchwissenschaft – und damit meine ich buchgeschichtliche wie sonstige buchwissenschaftliche Forschung – ist vielleicht nicht dem einzelnen Buch, aber doch einer Bibliothek inhärent; man musste sie daher auch nicht nach Wolfenbüttel tragen, weil die Herzog August Bibliothek (HAB) selbst immer schon eines der größten Beispiele für Buchgeschichte und zugleich für reflexiven Umgang mit Büchern darstellt. Das war seit der Gründung der Bibliothek so. Insbesondere aber mit Herzog August d. J. (1579–1666) trat die Wolfenbütteler Bibliothek in ein Stadium, welches sie zu einem zentralen Ort des ordnenden und reflexiven Umgangs mit Handschriften und Drucken werden ließ. Buchwissenschaft in einem weiteren Sinne indes ändert sich mit der Zeit, nimmt die Tradition schriftlicher oder sonst dokumentierter Überlieferung immer mit einem neuen Blick aus der jeweiligen Gegenwart wahr – und bedient sich dabei der zuhandenen technischen und intellektuellen Möglichkeiten. Natürlich geht es bei Bibliotheken, Archiven und Sammlungen um Bestandsgeschichte, um Provenienzen, auch um Nutzerspuren. Es geht dabei auch um die Bemühungen der Geisteswissenschaften um 1
Ich widme diesen Beitrag Herbert G. Göpfert (22. September 1907–20. April 2007), dem Herausgeber des ersten Bandes der »Schriften des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Geschichte des Buchwesens«, in dem unter dem Titel »Buch und Leser« die Vorträge des ersten Jahrestreffens des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Geschichte des Buchwesens vom 13. und 14. Mai 1976 erschienen sind. Vgl. Göpfert: Buch und Leser. – Die erste bewusste Begegnung mit Herbert G. Göpfert hatte ich selbst übrigens nur mittelbar, nämlich mit seinem Enkel Johannes Göpfert, der bei mir 1991 sein Magisterexamen in Sinologie ablegte.
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das kulturelle Gedächtnis. Unter der Überschrift »Die Geisteswissenschaftler als Schutzengel des kulturellen Gedächtnisses« hat Aleida Assmann unter anderem auf die Vermittlung zwischen Kanon und Archiv hingewiesen. Und dabei geht es dann auch um die Gewinnung eines sich stets erneuernden Blicks auf die schriftliche Überlieferung. Diese Arbeit am Archiv ist daher auch die eine Seite, für die sich Buchwissenschaft interessiert und zu der sie ihre Erkenntnisse beiträgt; es geht dabei vor allem um die im Lichte der Gegenwart und der gegenwärtigen Möglichkeiten gebotene Neulektüre des Bestands; die Neuordnung, Neuerschließung ist die andere Seite des reflexiven Umgangs mit der Überlieferung. Beides kennzeichnet die HAB. Mit dem einen, der Arbeit am Bestand, werde ich mich nur am Rande beschäftigen, so zentral dieser Bereich auch ist und eigentlich nicht zu lösen von buchwissenschaftlichen Fragestellungen. Zu dieser Arbeit am Bestand gehört auch die Erweiterung der Sammlungen einschließlich der Publikationen neuer Forschungsarbeiten, weswegen die HAB eine eigene Publikationsabteilung mit Lektorat unterhält. – Das nur am Rande. Konzentrieren will ich mich nun also auf die buchwissenschaftlichen Aktivitäten der HAB im engeren Sinne, ohne die Arbeit am Archiv und die Neuordnung und Neuerschließung ganz zu vernachlässigen.
2 Bestandsgeschichte Dass eine solche Sammlung wie die in Wolfenbüttel Bestandsgeschichte – eines der Kerngebiete von Buchwissenschaft – betreibt, ist eine Selbstverständlichkeit. Die Wolfenbütteler Bestandsgeschichte ist zwar gut erforscht und im Handbuch der historischen Buchbestände beschrieben.2 Doch kommen immer neue Erkenntnisse dazu, dank auch der Forschungen von Stipendiaten und Gastforschern, die sich teilweise als Monographien in einer unserer Publikationsreihen dokumentieren, wie zuletzt etwa die buchhistorische Arbeit von Volker Remmert: Widmung, Welterklärung und Wissenschaftslegitimierung. Titelbilder und ihre Funktionen in der Wissenschaftlichen Revolution, die als Band 110 der Reihe Wolfenbütteler Forschungen erschienen ist.3 Gerade weil es auch dem spezifischen Selbstverständnis der HAB entspricht, sich den forschenden Leserinnen und Lesern zu öffnen, hat es 2 3
Raabe: Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland. Bd. 2,2, S. 209–239. Remmert: Widmung, Welterklärung und Wissenslegitimierung.
Buchwissenschaft in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel
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in den letzten Jahren zahllose Neuentdeckungen gegeben. Als ein Beispiel sei nur der Fund von Autographen Martin Luthers, Philipp Melanchthons, Lucas Cranachs und Albrecht Dürers in der Luther-Bibel des Hans Ulrich Krafft aus Ulm genannt.4 Aber Bücher haben eben ihre oft sehr verwickelten Schicksale und daher ist die Bestandsgeschichte für jede Sammlung eine Daueraufgabe. Und wie sich immer wieder neuer Sinn an einzelne Titel, an Werke, aber auch oft genug an spezifische Ausgaben heftet, weiß jeder, der sich mit Büchern abgibt, und es wird auch gelegentlich öffentlich bezeugt, wie 2006 in der Festgabe für Wolfgang Beck zum 65. Geburtstag unter dem Titel Ein Buch, das mein Leben verändert hat.5 Und dann gilt weiterhin, dass nämlich Texte keine immanente Überlebenskraft haben, sondern eines Mediums bedürfen, eines Kommentars etwa oder eines sonstigen Äquivalents. Und erschlossene Bibliotheken bzw. die immer wieder neu stattfindende Erschließung sind ein solches Äquivalent, neben Kommentaren, Editionen und dem WiederauflebenLassen alter Texte in neuen Sinnzusammenhängen. Darum auch ist es wichtig, dass solche Bestände wie jene der Wolfenbütteler Bibliothek als Ganzes wie in ihren Teilbeständen immer wieder neu erschlossen werden. Für nähere Auskünfte zu den Erschließungsmaßnahmen sei auf die über das Internet zugänglichen Darstellungen hingewiesen.6 Die Erschließung berücksichtigt neue Begrifflichkeiten, neue Fragestellungen und bezieht, insbesondere in der Handschriftenkatalogisierung, neuere Forschung mit ein.
3 Provenienzen und Sacherschließung Ein wichtiges eigenes Forschungsfeld ist die Provenienzforschung, wobei unterschiedliche Provenienzbegriffe zu beachten sind. Erfreulicherweise arbeiten Handschriftenbibliothekare bisweilen auch noch nach ihrer aktiven Zeit an den Beständen, oder nachgelassene Beiträge werden von Nachfolgern oder Schülern zur Veröffentlichung gebracht. So haben wir 4 5 6
Vgl. Schauerte: Die Luther-Bibel des Hans Ulrich Krafft. Felken: Ein Buch, das mein Leben verändert hat. Neben den vielen Projekten, welche auf der Homepage http://www.hab.de sowie in einzelnen Publikationen, Katalogen und Datenbanken zu finden sind, nenne ich nur einige neuere Publikationen zur Beschreibung bzw. Erschließung der Wolfenbütteler Bestände: Fundaminski: Kyrillische Bücher in der Herzog August Bibliothek; Brecht: J. V. Andreae und Herzog August zu Braunschweig-Lüneburg; Heß: Literatur im Lebenszusammenhang; Perrin: Netzwerk- und Sammelpolitik Herzog Augusts d. J.
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jetzt ein äußerst nützliches Register zur Datierung der Erwerbung der Augusteischen Handschriften von Wolfgang Milde, dem früheren Handschriftenbibliothekar. Die Aufstellung ist für die Arbeit mit diesem Handschriftenbestand hilfreich und ist zugleich ein Beitrag zur Provenienzforschung. Denn diese ermöglicht uns Einblicke in die Schicksale der Bücher und Handschriften und schafft erst die Voraussetzung für die Beantwortung neuer Fragen. Doch nicht das Wissen um die Herkunft und die früheren Besitzwechsel der einzelnen Titel im Altbestand der Wolfenbütteler Bibliothek allein ist wichtig; ebenso förderlich ist auch das Wissen um die frühere Benutzung des Bestands, um die Wirkungsgeschichte. Und dies gilt wegen ihrer Einmaligkeit insbesondere bei den Handschriften. Für die Benutzung bzw. Wirkung der auf Veranlassung Gottfried Wilhelm Leibniz’ unter Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Lüneburg 1710 in die Wolfenbütteler Bibliothek gekommene Handschriftensammlung Marquard Gudes zeichnet Helmar Härtel, der ehemalige Leiter der Handschriftensammlung, die Rezeption dieser Handschriften in seinem Beitrag nach.7 Solange es Bücher gibt, haben sie auch ihre eigenen Schicksale gehabt. Daher interessieren sich Bibliotheken mit historischem Buchbestand für die Geschichte ihrer Sammlungsteile und verzeichnen diese auch in den Katalogeinträgen. Denn nicht nur Handschriften, sondern auch gedruckte Bücher werden, selbst wenn sie einmal in großer Zahl hergestellt worden sind, im Laufe der Zeit zu Individuen mit Einzelschicksalen. Provenienzerschließung findet daher auch bei den Drucken statt. Seit etwa zwei Jahren wird in der Wolfenbütteler Arbeitsstelle des Projektes »Sammlung deutscher Drucke« (SDD) systematisch Provenienzerfassung betrieben. Zu Grunde gelegt wird das von der Arbeitsgemeinschaft Alte Drucke8 empfohlene »Weimarer Modell«. Die Suche ist über den OPAC der HAB unter dem Kriterium Provenienz möglich. Personennamen werden normiert, Fremddaten einbezogen. Ein übergeordnetes Portal steht noch aus, ein Demonstrator ist in Vorbereitung. Zug um Zug wird der gesamte Altbestand unter Provenienzgesichtspunkten beschrieben, wobei wir uns derzeit in einer Pilotphase befinden. Um die Arbeit zu erleichtern wurden die Magazine mit WLAN ausgestattet, so dass ›vor Ort‹ im Verbundkatalog gearbeitet werden kann.
7 8
Vgl. Härtel: Der Nutzen der Gudeschen Handschriften. Vgl. Arbeitsgemeinschaft Alte Drucke. http://aad.gbv.de/ [10.08.2008].
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Für die Sacherschließung haben sich durch die Datentechniken neue Möglichkeiten ergeben. Bei allem ist oberstes Prinzip, Übersichtlichkeit durch klare Differenzierung und zugleich durch Zusammenführung und Integration zu erreichen, um dem mündigen Nutzer einen unmittelbaren Zugang zu der gedruckten oder handschriftlichen Überlieferung zu ermöglichen. Durch gezielte Anreicherung des Katalogs lassen sich die Suchbedingungen für alte Drucke wesentlich verbessern. Durch die Eingabe des »Verzeichnis medizinischer und naturwissenschaftlicher Drucke, 1472– 1830« von Werner Arnold kann heute gezielt nach medizinischer und naturwissenschaftlicher Fachliteratur der Frühen Neuzeit im elektronischen Katalog gesucht werden: Verknüpft wurden in rund einjähriger Arbeit 19 000 Titel mit medizinischen und naturwissenschaftlichen Notationen. Durch die in einer Kooperation mit der ungarischen Nationalbibliothek in Budapest erfolgte Eingabe der bibliographischen Nummern des Hungarica-Katalogs von Katalin Nemeth können Hungarica gezielt recherchiert werden9. Gleiches gilt für die Emblembücher der Bibliothek. Nach Eingabe des Emblembuchverzeichnisses von Carsten-Peter Warnke 10 lassen sich rund 1 300 Emblembücher in allen Medienformen, als Druck, Film und Digitalisat aus dem OPAC selektieren. Die Bibliothek hat als Kompetenzzentrum für alte Drucke die ius commune-Bibliothek der UB Osnabrück katalogisiert 11 ; die Katalogisierung des in Helmstedt im Juleum verbliebenen Bestands ist in Vorbereitung.
4 Benutzerspuren Natürlich hat eine öffentliche Bibliothek, wenn man einmal von der Provenienzerschließung absieht, kein Interesse an Nutzerspuren, und doch bleiben sie nicht aus. Sie sind in alten Werken durchaus zu finden.12 Lange Zeit war solchen Spuren durch die Benutzungsordnung regelrecht ein Riegel vorgeschoben, doch allmählich treten wir in eine neue Phase, in eine der willkommenen Schreibspuren von Benutzern, wenn wir nämlich 9 10 11 12
http://dbs.hab.de/katalog/?opac=ungarica [07.12.2009]. http://dbs.hab.de/katalog/?opac=emblembuch [07.12.2009]. Kompetenzzentrum für Alte Drucke. http://www.hab.de/bibliothek/sammlungen/kad/ index.htm [10.08.2008]. Vgl. zum Beispiel Reinitzer: Leserspuren in Bibeln.
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zu den Digitalisaten von Texten Benutzerkommentare zulassen. Das ist noch in den Anfängen, und die Modi der Kommentierung müssen sich noch bilden. Zu den herkömmlichen Benutzerspuren gehören auch die Benutzerverzeichnisse, welche für einen großen Zeitraum erschlossen worden sind.13 – Für unsere Handschriften haben wir übrigens – finanziert durch die DFG – eine Handschriftendokumentation zur Forschungsliteratur zu unseren Handschriften erstellt, bei der man auch von Kommentierungen sprechen könnte. Zukünftige dynamische Editionen werden diesen Aspekt der Kommentierung als Element der Textüberlieferung noch weiter operationalisieren. Damit wird für die Buchwissenschaft auch ein neues Kapitel aufgeschlagen.
5 Einbandforschung Das Einmalige an einer alten Bibliothek gedruckter Bücher sind vor allem die Einbände, auch wenn wir wissen, dank der Einsichten der analytischen Druckforschung, dass auch oft vermeintlich gleiche Drucke voneinander signifikant unterschieden sind. Aber die Einbände sind nun tatsächlich fast immer Unikate. Sie sind übrigens jener Teil des Buchs, der im gegenwärtigen Digitalisierungshype oft unberücksichtigt bleibt. Zur Einbandforschung gehört auch die Analyse der spätmittelalterlichen Einbandstempel.14 In der 1971 gegründeten Arbeitsstelle zur Erschließung mittelalterlicher Handschriften wurden im Rahmen der Handschriftenkatalogisierung die Einbände aller Codices mit sogenannten gotischen Blindstempeln durchgerieben und nach Werkstätten lokalisiert. In den achtziger Jahren wurde die Arbeit auf Inkunabeln und Handschriften der HAB ausgedehnt. Mit der Anfertigung von Durchreibungen der auf Bucheinbänden in verschiedenen Techniken geprägten Stempel, Rollen und Platten ist ein bewährtes Hilfsmittel bei der Erforschung von Bucheinbänden entstanden. Ein Blatt Papier wird auf den Buchdeckel gelegt, und mit Hilfe eines Bleistifts werden die Motive auf das Papier übertragen. So entsteht eine maßstabsgetreue Wiedergabe des Motivs, kostengünstig und effektiv. Es wurden sowohl ganze Einbände als auch Einzelstempel berücksichtigt. Dabei entstand ein umfangreicher Zettelkatalog, der nach Er13 14
Vgl. Raabe: Leser und Lektüre im 18. Jahrhundert. Pickwoad: Bookbindings in the Bibliotheca Augusta.
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scheinen des Werks von Ilse Schunke15 mit diesem verzahnt und terminologisch darauf ausgerichtet wurde. Heute besitzt die HAB eine Sammlung von mehr als 4 800 Durchreibungen von Einzelstempeln. Hinzu kommen mindestens 2 250 Gesamtdurchreibungen. Diese sind über das seit 2001 durchgeführte DFG-Projekt zum Aufbau einer Datenbank, die zusammen mit Berlin, Stuttgart und München betrieben wird, über das Internet recherchierbar.16 Allerdings ist anzumerken, dass die Datenbank wohl das Material zu einzelnen Werkstätten zur Verfügung stellt, es aber noch vieler Einzelstudien bedarf, um eine einwandfreie Zuweisung der Stempel zu den tatsächlichen Herkunftswerkstätten zu gestatten. Die Datenbank wird von Berlin (Schwencke-Schunke-Sammlung) Darmstadt, Stuttgart (Sammlung Kyriss), München und Wolfenbüttel ›gefüttert‹. All diese Aspekte werden auch durch die von ihrem ehemaligen von 1950 bis 1969 amtierenden Direktor Erhart Kästner begründeten Wolfenbütteler Restaurierwerkstatt in eigener Weise gebündelt und bedacht. Restauratoren begreifen und bearbeiten die Objekte, mit denen sie umgehen, als »Historiker der Hand«, d. h., die Dinglichkeit wird als mehrdimensionale historische Quelle gesehen, durch deren Interpretation ganz eigene Erkenntnisse gewonnen werden können. Die vielfältigen Berührungspunkte mit Buchgeschichte und Buchwissenschaft sind offenkundig. Im Vordergrund stehen Aspekte der Papiergeschichte (Verwendung, Format, Art, Wasserzeichen, Oberflächenstruktur, Leimung, Strich, Fasern, Füllstoffe, Fremdstoffe, Einschlüsse) und der Einbandforschung (Bestimmung der Herstellungstechnik, Drucktechnik, Material, Einbandstempel, Gebrauchsspuren).
6 Handschriftenerschließung Seit Jahren erschließt die HAB ihre Handschriftenbestände sowie die Bestände anderer Einrichtungen im norddeutschen Raum.17 Die Bestandserschließung im Bereich der Handschriften erfolgt durch moderne Kataloge nach DFG-Richtlinien: Die Beschreibungen enthalten alle Informationen 15 16 17
Vgl. Schunke: Die Schwenke-Sammlung. Einbanddatenbank. http://www.hist-einband.de [10.08.2008]. Zur Bestandsgeschichte der Handschriftensammlung ist der entsprechende Artikel im Handbuch der Handschriftenbestände in der Bundesrepublik Deutschland auf den Seiten 498–508 zur Rate zu ziehen. – Handbuch der Handschriftenbestände in der Bundesrepublik Deutschland. T. 1. Baden-Württemberg, Bayern, Berlin (West), Bremen, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Schleswig-Holstein.
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zur Herkunft, die wir den Handschriften entnehmen können. Dabei unterscheiden wir zwei Provenienzaspekte. Erstens den Entstehungsort, idealerweise das Skriptorium, in dem die Handschrift geschrieben wurde; oft ist aber nur eine vage Lokalisierung möglich (z. B. Bistum Hildesheim, Niedersachsen, Norddeutschland). Diese Bestimmung erfolgt entweder exakt durch Schreibereinträge oder durch inhaltliche Hinweise (z. B. Lokalheilige), bisweilen aufgrund der Schrift – auch wenn solche Schrifterkennungsbegabungen wie die des berühmten Handschriftenforschers Bernhard Bischoff selten sind. Der zweite Aspekt der Provenienz bezieht sich auf die Besitzgeschichte. Hier beruhen die Angaben auf Besitzeinträgen oder auf dem Einband, der ja nicht am Entstehungsort entstanden sein muss. Die gotischen Einbandstempel ermöglichen in vielen Fällen die Identifizierung der Buchbinderwerkstatt, aber vieles bleibt hier – trotz überaus nützlicher Einbanddatenbank – hypothetisch.
7 Rekonstruktion von Klosterbibliotheken Von den geplanten neuen Erschließungsprojekten soll an dieser Stelle die Rekonstruktion von Klosterbibliotheken in Norddeutschland erwähnt werden.18 Davon versprechen wir uns neue Einsichten in Zusammenhänge zwischen Klöstern und ihren Bibliotheken. Die Rekonstruktion spätmittelalterlicher Klosterbibliotheken und der Buchkultur im Zeitalter des Nebeneinanders von Handschrift und Druck ist eine Forschungsrichtung, die jüngst wieder verstärkt eingeschlagen wird.19 Sie dient in erster Linie dazu, das geistige Umfeld einzelner Personen oder Gemeinschaften zu konturieren: »Bücher gelten gleichsam als das materielle Substrat der intellektuellen Ausrichtung, belegen allein durch ihr Vorhandensein Interesse an, vielleicht auch Beschäftigung mit ihnen […]. Die Bestandsanalyse der Klosterbibliotheken als einer unverzichtbaren Komponente intellektueller Betätigung im monastischen Rahmen bedarf daher nicht eigens der Recht-
18 19
Klosterbibliotheken waren in der letzten Zeit mehrfach Gegenstand von Katalogisierungsund Ausstellungsprojekten der HAB. Zuletzt Härtel: Geschrieben und gemalt. Vgl. zuletzt Schlotheuber: Nonnen, Kanonissen und Mystikerinnen; Freckmann: Die Bibliothek des Klosters Bursfelde im Spätmittelalter; Schmidt: Die ehemalige Franziskanerbibliothek zu Brandenburg an der Havel. – Zahlreiche einschlägige Beiträge finden sich in den beiden folgenden Sammelbänden: Kruppa/Wilke: Kloster und Bildung im Mittelalter; Eisermann/Schlotheuber/Honemann: Studien und Texte zur literarischen und materiellen Kultur der Frauenklöster.
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fertigung.« 20 Dabei geht es nicht nur – wie vielfach in älteren Untersuchungen – um die Zusammenstellung von Beständen, die zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort eine Einheit bildeten, also reine Provenienzgeschichte, sondern um ein besseres Verständnis der Bildungsgeschichte, des Wissensaustauschs, der Literaturversorgung und damit der geistigen Interessen von Personen, Einzelkonventen und Klosterverbänden. Es geht also um ein erweitertes Verständnis von Buchwissenschaft, von dem ich eingangs sprach. Methodisch ist bei der Analyse allerdings strikt darauf zu achten, aus welchen Provenienzen sich die Klosterbestände zusammensetzen (eigene Abschriften, Ankäufe, Legate) und ob die Bände Spuren von Benutzung zeigen, ihr Inhalt also in irgendeiner ersichtlichen Weise wirken konnte. Am Ausgang des Mittelalters und in den Jahrzehnten der Reformation waren die Bibliotheken der Klöster in Niedersachsen noch immer die bedeutendsten Wissensspeicher in dieser Gegend. Die Klosterbibliotheken im Gebiet des alten Herzogtums Braunschweig-Wolfenbüttel sind in ungewöhnlicher Dichte überliefert, weil sie nach Einführung der Reformation (1568) geschlossen in die herzogliche Bibliothek nach Wolfenbüttel gebracht wurden. Ihre Erforschung ist bisher erst in Ansätzen geleistet und verspricht Aufschlüsse, die für die Gesamtheit der historisch ausgerichteten Kulturwissenschaften von hohem Interesse sind. Die überlieferten Bestände enthalten neben biblischen und liturgischen Stücken eine außerordentlich große Vielfalt von Texten (Regeltexte, Gebetbücher, Erbauungsliteratur, Wörterbücher usw.). Zahlreiche Codices enthalten Notenschrift, gelegentlich sind auch Miniaturen und Federzeichnungen zu finden. Von ihrer genaueren Kenntnis profitieren außer der Geschichtswissenschaft im engeren Sinne Literatur- und Musikwissenschaftler, Theologen und Kunsthistoriker. Welche Möglichkeiten die eingehendere Beschäftigung mit den ehemals klösterlichen Beständen in sozial-, mentalitäts- und bildungsgeschichtlicher Hinsicht bietet, zeigen beispielhaft Untersuchen wie diejenige von Thomas Kock zur Devotio moderna, 21 von Andreas Beriger zur Windesheimer Klosterkultur22 oder von Eva Schlotheuber zu den Zisterzienserinnen des Kreuzklosters bei Braunschweig.23 Jüngst wurde auf die – im Vergleich zu süddeutschen Frauenklöstern – auffallend guten Lateinkenntnisse in nieder-
20 21 22 23
Müller: Habit und Habitus, S. 26f. Kock: Die Buchkultur der Devotio moderna. Beriger: Windesheimer Klosterkultur um 1500. Schlotheuber: Klostereintritt und Bildung.
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sächsischen Frauenklöstern hingewiesen. 24 Eine eingehende Analyse der Überlieferungsträger dürfte die Kenntnis über das Bildungsniveau und das damit einhergehende Selbstverständnis gerade der Frauenkonvente wesentlich fördern.25 In der HAB sind unter anderem die Bestände aus den sieben Klöstern Dorstadt, Georgenberg/Grauhof bei Goslar, Heiningen, Helmstedt (St. Ludgeri und Mariental), Steterburg und Wöltingerode nahezu geschlossen erhalten. Dabei handelt es sich um Frauen- und Männerklöster der Benediktiner und Zisterzienser sowie um Augustinerchorfrauen bzw. -chorherren. Diese rund 250 Handschriften, die zum überwiegenden Teil aus dem 15. Jahrhundert stammen, stellen eine ausgezeichnete Quellengrundlage für bibliotheks- und kulturwissenschaftliche Studien dar. Die Mehrzahl der zu untersuchenden Klöster wurde Mitte des 15. Jahrhunderts in Reformbestrebungen involviert, die von Bursfelde aus die Benediktiner, von Windesheim ausgehend die Augustiner erfassten. Ein anschauliches Bild der Reformbestrebungen bei den Augustinern und Augustinerinnen liefert etwa Johannes Busch (1399–1480), der als Prior des Hildesheimer Sülteklosters u. a. die Konvente in Dorstadt, Heiningen und Steterburg reformierte.26 Allerdings sind gerade in Frauenkonventen, etwa in Steterburg und Wöltingerode, auch Widerstände gegen die von Männern dominierten Reformbestrebungen belegt.27 Die Produktion und Tradierung von Texten und Büchern im Rahmen dieser Reformbestrebungen lässt sich an den genannten Beständen exemplarisch untersuchen.
8 Bildungs- und Wissensgeschichte sowie die Untrennbarkeit von Handschriften und Drucken Zur Erforschung der genannten Handschriftenbestände gehört auch die Rekonstruktion der Bestände an gedruckten Büchern. Auch sie sind weitgehend vollständig in die Wolfenbütteler Bibliothek gelangt, aber bisher nie im Zusammenhang untersucht worden, obwohl bereits einige Vorarbeiten geleistet wurden.28 Ihre Provenienzen werden derzeit in Eigenleistung ermittelt 24 25 26 27 28
Schlotheuber, S. 268–296; Schlotheuber: Ebstorf und seine Schülerinnen, S. 169–221. Zu Süddeutschland vgl. Ehrenschwendtner: Die Bildung der Dominikanerinnen in Süddeutschland. Zu bislang kaum umgesetzten Forschungsperspektiven vgl. Härtel: Studien zum Wachstum. Lesser: Johannes Busch. Schmidt: Widerstand von Frauen gegen Reformen. Ansätze bei Härtel: Studien zum Wachstum, S. 94 mit Hinweisen zum Besitz von Drucken in Heiningen, Dorstadt, Steterburg und Georgenberg, S. 96 mit Hinweisen zu Drucken in
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und im OPAC der HAB verzeichnet. Um wie viele Bände aus den hier genannten Konventen es sich dabei handelt, ist noch nicht abzuschätzen. Besonderes Interesse verdienen dabei Bände, die Druckschriften und größere handschriftliche Einheiten in einer buchbinderischen Einheit zusammenfassen. Die Druckschriften, die für die Klöster am Ausgang des Mittelalters vor Einführung der Reformation angeschafft wurden, dürften einen besonders interessanten Einblick in das intellektuelle und geistliche Profil der jeweiligen Häuser gewähren und erkennen lassen, inwieweit im 16. Jahrhundert Offenheit für neue, reformatorische Strömungen vorhanden war. Exemplarisch ist das bereits an der Klosterbibliothek Oldenstadt bei Uelzen mit ihrem dem reformatorischen Gedankengut besonders zugetanen Abt Heyno Gottschalk schon versucht worden.29 Aufschlüsse werden auch darüber zu gewinnen sein, ob und ggf. in welcher Weise reformatorisches Gedankengut in Form von Büchern in die bis um 1570 katholischen Konvente gelangen konnte. Insgesamt soll am vorliegenden Quellenmaterial ermittelt werden, inwieweit sich ordens- und geschlechtsspezifische Interessen aus den zu rekonstruierenden Bibliotheken ableiten lassen, welchen Einfluss in den Konventen Reformbestrebungen des 15. Jahrhunderts auf die Buch- und Lesekultur hatten und wie im 16. Jahrhundert auf die von Wittenberg ausgehende Reformation reagiert wurde. Insbesondere wird dabei die Bedeutung der Epochengrenze Mittelalter/Frühe Neuzeit für die Entwicklung der Bibliotheken in den Blick zu nehmen sein.
9 Arbeit im Verbund – das Beispiel Arbeitsgemeinschaft Alte Drucke (AAD) Die Gründung der AAD im Jahr 2002 ebenso wie später auch die Gründung der Arbeitsgemeinschaft Handschriften und Alte Drucke des Deutschen Bibliotheksverbandes 30 wurde ganz wesentlich durch Wolfenbüttel mitinitiiert. Innerhalb der gegründeten AAD werden Themen und Verfahren konsensual abgestimmt und verabredet. Bei den Gattungbegriffen (Zusammenstellung der Liste aus den vorhandenen Listen der SDD und des
29 30
Wöltingerode, S. 99, Anm. 66 mit Angaben zu Northeim. Weitere Nachweise von Drucken in Georgenberg, Wöltingerode und Helmstedt (St. Ludgeri): Härtel: Zum Nachweis der Bibel in niedersächsischen Klöstern, S. 87. Härtel: Notabene: Heyno Gottschalk bei der Lektüre. AG Alte Drucke und Handschriften des DBV http://www.bibliotheksverband.de/ aghandschriften/start.html [10.08.2008].
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Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 17. Jahrhunderts, VD 17) hat Wolfenbüttel in besonderem Maße seine Erfahrungen einbringen können. Intensiv mitgewirkt hat die HAB auch bei der Erstellung einer kanonisierten Liste bibliographischer Werke 31 , zum weiteren ist die Homepage der AAD in Wolfenbüttel entworfen worden und wird auch seitdem hier gepflegt. Im Rahmen der AAD werden regelmäßig Schulungen zur Katalogisierung des Alten Buchs durchführt.
10 Analytische Druckforschung Im Zusammenhang von Wolfenbüttel muss natürlich auch von der analytischen Druckforschung die Rede sein, welche nach dem Tode von Martin Boghardt (1936–1998) nicht mehr fortgeführt werden konnte. Boghardt hatte sich – an die ältere Tradition Wolfenbütteler Druckanalysen durch Friedrich Adolf Ebert (1791–1834) und Gustav Milchsack (1850–1919) anknüpfend – besonders heiklen Fragen aus der frühen analytischen Buchdruckgeschichte zugewandt, etwa dem Catholicon von 1460 oder den Pfisterdrucken aus Bamberg. Unter dem Titel Archäologie des gedruckten Buches, herausgegeben von Paul Needham, sind Martin Boghardts gesammelte Arbeiten inzwischen in der Reihe der Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens erschienen.
11 Alte und neue Aktivitäten Einige neuere Forschungsergebnisse finden sich immer wieder in den Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte, wie jetzt im neuesten Heft, die Arbeiten von Oliver Duntze32 und von Hans-Jörg Künast33, eine Arbeit, die während eines Wolfenbütteler Stipendienaufenthalts entstanden ist. Viele unserer Ergebnisse sind inzwischen online abrufbar, nicht nur die Wolfenbütteler Bibliotheks-Informationen, sondern auch die Wolfenbütteler Bibliographie zur Geschichte des Buchwesens im deutschen Sprachraum (WBB),
31 32 33
Vgl. http://aad.gbv.de/ressourcen/bibliographien.html [10.08.2008]. Duntze: Methodisches Ärgernis oder wissenschaftliche Chance? Künast: Augustana in der Augusta.
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die seit Ende 2006 online zur Verfügung steht 34 . Diese Daten werden auch in das neue buchwissenschaftliche Portal b2i35 eingespielt. Zu den Leichenpredigten ist eine neue Version der Datenbank der Leichpredigten mit optimierter Oberfläche und neuen Suchfunktionen erschienen 36 ; diese wird um die Stolberg-Daten zu der in Wolfenbüttel befindlichen Leichenpredigten aus dem Gesamtkatalog deutschsprachiger Leichenpredigten (GESA) 37 angereichert werden, so dass erstmalig ein vollständiger Überblick über alle in der HAB befindlichen Leichenpredigten möglich ist. Der Lutherkatalog ist online38; dessen Daten zu den ermittelten Provenienzen sind bereits in den CERL Provenienzenthesaurus eingeflossen; Daten werden auch über das kunsthistorische Portal Prometheus angeboten.39 Auch auf eine kleinere Arbeit sei hingewiesen: Die Vedutendatenbank von einer Stipendiatin der Bibliothek, Iris Berndt, wurde unlängst freigeschaltet.40 Diese Datenbank erschließt graphische Blätter mit historischen Stadtansichten aus der Braunschweiger Region und sie ist ein Beispiel für von Stipendiaten und Gastforschern an die Wolfenbütteler Bibliothek herangetragene Projekte, zu denen die Bibliothek oft lediglich die technische Plattform zur Publikation bietet. Zuletzt sei noch auf die in Zusammenarbeit mit den Herzog Anton Ulrich Museum in Braunschweig entstehende Datenbank »Virtuelles Kupferstichkabinett« aufmerksam gemacht, die in ihrer letzten Ausbaustufe Beschreibungen und Digitalisate von mehr 40 000 graphischen Blättern nachweisen soll.41
34 35 36 37 38 39 40 41
Datenbank der Wolfenbütteler Bibliographie zur Geschichte des Buchwesens im deutschen Sprachgebiet: 1840–1980 (WBB). http://diglib.hab.de/edoc/ed000003/start.htm [10.08.2008]. b2i Guide. http://www.b2i.de/b2iGuide/index.html [10.08.2008]. Katalog der Leichenpredigten der HAB. http://diglib.hab.de/edoc/ed000010/start.htm [10.08.2008]. GESA. http://web.uni-marburg.de/fpmr//html/db/gesainfo.html [10.08.2008]. Katalog der Wolfenbütteler Lutherdrucke. http://diglib.hab.de/edoc/ed000007/start.htm [10.08.2008]. Prometheus. http://www.prometheus-bildarchiv.de/ [10.08.2008]. Historische Ortsansichten. http://diglib.hab.de/edoc/ed000009/start.htm [10.08.2008]. Virtuelles Kupferstichkabinett. http://www.virtuelles-kupferstichkabinett.de [10.08.2008]
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12 Digitalisierung Innerhalb der Wolfenbütteler Digitale Bibliothek (WDB) werden buchhistorisch wichtige Quellen zugänglich gemacht: z. B. Inkunabeln im Rahmen des Portals Verteilte Digitale Inkunabelbibliothek (vdIb), ein Kooperationsprojekt mit Köln, über das mittlerweile rund 1 300 digitalisierte Inkunabeln zur Verfügung stehen, graphische Materialien im Projekt Virtuelles Kupferstichkabinett, archäologische Funde und weiteres gemäß unserer Projektliste und den WDB Seiten: http://www.hab.de/bibliothek/wdb/. Arbeiten zur digitalen bzw. dynamischen Edition sind in Vorbereitung bzw. auf dem Wege.42 – Mehr als 7 000 alte Drucke und Handschriften sind gegenwärtig bereits online zugänglich. Die HAB gehört zu den vier Pilotprojekten zur Massendigitalisierung von historischen Buchbeständen (neben München, Halle und Dresden). Im Jahre 2009 wird sie im Rahmen des Projektes »Dünnhaupt Digital« über 2 000 Titel zusätzlich online zur Verfügung stellen. Zugleich werden Überlegungen zur Benutzung der Bibliothek nach der Digitalisierung großer Teile der Bestände angestellt.
13 Literaturverzeichnis Assmann, Aleida: »Die Geisteswissenschaftler als Schutzengel des kulturellen Gedächtnisses«. In: Geisteswissenschaften – im Gegenwind des Zeitgeistes? Hrsg. v. Klaus-Michael Kodalle. Stuttgart: Steiner 2007 (Abhandlungen der Geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse/Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz. 2007/1), S. 61–75. Beriger, Andreas: Windesheimer Klosterkultur um 1500. Vita, Werk und Lebenswelt des Rutger Sycamber. Tübingen: Niemeyer 2004 (Frühe Neuzeit. 96). Berndt, Iris: Historische Ortsansichten des ehemaligen Fürstentums Wolfenbüttel vor 1800. http://diglib.hab.de/edoc/ed000009/start.htm [10.08.2008]. Brecht, Martin: J. V. Andreae und Herzog August zu Braunschweig-Lüneburg. Ihr Briefwechsel und ihr Umfeld. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2002 (Clavis pansophiae. 8). Duntze, Oliver: Methodisches Ärgernis oder wissenschaftliche Chance? Beobachtungen zum Schriftenhandel der Inkunabelzeit. In: WNB 31 (2006), H. 2, S. 119–136. Ehrenschwendtner, Marie-Luise: Die Bildung der Dominikanerinnen in Süddeutschland vom 13. bis 15. Jahrhundert. Stuttgart: Steiner 2004 (Contubernium. 60). Eisermann, Falk/Schlotheuber, Eva/Honemann, Volker (Hrsg.): Studien und Texte zur literarischen und materiellen Kultur der Frauenklöster im späten Mittelalter. Ergebnisse eines Arbeitsgesprächs in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, 24. bis 26. 42
Justus Lipsius: De Bibliothecis. http://diglib.hab.de/drucke/ed000001/start.htm (work in progress) [10.08.2008]; Protokoll des Religionskolloquiums in Vilnius am 14. Juni 1585. http://diglib.hab.de/edoc/ed000004/start.htm [10.08.2008]; Dasypodius’ Dictionarium Latinogermanicum. http://diglib.hab.de/edoc/ed000008/start.htm [10.08.2008].
Buchwissenschaft in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel
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Helwig Schmidt-Glintzer
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BRIGITTE KLOSTERBERG
Erschließungsprojekte in der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen zu Halle Die Franckeschen Stiftungen zu Halle verfügen mit Bibliothek und Archiv, die gemeinsam das Studienzentrum August Hermann Francke bilden, über umfangreiche historische Quellensammlungen zur Erforschung des kirchlichen und kulturellen Lebens der Frühen Neuzeit, besonders des Pietismus und der Frühaufklärung. Die Bibliothek wurde gegen Ende des 17. Jahrhunderts von dem pietistischen Pastor und Universitätsprofessor August Hermann Francke (1663–1727) als öffentlich zugängliche Einrichtung gegründet. Noch heute ist der Bibliothekssaal aus dem 18. Jahrhundert, die sogenannte Kulissenbibliothek, erhalten und für interessierte Besucher zugänglich. Der Altbestand der Bibliothek, rund 90 000 Bände, ist universal ausgerichtet, wenn auch theologische Werke überwiegen.1 Die Kulissenbibliothek gehört zusammen mit der Kunst- und Naturalienkammer im historischen Waisenhaus zu den öffentlich musealen Räumen, die von den Besuchern der Franckeschen Stiftungen besichtigt werden können. Die Bibliothek hat damit eine doppelte Funktion: Sie ist zum einen ein Buchmuseum, dessen reiche Bestände im alten Lesezimmer in wechselnden Kabinettausstellungen vorgestellt werden, zum anderen eine kulturhistorische Forschungsbibliothek, die den Zugang zur Benutzung und Erforschung ihrer Bestände gewährleisten, verbessern und mit eigenen Forschungs- und Erschließungsprojekten befördern will. Von der Universalität des Buchbestands zeugen die wechselnden Kabinettausstellungen und ihre Titel wie etwa ABC-Büchlein und Bilderbibel, Engel in alten Bibeln, Reisen, Entdecken, Erinnern. Reiseliteratur der frühen Neuzeit, Annalen, Chroniken, Viten. Zeugnisse früher Geschichtsschreibung, Ein tierisches Vergnügen. Zoologische Buchillustrationen oder Praxis pietatis. Pietistische Erbauungsliteratur. Zu einigen Ausstellungen sind kleine Kataloge oder Auf1
Hübner/Klosterberg/Müller: Die Bibliothek der Franckeschen Stiftungen, S. 103–112; Klosterberg: Die Bibliothek der Franckeschen Stiftungen; vgl. auch Knopf: Die Franckeschen Stiftungen und ihre Bibliothek, S. 405–410.
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sätze in Fachzeitschriften erschienen.2 Die Ausstellung über die Tierbücher im Jahr 2005 bot den Anlass, einen Bildband mit 32 Illustrationen aus Johann Daniel Meyers dreibändigem Werk Angenehmer und nützlicher Zeit=Vertreib mit Betrachtung curioser Vorstellungen allerhand kriechender, fliegender und schwimmender Thiere […] als auch […] ihrer Scelete oder Bein=Cörper aus den Jahren 1748 bis 1756 herauszugeben.3 Die Buchbestände werden aber auch regelmäßig in den Jahresausstellungen der Franckeschen Stiftungen präsentiert. Im Jahr 2007 bildeten sie sogar den Mittelpunkt der Jahresausstellung »Frühmoderne Bücherwelten. Die Bibliothek des 18. Jahrhunderts und das hallesche Waisenhaus«.4 Sowohl die Präsentation als auch die Erschließung der Buchbestände tragen zu ihrer Erforschung bei. Um die Forschung zu befördern, sind im Studienzentrum Forschungs- und Erschließungsprojekte angesiedelt, die sowohl mit internationalen Kooperationspartnern, wie beispielsweise der Széchényi Nationalbibliothek in Budapest, als auch im Rahmen von Drittmittelprojekten durchgeführt werden. Die größeren aktuellen Projekte seien an dieser Stelle vorgestellt.5
1 Rekonstruktion, Katalogisierung und Provenienzverzeichnung von Pietistenbibliotheken. Ein DFG-Projekt In die Anfänge der Geschichte des Halleschen Waisenhauses und seiner Bibliothek geht das von der DFG geförderte Projekt »Rekonstruktion, Katalogisierung und Provenienzverzeichnung von Pietistenbibliotheken« (2007–2011) zurück, das sich den frühen Bücherschenkungen zwischen 1698 und 1739 widmet. Francke hatte keinen nennenswerten Etat für die Bibliothek und war deshalb auf Schenkungen angewiesen. Dank hervorragender Kontakte zu Personen, die die innerkirchliche Erneuerungsbewegung des Pietismus unterstützten, erhielt er größere geschlossene Büchersammlungen von Freunden und Kollegen für die Bibliothek des Halleschen 2 3 4 5
Klosterberg: ABC-Büchlein und Bilderbibel; Klosterberg/Soboth: Praxis pietatis; Klosterberg: Das Buch von dem Pilger, S. 50–57, Klosterberg: Das Leben – eine sündenbedrohte Wanderung, S. 212–222. Nürnberg: Johann Joseph Fleischmann, 1748–1756. BFSt: 72 A 17–19; BFSt = Bibliothek der Franckeschen Stiftungen zu Halle. Vgl. den Bildband mit ausgewählten Kupferstichen: Meyer: Vorstellung mancherley fremder und seltener Thiere. Frühmoderne Bücherwelten. Ein Überblick über die laufenden und abgeschlossenen Projekte des Studienzentrums August Hermann Francke findet sich auf der Website der Franckeschen Stiftungen. http://www.francke-halle.de/main/index2.php? cf=3_1_4 [15.08.2008].
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Waisenhauses. Zu diesen Gönnern zählte vor allem Carl Hildebrand Freiherr von Canstein (1667–1719), auf den die Gründung der weltweit ersten Bibelanstalt in den Glauchaschen Anstalten, wie die Franckeschen Stiftungen im 18. Jahrhundert genannt wurden, maßgeblich zurückgeht.6 Er besaß eine der größten universal ausgerichteten Privatbibliotheken der Frühen Neuzeit mit bedeutenden juristischen, historischen und theologischen Werken und trug mit seinem Vermächtnis zugunsten des halleschen Waisenhauses dazu bei, dass sich die Bibliothek des Waisenhauses zu einer universalen, öffentlich zugänglichen Gebrauchsbibliothek modernen Zuschnitts entwickelte. Durch diese und andere Bücherschenkungen umfasste die Bibliothek bereits 20 Jahre nach ihrer Gründung ca. 18 000 Bände, so dass Francke ein eigenes Bibliotheksgebäude, das heute als der älteste erhaltene separate Bibliotheksbau in Deutschland anzusehen ist, errichten ließ.7 In dem neuen Bibliothekssaal wurden die geschenkten Büchersammlungen nach Format und Fachgebiet aufgestellt, so dass die Bücher der verschiedenen Provenienzen in den Bestand integriert wurden. Der Stifter der Bücher trat (und tritt) also nicht in Erscheinung, sondern die Schenkungen formierten sich zu einem Gesamtbestand, der einem Gelehrten wie Francke das für seine Studien notwendige Wissen bereithielt. Dennoch sind diese privaten Schenkungen zu rekonstruieren. Im Archiv der Franckeschen Stiftungen befinden sich nämlich die Inventarlisten der großen und kleinen Schenkungen, die die Bibliothek in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens erhalten hat. Auf Grund dieser hervorragenden Überlieferungssituation ist zu ermitteln, welche Privatbibliotheken namhafter Personen, die sich dem Pietismus hallescher Prägung verbunden fühlten, zwischen 1698 und 1739 in die Bibliothek des Waisenhauses gelangten. Es handelt sich neben der großen Bibliothek Cansteins um die Büchersammlungen des Spiritualisten und Glaubensflüchtlings Friedrich Breckling (1629–1711), des elsässischen Theologen Johann Friedrich Ruopp (1672–1708), des Halberstädter Superintendenten Justus Lüders (um 1656–1708), des Theologen Andreas Achilles (1656–1721), des halleschen Theologieprofessors Paul Anton (1661–1730) und des Slawisten Heinrich Milde (1676–1739). Hinzu kommen kleinere Bücherschenkungen, wie die des Diplomaten Heinrich Wilhelm Ludolf (1655–1712) oder die des in Indien tätigen halleschen Missionars Benjamin Schultze (1689–1760). Im 6 7
Vgl. Schicketanz: Carl Hildebrand Freiherr von Canstein. Vgl. Klosterberg: Die Bibliothek der Franckeschen Stiftungen, S. 35–55; Klosterberg: Die Bibliothek der Franckeschen Stiftungen im 18. Jahrhundert, S. 24–26.
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Rahmen des DFG-Projekts werden die Schenkungen anhand der Titellisten in den Inventaren rekonstruiert.8 Die Bücherschenkung von Achilles ist auf Grund der Namenseintragungen in den Büchern zu ermitteln. Die in der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen vorhandenen Titel werden per Autopsie unter Angabe der Provenienz in den überregionalen Verbundkatalog des Gemeinsamen Bibliotheksverbunds (GBV) katalogisiert, so dass im OPAC der Bibliothek auch nach Provenienzen recherchiert werden kann. Nicht mehr in der Bibliothek vorhandene Titel oder Titel, die auf Grund der unzureichenden Angaben in den Inventaren nicht zu ermitteln sind, werden in einer eigenen Datenbank verzeichnet. Die rekonstruierten Privatbibliotheken spiegeln die spezifischen Interessen ihrer Besitzer, bieten aber zugleich einen guten Querschnitt der wissenschaftlichen Literatur des 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts. Da die meisten Büchersammlungen von Theologen stammen, überwiegen theologische Drucke des Protestantismus, jedoch fehlen Bücher zur Philosophie, Pädagogik, Geschichte, Medizin, zum Recht und zu den Naturwissenschaften in kaum einer der privaten Sammlungen. Dieses Interessensspektrum korrespondiert mit dem alle Bereiche des öffentlichen Lebens umfassenden religiösen Erneuerungsprogramm des Pietismus. Da der Pietismus eine weltweite christliche Gesellschaftsreform anstrebte, sind in den Pietistenbibliotheken auch seltene fremdsprachige Drucke vertreten. Beispielsweise finden sich in der Bibliothek Mildes, der für slawische Sprachen und den Kontakt nach Osteuropa am Halleschen Waisenhaus zuständig war, 71 tschechische, 14 polnische, sieben sorbische, sieben kirchenslawische und vier russische Drucke.9 Da Milde die Gewohnheit hatte, mit ausladender Schrift Notizen und Reflexionen in seine Bücher zu kritzeln, sind seine Bücher nicht nur leicht zu identifizieren, sondern auch interessant, um das personelle Netzwerk zu rekonstruieren, in dem er sich bewegte. Er notierte, von wem er Bücher erworben oder geschenkt bekommen hatte, und nutzte einige Bücher auch als Album Amicorum. So haben in sein Exemplar des tschechischen Neuen Testaments, das 1709 bei Stephan Orban in Halle gedruckt worden ist,10 18 Personen, meist Studenten aus Siebenbürgen, Ungarn und Böhmen, wie etwa 8 9 10
Die Rekonstruktion der Bibliothek Ruopps liegt bereits in Buchform vor; vgl. Scheibe: Rekonstruktion einer Pietistenbibliothek. Zur Biographie Heinrich Mildes und zu seiner Bücherschenkung an das Hallesche Waisenhaus vgl. Tschižewskij: Der Kreis A. H. Franckes in Halle, S. 16–68 u. 153–157; Mietzschke: Heinrich Milde; Klosterberg: Die Bücherschenkung des Slavisten Heinrich Milde. Pisma Swatého Nowy Zákon, Pána a Spasytele nasseho Geisse Krysta. Podlé rozlicne wydanch Exemplárum W Ceskem Gazyku, S welikau Bedliwosti prehlidnut. A nyni w nowé wydan. Halle: Orban 1709. BFSt: 48 I 3.
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Johann Honter († 1749) aus Kronstadt oder der Ungar Justus Johann Torkos (1699–1770), Widmungen hineingeschrieben, die als zusätzliche Provenienzdatensätze dem Katalogisat des Titels im OPAC der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen hinzugefügt worden sind. Ebenfalls sehr seltene Titel sind durch Breckling nach Halle gelangt. Da Breckling 1660 wegen seiner spiritualistischen Anschauungen aus Deutschland nach Holland floh, wo er zunächst als Pastor in Zwolle wirkte und dann in Amsterdam und Den Haag lebte, sind 39 Prozent der Drucke aus seiner Bibliothek auf Niederländisch.11 Dazu zählen Drucke aus der Inkunabel- und Frühdruckzeit, wie etwa die Predigten zu den Sonn- und Feiertagen des Dominikanermönchs Jacobus de Voragine (1228–1298) in einer Ausgabe aus Zwolle aus dem Jahr 1489 oder ein weltweit nur viermal nachgewiesener Druck aus Delft aus dem Jahr 1498, die holländische Prosaversion der geistlichen Dichtung Le pèlerinage de la vie humaine des Zisterziensers Guillaume de Digulleville (1295–1360).12 Dazu korrespondiert, dass der Druckort Amsterdam mit 156 Drucken in seiner Sammlung am häufigsten vorkommt, gefolgt von Antwerpen mit 39 Drucken. Unter den Drucken, die in Holland erschienen sind, waren auch deutschsprachige, die wegen der Zensur in Deutschland nicht gedruckt und verlegt werden konnten. Diese Beispiele zeigen, wie weit das sprachliche und thematische Spektrum der Pietistenbibliotheken reichen kann. Durch die Katalogisierung der Pietistenbibliotheken wird also allen historisch arbeitenden Wissenschaftsdisziplinen wertvolles Quellenmaterial bereitgestellt.
2 Bibliographie der Drucke aus dem Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses zu Halle Seit einigen Jahren wird im Studienzentrum August Hermann Francke eine Bibliographie der stiftungseigenen Verlagsproduktion erarbeitet. Die Anfänge der Verlagsbuchhandlung gehen auf das Jahr 1698 zurück, als Heinrich Julius Elers (1667–1728), ein enger Mitarbeiter Franckes, eine Predigt 11 12
Zur Bibliothek Brecklings vgl. Klosterberg: Libri Brecklingici, S. 871–881; Klosterberg: Provenienz und Autorschaft, S. 54–70. Jacobus de Voragine: Sermones de tempore et de sanctis, niederländisch. Zwolle: Peter von Os, 6.11.1489. GW M11696. BFSt: 5 C 14; Guillaume de Digulleville: Le Pèlerinage de la Vie Humaine, niederländisch. Delft: Hendrik Eckert, 5.4.1498. GW 11852. BFSt: 44 E 12 [1]. Das Buch liegt digitalisiert auf der Website der Franckeschen Stiftungen vor: http://192.124.243.55/digbib/pilger.htm [15.08.2008]. Vgl. Langer: Von den niederländischen Wiegendrucken, S. 60f.; Klosterberg: Das Buch von dem Pilger, S. 50–57; Klosterberg: Das Leben – eine sündenbedrohte Wanderung, S. 212f.
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Franckes auf der Leipziger Messe anbot.13 Über den Verlag sollten die vielen Predigten Franckes und damit pietistisches Gedankengut verbreitet werden. Doch bereits kurz nach Gründung der Verlagsbuchhandlung erweiterte Elers das Verlagsprogramm um Literatur anderer zeitgenössischer wie verstorbener Theologen, um Schulbücher, die im Unterricht der Stiftungsschulen eingesetzt wurden, und um wissenschaftliche Literatur von Professoren der halleschen Universität, insbesondere der juristischen und medizinischen Fakultät. Elers baute auf diese Weise die Verlagsbuchhandlung so erfolgreich aus, dass sie zu einem der gewinnbringenden Betriebe der Glauchaschen Anstalten wurde und auf der Grundlage dieses Fundaments bis in die 1930er Jahre bestanden hat. Leider sind Belegexemplare der Verlagsprodukte nur unregelmäßig an die Bibliothek des Waisenhauses abgeliefert worden, so dass die Bibliothek von den verlagseigenen Drucken aus dem 18. Jahrhundert nur zwei Drittel aller Titel bzw. Druckausgaben besitzt, und es akribischer und aufwändiger Ermittlungen bedarf, um alle Veröffentlichungen des Verlags aufzuspüren. Um eine Bibliographie zumindest für die Drucke aus dem 18. Jahrhundert zu erarbeiten, werden seit einigen Jahren, insbesondere durch die Unterstützung der Lotto-Toto GmbH Sachsen-Anhalt und des Freundeskreises der Franckeschen Stiftungen, eine wissenschaftliche und eine studentische Hilfskraft finanziert.14 Diese haben primär die Aufgabe, Titel zu ermitteln, die nicht in der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen vorhanden sind. Hinweise auf Drucke des Verlags finden sich vor allem in den Online-Katalogen der Bibliotheksverbünde oder in Bibliographien und Bibliothekskatalogen, die einen Sucheinstieg über den Druckort ermöglichen. Prominentestes Beispiel dürfte der Druckortkatalog der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel sein. Eine viel versprechende Quelle zur Ermittlung noch unbekannter Titel sind aber besonders die frühen Verlagskataloge des Waisenhauses, von denen glücklicherweise einige erhalten geblieben sind. Zunächst erschienen sie unselbstständig in der Programmschrift Franckes, den Segens=volle[n] Fußstapfen des noch lebenden und waltenden liebreichen und getreuen Gottes,15 dann als selbstständige gedruckte Kataloge. Überliefert sind Verlagskataloge von 1712, 1717, 1725, 1732 13 14 15
Vgl. allgemein zum Verlag der Buchhandlung des Halleschen Waisenhauses Schürmann: Zur Geschichte der Buchhandlung des Waisenhauses; Klosterberg: Druckerschwärze & Goldtinktur. Klosterberg: Der Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses zu Halle, S. 421–431. Francke, August Hermann: Segens=volle Fußstapfen des noch lebenden und waltenden liebreichen und getreuen Gottes/Zur Beschämung des Unglaubens und Stärckung des Glaubens […]. 3. Edition. Halle: Waisenhaus, 1709.
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und 1738.16 Auch ein handschriftlicher Katalog von Elers aus dem Jahr 1704 ist noch vorhanden.17 Weitere Quellen stellen die jährlichen Abrechnungen der Druckerei, in denen teilweise die Auflagenhöhe der Drucke verzeichnet ist, die Verlagsanzeigen in den halleschen Wöchentlichen Relationen sowie die Kataloge der Leipziger und Frankfurter Messe dar. Der Nachteil aller genannten Quellen ist, dass nur diejenigen Bücher, die zu dem ausgewiesenen Zeitpunkt zu erwerben waren, in den Katalogen verzeichnet wurden. Die ermittelten Titel und Druckausgaben, angefangen mit den in der Bibliothek vorhandenen Drucken, werden nach einem speziell entworfenen Kategorienschema in eine Datenbank katalogisiert. Dabei werden alle an dem Werk beteiligten Personen wie Übersetzer, Illustratoren oder Widmungsempfänger verzeichnet, so dass im Register die Personen mit ihrer jeweiligen Funktionsbezeichnung aufgeführt werden. Die Bibliographie ist für die Drucke aus dem Zeitraum von 1698 bis 1728, d. h. von den Anfängen des Verlags bis zum Todesjahr von Elers, in der Reihe Hallesche Quellenpublikationen und Repertorien erschienen.18
3 Das Freylinghausensche Gesangbuch – Edition und Kommentar Ein Bestseller im Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses zu Halle erschien erstmals 1704: Geist=reiches Gesang=Buch/Den Kern Alter und Neuer Lieder/Wie auch die Noten der unbekannten Melodeyen […] in sich haltend, das erste pietistische Gesangbuch, das heute nach seinem Herausgeber Johann Anastasius Freylinghausen (1670–1739), dem Mitarbeiter und Schwiegersohn Franckes, häufig als »Freylinghausensches Gesangbuch« bezeichnet wird. Allein bis 1716 erschienen zehn Auflagen, bis 1759 kamen neun weitere hinzu. Eine Nachfolgeanthologie, gleichsam der zweite Teil, erschien bereits 1714 unter dem Titel Neues Geist=reiches Gesang=Buch und erfuhr bis 1733 vier Ausgaben. Aus beiden Teilen wurde 1718 ein notenloser Auszug gedruckt, der in 15 Auflagen bis 1775 erschienen ist. 1741 16 17 18
Catalogus Derjenigen Bücher welche auf Kosten des Waysenhauses bis 1712 ediret worden. [Halle: Waisenhaus 1712]. Die Kataloge von 1717, 1725, 1738 haben einen fast identischen Titel. Continuatio Catalogi der verlags=Bücher des Waysenhauses anno 1702 biß 1705. [Halle 1705]. Handschrift. 8 Blatt, 2°. Halle, Franckesche Stiftungen, Archiv: AFSt/W IX/III/5. Klosterberg/Mies: Der Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses zu Halle; vgl. auch: August Hermann Francke 1663–1727. Bibliographie seiner Schriften.
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wurde schließlich eine Gesamtausgabe veröffentlicht, die 1771 eine zweite Auflage erfuhr und noch 1855 im Buchhandel vorrätig war. Der Absatz des Gesangbuchs war so erfolgreich, weil es im Schulunterricht, im Gemeindegesang und in der Privatandacht genutzt wurde, damit also zum Kanon pietistischer Erbauungsliteratur zählte. Seine Lieder wurden auch in andere Nationalsprachen übersetzt, so dass das Bildprogramm auf dem Frontispiz, das die singende Gemeinde über der Erdkugel zeigt, nahezu verwirklicht wurde. Es enthielt sowohl alte Lieder der Reformation und des Früh- und Hochbarock als auch zeitgenössische Liedschöpfungen zumeist pietistischer Autoren wie beispielsweise Gottfried Arnold (1666– 1714), Christian Friedrich Richter (1676–1711) oder Freylinghausen selbst. Allein 174 unbekannte Melodien erschienen in der Erstausgabe des Werkes. Insgesamt enthalten die zwei Teile des Gesangbuchs, die der Herausgeber selbst als zwei Teile eines Ganzen betrachtete, mehr als 1 500 Liedtexte und ca. 600 Liedkompositionen. Damit stellt Freylinghausens Anthologie die wichtigste Liedsammlung des Pietismus dar.19 Der Germanist Wolfgang Miersemann und die Musikwissenschaftlerin Dianne M. McMullen haben im Auftrag der Franckeschen Stiftungen im Rahmen eines von der DFG finanzierten Editionsprojekts eine kritische Ausgabe erarbeitet, die in den nächsten Jahren sukzessive im Verlag der Franckeschen Stiftungen im Max Niemeyer Verlag Tübingen herauskommen und aus vier Text- und zwei Apparatbänden bestehen wird. Die Textbände enthalten auch Melodien und sind so gestaltet, dass sie sowohl hymnologisch-kirchenhistorischer sowie musik- und literaturgeschichtlicher Forschung und Lehre dienen als auch in der kirchenmusikalischen Ausbildung und Praxis eingesetzt werden können.20 Das gesamte Editionsprojekt wurde und wird durch einen regen wissenschaftlichen Austausch begleitet, der Wissenschaftler unterschiedlicher Fachdisziplinen bereits dreimal zu Tagungen (1994, 1999, 2004) nach Halle führte.21 Einen Höhepunkt stellte dabei das Jubiläumsjahr 2004 dar, in dem »300 Jahre Freylinghausensches Gesangbuch« nicht nur durch eine internationale Tagung, sondern auch durch eine Ausstellung in Halle und in Bad Gandersheim, dem Geburtsort Freylinghausens, feierlich begangen wurde.22 19 20 21 22
Miersemann: 1704: Johann Anastasius Freylinghausen, S. 209–214. McMullen/Miersemann: Das Freylinghausensche Gesangbuch, S. 890. Busch/Miersemann: »Geist=reicher Gesang«. Halle und das pietistische Lied; Miersemann/Busch: Pietismus und Liedkultur; Miersemann/Busch: »Singt dem Herrn nah und fern.« 300 Jahre Freylinghausensches Gesangbuch. Miersemann: Johann Anastasius Freylinghausen (1670 Gandersheim – 1739 Halle).
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Durch diese Aktivitäten ist die »Freylinghausen Forschungsstelle« in den Franckeschen Stiftungen für Hymnologen, Literaturwissenschaftler und Pietismusforscher zu einem Begriff geworden, zumal durch ihre Arbeit das Verdikt von der Kunstfeindlichkeit des Pietismus in Frage gestellt und weitere Forschungen zur Musik im Pietismus, aber auch zum Thema ›Pietismus und Kunst‹ angeregt werden.
4 Die Hungarica-Sammlung der Franckeschen Stiftungen. Ein kooperatives Projekt mit der Széchényi Nationalbibliothek Budapest Die weltweiten Kontakte, die Francke im 18. Jahrhundert unterhielt, bilden einen Schwerpunkt der wissenschaftlichen und kulturellen Arbeit der Franckeschen Stiftungen. Im September 2000 schlossen István Monok von der Széchényi Nationalbibliothek Budapest und der damalige Direktor der Franckeschen Stiftungen, Paul Raabe, einen Kooperationsvertrag ab, der nicht nur einen regelmäßigen Schriften- und Informationsaustausch vorsah, sondern auch die gemeinsame Erforschung der halleschungarischen Beziehungen auf Grundlage der Quellen in Bibliothek und Archiv der Franckeschen Stiftungen. Diese Quellen zeugen von einem regen Kulturkontakt im 18. Jahrhundert, der darauf zurückzuführen ist, dass viele Studenten aus dem Gebiet des Karpatenbeckens die mitteldeutschen Universitäten, also auch die Universität Halle, besuchten und einige von ihnen dabei in direkten Kontakt zu Francke und dem Waisenhaus getreten sind. Über Francke wurden die Ideen des Pietismus und damit auch protestantisches Schrifttum in das Gebiet des Karpatenbeckens transportiert, das heute für die ungarische Kultur-, Literatur-, Buch- und Kirchengeschichtsforschung von großem Interesse ist.23 Da die Széchényi Nationalbibliothek einen transnationalen Sammlungs- und Erschließungsauftrag hat, weist sie das Schrifttum über Ungarn auch außerhalb der eigenen Landesgrenzen nach. Die Bestände in den Franckeschen Stiftungen bieten sich dafür an, weil protestantisches Schrifttum nur in begrenztem Maße in ungarischen Bibliotheken nachgewiesen ist. Durch regelmäßige Forschungsaufenthalte von Attila Verók aus Erlau in den Franckeschen Stiftungen konnten mittlerweile per Autopsie alle Porträts, historischen 23
Raabe: Pietas Hallensis Universalis, S. 42–44; Monok: Aktuelle Forschungen und historische Quellen, S. IX–XIII.
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Karten und alten Drucke bis 1800 im Bestand der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen ermittelt werden. Als erstes Ergebnis dieser Arbeit liegt der erste Teil der Publikation Die Hungarica-Sammlung der Franckeschen Stiftungen zu Halle aus dem Jahr 2004 vor, in dem die Porträts mit UngarnBezug aus der 13 000 Blätter umfassenden Porträtsammlung der Franckeschen Stiftungen in Text und Bild dokumentiert worden sind.24 Sehr viel aufwändiger gestaltet sich die Ermittlung der Drucke mit Ungarn-Bezug. Dazu werden nicht nur Texte in ungarischer Sprache, im Gebiet Ungarns gedruckte Schriften, Werke ungarischer Autoren und Ungarn betreffende Werke gezählt, wie sie etwa S. Katalin Németh in der Herzog August Bibliothek ermittelt und verzeichnet hat,25 sondern der ›Ungarn-Bezug‹ wird noch weiter gefasst und nach 14 Kategorien beschrieben. Hinzugenommen werden etwa Bücher mit Widmungen für einen Ungarn, mit handschriftlichen Eintragungen oder einem Provenienzeintrag eines Ungarn sowie Bücher, die Porträts, Landkarten oder Bilder mit Bezug zu Ungarn oder Werke eines oder mehrerer ungarischer Personen enthalten. Zu den Hungarica im Altbestand der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen gehören Drucke, die eindeutig aus dem Umfeld des Halleschen Waisenhauses erwachsen sind und/oder der Verbreitung pietistischen Gedankenguts nach Ungarn gedient haben. Dazu zählen etwa Übersetzungen maßgeblicher Texte des halleschen Pietismus in die ungarische Sprache, wie Franckes Kurzer und Einfältiger Unterricht, Wie die Kinder zur wahren Gottseligkeit und Christlichen Klugheit anzuführen sind von 1702, übersetzt von Georg Bárány (1682–1757),26 oder Freylinghausens Compendium, oder Kurtzer Begriff der gantzen Christlichen Lehre in XXXIV Articuln (1705) in der Übersetzung von Mátyás Bél (1684–1749), der nach halleschem Vorbild ein Waisenhaus in Pressburg errichtet hat.27 Auf die ungarischen Studenten aus Siebenbürgen und Ungarn, die sich in einer Ausgabe des Neuen Testaments aus dem Besitz Mildes verewigt haben, ist bereits an anderer Stelle hingewiesen worden.28 Einer der Studenten, Johann Honter, stand wohl in engerem Kontakt zu Milde. In einem Exemplar des Neuen Testaments in sorbischer Sprache befindet sich ein hand24 25 26 27 28
Klosterberg/Monok: Die Hungarica-Sammlung der Franckeschen Stiftungen zu Halle. T. 1: Porträts. Ungarische Drucke und Hungarica 1480–1720. Francke, August Hermann: Oktatása A Gyermek Nevelésrül Az igaz Isteni félelemre és kegyességre. Halle: Orban, 1711. BFSt: 31 I 4 [1]. Freylinghausen, Johann Anastasius: Compendium, avagy Rövid Summája az egész Keresztény Tudománynak. XXXIV. Saxoniai Hallában. [Halle]: Zeitler, 1713. BFSt: 78 H 1 [2]. S. Anm. 10.
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schriftlicher Eintrag Mildes mit den Worten: »Mense Octobr. 1728. brachte mir H. Joh. Honterus Corona-Transilvanus dieses buch nebst andern Sach von der Leiptziger Meße.«29 Unter den handschriftlichen Eintragungen ragt der Besitzeintrag des humanistischen Gelehrten und Theologen András Dudith (1533–1589) in einem Werk des Erasmus von Rotterdam (1469–1536) aus dem Jahr 1538 hervor.30 Ebenfalls zu identifizieren durch Autographen auf dem jeweiligen Titelblatt sind Bücher aus der Gelehrtenbibliothek des Historikers und Juristen Martin Schmeizel (1679–1747), einem der wichtigsten siebenbürgisch-sächsischen Gelehrten, der Professor in Jena und Halle war. Er gründete die erste Geschichtsbibliothek mit Ungarn-Bezug. Aus seinem Besitz sind zahlreiche Bücher in die Bibliothek des Waisenhauses gelangt, darunter Albert Szenczi Molnárs (1574–1634) ungarische Grammatik von 1610.31 Die Recherchen in der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen führten aber auch zur Entdeckung bis dahin unbekannter Drucke, und zwar Dissertationen, die unter dem Vorsitz des aus Pressburg stammenden Professors Daniel Wilhelm Moller (1642– 1712) an der Universität Altdorf verteidigt worden sind.32 Weitere Beispiele relevanter Drucke befinden sich unter dem Titel »Hungarica im Bestand der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen« auf der Website des Studienzentrums August Hermann Francke.33 Nach Abschluss der Katalogisierungsarbeiten werden die von Verók ermittelten alten Drucke als Teil 2 der Hungarica-Sammlung der Franckeschen Stiftungen publiziert werden. Die 29 30
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Das Neue Testament Unsers Herrn Jesu Christi/in die OberLausitzsche Wendische Sprache/ übersetzet Von Michael Frentzeln. Zittau: Hartmann, 1706. BFSt: 53 H 6. Desiderius Erasmus: Epistolarum opus complectens […]. Basel: Froben, 1538. BFSt: 33 B 1. VD16 E 2928. Auf dem Titelblatt befindet sich der Eintrag des humanistischen Gelehrten und Theologen Dudith; vgl. sein Porträt in: Klosterberg/Monok: Die HungaricaSammlung der Franckeschen Stiftungen zu Halle. T. 1: Porträts, S. 34–35. Szenczi Molnár, Albert: Novae Grammaticae Ungaricae Succincta Methodo Comprehensae […] Libri Duo. Hanau: Villeranus, 1610. BFSt: 132 G 8; vgl. weitere Beispiele aus der Bibliothek Schmeizels: Veridicus, Nicolaus: Unpartheyisches Sendschreiben An Einen guten Freund in B. Von Dem neuesten Statt in Halle. Darinnen Viel unbekandte und merckwürdige Umstände Was die Dimission Des Herrn Hoff-Rath Wolffens betrifft, Entdecket werden/Herausgegeben Von Lamberto Probino Symzero Meclenb. Wittenberg: [s.n.] 1724. BFSt: 131 C 10; Radziwill, Mikolaj Krzysztof: Ierosolymitana Peregrinatio […] ex Polonico sermone in Latinum translata. Antwerpen: Moretus/Plantin, 1614. BFSt: 178 B 7. Ich danke Herrn Attila Verók für die Hinweise. Moller, Daniel Wilhelm: Dissertationes Academicae De Vitis Quinquaginta Historicorum Dissertatio I De Q. Curtior Cura Friderici Roth-Scholtzii […]. Nürnberg/Altdorf: Tauber, 1726. BFSt: 69 A 5 [4]. In dem Sammelband aus der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen befinden sich noch zwei weitere unbekannte Dissertationen: BFSt: 69 A 5 [6], [7]; vgl. das Porträt Mollers in: Klosterberg/Monok: Die Hungarica-Sammlung der Franckeschen Stiftungen zu Halle. T. 1: Porträts, S. 132f. http://www.francke-halle.de/main/index2.php?cf=3_1_11 [15.08.2008].
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Széchényi Nationalbibliothek und die Franckeschen Stiftungen leisten damit gemeinsam einen Beitrag zur Erforschung der hallesch-ungarischen Beziehungen, die vor dreihundert Jahren durch Francke initiiert worden sind. Diese und andere Projekte befördern die Nutzung der Bibliothekbestände und die Entwicklung weitergehender Erschließungs- und Forschungsarbeiten im Studienzentrum August Hermann Francke. Dazu trägt auch das Fritz Thyssen Stipendium der Franckeschen Stiftungen bei, das Wissenschaftlern aus dem In- und Ausland einen dreimonatigen Forschungsaufenthalt in Halle ermöglicht und im Studienzentrum koordiniert und betreut wird. In diesem Sinn ist das Studienzentrum ein Ort der Begegnung für Wissenschaftler aller historisch arbeitenden Wissenschaftsdisziplinen, die die Bibliotheksbestände auf immer wieder neue Fragestellungen hin erkunden und sich vom Geist des 18. Jahrhunderts, der im historischen Bibliothekssaal greifbar zu werden scheint, inspirieren lassen.
5 Literaturverzeichnis August Hermann Francke 1663–1727. Bibliographie seiner Schriften. Bearb. v. Paul Raabe u. Almut Pfeiffer. Tübingen: Verlag der Franckeschen Stiftungen Halle im Max Niemeyer Verlag 2001 (Hallesche Quellenpublikationen und Repertorien. 5). Busch, Gudrun/Miersemann, Wolfgang (Hrsg.): »Geist=reicher Gesang«. Halle und das pietistische Lied. Tübingen: Verlag der Franckeschen Stiftungen Halle im Max Niemeyer Verlag 1997 (Hallesche Forschungen. 3). Franckesche Stiftungen zu Halle. http://www.francke-halle.de/main/ [15.08.2008]. Freylinghausen, Johann Anastasius: Geistreiches Gesangbuch. Edition und Kommentar. Hrsg. v. Dianne Marie McMullen u. Wolfgang Miersemann im Auftrag der Franckeschen Stiftungen. Tübingen: Verlag der Franckeschen Stiftungen Halle im Max Niemeyer Verlag. Bd. 1: Geist=reiches Gesang=Buch (Halle, vierte Ausgabe 1708). T. 1: Text [Lied 1–395], 2004; T. 2: Text [Lied 396–758/ Melodien-Büchlein], 2006. Bd. 2: Neues Geist=reiches Gesang=Buch. T. 1: Text [Lied 1–434] 2009. Frühmoderne Bücherwelten. Die Bibliothek des 18. Jahrhunderts und das hallesche Waisenhaus. Jahresausstellung der Franckeschen Stiftungen vom 6. Mai bis 7. Oktober 2007 in den Franckeschen Stiftungen zu Halle. Hrsg. im Auftrag der Franckeschen Stiftungen v. Bodo-Michael Baumunk. Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen 2007 (Kataloge der Franckeschen Stiftungen. 19). Hübner, Michael/Klosterberg, Brigitte/Müller, Anke: Bibliothek der Franckeschen Stiftungen. In: Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland. Bd. 22: Sachsen-Anhalt. Hrsg. v. Friedhilde Krause. Hildesheim u. a.: Olms 2000, S. 103–112. Klosterberg, Brigitte: Druckerschwärze & Goldtinktur. Zum 300jährigen Doppeljubiläum der Buchhandlung und der Apotheke des Waisenhauses zu Halle. H. 2: Waisenhausbuchhandlung. Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen 1998.
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Klosterberg, Brigitte: ABC-Büchlein und Bilderbibel. Kinder- und Jugendliteratur in Franckens Stiftungen. Begleitband zu der ersten Kabinettausstellung der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen zu Halle 7. Mai 2000 – 27. August 2000. Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen 2000 (Kleine Schriftenreihe der Franckeschen Stiftungen. 1). Klosterberg, Brigitte: Das Buch von dem Pilger (1498). Eine Bildergeschichte aus der Inkunabelzeit. In: Marginalien 161 (2001), S. 50–57. Klosterberg, Brigitte: Das Leben – eine sündenbedrohte Wanderung. Eine mittelalterliche französische Dichtung, erzählt nach den Bildern eines niederländischen Druckes aus dem Jahr 1498. In: engagement. Zeitschrift für Erziehung und Schule 3 (2001), S. 212–222. Klosterberg, Brigitte: Der Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses zu Halle: Buchbestände, Archivalien und Projekte des Studienzentrums August Hermann Francke. In: LJB 12 (2003), S. 421–431. Klosterberg, Brigitte: Libri Brecklingici. Bücher aus dem Besitz Friedrich Brecklings in der Bibliothek des Halleschen Waisenhauses. In: Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Beiträge zum Ersten Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2001. Hrsg. v. Udo Sträter u. a. Tübingen: Verlag der Franckeschen Stiftungen Halle im Max Niemeyer Verlag 2005 (Hallesche Forschungen. 17/2), S. 871–881. Klosterberg, Brigitte: Die Bibliothek der Franckeschen Stiftungen im 18. Jahrhundert. In: Frühmoderne Bücherwelten. Die Bibliothek des 18. Jahrhunderts und das hallesche Waisenhaus. Jahresausstellung der Franckeschen Stiftungen vom 6. Mai bis 7. Oktober 2007 in den Franckeschen Stiftungen zu Halle. Hrsg. im Auftrag der Franckeschen Stiftungen v. Bodo-Michael Baumunk. Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen 2007 (Kataloge der Franckeschen Stiftungen. 19), S. 13–29. Klosterberg, Brigitte: Provenienz und Autorschaft. Die Quellen von, zu und über Friedrich Breckling in Bibliothek und Archiv der Franckeschen Stiftungen. In: Pietismus und Neuzeit 33 (2007), S. 54–70. Klosterberg, Brigitte: Die Bibliothek der Franckeschen Stiftungen. Fotografien von Klaus E. Göltz. Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen 2007. Klosterberg, Brigitte: Die Bücherschenkung des Slavisten Heinrich Milde (1876–1739) an die Bibliothek des Halleschen Waisenhauses. In: Dmitrij I. Tschižewskij. Impulse eines Philologen und Philosophen für eine komparative Geistesgeschichte. Hrsg. v. Angela Richter u. Brigitte Klosterberg. Berlin u. a.: LIT 2009 (Slavica Varia Halensia. 9), 31–41. Klosterberg, Brigitte/Mies, Anke (Hrsg.): Der Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses zu Halle. Bibliographie der Drucke 1698–1728. Bearb. v. Mirjam Frank u. Yvonne Kalle. Tübingen: Verlag der Frankeschen Stiftungen Halle im Max Niemeyer Verlag 2009 (Hallesche Quellenpublikationen und Repertorien. 10). Klosterberg, Brigitte/Monok István (Hrsg.): Die Hungarica-Sammlung der Franckeschen Stiftungen zu Halle. T. 1: Porträts. Bearb. von Attila Verók u. György Rózsa. Tübingen: Verlag der Franckeschen Stiftungen Halle im Max Niemeyer Verlag 2003 (Hallesche Quellenpublikationen und Repertorien. 7). Klosterberg, Brigitte/Monok István (Hrsg.): Die Hungarica-Sammlung der Franckeschen Stiftungen zu Halle. Historische Karten und Ansichten. Bearb. v. László Pászti u. Attila Verók. Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen 2009 (Katalog der Franckeschen Stiftungen. 22).
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Klosterberg, Brigitte/Soboth, Christian (Hrsg.): Praxis pietatis. Erbauungsliteratur aus der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen. Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen 2001 (Kleine Schriftenreihe der Franckeschen Stiftungen. 2). Knopf, Sabine: Die Franckeschen Stiftungen und ihre Bibliothek. In: Bbl. 165 (1998), S. 405–410. Langer, Gottfried: Von den niederländischen Wiegendrucken in der Hauptbibliothek der Franckeschen Stiftungen zu Halle/Saale. In: Quaerendo 4 (1974), S. 55–63. Matschke, Rhea: »Du fragst wen stellet doch dis schöne Kupfer für …«. Die Porträtsammlung der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen. Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen 2003 (Kleine Schriftenreihe der Franckeschen Stiftungen. 3). McMullen, Dianne M./Miersemann, Wolfgang: Das Freylinghausensche Gesangbuch. Zu einem Editions- und Forschungsprojekt. In: Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Beiträge zum Ersten Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2001. Hrsg. v. Udo Sträter u. a. Tübingen: Verlag der Franckeschen Stiftungen Halle im Max Niemeyer Verlag 2005 (Hallesche Forschungen. 17/2), S. 889–898. Meyer, Johann Daniel: Vorstellung mancherley fremder und seltener Thiere. Ausgewählt und mit einer Einleitung v. Brigitte Klosterberg. Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen 2005. Miersemann, Wolfgang (Hrsg.): Johann Anastasius Freylinghausen (1670 Gandersheim – 1739 Halle). Lebens=Lauf eines pietistischen Theologen und Gesangbuchherausgebers. Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen 2004 (Kataloge der Franckeschen Stiftungen. 14). Miersemann, Wolfgang: 1704: Johann Anastasius Freylinghausen: Geist=reiches Gesang=Buch. In: Mitteldeutsches Jahrbuch für Kultur und Geschichte 11 (2004), S. 209–214. Miersemann, Wolfgang/Busch, Gudrun (Hrsg.): Pietismus und Liedkultur. Tübingen: Verlag der Franckeschen Stiftungen Halle im Max Niemeyer Verlag 2002 (Hallesche Forschungen. 9). Miersemann, Wolfgang/Busch, Gudrun (Hrsg.): »Singt dem Herrn nah und fern.« 300 Jahre Freylinghausensches Gesangbuch. Tübingen: Verlag der Franckeschen Stiftungen Halle im Max Niemeyer Verlag 2008 (Hallesche Forschungen. 20). Mietzschke, Alfred: Heinrich Milde. Ein Beitrag zur Geschichte der slavistischen Studien in Halle. Leipzig: Harrassowitz 1941 (Veröffentlichungen des Slavischen Instituts an der Friedrich-Wilhelm-Universität Berlin. 29). Monok, István: Aktuelle Forschungen und historische Quellen zu den kulturellen Beziehungen zwischen Halle und Ungarn. In: Die Hungarica-Sammlung der Franckeschen Stiftungen zu Halle. Hrsg. v. Brigitte Klosterberg u. István Monok. T. 1: Porträts. Bearb. v. Attila Verók u. György Rózsa. Tübingen: Verlag der Franckeschen Stiftungen im Max Niemeyer Verlag 2003 (Hallesche Quellenpublikationen und Repertorien. 7), S. IX–XIII. Raabe, Paul unter Mitarbeit v. Heike Liebau (Indien) u. Thomas Müller (Amerika) (Hrsg.): Pietas Hallensis Universalis. Weltweite Beziehungen der Franckeschen Stiftungen im 18. Jahrhundert. Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen 1995 (Kataloge der Franckeschen Stiftungen. 2). Scheibe, Michaela: Rekonstruktion einer Pietistenbibliothek. Der Büchernachlass des Johann Friedrich Ruopp in der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen. Tübingen: Verlag der Franckeschen Stiftungen Halle im Max Niemeyer Verlag 2005 (Hallesche Quellenpublikationen und Repertorien. 8).
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Schicketanz, Peter: Carl Hildebrand Freiherr von Canstein. Leben und Denken in Quellendarstellungen. Tübingen: Verlag der Franckeschen Stiftungen Halle im Max Niemeyer Verlag 2002 (Hallesche Forschungen. 8). Schürmann, August: Zur Geschichte der Buchhandlung des Waisenhauses und der Cansteinschen Bibelanstalt in Halle a. S. Halle: Waisenhaus 1898. Tschižewskij, Dmitrij: Der Kreis A. H. Franckes in Halle und seine slavistischen Studien. In: Zeitschrift für slavische Philologie 16 (1939), S. 16–68, 153–157. Ungarische Drucke und Hungarica 1480–1720. Katalog der Herzog-August-Bibliothek, Wolfenbüttel = Magyar és magyar vonatkozású nyomtatványok 1480–1720. 3 Bde. Bearb. v. S. Katalin Németh. München u. a.: Saur 1993.
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Das Gutenberg-Museum in Mainz 1 Zur Erinnerung an den Erfinder Das Wissen, dass die schriftliche Kommunikation und Information durch das gedruckte Wort Kultur und Geschichte mehr als alles andere geprägt und fortentwickelt hat – nicht nur in Europa, sondern weltweit – bildet das konzeptionelle Fundament des Gutenberg-Museums. In die Tat umgesetzt wurde die Museumsidee, als das (angenommene) Jahr der Geburt des Erfinders des Buchdrucks mit seriell hergestellten, normierten und wieder verwendbaren Lettern und der Druckerpresse zum 500sten Mal gefeiert werden sollte. Die starke, im 19. Jahrhundert durch den Kampf um die freie Presse noch angewachsene Symbolkraft der Person Johannes Gutenbergs forderte eine bleibende Manifestierung. Gutenbergs Vaterstadt Mainz, in der 1827 und 1837 die ersten Gutenbergdenkmäler aufgestellt worden waren1 und im Jahr 1840 das Jubiläum der Erfindung der Buchdruckkunst mit großem Aufwand gefeiert wurde, nahm dieses Datum, das Jahr 1900, zum Anlass, ein Museum der Druckgeschichte zu gründen. Als Berater der Festvorbereitungen wurde der Göttinger Professor, Bibliothekar und Frühdruckforscher Karl Dziatzko (1842–1903) eingeladen. Dziatzko hatte maßgeblich an der Reform des preußischen Bildungswesens mitgewirkt und wichtige Beiträge zur Gutenbergforschung geleistet. In seinem Gutachten schlägt Dziatzko die Einrichtung eines Museums vor und umreißt bereits wesentliche Züge der im folgenden Jahrhundert aufzubauenden Institution, die dessen Charakter dauerhaft prägen sollten: Es müsste bei der internationalen und alle Zeiten überdauernden Bedeutung der Gutenbergischen Erfindung der Feier, wenn möglich, auch ein internationaler Charakter verliehen, eine Schöpfung von allgemeinem und dauerndem Werte daran geknüpft
1
Das erste Gutenberg-Denkmal überhaupt wurde von Bildhauer Joseph Scholl 1827 in Stein für die Mainzer Casino-Gesellschaft (ein Leseverein) geschaffen. Das zweite, überlebensgroße, von Bertel Thorvaldsen wurde 1837 gegenüber dem Mainzer Theater aufgestellt.
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werden. In dieser Richtung habe ich bereits die Gründung einer GutenbergGesellschaft vorgeschlagen, welche ihren Hauptsitz in Mainz hätte, als der Stadt, welche nicht nur Gutenbergs Geburtsort ist, sondern auch Hauptstätte seines Wirkens als Drucker war. Aufgabe der Gesellschaft wäre einerseits die Gründung und Förderung eines Gutenberg-Museums in Mainz, andererseits die Inangriffnahme und Veröffentlichung wichtiger auf Buchdruckerkunst und ihre Geschichte bezüglicher Werke. Nach der einen Seite könnte das Germanische Museum in Nürnberg und das GoetheArchiv in Weimar, nach der anderen die Goethe-Gesellschaft als Vorbild dienen.2
Es gab bereits Druckmuseen in Europa, das Plantin-Moretus-Museum in Antwerpen (seit 1876) als historisches Druck- und Verlagshaus und das Deutsche Buchgewerbe-Museum in Leipzig (seit 1884), später Deutsches Buch- und Schriftmuseum genannt, als Vorbildsammlung für alle Angehörigen der Druck- und Verlagsbranche. Sie wurden bei Dziatzko nicht als beispielgebend in Betracht gezogen. Die Nennung des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg deutet auf die erwünschte Universalität der geplanten Museumsstrukturen hin, Goethe-Archiv und GoetheGesellschaft auf die Zielsetzung, eine zentrale Forschungsstelle für die Gutenberg- und Frühdruckforschung zu etablieren. Durch den Gedanken der Internationalität in Hinblick auf Sammlungsaufbau und Bibliotheksausrichtung wurde von Anfang an vermieden, dass aus dem geplanten Museum eine Art Gedächtnisstätte mit eindimensionaler, d. h. nur personen- bzw. lokalbezogener Ausrichtung wurde. Hiermit war eine entscheidende Grundlage für die Museumsentwicklung gelegt, nämlich die globale Sicht der Kulturleistung schriftlicher Kommunikation, von der das Gutenberg-Museum bis heute profitiert. Das Jubiläum wurde vom 23. bis zum 26. Juni 1900 gefeiert. Eine Art Vorfeier fand vom 21. bis zum 23. Juni durch den siebten »Allgemeinen Deutschen Journalisten- und Schriftstellertag« statt, der durchgeführt wurde, »um den Erfinder der Kunst zu ehren, der die Presse und die gesamte Publizistik ihre Blüthe verdankt«3. Dieser Gedanke sollte erst im 21. Jahrhundert weitergehend für das Gutenberg-Museum umgesetzt werden und ist zurzeit nur im Ansatz realisiert. Von den neun Ausschüssen, die die Gutenbergfeier vorbereiteten, befasste sich der siebte mit dem Gutenberg-Museum und einer Ausstellung, die zum Fest eingerichtet werden sollte. So begann das eigentliche Festprogramm mit der Eröffnung einer großen Sonderausstellung im Kurfürstlichen Schloss, die aus Beständen der Mainzer Stadtbibliothek und Leihgaben anderer Bibliotheken, von Firmen der Druckbranche und Pri2 3
Gutachten von 1895, zitiert in: Keim: Mehr als zwei »Denkmäler«, S. 6. Reitzel: Die Renaissance Gutenbergs, S. 74.
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vatsammlern zusammengestellt wurde. Sie umfasste 320 Exponate und ist in diesem Zusammenhang erwähnenswert, da sie zu großen Teilen den Grundstock des Museums bilden sollte. Viele Leihgeber schenkten ihre Exponate anschließend, um zum Aufbau des Museums beizutragen. Eine Gutenberg-Bibel, ein Mainzer Psalter und weitere zentrale Objekte mussten aus anderen Städten entliehen werden, da sie 1900 nicht mehr in Mainz vorhanden waren. Am 26. Juni, dem letzten Tag der Feier, wurde die Museumsgründung beschlossen: Zur dauernden Erinnerung an die 500jährige Wiederkehr des Geburtstages Gutenbergs im Jahre 1900 wird in Mainz, der Stadt seiner Geburt und der Stätte seiner Erfindung, ein Gutenberg-Museum gegründet. Der Zweck des Museums ist, die auf Gutenberg und die Erfindung der Buchdruckerkunst, ihre Ausbreitung und ihre Entwicklung bezüglichen Urkunden, Drucke und sonstigen Denkmäler im weitesten Umfang möglichst vollständig, in Originalen oder in Nachbildungen zu vereinigen und für die Allgemeinheit nutzbar zu machen.4
In zwei Räumen der Stadtbibliothek im Schloss wurde eine Dauerausstellung eingerichtet, die ab dem 23. Juni 1901 für die Öffentlichkeit zugänglich war. Das Museum wurde auch verwaltungstechnisch eng an die Stadtbibliothek angebunden, die Leitung beider Institutionen wurde in Personalunion durch den Bibliotheksleiter wahrgenommen.5 Der Vorteil, den das Museum durch die reichen, u. a. aus den aufgelassenen Klosterbibliotheken stammenden Buchbestände der Stadtbibliothek genoss, aus denen geeignete Ausstellungsstücke ausgewählt werden konnten, wurde nach wenigen Jahren durch die Nachteile der räumlichen und personellen Beschränkungen wieder aufgewogen. Das Museum war in mancher Hinsicht ein Kind der Stadtbibliothek, aber seine Entwicklungsmöglichkeiten wurden dadurch gehemmt. Schon 1908 forderte die Mitgliederversammlung der nach Dziatzkos Vorschlag im Jahr 1901 gegründeten Gutenberg-Gesellschaft die Stadt Mainz auf, einen Neubau für die Stadtbibliothek und das Gutenberg-Museum zu erstellen.6 Der Neubau wurde 1910 beschlossen, das Museum sollte wiederum integriert werden. Nach dem Umzug im Jahre 1912 in das neue Gebäude an der Rheinallee änderte sich nicht viel für das Museum, die Gutenberg-Gesellschaft kritisierte mit Recht, dass die Übersiedlung »keine wesentliche Raumerweiterung gebracht« habe. Und stellte mit Bedauern fest, »das Gebundensein 4 5 6
Gassner: Aufruf »An die gebildeten der ganzen Welt«. Vgl. Hanebutt-Benz: Das Gutenberg-Museum in der Stadtbibliothek, S. 144–148. Keim: Mehr als zwei »Denkmäler«, S. 11.
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an die Stadtbibliothek […] sei das Unglück des Museums, weil die Kräfte des gemeinsamen Personals für die Bibliotheksarbeit weitgehend benötigt werden. So wachsen Ansehen und Wirkung der Stadtbibliothek, während das Museum ohne Entwicklung dahinlebt.«7 Die wirtschaftlichen Folgen des Ersten Weltkriegs trugen dazu bei, dass kaum noch in das Museum investiert wurde. 1916 strich die Stadt Mainz ihren jährlichen Zuschuss. 1923 erwog der Oberbürgermeister der Stadt Mainz, Karl Emil Göttelmann, bereits die Auflösung der Gutenberg-Gesellschaft. Es hätte mit den Plänen von 1900 bereits wieder zu Ende sein können, wäre nicht durch den Einsatz einer engagierten Persönlichkeit das Ruder noch einmal herumgerissen worden. 1920 hatte die Stadtbibliothek einen neuen Direktor bekommen, Aloys Ruppel, der 42 Jahre lang mit dem Museum verbunden bleiben sollte.8 Seine Weitsicht und sein Organisationstalent einerseits, der sich durch das Jubiläum von 1925 aufbauende Druck der Öffentlichkeit andererseits bewirkten, dass zum Ende des ersten Vierteljahrhunderts doch noch einmal eine deutliche Verbesserung erreicht werden konnte. Ruppel bewirkte, unterstützt von dem Frankfurter Privatforscher und Sammler Gustav Mori, dass eine Nachbildung von Gutenbergs Werkstatt, in der das Gießen und Drucken im traditionellen Sinne vorgeführt werden konnte, eingerichtet wurde, die das Besucherinteresse erheblich steigerte. Weiterhin kam 1925 endlich wieder ein Band einer 42-zeiligen Bibel nach Mainz (die in Mainz vorhanden gewesenen Exemplare waren während des 18. Jahrhunderts nach London, Paris und Aschaffenburg verkauft worden), der dauerhaft im Museum ausgestellt wurde. Es handelte sich um das Solms-Laubach-Exemplar, ein zweiter Band (Neues Testament) im originalen Einband, der für 75 000 Mark erworben werden konnte. Von Bedeutung war auch noch die Tatsache, dass die Stadt der Gutenberg-Gesellschaft einen Kredit von 15 000 Mark zur Verfügung stellte, damit zum 25-jährigen Jubiläum eine große internationale Festschrift erscheinen konnte.9 Diese Festschrift fand aufgrund ihrer herausragenden inhaltlichen und gestalterischen Durchführung soviel Beifall, dass man sich entschloss, eine entsprechende Publikation jährlich als Gutenberg-Jahrbuch herauszubringen. Mit einer Unterbrechung während der
7 8 9
Keim, S. 12. Über Aloys Ruppel: Schütz: Aloys Ruppel. Leben und Werk. Ruppel: Gutenberg-Festschrift.
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Jahre 1944 bis 1948 erschien das Gutenberg-Jahrbuch bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Zur Förderung der Buchkunst wurde 1927 die »Mainzer Presse« als gemeinsame Presse (künstlerisch betriebene Druckwerkstatt) des Gutenberg-Museums und der Kunst- und Gewerbe-Schule Mainz gegründet. Als Leiter berief man Christian Heinrich Kleukens aus Darmstadt. 1937 waren schon fast 50 Drucke erschienen, wie das Zehnjahresverzeichnis nachweist. Das größte Projekt, die »Welt-Goethe-Ausgabe« in 50 Bänden blieb unvollendet. Der Krieg beendete das Unternehmen; mit Kleukens Tod 1954 erlosch die Mainzer Presse, deren Betrieb bereits jahrelang geruht hatte.10 Von 1938 bis 1973 beherbergte das Gutenberg-Museum noch die »Forschungsstelle Papiergeschichte«, die allerdings dann aus Kostengründen an das Deutsche Museum in München abgegeben wurde und 1992 von dort aus an das Leipziger Buch- und Schriftmuseum ging.11 Der Aufschwung, der sich um 1925 andeutete, sollte zunächst weiter ausgebaut werden. Ruppel hatte klare Vorstellungen entwickelt, wie das Gutenberg-Museum vorangebracht werden sollte.
2 Ein eigenes Haus für das Gutenberg-Museum Ruppel war sich sehr bewusst, dass das Museum langfristig nur Entwicklungsmöglichkeiten haben würde, wenn man es räumlich unabhängig von der Bibliothek unterbringen könnte. Auf sein Drängen hin stellte die Stadtverwaltung dem Museum sukzessiv Räume im Stadtpalais »Zum Römischen Kaiser« (gebaut 1664) am Liebfrauenplatz in der Nähe des Doms zur Verfügung. Hier wurden nun Ausstellungs- und Verwaltungsräume eingerichtet. Am 12. Mai 1927 konnten zunächst drei »GutenbergEhrenräume« der Öffentlichkeit übergeben werden. Die offizielle Eröffnung des Museums in diesem schönen und sehr zentral gelegenen Spätrenaissance-Gebäude fand am 24. Juni 1933 statt. Das Haus bot insgesamt 26 Räume. Die Planung sah drei Abteilungen, verteilt über drei Stockwerke, vor: (I) »Drucken vor Gutenberg«, 10 11
Vgl. Schauer: Deutsche Buchkunst 1890 bis 1960, S. 68; Eyssen: Buchkunst in Deutschland, S. 79; Isphording: Draufsichten, S. 74f. Die Forschungsstelle wurde eingerichtet durch einen Fachausschuss des Vereins der Zellstoff- und Papier-Chemiker und -Ingenieure; sie war im Museum untergebracht, gehörte aber nicht der Stadt Mainz.
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(II) Bibliothek und Sammlung von Frühdrucken sowie Druckbeispiele und Objekte von 1500 bis zur Gegenwart und zuletzt (III) graphische und andere Druckbeispiele, die in einem angrenzenden Gebäude untergebracht werden sollten. Die Abteilung I war bereits im »Römischen Kaiser« aufgestellt. Zu diesem Zeitpunkt hatte man ins Auge gefasst, den benachbarten Hof »Zum König von England« in den Museumskomplex einzubeziehen. Sobald dies möglich wurde, wollte man der Drucktechnik mehr Platz einräumen. Gleichzeitig wurde aber auch diskutiert, die leer stehende Alice-Kaserne in der Mainzer Neustadt für das Museum nutzbar zu machen. Die ehrgeizige Konzeption, ein »Weltmuseum der Druckkunst« zu schaffen, stammte aus diesen Jahren. Man wollte ihr durch eine erhebliche Ausweitung des Museums Rechnung tragen, für die die Häuser »Römischer Kaiser« und »König von England« bei weitem nicht ausreichend erschienen. Sehr präzise Konzeptentwürfe von 1930 überliefern, welche Dimensionen man sich in diesen Jahren vorstellte und was man damals mit »Weltmuseum« meinte. Beflügelt von nationalen Gedanken wollte man tatsächlich eine in der Welt einmalige Institution entstehen lassen: Wie ist dieses Ziel zu erreichen? 1. Alle Staaten, Völker und Nationen haben bei der Einrichtung des Museums mitzuarbeiten. 2. Das Gutenberg-Weltmuseum hat zu sein: I: Die Huldigungsstätte für Gutenberg. II: Historisches Institut. III: Lehrinstitut. IV: Forschungsinstitut. V: Vermittlerin zwischen Produktion und Konsum im gesamten Buch- und Druckereiwesen.12
Als Raumbedarf wurden »1500–1600 Säle (nicht Zimmer)« (!) veranschlagt; die Bemühungen um ein Museum im und um den »Römischen Kaiser« wurden bereits wieder als »Stümperei« abgetan.13 Der Zweite Weltkrieg zerstörte diese hochfliegenden Pläne. Glücklicherweise waren die Sammlungen bereits 1939 nach Amorbach ausgelagert worden, doch die Bomben des 27. Februar 1945 ließen den »Römischen Kaiser« bis auf das Erdgeschoss ausbrennen, nur die Außenmauern blieben stehen. Der »König von England« wurde wegen des Ausmaßes seiner Zerstörung nach dem Krieg nicht wieder aufgebaut. So zogen die Bestände des Gutenberg-Museums in den Nachkriegsjahren vorüberge12 13
Tronnier: Ausbau des Gutenberg-Museums zum Gutenberg-Weltmuseum, S. 2. Tronnier, S. 7 u. 1.
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hend noch einmal zurück in das Gebäude der Stadtbibliothek an der Rheinallee.
3 Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg Ruppel, politisch nicht willfährig genug, war seiner Position als Bibliotheks- und Archivleiter enthoben worden und seit 1934 nur noch als Museumsleiter tätig. Damit war die Personalunion der Institutionen zunächst aufgelöst. Das Blatt wendete sich wieder, als sein Nachfolger in der Rheinallee, Richard Dertsch, im November 1943 als Bibliotheksdirektor vom Dienst suspendiert wurde. Vorübergehend und nun gegen seinen Willen übernahm Ruppel noch einmal kommissarisch alle drei Ämter. Die Trennung von Stadtbibliothek, Stadtarchiv und Gutenberg-Museum wurde damit vorübergehend noch einmal rückgängig gemacht. Erst im Juli 1950 wurde das Gutenberg-Museum wieder ein selbstständiges Amt. Ruppel konnte sich nun uneingeschränkt dem Museum und der Gutenberg-Forschung widmen, nachdem er 1946 kompensatorisch mit einer neu begründeten Gutenberg-Professur geehrt worden war, aus der sich im Laufe der Jahre das heutige Institut für Buchwissenschaft entwickelte. Nun erst erhielt auch die Gutenberg-Bibliothek den Status, den man ihr 1900 schon zugedacht hatte. Die Buchbestände, die bis dahin in der Stadtbibliothek bewahrt worden waren, Sekundärliteratur (als Abteilung »Buch- und Druckereiwesen«) und Ausstellungsstücke, wurden in den »Römischen Kaiser« überführt. Im neuen Haus erhielt die Bibliothek eigene Magazine und einen Lesesaal. Damit war auch in dieser Hinsicht die Phase der Provisorien überstanden. Ruppel verlagerte seine Tätigkeit zunehmend auf die Gutenberg-Forschung und publizierte unermüdlich zu diesem Thema.14
4 Das Gutenberg-Museum seit 1962 Im Rahmen der Zweitausendjahrfeier der Stadt Mainz 1962 wurde der neue Ausstellungstrakt des Architekten Rainer Schell eröffnet, mit dem auf ca. 3 500 Quadratmetern endlich auch angemessene Möglichkeiten für eine 14
Vgl. Ruppel: 50 Jahre Mainzer Gutenberg-Museum, S. 430–437; Geck: Die GutenbergBibliothek.
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Dauerausstellung, zusätzliche Sonderausstellungen und einen Vortragssaal gegeben waren. Der Ausstellungstrakt wurde hinter dem »Römischen Kaiser«, durch einen Hof mit diesem verbunden, gebaut. Die Neueröffnung des Museums markierte Ruppels letzte Handlung als Museumsdirektor; die Einrichtung des Neubaus überließ er schon weitestgehend seinem Mitarbeiter Helmut Presser (1914–1995), der ihm 1963 als Direktor folgte.15 Für die Ausstellungspraxis bedeutete die Vergrößerung des Museums die Möglichkeit zur Neuordnung der Sammlungen. Presser pflegte in besonderem Maße die internationalen Verbindungen und folgt so dem Auftrag, »Schrift und Druck in aller Welt« im Gutenberg-Museum zu repräsentieren. 1940 hatte das Museum bereits eine Schenkung japanischer Druckbeispiele erhalten, darunter einen gestempelten Sutra-Zettel aus dem 8. Jahrhundert mit zugehöriger Holzpagode, Holzschnitt-Bücher und alte japanische Drucklettern. Eine große Ausstellung koreanischer Druckkunst im Jahre 1973 führte dazu, dass die Republik (Süd-)Korea dem Museum eine sehr bedeutende und wertvolle Sammlung alter koreanischer Typen und Druckwerke als Dauerleihgabe überließ. So entwickelten sich die Anfänge der Ostasienabteilung. Museumsabende, Aktionen und größere Veranstaltungen ließen eine feste Gemeinde von Freunden des Museums entstehen, die zu Stammgästen wurden. Für Touristen wurde das Gutenberg-Museum immer stärker zu einem Hauptanziehungspunkt in Mainz. In gut einem Jahrzehnt besuchte eine Million Menschen aus aller Welt das Museum. Zum 500. Todestag von Gutenberg im Jahr 1968 wurde, nachdem Leipzig bereits seit 1959 einen Gutenberg-Preis ausgeschrieben hatte, auch in Mainz ein Gutenberg-Preis der Stadt und der Gutenberg-Gesellschaft (für außerordentliche Leistungen auf technischem, buchkünstlerischem oder druckhistorischem Gebiet im Sinne Gutenbergs) geschaffen, dessen erster Preisträger Giovanni Mardersteig wurde. Von nun an wurde der Gutenberg-Preis alle drei Jahre, seit 1992 im Wechsel und in Absprache mit der Stadt Leipzig, alle zwei Jahre vergeben.16 In den Jahren 1977 bis 1987, in denen Hans Adolf Halbey (1922– 2003), der als Leiter des Klingspor-Museums in Offenbach a. M. nach Mainz berufen das Museum leitete, erhielt der Museumsbestand etliche Bereicherungen. 1978, in einem Jahr, in dem drei Gutenberg-Bibeln zum 15 16
Vgl. Presser: Ein Leben für das Buch. Zum Gutenberg-Preis vgl.: Keim: Der Gutenberg-Preis.
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Verkauf angeboten wurden – als kaum glaubliches Zusammentreffen – gelang es dem Museumsdirektor mit Unterstützung des Kulturdezernenten Anton Maria Keim eine zweibändige, damit vollständige B42 von Hans Peter Kraus in New York zu erwerben und nach Mainz zu bringen. Der Ankauf eines Blockbuchs »Apokalypse« (vor 1463) im Jahr 1987 war eine zweite wichtige Ergänzung der Sammlungsbestände, war doch bis zu diesem Zeitpunkt in keiner Mainzer Bibliothek ein Blockbuch (ein von Holzstöcken im 15. Jahrhundert gedrucktes Buch) vorhanden. Viele wichtige Schenkungen kamen in diesen Jahren ins Museum: der bekannte Bibliophile Helmut Goedeckemeyer übergab dem Museum wertvolle illustrierte Drucke des 18. und 19. Jahrhunderts, ein Jahr später nochmals eine Gruppe Pressendrucke des 20. Jahrhunderts. Der Tiefdruckforscher Otto Lilien, Jerusalem, stiftete seine tiefdruckgeschichtliche Sammlung, um zwei Beispiele zu nennen. Halbey widmete seine Aufmerksamkeit gezielt auch der zeitgenössischen Buchkunst und erwarb nach Möglichkeit Malerund Unikatbücher, Künstlerbücher und Buchobjekte. Die Museumspädagogik erhielt Impulse durch Vorlesestunden für Kinder, die im Winter 1977/78 einsetzten, und ab 1983 durch den sog. »Jour-fixe-Druck«, monatliche Vorführungen von Künstlern in den Ausstellungsräumen, die wechselnd ihre graphischen Techniken vorstellten. Durch eine Anschubfinanzierung der Stiftung Volkswagenwerk konnte 1984 erstmals eine Restaurierwerkstatt im Gutenberg-Museum eingerichtet werden, die im folgenden Jahr einsatzbereit war. Bis heute ist die hier tätige Restauratorin sowohl für das Museum wie für die Mainzer Stadtbibliothek zuständig; Hauptschwerpunkt ihrer Arbeit ist die Restaurierung und Pflege der Inkunabelbestände. Bereits in diesen Jahren wurden auch Vorstellungen für eine räumliche Erweiterung des Ausstellungsgebäudes entwickelt, da die Kapazitäten schon bald wieder unzureichend waren. Obwohl schon 1979 Pläne von Architekten ausgearbeitet wurden, versandeten diese Ansätze bald wieder. Die Folge war, dass das Museum über lange Zeit mit Raumnot kämpfte und gleichzeitig der Renovierungsbedarf immer deutlicher zutage trat. Der Wechsel in der Leitung des Museums im September 1987 markierte in gewisser Weise einen Umschwung im Verwalten der Sammlungen. Bis zu diesem Zeitpunkt war das Museum jahrzehntelang von Bibliothekaren bzw. Archivaren ohne spezielle Museumsausbildung geleitet worden. Während die Buchbestände von Beginn an fachgerecht und sorgfältig durch die bibliothekarischen Mitarbeiter des Hauses inventarisiert und katalogisiert worden waren, gab es keine entsprechende Bearbeitung und Inventarisie-
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rung der anderen Ausstellungsobjekte, wie Pressen, graphische Geräte, Druckstöcke etc. Es begann nun eine lange Phase des retro-Inventarisierens, die bis heute weit vorangeschritten, aber noch nicht abgeschlossen ist. In der Fortsetzung der Aktivitäten Pressers vertrat Halbeys Nachfolgerin Eva Hanebutt-Benz, vorher Kuratorin der Linel-Sammlung für Schrift und Druck am Museum für angewandte Kunst in Frankfurt a. M., auch wieder verstärkt die Kontaktpflege zu außereuropäischen Ländern. Eine Partnerschaft mit dem ersten chinesischen Druckmuseum in Peking wurde 1997 eingegangen, 2000 folgte (nach jahrelangem kollegialem Austausch) die Partnerschaft mit dem Early Printing Museum in der südkoreanischen Stadt Cheong-Ju, was beides sehr zur Entwicklung der asiatischen Abteilungen beitrug. Zur Aufarbeitung der Bestände und der Kernthemen des Museums eigneten sich Sonderausstellungen, die vorhandene Sammlungsmaterialien darboten und mit begleitenden Publikationen versehen wurden. So konnten einzelne Sammlungen in ihrer Geschichte und Zusammensetzung beschrieben werden, z. B. der vollständige Bestand an Drucken der Kelmscott-Press von William Morris, Auf der Suche nach dem idealen Buch (1996), oder die Schreibmeisterbücher: Zug um Zug (1998). Wichtiger noch waren Kataloge zu Gutenberg, seinem historischen Umfeld und seinem Nachleben, wie der große Katalog zum Gutenberg-Jubiläum im Jahr 2000: aventur und kunst – vom Geheimunternehmen zur ersten Medienrevolution, die Aufarbeitung der Buchdruckfeiern von Monika Estermann: O werthe Druckerkunst, Du Mutter aller Kunst (1999), sowie die Ausstellungskataloge Blockbücher des Mittelalters (1991), Das Narrenschiff (1994 und 2004) und Peter Schöffer: Bücher für Europa zum Schöffer-Jubiläum 2003. Die größten Projekte waren nicht allein mit den Kräften des Museums zu realisieren, so kam der Gutenberg-Katalog durch eine Zusammenarbeit mit den anderen Mainzer Museen, dem Mainzer Stadtarchiv und dem Institut für Buchwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg zustande. Das Prinzip der Kooperation mit universitären Instituten bewährte sich und wurde gerne wieder aufgegriffen. Die Folge waren auf ihrem Gebiet bahnbrechende Publikationen wie Sprachen des Nahen Ostens und die Druckrevolution - eine interkulturelle Begegnung (2002), in Zusammenarbeit mit der Universität Erlangen-Nürnberg, Institut für Arabistik, und der Cambridge University Library, England, wie auch das Katalogbuch: Bilderkunst und Lesefrüchte. Das illustrierte Kunstbuch von 1750 bis 1920, in Kooperation mit dem Kunstgeschichtlichen Institut der Universität Marburg (2005). Für Ende 2008 wurde wieder eine Sonderausstellung durch verschiedene Institutionen (die Uni-
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versitäten Mainz, Gießen, Trier in Zusammenarbeit mit dem GutenbergMuseum) vorbereitet, für die ein Katalog, der im Akademie Verlag (Berlin) erscheint, erstellt wurde: Gewusst wo! Wissen schafft Räume. Ein Ausbau der Museumspädagogik setzte 1988 ein, als erstmals die Position eines Museumspädagogen durch einen vom Land abgeordneten Kunsterzieher besetzt werden konnte. Angemietete Räume eines Teppichgeschäfts gegenüber dem Museum ließen 1990 den »Druckladen« entstehen, der sich zu einer blühenden aktiven Druckwerkstatt für Schulkinder und Erwachsene entwickelte, gleichzeitig aber auch ein Hort traditionellen Druckhandwerks wurde, durch ehemalige Setzer und Drucker mit Leben erfüllt.
5 Die Bibliothek des Gutenberg-Museums Die Bibliothek in ihrer Doppelfunktionalität ist naturgemäß der Hauptpfeiler des Gutenberg-Museums. Hier werden die Bücher und andere gebundene Druckwerke gesammelt, bearbeitet und zugänglich gemacht, einerseits als ›Ausstellungsstücke‹, andererseits als ›Sekundärliteratur‹. Eine Schnittmenge dient beiden Zwecken, dem Ausstellen und als Referenzliteratur, beispielsweise Druckerhandbücher, antiquarische Fachbücher, Schriftproben u. a. m. Als Ausstellungsstücke werden alle Druckwerke eingeordnet, die aufgrund ihrer Historizität, ihrer typographischen bzw. illustrativen Qualität, ihrer Einbände oder aufgrund sonstiger Eigenschaften, die sie als Quellen geeignet machen, zum Ausstellen in bestimmten Kontexten verwendbar sind. Alle dauerhaft ausgestellten Bücher können auch im Lesesaal der Bibliothek, die strikt als Präsenzbibliothek geführt wird, ausgeliehen werden. Der Bibliotheksbestand umfasst zur Zeit etwa 85 000 Titel und ca. 180 Zeitschriften aus den Bereichen Druck, Graphik, Bibliophilie, Papier und Mediengestaltung. Von größter Bedeutung sind die Inkunabeln, von denen ca. 2 800 in der Museumsbibliothek bewahrt werden. Da ein Großteil aus den alten aufgelassenen Mainzer Klöstern herrührt, wurden diese in der Mainzer Stadtbibliothek gesammelt und kamen von dort ins Gutenberg-Museum. Dieser Teil ist nach wie vor Besitz der Stadtbibliothek. Mehrere Hundert, im Museumsbesitz, wurden im Laufe der Jahrzehnte hinzuerworben oder -geschenkt. Sie werden zurzeit (ehrenamtlich) nach individualspezifischen Gesichtspunkten katalogisiert; alle wurden in den ISTC aufgenommen und sind online recherchierbar. Gedruckte europäi-
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sche Bücher des 16. bis 21. Jahrhunderts schließen sich an. Als Sondersammlungen sind zu nennen: die Sammlung Mori (zum Thema Schriftherstellung), Sammlung Hettler (Bucheinband), Sammlung Lilien (Tiefdruck), Sammlung Schaar (Bilddruck im 19. Jahrhundert). Die Bibliothek enthält die Werkarchive von Werner Rebhuhn (Verlagsbuch-Gestaltung) und Otto Rohse (Buchkunst), eine Sammlung Schutzumschläge (Sammlung Bielschowski) und Material zur Schriftgeschichte (Sammlung Blanckertz). Außereuropäische Bestände werden ebenfalls gepflegt, am bedeutendsten ist hier eine Sammlung koreanischer Drucke, die als Dauerleihgabe des Staates Südkorea in das Museum kam, zu nennen. Das Museum sammelt Schriftproben, Pressendrucke, in gewissem Rahmen auch Künstlerbücher und Buchobjekte. Eine der größten Exlibris-Sammlungen Deutschlands schließt sich an. Bedeutendste Exponate, die den Besuchern des Museums in der Ausstellung permanent zugänglich sind, sind zwei Exemplare der B42 (sogenannte Gutenberg-Bibel), das Shuckburgh-Exemplar und das SolmsLaubach-Exemplar, das Fragment vom Weltgericht, ein Ablassbrief aus Gutenbergs Werkstatt, das Catholicon und zwei handkolorierte Blockbücher des 15. Jahrhunderts. Der größte Teil der Bibliotheksbestände ist inzwischen in Online-Katalogen erfasst.
6 Die Dauerausstellung Eine stringente chronologische Aufstellung ist aufgrund der Vielfältigkeit und Divergenz der Sammlungen nicht erreichbar. Insofern kann der Besucher bis zu einem gewissen Grade historische Abläufe in ihrer geschichtlichen Entwicklung verfolgen, kann aber auch davon ausgehend in Einzelabteilungen Gesichtspunkte vertiefen bzw. zusätzliche Informationsbereiche aufsuchen. Soweit wie möglich wird versucht, die Bereiche »Herstellung« und »Produkt« miteinander sinnvoll zu verknüpfen, so dass die gezeigten Druckwerke in engster Nähe mit Geräten druckgraphischer Verfahren oder zeitlich zugehöriger Druckerpressen, um Beispiele zu nennen, gezeigt werden. Der Besucher kann mit den ältesten Druckbeispielen in der Ostasienabteilung beginnen und von dort aus zu den Abteilungen »Buch vor Gutenberg« und »Gutenberg« weitergehen, er kann aber auch von hier aus die Abteilungen 16. bis 21. Jahrhundert, Papierherstellung und Buchbinden/Bucheinband aufsuchen. In den Abteilungen »Schriftgeschichte« wird
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die Entstehung und Entwicklung der Schrift im Mittelmeerraum und dann in Europa dargestellt. Die islamische Abteilung zeigt nicht nur die geschriebene arabische Schrift, sondern erläutert zunehmend auch die gedruckten arabischen Textzeugnisse, zu deren Glanzstücken ein Blockdruck aus dem 15. Jahrhundert, in der Mitte des Raums gezeigt, gehört. Die Dauerausstellung wird (wie vorher erwähnt) von mehreren Sonderausstellungen im Jahr begleitet, die relevante Gebiete vertiefend präsentieren.
7 Die Weiterentwicklung des Gutenberg-Museums Da die Gutenberg-Gesellschaft schwerpunktmäßig immer stärker das Gutenberg-Jahrbuch finanzierte, wobei die Belange des Museums nach und nach in den Hintergrund traten, wurde die Notwendigkeit einer aktiven Lobby für das Museum immer deutlicher. 1992 gründete sich der Förderverein Erweiterungsbau e. V., eine Gruppe engagierter Mainzer Bürger. Der Förderverein organisierte zwei Museumsshops und erreichte durch eine eindrucksvolle Spendensammelaktion, dass der Stadt Mainz zum Jubiläumsjahr 2000 bereits ein Betrag von über einer Million DM in Aussicht gestellt werden konnte. Mit diesem Geld war der Startschuss gegeben, dass die Stadt zum Jahr, in dem der 600. Geburtstag Gutenbergs und 100 Jahre Museum gefeiert wurden, einen Erweiterungsbau erstellen und zusätzlich das Ausstellungsgebäude von 1962 rundum renovieren lassen konnte. Die Renovierung bot gleichzeitig die Möglichkeit, die bereits erwähnte groß angelegte Gutenberg-Ausstellung in allen Ausstellungsräumen zur Schau zu stellen, da die vorherige Dauerausstellung komplett ausgeräumt werden musste. Die Erweiterung brachte dem Museum vielfältigen Nutzen. Nicht nur die Vergrößerung der Ausstellungsfläche, durch die eine informationsreiche Ostasien-Abteilung eingerichtet, eine kleinere Islam-Abteilung und die Entwicklung der abendländischen Schrift zur Geltung gebracht werden konnte, sind als wichtiger Fortschritt zu sehen. Der Erweiterungsbau gab auch einem Graphikmagazin mit angeschlossenem Arbeitszimmer für ein bis zwei Kuratoren Raum, einem Kursraum unter dem Satteldach und einem großen Magazin für Maschinen, Geräte und kleinere Objekte im Kellergeschoss. Darüber hinaus konnte nun aber auch endlich dem Druckladen im Erdgeschoss des Museums ausreichend Platz gegeben werden. Nach vielen Jahren waren nun endlich alle Abteilungen in einem Gebäudekomplex untergebracht und damit dauerhaft gesichert: außer dem
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Druckladen erhielt auch das viele Jahre hindurch in gemieteten Räumen ausquartierte Minipressen-Archiv Platz im eigenen Haus. Die Renovierung des Ausstellungstraktes von 1962 (Schell-Bau) ließ nun ebenfalls behutsame Veränderungen in der Ausstellungskonzeption zu. Während das Museum früher stärker als Buchmuseum in Erscheinung trat, wird nun versucht, Herstellungsprozesse und Ergebnisse miteinander zu verbinden, um den Besuchern Zusammenhänge und Voraussetzungen der Druckkultur in all ihren Facetten zu verdeutlichen. Sammlungsbestände wie z. B. die Sammlung eiserner Handpressen wurden gezielt ausgebaut, graphische Prozesse durch Modelle veranschaulicht (Tiefdruck, Lithographie). Hinzu kommen vermehrt Vorführungen und Erklärungen im Austausch mit dem Publikum in den Ausstellungsräumen, was die Attraktivität des Museums erheblich steigert. Wenn man bedenkt, dass bereits bei Gutenberg selbst, der im allgemeinen Bewusstsein vor allem als »Schöpfer der ersten gedruckten Bibel« gesehen wird, alle Zweige des Publizierens angelegt waren: Schriften für die Kirche, Unterrichtsmaterial (Donate), Formulardruck (Ablassbriefe) und auch auf Aktualitäten bezogene Texte (Türkenkalender) sowie Unterhaltungsliteratur (Fragment vom Weltgericht) ergibt sich schon daraus, dass ein als »Weltmuseum der Druckkunst« apostrophiertes Haus alle Zweige und Entwicklungslinien des Druckens sammeln und vermitteln sollte. Über 100 Jahre lang war das Gutenberg-Museum vor allem ein Buchmuseum. Der in Bedeutung und Umfang wesentliche zweite Zweig, der Zeitungsdruck und die Pressegeschichte, wurde – vom Gründungsjahr 1900 abgesehen – nicht wahrgenommen. Dabei wurde nicht berücksichtigt, dass die Zeitung (seit 1605) nicht nur in ihrer Wirkungs- und ihrer Innovationskraft einen Sektor der Druckgeschichte darstellt, der gleichberechtigt neben der Buchproduktion steht, sondern auch in Hinblick auf die Rezeptionsgeschichte. Das Gutenberg-Museum trug in ersten Ansätzen mit einer Sonderausstellung 1992 »Zeitungs Lust und Nutz« und der großen Jubiläumsausstellung 2005 »Schwarz auf Weiß«, beide kuratiert vom Pressehistoriker Martin Welke, diesem Ansatz Rechnung.17 Durch die »Stiftung Deutsches Zeitungsmuseum« des Ehepaars Martin und Sabine Welke an die Stadt Mainz zugunsten des Gutenberg-Museums im Jahre 2005 ist nun die Grundlage geschaffen, das Gutenberg-Museum in diesem Sinne auszubauen. Es bietet sich eine einmalige Chance, das Museum in 17
Die im Rahmen der Ausstellung veranstaltete Tagung wurde in einem Tagungsband publiziert: Welke/Wilke: 400 Jahre Zeitung.
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wirklich umfassender Weise zu vervollständigen. Zum jetzigen Zeitpunkt wurde im dritten Stock des Ausstellungsgebäudes (Schellbau) auf knapp 300 qm eine komprimierte Abteilung zur Zeitungsgeschichte (Entstehung, Technik, Distribution, Zensur, Rezeption) eingerichtet und als Teil der Dauerausstellung konzipiert, die im April 2008 eröffnet wurde. So wurden vor allem zwei Tendenzen in den letzten 20 Jahren verfolgt, die nach und nach immer deutlicher das Profil des Museums prägen. Einerseits wurden die notwendigen museumsspezifischen Aufgaben angegangen, die brachgelegen hatten. Die Sammlungen, die nicht von den Bibliotheksmitarbeitern betreut wurden, also Maschinen, Pressen, Geräte sowie andere Objekte, wurden geordnet, inventarisiert und gezielt ausgebaut. Kernthemen und Sammlungsbestände wurden durch Publikationen der Öffentlichkeit vermittelt. Andererseits entwickelte sich das Museum mehr und mehr zu einem ›lebendigen Museum‹, in dem unterschiedlichste Angebote für Besucher gemacht werden, die aktive oder zumindest lernende Teilnahme auch innerhalb der Ausstellungsräume und in ständiger Einbeziehung der Exponate ermöglichen. Wenn heute museumsintern über das Gutenberg-Museum gesprochen wird, heißt es gerne: wir haben vier Museen in einem – das GutenbergMuseum ist ein Kunstmuseum, ein Technisches Museum, ein Kulturgeschichtliches Museum und ein Ethnologisches Museum. Es richtet sich an alle und versucht die Interessen von Kleinkindern, Schülern, Touristen, hin zu Buchsammlern und Fachleuten zu berücksichtigen. Überdurchschnittlich viele Angebote dienen diesem Zweck. Die Bilanz von ca. 140 000 Besuchern pro Jahr bestätigt den Erfolg der Bemühungen. Die unzureichende personelle Besetzung macht es allerdings oft schwer, den speziellen Ansprüchen eines wissenschaftlichen Publikums nachzukommen. Ein personeller Ausbau wird unumgänglich sein, ist allerdings in Zeiten der Stelleneinsparungen schwer durchzusetzen. Die Geschichte des Gutenberg-Museums zeigt, dass der fortwährende Kampf um die Belange des Museums glücklicherweise letztenendes immer wieder Früchte trug.
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8 Literaturverzeichnis 8.1 Geschichte und Sammlung des Gutenberg-Museums Ruppel, Aloys: 50 Jahre Mainzer Gutenberg-Museum. In: GJ 25 (1950), S. 430–437. Reitzel, Adam Michael: Die Renaissance Gutenbergs. Mainz: Deutscher Fachschriften Verlag 1968. Halbey, Hans Adolf u. a.: Schrift Druck Buch im Gutenberg-Museum/Buchkultur in Mainz. Mainz: von Zabern 1985. Keim, Anton Maria: Mehr als zwei »Denkmäler«: Neunzig Jahre Weltmuseum der Druckkunst und Internationale Gutenberg-Gesellschaft Mainz. In: Imprimatur N. F. 14 (1991). [Wiederabgedruckt als kleiner Druck der Gutenberg-Gesellschaft 109 (1991)]. Das Gutenberg-Museum Mainz. Ein Führer durch das Druck- und Schriften-Museum. Hrsg. v. Gutenberg-Museum u. Förderverein Gutenberg e. V. Mainz: GutenbergMuseum 1998. Gutenberg. aventur und kunst. Vom Geheimunternehmen zur ersten Medienrevolution. Katalog zur Ausstellung der Stadt Mainz anlässlich des 600. Geburtstages von Johannes Gutenberg. Gutenberg-Museum, Naturhistorisches Museum, Landesmuseum, Stadtarchiv, Dom- und Diözesanmuseum der Stadt Mainz in Zusammenarbeit mit dem Buchwissenschaftlichen Institut der Universität Erlangen. Mainz: Hermann Schmidt 2000. Hanebutt-Benz, Eva-Marie: Druckgeschichte anschaulich. Museumspädagogik im Gutenberg-Museum Mainz. In: Zeichen, Bücher, Wissensnetze. 125 Jahre Deutsches Buchund Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek. Hrsg. v. Stephanie Jacobs. Göttingen: Wallstein 2009, S. 230–235.
8.2 Literatur Eyssen, Jürgen: Buchkunst in Deutschland vom Jugendstil zum Malerbuch. Hannover: Schlütersche Verlagsanstalt 1980. Gassner, Heinrich: Aufruf »An die gebildeten der ganzen Welt« zur Unterstützung der Museumsgründung. Mainz 1900. [Faltblatt]. Geck, Elisabeth: Die Gutenberg-Bibliothek. In: Allgemeine Zeitung Mainz v. 2. Februar 1968, Beilage zum 500. Todestag Johannes Gutenbergs. Hanebutt-Benz, Eva: Das Gutenberg-Museum in der Stadtbibliothek. In: 200 Jahre Stadtbibliothek Mainz. Hrsg. v. Annelen Ottermann u. Stephan Fliedner. Wiesbaden: Harrassowitz 2005, S. 143–147. Isphording, Eduard: Draufsichten. Die Sammlung des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg. Nürnberg: Verlag des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg 2005. Keim, Anton Maria: Der Gutenberg-Preis, eine internationale Botschaft aus der Medienstadt Mainz seit 1968. In: Deutscher Drucker 34 (1998), H. 35 vom 17. September 1998, o.p. (eingeheftete Beilage). Presser, Helmut: Ein Leben für das Buch. Mitgeteilt für die Freunde. Wiesbaden: Privatdruck, in Druck gegeben von Eduard Born, bei Carl Ritter & Co. 1974. Ruppel, Aloys (Hrsg.): Gutenberg-Festschrift. Zur Feier des 25jährigen Bestehens des Gutenberg-Museums in Mainz. Mainz: Verlag der Gutenberg-Gesellschaft 1925.
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Schauer, Kurt Georg: Deutsche Buchkunst 1890 bis 1960. Bd. 1. Hamburg: MaximilianGesellschaft 1963. Schütz, Friedrich: Aloys Ruppel. Leben und Werk. Mainz: Gutenberg-Gesellschaft 1982 (Kleiner Druck der Gutenberg-Gesellschaft. 100). Tronnier, Adolph: Ausbau des Gutenberg-Museums zum Gutenberg-Weltmuseum für Druck und Kultur. (Tempel der Letter). Mainz 15. Dezember 1930. [Ms. masch. Stadtarchiv Mainz]. Welke, Martin/Wilke, Jürgen (Hrsg.): 400 Jahre Zeitung. Die Entwicklung der Tagespresse im internationalen Kontext. Bremen: edition lumière 2008.
STEPHANIE JACOBS
Das Buch – museal Das Deutsche Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek 1 Prolog: Das Buch im Museum Das Buch hat wie kein anderes Medium unsere Kultur und Zivilisation geprägt: Seit Jahrhunderten wird unser Wissen über die Welt und über den Menschen in Büchern gespeichert, tradiert und fortgeschrieben. Die Sammlung, Ausstellung und wissenschaftliche Bearbeitung buchwissenschaftlicher und mediengeschichtlicher Zeugnisse ist die Aufgabe des Deutschen Buch- und Schriftmuseums der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig. Im Fokus steht das Buch mit seinen zahllosen Gesichtern: das Buch als geniale Formfindung und als Ideenspeicher, das Buch als Produkt wirtschaftlicher und technischer Prozesse sowie als Hauptmedium kultureller Kommunikation im neuzeitlichen Europa, das Buch als Konsumartikel und Statussymbol, als Kunstwerk und als zensierter und auf dem Scheiterhaufen der Fundamentalisten verbrannter Informationsspeicher. Es als Einheit zu betrachten und die Summe seiner Funktionen, auch nach dem Übergang ins Zeitalter der digitalen Netzwelt, in den Blick zu nehmen, ist das Anliegen des Museums, das den Status einer zentralen Dokumentationsstätte für die Buchkultur in Deutschland hat. Der funktionalen und strukturellen Leistungsstärke des Buchs – offen für die unterschiedlichsten Themen und Lektürefunktionen unabhängig von künstlerischen, ethischen und kulturpolitischen Wertungen – historisch nachzuspüren, setzt, wie der folgende Beitrag zum Profil des Deutschen Buch- und Schriftmuseums zeigen möchte, einen empirischpragmatischen Buchbegriff voraus, dem jede übergeordnete Festlegung (zum Beispiel durch ontologisch argumentierende Thesen) in der Praxis eine Einengung bedeuten würde. Das gilt ganz besonders und gerade am Übergang des Buchs in die digitale Netzwelt. Niemand sieht, jenseits kulturpessimistischer Totenrede auf der einen Seite und euphorischer Zukunfts-
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vision auf der anderen, voraus, wo das Buch in 50 Jahren steht. Umso mehr und gerade angesichts des mediengeschichtlichen Umbruchs der vergangenen Jahrzehnte sollte sich buchwissenschaftliche Theoriebildung auch im Museum zwar ihres Handwerkszeuges vergewissern. Doch erscheint heute eine weitsichtige und daher geduldige Zurückhaltung in der Profilierung starker Theoreme angesichts der Umwälzungen des Buchs im nächsten halben Jahrhundert eine lohnende Übung. Wie wichtig ein empirischer Begriff des Buchs als museales Objekt ist, zeigt ein Blick auf die Besonderheiten der musealen Dingwelt im Allgemeinen:1 Dem einen gilt das Objekt als »Semiophore«2, als Träger eines Zeichens innerhalb eines Zeichensystems, dem anderen als Zeitspeicher, dem dritten als ein in seiner auratischen Strahlkraft über sich selbst hinausweisendes, in jedem Fall aber erklärungsbedürftiges Ding – selbst materieller Natur, aber auf immaterielle Werte verweisend –, dem vierten gilt es als Medium der Kommunikation und hat, abgeleitet von zeichentheoretischen Überlegungen, auch soziale ›Kompetenz‹, dem fünften als Relikt und stummes Überbleibsel, dem ein technik-, wirtschafts- oder ideengeschichtlicher Sinn erst verliehen werden muss, damit sich das im Objekt verschlossene Erbe erschließen kann – um an dieser Stelle nur einige Ansätze zu skizzieren. Im Schatten dieser facettenreichen Diskussion zeigt sich, dass eine zu enge theoretische Differenzierung des Objektbegriffs im Museum immer Gefahr läuft, die Aura der »Museumsdinge«3 selbst zu beschneiden. Doch welcher Objektbegriff des Buchs im Museum auch immer favorisiert wird, eines kann die Diskussion um das Buch nicht vergessen machen: Wie kaum eine andere Objektkategorie ist das Buch im musealen Schauraum ›lahm gelegt‹. Es verschließt sich in – fast – jeder Hinsicht der wissen-wollenden Neugier des Museumsbesuchers: nicht blättern können, nicht lesen, nicht stöbern, nicht riechen, nicht vorlesen, weder zur Hand nehmen noch sein Papier ertasten können. Beinahe alles, was das Buch ausmacht, bleibt außen vor, wenn das Buch in der Vitrine liegt. Die Auswege aus dieser Situation scheinen begrenzt zu sein: Digitale Substrate öffnen einen Zugang zum Buch als Wissenskontinuum, Reprints laden 1
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Die Theorien zum musealen Objekt sind Legion. Nennen möchte ich an dieser Stelle den knappen Überblick zur Historiographie des Diskurses bei Korff: Zur Eigenart, S. 277–281. Vgl. auch Korff/Roth: Das historische Museum; Pomian: Der Ursprung; Sloterdijk: Museum; Assmann: Kollektives Gedächtnis; Rheinberger: Objekt und Repräsentation; Arnold: Cabinets for the Curious. Zum Begriff der Semiophore vgl. Pomian: Der Ursprung. Korff: Zur Eigenart, 277f.
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zum Blättern ein, Audiostationen vergegenwärtigen Gedankenbrocken, Berichte über die Rezeption von Büchern lassen die Kreise, die das Buch in einer Gesellschaft zieht, wieder erstehen. Auch lässt sich der ›Stillstand‹ des Buchs im musealen Schauraum durchaus als Stillstand inszenieren, um dabei die Blicke auf Besonderheiten in Form, Gestaltung oder Einzelinformationen ganz bewusst zu lenken. Allein, das Buch in der Vitrine entführt den Museumsbesucher nicht mehr in Traum- und andere Welten und verliert damit eine seiner wesentlichen Bestimmungen. Und genau in dieser scheinbaren Ausweglosigkeit liegt der Reiz des Objekts für die museale Arbeit. Kompensation bietet die kulturhistorisch argumentierende Kontextualisierung des einzelnen Buchs durch ein raumbezogenes Vermittlungsangebot – meines Erachtens der Königsweg des musealen Zugangs zum überkomplexen Objekt Buch im Museum. Nicht Alleinstellung oder Ikonisierung, nicht Reihung unter seines Gleichen, sondern Erhellung des Buchs durch die Präsentation seines historischen und kulturellen Umfelds. Hier liegt der Schlüssel einer kulturhistorisch geprägten Museumsarbeit mit dem Buch, die Bildungsauftrag und Neugier miteinander verbindet. Kontext schaffen heißt aber auch, das Buch als musealen Gegenstand nicht von der Vielfalt seiner begrifflichen Aspekte zu trennen, sondern seine Vielschichtigkeit in die museale Praxis aufzuheben: Sowohl die Sammlungskonzeption als auch das Ausstellungsprofil, die wissenschaftliche Projektarbeit, die Vermittlungsarbeit mit Kindern und das Veranstaltungs- und Kooperationsprogramm sollte auf einen möglichst weiten Begriff des Buchs ausgerichtet werden. Gerade einer Institution wie dem Deutschen Buchund Schriftmuseum, deren historisch gewachsene Bestände von einer wunderbaren Heterogenität sind, steht ein interdisziplinär ausgerichteter Buchbegriff gut an. Denn kann das Buch als der interdisziplinäre Gegenstand der historischen Wissenschaften schlechthin angesehen werden – sammelt sich doch beinahe alles, was wir unter Kultur verstehen, im Buch, im Geschriebenen –, so sollte ein Museum, das sich dem Buch widmet, seine Netze in alle Richtungen der historischen Wissenschaften, der Medientheorien, der Künste und der Informationsgesellschaft auswerfen. Zur Verdeutlichung möchte ich im Folgenden nach einem Überblick über die Geschichte und Bestände des Deutschen Buch und Schriftmuseums den pragmatisch-empirischen Begriff des Buchs, der unserer Arbeit zugrunde liegt, an einigen Beispielen aus aktuellen Projekt-, Forschungsbzw. Erschließungszusammenhängen heraus entwickeln, sodass parallel zur Vorstellung der Museumsprojekte auch der Ansatz einer Typologie
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verschiedener Buchbegriffe skizziert wird. Wenngleich das Augenmerk des Museums als Schule des Sehens, des Forschens und der Neugier nicht der theoretischen Fundierung von Begriffen gilt, würde die museale Arbeit mit Büchern von einer profilierten theoretischen Fundierung des Buchbegriffs in der Buchwissenschaft nur profitieren können.
2 Zur Geschichte des Deutschen Buch- und Schriftmuseums Das Deutsche Buch- und Schriftmuseum – 1884 als Deutsches Buchgewerbemuseum in Leipzig gegründet – ist das weltweit älteste und nach Umfang und Qualität der Bestände eines der bedeutendsten Museen auf dem Gebiet der Buchkultur.4 Zweck und Aufgabe des Museums war es laut Gründungsstatut, für alle mit der Buchherstellung, -gestaltung und dem -vertrieb beschäftigten Bereiche nach dem Vorbild der Kunstgewerbemuseen des 19. Jahrhunderts eine Stätte umfangreicher Muster- und Studiensammlungen aus Vergangenheit und Gegenwart zu sein und dem durch die industrielle Massenherstellung gezeichneten Buch des ausgehenden 19. Jahrhunderts neue Orientierung zu bieten. Neben Geschmacksbildung und Belehrung in der für die Buchgestaltung der Zeit typischen sozialutopischen Ausrichtung stand im Fokus der musealen Tätigkeit auch das wirtschaftliche Interesse der Verbände: die Konkurrenzfähigkeit des deutschen Buchgewerbes. Der Standort Leipzig war für die Ansiedlung eines Buchmuseums am Ende des 19. Jahrhunderts kein Zufall. Leipzig hatte durch seine herausragenden Leistungen und Innovationen auf dem Gebiet der Buch- und Druckkunst – wie der Herausgabe der ersten Tageszeitung der Welt (Einkommende Zeitungen, Timotheus Ritzsch 1650), der ersten wissenschaftlichen Zeitschrift (Acta eruditorum, Johann Grosse und Johann Friedrich Gleditsch 1682), der Entwicklung des beweglichen Notensatzes und der jahrhundertealten Tradition der Leipziger Buchmesse – ein unverwechselbares historisches Profil als Buchstadt. Den Grundstock für den umfangreichen Buchbestand des Museums legte der sächsische Staat 1886 mit dem Ankauf der ca. 3 000 historische Drucke umfassenden Sammlung des Dresdner Schneiders, Verlegers und
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Eine neuere wissenschaftliche Aufarbeitung der Museumsgeschichte findet sich in Poethe: Chronik. Unter der älteren Literatur sind zu nennen Funke: Das Deutsche Buch- und Schriftmuseum und Poethe: Vom »Deutschen Kulturmuseum«.
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Büchersammlers Heinrich Klemm.5 Die »Internationale Ausstellung für Buchgewerbe und Graphik« Leipzig 1914 (Bugra), die von dem Kulturhistoriker Karl Lamprecht konzipiert worden und in der Geschichte der Buchkultur von epochaler Bedeutung war, war Anlass, die Ausrichtung des Museums erheblich zu erweitern und es zu einer Forschungs- und Dokumentationsstelle für die gesamte Buch- und Schriftkultur zu machen. Als Deutsches Buchgewerbe- und Schriftmuseum wurde es, aufbauend auf den umfangreichen Forschungsergebnissen und Objektrecherchen der Bugra, 1915 neu eröffnet. Unter der Leitung von Albert Schramm und Hans Heinrich Bockwitz entwickelte sich das Museum zu einem wissenschaftlichen Zentrum, in dem die Zeugnisse der Buchkultur und ihrer technischen Grundlagen umfassend gesammelt, bewahrt, erschlossen und vermittelt wurden. Die Fachbibliothek des Museums hatte schon damals einen auch international anerkannten Ruf als Stätte der Buchwissenschaft. Schwere Verluste erlitten Museum und Sammlung im Zweiten Weltkrieg: Das Deutsche Buchgewerbehaus – zwischen 1900 und 1914 und seit 1939 wieder Sitz des Museums – wurde im Dezember 1943 in Schutt und Asche gelegt. Die wertvollsten, damals ausgelagerten Stücke der Klemm-Sammlung – Handschriften, Inkunabeln, darunter eine 42-zeilige Gutenbergbibel und eine wertvolle Bucheinband- und Zeugdrucksammlung – beschlagnahmte die sowjetische Besatzungsmacht im September 1945. Sie liegen seitdem in der Russischen Staatsbibliothek in Moskau.6 Nach kriegsbedingtem Verlust seiner Wirkungsstätte und nach der Auflösung des Deutschen Buchgewerbevereins Ende 1949 sicherte die Integration des Museums in die Deutsche Bücherei Leipzig sein Fortbestehen. Im Mai 1954 konnte am Deutschen Platz eine erste provisorische Ausstellung eröffnet werden. Der Wiederaufbau der Bestände begann. Die Bibliothek des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler zu Leipzig ging Ende 1959, das Deutsche Papiermuseums Greiz 1964 an das Museum über. 1965 konnten neue Räumlichkeiten im Nordwest-Flügel der Deutschen Bücherei bezogen werden. Mit dem Einigungsvertrag wurde das Museum 1990 eine Abteilung der Deutschen Bibliothek. Durch Übernahmen und Übereignungen großer Sammlungsbestände – genannt seien an dieser Stelle die Wasserzei5 6
Zur Klemm-Sammlung vgl. Rüdiger: Eine Büchersammlung im 19. Jahrhundert. Vgl. Poethe: »Wo ist Gutenberg-Bibel?«, S. 247–301; Poethe: Die Becher-Einbandsammlung, S. 341–364.
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chensammlung der ehemaligen Forschungsstelle Papiergeschichte vom Deutschen Museum München (1992) und die Archivalien und Geschäftsrundschreiben der Börsenvereinsbibliothek (2005) – konnten die Sammlungen des Museums erheblich ausgebaut werden. Eine neue Dauerausstellung »Merkur und die Bücher. 500 Jahre Buchplatz Leipzig« wurde 1996 der Öffentlichkeit übergeben, die Ende 2008 wegen der Baumaßnahmen zum vierten Erweiterungsbau der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig geschlossen wurde. Mit ihrer Gesetzesnovellierung und Namensänderung in »Deutsche Nationalbibliothek« im Juni 2006 steht auch für das Deutsche Buch- und Schriftmuseum eine Neuprofilierung als Fachabteilung an. Ein wichtiger Meilenstein auf diesem Weg wird die Eröffnung der neuen Ausstellungsräume im Erweiterungsbau 2010 sein.
3 Die Bestände des Deutschen Buch- und Schriftmuseums Neben der Klemm-Sammlung garantiert ein dichtes Netz von Studiensammlungen, Stiftungen und Nachlässen bedeutender Forscher des Fachgebiets und einzelner Buch- und Schriftgestalter sowie die Fachbibliothek des Museums ein Studien- und Ausstellungsumfeld von hoher Qualität.7 Auch zählt das Museum einmalige Bestände zur Papiergeschichte mit der weltweit größten Wasserzeichensammlung und eine umfangreiche kulturhistorische Sammlung zu seinen Beständen. Ein besonderes Augenmerk genießen ferner das Künstlerbuch und das gute Gebrauchsbuch. Die Sammlungen des Deutschen Buch- und Schriftmuseums mit über einer Million Objekten erlauben in ihrer außergewöhnlichen Heterogenität eine interdisziplinäre Herangehensweise an buch- und schriftgeschichtliche Fragestellungen im kultur-, medien- und kommunikationswissenschaftlichen Kontext.8
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Mein Dank gilt allen Kollegen und Kolleginnen aus dem Deutschen Buch- und Schriftmuseum für die freundliche Unterstützung bei der Zusammenstellung der Informationen zum musealen Bestand. Vgl. den Überblick über die Kataloge zum Buchbestand des Deutschen Buch- und Schriftmuseums bei Rüdiger: Deutsches Buch- und Schriftmuseum.
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3.1 Klemm-Sammlung
Die Klemm-Sammlung ist eine Sammlung buchhistorischer Muster und Fachliteratur. Mit ca. 22 000 Drucken – von der Inkunabelzeit bis zum 21. Jahrhundert – bildet sie den Grundstock des buchmusealen Bestands und hat zugleich den Rang einer wissenschaftlichen Spezialbibliothek. Benannt ist die Sammlung nach dem Dresdner Schneidermeister Klemm (1819–1886), der die Entwicklung der Typographie in deutschen und ausländischen Drucken dokumentieren wollte. Diese Privatsammlung von etwa 3 000 historischen Drucken, darunter 650 Inkunabeln, wurde als Königlich Sächsische Bibliographische Sammlung vom sächsischen Staat angekauft und dem Deutschen BuchgewerbeMuseum 1886 als Dauerleihgabe übergeben. Schwere Verluste erlitt die Klemm-Sammlung wie bereits erwähnt durch die Auslagerung der Bestände und die Beschlagnahmung der wertvollsten Stücke durch die sowjetische Besatzungsmacht: 57 Handschriften, 131 Inkunabeln, 14 Drucke aus dem 16. bis 19. Jahrhundert und 382 Bände der 1911 erworbenen Einbandsammlung von Carl Becher aus Karlsbad lagern seit Kriegsende in der Russischen Staatsbibliothek (RGB) in Moskau. Nach der Eingliederung des Deutschen Buch- und Schriftmuseums in die Deutsche Bücherei Leipzig im Jahre 1950 wurde die Klemm-Sammlung durch erhalten gebliebene Bestände des Deutschen Buchgewerbevereins, Bestände der ehemaligen Bibliothek des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler zu Leipzig und historische Bestände der Leipziger Stadtbibliothek ergänzt. Die Klemm-Sammlung ist keine abgeschlossene historische Sammlung, sondern wird systematisch erweitert. Der Bestand gliedert sich in die folgenden Bereiche: Handschriften, Inkunabeln, Renaissancedrucke, Drucke des 17. bis 19. Jahrhunderts, frühe Pressendrucke, originalgraphische Mappenwerke und Künstlerbücher, Bucheinbände und Fachliteratur zum gesamten Buchgewerbe. 3.2 Sammlung Künstlerische Drucke
Mit einem Bestand von 35 000 Titeln gibt die Sammlung Künstlerische Drucke einen Überblick über die Entwicklung der Buchgestaltung im 20. und 21. Jahrhundert. Bereits 1917 wurde in der Deutschen Bücherei Leipzig damit begonnen, bibliophile Drucke, Mappenwerke mit Originalgraphik und wertvolle Faksimile-Ausgaben gesondert aufzustellen. Diese
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Sammlung wurde schon bald um Gebrauchsbücher aller Gattungen erweitert. Als das Deutsche Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Bücherei Leipzig 1950 angegliedert wurde, wurde die Sammlung dem Museum zugeordnet. Als zeitliche Fortsetzung zur Klemm-Sammlung dokumentiert dieser Bestand die Erscheinungsformen von Buch und Schrift seit 1900 unter technischen, ästhetischen und verlagsgeschichtlichen Aspekten. Zugleich fungiert diese Sammlung als Archiv der Veröffentlichungen, die seit 1929 durch die Deutsche Buchkunst-Stiftung ausgewählt und prämiert werden sowie als Archiv der Bücher der Internationalen Buchkunst-Ausstellungen in Leipzig. Im Bestand befinden sich Beispiele zur Buchgestaltung des 20. und 21. Jahrhunderts in Deutschland, buchkundliche Fachliteratur mit Schriftproben und Schriftmusterbüchern, Veröffentlichungen des Wettbewerbs »Schönste Deutsche Bücher«, internationale Buchkunstbeispiele, frühe Pressendrucke und moderne Künstlerbücher in Auflage, Schutzumschläge und Kunstblätter. 3.3 Bibliothek des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler zu Leipzig
In den 1840er Jahren führte die Initiative von Leipziger Buchhändlern zur Sammlung und Bewahrung von Zeugnissen der eigenen Geschichte. 1844 unterbreitete der Verein der Buchhändler zu Leipzig dem Börsenverein der Deutschen Buchhändler das Angebot, seine Fachbibliothek zu übernehmen. Dieser Bestand enthielt neben zahlreichen Zeitschriften auch wissenschaftlich bedeutsame Archivalien. Mit der Ernennung des Leipziger Buchhändlers und Antiquars Albrecht Kirchhoff zum ersten selbstständigen Bibliothekar begann 1861 der systematische Ausbau der Bibliothek, die Entwicklung eines Klassifikationssystems und die Schaffung von Bibliothekskatalogen. 1875 stiftete Kirchhoff zum fünfzigjährigen Jubiläum des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler seine buchgeschichtliche Privatsammlung, die aus über 1 000 Werken, darunter Handschriften, Inkunabeln, seltenen Verlagskatalogen, Drucken berühmter Offizinen vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, graphischen Porträts und handschriftlichen Archivalien bestand. Seit 1888 war die Bibliothek des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler im neu erbauten Buchhändlerhaus untergebracht. Bei der Zerstörung des Buchhändlerhauses im Dezember 1943 wurden Dreiviertel des
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ehemaligen buchhistorischen Bestands der Bibliothek vernichtet, darunter große Teile der Literatur zur Buchhandelsgeschichte, die ExlibrisSammlung, die Sammlung der Drucker-Signets und der Buchhändleranzeigen des 15. Jahrhunderts. Den Schwerpunkt der Bestände bildet heute die Literatur zur Geschichte des Buchwesens, speziell zum Herstellungs- und Vertriebsprozess des Buchs, ergänzt durch Publikationen zur Geschichte der Schrift, der Beschreibstoffe, der Druckverfahren, der Buchausstattung sowie der Bibliographie, Bibliophilie und Bibliothekswissenschaft. Bei der kontinuierlichen Ergänzung der Klemm-Sammlung werden ursprünglich in der Börsenvereinsbibliothek vorhandene, im Krieg verloren gegangene Titel mit Vorrang erworben. Der Bestand enthält historische Fachliteratur (6 845 Titel), museale Drucke (575 Titel), Inkunabeln und Drucke vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. 3.4 Archivalien und Dokumente zur Buchgeschichte
Die Sammlung umfasst rund 150 000 schriftliche und bildliche Quellen insbesondere zum Buchhandel und zum Buchdruck des 16. bis 21. Jahrhunderts. Den Kern bildet das Buchhandelsarchiv der Bibliothek des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler zu Leipzig, das überwiegend deutschsprachige Archivalien zur Buchgeschichte des 19. Jahrhunderts enthält. Neben Einzeldokumenten wie Briefen und Verlagsverträgen sind auch geschlossene Bestände – Geschäftsrundschreiben, Buchhändlerporträts, Verlagsarchive und Teilnachlässe von Buchhändlern – vorhanden. Zusammen mit dem Historischen Archiv des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels in der Deutschen Nationalbibliothek Frankfurt am Main stellt die Sammlung der Archivalien und Dokumente zur Buchgeschichte eine einzigartige Quellenbasis für buchgeschichtliche Forschungen in Deutschland dar. Einen Schwerpunkt in der Erwerbung bilden Dokumente zur Buchgeschichte der DDR. Als Dauerleihgabe der Leipziger Städtischen Bibliotheken wird der Teilnachlass des Schriftstellers Hermann Marggraff aufbewahrt. Im Bestand befinden sich auch die Göschen-Sammlung, eine umfangreiche Sammlung von Verlags- und Antiquariatskatalogen sowie diverse Blattsammlungen.
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3.5 Graphische Sammlung
Die Graphische Sammlung enthält original- und reproduktionsgraphische Einzelblätter und Blattfolgen vom 15. bis zum 21. Jahrhundert. Sie bietet eine Ergänzung zum musealen Buchbestand und umfasst nahezu alle Bereiche des Buch- und Schriftwesens sowie angrenzender Felder. Hier finden sich Arbeiten einzelner Künstler, Werkstätten, Künstlervereinigungen, Druckereien und Verlage, Beispiele zur Entwicklung der graphischen Techniken und Druckverfahren, Entwürfe zur Schrift- und Buchgestaltung, Illustrationen, Schrift (Kalligraphie, Typographie, Initialen, Ornamente, Porträts, Schriftproben), Buchgattungen, Bestandteile des Buchs (Exlibris, Signete, Buchumschläge, Lesezeichen, Porträts), Gebrauchsgraphik und Akzidenzen (Amtsdrucksachen, Bilderbogen, Briefköpfe, Einladungen, Etiketten, Geldscheine, Glückwünsche, Guckkastenbilder, Patenbriefe, Speisekarten, Spiele, Stickmuster, Spitzenbilder, Tabakpackungen, Tanzkarten, Theaterzettel, Votivbilder) und Dokumente zum Buchwesen (Ausstellungen, Firmenansichten, Maschinenbilder, Werbung). 3.6 Kulturhistorische Sammlung
Bereits 1884 wurde vom Deutschen Buchgewerbeverein mit dem Aufbau einer kulturhistorischen Sammlung begonnen. Die Zerstörung der Museumsräume im Zweiten Weltkrieg bedeutete große Verluste auch für diese buchgewerblichen Bestände. Vor allem betroffen waren die historischen Maschinen und Materialien zur graphischen Technik. Eine wesentliche Bereicherung erfuhr die Sammlung 1964, als die Bestände des Deutschen Papiermuseums Greiz in das Museum integriert wurden. Heute umfasst sie ca. 6 000 Exponate. Die Veränderungen, die sich nach 1990 in der buchgraphischen Branche in Leipzig und anderen ostdeutschen Orten vollzogen und mit der Schließung von Betrieben verbunden waren, brachten der Kulturhistorischen Sammlung neuen Zuwachs und Profilierung. Prototypen buchgewerblicher Maschinen, Geräte und Zubehör wurden übernommen, zum größten Teil restauriert und in die aktuellen Ausstellungen des Museums einbezogen. Die Kulturhistorische Sammlung enthält Sachzeugen zur Buch-, Schrift- und Papiergeschichte, Beschreibstoffe und frühe Buchformen (Stelen, Tontafeln, Papyri usw.), Schreibzeuge und -geräte der verschie-
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densten Zeitepochen einschließlich Schreibmaschinen, Kultgegenstände des Buch- und Schriftwesens, Bleisatzschriften, Holzschriften, Prägeschriften, Materialien, Werkzeuge und Vorrichtungen der Schriftsetzer, Buchdrucker und Buchbinder, Rohstoffe und Geräte der handwerklichen und industriellen Papierherstellung (Schöpfformen, Egoutteure usw.), Prototypen historischer Maschinen der Papier-, Schrift- und Buchherstellung bzw. -verarbeitung, Druckformen und Geräte verschiedener originalgraphischer und reproduktionstechnischer Verfahren, Auswahl von Computerdruckern, Kopiergeräten, Großscannern und Fotosatzgeräten, künstlerische Buchobjekte oder Papierskulpturen. 3.7 Papierhistorische Sammlungen
Die Papierhistorischen Sammlungen umfassen in einer Vielzahl von Ausprägungen Papiere aus vorindustrieller Zeit und aus fabrikmäßiger Produktion sowie aus kunstgewerblicher und künstlerischer Fertigung.9 Die Papiere stammen vor allem aus Europa, aber auch aus Asien und Amerika. Die Sammlungen helfen bei der wissenschaftlichen Bestimmung historischer Papiere. Sie dienen als Vergleichsmaterial für Datierungszwecke sowie für Herkunfts- und Echtheitsbestimmungen und stellen Referenzmaterial für Fragen der Papieralterung, Papierkonservierung und Papierrestaurierung zur Verfügung. Zudem geben sie in vielfältigster Weise Anregungen für eigene Gestaltungen. Die Wasserzeichensammlung ist mit ca. 400 000 Exemplaren die weltweit größte Sammlung dieser Art. Kern der Sammlung sind die Bestände des 1964 in das Deutsche Buch- und Schriftmuseum integrierten Deutschen Papiermuseums, das 1957 als staatliche Einrichtung auf Basis der Papiersammlung von Karl Theodor Weiß (1872–1945) entstanden war. Die Bestände wurden 1992 erheblich ergänzt, als das Deutsche Museum von Meisterwerken der Naturwissenschaft und Technik in München die 1973 von der Forschungsstelle Papiergeschichte in Mainz übernommene Wasserzeichensammlung nach Leipzig abgab. Die Bestände gliedern sich in folgende Gruppen: Wasserzeichen, Papierproben, Buntpapiere und Riesaufdrucke sowie Archivalien und Dokumente zur Papiergeschichte. 9
Vgl. Schmidt: Die Papierhistorischen Sammlungen; Internationale Bibliographie zur Papiergeschichte (IBP).
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3.8 Fachbibliothek
Die Fachbibliothek des Deutschen Buch- und Schriftmuseums verfügt über mehr als 80 000 Bände deutschsprachiger und internationaler Fachliteratur zur Geschichte von Buch, Schrift und Papier und zu den Randgebieten der Buchwissenschaft, darunter auch Akzidenzdrucke, wie Kleindrucksachen, Firmenprospekte oder Kataloge, sowie etwa 200 laufende Fachzeitschriften. Sie wurde aus den früheren Teilbeständen in der Klemm-Sammlung und in der Sammlung Künstlerische Drucke zusammengeführt. Neben der laufenden Erwerbung neuer und älterer internationaler Fachliteratur wird die aktuelle deutschsprachige Fachliteratur laufend aus dem Pflichtexemplarzugang der Deutschen Nationalbibliothek ausgewählt. Besondere Bestandsgruppen sind Schreibmeisterbücher, Druckschriftproben, Messkataloge, Historische Lehr- und Handbücher, Formatbücher, Firmenkataloge und Musterbücher.
4 Projekte Anhand von fünf derzeit laufenden Projekten und Vorhaben des Deutschen Buch- und Schriftmuseums sollen im Folgenden exemplarisch unterschiedliche Begriffsvarianten des Buchs skizziert werden, die die interdisziplinäre Ausrichtung des Museums spiegeln. 4.1 Erschließung und Digitalisierung der Portrait-Sammlung aus dem Besitz des Börsenvereins der deutschen Buchhändler
Gegenstand dieses von der DFG finanzierten Projekts (Laufzeit: Oktober 2006 bis Juni 2008) ist die formale und inhaltliche Erschließung und Digitalisierung von 3 300 druckgraphischen Portraits als historische Quellen zur Buch- und Verlagsgeschichte des 16. bis 20. Jahrhunderts und deren Präsentation.10 Die per Schenkungsvertrag 2005 aus den ehemaligen Beständen der Bibliothek des Börsenvereins an die Deutsche Nationalbibliothek übertragene Portraitsammlung gilt in Sammlungszuschnitt und Qualität der Blätter als einzigartig, sowohl in Hinblick auf ihr Thema – die mit dem Buch beschäftigten Berufsgruppen wie Buchhändler, Drucker, Verle10
Vgl. Staniek/Teichmann: »Viel Köpf viel Sinn«.
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ger, Kupferstecher, Buchbinder, Papiermacher, Zensoren etc. –, aber auch im Vergleich zu anderen berufsspezifischen Portraitsammlungen. Die Erschließung der Sammlung erfolgt unter Anwendung bibliothekarischer und museologischer Nachweis- und Beschreibungsregeln – zum Beispiel unter konsequenter Anwendung der Normdaten der Deutschen Nationalbibliothek, was in der Museumspraxis alles andere als selbstverständlich ist. Ziel des Projekts ist es, diese seltene und wenig bekannte Bildnissammlung als wesentliches Quellenmaterial für die Buchgeschichtsforschung und darüber hinaus für die Literatur-, Wirtschafts-, Sozial-, Kunstund Kulturgeschichtsschreibung erstmals und mit entsprechenden Präsentations- und Suchsystemen internetbasiert öffentlich zugänglich zu machen und zugleich konservatorisch zu betreuen. Aus internen buchwissenschaftlichen Fragestellungen wie aus externen Anfragen wissen wir um das wachsende Interesse an wissenschaftlich gut dokumentierten Bildquellen – eine Entwicklung, die ja in allen Wissenschaftsbereichen zu beobachten ist. Der Begriff des Buchs, der in diesem Projekt Anwendung findet, zielt auf eine breite historische Einbettung des Gegenstands. Die Kontextualisierung der Buchproduktion, des Vertriebs und der Rezeption von Büchern in kulturgeschichtlicher, wirtschafts-, sozial- und technikgeschichtlicher Hinsicht erlaubt einen ikonographisch sehr komplexen Blick auf das Buch. Die Portraitierten – um nur ein paar Beispiele zu nennen und Neugier für die Sammlung zu wecken: Der Buchhändler als Barockfürst vor schwerem Samtvorhang ist genauso zu finden wie der bescheidenschüchtern auftretende, buchverlegende Humanist, das Gelehrtenportrait mit den entsprechenden Attributen ebenso wie der als schrulliger Alter karikierte Händler, das klassizistische Portrait des Druckers Giambattista Bodoni mit schwebendem Adler vor Stadtvedute ebenso wie der als Drucker schon früh gescheiterte Honoré Balzac, der im ›gestus melancholicus‹ als weltvergessenes Genie gezeichnete Schriftsteller und Prediger William Cartright, aber auch der kleine Markthelfer oder der Zensor. Die Sammlung bietet zahlreiche Bausteine zu einem außerordentlich spannenden Puzzle einer Sozial- und Kulturgeschichte des Buchs. Der dem Projekt zugrundeliegende Buchbegriff begreift das Buch mit all seinen Facetten von der Idee des Humanisten über das Verfassen von Texten, das Redigieren, Verlegen und Drucken bis zur Zensur als Rezeptionsphänomen.
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4.2 Bernstein – The Memory of Paper
Während das Portraitprojekt auf eine kulturhistorische Einbettung des Buchs zielt, steht für das Projekt »Bernstein – The Memory of Paper« der Materialcharakter des Beschreibstoffs im Vordergrund.11 Das Projekt baut auf der Internationalen Bibliographie zur Papiergeschichte (IBP) auf, die ca. 20 000 nach zehn Hauptkategorien systematisierte und in 150 Sachgebiete untergliederte Einträge beinhaltet. Die IBP ist ein wichtiges Arbeitsmittel für Papierhistoriker und Wasserzeichenforscher, aber auch für Kultur-, Wirtschafts- und Landeshistoriker, Philologen, Kunst- und Musikwissenschaftler, Archivare, Bibliothekare und Buchwissenschaftler, Restauratoren, Sammler und Genealogen von großem Nutzen. In Bibliotheken und Archiven, zum Teil auch in Museen, stellt Papier den am häufigsten vertretenen Träger schriftlicher und bildlicher Überlieferung dar. Für den sachgerechten Umgang mit diesen Beständen ist Wissen über die Herkunft der Beschreibstoffe unabdingbar. Fragen nach Alter und Herkunft von Objekten aus und auf Papier treten in vielen Wissenschaften bei der äußeren Quellenkritik auf: bei der Editionsarbeit, der Verzeichnung von Handschriften und Musikalien, bei der Katalogisierung künstlerischer Arbeiten sowie bei der Restaurierung von Handschriften und Büchern. Aufbauend auf der Internationalen Bibliographie zur Papiergeschichte beteiligt sich das Museum derzeit an dem von der Europäischen Kommission finanzierten Projekt »Bernstein – The Memory of Papers«. Ziel des Projekts, das von neun Institutionen aus sechs europäischen Ländern unter der Leitung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften betreut wird, ist die Erstellung einer integrierten europäischen, digitalen Umgebung zur Papiergeschichte und Papierkunde. Das Projekt verknüpft zum Beispiel alle derzeit existierenden europäischen WasserzeichenDatenbanken und bietet auf diese Weise eine umfangreiche und aussagekräftige Informationsquelle zu Papier. Die Datenbanken werden durch eine Fülle von kontextualisierenden Daten mit bibliographischen und geographischen Inhalten angereichert. Ein wesentliches Ziel des Projekts ist es zudem, die gewonnenen Resultate einer möglichst breiten Öffentlichkeit in Form eines leicht installierbaren Softwarepakets zugänglich zu machen. Ein Anwendungsschwerpunkt des Projekts liegt auf der Identifikation, Authentifikation und Kontextualisierung von historischen und 11
Vgl. Schmidt: Das Gedächtnis der Papiere.
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modernen Papieren. In der Anwendung werden nicht nur die Wissenschaft und der Kunstmarkt Nutzen aus der Datenbank ziehen, sondern auch die Papierindustrie, das Handwerk und forensische Fragestellungen. Die bibliographische und datenbanktechnische Kärrnerarbeit des Bernstein-Projekts rekurriert auf den Materialcharakter des Buchs und der Schrift. Papier als Beschreibstoff ist nicht nur etymologisch die Wurzel des Buchs, bezeichnet es doch in metonymischer Verwendung des Begriffes den Beschreibstoff selbst. Der phänomenologische Begriff von Schrift- und Buchüberlieferung, auf den die Bibliographie zur Papiergeschichte und das Bernstein-Projekt bauen, bietet zugleich eine analytische Herangehensweise an den Gegenstand unseres Interesses. 4.3 Ausbau und Weiterentwicklung der Klemm-Sammlung
Das Buch als ein Materialobjekt in eine, diesem Verständnis des Buchs diametral entgegen gesetzten Sinn, steht im Zentrum eines Erwerbungsschwerpunkts des Museums. Die Gründerväter sahen es als Zweck und Aufgabe des Museums, für alle mit der Buchherstellung, -gestaltung und dem -vertrieb beschäftigten Bereiche nach dem Vorbild der Kunstgewerbemuseen des 19. Jahrhunderts eine Stätte umfangreicher Muster- und Studiensammlungen aus Vergangenheit und Gegenwart zu sein. Neben Geschmacksbildung und Belehrung stand im Fokus der musealen Tätigkeit auch das wirtschaftliche Interesse der buchgewerblichen Verbände. Zwei Jahre nach der Gründung des »Centralvereins für das gesamte Buchgewerbe«, später »Deutscher Buchgewerbeverein« übergab der sächsische Staat 1886 dem Museum die im selben Jahr von dem Dresdener Sammler Klemm angekaufte Sammlung – eine der bedeutendsten bürgerlichen Büchersammlungen des 19. Jahrhunderts vor allem historischer, aber auch zeitgenössischer Muster.12 Klemms Ziel war »die Vereinigung von kaum mehr als ein paar tausend besonders charakteristischen Druckwerken behufs typologischer und bibliographischer Studien«13, er wollte aber auch »instructiv auf die Buchdruckerkunst der Jetztzeit wirken zu können«.14 Damit deckten sich die Interessen des Privatsammlers mit denen des Museums sehr weitgehend: Orientierung durch das Aufzeigen 12 13 14
Auch die Geschichte der Klemm-Sammlung harrt noch einer ausführlichen wissenschaftlichen Würdigung. Vgl. Rüdiger: Eine Büchersammlung im 19. Jahrhundert. Katalog des Museum Klemm, S. III. Katalog des Museum Klemm, S. V.
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einer drucktechnischen Entwicklungslinie und ästhetische Unterweisung, auch in der für die Buchgestaltung der Zeit typischen sozialutopischen Ausrichtung. Mit historischem Abstand zu dem normativen Charakter der Konzeption gilt das Sammlungsprinzip Klemms bei der Fortentwicklung der Sammlung noch heute: die Erweiterung des Musterbestands vor allem nach drucktechnischen Kriterien (typisch und besonders in Herstellung, Gestaltung, Ausstattung) und nach Werken der Erstdrucker in zahlreichen deutschen und auch anderen europäischen Städten. Mehr als allen anderen Sammlungsgebieten des Museums kommt der Klemm-Sammlung der Status des Alleinstellungsmerkmals zu, dessen Weiterentwicklung zur Nagelprobe auch für die zukünftige Arbeit des Museums wird. 4.4 Das Deutsche Buch- und Schriftmuseum als Archiv der Stiftung Buchkunst
Steht bei der Klemm-Sammlung das Buch als Ergebnis druck- und produktionstechnischer Prozesse in Hinblick auf bibliographische ›Delikatessen‹ im Vordergrund, so liegt ein anderer Schwerpunkt in der Geschichte der Sammlungen des Deutschen Buch- und Schriftmuseums auf dem Buch als ästhetisch-gestalterischem Objekt. Der von der Stiftung Buchkunst seit 1965 ausgelobte Wettbewerb »Die schönsten deutschen Bücher, vorbildlich in Gestaltung, Konzeption und Verarbeitung« trägt schon im Titel normative Züge – und ist darin rein strukturell der Norm setzenden Programmatik des Klemm’schen Buchbegriffs verwandt. Doch setzt die Stiftung Buchkunst, deren Wettbewerbsergebnisse in die Sammlungen des Museums einfließen, vor allem ästhetische und funktionale Ansprüche an das Buch: Die gelungene Verbindung von Inhalt und Form ist ebenso Wettbewerbskriterium wie die Verarbeitung der Materialien und die Herstellung der Bücher. Wenngleich undotiert ist der Wettbewerb für Verlage und Buchgestalter doch von hohem Prestigewert, Herausforderung und Maßstab zugleich. Das Buch ist auch hier Muster und Maßstab. Und schon die Auflistung der Träger des Wettbewerbs – der Bundesbeauftragte für Kultur und Medien, der Börsenverein des deutschen Buchhandels, das Land Hessen, die Städte Frankfurt am Main und Leipzig, die Deutsche Nationalbibliothek und andere – unterstreicht den normativen Charakter des Buchbegriffs, der dem »Schönsten Buch« zugrunde liegt. Doch versteht sich der
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Wettbewerb vor allem als Kunstereignis und verleiht dem Buch per definitionem eine Weihe, die es über die pragmatische Definition als Muster heraushebt. Die Stiftung Buchkunst hält aber – und auch dies scheint mir in Hinblick auf den ihr zugrunde liegenden Buchbegriff wichtig zu sein – weitgehend an dem Buch im traditionellen Sinne als beidseitig gestaltete Blätter im Buchblock mit Einband etc. fest. In dieser Hinsicht ist das Buch auch hier vor allem Materialobjekt. 4.5 Werkstatt »Neukonzeption Dauerausstellung«
Das Deutsche Buch- und Schriftmuseum erhält im vierten Erweiterungsbau der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig attraktive neue Ausstellungs- und Magazinflächen sowie einen neuen Lesesaal.15 Die neue Dauerausstellung des Museums, deren Drehbuch derzeit erstellt wird, geht von einem weiten Buchbegriff aus: Die Geschichte von Buch und Schrift als Motor und Gradmesser kulturhistorischer Etappen und Umbruchphasen darzustellen und darin die Geschichte der Medieninnovationen zu spiegeln, ist der Horizont, vor dem sich die neue Ausstellung abspielt.16 Das Spektrum der Geschichte von Schrift und Buch im Blick wird die neue Ausstellung auf der Suche nach historischen Bruchstellen den zeitlichen Bogen von der Antike bis heute spannen. Sie fächert ein breites Spektrum historischer Disziplinen um Schrift und Buch auf (Kultur-, Technik-, Alltags- und Mentalitätsgeschichte, Gesellschaftsgeschichte, Politik- und Mediengeschichte etc.) und bietet eine tour d’horizon von der Entstehung von Schriften über die Manuskriptzeit und den Buchdruck mit beweglichen Lettern bis zur digitalen Netzwelt. Chronologisches Rückgrat der Ausstellung werden die Medieninnovationen (Von der Sprache zur Schrift, Buchdruck und die Folgen, Digitale Kultur) sein. Diachron angelegte Ausstellungsbereiche – zum Beispiel »Schrift und Macht«, »Zensur« oder »Lesewelten« – werden einzelne Themen epochenübergreifend behandeln und Kontinuitäten und Brüche nachvollziehbar machen. Angesichts einer Ausstellungsfläche von ca. 800 qm können einzelne Themen nur kursorisch – ›essayistisch‹ – behan15 16
Vgl. Jacobs: Ein altes Haus der Bücher, S. 23f. In diesem weiten kulturhistorischen Ansatz rekurriert die Arbeit an der Ausstellung auf einen der Gründungsväter der Kulturgeschichtsschreibung in Deutschland, Karl Lamprecht, der mit der schrift- und buchhistorischen Ausstellung in der Halle der Kultur auf der Bugra 1914 in Leipzig einen Grundstein auch für das Selbstverständnis unseres Museums, des damaligen Deutschen Buchgewerbe- und Schriftmuseums, legte. Vgl. Lamprecht: Halle der Kultur.
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delt werden. Eine Vertiefung der Fragestellungen werden zukünftige Wechselausstellungen, Veranstaltungen, Kooperationen oder museumspädagogische Aktionen leisten. Der Arbeit an der neuen Dauerausstellung liegt ein Buchbegriff von größtmöglicher Komplexität zugrunde, der aber nicht theoretisch fundiert wird, sondern von der pragmatischen Seite der Objektqualität und vom erzählerischen Kontinuum in der räumlichen Dramaturgie entwickelt wird. Im Zentrum der »Raum-Erzählung«: das Buch als Hauptmedium kultureller Kommunikation im neuzeitlichen Europa. Die Geschichte des Buchs soll als wesentlicher Bestandteil der europäischen Kulturgeschichte aufscheinen, einerseits als Medium, andererseits als Motor historischer Prozesse. Auf diese Weise ist das Buch zwar Hauptobjekt der neuen Ausstellung, wird aber im Sinne der historischen und thematischen Kontextualisierung von anderen Objektgattungen flankiert und erhellt. Es wird Objektensembles geben, die das einzelne Buch in ganz neuem Licht erscheinen lassen werden, wie sich auch umgekehrt Bücher als verkapselte Zeitspeicher erweisen werden, die ihr Wissen nur durch Kontextualisierung wieder preisgeben. Im Zentrum aber das Buch als museales Objekt.
5 Epilog: Historische Kontextualisierung des Buchs Die im Prolog kurz skizzierte Diskussion zum Begriff des musealen Objekts in das Licht buchwissenschaftlicher Diskurse zu stellen und die Argumentationen, Tendenzen und Ergebnisse aus der Museumswissenschaft auf den Begriff des Buchs in der Buchwissenschaft zu spiegeln, wäre meines Erachtens für beide Seiten schon deshalb spannend und lohnenswert, weil beide Wissenschaftszweige per se interdisziplinär arbeiten. Dabei könnten die Begriffskonstruktionen – das Buch in der Buchwissenschaft und das historische Objekt im Museum – nach parallelen Begründungszusammenhängen und Ausprägungen hin befragt und eine gegenseitige Anwendbarkeit geprüft werden. In diesem Zusammenhang seien als Ausblick an dieser Stelle nur ein paar Spuren für anstehende Diskussionen gelegt: Gottfried Korff, einer der profiliertesten Museumswissenschaftler und Ausstellungsmacher, zielt in seinen Studien auf die Funktion von Exponaten in Ausstellungen.17 17
Zu Gottfried Korff und der sogenannten Tübinger Schule Tokofsky: Object and Alternity, S. 270–281.
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Dabei betont er einerseits die inhärente Fremdheit von Objekten im Museum. Indem museale Gegenstände aus ihrem ursprünglichen zeitlichen und räumlichen Kontinuum herausgelöst, also ihrer Funktion beraubt werden, werden sie dem Besucher fremd. Peter Sloterdijk spitzt diesen Gedanken zu, indem er das Museum als »Schule des Befremdens« umschreibt.18 Auf der anderen Seite stellt das Museum eine physische Nähe zum Objekt her, drängt dem Besucher das Fremde auf. Diese gleichzeitige Nähe und Distanz ist die besondere Eigenschaft musealer Gegenstände, die, so Walter Benjamin, mit der »Aura« des Originals aufgeladen sind.19 Die Fremdheit der Objekte kann durch die Schaffung von Kontexten überwunden werden. Im Umkehrschluss betont fehlender Kontext die Fremdheit des Objekts, wodurch das Objekt zusätzlich mit Bedeutung aufgeladen wird. Damit sind zwei Pole der musealen Ausstellungspraxis benannt: die kontextlose Ikonisierung des einzelnen Objekts auf der einen Seite, die Demokratisierung der Präsentation durch die Schaffung von Zusammenhängen, die das Objekt zum Bestandteil eines großen Kontextes werden lässt, auf der anderen Seite. Diese beiden Pole können verglichen werden mit zwei Alternativen, vor denen die Rezeption und wissenschaftliche Bearbeitung buchhistorischer Phänomene stehen: inhärente Erklärungsversuche auf der einen, Kontextualisierung um den Preis der Zeitlosigkeit auf der anderen Seite. Was auf den ersten Blick für alle phänomenologisch arbeitenden, historischen Wissenschaftszweige zutrifft, spitzt sich in der Buchwissenschaft zu, indem das Buch als Ideen- und Gedankenspeicher per se schon Interpretation von Welt leistet.
6 Literaturverzeichnis Arnold, Ken: Cabinets for the Curious. Looking back at Early English Museums. Burlington: Ashgate Publishing 2006. Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Kultur und Gedächtnis. Hrsg. v. Jan Assmann u. Tonio Hölscher. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988, S. 9–19. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1963. Funke, Fritz: Das Deutsche Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Bücherei Leipzig. In: GJ 59 (1984), S. 194–210. Internationale Bibliographie zur Papiergeschichte (IBP). Hrsg. v. Die Deutsche Bibliothek, Deutsches Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Bücherei Leipzig. Bearb. v. Frieder Schmidt u. Elke Sobeck. 4 Bde. München: Saur 2003. 18 19
Sloterdijk: Museum, S. 56. Benjamin: Das Kunstwerk, S. 18.
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Stephanie Jacobs
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JUTTA BENDT
Vom Fundus zur Forschung: Das Deutsche Literaturarchiv in Marbach 1 Zur Geschichte Am 10. November 1759 wurde Friedrich Schiller in Marbach am Neckar geboren. Diese Tatsache ist für die hier vorzustellende Institution bis heute folgenreich. 1835 bildete sich der Marbacher Schillerverein als erste deutsche Dichtergesellschaft; er kaufte das Geburtshaus Schillers und eröffnete es 1859 zum hundertsten Geburtstag des Dichters als museale Gedenkstätte. 1876 wurde auf der Marbacher Schillerhöhe für den neben Johann Wolfgang Goethe zweithöchsten deutschen Dichterfürst ein Standbild errichtet, zu dessen Guss Kaiser Wilhelm I. 32 Zentner erbeutete französische Kanonen beisteuerte. Im Fluchtpunkt des Denkmals gruppieren sich heute, in der Reihenfolge ihrer Erbauung, SchillerNationalmuseum, Deutsches Literaturarchiv, Collegienhaus und Literaturmuseum der Moderne. Seit den 1880er Jahren wurde den Zeugnissen der Nationalliteraturen allerorten neue Aufmerksamkeit entgegengebracht. 1889 hatte der Philosoph und Literarhistoriker Wilhelm Dilthey (1833–1911) dafür geworben, neben die Staatsarchive »Archive für Literatur« treten zu lassen; im selben Jahr wurde das Goethe- und Schillerarchiv in Weimar eingerichtet. Bald darauf wurde in Marbach am »Plan eines Schillermuseums und -archivs als Bildungs- und Forschungsstätte für die neuzeitliche Literatur Schwabens«1 gearbeitet, 1895 schließlich der Schwäbische Schillerverein gegründet, dessen Mitgliederliste vom württembergischen König Wilhelm II. angeführt wurde. Im Blick auf das Schiller-Jubiläum 1905 wurden zahlreiche Handschriften, Bildnisse und Reliquien gestiftet; 1897 kam mit dem Nachlass Ludwig Uhlands der erste geschlossene Bestand hinzu und in vorausschauender Perspektive wurden angrenzende Grundstücke angekauft. Als Ergebnis großzügigen Mäzenatentums und bürgerschaftlichen Engage1
Zitiert nach: Marbach, S. 18.
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ments konnte im November 1903 das Schillermuseum eröffnet werden. Die Verbindung zur zeitgenössischen Literatur wurde gepflegt durch die Ernennung von Schriftstellern wie Christian Wagner, Isolde Kurz oder Hermann Hesse zu korrespondierenden Mitgliedern des Vereins. Wie in der 1927 erfolgten Namensänderung in »Schiller-Nationalmuseum« deutlich wurde (das Goethe-Nationalmuseum folgte 1932), leisteten nun auch Reichsinnenministerium und Württembergisches Kultministerium der bislang durch Mitgliedsbeiträge und Stiftungen finanzierten Einrichtung einen Zuschuss. Das Haus war von Anfang an Museum und Archiv, seine Aufgaben bewegten sich zwischen Sammeln und Zeigen. Beabsichtigt waren ebenso Veröffentlichungen aus den Quellen; an ein wissenschaftliches Jahrbuch hatte man schon früh gedacht, den Plan aber zugunsten des Marbacher Schillerbuchs2 fallen lassen. Wie die Handschriftensammlung beschränkte sich auch die der Bücher und Bildnisse im »Pantheon des schwäbischen Geistes« (Theodor Heuss) zunächst auf Schiller und die »übrigen einheimischen Dichter« wie Christoph Martin Wieland, Christian Friedrich Daniel Schubart, Friedrich Hölderlin, Justinus Kerner, Ludwig Uhland und Eduard Mörike. Die vielen Stiftungen brachten jedoch auch Publikationen nichtschwäbischer Autoren mit sich, und schlicht war infolgedessen die Aufstellung der noch überschaubaren Büchermengen: schwäbisch und nichtschwäbisch. 1930 kamen mit dem Nachlass von Cäsar Fleischlen (1864–1920), – er war Redakteur der berühmten Zeitschrift Pan –, viele Handschriften und Briefe von Dichtern, Künstlern und Gelehrten der Jahrhundertwende, von Theodor Fontane bis Hugo von Hofmannsthal, ins Museum, ein erster Schritt über die regionalen Grenzen hinaus. Von 1939 an waren Schiller-Nationalmuseum und Schwäbischer Schillerverein dem Kulturreferenten beim Reichsstatthalter von Württemberg unterstellt; alle Aktivitäten ruhten. Doch konnte 1943 der erste Band der im Verein mit dem Weimarer Goethe- und Schillerarchiv herausgegebenen Schiller-Nationalausgabe, Gedichte in der Reihenfolge ihres Erscheinens. 1776–1799 3, erscheinen. Die Sammlungen überstanden den Zweiten Weltkrieg unbeschadet im Salzbergwerk Kochendorf bei Heilbronn. Im Juli 1945 konnte Erwin Ackerknecht (1880–1960), Pionier des Volkshochschulwesens und der Volksbüchereibewegung im Stettin der 2 3
Erschienen zwischen 1905 und 1922 als Veröffentlichungen des Schwäbischen Schillervereins Bd. 1–3, 9 u. 10. Schillers Werke.
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Weimarer Republik, als neuer Leiter des Museums gewonnen werden. Sein Nachlass ist Bestand der Handschriftenabteilung und in einem Berichtband4 beschrieben worden. Mit einer 2005 als Depositum übernommenen Sammlung aus dem Besitz von Walter Hofmann (1879–1952) sind zwei der für die Geschichte des Öffentlichen Bibliothekswesens wichtigsten Vertreter repräsentiert. Die umfangreiche Korrespondenz Ackerknechts und Hofmanns mit annähernd 1 200 Bänden hochspezialisierte Sammlung an Abhandlungen, Untersuchungen, Verzeichnissen, Katalogen und Statistiken zu den verschiedensten Aspekten des Bibliothekswesens machen das Literaturarchiv auch für Bibliothekswissenschaftler interessant. In die Amtszeit Ackerknechts fiel die zunächst depositäre Übernahme der Cotta’schen Handschriftensammlung von der Stuttgarter Zeitung im Jahre 1952, eine der kostbarsten und für das künftige Sammelprofil wichtigsten Erwerbungen. 1961 wurde das Verlagsarchiv als Stiftung der Stuttgarter Zeitung dauerhaft übereignet. Als Nachlass eines Universalverlags bietet das Cotta-Archiv einen Aufriss des gesamten ›literarischen Systems‹ des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der kulturellen und politischen Gesamtentwicklung und bildet das dichte Geflecht persönlicher und geschäftlicher Beziehungen zwischen den Wissenschaften, der Politik und der Literatur ab. Die bis dato geltenden Sammelbeschränkungen des Schiller-Nationalmuseums auf die schwäbische Literatur- und Geistesgeschichte waren damit obsolet, galt Cotta doch als der Klassiker-Verlag des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts und repräsentierte in seinem Publikations- und Handschriftenarchiv die gesamte deutschsprachige Literatur der Zeit. Ackerknecht hatte schon 1947 die Vision entwickelt, »das einzige literarische Museum und Archiv im großen Stil außerhalb der russischen Zone […] über die schwäbischen Stammesgrenzen hinaus auszudehnen«5. Im selben Jahr wurde der Trägerverein in »Deutsche Schillergesellschaft« umbenannt. An der ersten Ausschusssitzung nahmen u. a. der Ministerpräsident Nordwürttemberg-Badens, Reinhold Meier, und Kultusminister Heuss teil. Im Juli 1955 wurde die Gründung und Finanzierung des Deutschen Literaturarchivs beschlossen; »Wesen und Aufgaben eines Literaturarchivs« wurden während einer Tagung von Germanisten, Bibliothekaren und Archivaren aus beiden Teilen Deutschlands zu Beginn des darauffolgenden Jahres definiert. 1957 begann das Jahrbuch der Deutschen Schillergesell4 5
Leopold (Bearb.): Der Nachlaß Erwin Ackerknecht. Zitiert nach: Marbach, S. 48.
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schaft zu erscheinen, seit 2000 mit dem richtungsweisenden Untertitel Internationales Organ für die neuere deutsche Literatur. Steht Schiller als Gründungsfigur auch immer noch im Zentrum der Sammlungen, u. a. abzulesen an der jährlich erstellten Schiller-Bibliographie, so ist dies doch ein deutlicher Fingerzeig auf die mittlerweile umfassende Zuständigkeit und übernationale Bedeutung des Literaturarchivs.
2 Die heutige Struktur Literaturarchiv und Museum sind von erstaunlichen Kontinuitäten geprägt. Nach wie vor ist die Deutsche Schillergesellschaft, eine Körperschaft des privaten Rechts, Trägerverein einer national und international bedeutenden Institution, die paritätisch von Bund und Land finanziert wird. Nach Gründung des Deutschen Literaturarchivs wurden die sammelnden Abteilungen materialspezifisch differenziert. Um Handschriftenabteilung und CottaArchiv, Bibliothek (mit Dokumentationsstelle) und Kunstsammlungen gruppieren sich Direktionsabteilung (u. a. zuständig für Datenverarbeitung und Bestandserhaltung) und Verwaltung; dem Direktor sind Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Programmplanung und Fundraising unterstellt. In zwei Literaturmuseen werden die im Fundus des Archivs verwahrten Bestände der Öffentlichkeit präsentiert; Kataloge und Magazine begleiten die Dauer- und Wechselausstellungen. Es liegt in der Natur eines Archivs, zu wachsen und Raum zu beanspruchen; »Hundert Jahre Architektur für Literatur« hieß denn auch eine Ausstellung, welche die Baugeschichte des Schiller-Nationalmuseums kurz vorm ersten Spatenstich im Jahr 2003 für das Literaturmuseum der Moderne präsentierte. Auch der 1972 eröffnete eigene Bau für das Literaturarchiv ist wie in konzentrischen Kreisen ober- und unterirdisch erweitert worden. Im Blick auf das 2006 eröffnete neue Literaturmuseum der Moderne ist die Institution »Schiller-Nationalmuseum/ Deutsches Literaturarchiv« 2005 umbenannt worden in »Deutsches Literaturarchiv Marbach«, doch ist sie in aller Welt nach wie vor bekannt als ›Marbach‹. War das Schillermuseum für Heuss ein »Pantheon«, so ist das Literaturarchiv für Martin Walser ein »unterirdischer Himmel«6 – in dem heute, das wäre hinzuzufügen, Götter und irdische Gestalten demokratisch nebeneinander liegen.
6
Walser: Der unterirdische Himmel, S. 490–493.
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3 Sammeln: Der Fundus Die Handschriftenabteilung verwahrt rund 1 200 Nachlässe und Sammlungen sowie eine Vielzahl von Einzelautographen und ist damit eines der umfangreichsten und bedeutendsten literarischen Archive in Deutschland. Vertreten sind berühmte ebenso wie unbekanntere Autoren und Autorinnen vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Dicht bestückt sind die Epochen der deutschsprachigen Literatur seit der Jahrhundertwende. Das ist zum einen in der Sammlungshistorie des Hauses begründet und gilt für alle Abteilungen, zum anderen in der Tatsache, dass sich ein Archivbewusstsein erst allmählich ausbildete und Nachlässe des 18. und 19. Jahrhunderts seltener und selten komplett überliefert wurden. Heute werden Vereinbarungen über Nachlässe meistens schon zu Lebzeiten eines Autors, eines Gelehrten oder eines Verlegers getroffen. Retrospektive Arrondierung der Bestände, auch das gilt für alle Abteilungen, gehört seit jeher zum Erwerbungsgeschäft. Für die buchwissenschaftliche Forschung besonders interessant sind jene etwa vierzig überwiegend belletristischen Verlagsarchive, vom Diederichs Verlag der Jahrhundertwende bis zum jüngsten Zugang, dem Rowohlt Verlag, von der Bremer Presse bis zum Verlag der Pop-Literatur März. Diese Archive bergen ebenso wie die zahlreichen Redaktionsarchive von Zeitschriften (z. B. Pan, Der Scheinwerfer, Die Wandlung, Merkur, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, ZET) reichhaltige Korrespondenzbestände, Verträge, Manuskripte, Protokolle von Redaktionssitzungen, Werbematerialien und Rezeptionszeugnisse, die in die Beziehung zwischen Autor und Verleger, in Verlagsstrategie und Druckgeschichte einzelner Werke usw. Einblick geben. Nachlässe von Publizisten, Lektoren und Übersetzern runden das Spektrum ab. Die Archive des Insel Verlags und des S. Fischer Verlags sowie Verleger wie Kurt Wolff, Eugen Claassen und Willi Weismann sind in Ausstellungen und begleitenden Katalogen7 vorgestellt worden. Das Cotta-Archiv, welches die von Johann Georg Cotta aufgekauften Berliner Verlage Liebeskind und Hertz mit umfasst, ist das bedeutendste und besterschlossene Verlagsarchiv des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Zusammen mit der kostbaren Cotta’schen Handschriftensammlung, den Verlagsregistraturen und den Redaktionsexemplaren der Zeitschriften 7
Zeller: Die Insel; Pfäfflin/Kussmaul: S. Fischer, Verlag; Meyer (Bearb.): Broch. Canetti. Jahnn; Pfäfflin (Bearb.): Kurt Wolff, Ernst Rowohlt.
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sowie der etwa 13 000 Bände (Verlagsproduktion bis 1863) zählenden Archivbibliothek stellt es einen einzigartigen Bestand zur klassischen deutschen Literatur und zu den verschiedensten Disziplinen kulturhistorischer Forschung dar. Die Bibliothek »allmählich zu einer nach Umfang und Vollständigkeit einzigartigen Quellen- und Materialsammlung«8 auszubauen, formulierte bereits der erste Archivar in seinem Bericht über Erweiterung der Bibliothek des Schwäbischen Schillervereins (1902) als langfristiges Ziel. Rudolf Krauss befand schon damals: »Das kritische Sondern und Sichten des Wertvollen vom Wertlosen kann nicht die Aufgabe einer Bibliothek sein, die sich vielmehr der gesamten einschlägigen Hilfsmittel zu bemächtigen sucht und alles mit derselben Sorgfalt aufbewahrt, das Unterscheiden den gelehrten Benutzer überlassend.«9 Hat eine Spezialbibliothek wie die Marbacher auch das Privileg, Akzente im Bestandsaufbau zu setzen, so bedeutet eine breit angelegte Quellendokumentation immer auch Dokumentation von Ephemerem und sogar Drittrangigem. Sie sammelt, was sich möglicherweise einmal zur Klassizität entwickeln oder aber nur eine Zeiterscheinung bleiben wird. Zum Kern des Sammelprofils gehören auch Buch- und Verlagswesen sowie Theatergeschichte. Heute zählt der Bestand mehr als 770 000 physische Einheiten an Büchern und Zeitschriften. Eine Besonderheit stellen die mehr als 130 geschlossen aufgestellten Sammlungen dar: Autorenbibliotheken, Sammlerbibliotheken, Spezialsammlungen sowie mehr als zehn Verlagsarchivbibliotheken. Die Produktion des 1899 gegründeten Insel Verlags bis zum Jahr 1961 aus dem Besitz von Anton und Katharina Kippenberg ist darunter, etwa 9 000 Bände umfassend, einschließlich der Faksimiles und Vorzugsausgaben, der Drucke der Ernst-Ludwig-Presse und zahlreicher Widmungsexemplare. Die Büchersammlung des Verlegers Kurt Wolff enthält Publikationen seiner diversen Verlage und Verlagsbeteiligungen (Ernst Rowohlt Verlag, Hyperionverlag, Drugulin-Drucke, Neuer Geist Verlag und Verlag der Weißen Bücher) mit kostbaren Erstdrucken in der expressionistischen Reihe Der jüngste Tag. Unter den 700 Bänden des Stahlberg Verlags befinden sich Werke von und über Arno Schmidt, zu denen umfangreiche Korrespondenzen zwischen dem Verleger und Lektor Ernst Krawehl und seinem schwierigen Autor in der Handschriftenabteilung verzeichnet sind. 1989 konnte von einem Sammler die bis Merkheft Nr. 208 mit 457 Bänden 8 9
Krauss: Bericht über Erweiterung der Bibliothek, S. 58. Krauss, S. 59.
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komplette Produktion der Versandbuchhandlung Zweitausendeins erworben werden, darunter heute gesuchte Erstausgaben von Robert Gernhardt und Herbert Achternbusch. 1993 konnten knapp 800 Bände aus der Produktion des inzwischen aufgelösten Rudolstädter Greifenverlags, dem Hausverlag Lion Feuchtwangers nach dem Krieg, übernommen werden. Buch- und verlagsgeschichtlich relevante Sammlungen wie Buchumschläge, Antiquariats-, Auktions- und Autographenkataloge sowie Verlagsprospekte flankieren den Druckschriftenbestand. Schutzumschläge, überwiegend belletristischer Veröffentlichungen, werden seit 1958 systematisch gesammelt und aus konservatorischen Rücksichten separiert. Eine ca. 60 000 Umschläge zählende Sammlung aus dem Besitz des Darmstädter Buchhändlers Curt Tillmann wurde 1964 zusammen mit etwa 3 000 Umschlagentwürfen angekauft; diese nach Buchkünstlern grob erschlossene Spezialsammlung ist 1971 ausgestellt worden. Der längst vergriffene Katalog10 gehört zu den wenigen Publikationen zu diesem Gegenstand. Grundstock des rund 20 000 Exemplare umfassenden Bestands an Antiquariats-, Auktions- und Autographenkatalogen bildete die 1962 erworbene Sammlung des passionierten Autographensammlers Stefan Zweig. Dieser Fundus enthält Kataloge aus dem Zeitraum von 1837 bis heute, etliche von ihnen Zeugnisse eines Literaturgeschmacks versunkener Zeiten, der in keiner Literaturgeschichte dokumentiert ist. Der Quellenwert dieser Verkaufskataloge ist erst jüngst durch mehrere einschlägige Veröffentlichungen11 ins Bewusstsein gerückt worden. Die Verlagsprospekte-Sammlung mit mehr als 600 Quart-Kästen, davon 100 mit wohlerhaltenen Materialien aus der Zeit vor 1945, ist eine einzigartige Quelle für Fragen der Verlags-, Druck-, Editions- und Rezeptionsgeschichte. Die Gesamtprogramme, Frühjahrs- und Herbstvorschauen und unzähligen Einzelprospekte dienen Personal- und Verlagsbibliographen als Referenzquelle und sind Fundorte seltener Details: Die Erzählung Wälsungenblut von Thomas Mann erschien 1921 als Pressendruck im Phantasus-Verlag; nur der in Marbach aufbewahrte, aufwendig gestaltete Verlagsprospekt informiert über die höchst unterschiedlich ausgestatteten Ausgaben und deren Preise. Verlagsprospekte sind nicht zuletzt immer wieder aussagekräftige Exponate in Ausstellungen. Schon kurz nach Gründung des Schillermuseums konnte man eine Zeitungssammlung mit Jubiläumsnummern zum Schillerjahr 1905 über10 11
Scheffler/Fiege (Bearb.): Buchumschläge 1900–1950. Holstein/Holstein (Hrsg.): Bücher, Kunst und Kataloge; Bendt: »Antiquar Cataloge«
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nehmen, großformatige, prächtige Exemplare eines letzten Dichterkults, viele davon Auszüge aus Auswanderer-Zeitungen. Die frühe, mit 76 Kästen sehr umfangreiche Ausschnittsammlung dokumentiert den Zeitraum von 1840 bis 1955. Nach Gründung des Literaturarchivs ist in der Bibliothek eine eigene Zeitungsausschnittsammlung aufgebaut worden, die sich zur größten Mediendokumentation für die deutschsprachige Literatur und das literarische Leben entwickelt hat. Neben der Pressedokumentation werden Audiovisuelle Medien, Theaterprogramme und Spielpläne, Radiound Fernsehmanuskripte sowie Dokumente des literarischen Lebens wie Veranstaltungskalender von Literaturhäusern, Einladungen zu Lesungen und Ausstellungen und viele andere tagesaktuelle Materialien gesammelt und erschlossen. Die Zahl der AV-Medien, bestehend aus Kaufmedien und eigenen Mitschnitten, sind mit dem Aufkommen des Hörbuchs auf CD und DVD sprunghaft angestiegen: Ende 2007 waren insgesamt 20 500 Tonträger verzeichnet. Auch Nachlässe enthalten vielfach Tondokumente, Lesungen, Vorträge, Rundfunkbeiträge etc. aus allen Zeitstufen, deren Archivierungstechnologie erhebliche Anforderungen stellt. Bibliothek und Dokumentationsstelle übernehmen aus den in der Handschriftenabteilung aufbewahrten Nachlässen materialspezifische Konvolute: Bibliotheken, Teilbibliotheken oder Belegexemplar-Sammlungen und sehr oft Zeitungsausschnitt-Konvolute, in denen ein Autor seine eigene Rezeption verfolgt oder Ideenreservoire für weitere Arbeiten angelegt hat, ebenso Pressedokumentationen als Teil eines Verlagarchivs. Als das Pressearchiv der Deutschen Verlagsanstalt (Stuttgart) entsorgt werden sollte, haben Mitarbeiter sozusagen in letzter Minute die Ordner gerettet, welche Materialien über Autoren enthielten, deren Nachlässe in Marbach aufbewahrt werden. Pressearchive in Verlagen sind in ihrer Dokumentation zu einzelnen Autoren oftmals vollständiger als die analoge Sammlung in Marbach, aber selten zugänglich und den Geschicken der Verlagsentwicklung anheimfallend. Die Kunstsammlungen des Hauses ragen als museale Schatzkammer mit wissenschaftlichem Anspruch heraus. Im Mittelpunkt steht eine quasi nationale Porträtgalerie der deutschen Literaturgeschichte und des zeitgenössischen literarischen Lebens, vertreten in allen künstlerischen Genres: Gemälde, Graphiken, Photographien, Skulpturen und Totenmasken. Unter ihnen befinden sich Verlegerporträts wie das Gemälde Johann Friedrich Cottas von Karl Jakob Theodor Leybold, das Porträt des expressionistischen Verlegers Paul Steegemann von Ludwig Meidner oder die Büste Siegfried Unselds von Wieland Förster. In den Magazinen lagern
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die Schreibtische, Schreibfedern und Schreibmaschinen der Dichter und Schriftsteller, werden Reliquien der Erinnerungskultur vergangener Epochen aufbewahrt. Gesammelt werden außerdem Plakate, darunter auch frühe aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, von Buchmessen, Literaturtagen und ähnlichen Veranstaltungen. Aus den Nachlässen und Verlagsarchiven übernehmen die Kunstsammlungen vor allem Foto-Konvolute und buchkünstlerische Materialien. Jede der heute gepflegten Sammlungen war bereits in der Idee des Schillermuseums angelegt; vereint im gemeinsamen Sammelauftrag hat jede Abteilung aber auch ein eigenes Profil entwickelt. Ist es in der Bibliothek die breit angelegte Dokumentation, sozusagen der Vorratsspeicher für die Forschung, so sammelt die Handschriftenabteilung in Auswahl mit dem Ziel, nicht nur die bedeutenden und namhaften Autoren, sondern auch die für die literarische Vermittlung wichtigen Personen, Verlage, Redaktionen einzubeziehen, Gattungen und Aspekte wie Nachkriegslyrik, DDR-Literatur oder ideengeschichtlich und ästhetisch einflussreiche Gelehrten- und Philosophennachlässe repräsentativ zu archivieren. Natürlich spielen in der Konfiguration eines Literaturarchivs auch Angebote und gezielte Nachlasspolitik eine große Rolle, steht doch das Marbacher Archiv in einer Reihe mit anderen einschlägigen Institutionen.
4 Bewahren: Im Original Das Deutsche Literaturarchiv leitet aus seiner Bezeichnung programmatische Aufgaben und Verpflichtungen ab. Wo es möglich ist, werden sämtliche Druckschriften im Originalzustand erworben und aufbewahrt. Nur etwa 70 der insgesamt 1 200 laufend abonnierten Zeitschriften werden jahrgangsweise gebunden. Alle Materialien werden in klimatisierten Magazinen und je nach Beschaffenheit in säurefreien Mappen, Schubern und Kästen gelagert. Für Künstlerbücher, Objektzeitschriften und andere empfindliche Stücke werden Kassetten angefertigt, Schutzumschläge separat aufbewahrt. Bücher und Zeitschriften erhalten außer in der Handbibliothek keine Signaturschilder. Seit 1998 werden Handschriften, geschlossene Bibliotheken und Konvolute der Dokumentationsstelle im Rahmen eines Neutralisierungsprogramms sukzessive entsäuert. Die unikalen Zeitschriftenexemplare des Cotta-Archivs sind in Kooperation mit dem K. G. Saur Verlag verficht, die dazugehörige Handschriftensammlung ist als »nationale Kulturreserve« im Programm des ehemaligen Bun-
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desamts für Zivilschutz schutzverfilmt worden. Für gefährdete Tonträger aus Nachlässen wurde ein Digitalisierungsplan gestartet. Moderne Nachlässe – wie im Falle des Dramatikers Thomas Strittmatter – enthalten digitale Dokumente, deren Migration auf dauerhaft lesbare Speichermedien erprobt wird. Für die seit 2007 in der Bibliothek gesammelten literarischen Internetquellen konnte ein erfolgreicher Test der Langzeitarchivierung im Online-Archiv des Bibliotheksservice-Zentrums Konstanz absolviert werden.
5 Erschließen: Nachweisen. Netzwerke schaffen Das gesammelte Kulturgut vor Ort und überregional via Internet sichtbar und nach Möglichkeit zugänglich zu machen, ist eine der vorrangigen Aufgaben im Archiv. Dabei kommen gestufte Verfahren zur Anwendung: von der Vorordnung und Verankerung des Bestandsbildners in den Namen- oder Körperschaftennormdaten sowie der Beschreibung des Bestands bis zur Feinsortierung über den Einzelnachweis sämtlicher Materialien durch Katalogisierung. Dabei muss die Erschließung verbindlichen Standards gehorchen und zugleich dem Material angemessen sein. 1999 hat eine für die speziellen Belange des Hauses entwickelte Datenbank (Kallías) die bis dahin geführten vielfältigen Spezialkataloge abgelöst. Kern der Datenbank sind die von allen Abteilungen gespeisten Normdateien für Namen, Körperschaften, Werktitel und Schlagwörter; sie gewährleisten ein Retrieval über alle Materialien und führen Provenienzen zusammen. Mit der Einführung von »Kallías« ist das Archiv gleichsam virtuell neu erfunden worden: die Datenbank spiegelt das integrative Sammlungskonzept wider und legt die Netzwerke eines Quelleninstituts frei. Neben der klassischen Erschließung durch konventionelle und digitale Kataloge sind Edition, Bibliographie und Dokumentation genuine Aufgaben von Literaturarchiven, die sich aus dem zentralen Sammlungsauftrag ableiten lassen. Als eines der zahlreichen Beispiele sei hier die Inhaltserschließung von ausgewählten literarischen und wissenschaftlichen Zeitschriften und Sammelwerken zu nennen, die in der Bibliothek von 1958 an retrospektiv für die Zeit seit 1880 betrieben wird. Auch buch- und verlagsgeschichtliche Periodika wurden und werden ausgewertet; bei Abbruch des Zettelkatalogs waren etwa 23 000 Literaturnachweise in dieser Gruppe des Systematischen Katalogs nachgewiesen, davon betreffen mehr als 8 000 Titel einzelne Verlage und Verleger seit 1750.
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6 Vermitteln I: Die Forschung Es ist ein Merkmal des Literaturarchivs, dass Mitarbeiter die eigenen Bestände erforschen; sie realisieren dies beispielsweise in der Mitwirkung an Ausstellungen, die aus den Quellen erarbeitet und von wissenschaftlich fundierten Katalogen und Magazinen12 begleitet werden. Die Liste der buch- und verlagsgeschichtlich relevanten Veröffentlichungen ist lang, sie handelt von Verlagen und Verlegern, Redakteuren und Sammlern, Prachtausgaben, Taschenbüchern und Verlagsalmanachen, Buchumschlägen und Antiquariatskatalogen und nicht zuletzt Vom Schreiben. In einer neuen, intellektuell reizvollen Veranstaltungsreihe, den »Zeitkapseln«, werden gerade eingetroffene Nachlässe oder noch unerschlossene Bestände einem interessierten Publikum vorgestellt. Vor allem aber lädt das Haus Forscher und Studierende aus aller Welt ein, mit den Marbacher Präsenzbeständen zu arbeiten. Mit dem 1994 eröffneten Anbau des Literaturarchivs stehen mehrere Seminarräume für die Gruppenarbeit zur Verfügung. Seitdem existiert auch das Marbach-Stipendium, im Rahmen dessen Forschungsaufenthalte zwischen einem und sechs Monaten finanziert werden; ein Marbach-Kolleg befindet sich zurzeit im Aufbau. Seit 2003 findet alle zwei Jahre in Kooperation mit der Universität Stuttgart und der University of Madison in Wisconsin, USA, eine internationale Sommerschule statt.
7 Vermitteln II: Die Museen Neben das 1903 eröffnete Schiller-Nationalmuseum trat 2006 das Literaturmuseum der Moderne. Für das gerade in Sanierung befindliche alte Museum werden nun neue Dauerausstellungen über Schiller und die Literatur der schwäbischen Romantik konzipiert. Das Literaturmuseum der Moderne zeigt einen repräsentativen Querschnitt durch die Literatur seit etwa 1890. Unter Nutzung moderner Ausstellungstechniken und entlang einer strengen Chronologie werden ausgewählte Bestände des Archivs präsentiert und in einem begleitenden museumspädagogischen Programm nach ihrem Ausstellungs- und Vermittlungswert befragt. Die Museen sind 12
Zum Beispiel monographische Kataloge und Magazine zu Eduard Mörike, Gottfried Benn, Alfred Döblin, Ricarda Huch, Kurt Tucholsky, Paul Celan, Else Lasker-Schüler etc., aber auch zu Themen, die mit dem Sammelprofil korrespondieren: Jahrhundertwende, Expressionismus, Nachkriegsliteratur (Als der Krieg zu Ende war, Konstellationen. Literatur um 1955, Protest. Literatur um 1968) und zur Literaturvermittlung.
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Jutta Bendt
nicht nur Schauseite des Archivs, sie begreifen sich selbst ebenso als forschende Einrichtung, welche den Fundus des Archivs mit eigenen, anderen Fragen erkundet. Für die genuin interdisziplinär angelegte Buchwissenschaft ist der Quellenfundus des Literaturarchivs in mehrfacher Hinsicht attraktiv. Zahlreiche thematische Aspekte, wie man sie beispielsweise im umfassenden Sachregister der (bedauerlicherweise eingestellten) Bibliographie der Buch- und Bibliotheksgeschichte findet, haben in Marbach eine materielle Basis und die besten Bedingungen, sie tiefgreifend zu erforschen.
8 Literaturverzeichnis Bendt, Jutta: Die Bibliothek des Deutschen Literaturarchivs in Marbach. In: Die besondere Bibliothek oder: Die Faszination von Büchersammlungen. Hrsg. v. Antonius Jammers, Dietger Pforte u. Winfried Sühlo. München: Saur 2002, S. 111–126. Bendt, Jutta: »Antiquar Cataloge«, »Antiquariatsanzeiger«, »Büchersuchdienste«: Betrachtungen beim Streifzug durch eine Marbacher Sammlung. In: Bücher, Kunst und Kataloge, Dokumentation zum 40jährigen Bestehen des Antiquariats Jürgen Holstein. Hrsg. v. Jürgen u. Waltraud Holstein. Mit einem Essay v. Wilfried Wiegand u. Beiträge über Antiquariatskataloge v. Tilman Bassenge u. a. Berlin: Holstein 2007, S. 304–312. Denkbilder und Schaustücke. Das Literaturmuseum der Moderne. Begleitbuch zur ersten Schauausstellung. Marbach a. N.: Deutsche Schillergesellschaft 2006. Druffner, Frank u. a. (Red.): Literatur ist ein aus der Ordnung gebrachtes Alphabet. Fünfzig Jahre Deutsches Literaturarchiv. Marbach a. N.: Deutsche Schillergesellschaft 2005. Holstein, Jürgen/Holstein, Waltraud (Hrsg.): Bücher, Kunst und Kataloge. Dokumentation zum 40jährigen Bestehen des Antiquariats Jürgen Holstein. Mit einem Essay v. Wilfried Wiegand u. Beiträgen über Antiquariatskataloge v. Tilman Bassenge u. a. Berlin: Holstein 2007. Krauss, Rudolf: Bericht über Erweiterung der Bibliothek des Schwäbischen Schillervereins. In: Rechenschaftsbericht des Schwäbischen Schillervereins 6 (1902), S. 58–66. Leopold, Fritz (Bearb.): Der Nachlaß Erwin Ackerknecht. Ein Verzeichnis. Mit einem Vorwort v. Ulrich Ott u. einer Einleitung v. Peter Vodosek. Marbach a. N.: Deutsche Schillergesellschaft 1995 (Deutsches Literaturarchiv. Verzeichnisse, Berichte, Informationen. 17). Marbach. Rückblick auf ein Jahrhundert 1895–1995. Marbach a. N. 1996 (Marbacher Schriften. 43). Meyer, Jochen (Bearb.): Broch. Canetti. Jahnn. Willi Weismann und sein Verlag 1946– 1954. Mit einer Bibliographie der Verlagsproduktion. Marbach a. N.: Deutsche Schillergesellschaft 1985 (Marbacher Magazin. 33). Pfäfflin, Friedrich (Bearb.): Kurt Wolff, Ernst Rowohlt. [Für d. Ausstellung von Juni bis Dezember 1987 im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar]. Marbach a. N.: Deutsche Schillergesellschaft 1987 (Marbacher Magazin. 43).
Vom Fundus zur Forschung: Das Deutsche Literaturarchiv in Marbach
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Pfäfflin, Friedrich/Kussmaul, Ingrid (Hrsg.): S. Fischer, Verlag. Von der Gründung bis zur Rückkehr aus dem Exil. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im SchillerNationalmuseum. Marbach a. N.: Deutsche Schillergesellschaft 1985. Scheffler, Walter/Fiege, Gertrud (Bearb.): Buchumschläge 1900–1950. Aus der Sammlung Curt Tillmann. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im SchillerNationalmuseum. München: Kösel (in Komm.) 1971 (Kataloge zu Sonderausstellungen des Schiller-Nationalmuseums. 22). Schiller-Nationalmuseum und Deutsches Literaturarchiv: die Institute der Deutschen Schillergesellschaft in Marbach am Neckar. Vorgestellt von den Mitarbeitern. Marbach a. N.: Deutsche Schillergesellschaft 1982 (Marbacher Schriften. 17). Schillers Werke. Nationalausgabe. Begr. v. Julius Petersen, fortgeführt v. Lieselotte Blumenthal u. a. Hrsg. im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik u. des Schiller-Nationalmuseums in Marbach v. Norbert Oellers. Bd. 1ff. Weimar: Böhlau 1943ff. Walser, Martin: Der unterirdische Himmel. Rede beim Festakt 25 Jahre Deutsches Literaturarchiv am 12. September 1980 in Marbach. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 24 (1980), S. 490–493. Zeller, Bernhard u. a. (Hrsg.): Die Insel. Eine Ausstellung zur Geschichte des Verlages unter Anton und Katharina Kippenberg. Deutsches Literaturarchiv im SchillerNationalmuseum Marbach a. N. Marbach: Deutsche Schillergesellschaft 1965 (Katalog zu Sonderausstellungen des Schiller-Nationalmuseums. 15).
VI Bibliophilie und Buchkunst
WULF D. VON LUCIUS
Zur Geschichte und gegenwärtigen Situation der bibliophilen Gesellschaften in Deutschland 1 Die Gemeinschaft der Sammler Wenn man jegliches menschliches Handeln und Selbstverständnis als Kommunikation im Sinne von Niklas Luhmann versteht, ist auch Sammeln ein kommunikativer Prozess und verwirklicht sich in einem nach eigenen Regeln gesteuerten System in Abgrenzung von der Umwelt, d. h. den Nicht-Sammlern. Alois Hahn hat diesen soziologischen Blick auf das Phänomen des Sammelns folgendermaßen anschaulich formuliert: Ohne Mitsammler bliebe die Welt des Sammlers eine Konstruktion, die ihres Wirklichkeitscharakters kaum gewiss wäre […] Der Sammler sieht in den Gegenständen etwas, das der Profane in ihnen nicht sieht. Die Differenz zwischen der Definition, die dem Kosmos des Sammlers zugrunde liegt, und der Auffassung des Außenstehenden entspringt einer spezifischen Bedeutungsinvestition.1
Man kann durchaus sagen, dass auf dieser gemeinsamen, aus übereinstimmenden Kriterien und Arbeitsweisen gespeisten Bedeutungsinvestition die gegenseitige Bestätigung der Sammler beruht, und das steht ganz im Einklang etwa mit Herbert Meads soziologischer Theorie, dergemäß das Selbstbewusstsein des Menschen überhaupt dadurch entsteht, wie er sich im Urteil anderer gespiegelt sieht. Gutes Sammeln ist also das, was andere als gutes Sammeln anerkennen, auch geheim gehaltene Sammlungen müssen (und sei es widerwillig oder unbewusst) den Wertkriterien der Gesellschaft der Sammler Raum geben. Unter einem solchen Aspekt ist Sammeln ein sich selbst verstärkender rückgekoppelter Prozess, der Antriebe und Kräfte gerade daraus zieht, dass es auch andere gibt, die das gleiche oder ähnliches tun. Sammeln kann sich also nur verwirklichen in der Teilnahme an einem regelhaften Spiel – eben innerhalb des Systems – wobei die Regeln sich 1
Hahn: Soziologie des Sammlers, S. 450.
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entwickeln, was wiederum einen kommunikativen Prozess unter den Teilnehmern des Spiels voraussetzt. Und dennoch: Büchersammler und Bibliophile gibt es seit mehr als 2000 Jahren – bibliophile Gesellschaften erst seit knapp 200 Jahren, in Deutschland sogar erst seit gut 100 Jahren. Zur unabdingbaren Kommunikation unter Sammlern, zum Sammeln als einem Handeln Gleichgesinnter, bedarf es also ganz offensichtlich keiner bibliophilen Gesellschaften, wie die rund 2000-jährige Geschichte der Bibliophilie ohne solche Gesellschaften beweist. Die Kommunikation unter Sammlern geschah also sehr lange Zeit ohne spezifische Institutionen. Das bibliophile Leben ohne bibliophile Gesellschaften dürfte vermutlich auf der lokalen Ballung sammlerischer Aktivitäten in den Metropolen – Paris, London, Venedig, Wien – beruhen, in denen Sammler, Händler und Bibliothekare, ab dem 18. Jahrhundert auch durch Auktionsereignisse, laufend informelle direkte Begegnungen hatten. Noch für das 19. Jahrhundert werden intensive Kontakte der an den Seine-Quais entlang flanierenden Büchersammler überliefert, die auf diese Weise eine ›community‹ bildeten.2 Der Wettbewerb unter Sammlern um die besten Stücke, wie wir ihn auf höchster Ebene der ›haute bibliophilie‹ etwa bei Ottheinrich von der Pfalz oder dem Pariser Hochadel um den Duc de la Vallière und seine Wetteiferer intensiv nachvollziehen können, hatte stets – neben dem ernsthaften Bildungs- und Kulturinteresse – ein agonistisches Element, sei es fürstliches Repräsentationsbedürfnis oder der Distinktionswille, um es mit Bourdieu zu sagen, des reichen Bürgertums von einem Johann Jakob Fugger bis zu den rivalisierenden fermiers généraux im Paris des 18. Jahrhunderts.3 Diese Rivalität von Sammlern untereinander wird auch heute noch auf Auktionen geschürt und von manchem Händler geschickt genutzt. Vor dem Blick auf die bibliophilen Gesellschaften in Deutschland sei eine historische Skizze der bibliophilen Gesellschaften außerhalb Deutschlands vorgestellt.
2 3
Dodeman: Le long de quais. Zu diesem durch die Jahrhunderte immer wieder beobachtbaren Wettstreit unter den großen Bibliophilen vgl. ausführlich Willms: Bücherfreunde und Büchernarren.
Zur gegenwärtigen Situation der bibliophilen Gesellschaften
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2 Anfänge bibliophiler Vereinigungen Schon bei der ältesten bibliophilen Vereinigung Europas ist es ein solcher ungestümer Wettbewerb unter reichen, ehrgeizigen Adligen, der anlässlich der Roxburghe-Auktion 1812 in London stattfand, bei der ein damals unglaublicher Auktionsrekord von ₤ 2 260 für ein Buch, den berühmten Valdarfer Boccaccio von 1471, erzielt wurde. Am selben Tag erfolgte die Gründung des ersten Bibliophilenclubs um den stolzen Erwerber Marquis of Blandford und den unterlegenen Earl Spencer herum. Der Roxburghe Club, der am Abend dieses denkwürdigen Tages in der St. Albans Tavern gegründet wurde, war ein ungemein elitärer Club mit max. 31 (später 40) Mitgliedern, bei dem der Überlieferung nach nur Mitglied werden konnte, wer einen angestellten Bibliothekar vorzuweisen hatte. Ähnlich exklusiv mit starkem Anteil alten und hohen Adels war die Gründung der Société des Bibliophiles Français im Jahre 1820, und auch in Amerika entstand der Grolier Club 1884 in New York als exklusive Vereinigung reicher Sammler um Robert Hoe, die sehr bald ein eigenes Clubgebäude in vornehmer Stadtlage erwarben, eine hochqualifizierte buchgeschichtlich-bibliographische Sammlung aufbauten und bis heute einen fest angestellten Bibliothekar (nebst Hilfskräften) beschäftigen.4 Und Deutschland? Die verspätete Nation war auch hier spät dran und bewegte sich in bescheideneren Dimensionen: 1899 gründete Fedor v. Zobeltitz in Weimar, so ziemlich das Gegenteil einer Metropole und fast nur noch vom Abglanz großer Zeit lebend, die Gesellschaft der Bibliophilen (GdB), deren Vorsitz er von 1900 bis 1934 innehatte; sein Stellvertreter Georg Witkowski war 31 Jahre im Amt. Die Gesellschaft war literarisch orientiert, nicht elitär oder auf vermögende Mitglieder gerichtet – der Jahresbeitrag betrug bescheidene M 8,-, währenddem 12 Jahre später die Metropolengründung der Maximilian-Gesellschaft in Berlin gleich mit M 100,- startete und eine begrenzte Mitgliederzahl (300) vorsah, die allerdings erst 1926 erreicht wurde,5 eine Begrenzung, die erst bei der Wiedergründung 1946 aufgehoben wurde. Schon das Einladungsschreiben von 1911 signalisierte den gehobenen Anspruch der neuen Gesellschaft: ein
4 5
Vgl. Holzenberg: Lasting Impressions. Vgl. zur amerikanischen Bibliophilie ausführlich Shepard-Granniss: Amerikanische Sammler. Ich stütze mich bei den Angaben zur Gesellschaft der Bibliophilen wesentlich auf Neumann: Hundert Jahre Gesellschaft der Bibliophilen, für die Maximilian-Gesellschaft auf die Darstellung von Biegler: Zur Geschichte der Maximilian-Gesellschaft.
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Halbbogen auf edlem Bütten in einen goldgeprägten Pergamentumschlag geheftet. Die Gesellschaft der Bibliophilen war, wie gesagt, von Anfang an literarisch und buchgeschichtlich fokussiert, ihre erste Veröffentlichung ein Faksimile eines Goethe Autographs (Die Mitschuldigen). Schon nach drei Jahren, 1901, hatte die Gesellschaft der Bibliophilen 571 Mitglieder, mithin deutlich mehr als heute. Darunter waren rund 100 Buchhändler aus allen Sparten, dazu zahlreiche Schriftsteller, Beamte, Juristen und sonstige Freiberufler. Die Mitgliedschaft war von Anfang an breit über das Reichsgebiet gestreut (mit einem Schwerpunkt in Berlin), ein Fünftel waren im Ausland ansässig. Schon der Roxburghe Club hatte als wesentliche Zielsetzung die Herausgabe von buchkundlichen Veröffentlichungen als Hauptziel. So hielt es auch die Gesellschaft der Bibliophilen, die zahlreiche buchkundliche Werke herausbrachte – als größtes die sieben Bände des AnonymenLexikons von Michael Holzmann/Hanns Bohatta6 – sowie bibliophile Drucke. Die Zeitschrift für Bücherfreunde wurde zum Bezug empfohlen, war aber kein Mitgliedsstück. Die Maximilian-Gesellschaft war demgegenüber ausgeprägter im wohlhabenden Großbürgertum der Reichshauptstadt verankert, ihr Vorstand bestand aus Berliner Mitgliedern. Ihre Wiederbegründung 1946 durch den hanseatisch-patrizisch geprägten Ernst Hauswedell – gemeinsam mit Carl Georg Heise, der der erste Nachkriegsvorsitzende wurde – war daher gewiss von innerer Logik. Die Wiederbelebung der Gesellschaft der Bibliophilen ab 1947 kam demgegenüber wie 1899 bei der Gründung aus der literarischen Welt mit Rudolf Alexander Schröder und Emil Preetorius als Leitgestalten. Vereinigungen welcher Art auch immer ruhen und zielen eben auf ein Soziotop, ein bestimmtes gesellschaftliches Segment, sie antworten auf vorhandene gesellschaftliche Bedürfnisse. Die (groß-) bürgerliche Bildungswelt und ihre Orientierung an überlieferten Werten waren im Bereich der Bibliophilie im 19. Jahrhundert und den ersten zwei Dritteln des 20. Jahrhunderts der Bildung bibliophiler Vereinigungen förderlich – in Deutschland ebenso wie in vielen anderen europäischen Ländern. Eines der Probleme von derartigen Vereinigungen besteht heute gewiss darin, dass genau diese für sie konstitutive Segmentierung der Gesellschaft weitgehend verschwunden ist und damit das Bedürfnis entsprechender gesellschaftlicher Zirkel. Nur aus Sachinteresse heraus ohne eine 6
Holzmann/Bohatta: Deutsches Anonymen-Lexikon.
Zur gegenwärtigen Situation der bibliophilen Gesellschaften
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gewisse soziale Homogenität können Vereinigungen zumindest im kulturellen Bereich keine dauerhafte Bindewirkung entfalten. Da hatten die Gründer der Maximilian-Gesellschaft in Berlin keine Probleme: sie gehörten fast alle zum großbürgerlichen Milieu und seinem am Adel orientierten Lebensstil. So notierte Witkowski aus der Perspektive des zweiten Vorsitzenden der Gesellschaft der Bibliophilen etwas spitz: »Ihre Feste überragten ebenso wie die Gaben alle anderen durch die gewisse snobistische Würde, sowie auch ihre Speisefolgen die reichsten, ihre Damen die elegantesten waren. Vor dem Krieg konnte man nicht so leicht zu der Ehre gelangen, durch den Mitgliederbeitrag von jährlich M 100,- an diesen Prunkfesten teilzunehmen, für die in der Liebe zum Buche ein Vorwand geboten war […]«.7
3 Ziele der bibliophilen Gesellschaften Insofern hatte jede der beiden Gesellschaften ein eigenes Profil; und dennoch gab es, sicher nicht zuletzt wegen der Jahresgaben, viele Doppelmitglieder, so auch den spottlustigen Witkowski. Inhaltlich ging es dem Vordenker der Maximilian-Gesellschaft, Hans Loubier, um ein Heranführen der deutschen Buchkunst an die damals deutlich weiterentwickelte und modernere zeitgenössische Buchgestaltung in England und Frankreich – demgegenüber stand das wissenschaftlichbibliographische Gebiet an zweiter Stelle. Dementsprechend hieß es im Einladungsbrief von 1911: Dem deutschen Buch fehlt noch die Stätte, an der es in einem a u s g e w ä h l t e n [Hervorhebung v. Verf.] Kreis von Kundigen und Freunden, unberührt von literarischen und künstlerischen Tagesmeinungen und losgelöst vom Markt, die liebevolle Pflege findet, die den Büchern anderer Länder in wohlgefügten Vereinigungen lange schon zuteil wird […]. Die Gesellschaft will ihren Zweck darin suchen, alle Bestrebungen zu fördern, die der Pflege des deutschen Buches nach Inhalt und Ausstattung gelten.8
Die beiden bibliophilen Gesellschaften in Deutschland hatten also verschiedene Schwerpunkte gesetzt, ohne dass die jeweils andere Seite der Bibliophilie etwa ganz vernachlässigt wurde: Die Maximilian-Gesellschaft legte den Schwerpunkt auf die Buchästhetik, die Gesellschaft der Bibliophilen auf Literatur, Literaturgeschichte und Bibliographie. Die Tradition von Doppelmitgliedschaften ist aufgrund dieser unterschiedlichen Profile 7 8
Zitiert nach Biegler: Zur Geschichte der Maximilian-Gesellschaft, S. 98. Zitiert nach Biegler, S. 96f.
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naheliegend und besteht bis heute; nicht zuletzt auch wegen der Publikationen der Gesellschaften, die für die Mitglieder ja kostengünstig sind, weil in den Mitgliedsbeiträgen enthalten. Eine reichsweite Gesellschaft mit einem oder zwei Treffen im Jahr vermag aber die Bedürfnisse nach Kontakten unter Bücherfreunden nur begrenzt befriedigen: das Bedürfnis nach einem permanenten Kontakt am Ort zeigte sich in der Gründung des Berliner Stammtisches der Maximilian-Gesellschaft im Weinhaus Trarbach ab 1926. Dazu hieß es: »Im Interesse unserer Gesellschaft erwarten wir von einem zwanglosen Zusammensein einen gesteigerten Austausch individuell-bibliophiler und künstlerischer Neigungen […]«9. Die Runde, die auch kostbare originalgraphische Sonderpublikationen herausgab, musste allerdings mangels Beteiligung nach zwei Jahren wieder eingestellt werden. So leicht war es also schon damals nicht mit permanenten Kontakten unter Büchersammlern. Dennoch spielten neben den Publikationen die Jahresversammlungen mit Festessen und Jahresgaben eine wesentliche Rolle. Diese beiden Elemente, gesellige Treffen und Publikationen, sind bis heute Kernelement der beiden großen deutschen Bibliophilengesellschaften, von denen die einst in elitärer Begrenzung gestartete Maximilian-Gesellschaft heute die deutlich größere ist mit über 700 Mitgliedern gegenüber den rund 450 der GdB. Das gesellige Element ist in den mehrtägigen Jahresversammlungen der Gesellschaft der Bibliophilen ausgeprägter als bei der MaximilianGesellschaft. Die Publikationstätigkeit beider Gesellschaften war in den letzten Jahren den angesichts sinkender Mitgliedszahlen knapperen Budgets anzugleichen: die Wandelhalle der Bücherfreunde schrumpfte zu einem Leporello, die Maximilian-Gesellschaft musste ihre eigene Zeitschrift Philobiblon vor einigen Jahren einstellen und ging eine Kooperation mit Aus dem Antiquariat ein. Das seit 1955 wieder erscheinende Jahrbuch Imprimatur erscheint in verlängerten Perioden. Ebenso müssen die großen buchgeschichtlichen Werke der Maximilian-Gesellschaft als Mitgliedsgabe z. T. über Jahre verteilt werden.
9
Zitiert nach Biegler, S. 95.
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4 Regionale und lokale Gesellschaften Aufschlussreich ist ein Blick auf die lokalen bzw. regionalen Gesellschaften,10 die insbesondere im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in Deutschland blühten. Beginnend 1904 mit der Gründung des Leipziger Bibliophilen-Abends und den kurz darauf folgenden Gründungen 1905 in Berlin und 1908 in Hamburg entstanden bis 1933 über 25 solcher lokaler oder themenzentrierter Gesellschaften, von denen nur beispielhaft folgende aufgezählt seien: Chemnitz (1921), Eisenach (1922), Frankfurt a. M. (1922), Göttingen (1922), München (1923), Dresden (1926), Köln (1930). Dazu kommen als regionale Vereinigungen die Deutschen Bücherfreunde in Böhmen (1918), die Schlesische Gesellschaft der Bücherfreunde (1920) und weitere Gruppierungen wie die Soncino-Gesellschaft für Freunde des jüdischen Buches11 (1924), die Wiegendruckgesellschaft (1924) und die alpinen Bücherfreunde (1928)12. Eine ganze Reihe dieser Gesellschaften war z. T. recht intensiv mit der Publikation bibliophiler Privatdrucke aktiv, so z. B. die Chemnitzer Bücherfreunde mit 35 Jahresgaben und 27 Sonderveröffentlichungen.13 Es liegt auf der Hand, dass der persönliche Kontakt, das kontinuierliche Gespräch, das Vorzeigen von Neuerwerbungen, die freundschaftliche Geselligkeit in lokalen oder themenzentrierten Gesellschaften besser verwirklicht werden können, als in reichs- oder bundesweiten Vereinigungen, bei denen vielleicht ein Zehntel der Mitglieder einmal im Jahr zusammenkommt. Es ist daher bedauerlich, dass heute viel weniger solche kleinen, lokalen, von persönlicher Initiative und Zusammenhalt geprägte bibliophile Vereinigungen existieren als vor dem Zweiten Weltkrieg.
5 Neubeginn nach 1945 Recht früh nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgten die schon erwähnten Neubelebungen der beiden großen Gesellschaften, während die lokalen zu großen Teilen nicht erneuert wurden. 10 11 12 13
In Imprimatur N. F. 8 (1976) findet sich eine Aufsatzfolge zur Geschichte lokaler bzw. regionaler Gesellschaften. Berlin, Köln, Fränkische Bibliophile, Hamburg, München u. a. Vgl. auch: Neumann: Gesellschaft der Bücherfreunde, S. 97–100. Vgl. dazu ausführlich: Heider: Die Soncino-Gesellschaft, S. 401–410. Vgl. dazu den Mitteilungsteil der Zeitschrift für Bücherfreunde 1918ff. sowie Schmitz: Bibliophile Gesellschaft. Vgl. dazu Rodenberg: Deutsche Bibliophilie.
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Abbildung 1, 2, 3: Signets der Maximilian-Gesellschaft, der Pirckheimer-Gesellschaft und der Gesellschaft der Bibliophilen
Eigentliche Neugründungen nach 1945 gibt es nur sehr wenige, so insbesondere die Fränkischen Bibliophilen, gegründet 1948 in Lichtenfels von Hans Günter Hauffe und Hermann Thomas Schulze, deren Jahrestagungen und Exkursionen hohes Ansehen genießen. Auch diese Gesellschaft veröffentlicht Privatdrucke. 1956 wurde in der DDR die PirckheimerGesellschaft gegründet.14 Ihre Geschichte sei in Kurzform hier skizziert: Nach mehrjährigen vorbereitenden Schritten, ausgehend von dem Berliner Sammler Heinrich Löwenthal, entstand 1955 ein Initiativkomittee, dem u. a. der Buchkünstler Werner Klemke und Lektoren führender DDR-Verlage angehörten. Die offizielle Gründungsversammlung fand im Januar 1956 in Berlin statt, begleitet von freundlichen Briefadressen von Johannes R. Becher und Lion Feuchtwanger. In der ersten Versammlung im Mai 1956 sprach Julius Rodenberg über »Hoffnung und Verantwortung auf den Wegen der Bibliophilie«. Die personelle Anknüpfung an wichtige Persönlichkeiten der bibliophilen Szene vor 1933 ist also deutlich erkennbar. In diesem Zusammenhang sei eine kleine Anmerkung zum Signet der Pirckheimer erlaubt: es greift in verblüffender Weise die Gestaltungselemente des Signets der Maximilian-Gesellschaft auf – die Bibliophilen im sozialistischen System sahen ihre geistigen Ahnherren also ganz offenbar und unverhohlen bei den kapitalistischen Granden der Bücherwelt der Kaiserzeit, und das passt ja gut zum kulturpolitischen Konservatismus der DDR. Sehr bald bildeten sich regionale Gruppen, so in Radebeul, Leipzig u. a. wichtigen Städten. Einflussreiche Pirckheimer waren auch in der Jury »Die Schönsten Bücher der DDR« vertreten. Eigene Buchveröffentlichungen gab 14
Vgl. ausführlich Wurm: Jubelrufe aus Bücherstapeln.
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es (insbesondere wegen der Papierbewirtschaftung) keine, dafür aber Jahresgaben aus geeigneten Verlagspublikationen sowie Graphikblätter, etwa von Frans Masereel, Harald Metzkes u. a. Das erste Heft der Vereinszeitschrift Marginalien erschien 1957, fallweise unterstützt durch Mittel des Kulturbundes, dem die Pirckheimer aber offiziell bewusst nicht angehören wollten. Schwierig gestalteten sich die Beziehungen zu den Sammlerkreisen im ›kapitalistischen Ausland‹. Die Pirckheimer veranstalteten ab 1975 den »Berliner Graphikmarkt«, wesentlich initiiert durch Lothar Lange, bei dem Künstler ihre Graphiken anboten (in Kommission durch den Verein). 1990 hatte die Gesellschaft ihren höchsten Mitgliederstand (1250), derzeit liegt er bei knapp 500, also in der Größenordnung der GdB. Die Pirckheimer hatten also von Anfang an ein vergleichsweise reges Vereinsleben mit deutlich mehr als nur einem Treffen im Jahr. Der damit entstandene Zusammenhalt hat sicher wesentlich zum Fortleben der Pirckheimer nach der Wende beigetragen, ebenso die angestammte Szene von Buchkünstlern, Buchgestaltern und Sammlern. Mittlerweile gehören den Pirckheimern auch zahlreiche Sammler aus dem ehemaligen ›Westen‹ an. Die Teilnehmerzahlen bei den Jahrestreffen der Pirckheimer liegen auch heute deutlich höher als die der beiden alten bibliophilen Gesellschaften. Zum Fortleben der lokalen bibliophilen Vereinigungen folgende Stichworte: Es existieren weiterhin mit langer Vorkriegstradition die Gesellschaft der Bücherfreunde zu Hamburg, die Bibliophilengesellschaft zu Köln und wenige sonstige. Insgesamt kaum zehn Gesellschaften in Deutschland. Im deutschsprachigen Ausland bestehen die 1921 gegründete Schweizer Bibliophilengesellschaft, deren offizieller Name bezeichnenderweise »Société Suisse de Bibliophilie« lautet und die die Zeitschrift Librarium herausgibt, sowie die ebenfalls wie die Maximilian-Gesellschaft im Jahr 1912 gegründete Wiener Bibliophilen-Gesellschaft, die neuerlich wieder stärkere Aktivitäten entfaltet und Jahresgaben publiziert. Ernst Fischer hat ihre Geschichte im kürzlich erschienenen Jahresband für 2006 konzis dargestellt.15 Bewundernswert die Neubelebung des Leipziger Bibliophilen-Abends durch Herbert Kästner nach der Wende, der bereits nach zehn Jahren eine beeindruckende Dokumentation seiner seitherigen Publikationen vorlegen konnte,16 die aber nicht als Mitgliedsgaben gegeben werden.
15 16
Fischer: Gegen »Raritätenfimmel« und »geistlosen Sammelsport«, S. 11–42. Vgl. Kästner: Zehn Jahre Leipziger Bibliophilen-Abend.
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Die oberschwäbischen Bibliophilen, in den 1970er Jahren von Hans Lichtenstern gegründet, sind nicht als Gesellschaft anzusehen, da die Mitgliedschaft ganz auf persönlicher Zuwahl ruht. Ihre Besonderheit ist, dass die Mitglieder sich reihum in ihre Häuser bzw. Schlösser einladen, teils mit Gastpräsentationen, oder der Gastgeber für den Besuch einer besonderen Bibliothek im Südwesten sorgt. Zwei Treffen im Jahr stärken den Zusammenhalt. Schließlich ist die Gruppe von gleichgesinnten Bücherfreunden zu erwähnen, die Curt Visel im Kreis der Abonnenten und Freunde seiner 40 Jahre publizierten Zeitschrift Illustration 63 in mehrjährigen Abständen zu Treffen von Sammlern und Buchkünstlern nach Memmingen zusammenrief. Dieser Kreis – alles andere als eine verfestigte Gesellschaft – zeichnete sich durch große Homogenität der Interessen, nämlich das illustrierte literarische Buch, aus. Visel war dabei von Anfang an bestrebt, auch Buchkünstler aus England, den Ländern jenseits des Eisernen Vorhangs und insbesondere auch aus der DDR einzubeziehen, wo dieser Buchtyp betont gepflegt wurde. Einige Jahre veranstaltete der Ulmer Einbandsammler und -experte Walter Krepl die »Ulmer Einbandgespräche«, also einen losen, themenzentrierten Kreis von Bücherfreunden, auch das könnte ein Zukunftsmodell werden. Auf die Darstellung weiterer themenorientierter Sammlerkreise muss im Rahmen dieses kurzen Beitrags leider verzichtet werden, wie etwa die Sammler der Inselbücherei oder die Ex-Libris-Sammler.
6 Bibliophile Gesellschaften und Wissenschaft Für die buchwissenschaftliche Forschung wir man den bibliophilen Gesellschaften wohl keine unmittelbare Rolle zusprechen können: sie sind Resonanzboden und Transportmittel. Letzteres durch ihre buchhistorischen, buchkundlichen Publikationen, die der Wissenschaft einen geeigneten Auftritt bieten, ohne sie selbst zu schaffen, aber immerhin die Anregungen und die Finanzierung zu diesen Publikationen bieten. Darüber hinaus fördern die Gesellschaften den Wissensfortschritt allenfalls indirekt, insoweit Buchkunde von den sammelnden Dilettanten vorangebracht wird, die durch neuartige Auswahl und ungleich intensivere Inspektion ihres Materials zu neuen Erkenntnissen kommen. Das können aber auch Einzelgänger, die bibliophilen Gesellschaften sind dafür keine Voraussetzung. Also Wissensfortschritt ja – Forschung wohl kaum.
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Und die Lehre? Insoweit Lehre Wissensweitergabe bedeutet oder Heranführung junger Interessenten, dann haben die Gesellschaften zumindest eine mögliche und sinnvolle Rolle über die pure Geselligkeit hinaus und könnten auch damit ihr Profil schärfen und vielleicht Interesse wecken und ihre Zukunftsfähigkeit sichern.
7 Ungewisse Zukunft der ›klassischen‹ Bibliophilie Die Schlussbetrachtung dieses Beitrags gilt der Zukunft der bibliophilen Gesellschaften und knüpft damit an die Überlegungen am Beginn dieses Beitrags an. Der tiefe kulturelle Einbruch und Verlust, den Deutschland durch den Nationalsozialismus erfahren hat – die bibliophilen Gesellschaften wurden, wo sie ihre Aktivitäten nicht einstellten, gleichgeschaltet und schlossen schandbarerweise alle jüdischen Mitglieder aus17 – dieser tiefe Einschnitt wirkt bis heute nach: Das alte Bildungs- und Großbürgertum, das die Gesellschaften vor 1933 trug und prägte, hat sich nicht wieder konstituieren können, der deutsche Antiquariatsbuchhandel aufgrund der Vertreibung der bedeutendsten Händler in den 1930er Jahren nie wieder sein Vorkriegsniveau erreichen können, und eine eindeutige kulturelle Metropole fehlt ebenfalls. In Frankreich oder Amerika ist das zum Teil ganz anders: der Grolier-Club als konservativer Millionärsclub (Mindestbeitrag über $ 1 000,–) floriert, die Association Internationale de Bibliophilie, wesentlich getragen von französischen und spanischen Marquis, bereichert um japanische Millionäre etc. veranstaltet Jahr für Jahr fulminante Jahrestreffen, die mindestens sechs Tage dauern (mit Extension bis zu zehn) nur in Luxushotels stattfinden und ein minutiös geplantes Programm mit dem Besuch der bedeutendsten und oft sonst gar nicht zugänglichen Bibliotheken abhalten, mit Kosten von ca. 6 000 € pro Teilnehmer. Und Deutschland? Wir bewegen uns in bescheidenem Rahmen, nicht nur in der Bibliophilie – der große Stil ist uns abhanden gekommen, soweit es ihn je gab. Zwischen den eben erwähnten Veranstaltungen der Association Internationale und den Treffen der Sammler der Insel-Bücherei besteht ein Abstand, bei dem Gemeinsames nur noch gering ist – allenfalls strukturell, aber nicht in der realen Ausprägung. Beides kann funktionieren; in jedem Fall bedarf es, damit eine Vereinigung funktioniert, neben dem sach17
Vgl. zu dieser dunklen Phase der deutschen Bibliophilie Neumann: Hundert Jahre Gesellschaft der Bibliophilen, S. 73–98.
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lichen Interesse eben dieser sozialen Fokussierung, einer allen gemeinsamen Selbstwahrnehmung. Diese entsteht nicht aus hochmütiger Vorselektion, sondern aus der Permanenz und Frequenz der darin die Gemeinsamkeit bestätigenden Begegnungen. Hier kann man die Chance lokaler, vielleicht auch eher informeller Vereinigungen sehen, deren Mitglieder sich öfter sehen und Schätze vorzeigen, wie etwa die Münchner »Mappe«. Dementgegen steht aber heute die allenthalben – nicht nur bei kulturellen Vereinigungen – zu beobachtende Unwilligkeit von Bindungen in Vereinsform und die – wie viele Antiquare berichten – mangelnde Nachhaltigkeit beim Sammeln der Jüngeren und das Versinken älterer Literatur in den Bereich des nur noch Historisch-Wissenschaftlichen. Bibliophilie aber ist nun einmal zentral etwas sehr Emotionales – Wissenschaft steht nicht vornan. Das Bibliographisch-Buchkundliche, die Orientierung am literarischen Kanon, finden heute weniger Interesse. Zudem ist die Buchkunst der Gegenwart sehr an der bildenden Kunst orientiert. Kein Zufall, dass die Künstlerbücher heute weithin Sammelgebiet der Kunstmuseen und Handelsgegenstände der Kunsthändler geworden sind, also aus der Buchsphäre der Antiquare und Bibliotheken hinausgewandert sind. Damit verliert die Bibliophilie etwas, was für sie lange zentral gewesen ist: neben der Wertschätzung des Überlieferten und der historischen Buchkunde eine bewusste Orientierung am künstlerischen Leben der Gegenwart im Sinne der sog. nicht-retrospektiven Bibliophilie. All dies sind Elemente der Zentrifugalität aus dem heraus, was das Zentrum der klassischen Bibliophilie ausmachte. Ohne einen – mir persönlich gar nicht eigenen Pessimismus – muss man angesichts solcher allgemeingesellschaftlicher Tendenzen sowie derer im künstlerischen Bereich doch die Frage stellen, ob und wie die bibliophilen Gesellschaften ihre Zukunft sichern können, und das heißt ja, junge Menschen für ihre Ziele zu begeistern. Vielleicht ist dabei auch die Frage von Exklusivität versus Breitenwirkung neu zu stellen, ebenso der immer noch anzutreffende Bezug zu den großen ›ewigen‹ Inhalten und Gestaltungsprinzipien – ein Denken, das unserer Zeit und insbesondere den Jüngeren nicht mehr als primäres Paradigma taugt. Auch die Fokussierung auf Antiquarisch-Bibliographisches und/oder zeitgenössische Buchkunsttendenzen bzw. die ›marktgerechte‹ Balance zwischen diesen beiden klassischen Hauptsträngen der Aktivitäten der bibliophilen Gesellschaften sind vielleicht neu zu durchdenken. Dieser Herausforderung sehen sich alle drei vorstehend skizzierten Typen von bibliophilen Gesellschaften gegenüber, die nationalen ebenso wie die lokalen bzw. regionalen
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oder die themenzentrierten. Vielleicht haben dabei die beiden letzteren Typen wirksamere Ansatzpunkte zur erforderlichen Neupositionierung. Wenn es den bibliophilen Gesellschaften nicht gelingt, in geeigneter Weise auf diese tief greifenden sozialen und kulturellen Veränderungen positiv zu reagieren, durch entsprechende Veranstaltungen und Publikationen neue Attraktionskraft zu entfalten und auf diese Weise die neuen kulturellen Paradigmen zu inkorporieren, dann gehen wir vielleicht wieder Jahrhunderten der Bibliophilie ohne bibliophile Vereinigungen entgegen.
8 Literaturverzeichnis Biegler, Dagmar: Zur Geschichte der Maximilian-Gesellschaft. In: Maximilian-Gesellschaft – Chronik der dritten 25 Jahre. Hamburg 1961–1986. Sondergabe für die Mitglieder der Maximilian-Gesellschaft in Hamburg. Hrsg. v. Werner Kayser. Hamburg: Maximilian-Gesellschaft 1986, S. 95–108. Dodeman, Charles: Le long de quais. Paris: Les Éditions »Gallus« 1919. Fischer, Ernst: Gegen »Raritätenfimmel« und »geistlosen Sammelsport«. Skizze zur Geschichte der Wiener Bibliophilen-Gesellschaft. In: Wiener Bibliophilengesellschaft – Jahresgabe 2006. Hrsg. v. Tillfried Cernajsek. Weitra: Bibliothek der Provinz 2006, S. 11–42. Hahn, Alois: Soziologie des Sammlers. In: Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte. Aufsätze zur Kultursoziologie. Hrsg. v. A. H. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000. Heider, Ulrich: Die Soncino-Gesellschaft der Freunde des jüdischen Buches e. V. (1924– 1937). In: AdA 2007, H. 6, S. 401–410. Holzenberg, Eric: Lasting Impressions. The Grolier Club Library. New York: Grolier Club 2004. Holzmann, Michael/Bohatta, Hanns: Deutsches Anonymen-Lexikon. 7 Bde. Weimar: Gesellschaft der Bibliophilen 1902–1928. Kästner, Herbert (Hrsg.): Zehn Jahre Leipziger Bibliophilen-Abend e. V. Eine Festschrift mit Originalbeiträgen von zehn Autoren und Originalgraphiken von zehn Künstlern sowie mit typographischen Blättern von vier Buchgestaltern. Mit Bibliographie und Dokumentation. Leipzig: Leipziger Bibliophilen-Abend 2001. Neumann, Peter: Hundert Jahre Gesellschaft der Bibliophilen. 1899–1999. Bericht und Bilanz. München: Gesellschaft der Bibliophilen 1999. Neumann, Peter: Gesellschaft der Bücherfreunde zu Hamburg 1908–2008. In: AdA 2008, H. 2, S. 97–100. Rodenberg, Julius (Hrsg.): Deutsche Bibliophilie in drei Jahrzehnten. Verzeichnis der Veröffentlichungen der deutschen bibliophilen Gesellschaften und der ihnen gewidmeten Gaben 1898–1930. Leipzig: Gesellschaft der Freunde der deutschen Bücherei 1931. Schmitz, Wolfgang: Bibliophile Gesellschaft. In: LGB², Bd. 1, 1987, S. 375f. Shepard-Granniss, Ruth: Amerikanische Sammler und Bibliotheken. In: Das amerikanische Buchwesen. Buchdruck und Buchhandel, Bibliophilie und Bibliothekswesen in den
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Wulf D. von Lucius
Vereinigten Staaten von den Anfängen bis zur Gegenwart. Hrsg. v. Hellmut Lehmann-Haupt. Leipzig: Hiersemann 1937. Willms, Johannes: Bücherfreunde und Büchernarren – Entwurf zur Archäologie einer Leidenschaft. Wiesbaden: Harrassowitz 1978. Wurm, Carsten (Hrsg.): Jubelrufe aus Bücherstapeln. Die Pirckheimer-Gesellschaft 1956 bis 2006. Ein Almanach. Wiesbaden: Harrassowitz 2006.
REINHARD WITTMANN
Die Gesellschaft der Bibliophilen Am Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts überschritt das Verlagswesen die Schwelle zur Moderne, entstand die Spezies der ›Kulturverleger‹ und ›Individualverlage‹, erfasste die Buchkunstbewegung nach englischem und französischem Vorbild auch den deutschen Markt: »Die Zeit der schlecht gedruckten Klassikerausgaben und der Schablonenprachtwerke war vorüber. Der wieder erwachende Schönheitssinn konnte der charakterlosen Eleganz der fabrikmäßig hergestellten Einbände keinen Geschmack mehr abgewinnen; die süßliche Art der Illustration widerstrebte dem modernen Empfinden.«1 Damit verließ auch das Büchersammeln, zuvor meist Angelegenheit nur von Gelehrten sowie Teilen des Adels und Patriziats, seine »prähistorische Epoche« (Witkowski). Der Boden schien, wiederum nach dem Vorbild Englands, Frankreichs und Hollands, bereitet für ein Organ und eine Organisation bibliophiler Interessen. Fedor von Zobeltitz (1857–1934), Romancier und Sammler, warb beim Bielefelder Verleger Klasing für seinen Plan einer »Zeitschrift für Bücherfreunde«: Das Blatt müßte […], da die Bibliophilie bei uns immer noch in den Kinderschuhen steckt, nicht allzu fachsimplig gehalten, sondern in gewissem Sinne »populär« redigiert werden; es dürfte nicht zu viele technische Kenntnisse voraussetzen, sondern müßte sich sein Publikum heranziehen. So wie ich mir die Zeitschrift denke, würde sie folgenden Abonnentenkreis umfassen: die Sammler (es gibt nachweisbar ca. 3000 b e k a n n t e r e Bibliophile in Deutschland); die größeren Antiquare (für die sie Angebotsmarkt u. Forum für Mitteilungen u. Aussprachen über Rara etc. ist); die Vorstände der öffentlichen und größeren privaten Bibliotheken (ca. 1800), für die sie von größter Wichtigkeit; Buchbinder u. Buchdrucker […]; Buchhändler, Schriftsteller, der Kreis der gebildeten Laien.2
Zugleich sollte das Blatt »in den weiteren Kreisen des gebildeten Publikums das Interesse für das Buch zu wecken und zu heben« versuchen. Die sorgfältig edierte und inhaltsreiche Zeitschrift erschien ab April 1897, kam jedoch über eine dreistellige Zahl von Abnehmern lange Jahre 1 2
Zobeltitz: Die Gesellschaft der Bibliophilen, S. 1. Adolph: Aus den Anfängen, S. 297f.
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nicht hinaus. Ab 1909 übernahm die Offizin Drugulin den Verlag, 1915 schließlich E. A. Seemann, die Herausgeberschaft ging an Georg Witkowski und Carl Schüddekopf über. Zur Zeitschrift kam bald die Vereinigung – der »Zusammenschluß aller Bücherfreunde zur gegenseitigen Förderung ihrer Interessen« (so die Formulierung der ersten Satzung). Zum 1. Januar 1899 trat die »Gesellschaft der Bibliophilen« (GdB) ins Leben. Mit ihr verfolgten die Gründer die gleichen Ziele – »nicht nur allein in Bezug auf die Buchausstattung, sondern auch, und zwar sehr wesentlich, unter Berücksichtigung des literarhistorischen, bibliographischen und bibliothekswissenschaftlichen Elements«3. In Abgrenzung von der französischen Bibliophilie, die meist auf Luxusausgaben fixiert sei, orientierte man sich an der britischen, die eng mit Bibliotheken zusammenarbeitete und sich mit der Herausgabe einschlägiger Schriften befaßte. So sah man auch als Hauptzweck der Gesellschaft »die Veranstaltung geschmackvoll ausgestatteter Publikationen aus dem Gebiete der Bibliophilie wie Handbücher, Bibliographien, Monographien, Neudrucke etc., die unentgeltlich an die Mitglieder verteilt werden und auf dem Wege des Buchhandels nicht zu beziehen sind«.4 Den Vorsitz übernahm ab 1900 Zobeltitz, dessen Hauptinteresse der hohen und trivialen Literatur des 17. bis 19. Jahrhunderts galt. Ihm stand jahrzehntelang als unermüdlicher spiritus rector und zweiter Vorsitzender der Leipziger Universitätsdozent Witkowski (1863–1939) zur Seite.5 Als Sekretär wirkte ebenfalls ein Germanist, nämlich Schüddekopf (1861– 1917). Beider Publikationsschwerpunkt war die Goethezeit, was sich auch in den Veröffentlichungen der GdB niederschlug. Schon 1900 waren fast 500 Mitglieder erreicht, darunter nahezu 100 Verleger, Buchhändler und Antiquare. Unter den Sammlern aus Europa und Amerika befanden sich Gelehrte wie Theodor Mommsen, Konrad Burdach, Max Friedländer, Konrad Haebler, Paul Kristeller, Richard M. Meyer, Max Morris, Erich Schmidt, Albert Köster und August Sauer. Ein Fünftel der Mitglieder wohnte in Berlin. 1905 wurde eine erweiterte Satzung verabschiedet, als Sitz der Gesellschaft Weimar bestimmt. Die Mitgliederzahl wurde mit Beschluß von 1907 auf maximal 900 beschränkt, der Jahresbeitrag betrug 8 Mark, seit 1905 wurde ein zusätzliches Eintrittsgeld von 6 Mark erhoben. Der Vorstand regte die Bildung örtlicher Tochter3 4 5
Zobeltitz: Die Gesellschaft der Bibliophilen, S. 2. Zobeltitz, S. 3. Vgl. Witkowski: Von Menschen und Büchern.
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Vereinigungen an, zuerst 1904 des Leipziger Bibliophilen-Abends, wenig später auch in Berlin, 1907 in München. Die jährlichen Tagungen an wechselnden Orten boten ein reiches, repräsentatives Programm mit Empfängen, Vorträgen und einem Festessen, bei dem oft mehr als zwei Dutzend meist limitierter Privatdrucke als Freundesgaben verteilt wurden. 1913 war die Zahl von 900 Mitgliedern erreicht (darunter nur 24 Frauen, fast 200 ausländische Mitglieder, 61 deutsche und 58 ausländische Bibliotheken). Das Entstehen kaufkräftiger organisierter Bibliophilie führte auch zu einer Blüte des deutschen Antiquariats: immer mehr Antiquare legten nun Wert auf sorgfältig ausgestattete und kompetent redigierte Kataloge, mit der Versteigerung der Sammlung Kürschner 1904 bei C. G. Boerner trat das Buchauktionswesen aus seinem Schattendasein, fortan fanden regelmäßige Versteigerungen vor allem in Berlin und Leipzig statt. Die Zahl der Pressen- und Luxusdrucke nahm ebenso zu wie die Wertschätzung für das ›alte Buch‹ in all seinen Spielarten anstieg, insbesondere für Inkunabeln sowie Dichter und Illustratoren der klassisch-romantischen Periode. Ab 1907 dokumentierte ein Jahrbuch der Bücherpreise die stetig steigenden Auktionsergebnisse. Die Interessen und Neigungen des Vorstands bestimmten weitgehend die Publikationsstrategie der GdB über das erste Jahrzehnt hinaus. So »verblieb die Gesellschaft der Bibliophilen bis in die dreißiger Jahre hinein immer unter der Interessenhegemonie eines literaturwissenschaftlichhistorisch ausgerichteten Sammler-Vorstands«.6 Bei der 12. Jahrestagung 1910 geißelte Zobeltitz die Veräußerlichung der Bibliophilie und sah im steigenden Interesse an Neudrucken und Luxusausgaben ein Anzeichen von Snobismus. Nicht alle Mitglieder teilten diese Präferenzen, sie schätzten vielmehr »statt gelehrsamer Literaturpflege mehr die künstlerische Gestaltung, das außergewöhnliche Werkstück in Vergangenheit und Gegenwart«.7 Diese Diskrepanz manifestierte sich schließlich 1911 in der Gründung der Maximilian-Gesellschaft in Berlin durch Mitglieder der GdB, welche als ihre Aufgabe die Förderung des schönen modernen Buchs und der zeitgenössischen Buchkunst für einen exklusiven Kreis proklamierte.
6 7
Jäger: Bücherlust und Bücherlast, S. 19. Zu Leipziger Buchhändlern und Verlegern als Bibliophilen vgl. Knopf: Von Breitkopf bis Zeitler. Neumann: Hundert Jahre Gesellschaft der Bibliophilen, S. 42.
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Nach dem Ersten Weltkrieg wuchs die Mitgliederzahl auf 1 200 (1921), sank dann jedoch mit den Wirtschaftskrisen bis 1933 auf rund 700. Die schwindenden finanziellen Mittel der Gesellschaft konzentrierten sich nun auf die Herausgabe der Zeitschrift für Bücherfreunde, weitere Veröffentlichungen waren kaum mehr finanzierbar. 1934 wurde auch die GdB ›gleichgeschaltet‹, als älteste und größte bibliophile Vereinigung zur ›Dachgesellschaft‹ aller lokalen und regionalen Gruppierungen erklärt und als korporatives Mitglied in die Reichsschrifttumskammer eingegliedert. Witkowski wurde hinausgedrängt. Nach dem Tode von Zobeltitz’ 1934 setzte sein Nachfolger, der deutschnationale Schriftsteller Börries von Münchhausen, für die »Buchlieberei« andere Prioritäten, etwa »im volkserzieherischen Sinne für eine vorbildliche Buch- und Druckgestaltung wertvollen deutschen Schrifttums«8 zu kämpfen. 1936 wurde mit dem 40. Jahrgang die kostspielige Zeitschrift für Bücherfreunde eingestellt (1939 erschien noch ein Gesamtregister). Dafür beteiligte man sich seit 1934 am 1930 gegründeten Jahrbuch Imprimatur der Gesellschaft der Bücherfreunde zu Hamburg. Es wollte in seinen Beiträgen »den Zwiespalt überbrücken zwischen den Büchersammlern mit vorwiegend historischen und literarischen Neigungen und den Freunden des Buches, die mehr ästhetische und buchtechnische Fragen angehen«.9 Mit Band 7 (1937) übernahm die GdB die alleinige Herausgeberschaft ihres seitherigen Publikationsorgans, begleitet von einem periodischen Nachrichtenblatt für die Mitglieder Wandelhalle der Bücherfreunde. Nach dem erzwungenen Ausscheiden der letzten jüdischen Mitglieder sank die Zahl der verbliebenen auf weniger als 400. 1941 wurde Münchhausen durch Baldur von Schirach als Präsident abgelöst, was die Bestrebungen des Parteifunktionärs Hampf unterband, neben dem Vorsitz der Maximilian-Gesellschaft auch jenen der GdB zu übernehmen. Bis Kriegsende verdoppelte sich die Zahl der Mitglieder wieder. 1947 wurde die GdB in Hamburg für die drei Westzonen wiedergegründet, zu ihrem ersten Präsidenten Rudolf Alexander Schröder gewählt. Die jährlichen Tagungen wurden wieder aufgenommen, 1951 erschien auch Imprimatur wieder, nun im zweijährigen Rhythmus, ab 1958 als Neue Folge. Als Mitteilungsblatt diente bis 1958 eine Beilage der Zeitschrift Das Antiquariat, seit 1959 erscheint wieder die Wandelhalle der Bücherfreunde. 1954 wurden 512 Personen und 56 Bibliotheken als Mitglieder registriert, 8 9
So die angepasste Satzung von 1934, zitiert nach Neumann: Hundert Jahre Gesellschaft der Bibliophilen, S. 78. Zitiert nach Neumann, S. 82.
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das regionale Schwergewicht hatte sich auf den Süden und Westen der Bundesrepublik verlagert, der Geschäftssitz ist München. Von den sechziger- bis in die achtziger Jahre signalisierten häufige Wechsel im Vorsitz personelle, konzeptionelle, vor allem auch finanzielle Engpässe, die durch den Mitgliederschwund zunahmen: 1975 waren 912 Mitglieder zu verzeichnen, 1984 nur mehr 622. Eine überarbeitete Satzung betonte 1985: »Die Gesellschaft will zur Entfaltung einer lebendigen, schöpferischen Bibliophilie beitragen. Sie stellt die Kunst und die Kultur des Buches in den Mittelpunkt ihrer Bestrebungen. Sie fördert das Sammeln, Bewahren und Erhalten von Büchern.« Dem Band 15 (1994) von Imprimatur folgte erst sehr verzögert, nun unter neuer Herausgeberschaft von Ute Schneider, 2001 Band 16. Die Bände 17 bis 20 schlossen sich – in neuer Gestaltung – desto rascher 2002, 2003, 2005 und 2007 an. Heute verfügt die GdB über knapp 400 Mitglieder und hat wie alle ähnlichen Vereinigungen mit dem Problem der Überalterung und der veränderten Rolle des Kulturguts Buch in der multimedialen Gesellschaft zu kämpfen. Sie ist jedoch überzeugt, dass die Zukunft der Bibliophilie diesen Kampf wert ist. Weiterhin sieht sie ihre Hauptaufgabe in der regelmäßigen Publikation von Imprimatur mit meist reich illustrierten Aufsätzen zu allen Aspekten der Buchkunst und -gestaltung, der Buchgeschichte und des Büchersammelns. Die behandelten Sammelgebiete umfassen das breite Spektrum von den Inkunabeln bis zu den Comics des 20. Jahrhunderts. Die Herstellung erfolgt in der renommierten Stamperia Valdonega von Martino Mardersteig. Zu den satzungsgemäßen Aufgaben der GdB zählen ebenso die jährlichen Tagungen an wechselnden Orten, bei denen Vorträge, Diskussionen, Besichtigungen von öffentlichen und privaten Bibliotheken sowie Exkursionen zu Buchkünstlern und Offizinen auf dem Programm stehen. Neben der anregenden Kommunikation der sammelnden Einzelgänger werden dabei auch Kontakte mit Bibliothekaren, Antiquaren, nicht zuletzt der Presse geknüpft und gepflegt. Das halbjährliche Nachrichtenblatt Wandelhalle der Bücherfreunde enthält neben Gesellschaftsinterna auch Informationen von befreundeten Gesellschaften, Buchhinweise, Glossen und Funde. Erfreulich hoch sind die Zugriffszahlen auf die Homepage. Sie bietet neben Aktuellem eine umfangreiche Chronik der Gesellschaft, längere Besprechungen einschlägiger Bücher und eine Sammlung historischer Texte zur Bibliophilie. Es ist modisch, dem Buch in der schönen neuen Welt digitalisierten Datenmülls düstere Zukunftsprognosen zu stellen. Seine mediale Leitfunktion, sein Sozialprestige mag es freilich verloren haben – aber es wird
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überdauern als historisches und künstlerisches Objekt über seinen nackten Informationsgehalt hinaus, als eine mit allen Sinnen erlebbare Zeitmaschine für die Aura versunkener Epochen. Private Sammler erfüllen mit ihren jahrzehntelang sorgsam aufgebauten Kollektionen, mit ihren kompetent kultivierten Inseln im Büchermeer eine kaum hoch genug zu schätzende konservatorische Aufgabe. Bibliophilie ist somit keine kuriose Spielerei, sondern wichtiger und notwendiger Teil des kulturellen Gedächtnisses. Zugleich aber ist sie in all ihren vielfältigen Varianten eine überaus lebendige und spannende Passion. Dies zu fördern bleibt auch nach mehr als hundert Jahren eine wichtige Aufgabe.
Gesellschaft der Bibliophilen Vorsitz: Prof. Dr. Reinhard Wittmann Mitglieder: 400 Geschäftsstelle: Rindermarkt 17 80331 München http://www.bibliophilie.de [email protected]
Publikationen in Auswahl10 Kautzsch, Rudolf (Hrsg.): Die neue Buchkunst. Studien im In- und Ausland. Weimar: Gesellschaft der Bibliophilen 1902. Holzmann, Michael/Bohatta, Hanns: Deutsches Anonymen-Lexikon. 7 Bde. Weimar: Gesellschaft der Bibliophilen 1902–1928. Hecker, Max/Petersen, Julius: Schillers Persönlichkeit. Urtheile der Zeitgenossen und Documente. 3 Bde. Weimar: Gesellschaft der Bibliophilen 1904–1909. Bogeng Gustav A. E.: Streifzüge eines Bücherfreundes. 2 Bde. Weimar: Gesellschaft der Bibliophilen 1915. Könnecke, Gustav: Quellen und Forschungen zur Lebensgeschichte Grimmelshausens. 2 Bde. Weimar: Gesellschaft der Bibliophilen 1926/27. Fürstenberg, Hans: Das französische Buch im achtzehnten Jahrhundert und in der Empirezeit. Volkmann, Ernst (Hrsg.): Erlebnisse mit Büchern in deutschen Selbstzeugnissen. 2 Bde. Weimar: Gesellschaft der Bibliophilen 1937–1940.
10
Ein Gesamtverzeichnis bei Neumann: Hundert Jahre Gesellschaft der Bibliophilen, S. 177– 200. Hier nicht aufgeführt sind die zahlreichen Faksimiles, Neudrucke, Broschüren, Reden usw.
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Horodisch, Abraham: Pablo Picasso als Buchkünstler. Frankfurt a. M.: Gesellschaft der Bibliophilen 1957. Breslauer, Martin: Erinnerungen, Aufsätze, Widmungen. Frankfurt a. M.: Gesellschaft der Bibliophilen 1966. Bielschowsky, Ludwig: Der Büchersammler. Eine Anleitung. Darmstadt: Gesellschaft der Bibliophilen 1972. Impimatur. Ein Jahrbuch für Bücherfreunde. Bd. 6 (1935)–Bd. 12 (1955). N. F. Bd. 1–20 (1957ff). Register 1 (1966), 2 (1992).
Literaturverzeichnis Adolph, Rudolf: Aus den Anfängen der »Zeitschrift für Bücherfreunde«. In: AdA (Bbl. Frankfurter Ausgabe 17 (1961), H. 17 v. 28. 2. 1961), S. 296–300. [Brief Zobeltitz an Klasing vom 7.9.1896]. Jäger, Roland: Bücherlust und Bücherlast. In: Kästner, Herbert (Hrsg.): »… mitten in Leipzig, umgeben von eignen Kunstschätzen und Sammlungen andrer …«. Beiträge zu Leipziger Buchkunst und Bibliophilie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Hrsg. aus Anlass des 100. Gründungsjubiläums des Leipziger Bibliophilen-Abends. Leipzig: Leipziger Bibliophilen-Abend 2004, S. 9–50. Knopf, Sabine: Von Breitkopf bis Zeitler, Leipziger Verleger und Buchhändler als Sammler. In: Kästner, Herbert (Hrsg.): »… mitten in Leipzig, umgeben von eignen Kunstschätzen und Sammlungen andrer …«. Beiträge zu Leipziger Buchkunst und Bibliophilie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Hrsg. aus Anlass des 100. Gründungsjubiläums des Leipziger Bibliophilen-Abends. Leipzig: Leipziger Bibliophilen-Abend 2004, S. 51–72. Neumann, Peter: Hundert Jahre Gesellschaft der Bibliophilen 1899 bis 1999. Bericht und Bilanz. München: Gesellschaft der Bibliophilen 1999. Witkowski, Georg: Von Menschen und Büchern. Erinnerungen 1863–1933. Leipzig: Lehmstedt 2003. Zobeltitz, Fedor v.: Die Gesellschaft der Bibliophilen. In: Jahrbuch für Bücher-Kunde und -Liebhaberei 1 (1909) (Beilage zum Taschenbuch des Bücherfreundes für 1909), S. 1–6.
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Die Maximilian-Gesellschaft Während sich in England und Frankreich die an Buchkunst Interessierten schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zusammenschlossen – Roxburghe Club (1812), Société des Bibliophiles Français (1820) – entstand im Jahre 1899 eine erste deutsche Vereinigung, die Gesellschaft der Bibliophilen in Weimar. Rasch folgten auch regionale Vereinigungen, so der Leipziger Bibliophilen-Abend (1904), der Berliner Bibliophilen-Abend (1905) und die Gesellschaft der Bücherfreunde zu Hamburg (1908). Im Jahre 1911 wurde dann die zweite große überregionale Vereinigung in Deutschland gegründet, die Maximilian-Gesellschaft. Namenspatron war Kaiser Maximilian I., der von 1493 bis 1519 das Heilige Römische Reich regierte und als Buchliebhaber und Sammler auf die Buchkünstler und Drucker seiner Zeit erheblichen Einfluss nahm. Der Gründungsversammlung in Berlin gehörten unter anderen der Drucker Johannes Baensch-Drugulin, der Direktor der Hamburger Kunsthalle Alfred Lichtwark, der Literaturwissenschaftler Erich Schmidt, der Leiter der Freiherrlich von Lipperheideschen Kostümbibliothek des Kunstgewerbemuseums in Berlin Hans Loubier an, in deren Räumen am 22. Dezember 1911 diese erste Zusammenkunft stattfand. Am 21. Februar 1912 wurde die Maximilian-Gesellschaft in Berlin in das Vereinsregister eingetragen. In der konstituierenden Versammlung war der im Staatsdienst tätige Jurist Walter von Brüning zum ersten Vorsitzenden gewählt worden. In dem anschließend – Pfingsten 1912 – versandten Werbebrief wurden die Ziele, die im Kern bis heute Gültigkeit behalten haben, formuliert: »Die Gesellschaft will ihren Zweck darin suchen, alle Bestrebungen zu fördern, die der Pflege des deutschen Buches nach Inhalt und Ausstattung gelten.«1 Die erste ordentliche Mitgliederversammlung fand am 2. März 1913 in
1
Aus dem Werbebrief der Maximilian-Gesellschaft von Pfingsten 1921 [recte: 1912]. In: Jahrbuch der Maximilian-Gesellschaft 9/10 (1920/21), S. 5.
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Berlin statt, in der der Vorstand für die Dauer von drei weiteren Jahren im Amt bestätigt wurde. In dieser ersten Phase der Vereinigung war man auf Exklusivität bedacht. Die Mitgliederzahl war auf 300 beschränkt, eine Zahl, die allerdings erst 1926 erreicht wurde. Im übrigen musste man vom Vorstand zum Eintritt eingeladen werden. Ein hoher Beitrag – 100 Goldmark – sorgte dafür, dass man ehrgeizige Publikationspläne verfolgen konnte. Im Amt des Vorsitzenden wurde von Brüning im Jahre 1915 von dem Bibliothekar Paul Schwenke abgelöst. Die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen wurde sehr stark von dem angesehenen Diplomaten Wilhelm Solf geprägt, der von 1919 bis 1921 und nochmals von 1929 bis 1936 Vorsitzender der Gesellschaft war. Zentrum der Gesellschaft war von der Zeit der Gründung bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs Berlin, obwohl es Mitglieder aus allen Regionen Deutschlands gab und auch Bibliophile aus dem Ausland beigetreten waren. In Berlin fand die Mehrzahl der Jahresversammlungen statt, hier wurden die eleganten Feste gefeiert, hier etablierte sich ab 1926 ein Stammtisch in einem Weinhaus, der allerdings nicht allzu lange Bestand hatte. Im Mittelpunkt der Tätigkeit der Maximilian-Gesellschaft standen die Veröffentlichungen. Für sie wurden die bedeutendsten deutschen Buchkünstler der Zeit verpflichtet, so z. B. Emil Rudolf Weiß und Marcus Behmer. Eine der hervorragendsten Publikationen der Gesellschaft in den 1920er Jahren war Theodor Fontanes Effi Briest mit 21 Steinzeichnungen von Max Liebermann, Jahresgabe für 1926/27, gedruckt in der Officina Serpentis in Berlin. Neben illustrierten Büchern und der Wiederentdeckung alter Texte in neuer typographischer Gestaltung waren es auch Hilfsmittel für den Buchliebhaber, die von der Maximilian-Gesellschaft gefördert wurden, so etwa das Buch vom Papier von Armin Renker, das zuerst 1930 erschien und als Jahresgabe für das Jahr 1929 verteilt wurde, sowie das bedeutende Werk Die Buchillustration des XVIII. Jahrhunderts in Deutschland, Österreich und der Schweiz von Maria Lanckorońska und Richard Oehler, deren drei Bände in den Jahren 1932 bis 1934 erschienen sind und das wegen der hohen Kosten gemeinsam von den Frankfurter Bibliophilen, dem Insel-Verlag und der Maximilian-Gesellschaft in einer nummerierten Auflage von 800 Exemplaren hergestellt wurde. Bezeichnend für die Maximilian-Gesellschaft in den ersten Jahrzehnten war auch die Fülle von kleineren Veröffentlichungen, die von vielen Mitgliedern auf eigene Kosten hergestellt und bei den Jahresversammlungen verteilt wurden.
Die Maximilian-Gesellschaft
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Die politische Entwicklung von 1933 bis 1945 war für alle deutschen bibliophilen Gesellschaften mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Ab 1934 mussten sie der Reichsschrifttumskammer angehören und sich der Gesellschaft der Bibliophilen als Dachorganisation anschließen. Im Jahre 1938 wurden die jüdischen Mitglieder durch eine Satzungsänderung ausgeschlossen, soweit sie nicht längst durch Austritt oder Emigration die Gesellschaft verlassen hatten. Durch diese Entwicklung verlor die Maximilian-Gesellschaft eine große Anzahl gerade derjenigen Mitglieder, die durch ihr Engagement und durch ihren finanziellen Beitrag wesentlich zum Gesicht des Vereins beigetragen hatten. Am Ende dieser politisch gewollten Austritts- und Ausschlusswelle bestand die Gesellschaft nur noch aus etwa 100 Mitgliedern. Bald darauf, im Jahre 1940, wurde in der Reichsschrifttumskammer eine »Fachschaft Bibliophile Vereine und Gesellschaften« begründet. Paul Hampf, Direktor der Commerzbank, der den 1936 verstorbenen Solf im folgenden Jahr als Vorsitzenden der Maximilian-Gesellschaft abgelöst hatte, wurde zum Leiter der Fachschaft bestimmt. Hampf passte sich den politischen Grundsätzen der nationalsozialistischen Kulturpolitik an und gewann durch diese Ausrichtung zahlreiche neue Mitglieder. In den letzten Kriegsjahren gab es keine Aktivitäten der Maximilian-Gesellschaft mehr. Ihr Archiv, das in den Tresoren der Berliner Commerzbank gelagert war, verbrannte vollständig. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Maximilian-Gesellschaft in Hamburg wiederbegründet. Es ist das Verdienst des Buchhändlers und Verlegers Ernst L. Hauswedell und des damaligen Direktors der Hamburger Kunsthalle Carl Georg Heise, die Gesellschaft wiederzubeleben und gemeinsam mit dem an der Hamburger Landeskunstschule lehrenden Einbandkünstler Ignatz Wiemeler und dem Direktor der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Hermann Tiemann die Aufgaben neu zu definieren. Hamburg wurde nun zum Zentrum der auch weiterhin überregional tätigen Gesellschaft, der Numerus Clausus, der die Mitgliederzahl auf 300 begrenzt hatte, wurde als nicht mehr zeitgemäß abgeschafft. In der ersten Mitgliederversammlung nach dem Zweiten Weltkrieg am 29. April 1946, in der die Verlegung von Berlin nach Hamburg beschlossen wurde und in der Hampf nicht mehr kandidierte, wurde Heise, der Direktor der Hamburger Kunsthalle, zum Vorsitzenden gewählt. Er übte das Amt bis zum Jahre 1951 aus. Anschließend kam es zu einer engen Verbindung der Gesellschaft mit der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, deren Direktoren Hermann Tiemann und Horst Gronemeyer die Gesellschaft lange Jahre geleitet haben: Tiemann 26 Jahre von 1952 bis
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1978 und Gronemeyer 20 Jahre von 1982 bis 2002. Dazwischen lag ein kurzes Intermezzo von 1979 bis 1981, in dem Hauswedell als Vorsitzender agierte. Seit dem Jahre 2003 war Eva Hanebutt-Benz, die Direktorin des Gutenberg-Museums in Mainz, die Vorsitzende der Gesellschaft, im Jahre 2009 übernahm dann der Verleger Wulf D. von Lucius den Vorsitz. Die Schwerpunkte der Veröffentlichungstätigkeit lagen weiterhin auf drei Feldern: Ein wichtiges Ziel bestand darin, Bücher durch hervorragende zeitgenössische Künstler illustrieren zu lassen. Oskar Kokoschka, Gerhard Marcks, Otto Rohse, Imre Reiner, Günther Stiller, Josua Reichert, Armin Sandig und Johannes Grützke und andere mehr konnten für diese Aufgabe gewonnen werden. Eine zweite Aufgabe war es, unbekannte Werke klassischer Autoren oder unveröffentlichte Texte zeitgenössischer Schriftsteller in hervorragender Ausstattung vorzulegen, oft verbunden mit dem erstgenannten Ziel, der Illustration durch bedeutende Künstler. Die dreibändige Ausgabe des Briefwechsels zwischen Meta Moller und Friedrich Gottlieb Klopstock (1956), die Wiederentdeckung des Barockromans Damon und Lisille von Johann Thomas (1966), die Erstdrucke Von Liebeskunst von Helmut Heißenbüttel (1985) und angesichts dessen, Betrachtungen von Günter Kunert (2006), seien als Beispiele genannt. Für die Buchgestaltung waren unter anderen verantwortlich: Hermann Zapf, Carl Keidel, Otto Rohse und insbesondere, mit zahlreichen Veröffentlichungen, Richard von Sichowsky. Seit Ende des 20. Jahrhunderts betreute die Lehrdruckerei der Technischen Universität Darmstadt unter Leitung von Walter Wilkes viele Publikationen der Gesellschaft. Schließlich wurde großer Wert auf buchwissenschaftliche Veröffentlichungen gelegt. An die Deutsche Buchkunst 1890 bis 1960 von Georg Kurt Schauer (1963) reihten sich Überblicke über Buchkunst und Literatur in Deutschland 1750 bis 1850 (1977) sowie Die Buchkultur im 15. und 16. Jahrhundert (Bd. 1: 1995; Bd. 2: 1999). Eine Publikation über Deutsche Buchkunst im 19. Jahrhundert ist in Vorbereitung. Auch substantielle Würdigungen einzelner im Bereich des Buchwesens tätiger Persönlichkeiten wie von Sichowsky (1982), Hauswedell (1987), Wiemeler (1990) und Rohse (1992) wurden vorgelegt. Zahlreiche Veröffentlichungen der Maximilian-Gesellschaft wurden unter die schönsten deutschen Bücher gewählt, so z. B. im Jahre 1971 Gottfried Benn: Aus dem Oratorium »Das Unaufhörliche«. Holzstiche von Otto Rohse oder 1981 Pietro della Valle: Reise-Beschreibung in Persien und Indien. Mit
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... einem farbig gedruckten arabischen Alphabet von Josua Reichert. – Zu Zeiten der Deutschen Demokratischen Republik wurden der Maximilian-Gesellschaft in den Jahren 1965 bis 1977 auf der Internationalen Buchkunstausstellung in Leipzig mehrere Medaillen für ihre Veröffentlichungen verliehen. – Mit dem vom Bundesministerium des Inneren der Bundesrepublik Deutschland gestifteten »Preis der Stiftung Buchkunst« wurden ausgezeichnet: 1982 Richard von Sichowsky, Typograph und 1991 Fernando Pessoa. Gedichte des Alberto Caeiro. Ausgewählt und illustriert von Karl Bohrmann. Die Maximilian-Gesellschaft hat die Möglichkeit, Ehrenmitglieder zu ernennen und um die Buchkunst verdiente Persönlichkeiten mit einer Ehrenurkunde auszuzeichnen. Zu Ehrenmitgliedern wurden ernannt: Hans Loubier (1929), Karl Klingspor (1943), Rudolf Alexander Schröder (1948), Carl Georg Heise (1955) und Hermann Tiemann (1976). Mit einer Ehrenurkunde wurden unter anderen ausgezeichnet: Fritz Homeyer, Fritz Helmuth Ehmcke, Josef Hegenbarth, Giovanni Mardersteig, Gotthard de Beauclair und Otto Rohse. Die Maximilian Gesellschaft hat zwei periodische Veröffentlichungen herausgebracht: Zuerst, von 1913 bis 1932, das sehr nüchtern gestaltete Jahrbuch der Maximilian-Gesellschaft, dann von 1957 bis 2001 das Philobiblon, eine Vierteljahrsschrift für Buch- und Graphiksammler, das im Auftrag der Maximilian-Gesellschaft im Verlag Dr. Ernst Hauswedell & Co. erschien und zunächst von Hauswedell, später von Reimar W. Fuchs redigiert wurde. Diese Zeitschrift, die qualitätsvolle Aufsätze und eine Fülle von Informationen aus dem Bereich der Buchkunst lieferte, erfreute sich großen Ansehens, war aber am Ende nicht mehr finanzierbar, da die Zahl der Mitglieder von ca. 1 200 in den 1980er Jahren auf etwa ca. 800 gesunken war. Seit dem Jahre 2002 beteiligt sich die Maximilian-Gesellschaft an der Zeitschrift Aus dem Antiquariat und verteilt diese an ihre Mitglieder. Auch in Zukunft will sich die Maximilian-Gesellschaft bemühen, hohe Qualitätsanforderungen an die durch sie veröffentlichten Bücher zu stellen, um so die zeitgenössische Buchkunst zu fördern. Dabei kommt es aber nicht allein darauf an, traditionelle Herstellungsweisen auf dem Gebiet der Druck-, Illustrations- und Einbandkunst zu bewahren und zu pflegen, sondern eine wichtige Aufgabe besteht auch darin, alle modernen technischen Möglichkeiten des Computerzeitalters mit dem Ziel zu nutzen, den Sammlern, Buchliebhabern und Buchwissenschaftlern ästhetisch befriedigende Ergebnisse vorzulegen. Nur eine solche Doppelstrategie, die sich zwar auf das Bewährte stützt, aber auch die Chancen des Neuen
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nutzt, kann bei einer jüngeren Generation Interesse wecken und das Überleben einer richtig verstandenen Bibliophilie auf Dauer gewährleisten. Die Maximilian-Gesellschaft, die sich seit Dezember 2005 »Maximilian-Gesellschaft e. V. für alte und neue Buchkunst« nennt, hat in drei – mit Bibliographien der Veröffentlichungen der Berichtsjahre versehenen – Chroniken ihre Tätigkeit dargestellt.
Maximilian-Gesellschaft Vorsitz: Prof. Dr. Wulf D. von Lucius Mitglieder: 700 Archiv: Gutenberg-Museum Liebfrauenplatz 5 55116 Mainz Geschäftsstelle: Traubenstraße 59 70176 Stuttgart http://www.maximilian-gesellschaft.de [email protected]
Publikationen in Auswahl 25 Jahre Maximilian-Gesellschaft. Berlin 1912–1937. Zusammengestellt v. Erich Scholem u. Karl Schönberg. Berlin: Steinkopf 1937. Maximilian-Gesellschaft. Chronik der zweiten fünfundzwanzig Jahre. Berlin 1937 bis 1943 (1946), Hamburg 1946 bis 1961. Zusammengestellt v. Ernst L. Hauswedell. Oldenburg: Stalling 1961. Maximilian-Gesellschaft. Chronik der dritten 25 Jahre. Hamburg 1961–1986. Zusammengestellt v. Werner Kayser. Mit einem Beitrag v. Dagmar Biegler: Zur Geschichte der Maximilian-Gesellschaft. Hamburg: Maximilian-Gesellschaft 1986.
HERBERT KÄSTNER
Der Leipziger Bibliophilen-Abend Bibliophile Vereinigungen hatten sich in England und Frankreich bereits im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts in der Absicht gebildet, einen gesellschaftlichen Kontakt zwischen den Sammlern herzustellen, ihnen ein Forum des Gesprächs zu eröffnen sowie seltene Drucke in bibliophiler Ausstattung für die Mitglieder herauszugeben. In Deutschland kam es erst 1899 zur Gründung einer Gesellschaft der Bibliophilen. Die 1871 vollzogene Reichseinigung, in deren Gefolge sich das nationale Bewusstsein stärkte, und der wirtschaftliche Aufschwung der Gründerjahre werden diesen Prozess ebenso befördert haben wie die in dieser Zeit wiedererwachte Sensibilität für Buchästhetik und Buchgestaltung.
1 Der Leipziger Bibliophilen-Abend (1904–1933) Die Empfehlung des Vorstands der Gesellschaft der Bibliophilen, in den mitgliederstarken Orten lokale Gruppierungen zu bilden, um einen freundschaftlichen Verkehr der durch die gemeinsamen Interessen Verbundenen anzuregen und in Form zwangloser geselliger Zusammenkünfte geistigen Austausch zu pflegen, fand in der Buchstadt Leipzig lebhafte Zustimmung. Auf Initiative des Germanisten Georg Witkowski und des Druckereibesitzers Johannes Baensch-Drugulin, beides Vorstandsmitglieder der Gesellschaft der Bibliophilen, schlossen sich am 4. Februar 1904 zunächst 17 Leipziger Herren zum Leipziger Bibliophilen-Abend zusammen. Die rasch wachsende Zahl der Mitglieder wurde bald satzungsgemäß auf 99 beschränkt und trug der ältesten lokalen bibliophilen Vereinigung Deutschlands das Synomym Die Leipziger Neunundneunzig ein. Leipzig war im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts eine der Metropolen der Bücherwelt. Buchgewerbe, Verlagswesen und Kommissionshandel blühten, Antiquariate und Auktionshäuser pflegten Geschäftskontakte rund um den Globus. Die Leistungen der Akademie für graphische Künste und Buchgewerbe und die internationalen Buchkunst- und Buchgewer-
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be-Ausstellungen festigten den Ruf Leipzigs als Stadt des Buchs und der Buchkunst. Auf solchem Humus konnte die Bibliophilie prächtig gedeihen. In den knapp drei Jahrzehnten seines Bestehens hat der Leipziger Bibliophilen-Abend einen unverwechselbaren Beitrag zum kulturellen Leben Leipzigs und zur deutschen Buchkunst geleistet. Unter dem Vorsitz von Gustav Kirstein (Verlag E. A. Seemann), den dieser seit 1912 ununterbrochen innehatte, gewann der Bibliophilen-Abend hohen Rang und Wert weit über lokale Grenzen hinaus und konnte Verleger und Druckereibesitzer, Buchhändler und Antiquare, Buchkünstler und Bibliothekare, Universitätsprofessoren und Musiker an sich binden. Durch deren Kompetenz erfuhren die Teilnehmer an den geselligen Vortragsabenden wechselseitig Anregungen, die in mannigfacher Weise fruchtbar wurden. Die im Verzeichnis der Veröffentlichungen der deutschen bibliophilen Gesellschaften genannten zwanzig sogenannten ordentlichen Veröffentlichungen und mehr als 160 Gaben bekunden eindrucksvoll eine rege Editionstätigkeit wie auch die Vielfalt der von den Bibliophilen gepflegten Interessengebiete.1 Als besonders gelungen kann man die 1929 ausgegebene Festschrift zum 25-jährigen Bestehen ansehen, die unter die fünfzig schönsten deutschen Bücher dieses Jahrgangs gewählt wurde.2 Die »Internationale Ausstellung für Buchgewerbe und Graphik« (Bugra) 1914, die »Internationale Buchkunst-Ausstellung« (iba) 1927 und die Ausstellung »Goethe in der Buchkunst der Welt« 1931 waren ebenso Höhepunkte im Leben des Leipziger Bibliophilen-Abends wie die sechs in Leipzig ausgerichteten Jahrestagungen der Gesellschaft der Bibliophilen. Doch auch in dieser insgesamt glanzvollen Periode blieben schwere Zeiten nicht aus. Der Erste Weltkrieg und die Inflationsjahre brachten Leid und Entbehrungen für manches Mitglied des Leipziger BibliophilenAbends. Dennoch wurde der Zusammenhalt bewahrt und die Arbeit kam nicht zum Erliegen. Als jedoch 1933 der braune Ungeist über das Land kam, menschenverachtend und kulturzerstörend, ging auch die große Zeit des Leipziger Bibliophilen-Abends zu Ende. Auf die geistige Bevormundung durch das nationalsozialistische Regime und die Nötigung, sich von den nichtarischen Mitgliedern zu trennen, reagierten die Leipziger Neunundneunzig faktisch mit Selbstauflösung: Nach dem Mai 1933 fanden sie sich nicht mehr zusammen, und auch ein späterer Versuch einer Wiederbelebung unter anderem Namen scheiterte. 1 2
Vgl. Rodenberg: Deutsche Bibliophilie, S. 64–87. Vgl. Kirstein: Die Leipziger Neunundneunzig.
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2 Die Leipziger Gruppe der Pirckheimer-Gesellschaft (1956–1990) Leipzig, das durch Nazidiktatur, Krieg und Nachkrieg materiell und intellektuell schwer geschädigt war, hatte sich doch die Atmosphäre einer Buchstadt erhalten und erfolgreich eine Neubelebung der Traditionen in Verlagswesen und Buchgewerbe begonnen. Die Leipziger Buchmesse ermöglichte jeweils im Frühjahr und im Herbst einen Blick über die lokalen Grenzen hinweg. Die Hochschule für Grafik und Buchkunst mühte sich viel versprechend um eine zeitgemäße Buchästhetik, und seit 1952 wurden in der Deutschen Bücherei alljährlich die »Schönsten Bücher« des Landes gekürt. Auch trug man sich bereits wieder mit dem Gedanken an eine Fortführung der internationalen Buchkunst-Ausstellungen, die dann auch 1959, 1965, 1971, 1977, 1982 und 1989 stattfanden. Leipzig bot mithin noch immer gute Voraussetzungen für die Wiederbelebung eines bibliophilen Freundeskreises. Die Startbedingungen für einen Neubeginn waren Mitte der 1950er Jahre allerdings um ein Vielfaches schwieriger als zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als der Leipziger Bibliophilen-Abend in einer Zeit wirtschaftlicher Prosperität und gesellschaftlicher Stabilität entstand. Die Folgen von Krieg und den allein von der DDR zu tragenden Reparationsleistungen erschwerten eine rasche Erholung der Volkswirtschaft; die ökonomische Lage der Bücherfreunde war entsprechend. Im Kalten Krieg, der von beiden Seiten mit großer Härte geführt wurde, erwiesen sich wirtschaftliche Schwäche und offene Grenzen als widrig für gesellschaftliche Stabilität. Überdies wurden in den DDR-Führungskreisen Vorbehalte gegen bibliophile Vereinigungen als angeblich exklusive, rückwärtsgewandte, bürgerliche Zirkel genährt, die dem Ziel der Demokratisierung von Buch und Wissen nicht förderlich seien. Der Diplomatie und Beharrlichkeit von solchen Persönlichkeiten wie Bruno Kaiser, Jürgen Kuczynski, Werner Klemke und anderen ist es zu danken, dass nach längerer Vorbereitungszeit am 29. Januar 1956 die Pirckheimer-Gesellschaft im Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands (später Kulturbund der DDR) gegründet werden konnte. Sogleich entstanden in den Buchzentren der DDR, Berlin und Leipzig, Ortsvereinigungen, in Leipzig unter Leitung des angesehenen Antiquars Karl Markert. In der ersten Zeit wurde das Programm gemeinsam mit dem Deutschen Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Bücherei gestaltet; seit Mitte der 1970er Jahre gewann es zunehmend eigene Konturen. Auch wurden Ausstellungen, großenteils aus
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den Beständen der Mitglieder, und Exkursionen zu kulturhistorisch bedeutsamen Orten ausgerichtet. Alle diese Unternehmungen sind in einer Publikation dokumentiert.3 Die Zahl der Mitglieder, nun keinem Numerus Clausus mehr unterworfen, hatte bald die Hunderter-Schranke überschritten, und unter den Interessenten aus allen sozialen Schichten fanden sich erfreulich viele junge Bücherfreunde. Bedeutungsvoll für die weitere Entwicklung erwies sich die dezidierte Rückbesinnung auf die Traditionen des Leipziger Bibliophilen-Abends, beginnend im Januar 1984 mit einem Vortrag von Lothar Sommer über Geschichte, Größe und Grenzen dieser bibliophilen Verbindung.4 Im Bestreben, wie diese durch die Edition bibliophiler Drucke die Leipziger Buchkunst zu fördern, entstand das Projekt der Reihe 24 x 34. Blätter zu Literatur und Graphik, deren erstes Heft 1986 in einer Auflage von 50 Exemplaren erschien. Allerdings sollten nicht altbewährte Texte veröffentlicht werden; beabsichtigt hingegen war, sich mit Erstdrucken kritischer Texte von Gegenwartsautoren in die Debatte zu gesellschaftlichen Problemen einzubringen. Die Bereitschaft von Autoren und Graphikern war ermutigend groß, und so konnten in den Jahren von 1985 bis 1990 insgesamt 15 Hefte erscheinen, einheitlich zwar im Format, das der Reihe ihren Namen gegeben hatte, aber von beglückender Vielfalt in literarischer wie graphischer Handschrift und buchkünstlerischer Gestaltung. Nach Lothar Lang war die Reihe 24 x 34 »mit ihrer reichen thematischen und formalen Vielfalt in Text, Graphik und Typographie ohne Zweifel seit der zweiten Hälfte der achtziger Jahre in zunehmendem Maße ein wichtiges, anregendes Experimentierfeld für Buchgraphik«; es »nähern sich die ›Blätter für Literatur und Graphik‹ in der buchkünstlerischen Konzeption und graphischen Realisation der Avantgarde, sind offene Versuche, die auf Künftiges weisen.«5
3 Wirkungsfelder des wiedergegründeten Leipziger Bibliophilen-Abends (seit 1991) Nach dem Abgang der DDR von der politischen Bühne, als vieles fragwürdig und alles unsicher geworden war – auch das künftige Los des Kulturbunds –, lag es nahe, das Schicksal in eigene Regie zu nehmen und den 3 4 5
Vgl. Kästner: Fünfunddreißig Jahre Bibliophilie. Vgl. Sommer: Der Leipziger Bibliophilen-Abend; Sommer: Leipziger Bibliophilen-Abend. Ergänzungsbibliographie. Lang: Leipzigs Neue Bibliophilie, S. 282 u. 286.
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Leipziger Bibliophilen-Abend wiederzugründen, zumal die Traditionen dieser historischen Vereinigung die Arbeit der Leipziger PirckheimerGruppe schon seit einigen Jahren mitbestimmt hatten. Deren Mitglieder unterstützten einen entspechenden, am 1. August 1990 vom Vorsitzenden Herbert Kästner eingebrachten Vorschlag, und am 8. Januar 1991, im fünfunddreißigsten Jahr der Pirckheimer-Gesellschaft, wurde diese Wiedergründung vollzogen und ein neues Kapitel in der Geschichte der bibliophilen Vereinigungen der Buchstadt Leipzig aufgeschlagen. Laut Satzung will der Leipziger Bibliophilen-Abend zur Pflege und Hebung der Buchkultur beitragen, die wissenschaftliche Bibliophilie und die deutsche, besonders aber die Leipziger Buchkunst unterstützen, das Sammeln und Erschließen von schönen Büchern und Werken der graphischen Künste fördern sowie einen freundschaftlichen Verkehr der durch die gemeinsame Liebe zu Buch und Graphik Verbundenen anregen. In diesem Bestreben sieht er sich in der Tradition des von 1904 bis 1933 bestehenden bibliophilen Vereins gleichen Namens und in enger Verbindung mit der Pirckheimer-Gesellschaft.6
Die Wiedergründung des Leipziger Bibliophilen-Abends ist nicht nur lokal, sondern in einem erstaunlich weiten Kreis auf eine sehr erfreuliche Resonanz gestoßen. Dies belegt sowohl die breite publizistische Beachtung als auch ein stetes Wachstum der Mitgliederzahl von 105 am Gründungstag bis auf 225 aus allen deutschen Bundesländern und dem deutschsprachigen Ausland im Jahre 2009. Der Realisierung der in der Satzung formulierten Ziele dienen monatliche Veranstaltungen zu vielfältigen Themen aus Buchwissenschaft und Bibilophilie, Ausstellungen und Exkursionen sowie insbesondere Editionen bibliophiler Drucke. Für die Jahre bis 1990 konnten – trotz spärlicher Quellenlage für die Anfangsjahre – 300 öffentliche Veranstaltungen der Pirckheimer-Gruppe nachgewiesen werden,7 und in den ersten 19 Jahren seit Wiedergründung hat der Leipziger Bibliophilen-Abend bereits über 250 Veranstaltungen ausgerichtet, unter denen sich die jährliche Präsentation der Schönsten deutschen Bücher, das Werkstattgespräch mit einem Künstler, Pressendrucker oder Buchgestalter sowie der Gesellige Abend, an dem die Mitglieder Neuerwerbungen, Schätze und Kuriosa aus ihren Sammlungen präsentieren und kommentieren, besonderer Beliebtheit erfreuen. Zu Themen der Verlags- und Buchhandelsgeschichte, des illustrierten Buchs, zum Œuvre von Graphikern und Buchgestaltern, zu literarischen und künstlerischen Stilepochen ist es gelungen, namhafte Referen6 7
Kästner: Fünfunddreißig Jahre Bibliophilie, S. 59. Kästner, S. 23–51.
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ten nach Leipzig einzuladen. Nach der deutschen Vereinigung war es ein besonderes Anliegen, die buchkünstlerischen Leistungen der Pressendrucker, Kleinverleger und Künstlergruppen Westdeutschlands bekanntzumachen, die sich in über 20 Veranstaltungen in Leipzig präsentierten. Zu besonderen Höhepunkten gestalteten sich die Festveranstaltungen zum 10jährigen Bestehen des wiedergegründeten Vereins 1991 mit dem Festvortrag des Verlegers und damaligen Vorsitzenden des Stiftung Buchkunst Dieter Beuermann, zum Zentenarium des Leipziger Bibliophilen-Abends 2004 mit dem Festvortrag von Peter Neumann, Vorstandsmitglied und Historiograph der Gesellschaft der Bibliophilen, und die Begegnung mit den Mitgliedern dieser Gesellschaft während der 1995 in Leipzig und damit erstmals wieder im Osten Deutschlands ausgerichteten Jahrestagung. In jedem Jahr führen zwei Exkursionen an kultur- und kunsthistorisch bedeutsame Stätten oder zu bemerkenswerten Ausstellungen. In den ersten Jahren waren die Ziele dieser bibliophilen Bildungsreisen wegen des verständlichen Nachholbedarfs zumeist früher nicht erreichbare Orte wie Wolfenbüttel, Augsburg, Bayreuth, Mainz, Nürnberg, Regensburg, Kloster Waldsassen und Schloß Corvey bei Höxter. Nachhaltige Eindrücke vermittelten aber auch Reisen zum Kloster Tepl und zum Schloß Kynžvart mit der Bibliothek Fürst Metternichs sowie Ausflüge in die nähere sächsisch-thüringische Kulturlandschaft. Mit der Fertigstellung des Hauses des Buches in Leipzig im Jahr 1996, in dem der Leipziger Bibliophilen-Abend sowohl ein kleines Büro unterhält als auch die Veranstaltungen ausrichtet, eröffnete sich auch die Möglichkeit für Expositionen. Es präsentierten sich die Fischbachpresse (Österreich) gemeinsam mit der Edition S. (Meran), die Edition Visel (Memmingen) und die Rixdorfer Künstlergruppe; der Münchner Bibliophile Reinhard Grüner stellte Künstlerbücher und Buchobjekte aus seiner Sammlung vor. Ein Höhepunkt war die Ausstellung in eigener Sache aus Anlass des 10-jährigen Bestehens des Leipziger Bibliophilen-Abends, in der über fünfzig in diesem Dezennium entstandene bibliophile Drucke gezeigt werden konnten. Personalausstellungen machten mit Werken von Gertrude Degenhardt, Hans Fronius, Karl-Georg Hirsch, Frans Masereel, Reinhard Minkewitz und Baldwin Zettl bekannt. In der Satzung hat sich der Leipziger Bibliophilen-Abend ausdrücklich zur Herausgabe bibliophiler Drucke bekannt und seine Verpflichtung betont, den Ruf der Leipziger Buchkunst zu wahren und zu mehren. Dies schien besonders geboten in der Wendezeit, in der die Verlage und polygraphischen Betriebe dieser Stadt parzelliert und klein geschrumpft wur-
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den oder sogleich bankrottieren mussten, und gab Anlass zur Begründung einer bibliophilen Reihe, die in Betonung ihrer Herkunft den Namen Leipziger Drucke erhielt und deren gesamte künstlerische Gestaltung und buchtechnische Fertigung durch Leipziger Graphiker, Buchkünstler und Offizinen erfolgen sollte. Die Resonanz auf das im Frühsommer 1991 unter dem Titel Tradition und Neubeginn – Buchkunst aus Leipzig ausgesandte Angebot zur Subskription war überaus erfreulich, und da in kurzer Zeit fast 140 Interessenten für die Auflage von 150 Exemplaren zeichneten, gewann das Unternehmen auch eine wünschenswerte materielle Stabilität. Seither erscheint in jedem Jahr solch ein Leipziger Druck, zumeist bereits vor Auslieferung vergriffen, und die nun vorliegenden 19 Ausgaben haben zwölf nationale und internationale Auszeichnungen erringen können. Hervorgehoben seien die Ausgaben mit Holzschnitten von Rolf Kuhrt (Voltaire: Candide, 1999, Heinrich von Kleist: Die Marquise von O…, 2005), mit Kupferstichen von Baldwin Zettl (Heinrich Heine: Florentinische Nächte, 1995, Bertolt Brecht: Der anachronistische Zug oder Freiheit und Democracy, 2006), mit Radierungen von Reinhard Minkewitz (François Rabelais: Die Abtei Thelem, 1992, Das Gilgamesch-Epos, 2007) und mit Steindrucken von Rolf Münzner (Georg Weerth: Leben und Taten des berühmten Ritters Schnapphahnski, 1994, Johannes von Saaz: Der Ackermann und der Tod, 2000). Die mit Holzschnitten von Hans Ticha geschmückte Ausgabe der Flüchtlingsgespräche von Brecht (1997) errang eine Silbermedaille unter den Schönsten Büchern aus aller Welt 1998, und im Jahr 2002 erschien in zweifarbigem Buchdruck und mit Radierungen von Volker Stelzmann Lessings Nathan der Weise, ergänzt durch Texte zur Duldsamkeit aus fünf Weltreligionen. In Ergänzung der Reihe der Leipziger Drucke, in der vorzugsweise klassische Texte in einer zeitgemäßen graphischen und typographischen Gestaltung vorgelegt werden, sollte nun auch die bereits 1985, in der Pirckheimer-Zeit, begonnene Serie 24 x 34, die ausschließlich Erstdrucken vorbehalten war, weitergeführt werden. Es wurde beschlossen, den fünfzehn bis 1990 der Zensur der Macht abgelisteten Heften weitere fünfzehn – nun gegen die Zensur des Geldes – folgen zu lassen. Im Jahr 2000 erschien als Nummer 30 das letzte Heft mit dem Erstdruck eines Textes von Karl Mickel. Die Intentionen dieser Serie werden nun, seit 2002, fortgeführt mit der Reihe Stich-Wort, in der pro Jahr zwei bis drei Ausgaben vorgelegt werden. Unter den Autoren sind Volker Braun, Christoph Hein, Kerstin Hensel, Wolfgang Hilbig, Angela Krauß, Richard Pietraß, Andreas Reimann, Thomas Rosenlöcher, Ingo Schulze und Jens Sparschuh. Originalgraphisch wurden die Texte begleitet u. a. von Hartwig Ebersbach,
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Karl-Georg Hirsch, Horst Hussel, Joachim Jansong, Reinhard Minkewitz, Thomas M. Müller, Nuria Quevedo, Peter Sylvester und Baldwin Zettl. Die typographische Einrichtung und Gesamtgestaltung lag, wie auch bei den Leipziger Drucken, in der Hand erfahrener und auch junger Buchkünstler, von denen Sabine Golde, André Grau, Walter Schiller und Gert Wunderlich genannt seien. Für eine weitere Reihe wurden mehrere Autoren angeregt, sich in je einem Zyklus von sieben Gedichten zum Totentanz-Thema zu äußern. Aber nicht nur Menschen verschiedenen Geschlechts, Alters, Standes und Berufs sollten vom Tod fortgeführt werden; das Aussterben ganzer Tierund Pflanzenarten und der Untergang von Ideen und Utopien, bei dem der Mensch die Rolle des Todes übernimmt, legten eine Erweiterung des Totentanz-Motivs nahe. In den Jahren von 1998 bis 2002 erschienen sechs Bände mit Texten von Kerstin Hensel (unter den »Schönsten deutschen Büchern 1998«), Hubert Schirneck, Peter Gosse, Volker Braun, Kathrin Schmidt und Richard Pietraß und einem Holzstich-Zyklus von Karl-Georg Hirsch. Der Insel Verlag hat diese Neuen Totentänze in der beliebten Insel-Bücherei einem größeren Publikum zugänglich gemacht. Neben diesen Editionsreihen hat der Leipziger Bibliophilen-Abend eine Reihe von Gelegenheitsdrucken, oft als Jahresgaben für die Mitglieder, herausgegeben. Zur Jahrestagung der Gesellschaft der Bibliophilen 1995 in Leipzig erhielten die Teilnehmer als Gastgeschenk den Druck Wenn Jerichow zum Westen gekommen wäre von Uwe Johnson mit zwei Holzstichen von Hirsch. Ein die Kräfte des Bibliophilen-Abends fast übersteigendes Vorhaben wurde 2003 doch noch zu einem glücklichen Ende gebracht: das Werkverzeichnis der Kupferstiche des Leipziger Künstlers Zettl mit mehr als 300 Abbildungen. Aus Anlass des 10-jährigen Bestehens des Leipziger Bibliophilen-Abends wurde eine opulente, mit zehn Originalgraphiken geschmückte Festschrift vorgelegt, die auch die Jahresprogramme sowie eine Bibliographie der bis zum Jahr 2000 erschienenen Drucke enthält.8 Die jeweils aktuelle Bibliographie ist stets auf der Website des Vereins abrufbar.9 Der Leipziger Bibliophilen-Abend betrachtet es als eine wichtige Aufgabe, die Zeugnisse der Leipziger bibliophilen Gesellschaften zu sammeln, zu archivieren sowie nach Möglichkeit die Vita jedes der Mitglieder des historischen Leipziger Bibliophilen-Abends zu rekonstruieren. Zu diesem 8 9
Kästner: Zehn Jahre Leipziger Bibliophilen-Abend. http://www.leipziger-bibliophilen-abend.de.
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Zweck wurde im Jahr 1996 ein Archiv begründet, in dem alle Veröffentlichungen und alle noch auffindbaren Dokumente über den Vorgängerverein aus Jahrbüchern, Zeitschriften, Zeitungen und anderen Quellen, sämtliche Editionen der Leipziger Pirckheimer-Gruppe und des jetzigen Bibliophilen-Abends sowie das gesamte Schriftgut aufbewahrt wird. Inzwischen sind insbesondere die seit 1904 erschienenen Publikationen nahezu komplett vorhanden, und auch die Spurensuche nach den Lebenswegen der ehemaligen Mitglieder hat schöne Erfolge gezeitigt. In vieljähriger aufopferungsvoller detektivischer Fahndung ist eine Dokumentation über die zeit- und lokalgeschichtliche Einbindung des historischen Leipziger Bibliophilen-Abends entstanden, die darüber hinaus auch Dossiers über Leben und Wirken seiner – im Laufe der Jahre doch fast 240 – Mitglieder enthält. Die Dokumentation, bestehend aus 22 Ordnern mit Quellen sowie einer zusammenfassenden Darstellung in acht Bänden, kann zu wissenschaftlichen Zwecken im Archiv benutzt werden. Einige Resultate dieser Untersuchungen sind niedergelegt in der Festschrift zum 100. Gründungsjubiläum des Leipziger Bibliophilen-Abends im Jahre 2004.10 Damit konnte die letzte Lücke in einer zusammenhängenden Darstellung der Leipziger bibliophilen Gesellschaften geschlossen werden, wie aus dem nachfolgenden Literaturverzeichnis ersichtlich ist.
Leipziger Bibliophilen-Abend Vorsitz: Herbert Kästner Mitglieder: 225 Geschäftsstelle: Leipziger Bibliophilen-Abend e. V. Gerichtsweg 28 04103 Leipzig http://www.leipziger-bibliophilen-abend.de [email protected]
10
Vgl. Kästner: »… mitten in Leipzig, …«.
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Literaturverzeichnis Kästner, Herbert (Hrsg.): Fünfunddreißig Jahre Bibliophilie in Leipzig. Die Leipziger Gruppe der Pirckheimer-Gesellschaft von 1956 bis 1991. Leipzig: Leipziger Gruppe der Pirckheimer-Gesellschaft 1991. Kästner, Herbert: Zur Wiedergründung des Leipziger Bibliophilen-Abends. In: AdA 1991, H. 3, S. A 109–A 111. Kästner, Herbert: Wiedergründung des Leipziger Bibliophilen-Abends. In: LJB 1 (1991), S. 317–320. Kästner, Herbert (Hrsg.): Zehn Jahre Leipziger Bibliophilen-Abend e. V. Eine Festschrift mit Originalbeiträgen von zehn Autoren und Originalgraphiken von zehn Künstlern sowie mit typographischen Blättern von vier Buchgestaltern. Mit Bibliographie und Dokumentation. Leipzig: Leipziger Bibliophilen-Abend 2001. Kästner, Herbert (Hrsg.): »… mitten in Leipzig, umgeben von eignen Kunstschätzen und Sammlungen andrer …«. Beiträge zu Leipziger Buchkunst und Bibliophilie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Hrsg. aus Anlass des 100. Gründungsjubiläums des Leipziger Bibliophilen-Abends. Leipzig: Leipziger Bibliophilen-Abend 2004. Kästner, Herbert: Fünf bibliophile Jahrzehnte in Leipzig. In: Jubelrufe aus Bücherstapeln. Die Pirckheimer-Gesellschaft 1956 bis 2006. Ein Almanach. Hrsg. v. Carsten Wurm. Wiesbaden: Harrassowitz 2006, S. 39–47. Kirstein, Gustav u. a.: Die Leipziger Neunundneunzig. Zum 25jährigen Bestehen des Leipziger Bibliophilen-Abends. Leipzig 1929. Knopf, Sabine: Zehn Jahre Leipziger Bibliophilen-Abend e. V. 1991–2001. In: AdA 2001, H. 12, S. A 709–A 712. Knopf, Sabine: Widerschein des Geistes. Hundert Jahre Leipziger Bibliophilen-Abend. In: Leipziger Blätter 2004, H. 44, S. 59–61. Lang, Lothar: Leipzigs Neue Bibliophilie. In: Buchkunst und Kunstgeschichte im 20. Jahrhundert. Stuttgart: Hiersemann 2005, S. 278–286. Pietsch, Egbert: Im Namen des Buches. Zehn Jahre Leipziger Bibliophilen-Abend. In: Leipziger Blätter 2001, H. 38, S. 32–34. Rodenberg, Julius (Hrsg.): Deutsche Bibliophilie in drei Jahrzehnten. Verzeichnis der Veröffentlichungen der deutschen bibliophilen Gesellschaften und der ihnen gewidmeten Gaben 1898–1930. Leipzig: Gesellschaft der Freunde der deutschen Bücherei 1931. Sehrt, Hans-Georg: Anspruchsvolle Bibliophilie in Sachsen. Zehn Jahre Leipziger Bibliophilen-Abend. In: Marginalien 2001, H. 162, S. 3–15. Sommer, Lothar: Der Leipziger Bibliophilen-Abend 1904–1933. In: Marginalien 1985, H. 98, S. 4–20. Sommer, Lothar: Leipziger Bibliophilen-Abend. Ergänzungsbibliographie 1931–1933. In: Marginalien 1985, H. 100, S. 71–84.
GEORG WINTER
Die Wiener Bibliophilen-Gesellschaft 1899 war es im Deutschen Reich zur Gründung der Gesellschaft der Bibliophilen (GdB) gekommen, unter deren 800 Mitgliedern die österreichischen Buchfreunde einen beträchtlichen Anteil ausmachten. Als es in den deutschen Städten zur Bildung von lokalen Bibliophilen-Abenden kam, war es nahe liegend, auch in Wien ähnliches zu begründen. Ein entsprechendes Schreiben erging im Herbst 1911 an die Wiener Mitglieder des deutschen Vereins, verfasst vom Schriftsteller Hans Feigl (1869–1937), einer der verdienstvollsten bibliophilen Persönlichkeiten und Begründer der Wiener Bibliophilen-Gesellschaft (WBG). Jedoch wurde der Vorsatz, eine lokale Gruppe des Weimarer Vereins der Gesellschaft der Bibliophilen zu gründen bald verworfen. Man wollte gleich eine vom deutschen Verein selbstständige Vereinigung schaffen. Also erging ein weiteres Einladungsschreiben zur Gründung einer eigenständigen Gesellschaft von Buchliebhabern, diesmal nicht mehr nur auf die Wiener Mitglieder der deutschen Brudervereinigung beschränkt. Die Vereinssatzung erfuhr eine rasche behördliche Genehmigung, so dass bereits am 3. März 1912 die Gründungsversammlung abgehalten werden konnte. Der Zulauf muss für heutige Verhältnisse als enorm bezeichnet werden – im ersten Vereinsjahr erreichte die Vereinigung bereits 400 Mitglieder. Unter den Mitgliedern finden sich illustre Namen. Literaten (Hermann Bahr, Richard Kralik, Richard Schaukal), Theaterdirektoren (Burgtheater: Hugo Thimig, Anton Wildgans), Bibliotheksdirektoren (von der Österreichischen Nationalbibliothek, der k. k. Fideikommiss-Bibliothek), Aristokraten (Fürst Franz von und zu Liechtenstein) um nur einige zu nennen. Die Mehrheit der Vereinsmitglieder bestand aus Ärzten, Richtern, Ingenieuren, Beamten, Universitätsprofessoren, Bankangestellten, Militärs und Industriellen. Nicht zu vergessen, jenen die beruflich nahe am Buch waren: Antiquare, Buchhändler und last but not least: Bibliothekare. Bereits ein halbes Jahr später konnte sich die junge österreichische Vereinigung durch Ausrichtung einer Bibliophilentagung bewähren. Es
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Georg Winter
war der uns schon bekannte Feigl, der 1911 auf der Generalversammlung der Deutschen Bibliophilen den Vorschlag einbrachte, erstmals bei der Wahl des Versammlungsorts über die Grenzen des Deutschen Reichs hinauszugehen und die Reichs- und Residenzstadt Wien für diesen Zweck zu bestimmen. Man konnte da mit gutem Grund auf die zahlreichen österreichischen und speziell Wiener Mitglieder verweisen. Die neue Situation spornte die nun selbständig gewordene österreichische BibliophilenGesellschaft an, alle Kräfte zu mobilisieren. Es war klarerweise der Ehrgeiz der erst sechs Monate existierenden Wiener Gruppe von Buchliebhabern, einen glanzvollen Rahmen für die deutsche Versammlung auf die Beine zu stellen. Die vom 28. bis 30. September 1912 stattfindende Generalversammlung samt Begleitprogramm war durchaus erfolgreich. Im Bericht der GdB heißt es: »[…] der glänzende Verlauf der Wiener Tagung hat bewiesen, wie auch in dem befreundeten österreichischen Reich unsere Bestrebungen Widerhall finden.«1 Der zwei Jahre später ausbrechende Weltkrieg brachte naturgemäß mancherlei Einschränkungen mit sich. Versammlungsabende mit Vorträgen konnten nur mehr selten stattfinden, ganz abgerissen sind sie allerdings nie. Die Reihe der Jahresgaben an die Mitglieder der WBG begann bereits im Gründungsjahr 1912 und bis 1937 gelang es jedes bzw. jedes zweite Jahr ein entsprechendes Druckwerk den Mitgliedern zuzustellen. 16 Jahre nach der Ausrichtung für die deutsche GdB war es wieder soweit. Ein weiteres Mal sollte die Gastgeberrolle für eine Generalversammlung der Weimarer Bibliophilenvereinigung übernommen werden. Vom 28. September bis zum 2. Oktober 1928 hieß die WBG in Wien ihre deutschen Kollegen willkommen. Diese Tagung fiel ins letzte Jahr der Amtszeit von Bundespräsident Michael Hainisch, der, wiewohl nicht Mitglied der Wiener Bibliophilen, dennoch ein deklarierter Förderer ihrer Bemühungen war. Seiner Unterstützung war es auch zu verdanken, dass die Generalversammlung der GdB in den Amtsräumen der Präsidentschaftskanzlei, also in der Wiener Hofburg abgehalten werden konnte. Weitere Programmpunkte: Festvorstellung im Burgtheater, ein Abend im Großen Saal des Wiener Rathauses, Besuch der Nationalbibliothek, Festmahl im Sophiensaal, Exkursion ins Stift Klosterneuburg, Exkursion aufs Schloss Ernstbrunn, Schlussbesuch beim deutschen Gesandten. 1
Tagungsbericht der Generalversammlung der Gesellschaft der Bibliophilen in Wien. Weimar: Gesellschaft der Bibliophilen 1913. Zitiert nach: Rabenlechner, Michael Maria: 25 Jahre Wiener Bibliophilen-Gesellschaft. In: Jahrbuch der Deutschen Bibliophilen und Literaturfreunde 21/22 (1937), S. 21.
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In diese Jahre muss die Blütezeit der WBG gesetzt werden. Der österreichische Ständestaat ab 1933/34 mit seiner pro-österreichischen und anti-nationalsozialistischen Ideologie brachte zwangsläufig eine Lockerung des Kontakts zwischen deutschen und österreichischen Bibliophilenvereinigungen. Das Vereinsleben der WBG wurde aber auf hohem Stand aufrecht erhalten. Die ›vaterländische‹ Note der Dollfuß/SchuschniggRegierungen dürfte da nicht allzu hinderlich gewesen sein. Nach dem Anschluss Österreichs an das Dritte Reich war das allerdings anders. Nun kam es zu organisatorischen Umwälzungen. Aber noch dramatischer als diese war der Aderlass, den die Wiener Bibliophilen durch die Vertreibung und Vernichtung der jüdischen Mitbürger – viele davon Intellektuelle und Bibliophile – erfuhr. So wurden diese Jahre gemeinsam mit dem Zweiten Weltkrieg zu einer Zäsur in der Geschichte des Vereins. Danach versuchte man an Vorkriegszeiten anzuschließen, mit begrenztem Erfolg. Michael Maria Rabenlechner (Literaturhistoriker, 1868– 1952), Mitbegründer der WBG, schien dafür eine geeignete Persönlichkeit zu sein. In der ersten Nachkriegsversammlung am 14. Dezember 1945 konnte der 77-jährige die ›Restauration‹ der Wiener Bibliophilen vornehmen. Die Vereinssatzung wurde auf Vorkriegsstand zurückgebracht. Aber es zeigte sich, dass weder die Mitgliederzahl noch das Vereinsleben das Niveau früherer Zeiten erreichen konnte. Die enge Verbundenheit mit der GdB war durch den Nationalsozialismus zunächst desavouiert. Ein Jahr vor seinem Tod zog sich Rabenlechner als Vorstand der WBG altersbedingt zurück und übergab an Vertreter der Nachgründergeneration. In den 1960er Jahren kam es zu einer beachtlichen Revitalisierung. Der Mitgliederstand wurde von 124 (1962) auf 244 (1963) fast verdoppelt. Auch die Organisation des »6. Internationalen Congresses der Bibliophilen« in Wien 1969 darf als Anzeichen eines solchen Aufwärtstrends gewertet werden. Selbst wenn sich die Österreichische Nationalbibliothek in erster Linie für die Kongressorganisation verantwortlich zeichnete, die WBG war dabei federführend beteiligt. Leider fand dieser positive Aufwärtstrend in den folgenden Jahrzehnten keine Fortsetzung. Jahresgaben, die statt Wiederentdeckungen und Faksimiledrucken österreichischer Dichtkunst zeitgenössische Produktionen förderten, konnten sich nicht der gleichen begeisterten Aufnahme unter den Bibliophilen erfreuen wie Traditionelles.2 Dabei schien das fast so etwas wie eine 2
Zum Beispiel Mayröcker, Friederike: Gala des Messers auf einer Bettdecke. Mit Illustrationen von Linde Waber. Wien: Wiener Bibliophilen-Gesellschaft 1997.
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Flucht nach vorne um eine jüngere Generation als Mitglieder zu gewinnen. Danach beschritten alle Wiederbelebungsversuche wieder konventionellere Bahnen. Vielleicht war das Publizieren von Friederike Mayröckers Werk ein zu schroffer Bruch mit dem Gewohnten für die WBG-Mitglieder. Mit dieser Aktion hat man möglicherweise die treuen alten Mitglieder verstimmt, aber dennoch keine neuen dazu gewonnen. Das unerschütterliche Festhalten am Althergebrachten ist ja vielfach gut nachvollziehbar. Wenn sich für die bibliophilen Vereinigungen eine Zukunftsperspektive eröffnen soll, müsste man sich dennoch Neuem gegenüber aufgeschlossen zeigen. Es muss wieder gelingen, Anziehungskraft auf neue Mitglieder auszuüben etwa Literaten und Buchillustratoren in höherem Ausmaß für bibliophile Vereinsaktivitäten zu interessieren. Nur angedeutet werden können hier die Schwierigkeiten, mit denen alle Initiativen dieser Art durch die unerwartet radikalen Umwälzungen der Medienlandschaft zu kämpfen haben. Immerhin: Das Buch ist trotz aller verfrühten Nachrufe nicht tot, es hat sich nur neu zu positionieren und wird sich daran gewöhnen müssen, den Platz mit anderen ›Neuen Medien‹ teilen zu müssen. Den Wiener Bibliophilen, wie übrigens auch den deutschen, galt immer, dass Schönheit des Inhalts sich mit Schönheit der Form eines Buchs zu verbinden habe. Dass also rein äußerlich prächtige Ausstattung eines Buchs ohne entsprechenden Inhalt zu verurteilen wäre. Diese Maxime hat die WBG konsequent wie kaum eine andere bibliophile Vereinigung durchgehalten. Organisierte Bibliophilie braucht Kontinuität, die letztendlich an Persönlichkeiten hängt. Neuorientierung hin, Neuorientierung her: Eine WBG – bei aller Anpassung an moderne Verhältnisse – wird nur durch aktive Vorstandspersönlichkeiten eine Perspektive gewinnen. Wenn die Mitglieder des Vorstands (und im weiteren Sinn alle WBG-Mitglieder) andere mitzureißen und für die Liebe zum Buch zu begeistern verstehen, wird die Vereinigung eine Zukunftsperspektive haben. Kommen dabei noch gute Beziehungen zu maßgeblichen Institutionen, die es für Förderungen und Sponsorentätigkeit zu gewinnen gilt, dazu, wird es zum Erfolg der Sache wesentlich beitragen. Seit 2004 bemüht sich die WBG unter dem Vorsitzenden Tillfried Cernajsek um Wiedererstehung der Wiener Vereinigung. Noch ist diese Phase nicht abgeschlossen: Die Centennarfeiern 2012 werden zeigen, inwieweit eine Erneuerung gelungen ist.
Die Wiener Bibliophilen-Gesellschaft
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Wiener Bibliophilen-Gesellschaft Vorsitz: Tillfried Cernajsek Mitglieder: 100 Adresse: Walzengasse 35c A-2380 Perchtoldsdorf http://www.wiener-bibliophile.at [email protected]
Publikationen in Auswahl Vereinsorgan: Aus der bibliophilen Welt. Mitteilungen der Wiener Bibliophilen-Gesellschaft. Hrsg. v. T. Cernajsek. Perchtoldsdorf b. Wien: im Eigenverl. 2004, H. 1 – . Erscheint unregelmäßig, mindestens 3 Hefte/Jahr.
Letzte Jahresgaben (2006–2008): Cernajsek, Tillfried (Hrsg.): Wiener Bibliophilen-Gesellschaft. Jahresgabe 2006. Weitra: Bibliothek der Provinz 2006. Durstmüller, Anton d. J. 500 Jahre Druck in Österreich. Die Entwicklungsgeschichte der graphischen Gewerbe von den Anfängen bis zur Gegenwart. Wien: Hauptverband der Graphischen Unternehmungen Österreichs. Bd. 2: Die österreichischen graphischen Gewerbe zwischen Revolutionen und Weltkrieg 1848 bis 1918. 1985; Bd. 3: Die österreichischen graphischen Gewerbe zwischen 1918 und 1982. 1988.
AGLAJA HUBER-TOEDTLI
Die Schweizerische Bibliophilen-Gesellschaft Die Schweizerische Bibliophilen-Gesellschaft ist die einzige schweizerische Vereinigung der Büchersammler (gegründet 1921). Sie erfüllt gerade in der heutigen Zeit des 21. Jahrhunderts eine wichtige kulturpolitische Aufgabe. Tragende Säule ist das Librarium. Nebst der zweitägigen Jahrestagung, an der bibliophile Sammlungen, Bibliotheken und andere Sehenswürdigkeiten besucht werden, publiziert unsere Gesellschaft das Librarium, eine bibliophile Zeitschrift, die dreimal jährlich in einer Auflage von 700 Exemplaren erscheint. Die darin enthaltenen Artikel und Illustrationen werden von Fachleuten verfasst und geben Einblicke in verschiedenste Themen der Bibliophilie. Sie vermitteln den Lesern Zugang zu alten Graphiken, Handschriften, wertvollem Schrifttum, bis hin zu modernen Büchern oder Einbänden. Jede Ausgabe kann für sich beanspruchen, als ein in sich abgeschlossenes Werk zu bestehen. Bis anhin war es unserer Gesellschaft möglich, die Zeitschrift durch Beiträge der Mitglieder sowie großzügige Sponsorgaben verschiedener Stiftungen zu finanzieren. Eine kurze Rückschau auf die Entstehung und Entwicklung unserer Gesellschaft soll unser heutiges Selbstverständnis erklären. Die Schweizerische Bibliophilen-Gesellschaft verdankt ihre Gründung im Jahr 1921 einer Gruppe von Berner Pionieren. Drei Schweizer Städte hatten in den nachfolgenden Jahren hintereinander den Vorsitz geführt. Bern 1921 bis 1943, Basel 1943 bis 1957, Zürich seit 1957.
1 Die Berner Ära (1921–1943) Am 10. Juni 1921 wurde der Grundstein gelegt für die Schweizerische Bibliophilen-Gesellschaft. Die Gründer waren eine Berner Gruppe von Buchfreunden, Buchinteressierten und Sammlern, die sich zum Ziel setzten, für die Bibliophilen in der Schweiz eine eigene Vereinigung zu gründen. Längst waren im Ausland solche Gesellschaften entstanden und es war an der Zeit, dass auch in der Schweiz für Bücherfreunde ein Zusam-
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menschluss gegründet werden sollte. An 24 vorgängigen Sitzungen diskutierte die Interessengemeinschaft über Nützlichkeit, Zielsetzungen und Grundsätze. Es wurden Satzungen ausgearbeitet und ein provisorischer Vorstand gewählt. Dem Initianten Wilhelm Joseph Meyer war es wichtig, Schwerpunkte zu setzen, wie die Erkundung inhaltlich und künstlerisch wertvoller Bücher, das Erhalten geistiger und bibliophiler Schätze, kunstvoller Einbände und Exlibris sowie die Inkunabelkunde. Die Gesellschaftsmitteilungen und verfassten Statuten wurden in der Vierteljahresschrift Schweizerisches Gutenbergmuseum1 veröffentlicht. Durchaus positiv reagierte die Presse auf die Neugründung mit Publikationen im Bund 2 und in der Neuen Zürcher Zeitung am 7. November 1921 mit folgendem Inhalt: »Mit Vergnügen wird man vom Zustandekommen dieser Gesellschaft der Bücherfreunde Kenntnis nehmen.«3 Der Feuilletonredaktor brachte sie begeistert vorausschauend in Zusammenhang mit einer in der Schweiz allenthalben verheißungsvoll aufblühenden Freude am erlesenen Buch und mit einem deutlich sichtbaren Aufschwung der heimischen Kunst des Buchdrucks und der Illustration. Im Ausland wiesen die Zeitschrift für Bücherfreunde 4 sowie das Bulletin du Bibliophile 5 darauf hin. Diesem zielstrebigen Berner Horst gelang es, dank solider Grundsätze, eine Gesellschaft zu schaffen, die seit 1921 Bestand hat, sich stets steigender Mitgliederzahlen erfreut und zunehmend an Bedeutung gewinnt. Der Mitgliederbeitrag von 1921 betrug 21 Franken pro Person. Als Zweck der Gesellschaft nennen die Satzungen Veröffentlichungen von Jahresgaben auf dem Gebiete der Bibliophilie, die aus Mitgliederbeiträgen finanziert werden sollten. Die Wahl des Vorstands war Sache der Jahresversammlung. Als Mitteilungsblatt diente der Gesellschaft Der Schweizer Sammler 6. Als erster Vorsitzender wurde am 12. März 1922 Meyer, Bibliograph, Heraldiker, Vizedirektor der Landesbibliothek, Gründer und Leiter der stadtbernischen Volksbücherei, gewählt. 1925 bis 1927 ging der Vorsitz an Louis Schnyder. 1927 bis 1943 war erneut Meyer der Vorsitzende. Die bedeutendste und überdauerndste Leistung der Berner waren die Gründung, der Aufbau und die solide Verankerung der Gesellschaft, sowie 1 2 3 4 5 6
Schweizerisches Gutenbergmuseum, 1918 bis 1972, Büchler und Co. Bern (Zeitschrift für Buchdruck- und Pressegeschichte, Bibliophilie und Bibliothekwesen). Kehrli: Zur Gründung, S. 6. Trog: Schweizerische Bibliophilen-Gesellschaft, S. 1. Kleine Mitteilungen, Sp. 101. Une Société de bibliophiles suisses, S. 160. Bulletin für Schweizer Sammler, 16 Jahrgänge von 1927 bis 1942 im Apiarius Verlag (Paul Haupt), Bern; ab 1931 »der Schweizer Sammler« genannt.
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eine Reihe ausgezeichneter Buchpublikationen, wie zum Beispiel Feuer-Idylle von Gottfried Keller7, L’histoire de la belle Mélusine 8, Heinrich Wölfli’s Reise nach Jerusalem 1520/1521 9, Salomon Gessner, Dichter, Maler und Radierer 1730 bis 1788 10, Holzschnitte und Zeichnungen von Schweizer Buchillustratoren 11.
2 Die Basler Ära (1943–1957) Mit der Wahl von Emanuel Stickelberger an der 21. Jahresversammlung am 10. Oktober 1943 in Baden als neuer Vorsitzender wurde die Basler Ära eingeläutet. Stickelberger war ein großer Sammler von Helvetika, Exlibris, Reformations- und Barockliteratur sowie Verfasser historischer Romane und Erzählungen. Für Wohl und Gedeihen der Gesellschaft setzte er sein ganzes Schaffen ein. Den Vorsatz einer eigenen Zeitschrift konnte er 1944 mit der Gründung der Stultifera navis 12 umsetzen. Damit hatte die Gesellschaft erstmals ihr eigenes Mitteilungsblatt. Seine Skepsis, dass die Schweiz zu klein sei für eine eigene Bücherzeitschrift, erwies sich nur allzu bald als unbegründet. Sie hat zwar ab 1957 beim Übergang in die Zürcher Ära den Namen abgegeben und wird seither neu benannt als Librarium weitergeführt. Unter Stickelbergers Redaktion ist die Stultifera navis als bedeutendste Leistung der Basler Ära zu zählen. Aber auch Geselligkeit und Weiterausbau der Mitgliederzahl waren wichtige Anliegen, die festlichen Jahresversammlungen wurden wie bis anhin an stets wechselnden Orten weitergeführt. Der 1921 festgelegte Numerus Clausus von maximal 200 Mitgliedern wurde bereits 1931 auf 250 und 1943 auf 500 Mitglieder erweitert. So wie die Zeitschrift bei den Mitgliedern an Wertschätzung gewann, verloren die jährlichen Buchgaben aus Kostengründen an Bedeutung und 7 8 9 10 11 12
Keller, Gottfried: Feuer-Idylle mit 13 Radierungen von Richard Hadel. Bern: Apiarius 1922. D’Arras, Jean: L’histoire de la belle Mélusine. Reproduction en héliogravure de l’édition de Genève en 1478. Publication annuelle 1923 et 1924. Bern: Apiarius 1923/24. Heinrich Wölfli’s Reise nach Jerusalem 1520/1521. 39 Bilder in den Farben der Originalhandschrift auf van Gelder Zonen Papier. Bern: Apiarius 1929. Leemann-van Elk, Paul: Salomon Gessner, Dichter, Maler und Radierer 1730 bis 1788. Sein Lebensbild mit beschreibenden Verzeichnissen seiner literarischen und künstlerischen Werke. Zürich: Orell Füssli 1930 (Monographien zur Schweizer Kunst. 6). Meyer, Willhelm J./Oehler, Robert: Holzschnitte und Zeichnungen von Schweizer Buchillustratoren. Bern: Apiarius 1934. Stultifera navis, März 1944 bis Dezember 1954 bei »Druck Benno Schwabe & Co.«, Basel; April 1955 bis 1957 bei Offizin Karl Werner A.G. in Basel. Im Dezember 1957 wurde die Publikation eingestellt.
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wurden in immer längeren Abständen publiziert. Sie waren nun nur noch den Mitgliedern zugedacht und mussten von diesen käuflich erworben werden. In einem Gratulationsbrief zum siebzigsten Geburtstag von Stickelberger 1954 schrieb Rudolf Alexander Schröder, dass man sich zwar an den Heften der »Navis stultifera« sehr freuen könne, dass sie nun aber ihren Namen zu Unrecht trage und besser »Navis fructifera« heißen sollte, führe sie doch jedes Mal »Lese«-Frucht in zweifachem Sinne mit sich.
3 Die Zürcher Ära (ab 1957) Im Herbst 1957 wurde der Vorsitz dem Vorort Zürich übergeben. Erster Vorsitzender war Paul Scherrer, damaliger Direktor der Bibliothek der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich, seit 1963 der Zürcher Zentralbibliothek. Seine Nachfolger waren 1968 Dieter W. H. Schwarz und von 1970 bis 2006 Conrad Ulrich. Auf Wunsch von Stickelberger sollte mit der Übergabe des Vorstands an Zürich auch der Name der Zeitschrift Stultifera navis nach 14 Jahrgängen erlöschen, da er spezifisch auf Basel fokussiert war. So entstand das Librarium, das sich ebenfalls dem Credo verpflichtete, graphische Gestaltung und inhaltliche Qualität zur perfekten Edition zu vereinen. Mit dem Bestreben, den Namen der Schweizerischen Bibliophilen-Gesellschaft mit dem Sprachrohr Librarium über die Grenzen hinaus bekannt zu machen, gelang es, die Mitgliederzahl weiterhin zu erhöhen, und, was besonders bedeutungsvoll war, namhafte Bibliotheken aus der ganzen Welt zu gewinnen. Der geographische Gesichtskreis sollte weit offen gehalten werden, damit möglichst viele Leser aus der ganzen Welt angesprochen werden konnten. Dies wurde von der Association Internationale de Bibliophilie (AIB) so gewürdigt, dass der Präsident, Schwarz, zum Ehrenmitglied ex officio ernannt wurde. Seinem Nachfolger im Amte, Ulrich, wurde diese Ehre ebenfalls zuteil. Mit der Schriftleitung des Librariums wurde 1957 der damalige Redaktor der Zeitschrift Du, Albert Bettex, betraut. Ab 1980 folgte Werner Zimmermann-Liebert, 1994 Martin Bircher, 2006 Rainer Diederichs und 2010 René Specht. Für das Erscheinungsbild des Umschlags und die Gestaltung der neuen Zeitschrift zeichnete der Graphiker Heinrich Kümpel (1951–1980). Ab 1980 löste ihn Willibald Voelkin ab. Dass das Librarium noch heute auf hohem Qualitätsniveau ist und nichts an Aktualität verloren hat, ist einerseits diesen Redaktoren zu verdanken, aber ebenso ver-
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dienstvoll ist die Mitarbeit der genannten Buchgestalter. Sie vermochten mit neuesten und umwälzenden Errungenschaften der Drucktechniken stets mitzuhalten, sich den Modernisierungen bei der Gestaltung anzupassen und so dem Librarium, auch dank ihrer graphischen und buchgestalterischen Begabungen, den heutigen Status zu sichern. Natürlich spielt auch die Druckerei für einen sorgfältigen Druck eine wichtige Rolle.13
4 Publikationen, Aktivitäten und Mitglieder der Gesellschaft 4.1 Stultifera navis und Librarium
»Stultifera navis« ist auf Sebastian Brants Narrenschiff und auf das Lob der Torheit des Erasmus zurückzuführen. Das Narrenschiff war einer der prächtigsten und berühmtesten Basler Wiegendrucke, der von Basel aus 1494, als einer der ersten großen Bucherfolge, in ganz Europa eine weite Verbreitung fand und in viele Sprachen übersetzt wurde. Unter den mancherlei Narren, die uns Brants Narrenschiff vorführt, ist der Büchernarr noch der harmloseste. So entbehrt diese von Stickelberger für die Zeitschrift bewusst gewählte Namensnennung nicht einer gewissen Selbstironie. »Librarium« bedeutet in Ciceros Latein »der Buchbehälter«. Unwillkürlich erinnert die deutsche Übersetzung an einen bei Anton Koberger 1491 in Nürnberg erschienenen berühmten Druck Der Schatzbehalter. Ein Schatzbehalter möchte denn auch unsere Zeitschrift werden, oder (um mit Kobergers Titel fortzufahren) ein »Schrein der wahren Reichtümer des Heils und der ewigen Seligkeit« – nicht im theologischen Sinne, sondern in einem weltlicheren und moderneren. Außerdem hebt das römisch sachliche »Librarium« die Zeitschrift mit leiser Betonung in jene übernationale Sphäre, die seit dem Mittelalter bis in die Neuzeit hinein europäische Bildungsebene war. Gerade eine schweizerische Zeitschrift für Bücherfreunde wird darin ihre Berufung sehen. Sie soll der Eigenart unseres viersprachigen Landes offen sein und der Weltweite der Bildung dienen. So formulierte Scherrer die Überlegungen zur Namensgebung im ersten Heft der Zeitschrift 195814.
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Bis 1980 wurde die Zeitschrift im Berichthaus Zürich gedruckt, von 1980 bis 1991 in der Buchdruckerei Küsnacht und seit 1992 in der Wolfau-Druck AG in Weinfelden. Scherrer, Paul: Ist Bibliophilie zeitgemäss? Überlegungen zur Zeitschrift »Librarium«. In: Librarium. Zeitschrift der Schweizerischen Bibliophilen-Gesellschaft. Revue de la Société Suisse des Bibliophiles 1 (1958), H. 1, S. 2.
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Wir betrachten es mit wenigen Ausnahmen nicht als sinnvoll, ein Heft einem besonderen Thema zu widmen. Wir sind der Ansicht, dass unsere Zeitschrift nicht nur für einen eingeschränkten Kreis, sondern für jeden Leser etwas Interessantes enthalten sollte. Die Themen der Zeitschrift bewegten sich in den letzten Jahren unter anderem in den Gebieten von bedeutenden Persönlichkeiten wie Schriftstellern, Verlegern, Künstlern, Sammlern, von historischen Verlagen und Sammlergesellschaften, von öffentlichen und privaten Bibliotheken und Sammlungen im In- und Ausland, von graphischer Kunst, aber auch von einzelnen Werken verschiedenster Epochen, von Bucheinbänden und von alter und moderner Buchgestaltung, von verschiedenen Büchern bestimmter Themenkreise wie zum Beispiel Kochbücher, Jagdbücher oder Holzschnittbücher, von Exlibris und vielem mehr. Besonders gelungene Arbeiten der jüngsten Vergangenheit waren das Heft über den Bücherschatz aus dem Benediktinerkloster Rheinau15 oder Buchwerke der tschechischen Moderne, eine schweizerische Bohemica-Sammlung16. 4.2 Die Jahrestagungen und Mitglieder
Unsere Jahrestagungen beanspruchten in der jüngeren Vergangenheit jeweils ein Wochenende im Mai. Im Zentrum steht die statuarische Jahresversammlung am Samstagabend gefolgt von einem festlichen Nachtessen und einer Festrede über das bibliophile Umfeld des jeweiligen Tagungsorts. Doch ist das eigentliche Ziel dieser Tagung die Besichtigung verschiedenster bibliophiler Preziosen in öffentlichen und privaten Bibliotheken, wo oft über hundert Teilnehmer sich begeistern und weiterbilden können. Die zahlreichen Orte, die seit der Gründung in der Schweiz besucht wurden, zeigen die hohe Dichte von bibliophilen Schätzen, die in unserem Land zu sehen sind. 2007 wurde die Stadt Bern besucht mit ihrer Burgerbibliothek und der Universitätsbibliothek, gefolgt von der Schweizerischen Nationalbibliothek mit ihren verschiedenen Abteilungen und von zwei Schlössern mit ihren Schätzen in der näheren Umgebung. Frühere 15 16
Die Bibliothek des Benediktinerklosters Rheinau in der Zentralbibliothek Zürich. In: Librarium. Zeitschrift der Schweizerischen Bibliophilen-Gesellschaft. Revue de la Société Suisse des Bibliophile 48 (2005), H. 1, S. 2–87. Ingold, Felix Philipp: Buchwerke der tschechischen Moderne. Eine schweizerische BohemicaSammlung. Mit 41 Abbildungen. In: Librarium. Zeitschrift der Schweizerischen BibliophilenGesellschaft. Revue de la Société Suisse des Bibliophile 48 (2005), H. 2/3, S. 114–129.
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Tagungsorte waren Luzern und das Kloster Engelberg, Karlsruhe, Genf mit seiner Fondation Bodmer, Chur und das Kloster Disentis, Schaffhausen, Freiburg im Breisgau respektive Freiburg im Üechtland, Basel und Liestal, die Halbinsel Reichenau und Konstanz. Die Geschichte der Schweizerischen Bibliophilen-Gesellschaft darf auf viele bedeutende Mitglieder zurücksehen, auf deren individuellen und geistigen Bezügen zur Bibliophilie die Grundfesten der Gesellschaft aufgebaut wurden. Das Selbstverständnis der Gesellschaft zur Kultur der Bibliophilie ist unter anderem auch auf sie zurückzuführen. Nur auf einige davon soll hier speziell hingewiesen werden, die im Laufe der verschiedenen Ären bis in die Neuzeit das Erscheinungsbild wesentlich prägten. Martin Bodmer, der Schöpfer und Gründer der Bibliotheca Bodmeriana, seiner Bibliothek der Weltliteratur. Er war eine herausragende Persönlichkeit und von ganz besonderer Bedeutung für die Schweizerische Bibliophilen-Gesellschaft. Bodmer (1899–1971) war Ehrenmitglied der Gesellschaft. Emanuel Stickelberger (1884–1962), Präsident, Ehrenpräsident und Gründer der Zeitschrift Stultifera navis. Martin Bircher (1937– 2006) war Redaktor des Librariums von 1994 bis 2006. Conrad Ulrich (*1926) war Vorsitzender unserer Gesellschaft von 1970 bis 2006. Er wurde 2006 zum Ehrenpräsidenten ernannt.
Schweizerische Bibliophilen-Gesellschaft Vorsitz: Dr. med. dent. Aglaja Huber-Toedtli Mitglieder: 400 und 130 Institutionen Adresse: Föhrenstraße 12 CH-8703 Erlenbach Tel.:+41 (0) 44 91 03 986
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5 Literaturverzeichnis Bulletin für Schweizer Sammler 1 (1927)–16 (1942). Kehrli, J. O.: Zur Gründung der Schweizer Bibliophilengesellschaft. In: Der Bund. Organ der freisinnig-demokratischen Politik. Eidgenössisches Zentralblatt und Berner Zeitung 72 (1921), H. 518 vom 4. Dezember 1921, S. 6. Kleine Mitteilungen. Schweizer Bibliophilen-Gesellschaft. In: Beiblatt der Zeitschrift für Bücherfreunde N. F. 14 (1922), H. 2, Sp. 101. Schweizerisches Gutenbergmuseum. Zeitschrift für Buchdruck- und Pressegeschichte, Bibliophilie und Bibliothekwesen 1 (1915)–58 (1972). Stultifera navis. Mitteilungsblatt der Schweizerischen Bibliophilen-Gesellschaft 1 (1944), H. 1/2–14 (1957), H. 3/4. Trog, A.: Die Schweizerische Bibliophilen-Gesellschaft. In: Neue Zürcher Zeitung und Schweizerisches Handelsblatt 142 (1921), H. 1590, Erstes Abendblatt vom 7. November 1921, S. 1. Une Société de bibliophiles suisses. In: Bulletin du Bibliophile et du Bibliothécaire. Nouvelle Série 1922, H. 5, S. 160.
UTA SCHNEIDER
Die Stiftung Buchkunst Die Stiftung Buchkunst betreut zwei jährlich stattfindende Buch-Wettbewerbe: »Die schönsten deutschen Bücher« in Frankfurt a. M. und den internationalen Wettbewerb »Schönste Bücher aus aller Welt / Best Book Design from all over the World« in Leipzig. An Bücher werden vielfältige ästhetische und funktionale Ansprüche gestellt. Aufgabe der beiden Wettbewerbe ist die vergleichende Wertung und die Ermittlung herausragender Leistungen in der Gestaltung und Herstellung von Büchern.
1 Die Wettbewerbe der Stiftung Buchkunst 1.1 Der deutsche Wettbewerb 1.1.1 Die Geschichte
Die Anfänge des deutschen Buchgestaltungs-Wettbewerbs reichen bis 1929 nach Leipzig zurück, wo der Wettbewerb bis zu seiner Einstellung 1933 in der Deutschen Bücherei stattfand. Verantwortlich für die Organisation war die Deutsche Buchkunststiftung Leipzig. Eine achtköpfige Jury, auf zwei Jahre gewählt, wurde in Übereinstimmung mit den Verbänden bestimmt, die rund ums Buch arbeiteten. 50 Bücher wurden je Jahrgang ausgezeichnet. Karl Klingspor, Inhaber der Offenbacher Schriftgießerei Gebr. Klingspor, Juryvorsitzender und Initiator des Wettbewerbs, erläuterte das Anliegen des Wettbewerbs folgendermaßen: »[…] will nicht nur auf vorhandene vorbildliche Werke hinweisen, er dient darüber hinaus dem Zweck, die Anteilnahme und das Verständnis für das gut gestaltete Buch zu fördern, durch Betrachten und Vergleichen den Sinn dafür zu bilden und Verleger wie Drucker zu höheren Leistungen anzuspornen«.1 In den Wettbewerb waren von Beginn an die gut gestalteten Gebrauchsbücher einbezogen. 1
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Die politische Teilung Deutschlands führte zur Etablierung von zwei parallelen Buchgestaltungswettbewerben. 1952 wurde auf Anregung des Hamburger Antiquars und Verlegers Ernst L. Hauswedell in Frankfurt a. M. unter Federführung des Börsenvereins der Deutschen Verleger- und Buchhändlerverbände an die Leipziger Tradition angeknüpft und der erste Nachkriegswettbewerb »Die schönsten Bücher des Jahres 1951« durchgeführt. 1960 übernahm die neu eingerichtete Bibliotheksabteilung Sammlung Buchkunst der Deutschen Bibliothek die Verwaltung des Wettbewerbs. 1965 wurde schließlich mit Hilfe des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels die unabhängige Stiftung Buchkunst2, eine Stiftung bürgerlichen Rechts, in Frankfurt a. M. gegründet. Ihre Aktivitäten sollten dazu beitragen, »die Qualität des Gebrauchsbuchs durch vielfältige Aktivitäten zu erhalten und zu fördern«3. Das Pendant zum westdeutschen Wettbewerb wurde 1953 in Leipzig ins Leben gerufen. Unter Anregung des Potsdamer Verlegers und Druckers Werner Stichnote war zuvor 1948 in Leipzig der erste Versuch unternommen worden, an die 1933 abgebrochene Tradition anzuknüpfen. Sie scheiterte an den politischen Rahmenbedingungen. Zwischen 1953 bis zum Ende der DDR, 1989, wurden jährlich ca. 50 Bücher unter der Organisation des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler zu Leipzig gemeinsam mit dem Ministerium für Kultur ausgewählt. Die aus sieben Arbeitsgruppen bestehende Vorjury sowie eine bis zu zwanzigköpfige Hauptjury tagten in der Deutschen Bücherei Leipzig, die im Rahmen des Wettbewerbs auch die »Schönsten Buchumschläge« wählte. 1990 konnten nach fast sechzig Jahren Buchgestalter/innen aus Ost und West wieder in einem gemeinsamen Wettbewerb – »Die schönsten deutschen Bücher« – teilnehmen.
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Die Stifter seit 1966: Deutsche Bibliothek (heute: Deutsche Nationalbibliothek), Börsenverein des Deutschen Buchhandels und Bundesvereinigung der deutschen Graphischen Industrie (später: Bundesverband für Druck und Medien). 1978 schied der Bundesverband aus. Die Stadt Frankfurt a. M. trat 1978 als Stifter bei, die Stadt Leipzig 1995. Die Förderer seit 1966 sind das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst und das Bundesministerium des Inneren (heute: Beauftragter der Bundesregierung für Kultur und Medien) und von 1978 bis 2003 der Bundesverband für Druck und Medien. 1994 wird zur Stärkung der Aktivitäten der Freundeskreis der Stiftung Buchkunst e. V. gegründet. Er fördert im Wesentlichen die Publikation des jährlich erscheinenden Katalogs. Stiftung Buchkunst: Schön und gut, S. 24.
Die Stiftung Buchkunst
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1.1.2 Die schönsten deutschen Bücher – vorbildlich in Gestaltung, Konzeption und Verarbeitung
Mit der kontinuierlichen Durchführung des Wettbewerbs setzt die Stiftung Buchkunst Orientierungspunkte für avanciert-ansprechende Gestaltung und gute Verarbeitung. Sie hebt herausragende Buchgestaltung hervor. Verlage, Buchgestalter und die an der Buchproduktion beteiligten Firmen sind eingeladen, die Besten ihrer Jahresproduktion einem Vergleich zu unterziehen. Zugelassen sind Bücher aus Verlagen, die ihren Hauptsitz in Deutschland haben. Bücher aus ausländischen Verlagen sind dann zugelassen, wenn die Produktion in Deutschland erfolgte. Lizenzausgaben, Zeitschriften, Mappenwerke und Abreißkalender können nicht teilnehmen, ebenso Kleinauflagen unter 20 Exemplaren, Buchunikate und Entwürfe. Jedem Buch ist ein Jurybogen zugeordnet, den die Einsender nach Abschluss des Wettbewerbs ebenso zugesandt bekommen wie den Katalog, der den Wettbewerb dokumentiert. Alle eingereichten Bücher werden unabhängig von einer Auszeichnung im Folgejahr auf der Internationalen Frankfurter Buchmesse ausgestellt. Die derzeit neun Sachgruppen4, die den Jurys das Vergleichen erleichtern, sind: (1) Allgemeine Literatur; (2) Wissenschaftliche Bücher, Fachbücher; (3) Sachbücher, Ratgeber; (4) Taschenbücher; (5) Kunstbücher, Fotobücher, Ausstellungskataloge; (6) Kinderbücher, Jugendbücher; (7) Schulbücher, Lehrbücher; (8) Sonderfälle, experimentelle Bücher; (9) Bücher, die nicht im Handel sind. Die Jury ist zweiteilig. Sie besteht aus einer Ersten Jury und einer Zweiten Jury, die jeweils Ende November tagen. Die Jurymitglieder werden vom Vorstand der Stiftung Buchkunst für maximal zwei Jahre berufen. Eine weitere Mitarbeit ist frühestens nach fünf Jahren möglich. Beide Jurys rotieren. Die Erste Jury besteht aus sieben, die Zweite Jury aus acht Fachleuten5, darunter ein Gastjuror oder eine Gastjurorin aus dem Ausland. Alle Juryentscheidungen sind Mehrheitsentscheidungen, zur letzten Abstimmung ist eine Zweidrittelmehrheit notwendig.
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Die Sachgruppen änderten sich im Verlauf der Jahrzehnte. 1984 wurde die Kategorie der Taschenbücher eingeführt. Frühere Kategorien wie Faksimile-Ausgaben, Schaubücher oder bibliophile Ausgaben wurden aufgrund der veränderten Marktsituation aufgelöst oder einer anderen Sachgruppe zugeordnet. Dies sind: Hersteller, Gestalter, Künstler, Buchbinder, Drucker, Setzer, Profis der Druckvorstufe und Bildbearbeitung, Buchwissenschaftler, Kustoden aus Buchmuseen und Lehrende. – Berufsbezeichnungen werden hier wie im Folgenden nur in der männlichen Form genannt.
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Der Schwerpunkt der Juryarbeit liegt bei der Beurteilung der visuellen Organisation und der Gestaltung der Bücher in Bild und Text. Ausstattung und technische Verarbeitung tragen zur Funktion wesentlich bei und werden ebenso bewertet. Erste Jury und Zweite Jury beurteilten das Buch als Einheit und somit den Gesamteindruck in Bezug zu seinem Inhalt: die graphische Konzeption, Gestaltung, Ausstattung und Ausführung. Die Qualität der technischen Details wie Satz, Layout, Bildbearbeitung, Druck, Papier und Buchbindung/Veredelung werden ebenso berücksichtigt wie die Innengestaltung (Makrotypographie, Mikrotypographie, Bildgestaltung) und die Außengestaltung, also Komposition und Prägnanz von Einband und Umschlag sowie deren gestalterischer Bezug zum Buchinneren. Im Zentrum des Wettbewerbs steht das industriell produzierte Gebrauchsbuch. Jährlich werden ca. 50 bis 60 Bücher ausgezeichnet, es werden Prämiierungen und Anerkennungen ausgesprochen. Sie sind undotiert. Alle an einem ausgezeichneten Buch Beteiligten erhalten Urkunden: Autor, Verlag, Illustrator, Photograph, Gestalter, Hersteller, Druckvorstufe, Druckerei, Buchbinderei, Veredler, Produzenten und Lieferanten von Papier- und Einbandmaterial. In der Regel wird eine Auszeichnung als Marketingmittel eingesetzt, sie trägt zum Renommee der einzelnen Preisträger ebenso bei wie zur kritischen Analyse. Mit dem Wettbewerb fördert die Stiftung Buchkunst ästhetische Bildung und leistet so wichtige Kulturarbeit. Sie ist damit fester Bestandteil deutscher Buchkultur. 1.1.3 Die Preise der Stiftung Buchkunst
Der »Preis der Stiftung Buchkunst« ist eine Art Staatspreis. Er wird seit 1984 jährlich verliehen. Vom Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien gestiftet, ist die Auszeichnung dreiteilig und insgesamt mit 10 000 Euro dotiert. Nominiert sind die ausgezeichneten Bücher eines Jahrgangs. Preiswürdig sind Bücher, die ein außerordentlich hohes Engagement des Verlages zeigen und in ihrer Ausstattung und Gestaltung Impulse für moderne Buchgestaltung geben. Die jährlich wechselnde, aus fünf Mitgliedern bestehende Sonderjury entscheidet über die Aufteilung der Preisgelder. Seit 1989 vergibt die Stiftung Buchkunst jährlich den »Förderpreis für junge Buchgestalter« an Gestalter unter 32 Jahren6. Diese können sich mit 6
Seit 2009 ist die Altersgrenze auf 35 Jahre angehoben.
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der Anmeldung zum Wettbewerb »Die schönsten deutschen Bücher« um den Förderpreis bewerben. Mit dem Preis wird junge, innovative Buchgestaltung gefördert. Vom Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien gestiftet, ist die Auszeichnung dreiteilig und zu gleichen Teilen mit je 1 700 Euro dotiert. Über den Förderpreis entscheidet eine fünfköpfige Sonderjury. Öffentlichkeitswirksam dokumentiert der jährlich erscheinende Katalog die Ergebnisse des Wettbewerbs. Jedes Jahr von anderen Gestalter mit höchsten Ansprüchen in Form gebracht, wird bei gleichem Format jeweils ein anderes graphisches Konzept umgesetzt7. Der Katalog enthält den Jurybericht, die Präsentation der ausgezeichneten Bücher, bibliographische Angaben, Begründungen der Jury, die Short-List und Verzeichnisse aller ausgezeichneten Beteiligten und Firmen. Der zweisprachige Katalog (deutsch/englisch) ist Nachschlagewerk und Würdigung zugleich. Seine Veröffentlichung ist in der Ausstattung und seinem großzügigen Umfang nur mithilfe von zahlreichen Sponsoren und dem Freundeskreis der Stiftung Buchkunst e. V. möglich. Wesentliche Multiplikatoren der Diskussion um Buchgestaltung sind jene Institutionen, die gemeinsam mit der Stiftung Buchkunst die schönsten deutschen Bücher einerseits einem Fachpublikum vorstellen, andererseits am schönen Buch interessierte Laien ansprechen.8 Für jährlich ca. 90 Ausstellungen sind mehrere Ausstellungsserien schönster Bücher deutschland- und weltweit unterwegs.9 Am Ende eines Ausstellungsjahres werden die prämiierten Bücher u. a. den Sammlungen des Gutenberg-Museums in Mainz und des Deutschen Buch- und Schriftmuseums in Leipzig übergeben sowie den Bibliotheken der Schulen des Deutschen Buchhandels Frankfurt a. M. und der Hochschule der Medien, Stuttgart.
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So entschied der Gestalter des Kataloges 2006, Bernd Kuchenbeiser, Charakter und Ausstattung der prämiierten Bücher nicht mittels Abbildung sichtbar zu machen, sondern durch Texte eine Atmosphäre zum jeweiligen Buch entstehen zu lassen. 40 Autoren rezensierten die 60 ausgezeichneten Bücher. Bibliotheken, Buchhandlungen, bibliophile Vereinigungen, Hoch- und Fachschulen. Durch die Kooperationen mit der Frankfurter Buchmesse (Internationale Abteilung) und den Goethe Instituten werden die schönsten deutschen Bücher auch im Ausland gezeigt. Die deutschen Buch- und Informationszentren (BIZ) in Bukarest, Moskau, Warschau und Peking organisieren zudem landesintern jährlich zahlreiche Ausstellungen der schönsten deutschen Bücher.
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1.2 Der internationale Wettbewerb
1963 fand in Leipzig der Wettbewerb »Schönste Bücher aus aller Welt« zum ersten Mal statt. Gleichnamige Ausstellung und Wettbewerb waren als Bindeglied zwischen der im Fünfjahresturnus ausgerichteten »IBA Internationalen Buchkunst Ausstellung« gedacht. Tendenzen der Buchgestaltung sollten sichtbar gemacht werden und der »Leistungsvergleich über Ländergrenzen hinweg«10 gefördert werden. »Schönste Bücher aus aller Welt« wurde 1968 durch eine thematische Sonderschau erweitert und trug zum internationalen Ruf der Buchstadt Leipzig bei. Seit 1991 ist die Stiftung Buchkunst mit der Ausrichtung des Wettbewerbs und der internationalen Ausstellung betraut. Mit »Schönste Bücher aus aller Welt« wird der weltweit einzigartige Versuch unternommen, das technische und ästhetische Niveau sowie die sachgemäße und künstlerische Gestaltung der Bücher jenseits nationaler Grenzen zu beurteilen. Über den Vergleich von Buchgestaltung und Buchqualität auf internationalem Niveau hinaus versteht sich der Wettbewerb S c h ö n s t e B ü c h e r a u s a l l e r W e l t als Diskussionsforum: Buchschaffende rund um den Globus haben hier die Chance, sich auszutauschen. An Themen herrscht kein Mangel: Das Spektrum reicht von aktuellen Tendenzen der Gestaltung und Ausstattung bis hin zu Veränderungen in der Branche selbst, die etwa technischen Neuerungen oder knapperer Budgetierung geschuldet sind. Dass der Diskurs dabei auch immer wieder die Frage nach kulturbedingten Ähnlichkeiten und Unterschieden nationaler Gestaltungs-Traditionen, nach Beeinflussungen über die Grenzen von Ländern und ganzen Kontinenten hinweg berührt, versteht sich beinahe von selbst.11
Teilnehmen können Institutionen, die in nationalen Gestaltungswettbewerben Bücher ausgezeichnet haben. Angenommen werden nur solche Titel, die bereits in ihrem Ursprungsland prämiiert oder von einem Fachgremium empfohlen wurden. Da jeder Länderwettbewerb12 nach eigenen Regeln juriert, sind die Kategorisierungen der ausgezeichneten Bücher verschieden. So wird im internationalen Wettbewerb, anders als im deutschen, auf eine Einteilung in Sachgruppen verzichtet. 10 11 12
Stiftung Buchkunst: Die Schönsten der Schönen, S. 10. Stiftung Buchkunst: Die Schönsten der Schönen, S. 33. Länder, die 2009 teilnahmen: Australien, Belarus, Belgien, Brasilien, China, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Iran, Jamaika, Japan, Kanada, Kolumbien, Kroatien, Lettland, Liechtenstein, Litauen, Neuseeland, Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, Russland, Schweden, Schweiz, Slowakei, Slowenien, Spanien, Taiwan, Tschechien, Ukraine, USA und Venezuela.
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Die am Wettbewerb teilnehmenden Bücher werden von einer siebenköpfigen, international besetzten Fachjury in einem zweitägigen Auswahlverfahren beurteilt. In der Regel findet die Jurysitzung im Februar in Leipzig statt. Die Mitglieder der unabhängigen, jedes Jahr neu zusammengesetzten Jury werden vom Vorstand der Stiftung Buchkunst berufen.13 Alle Juryentscheidungen sind Mehrheitsentscheidungen, zur letzten Abstimmung ist eine Zweidrittelmehrheit notwendig. Der Schwerpunkt der Juryarbeit liegt bei der Beurteilung der visuellen Organisation und des Gesamteindrucks. Die technische Verarbeitung ist in diesem Wettbewerb untergeordnet, da alle Bücher bereits von vorhergehenden Jurys begutachtet und ausgezeichnet worden waren. Jährlich senden die Organisatoren der ca. 30 bis 37 Länderwettbewerbe insgesamt ca. 600 bis 800 Bücher zur Jurierung nach Leipzig. Als höchste Auszeichnung vergibt die Jury die Goldene Letter. Weitere Auszeichnungen sind: eine Goldmedaille, zwei Silbermedaillen, fünf Bronzemedaillen und fünf Ehrendiplome. Alle Auszeichnungen sind undotiert. Darüber hinaus verleiht die Deutsche UNESCO-Kommission alle zwei Jahre auf Vorschlag der Jury der Stiftung Buchkunst eine mit einem Preisgeld von 1 000 Euro dotierte Auszeichnung. Sie ist einem Buch vorbehalten, das auf vorbildliche Weise in einem Land mit schwierigen Produktionsbedingungen gestaltet und hergestellt wurde. Die Medaillen und Urkunden werden mit einem Festakt im Rahmen der jährlich im März stattfindenden Leipziger Buchmesse verliehen. Alle eingereichten Bücher sind in der Ausstellung »Schönste Bücher aus aller Welt« dort ausgestellt. Ergänzend zur Ausstellung auf der Internationalen Leipziger Buchmesse werden die weltweit schönsten Bücher zur Frankfurter Buchmesse als »Buchkunst International/Book Art International« gezeigt. Hier sind die Bücher dem Publikum nach Sachgruppen sortiert zugänglich, während sie in Leipzig nach Länderalphabet vorgestellt werden. Ein jährlich erscheinendes Faltblatt stellt die vierzehn ausgezeichneten Bücher mit Jurybegründung und zwei Abbildungen vor. Nach Ende der Ausstellungen gehen alle Bücher als Schenkung in das Archiv des Deutschen Buch- und Schriftmuseums Leipzig über. Eine Sonderausstellung der Stiftung Buchkunst, die einen Rückblick auf alle ausgezeichneten Bücher des internationalen Wettbewerbs seit 1991 aus 22 Ländern gibt, war in fünf Jahren an sechs verschiedenen Orten zu 13
Die Jurymitglieder kamen seit 1991 aus China, Belgien, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, England, Estland, Frankreich, Japan, Kanada, Lettland, Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Rumänien, Russland, Schweden, Schweiz, Slowenien, Spanien, Tschechien, Ungarn, USA und Venezuela.
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sehen. Nach Stationen in Seoul (Korea), Frankfurt a. M., Leipzig, Tallinn (Estland), Shanghai (China) und Stockholm (Schweden) wurden die Bücher im Februar 2006 zum Abschluss der Wanderausstellung in einer Schau im Toppan Printing Museum in Tokyo (Japan) gezeigt. Die Ausstellung rief positive Resonanz sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Verlagsbranche hervor. Die Unterschiede in der Buchgestaltung und die Verschiedenheit in Ausstattung oder Buchform in den verschiedenen Kulturkreisen konnten mit dieser Präsentation vermittelt werden.
2 Ausstellungen, Sammlung, Stiftung 2.1 Gestaltung als Schwerpunkt
Für Sonderausstellungen über Entwicklungen, Stand oder Wandel der Buchgestaltung oder zum Werk bedeutender Buchkünstler oder Buchgestalter kann die Stiftung Buchkunst ein Mal jährlich die Ausstellungsräume der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt a. M. und in Leipzig nutzen. Dort wurden in den vergangenen Jahren folgende Ausstellungen gezeigt (Auswahl): – – – – – – – –
Buch Gestalten. Made in China. Aktuelles chinesisches Buchdesign Ansichtssachen! Bücherlese à la carte Scala, Bembo, Times und Dolly. Über die Schönheit von Schriftmusterbüchern Bilderlesen. Die Tollen Hefte und ihre Illustratoren jung geblieben. Förderpreisträger stellen aus Schönste Bücher aus aller Welt. Ausgezeichnete Bücher des internationalen Wettbewerbs Wort für Wort – Seite für Seite. Beispiele aus dem Spannungsfeld von Poesie, Typografie und Buchgestaltung The Rocket Four. Künstlerbücher aus Amerika
Auch in Ausstellungskooperationen stehen die Kriterien der Buchgestaltung und -produktion im Mittelpunkt (Auswahl): –
Die Schönsten der Schönen. 20 Jahre Preis der Stiftung Buchkunst14
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In Kooperation mit der Staatsbibliothek zu Berlin, 2004.
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Ausgezeichnet. Typografie in prämiierten Büchern15 Ausgezeichnet. Rara aus 50 Jahren Wettbewerb16 Ausgezeichnet. Fotografie im Buch aus 50 Jahren Wettbewerb17 Eine Sammlung ausgezeichneter Bilderbücher aus den schönsten deutschen Büchern 1995 bis 200518 Wir wachsen mit dem Buch. Die schönsten Kinderbücher der Welt19
Phänomene der Typographie, der Illustration oder des künstlerischen Ausdrucks mittels des Mediums Buch werden sichtbar gemacht und Impulse über die beiden Buchwettbewerbe hinaus gegeben. 2.2 Die Sammlung
Das Archiv der Stiftung Buchkunst umfasst alle Bücher, die seit Beginn des seit 1952 jährlich stattfindenden Frankfurter Wettbewerbs mit einer Prämiierung oder Anerkennung ausgezeichnet worden sind, während die Preisträger des Leipziger Wettbewerbs im Deutschen Buch- und Schriftmuseum Leipzig archiviert wurden. Die Bücher sind nach Jahren und Kategorien geordnet. In einer Handbibliothek sammelt die Stiftung Buchkunst Fachbücher zu den Themen Typographie, Satz, Druck, Papier, Illustration, Verlage, Bibliotheken, Schriftmuster. Eine Datenbank wird aktuell gepflegt und unterstützt Recherchen durch Spezialabfragen. 2.3 Stiftungsdaten
Der Sitz der Stiftung Buchkunst ist Frankfurt a. M. In Leipzig betreibt sie zudem seit 1991 ein Büro. Dort werden u. a. die Wanderausstellungen der schönsten deutschen Bücher koordiniert. Die Stiftung Buchkunst ist eine operative Stiftung, sie fördert keine Fremdprojekte. Sie ist ohne nennenswertes Kapital und wird durch regelmäßige Zahlungen ihrer vier Stifter finanziert. Die Arbeit der Geschäftsstelle der Stiftung Buchkunst wird von 15 16 17
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Anlässlich des fünfzigjährigen Jubiläums des deutschen (Nachkriegs-)Wettbewerbs; gemeinsam mit dem Internationalen Schrift- und Buchmuseum Klingspor-Museum Offenbach a. M., 2002. Anlässlich des fünfzigjährigen Jubiläums des deutschen (Nachkriegs)Wettbewerbs; gemeinsam mit dem Museum für Angewandte Kunst Frankfurt a. M., 2002. Anlässlich des fünfzigjährigen Jubiläums des deutschen (Nachkriegs)Wettbewerbs; gemeinsam mit der Kunstbibliothek der Staatlichen Museen zu Berlin, 2002. Anlässlich der XV. Internationalen Buchmesse, Minsk/Belarus, 2008. In Kooperation mit der Association of Czech Booksellers and Publishers, 2008.
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einem Vorstand kontrolliert, in dem jeder Stifter durch zwei Delegierte vertreten ist. Die Stifter sind: Deutsche Nationalbibliothek, Börsenverein des Deutschen Buchhandels, Stadt Frankfurt a. M., Stadt Leipzig. Der Freundeskreis der Stiftung Buchkunst e. V. hat sich 1994 mit der Aufgabe gebildet, die regionale, überregionale und internationale Arbeit der Stiftung Buchkunst zu unterstützen. Dem Verein gehören mittlerweile nicht nur wichtige deutsche Verlage an, sondern auch Unternehmen aus anderen Wirtschaftsbereichen sowie für die Sache des schönen Buchs engagierte Privatpersonen. Durch die Mitgliedsbeiträge werden ausschließlich die Zwecke der Stiftung Buchkunst gefördert, im Besonderen in den letzten Jahren die Publikation des jährlichen Katalogs des deutschen Wettbewerbs.
Stiftung Buchkunst Geschäftsführung: Uta Schneider Vorsitz: Thedel von Wallmoden, Göttingen Büro Frankfurt: Adickesallee 1 60322 Frankfurt a. M. Büro Leipzig: Gerichtsweg 28 04103 Leipzig http://www.stiftung-buchkunst.de [email protected]
3 Publikationen in Auswahl Die schönsten Bücher des Jahres. Frankfurt a. M.: Börsenverein des Deutschen Buchhandels 1951–1955. Die schönsten deutschen Bücher. Frankfurt a. M.: Börsenverein des Deutschen Buchhandels 1956–1965. Die schönsten deutschen Bücher. Frankfurt a. M.: Stiftung Buchkunst 1966–1969. Die fünfzig Bücher. Frankfurt a. M.: Stiftung Buchkunst 1970–1979. Die schönsten Bücher der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt a. M.: Stiftung Buchkunst 1980–1989. Die schönsten Bücher der Deutschen Demokratischen Republik. Hrsg. im Auftrag des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler zu Leipzig. Leipzig: Fachbuchverlag 1952– 1989. Die schönsten deutschen Bücher. Hrsg. v. der Stiftung Buchkunst. Frankfurt a. M./ Leipzig: Kommissionsverlag der MVB 1990–2008.
Die Stiftung Buchkunst
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Willberg, Hans Peter: Buchkunst im Wandel. Die Entwicklung der Buchgestaltung in der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt a. M.: Stiftung Buchkunst 1984. Peters, Heinz: Bücher über Kunst – Kunst im Buch seit 1945. Frankfurt a. M.: Stiftung Buchkunst 1988. Max Caflisch zum fünfundsiebzigsten. Mit Beiträgen von Kurt Gschwend u. a. Stuttgart: Edition Typografie 1992. Alter Hase – neue Leute. 80 ausgezeichnete Bücher von Hans Peter Willberg, 48 ausgezeichnete Bücher von seinen Schülern. Frankfurt a. M.: Stiftung Buchkunst 1995. Die vollkommene Lesemaschine. Von deutscher Buchkunst im 20. Jahrhundert. Hrsg. v. der Deutschen Bibliothek, Leipzig, Frankfurt a. M. u. Berlin u. der Stiftung Buchkunst, Frankfurt a. M./Leipzig. Ausgewählt und mit Anm. versehen v. Friedrich Friedl u. a. Frankfurt a. M./Leipzig: Stiftung Buchkunst 1997. Schön und gut. Die Stiftung Buchkunst und der jährliche Wettbewerb »Die schönsten deutschen Bücher« / The Foundation for the Art of Book Design and the yearly competition »Most Attractively Produced Books«. Hrsg. v. der Stiftung Buchkunst. Idee und Konzeption: Nils Kahlefendt u. a. Frankfurt a. M./Leipzig: Stiftung Buchkunst 2000. Wechselwirkungen – Die grafische Arbeit von Brigitte Willberg. Hrsg. v. der Stiftung Buchkunst. Mit Texten v. Yvonne Schwemer-Scheddin u. a. Frankfurt a. M./Leipzig: Stiftung Buchkunst 1999. Rasch-Hour. Ein Lebewohl zur Verabschiedung von Wolfgang Rasch im Dezember 2000. Frankfurt a. M.: Stiftung Buchkunst 2000. Bodecker, Albrecht v.: Seiten – Wege zum Buch. Frankfurt a. M./Leipzig: Stiftung Buchkunst 2000. Die Schönsten der Schönen / The Best of the Beautiful. Schönste Bücher aus aller Welt / Best Book Design from all over the World. Eine Dokumentation des internationalen Wettbewerbs seit 1991. Hrsg. v. der Stiftung Buchkunst Frankfurt a. M./ Leipzig. Frankfurt a. M./Leipzig: Stiftung Buchkunst 2004. Bilderlesen. Die Tollen Hefte und ihre Illustratoren. 1. Armin Abmeier: Jim Parker und Wong Fun, 2. Zeichner der Tollen Hefte. München: Privatdruck Armin Abmeier 2005. Postkarten-Edition. Die schönsten deutschen Bücher seit 1951. Hrsg. v. der Stiftung Buchkunst. Frankfurt a. M./Leipzig: Stiftung Buchkunst 2008.
4 Literaturverzeichnis Stiftung Buchkunst (Hrsg.): Schön und gut. Die Stiftung Buchkunst und der jährliche Wettbewerb »Die schönsten deutschen Bücher« / The Foundation for the Art of Book Design and the yearly competition »Most Attractively Produced Books«. Idee und Konzeption: Nils Kahlefendt u. a. Frankfurt a. M./Leipzig: Stiftung Buchkunst 2000. Stiftung Buchkunst (Hrsg.): Die Schönsten der Schönen/The Best of the Beautiful. Schönste Bücher aus aller Welt/Best Book Design from all over the World. Eine Dokumentation des internationalen Wettbewerbs seit 1991. Frankfurt a. M./Leipzig: Stiftung Buchkunst 2004.
Autorenverzeichnis Jutta Bendt Wiss. Bibliothekarin, *1955, Studium der Germanistik und Geschichte in Osnabrück. Bibliotheks-Assessorin, Leiterin der Bibliothek des Deutschen Literaturarchivs. Ausstellungen und Kataloge zu Ricarda Huch (1994), Friedrich Wilhelm Hackländer (1997), Isolde Kurz (2003), Die Bibliothek Glück. Vorstellung einer Wiener Sammlung (1998) sowie zahlreiche fachspezifische Aufsätze und Rezensionen.
Ernst-Peter Biesalski Prof. Dr. phil., *1958, Studium der Buchwissenschaft, Betriebswirtschaftslehre und Kunstgeschichte in Mainz. 1991–1997 Bereichsleiter Buch beim Kunstverlag Weingarten, seit 1997 Professor und Studiengangsleiter für Buchhandel/Verlagswirtschaft an der HTWK Leipzig. Arbeitsgebiete: Konzeption und Produktion von Verlagserzeugnissen, Buchhandelsbetriebslehre.
Julia Blume Dipl.-Phil., *1959, Studium des Bibliothekswesens und der Kunstgeschichte in Leipzig. Seit 1993 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der HGB Leipzig, seit 1997 Aufbau und Leitung des Hochschularchivs und der Dokumentationsstelle der HGB Leipzig, seit 1997 gemeinsam mit Günther Karl Bose Leitung des Instituts für Buchkunst. Zahlreiche Aufsätze zu den Arbeitsgebieten Geschichte der Akademie für graphische Künste und Buchgewerbe (HGB) und zum Verhältnis von Bild und Text im Buch.
Christof Capellaro M. A., *1981, Studium der Bibliothekswissenschaft und Mittelalterlichen Geschichte an der HU Berlin. Seit November 2007 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Buchwissenschaft an der FAU ErlangenNürnberg, zunächst im DFG-Projekt »Wissenschaftsportal b2i«, seit Herbst 2008 Lehre im Bereich der Buch- und Schriftgeschichte. Zurzeit Arbeit an einer Promotion mit dem Thema »Öffentliche Bibliotheken in der SBZ und der frühen DDR«.
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Oliver Duntze Dr. phil., *1970, Studium der Germanistik in Köln, 2005 buchwissenschaftliche Promotion an der FAU Erlangen-Nürnberg mit dem Thema »Ein Verleger sucht sein Publikum. Die Straßburger Offizin des Matthias Hupfuff (1497/98–1520)«. Ab 2000 Mitarbeit in verschiedenen DFGProjekten, u. a. zum Titelblatt in der Inkunabelzeit sowie beim Aufbau des »Wissenschaftsportal b2i« in Erlangen, seit 2007 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt »Deutsches Textarchiv« an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Arbeitsgebiete: Geschichte des Buchwesens im 15. und 16. Jahrhundert, Typographiegeschichte, Einsatz von EDV für buchhistorische und philologische Fragestellungen.
Monika Estermann Dr. phil., *1942, Studium der Germanistik, Komparatistik und Philosophie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Promotion 1976 mit dem Thema »Gemeines Leben. Gewandelter Naturbegriff und literarische Spätaufklärung. Lichtenberg, Wezel, Garve«. Ab 1977 Tätigkeit in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel und am Freien Deutschen Hochstift Frankfurt. Seit 1983 für die Historischen Kommission des Börsenverein des Deutschen Buchhandels in Frankfurt a. M. zuständig, Redaktion des »Archivs für Geschichte des Buchwesens«, zusammen mit Reinhard Wittmann, seit 2004 mit Ursula Rautenberg. Herausgabe der Reihe »Buch, Buchhandel und Rundfunk« zusammen mit Edgar Lersch.
Johannes Frimmel Dr. phil., *1969, Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft und Germanistik an der Universität Wien und der FU Berlin. Seit 2000 Mitarbeiter der Österreichischen Gesellschaft für Buchforschung, seit 2002 Mitarbeiter des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen ForschungProjekts »Der Buchmarkt der Habsburgermonarchie«; Lektor an der Abteilung für Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Wien. Arbeitsgebiete: Österreichische Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts, Buchhandelsgeschichte.
Stephan Füssel Prof. Dr., *1952, Studium der Germanistik, Geschichte und Politikwissenschaft an der Georg-August-Universität Göttingen. Leiter des Mainzer
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Instituts für Buchwissenschaft, Sprecher des »Schwerpunkts Medien« und Senator der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Ordentliches Mitglied der Historischen Kommission des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Präsidiumsmitglied der Internationalen Gutenberg-Gesellschaft, Vizepräsident der W. Pirckheimer-Gesellschaft zur Erforschung von Renaissance und Humanismus, Director of SHARP.
Sonja Glauch Dr. phil., *1967, Studium der Germanischen und Deutschen Philologie, Indogermanistik und Buchwissenschaft an der FAU Erlangen-Nürnberg. Akademische Oberrätin an der FAU. Arbeitsgebiete: Medien-, überlieferungs- und gattungsgeschichtliche sowie literaturtheoretische Fragestellungen der früh- und hochmittelalterlichen deutschen Literatur. Letzte Publikation: An der Schwelle zur Literatur. Elemente einer Poetik des höfischen Erzählens. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2009.
Sven Grampp Dr. phil., *1973, Studium der Deutschen Literatur, Philosophie, Kunstund Medienwissenschaft in Konstanz, Promotion 2008 mit dem Thema »Ins Universum technischer Reproduzierbarkeit. Der Buchdruck als historiographische Referenzfigur in der Medientheorie«. 2003–2005 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am SFB 485 »Norm und Symbol« der Universität Konstanz, derzeit Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theaterund Medienwissenschaft der FAU Erlangen-Nürnberg. Arbeitsgebiete: Medientheorie, Medien und Langeweile, Geschichte des Löschens.
Jonathan Green Dr. phil., *1970, Studium der Germanistik und Linguistik an der Brigham Young University in Provo, Utah, Promotion 2003 an der University of Illinois at Urbana-Champaign mit dem Thema »Marginalien und Leserforschung – Zur Rezeption der Schedelschen Weltchronik« (in: AGB 60 (2006), S. 184–261); 2006–2008 Humboldt-Stipendiat an der Buchwissenschaft der FAU Erlangen-Nürnberg mit dem Forschungsthema: »Prognostisches Schrifttum der Frühdruckzeit«, Dozent im Fach Germanistik an der University of Arkansas.
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Horst Gronemeyer Prof. Dr. phil., *1933, Studium der deutschen und klassischen Philologie an der Universität Hamburg. 1963–1998 Bibliothekar an der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg (von 1978–1998 Direktor der Bibliothek), ab 1974 Forschungsleiter. Letzte Publikation: Klopstock, Friedrich Gottlieb: Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe (Hamburger Klopstock-Ausgabe). Hrsg. v. Horst Gronemeyer u. a. 35 Bde. Berlin u. a.: de Gruyter 1974–2007.
Eva-Maria Hanebutt-Benz Dr. phil., *1947, Studium der Kunstgeschichte an der Universität Hamburg, 1978 Promotion ebd. mit dem Thema »Studien zum deutschen Holzstich im 19. Jahrhundert«. Seit 1987 Direktorin des GutenbergMuseums in Mainz, Vorstandsmitglied in der Internationalen GutenbergGesellschaft, der Maximilian-Gesellschaft und der Assoziation Europäischer Druckmuseen. Letzte Publikation: Bilderlust und Lesefrüchte. Das illustrierte Kunstbuch von 1750 bis 1920. Begleitbuch zur Ausstellung im Gutenberg-Museum Mainz vom 4. März bis 29. Mai 2005. Hrsg. zus. mit Katharina Krause. Leipzig: Seemann 2005.
Christine Haug Prof. Dr. phil., *1962, Studium der Germanistik und Geschichte an der Justus-Liebig-Universität Gießen, 1995 Promotion mit dem Thema »Das Verlagsunternehmen Krieger (1725–1825). Die Bedeutung des Verlegers, Buchhändlers, Leihbibliothekars Johann Christian Konrad Krieger für die Entstehung einer Lesekultur in Hessen um 1800«. 1996–2001 Mitarbeit im DFG-Schwerpunktprogramm »Rekonstruktion Ideengeschichte«, 1997– 2001 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Buchwissenschaft Mainz, 2001–2003 DFG-Habilitationsstipendium, seit WS 2006/07 Professur für Buchwissenschaft an der LMU München. Arbeitsgebiete: Buchhandels- und Verlagsgeschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert.
Aglaja Huber-Toedtli Dr. med. dent., *1940, Zahnarztstudium mit Eidgenössischem Diplomabschluss in Zürich. Führung einer eigenen Zahnarztpraxis in Zürich seit 1978. Mitglied der Association Internationale de Bibliophilie (AIB), sowie
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Mitglied der Schweizerischen Bibliophilen Gesellschaft (SBG), seit 1999 Vorstandsmitglied und seit 2006 deren Präsidentin.
Ulrich Ernst Huse Prof. Dr. phil., *1955, Studium der Germanistik mit Schwerpunkt Buchwesen, Politikwissenschaft und Pädagogik an der Georg-AugustUniversität Göttingen. Danach fast 20 Jahre als (Chef-)Lektor und Verlagsleiter u. a. bei den Fischer-Verlagen (Frankfurt a. M.) und bei Harenberg (Dortmund) tätig, seit 2003 Professor für Verlagswirtschaft im Studiengang Mediapublishing an der HdM Stuttgart. Letzte Publikation: Bücher und Büchermacher (Edition Buchhandel 17). 6., neubearb. Aufl. Frankfurt a. M.: Bramann 2009 (mit Wolfgang Ehrhardt Heinold).
Stephanie Jacobs Dr. phil., *1963, Studium der Kunstgeschichte, Philosophie, Psychologie und Germanistik in Bamberg, Bonn und Perugia, 1998 Promotion an der FU Berlin mit dem Thema »Auf der Suche nach einer neuen Kunst. Konzepte der Moderne im 19. Jahrhundert. Runge/Goethe, Grandville/Delord, Schwind/Mörike, Manet/Mallarmé«. Seit 2007 Leiterin des Deutschen Buch- und Schriftmuseums der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig. Arbeitsgebiet: Graphik des 19. und 20. Jahrhunderts.
Herbert Kästner Dipl.-Math, *1936. 1958–2001 Lehr- und Forschungsaufgaben an der Universität Leipzig (Algebra / Zahlentheorie), 1966 Nationalpreis für Wissenschaft und Technik, seit 1980 im Vorstand (seit 1988 Vorsitzender) der Leipziger Gruppe der Pirckheimer-Gesellschaft, seit 1991 Vorsitzender des wiedergegründeten Leipziger Bibliophilen-Abends. Herausgeber der bibliographischen Werke dieser Vereinigung: 100 Jahre Insel Verlag 1899–1999. Frankfurt a. M.: Insel 1999; Das buchgraphische Werk von Karl-Georg Hirsch. 2 T. Rudolstadt: Burgart-Presse Henkel 1996/2008.
Thomas Keiderling Dr. phil., *1967, Studium der Geschichte, Journalistik und Kulturwissenschaften in Leipzig und Newcastle upon Tyne (Großbritannien), 1999 Promotion mit dem Thema »Die Modernisierung des Leipziger Kommissionsbuchhandels von 1830 bis 1888«. Seit 2003 Wissenschaftlicher Assis-
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tent am Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft an der Universität Leipzig, Bereich Buchwissenschaft und Buchwirtschaft. Publikationen zur Buchwissenschaft, Buchhandels- und Verlagsgeschichte, Rezeptionsforschung und Unternehmensgeschichte.
Brigitte Klosterberg Dr. phil., *1960, Studium der Geschichte und Germanistik an der Universität Bonn, Promotion 1992 mit dem Thema »Zur Ehre Gottes und zum Wohl der Familie. Kölner Testamente von Laien und Klerikern im Spätmittelalter«. Seit 1997 Leiterin der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen zu Halle, seit 2003 Leiterin des Studienzentrums August Hermann Francke – Archiv und Bibliothek der Franckeschen Stiftungen. Arbeitsgebiet: Geschichte der Franckeschen Stiftungen, besonders Bibliotheks- und Verlagsgeschichte.
Axel Kuhn Dr. phil., *1978, Studium der Theater- und Medienwissenschaft, Soziologie und Buchwissenschaft an der FAU Erlangen-Nürnberg, Promotion 2008 mit dem Thema »Vernetzte Medien. Nutzung und Rezeption am Beispiel von ›World of Warcraft‹«. Seit 2008 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am BMBF-Projekt »2nd-Product-Lifecycle-Strategien für HightechGeräte zur Steigerung der Innovationsfähigkeit kleiner und mittelständischer Organisationen« an der FAU Erlangen-Nürnberg. Arbeitsgebiete: Allgemeine Medien- und Kommunikationstheorie, Medienwirkungsforschung und Rezeptionstheorie, E-Commerce, Neue Medien.
Siegfried Lokatis Prof. Dr. phil., *1956, Studium der Geschichte, Philosophie, Archäologie und Orientalistik, Promotion 1990 an der Ruhr-Universität Bochum mit dem Thema »Hanseatische Verlagsanstalt: politisches Buchmarketing im ›Dritten Reich‹«. Seit 1992 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am jetzigen Zentrum für Zeithistorische Forschung, 2004 Habilitation an der Universität Potsdam, seit Januar 2007 Professor für Buchwissenschaft am Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Leipzig. Publikationen zur modernen deutschen Buchgeschichte. Zuletzt: Zensurspiele. Heimliche Literaturgeschichten aus der DDR. Halle: Mitteldeutscher Verlag 2008 (mit Simone Barck).
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Wulf D. v. Lucius Prof. Dr. rer. pol., *1938, Studium der Volkswirtschaftslehre in Heidelberg, Berlin und Freiburg, Promotion mit einem Thema zur Zinstheorie 1967. Seit 1969 wissenschaftlicher Verleger in Stuttgart (bis 1995 Gustav Fischer Verlag, ab 1996 Lucius & Lucius), Vorsitzender des Aufsichtsrats des Carl Hanser Verlags, München, Verwaltungsratsmitglied der Deutschen Nationalbibliothek, Ordentliches Mitglied der Historischen Kommission des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Ehrenmitglied des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. Seit 2007 Honorarprofessor für Verlagswirtschaft an der Universität Hohenheim. Zahlreiche Beiträge zu den Bereichen Verlagswesen, Urheberrecht, Buchgeschichte, Bibliophilie.
Franziska Mayer Dr. phil., *1971, Studium der Neueren deutschen Literatur, Theaterwissenschaft und Musikwissenschaft an der LMU München, Promotion 2003 mit dem Thema »Wunscherfüllungen. Erzählstrategien im Prosawerk Alexander Lernet-Holenias«. Seit 2003 Lehrbeauftragte, seit 2006 Wissenschaftliche Assistentin am Institut für deutsche Philologie an der LMU München, Studiengang Buchwissenschaft. Arbeitsgebiete: Semiotik des Buchs, Literatursystem Realismus, Literatur der Frühen Moderne, Österreichische Literatur und Verlagsgeschichte.
Arno Mentzel-Reuters Dr. phil., *1959, 1978–1985 Studium der Germanistik, Philosophie und Geschichte an der RWTH Aachen, 1988 Promotion an der TU Berlin mit dem Thema »Vröude. Artusbild, Fortuna- und Gralkonzeption in der ›Crône‹ des Heinrich von dem Türlin als Verteidigung des höfischen Lebensideals«. Seit 1994 Leiter der Bibliothek und seit 2004 des Archivs der Monumenta Germaniae Historica in München. Habilitation 1999 im Fach Buchwissenschaft an der FAU Erlangen-Nürnberg mit dem Thema »Arma spiritualia. Bibliotheken, Bücher und Bildung im Deutschen Orden«, seit 2005 Dozent für Deutsche Sprache und Literatur des Mittelalters an der Universität Augsburg. Arbeitsgebiete: Frühneuzeitliche Historiographie, handschriftliche Überlieferung von Texten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Geschichte des Deutschen Ordens.
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Alfred Messerli Dr. phil., *1953, Studium der Germanistik, Sozialgeschichte und Europäischen Volksliteratur an den Universitäten Zürich und Bremen. Mitherausgeber der historisch-kritischen Ausgabe der Schriften Ulrich Bräkers (bisher erschienen 4 Bde. München: C.H. Beck 1998–2000), Habilitation 2002 mit dem Thema »Lesen und Schreiben 1700 bis 1900. Untersuchung zur Durchsetzung der Literalität in der Schweiz«. Seit 2000 Lehre an der Universität Zürich am Institut für populäre Kulturen, Abt. Populäre Literaturen und Medien. Arbeitsgebiete: Erzählforschung, Selbstzeugnisse (Tagebücher, Autobiographien, Briefe), Massenbilderforschung, Kinderfolklore und Lesergeschichte.
Beate Müller Dr. phil., *1963, Studium und Promotion 1993 an der Ruhr-Universität Bochum. DAAD-Lektorin an der University of Cambridge (1992–1995), Wissenschaftliche Assistentin an der Universität Flensburg (1995–1997), seit 2007 Dozentin an der Newcastle University (Großbritannien) für Modern German Studies. Arbeitsgebiete: Moderne, Zensur, DDRLiteratur. Letzte Publikation: Stasi – Zensur – Machtdiskurse: Publikationsgeschichten und Materialien zu Jurek Beckers Werk. Tübingen: Niemeyer 2006.
Ursula Rautenberg Prof. Dr. phil., *1953, Studium der Germanistik, Philosophie und Vergleichenden Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum; dort Erstes Staatsexamen und Promotion (1982), Habilitation (1990) mit der Arbeit: »Überlieferung und Druck, Heiligenlegenden aus frühen Kölner Offizinen«. 1987/88 halbjährige Lehrtätigkeiten an der Tongji-Universität Shanghai und der University of Waikato, Neuseeland (DAAD Gastdozentur). 1990 bis 1994 (zunächst stellvertretende) wissenschaftliche Leitung der Bibliothek Otto Schäfer Schweinfurt; seit 1997 Leitung des Fachs Buchwissenschaft an der FAU Erlangen-Nürnberg. Ordentliches Mitglied der Historischen Kommission des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels und Herausgeberin des »Archiv für Geschichte des Buchwesens«; Vorstandsmitglied des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Bibliotheks-, Buch- und Mediengeschichte. Publikationen unter http://www.buchwiss.uni-erlangen.de/ institut/mitarbeiter/prof.-dr.-ursula-rautenberg.shtml.
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Sandra Rühr Dr. phil., *1977, Studium der Buchwissenschaft, Theater- und Medienwissenschaft und Neueren deutschen Literaturgeschichte an der FAU Erlangen-Nürnberg, Promotion 2007 mit dem Thema »Tondokumente von der Walze zum Hörbuch. Geschichte, Medienspezifik, Rezeption«. 2006/07 Lehrbeauftragte, seit 2007 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fach Buchwissenschaft an der FAU Erlangen-Nürnberg. Arbeitsgebiete: Geschichtliche Entwicklung des Hörbuchs und dessen Medienspezifik, Leseförderung und -forschung.
Ulrich Saxer Prof. em. Dr. phil., *1931, Studium der Jurisprudenz, Germanistik und Anglistik, Promotion 1957 an der Universität Zürich. 1973–1996 Professor für Publizistikwissenschaft an der Universität Zürich, Professor für Kommunikationssoziologie an der Università della Svizzera Italiana 1996– 2000, Honorarprofessor der Universität Wien. Arbeitsgebiete: Kommunikationssoziologie, Leseforschung etc. Letzte Publikation: Politik als Unterhaltung. Zum Wandel politischer Öffentlichkeit in der Mediengesellschaft (Forschungsfeld Kommunikation 20). Konstanz: UVK 2007.
Helmut Schanze Prof. em. Dr. phil., *1939, Studium der Deutschen Philologie, Philosophie, Neueren Geschichte und Politischen Wissenschaften, 1965 Promotion in Frankfurt a. M. mit dem Thema »Romantik und Aufklärung. Untersuchungen zu Friedrich Schlegel und Novalis«, 1971 Habilitation mit dem Thema »Drama im bürgerlichen Realismus (1850–1890). Theorie und Praxis«. 1972–1987 Professor für Neuere Deutsche Literaturgeschichte in Aachen, ab 1987 in Siegen, Emeritus seit 2004. 1985/86 Mitinitiator des DFG-Sonderforschungsbereichs 240 »Bildschirmmedien«, Sprecher des SFB 240 von 1991 bis 2001, seit 2002 Projektleiter und Mitglied im DFGForschungskolleg 615 »Medienumbrüche«. Zahlreiche Publikationen zur Romantik, Goethe, 19. Jahrhundert, Rhetorikgeschichte und Mediengeschichte.
Helwig Schmidt-Glintzer Prof. Dr. phil., *1948, Studium der Sinologie, Philosophie, Ethnologie, Soziologie und Politikwissenschaft der Georg-August-Universität Göttin-
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gen und der LMU München, Promotion an der LMU 1973 mit dem Thema »Das Hung-ming chi und die Aufnahme des Buddhismus in China«, danach Studium in Taiwan und Japan, 1979 Habilitation in Bonn mit dem Thema »Die Identität der buddhistischen Schulen und die Kompilation buddhistischer Universalgeschichten in China. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte der Sung-Zeit«. 1981–1993 Ordinarius für Ostasiatische Kulturund Sprachwissenschaft an der LMU München, seit 1993 Direktor der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel und Professor an der GeorgAugust-Universität Göttingen. Studien zum chinesischen Buddhismus und anderen chinesischen Religionen sowie zur Geschichte und Literatur Chinas. Arbeitsgebiet: Frühe Neuzeit im globalen Kontext.
Wolfgang Schmitz Prof. Dr. phil., *1949, Studium der Germanistik, Geschichte, Historische Hilfswissenschaften und Mittellatein an der Universität Köln mit Promotion 1976. Seit 1982 an der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln tätig, seit 1999 dort Leitender Direktor, 1990 Habilitation im Fach Bibliothekswissenschaft in Köln mit dem Thema »Die Überlieferung deutscher Texte im Kölner Buchdruck des 15. und 16. Jahrhunderts«. Vorsitzender des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Bibliotheks-, Buch- und Mediengeschichte, Vorsitzender der Internationalen Buchwissenschaftlichen Gesellschaft. Arbeitsgebiete: Buchdruck des 15. bis 17. Jahrhunderts, Bibliotheksgeschichte, modernes Bibliothekswesen.
Uta Schneider Dipl.-Des., *1959, Studium der Visuellen Kommunikation mit Schwerpunkt Typographie, Buch und Zeichnen in Offenbach, 1986–2000 selbstständige Typographin, seit 2001 Geschäftsführerin der Stiftung Buchkunst Frankfurt a. M. und Leipzig. Verantwortlich für die Wettbewerbe »Schönste Bücher aus aller Welt« sowie »Die schönsten deutschen Bücher«; seit 1986 künstlerische Zusammenarbeit mit Ulrike Stoltz (u. a. in der Künstlerinnengruppe Unica T), seit 2001 unter dem Namen ‹usus›. Ausstellungen (Rauminstallation, Zeichnung, Künstlerbuch) im In- und Ausland.
Thomas Stäcker Dr. phil., *1963, Studium der Philosophie und Latinistik in Braunschweig, Essex und Osnabrück, 1994 Promotion mit dem Thema »Die Stellung der
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Theurgie in der Lehre Jamblichs«. Seit 1998 Leiter der Abteilung Alte Drucke, später Alte Drucke / Digitalisierung an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Hrsg. der Zeitschrift »Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte«. Arbeitsgebiete: Digitalisierung des kulturellen Erbes, Digitale Editionen frühneuzeitlicher Drucke und Buch- und Bibliotheksgeschichte.
Georg Stanitzek Prof. Dr. phil., *1953, 1974–1982 Studium der Germanistik, Geschichtswissenschaft und Philosophie an den Universitäten Köln und Bielefeld, 1985 Promotion mit dem Thema »Blödigkeit. Beschreibungen des Individuums im 18. Jahrhundert«, 1996/97 Habilitation mit einer Arbeit über den deutschen Gegenwartsessay. Seit 2000 Professor für Germanistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Siegen. Arbeitsgebiet: Programm einer medienübergreifend vergleichenden Paratextanalyse. Letzte Publikationen: Das Buch zum Vorspann. »The Title is a Shot«. Berlin: Vorwerk 8 2006. (Hrsg. mit Alexander Böhnke u. Rembert Hüser). Aktuelles Arbeitsgebiet, zus. mit Natalie Binczek: Poetik und Hermeneutik des Hörbuchs (Akustische Texte in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur).
Volker Titel Dr. phil., *1966, Studium der Geschichte, Journalistik und Kulturwissenschaften in Leipzig und Basel, Promotion 1999 mit dem Thema »Geschäft und Gemeinschaft. Buchhändlerische Vereine im 19. Jahrhundert«, seit 2002 Wissenschaftlicher Mitarbeiter, seit 2006 Akademischer Rat am Fach Buchwissenschaft an der FAU Erlangen-Nürnberg. Arbeitsgebiete: Electronic Publishing und E-Commerce im Buchhandel, Buchhandelsgeschichte 18. bis 20. Jahrhundert, Lesesozialisation im Kindergarten- und Grundschulalter.
Konrad Umlauf Prof. Dr. phil., Dipl.-Bibl., *1952, 1972–1977 Studium der Germanistik, Volkswirtschaftslehre, Wirtschaftspädagogik und Publizistik an der FU Berlin, 1979–1981 Bibliothekarausbildung in Berlin (Diplombibliothekar FH). 1981 Promotion an der FU Berlin mit dem Thema »Exil, Terror, Illegalität. Die ästhetische Verarbeitung politischer Erfahrungen im Exil bei Ödon von Horváth, Jan Petersen, Bruno Frank und Alfred Neu-
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mann«; Hochschullehre und Bibliothekspraxis, seit 1992 Professor für Öffentliche Bibliotheken am Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft in Berlin. Letzte Publikation: Warenkunde Buch. Strukturen, Inhalte und Tendenzen des deutschsprachigen Buchmarkts der Gegenwart. 2. Aufl. Wiesbaden: Harrassowitz 2007 (zus. mit Sigrid Pohl).
Peter Vodosek Prof. em. Dr. phil., Dipl.-Bibl., *1939, Studium der Geschichte, Germanistik und Bibliothekswissenschaft in Graz und am Süddeutschen Bibliothekar-Lehrinstitut Stuttgart. 1975 Professor an der Fachhochschule für Bibliothekswesen Stuttgart, 1986–2001 Rektor, im Ruhestand seit 2004. Arbeitsgebiet: Bibliotheksgeschichte. Letzte Publikation: Geschichte der Öffentlichen Bücherei in Deutschland. 2. Aufl. Wiesbaden: Harrassowitz 1990 (zus. mit Wolfgang Thauer).
Georg Winter Dr. phil., *1954, Studium Österreichischer Geschichte und Kunstgeschichte mit Promotion 1985 in Wien, Ausbildung zum Bibliothekar an der Österreichischen Nationalbibliothek mit Schlussprüfung 1988. Seit 1992 an der Donau-Universität Krems, Europäisches Dokumentationszentrum, Mitarbeit am Österreichischen Biographischen Lexikon, hrsg. von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, seit 2007 stellvertretender Vorsitzender der Wiener Bibliophilen Gesellschaft.
Reinhard Wittmann Prof. Dr. phil., *1945, 1963–1970 Studium der Neueren Deutschen Literatur, Mediävistik und Philosophie an der LMU München, 1971 Promotion mit dem Thema »Die frühen Buchhändlerzeitschriften als Spiegel des literarischen Lebens«. Seit 1986 Honorarprofessor für Geschichte des Buchwesens an der LMU München, bis 2005 Leiter der Abteilung Literatur (Hörfunk) im Bayerischen Rundfunk, Ordentliches Mitglied der Historischen Kommission des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, seit 2002 Vorsitzender der Gesellschaft der Bibliophilen. Letzte Publikation: Wissen für die Zukunft. München: Oldenbourg 2008 (zus. mit Gisela Teistler).
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Werner Wunderlich Prof. Dr. phil., *1944, 1966–1972 Studium der Germanistik, Geschichte und Politischen Wissenschaften an der Universität Heidelberg, 1974 Promotion an der Universität Heidelberg mit dem Thema »Der ritterliche Kaufmann. Literatursoziologische Studien zu Rudolf von Ems‘ ›Der guote Gêrhart‹«, 1978 Habilitation für Deutsche Literaturgeschichte und Literaturdidaktik an der Universität Hannover. Seit 1991 Inhaber des Lehrstuhls »Medien und Kultur« und Direktor des Instituts für Medien- und Kommunikationsmanagement, Leiter des Lehrprogramms Buchwissenschaften, langjähriger Leiter der Assessment-Stufe der Universität St. Gallen. Arbeitsgebiete: Mediengeschichte und Medienkultur, Literatur des Mittelalters und Mittelalter-Rezeption, Stoffe und Motive in Literatur und Oper, Wirtschaft und Kultur, Mozart. Letzte Publikation: Canta et impera. Mozarts Herrscherfiguren – Mythos und Politik auf der Opernbühne. Göttingen/Bern: Wallstein/Stämpfli 2009.
Helmut Zedelmaier Prof. Dr. phil., *1954, Studium der Geschichte, Germanistik, Politik und Soziologie an der LMU München und in der FU Berlin mit Promotion 1989 mit dem Thema »Bibliotheca universalis und Bibliotheca selecta. Das Problem der Ordnung des gelehrten Wissens in der frühen Neuzeit«, 1996 Habilitation. 1997–2004 Bearbeiter und Leiter von DFG-Forschungsprojekten zur Kultur- und Wissensgeschichte, seit 2004 außerplanmäßiger Professor an der LMU München und Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft historischer Forschungseinrichtungen (AHF). Letzte Publikation: Der Anfang der Geschichte. Studien zur Ursprungsdebatte im 18. Jahrhundert (Studien zum achtzehnten Jahrhundert 27). Hamburg: Meiner 2003.