Lettland 1918–2018. Ein Jahrhundert Staatlichkeit 9783506789051


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Lettland 1918–2018. Ein Jahrhundert Staatlichkeit
 9783506789051

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Ivars Ījabs, Jan Kusber, Ilgvars Misāns, Erwin Oberländer (Hg.) Lettland 1918–2018

Ivars Ījabs, Jan Kusber, Ilgvars Misāns, Erwin Oberländer (Hg.)

Lettland 1918–2018 Ein Jahrhundert Staatlichkeit

Ferdinand Schöningh

Umschlagabbildung: Das Freiheitsdenkmal in Riga Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported Brunswyk at the German language Wikipedia Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, der Konrad-Adenauer-Stiftung sowie der Marga und Kurt Möllgaard-Stiftung Die lettischen Texte wurden von Matthias Knoll (Andžāns/Sprūds, Rozenvalds, Stranga/Krūmiņš, Zellis), Tilman Plath (Bleiere, Ījabs) und Roberts Putnis (Demakova), die englischen Texte von Lisa Bicknell (Golubeva) und Erwin Oberländer (Bergmane, Hansen) übersetzt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. ©2018 Verlag Ferdinand Schöningh, ein Imprint der Brill Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland) Internet: www.schoeningh.de Einbandgestaltung: Nora Krull, Bielefeld Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISBN 978-3-506-78905-1

Inhalt Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Nationalstaat als Herausforderung 1918 – 1940 Kristine Wohlfart Nationale Bewegung und Staatsgründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Erwin Oberländer Stärken und Schwächen des neuen Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

Benjamin Conrad Von der Oberschicht zur Minderheit: Die Deutschbalten . . . . . . . . . . . . . . . .

42

Jan Kusber Überleben zwischen den Großmächten: Lettische Außenpolitik . . . . . . . . .

51

II. Lettland im Zweiten Weltkrieg und in der Sowjetzeit 1940-1991 Kaspars Zellis Die Okkupation Lettlands durch die Sowjetunion 1940/41 . . . . . . . . . . . . . . .

65

Tilman Plath Lettland unter deutscher Besatzung 1941-1944/45 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76

Daina Bleiere Die sowjetische Herrschaft 1944/45-1991. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

Valters Nollendorfs Heimat in der Ferne: Lettisches Nachkriegsexil 1944-1991 . . . . . . . . . . . . . . . .

111

III. Wiedererlangung der staatlichen Selbständigkeit 1991-2018 Una Bergmane Von der Perestroika zur Wiederherstellung der Unabhängigkeit . . . . . . . . .

127

6

INHALT

Ivars Ījabs Zwischen Pluralismus und effektiver Regierung: Lettlands Demokratie seit der Wiederherstellung der Unabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Juris Rozenvalds Die russische Minderheit zwischen Integration und Isolierung . . . . . . . . . .

153

Māris Andžāns, Andris Sprūds Lettlands Außen- und Verteidigungspolitik seit 1991. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

166

IV. Wirtschaft Aivars Stranga, Gatis Krūmiņš Von der Marktwirtschaft über die Staatswirtschaft zur Planwirtschaft 1918-1991 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

181

Morten Hansen Lettlands wirtschaftliche Entwicklung seit 1990: Ist das Glas halbvoll oder halbleer? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202

V. Kultur Marija Golubeva Bildung und Wissenschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

219

Helēna Demakova Nationale Identität, Religion und Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

229

VI. Anhang Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Zeittafel zur Geschichte der Republik Lettland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Karte von Lettland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Abbildungsnachweis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269

Vorwort der Herausgeber Lettland ist im Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit nur wenig präsent. Gerne besuchen die Menschen die Metropole Riga mit ihrer reichen Geschichte und ihren Sehenswürdigkeiten, aber nur selten erfolgt auch ein Besuch der weiteren Regionen des Landes. Die Geschichte und Politik dieses Staates, der 2018 den hundertsten Geburtstag seiner Unabhängigkeitserklärung feiert, kennen die Deutschen kaum. In den Nachrichten spielen vor allem die Ängste der Letten, Esten, Litauer und auch Polen vor dem russischen Nachbarn eine Rolle, insbesondere wenn sich die Spannungen zwischen Russland und der NATO wieder einmal verschärfen. Die gemeinsame Wahrnehmung von Estland, Lettland und Litauen als »baltische Staaten« dominiert. Die Gemeinsamkeiten liegen zwar auf der Hand: Alle drei Staaten profitierten vom Zusammenbruch des Russischen Zarenreiches 1917 und des Deutschen Kaiserreiches 1918. Alle drei Staaten lösten sich in einer erstaunlich friedlichen, »singenden« Revolution aus dem Bestand der Sowjetunion und trugen damit wesentlich zu deren Untergang bei. Alle drei leben in einer geografischen und geopolitischen Lage, die die staatliche Selbständigkeit zu gefährden droht: Das Vorgehen Russlands in der Ukraine mit der Annexion der Krim und dem Krieg in der Ostukraine beunruhigt die Menschen in allen drei Staaten. Aber Lettland, Estland und Litauen als Einheit wahrzunehmen, ist dennoch eine Verengung, der das vorliegende Buch entgegenwirken möchte: Letten, Esten und Litauer sind sprachlich nicht oder nur sehr weitläufig miteinander verwandt. Sie teilten vor der Staatsgründung 1918 eine gemeinsame Geschichte nur insofern, als alle drei im 19. Jahrhundert zum Russischen Reich gehörten. Während die Esten und Letten vor 1918 nie einen eigenen Staat besessen hatten, gelang es den Litauern, zwischen dem 13. und dem 16. Jahrhundert eine großes Reich zu errichten, ja zur Vormacht des östlichen Europa aufzusteigen, bevor sie durch die Vereinigung ihres Staates mit dem Königreich Polen 1569 und dann durch die Zugehörigkeit zum Russischen Reich ebenfalls unter weitgehende Fremdbestimmung gerieten. Die Esten, die über Volk und Sprache eng mit den Finnen verwandt sind, tendierten stets dazu, sich eher als »nordisch« denn als »baltisch« zu definieren und eher Anschluss an Finnland und Schweden als an ihre »baltischen« Nachbarn zu suchen. Auch im 20. Jahrhundert sind trotz vieler Ähnlichkeiten die Unterschiede in der Entwicklung der drei baltischen Staaten nicht zu übersehen. Unterschiedlich waren ihre wirtschaftlichen Schwerpunkte in der Zwischenkriegszeit, und auch die sowjetische Industrialisierung und Militarisierung hat Estland, Lettland und Litauen mit durchaus unterschiedlicher Intensität betroffen. Dementsprechend unterscheiden sich auch die demographischen Veränderungen, die die drei Länder während ihrer Okkupation durch die UdSSR erlebt haben. Dies bezieht sich vor allem auf ihre russischen Minder-

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VORWORT DER HERAUSGEBER

heiten, die in Lettland und Estland nahezu 30% (in Riga gar knapp 40%), in Litauen hingehen nur etwa sechs Prozent der Bevölkerung ausmachen. Es lohnt sich also in jeder Hinsicht einen genaueren Blick zu riskieren. Wir wollen dies für Lettland tun und ein informatives, fundiertes Panorama seiner Geschichte und Kultur, Wirtschaft und Politik seit der Unabhängigkeitserklärung des lettischen Volksrates im November 1918 bieten. Autorinnen und Autoren aus Lettland, Deutschland und Dänemark geben kompakte Überblicke über die wichtigsten Zäsuren und Themen des ersten Jahrhunderts lettischer Staatlichkeit. Bei diesem Saeculum handelt es sich freilich nicht um ein Jahrhundert der durchgängigen Unabhängigkeit Lettlands. 1918-1920 musste die Unabhängigkeit erkämpft werden, gegen Russen (Weiße und Bolschewiki) und gegen Deutsche (auch gegen die Vertreter der deutschbaltischen Eliten). Der lettische Staat behauptete sich zwischen der Weimarer Republik und der Sowjetunion als Demokratie und nach 1934 unter einem autoritären lettischen Regime, bevor 1939 eine neue Periode begann. Im August und September 1939 teilten Hitler und Stalin Osteuropa auf, und Lettland wurde 1940 von der Sowjetunion, 1941 von Deutschland und 1944/45 erneut von der Sowjetunion besetzt. In der lettischen Geschichtsschreibung wird in den vergangenen 25 Jahren zu Recht die Überzeugung vertreten, dass Lettland 1940 keineswegs freiwillig der Sowjetunion beigetreten ist, sondern völkerrechtswidrig okkupiert wurde. Viele Letten emigrierten im Zuge der Okkupation und bildeten in den Ländern der freien Welt, darunter auch in der Bundesrepublik Deutschland, Gemeinschaften mit eigenen Traditionen. Erst mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1990/91 erhielt das Land seine staatliche Unabhängigkeit zurück. Alle Besetzungen waren eine Herausforderung, denn erfolgreiche Selbstbehauptung, Kooperation und Kollaboration waren nicht immer zu trennen. Das sowjetische Lettland erlebte einen massiven Zuzug russischer Menschen, die teils ungefragt als Arbeitskräfte dorthin verlagert wurden, teils aber auch die an der Ostsee besser entwickelte Wirtschaft und die Chancen auf Karriere schätzten. Die Konsequenzen werden bis heute kontrovers diskutiert. Der größte Teil der Letten ist davon überzeugt, dass die Zeit der aufgezwungenen sowjetischen Herrschaft eine dunkle und tragische Periode in der Geschichte des Landes bildete, in der alle traditionellen Kontakte nach Westen abgeschnitten waren und die Unterdrückung sowie die Russifizierung die weitere Existenz der Letten als Nation bedrohte. Die nach 1944/45 aus anderen Sowjetrepubliken nach Lettland eingewanderten, überwiegend russischen Familien sind gegenüber der sowjetischen Vergangenheit Lettlands sehr viel weniger kritisch eingestellt und sehen in der Zugehörigkeit des Landes zur Sowjetunion viele Vorteile. Dabei geht es nicht um einen bloßen »Historikerstreit«, sondern um unterschiedliche Interpretationsmuster der jüngeren Vergangenheit, die große Teile der Gesellschaft verbinden oder trennen. Zu Recht wird von lettischer Seite der Elitenverlust durch die Massendeportationen von 1941 und 1949 betont. Wie stand es aber um die lettischen kommunistischen Kader? Welche Konsequenzen hatte der »Soviet way of life« nach mehr als vier Jahrzehnten? Wie prägten sie das Zusammenleben in

VORWORT DER HERAUSGEBER

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Lettland nach der Unabhängigkeit in der singenden Revolution? Auch diese Fragen werden in diesem Buch diskutiert. Das Lettland der Gegenwart, EU – und für viele Letten noch wichtiger – NATOMitglied, steht vor großen Herausforderungen: Der demographische Wandel mit einer beachtlichen Migration junger und gut qualifizierter Letten trotz einer im EU-Rahmen hohen Geburtenrate ist in vollem Gange, die unmittelbaren Folgen der Finanzkrise von 2008 sind zwar überwunden, aber gut bezahlte Arbeit für möglichst viele Einwohner bleibt eine Herausforderung. Zudem erleben die Letten, dass sie die Sicherung ihrer Eigenstaatlichkeit nur in einem gewissen Umfang in der eigenen Hand haben. Russland als Nachbar ist nicht nur mit Truppen an der Grenze, sondern auch via Medieneinfluss in Lettland stark präsent. In den übernationalen Organisationen hat Lettland nur eine Stimme unter vielen. Diese Situation ist für die knapp zwei Millionen Bewohner Lettlands jedoch eine Realität, mit der sie auch nach der Wiedergewinnung der Unabhängigkeit leben müssen. Schwerpunkt dieses Buches sind Zeitgeschichte und Gegenwart Lettlands. Aber die Geschichte der Letten ist natürlich viel älter. Lettland, etwas kleiner als Bayern, aber größer als Belgien, die Niederlande oder die Schweiz, besteht aus den vier historischen Regionen Kurland (Kurzeme) im Westen, Livland ( Vidzeme) im Nordosten, Semgallen (Zemgale) als schmaler Streifen zwischen Düna (Daugava) und der litauischen Grenze sowie Lettgallen (Latgale) im Südosten. Die Hauptstadt Riga ist auch in geographischer Hinsicht das Zentrum des dünn besiedelten Landes. Jede dieser Regionen und auch Riga haben eine eigene Geschichte mit eigenen Traditionen. Es war die lettische Nationalbewegung des späten 19. Jahrhunderts, die ein Bewusstsein für die Gemeinsamkeiten schuf. Die indoeuropäischen Vorläufer der Letten – die Balten – verbreiteten sich im östlichen Teil des Ostseeraumes im 2. Jahrtausend v. Chr. Hier trafen sie auf die Stämme der finnougrischen Sprachgruppe, deren Nachkömmlinge, die Liven, heute praktisch ausgestorben sind. Im 12./13. Jahrhundert wurde das Siedlungsgebiet der Letten von überwiegend deutschen Kreuzfahrern und Ritterorden erobert und die Einwohner von deutschen Missionaren christianisiert. Gleichzeitig begann die Einwanderung von Deutschen, deren Mehrzahl sich in den neugegründeten Städten niederließ. Das neu entstandene, von den Deutschen dominierte politische Gebilde trug den Namen Livland. Sein Territorium, das in etwa mit dem gegenwärtigen Estland und Lettland übereinstimmte, bestand aus den Landesherrschaften der Bischöfe und dem Gebiet des Deutschen Ordens. Als dieses altlivländische Commonwealth im 16. Jahrhundert unterging, geriet der größere Teil unter polnisch-litauische Oberhoheit während Kurland ein von PolenLitauen abhängiges Lehnsherzogtum wurde. 1629 eroberten die Schweden Livland, nur ein kleiner Teil im Südosten – Lettgallen – blieb bei Polen-Litauen. Damit bildeten sich jene territorialen Einheiten heraus, auf die sich die Letten heute beziehen können. Die deutsche Oberschicht stellte jahrhundertelang das Stadtbürgertum und die Großgrundbesitzer. Im Zuge der Reformation wurde Lettland lutherisch. In dem zu Polen-Litauen gehörenden Lettgallen waren die Menschen, auch infolge der Gegenreformation, katholisch.

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Bis ins 18. Jahrhundert war das Baltikum also zwischen Russland, Schweden und Polen-Litauen umkämpft. Mit der Dritten Teilung Polen-Litauens 1795 wurde das gesamte Gebiet des heutigen Lettlands Bestandteil des Russischen Kaiserreiches. Während die deutschbaltische Oberschicht auf ihren Privilegien beharrte und diese auch unter den Bedingungen der Russifizierung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bewahren konnte, bildete sich im Kontext einer langsam einsetzenden Modernisierung und trotz der konfessionellen Unterschiede zwischen den lutherischen Livland, Kurland und Semgallen und dem katholischen Lettgallen eine insgesamt homogene lettische Bevölkerungsschicht heraus. Riga wurde nach St. Petersburg die zweite, große Metropole des Zarenreichs an der Ostsee. Nach der Unabhängigkeit 1918 blieb Riga zwar eine Metropole, jedoch mit stark reduziertem Umland. Um das heutige Lettland zu verstehen, bleibt die geschichtliche Entwicklung relevant, denn die Letten beziehen sich in ihrer Erinnerungskultur und ihrem Selbstverständnis nachdrücklich darauf. Es ist und bleibt eine Geschichte zwischen den großen Nachbarn, eine Geschichte, die aber eben nicht mit der der großen Nachbarn gleichzusetzen ist. Sie verdient eine eigene Darstellung. Dies wollen wir den Leserinnen und Lesern nahebringen. Die Beiträge zum vorliegenden Band bieten grundlegende Überblicke, verzichten aber nicht auf jeweils eigene Perspektiven und Interpretationen ihrer Autoren. Die Herausgeber möchten ohne Anspruch auf enzyklopädische Vollständigkeit ein lesbares Handbuch präsentieren, das dazu einladen soll, sich mit Lettland zu beschäftigen! Unser herzlicher Dank gilt den Autorinnen und Autoren des Bandes. Besonderer Dank gebührt der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, die seit 1990 mit der Universität Lettlands in Riga partnerschaftlich verbunden ist, der KonradAdenauer-Stiftung sowie der Marga und Kurt Möllgaard-Stiftung für ihre großzügige Förderung der Edition.

I. Nationalstaat als Herausforderung 1918-1940

Kristine Wohlfart

Nationale Bewegung und Staatsgründung Rahmenbedingungen und Anfänge der Nationalbewegung Am 18. November 1918 proklamierte der Volksrat Lettlands in dem von deutschen Truppen besetzten Riga die unabhängige demokratische Republik Lettland. Dieses Ereignis stellte in der lettischen Geschichte einen bedeutenden Wendepunkt dar, denn bis 1918 hatten die Letten, ebenso wie z. B. die Esten und die Finnen im Russischen Reich, noch nie über einen eigenen Staat verfügt. Im Zuge der christlich missionarisch begründeten Eroberung durch die Ordensritter waren die lettischen Stämme bereits im 13. Jahrhundert in die Abhängigkeit einer deutschsprachigen Herrenschicht geraten. Die Folgen dieser Eroberungsgeschichte reichten bis in das 19. Jahrhundert und prägten auch die lettische Nationsbildung: Noch um 1850 gehörten die Letten in den russischen Gouvernements Livland, Kurland und Witebsk fast ausschließlich dem Bauernstand an. Innerhalb ihrer ethnischen Gruppe gab es weder eine Gebildeten- noch eine städtische Mittelschicht. Gelang es den lettischen Bauern sozial aufzusteigen, wurden sie in der Regel von der deutschen Bevölkerungsgruppe assimiliert, die in Livland und Kurland zwar nur etwa 10% der Einwohner, dafür aber die überwiegende Mehrheit der Mittelschicht und die gesamte Oberschicht der Gesellschaft (adlige Großgrundbesitzer, städtisches Bürgertum und Intelligenz) stellte. In den drei von den Letten bewohnten Bezirken des Gouvernements Witebsk (bis 1772 Polnisch-Livland, heute Region Lettgallen) war die lettische Bevölkerung der Assimilierungspolitik des russischen Staates ausgesetzt. Trotz der am Anfang des 19. Jahrhunderts in Livland und Kurland erfolgten Aufhebung der Leibeigenschaft (in Lettgallen erfolgte sie erst 1861), waren die lettischen Bauern um 1850 »wirtschaftlich und verwaltungsmäßig völlig an ihre früheren Herren gebunden. Auf ihren Gütern besaßen Grundherren die Polizeigewalt über die Dorfbewohner, während auf Provinzebene die deutschen Adligen über die Landtage jeden Aspekt des öffentlichen Lebens [...] bestimmten.«1 Aufgrund mittelalterlicher Privilegien, die die russischen Herrscher dem deutschen Adel wiederholt bestätigt hatten, genossen die Provinzen Livland und Kurland innerhalb des Russischen Reiches eine besondere Autonomie: Bis in die 1880er Jahre hinein verfügten sie über ein eigenes von den innerrussischen Gouvernements abweichendes Provinzialrecht, ein eigenes Gerichts-, Polizei- und Schulsystem und eine eigene ständische Selbstverwaltung. So hatte die adlige 1

Haltzel, M.: Der Abbau der deutschen ständischen Selbstverwaltung in den Ostseeprovinzen Russlands 1855-1905. Marburg 1977, S. 1.

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Versammlung Livlands, der Landtag, nicht nur das Recht, alle das Wohlergehen der Provinz betreffenden Fragen zu behandeln, sondern auch die Initiative in der Landesgesetzgebung zu ergreifen, die Gesetzesprojekte der russischen Regierung zur Bestätigung vorzulegen und die wichtigsten Ämter der Provinz- und der Kirchenverwaltung sowie der Justiz und der Polizei zu besetzen. Darüber hinaus war in Livland und Kurland oberhalb der Ebene der Landgemeinde Deutsch die Verwaltungs-, Gerichts- und Schulsprache. Bis in die 1880er Jahre hinein war somit der Einfluss des russischen Staates auf die Verwaltung und das Leben dieser Provinzen gering, die lokale Provinzverwaltung war ganz den örtlichen Adelskorporationen überlassen. Diese Autonomie prägte, wie im folgenden gezeigt wird, auch die politischen Vorstellungen der lettischen nationalen Bewegung. Noch um 1850 wurden die Letten von der Mehrheit der deutschbaltischen Oberschicht kaum als ein selbständiges zukunftsfähiges Volk, sondern vorwiegend als »undeutsche« Bauern wahrgenommen. Und auch die Letten selbst begriffen sich primär als Angehörige einer ständisch-sozialen Gruppe (Bauern), einer Provinz (Livländer und Kurländer) oder einer Glaubensgemeinschaft. Die konfessionelle Identität spielte insbesondere für die katholischen Letten im Gouvernement Witebsk eine zentrale Rolle. Darin unterschieden sie sich von den Letten in den beiden anderen Provinzen, die vorwiegend der lutherischen Glaubensgemeinschaft angehörten. Auch die lettische Kultur war von der kolonialen Geschichte geprägt: Die Letten hatten zwar eine reiche Folklore, aber sie besaßen keine von der eigenen Elite kreierte nationale »Hochkultur«. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts widmeten sich – vor allem aufgrund des Muttersprachengebots der Reformation – ausschließlich deutsche Pastoren der Bildung der Letten: Sie entwickelten und normierten die lettische Schriftsprache, übersetzten die geistliche Literatur ins Lettische und verfassten die ersten für die Erziehung und Belustigung des einfachen Volks gedachten Werke auf Lettisch. Unter dem Einfluss der Ideen J.G. Herders begann ein Teil des deutschen Klerus am Anfang des 19. Jahrhunderts, »die lettischsprachigen Bauern als ein unterdrücktes Volk und die lettische Sprache und Folklore als Objekte eines grundlegenden wissenschaftlichen Interesses zu betrachten. […] Die intellektuellen und institutionellen Konsequenzen dieser geänderten Einstellung waren zahlreich und dauerhaft, insbesondere auf dem Gebiet der Gelehrtengesellschaften und der Veröffentlichungen.«2 Die deutschen Pastoren riefen mehrere wissenschaftliche Vereine ins Leben, die sich mit der Erforschung der lettischen Sprache und der lettischen Folklore befassten. Sie gaben auch die ersten lettischen Zeitungen heraus und gründeten in Livland und Kurland Volksschullehrerseminare, die die lettischsprachigen Landvolksschulen mit guten Fachkräften versorgten. Diese Lehrer bildeten die Basis der lettischen Gebildetenschicht und wurden seit den 1860er Jahren auch zu wichtigen Multiplikatoren der nationalen Ideen in den lettischen Landgemeinden. Die Tätigkeit der deutschen Pastoren auf dem Gebiet der Volksbildung führte außerdem dazu, 2

Plakans, A.: The Latvians. A Short History. Stanford 1995, S. 84.

NATIONALE BEWEGUNG UND STAATSGRÜNDUNG

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dass die Letten einen hohen Alphabetisierungsgrad aufwiesen (1881 waren 90% der Letten in Livland, die älter als 14 Jahre waren, lesekundig) – eine Tatsache, die für die Ausbreitung der lettischen Nationalbewegung ebenfalls von entscheidender Bedeutung war. Das Ziel der hier skizzierten Kultur- und Bildungsarbeit war jedoch, wie Ivars Ījabs hervorhebt, nicht die vollständige Emanzipation der Letten: Aus ihrem ständischen Denken und dem Gefühl der kulturellen Überlegenheit heraus betrachteten die deutschen Pastoren die Letten als ein Bauernvolk, das sich noch in einem unreifen bzw. kindlichen Zustand befand und daher noch der Anleitung und des Schutzes durch ihre »natürlich« überlegenen Patrone bedurfte. Die Bildung sollte deshalb nur in den »seltenen Fällen außerordentlicher Begabung« den sozialen Aufstieg der Bauern fördern. Ihr Hauptziel sollte vielmehr darin bestehen, die Bauern »frommer, wohlhabender und glücklicher« zu machen und sie somit in ihrer sozialen Position festzuhalten.3 Ganz anders blickten die Mitglieder einer kleinen Gruppe lettischer Studenten, die in den 1850er Jahren an der deutschsprachigen Universität Dorpat studierten und sich dort regelmäßig zu »Lettischen Abenden« trafen, auf die Letten und deren Zukunft. Warum diese »in die kulturelle Sphäre der Mächtigen hineinsozialisierten Gelehrten« bäuerlicher Herkunft ( J. Joachimsthaler) in ihrer Dorpater Zeit ein »wertbezogenes Nationalbewusstsein« (M. Hroch) entwickelten, ist nicht ausreichend belegt. Die Forschung deutet dies als eine Reaktion auf die deutsch-nationale Begeisterung, die in den 1850er Jahren die deutschbaltische Gesellschaft und insbesondere die deutschen Studentenverbindungen Dorpats erfasste, denen ursprünglich auch die lettischen Kommilitonen angehörten. Sie regte offenbar die lettischen Studenten dazu an, sich mit ihrer eigenen nationalen Identität auseinanderzusetzen und einen eigenen lettischen Studentenkreis zu gründen. Auch die Tätigkeit der deutschbaltischen wissenschaftlichen Vereine, allen voran der »Lettisch-Literärischen Gesellschaft« (gegr. 1824), die neue Erkenntnisse über die Kultur und die Sprache der Letten erbrachte, verstärkte das Interesse dieser Studenten an ihrem Lettentum. Einige von ihnen wurden zwischen 1856 und 1859 zu Mitarbeitern der ersten von den Letten selbst herausgegebenen Zeitung »Mājas Viesis« (Hausgast) und gaben zwischen 1862 und 1865 in St. Petersburg die Zeitung »Pēterburgas Avīzes« (Petersburger Zeitung) heraus. Anders als die deutschen Geistlichen behandelten die Jungletten – so hatte der deutsche Pastor G. Brasche die ersten Nationalaktivisten in Anspielung auf die Vertreter des Jungen Deutschland bezeichnet – die Leser ihrer Zeitung nicht als »unreife Kinder«, sondern als »reife Erwachsene« (I. Ījabs): Sie berichteten über die Themen der Gegenwart (Liberalismus, Parlamentarismus, Agrarreformen, wissenschaftliche Erkenntnisse, technische Errungenschaften usw.) auf die gleiche Art und Weise, wie dies die deutschen Zeitungen taten. Damit machten sie deutlich, dass sie von einem lettischen Leser 3

Ījabs, I.: Another Baltic Postcolonialism: Young Latvians, Baltic Germans, and the Emergence of Latvian National Movement. In: Nationalities Papers 42 (2014), S. 88-107, hier S. 92-93.

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ausgingen, der dem deutschen Leser ebenbürtig war und der Vormundschaft der deutschen Patrone nicht bedurfte. Das »Programm« der Jungletten sah eine umfassende Emanzipation der Letten sowie ihre Entwicklung zu einer modernen Nation vor. Sie sprachen sich für die Entwicklung einer modernen lettischen Kultur aus, die der deutschen »Hochkultur« ebenbürtig wäre, und widmeten der Förderung des lettischen Bauerngrundbesitzes besondere Aufmerksamkeit. Ein zentrales Anliegen der Jungletten war es überdies, das Selbstbewusstsein der Letten zu fördern. Sie hoben in ihren Schriften hervor, dass die Letten keine Bauern, sondern ein Volk und somit den anderen europäischen Völkern gleichwertig seien. Damit die Letten sich als Glieder einer nationalen Gemeinschaft zu begreifen lernten, betonte die junglettische Presse den Reichtum ihrer Sprache und Folklore, die Bedeutung der altlettischen Gottheiten und die glückliche Geschichte der Letten vor ihrer Unterwerfung durch die Deutschen. Solche Darstellungen waren vor allem als Basis für die Konstruktion der lettischen nationalen Identität gedacht. Diese publizistische Tätigkeit stellte jedoch die Dominanz der deutschbaltischen Elite in Frage und forderte ihr koloniales und kulturelles Selbstverständnis heraus. Deshalb sorgten ihre Repräsentanten dafür, dass die staatlichen Behörden die junglettischen Aktivitäten 1863/1865 einschränkten bzw. unterbrachen. Trotzdem konnten die nationalen Aktivitäten bald fortgeführt werden. Das lag vor allem daran, dass die Letten seit dem Ende der 1860er Jahre von der liberalen Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik Alexanders II. und anfänglich auch von den Plänen des russischen Staates profitieren konnten, die Ostseeprovinzen stärker ins Russische Reich zu integrieren. Bereits im Jahr 1868 riefen die Vertreter des sich formierenden lettischen Kleinbürgertums den Rigaer Letten Verein (RLV) ins Leben, der explizit nationale Ziele verfolgte und sich bald zum organisatorischen Zentrum der Rigaer Letten und der lettischen Nationalbewegung entwickelte. Dass die Behörden die Gründung dieses Vereins und kurz darauf auch die Herausgabe der lettischen Zeitung »Baltijas Vēstnesis« (Baltischer Bote) genehmigten, dessen Herausgeber und Mitarbeiter eng mit der Führung des RLV verbunden waren, hing nicht nur mit der Liberalisierung der russischen Gesellschaftspolitik, sondern auch mit der neuen Integrationspolitik des Staates zusammen: Nach dem polnischen Aufstand von 1863 hatte sich die russische Regierung entschlossen, die Ostseeprovinzen stärker in das Imperium einzubinden. Dabei stieß sie jedoch auf den Widerstand der deutschen Oberschicht. Gerade das aber veranlasste die russischen Staatsbeamten, den lettischen nationalen Aktivisten zumindest vorübergehend größere Handlungsfreiheit zu gewähren. Da sie die Letten nicht als eine selbständige Nation, sondern lediglich als »ethnisches Material« betrachteten, das sich nur an ein Volk mit »höherer Kultur« anlehnen könne, hielten sie es für notwendig, die Germanisierung der Letten und somit das Entstehen eines deutschen Übergewichts in den Ostseeprovinzen zu verhindern und dafür zu sorgen, dass die Letten sich an die Russen und an Russland »anlehnten«. Diese Politik verfuhr zweigleisig: Einerseits sollten die Letten mit Hilfe von modernen Reformen und der russischen Sprache für Russland »ge-

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wonnen werden«. Andererseits gewährten die Behörden den lettischen Aktivisten, die ebenso wie sie die Germanisierung der Letten ablehnten und die Einführung von Reformen durch die Regierung befürworteten, bis zur Mitte der 1880er Jahre eine relativ große Handlungsfreiheit. Darüber hinaus profitierte die lettische Nationalbewegung davon, dass die russische Regierung nach dem verlorenen Krimkrieg 1854/1856 liberale Reformen und Initiativen zur Wirtschaftsförderung einleitete, die zu einer fundamentalen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Transformation der Gouvernements Livland, Kurland und Witebsk führten. So stieg z. B. nach dem gesetzlich verordneten Übergang zur Geldpacht am Ende der 1860er Jahre die Zahl der Höfe, die die lettischen Bauern in Privatbesitz erwerben konnten, schnell an. Am Anfang der 1880er Jahre gab es in Livland und Kurland mehr als 50.000 lettische Großbauern, und den meisten von ihnen gelang es bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, ihre Höfe zu leistungsfähigen Einzelbetrieben auszubauen. 1913 waren auf dem Territorium des späteren Lettlands ca. 860 Landwirtschaftsvereine mit ca. 60.000 Mitgliedern registriert. Etwa 300 dieser Vereine hatten sich in der 1906 gegründeten Rigaer Landwirtschaftlichen Zentralgesellschaft zusammengeschlossen, aus der im Mai 1917 der Lettische Bauernbund hervorging. Die Agrargesetze der 1860er Jahre verpflichteten jedoch die Gutsbesitzer in Livland und Kurland nicht, einen bestimmten Teil ihres Landes an die Bauern zu verkaufen. Sie ließen sich im Fall solcher Verkäufe vor allem von marktwirtschaftlichen Überlegungen leiten. In Livland war es ihnen jedoch verboten, einen Teil ihres Landes – das sogenannte Bauernland – selbst zu nutzen. Dieses Land durften sie nur an die Bauern verkaufen oder verpachten. In Kurland existierte eine solche Einschränkung nicht. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs befand sich immer noch mehr als die Hälfte der Fläche Livlands und mehr als 40% der Fläche Kurlands im Besitz der meist adligen deutschen Großgrundbesitzer. Dabei betrug die durchschnittliche Größe der Gutshöfe in Livland 2.500 ha und in Kurland 2.000 ha. Die Agrarreformen des 19. Jahrhunderts förderten also die Entstehung des selbständigen lettischen Bauerntums, konnten jedoch den Landhunger in Livland und Kurland kaum stillen, so dass die Zahl der Landlosen in diesen Provinzen hoch blieb (am Anfang des 20. Jahrhunderts ca. 140.000 Familien)4. Dies verursachte große soziale Spannungen, die sich insbesondere in der Revolution von 1905 entluden, und machte die Forderung nach einer Bodenreform zu einem zentralen Bestandteil der sozialpolitischen Programme aller lettischen Parteien in den Jahren 1905/1906 und 1917/1918. Mit dem Übergang zur Geldpacht und zum Bauernlandverkauf wurde »die ständische Ordnung ökonomisch gesprengt [...], politisch jedoch versteinerte« sie5. Denn die 1866 eingeführte Landgemeindeordnung sicherte zwar der letti4 5

In Lettgallen, wo aufgrund des 1861 erlassenen Agrargesetzes viele Bauern kleine Grundstücke erwerben konnten, stellten arme Kleinbauern die Mehrheit der ländlichen Bevölkerung. Pistohlkors, G.v.: Die historischen Voraussetzungen für die Entstehung der drei baltischen Staaten. In: Meissner, B. (Hrsg.): Die baltischen Nationen. Köln 1990, S. 11-52, hier S. 21.

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schen Landbevölkerung uneingeschränkte Selbstverwaltung zu, doch bis 1917 wurden in Livland und Kurland weder eine Kreistags- noch eine Landtagsreform durchgeführt, die die selbstbewusst gewordenen Bauern politisch beteiligt hätten. In Lettgallen konnten die bäuerlichen Vertreter seit 1864 an den Landschaftsversammlungen (Zemstvo) mitwirken, die jedoch geringere Kompetenzen als der livländische Landtag besaßen. Die Herstellung der Freizügigkeit und die Einführung der Gewerbefreiheit in den 1860er Jahren sowie die seit den 1890er Jahren stark zunehmende Urbanisierung und Industrialisierung, der Ausbau des Verkehrs und des Handels bewirkten, dass immer mehr Letten ihre Dorfgemeinden verließen, sich in den Städten, insbesondere in Riga, niederließen und sich dort neue Erwerbszweige erschlossen. So stieg die Zahl der lettischen Einwohner in Riga, der größten Stadt der Ostseeprovinzen, von 24.000 im Jahr 1867 auf 127.000 im Jahr 1897, womit sie schon die relative Mehrheit (45%) der Einwohner Rigas noch vor den Deutschen (24%) und Russen (16%) stellten. Im Jahr 1913 hatte Riga bereits mehr als 500.000 Einwohner, von denen die Letten (210.000) die relative Mehrheit bildeten, gefolgt von den Russen (99.000) und den Deutschen (knapp 69.000). Infolge der Modernisierung entwickelten sich die Letten zwischen 1860 und dem Ersten Weltkrieg von einem Bauernvolk zu einer modernen, sozial differenzierten Gesellschaft: Waren 1881 etwa 80% der berufstätigen Letten Livlands und Kurlands in der Landwirtschaft beschäftigt, verdienten 1897 schon deutlich weniger (57% aller Letten) ihren Lebensunterhalt in diesem Erwerbszweig. In den Bereichen Industrie und Handwerk arbeiteten damals 17% der berufstätigen Letten (ca. 75.000 Personen), wobei der Löwenanteil auf die lettischen Arbeiter in der Metall- und Holzverarbeitung sowie in der Bau- und Bekleidungsindustrie entfiel. Der soziale Wandel schritt insbesondere infolge des wirtschaftlichen Aufschwungs der Jahre 1909-1913 schnell voran. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs gab es allein in Riga 79.000 lettische Arbeiter, darunter 49.000 Industriearbeiter. Auch das lettische Bürgertum Rigas hatte sich vergrößert: 1913 waren mehr als 40% aller Hausbesitzer sowie aller Industrie- und Handelsunternehmer in Riga Letten. Sie stellten die relative Mehrheit der größeren Immobilienbesitzer und dominierten unter den Inhabern der mittleren und kleinen Unternehmen der Stadt. Da die russische Städteordnung von 1892 das Wahlrecht vom Besitz von Unternehmen oder Immobilien abhängig machte, stiegen infolge dieses wirtschaftlichen Erstarkens die Chancen der Letten, in die Stadtparlamente gewählt zu werden. Zwischen 1910 und 1912 waren 43% aller Stadtverordneten der kurländischen Städte Letten und das obwohl sie nur in den kleineren Städten dieser Provinz, in Bauska, Jaunjelgava, Tukums (Bauske, Friedrichstadt, Tuckum) die Mehrheit der Stadtverordneten stellten. In Riga, wo die Deutschen einen hohen Anteil unter den Wahlberechtigten hatten und seit 1901 auch Wahlbündnisse mit dem russischen Wahlkomitee eingingen, um die Verwaltung Rigas auch weiterhin bestimmen zu können, gab es 1905 unter den 80 Stadtverordneten 12 Letten, 1909 schon 26 und 1913 erneut 23 Letten. Auch wenn in vielen Städten »die Zusammensetzung der Stadtverordnetenversammlung zu keiner Zeit den Wandel in der natio-

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nalen Struktur der Bevölkerung widerspiegelte,«6 gab die Mitarbeit in den Stadtparlamenten ebenso wie die Mitwirkung an der Arbeit der russischen Reichsduma (1906-1917) den Repräsentanten der lettischen Elite die Möglichkeit, politische und administrative Erfahrungen zu sammeln. Bis zum Ersten Weltkrieg nahm auch die Zahl der akademisch gebildeten Letten stetig zu. 1914 gab es unter den Letten etwa 3.000 Akademiker. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges verfügten die Letten somit über genügend Führungskräfte und Kapazitäten, um einen eigenen Staat zu organisieren und aufzubauen.

Riga als Zentrum der lettischen Nationalbewegung Wie schon erwähnt, waren die Letten Rigas von der sozialen Mobilisierung überdurchschnittlich stark betroffen. So war z.B. mehr als die Hälfte der 50.000 Letten, die 1881 in Riga lebten, im Laufe der letzten vierzehn Jahre nach Riga eingewandert. Die Einwanderung in diese deutsch geprägte Stadt machte vielen Letten den Verlust der traditionellen ländlichen Geborgenheit und Gemeinschaft bewusst und steigerte somit ihr Bedürfnis nach einer neuen Identität und Gruppenzugehörigkeit. Darüber hinaus bildeten die Letten in Riga in den 1870er Jahren eine weitgehend homogene soziale Gruppe, die nicht nur gemeinsame sprachliche und kulturelle, sondern oft auch ähnliche soziale, kommunale und berufliche Interessen hatte. Gleichzeitig war in keiner anderen Stadt der Ostseeprovinzen die Dominanz der deutschen Bevölkerungsgruppe in allen Lebensbereichen so stark ausgeprägt wie in Riga. Dies alles förderte den Wunsch der lettischen Einwanderer, sich zur Vertretung ihrer Interessen zusammenzuschließen, und schuf günstige Voraussetzungen für die Ausbreitung der lettischen Nationalbewegung: In den 1870er gab es in Riga sieben lettische Vereine mit ca. 6000 Mitgliedern und 1881 erschienen dort sechs von insgesamt neun in Livland und Kurland zugelassenen lettischen Zeitungen. Dem neugegründeten Rigaer Letten Verein traten bereits 1869 mehr als 1000 Mitglieder bei. Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts, als der Verein infolge der sozialen und politischen Differenzierung seine führende Stellung in der lettischen Gesellschaft einbüßte, schwankte die Mitgliederzahl des Vereins stets zwischen 800 und 1100. Die Mitglieder des RLV gehörten mehrheitlich dem lettischen Bürgertum an, doch waren unter den Vereinsaktivisten neben dem Bürgertum auch die Repräsentanten der lettischen Intellektuellen zahlreich vertreten. Die Mehrheit dieser Männer – nur sie durften dem Verein beitreten – stammte aus Familien ländlicher Produzenten und war mit den Bedürfnissen und Problemen der lettischen Bauern gut vertraut. Deshalb konnte der RLV gleich nach seiner Grün6

Oberländer, E.: Rigas Aufstieg zur nationalen Wirtschaftsmetropole. In: Oberländer, E., Wohlfart, K. (Hrsg.): Riga. Portrait einer Vielvölkerstadt am Rande des Zarenreiches 1857-1914. Paderborn 2004, S.11-30, hier S. 26.

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dung Kontakte zu den lettischen Landbewohnern knüpfen und auch ihre Interessen vertreten – ein Umstand, der angesichts der sozialen Struktur der Letten für die Entfaltung der lettischen Nationalbewegung von großer Bedeutung war. Die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Vorstellungen der RLV-Aktivisten hatten liberalen Charakter und prägten auch die Ziele und den Charakter der lettischen Nationalbewegung. Sie strebten die Abschaffung der ständischen Ordnung bzw. der Adelsprivilegien sowie die wirtschaftliche und politische Entwicklung des lettischen Mittelstandes an. Gerade die Vertreter der lettischen Mittelschicht, die sich durch Bildung und Besitz auszeichneten, sollten nach Meinung des RLV zu Repräsentanten der Letten in den zu reformierenden Einrichtungen der Provinzselbstverwaltung und in den Stadtparlamenten werden. Sie, und nicht die deutschbaltische Oberschicht, sollten auch die Interessen des lettischen Volkes gegenüber der russischen Regierung vertreten. Das 1883 formulierte Reformprogramm des RLV enthielt u.a. Forderungen nach »angemessener« Vertretung der Letten in den Stadtparlamenten, nach der Gleichberechtigung der lettischen und der deutschen Sprache, dem Ausbau des lettischen Schulsystems und der Einführung der modernen russischen Gerichtsordnung. Darüber hinaus hielten die Wortführer des RLV die Aufhebung der Adelsprivilegien und ein regulierendes Eingreifen des Staates in den Prozess des Verkaufs von Bauernland für notwendig. Im Rahmen dieses Memorandums wurden zum ersten Mal auch die territorialpolitischen Vorstellungen der lettischen Nationalbewegung »von einer ›Latwija‹ als einem auf ethnischen Kriterien basierten Territorium [...], das mit besonderen politischen Institutionen ausgestattet werden sollte«7 formuliert. Sie dürfen als eine Grundlage für die 1905 und 1917 propagierten Autonomievorstellungen der Letten angesehen werden, denn mit dem RLV-Memorandum wurde der Begriff »Latwija«, wie Ivars Ījabs verdeutlicht hat, ein politischer Begriff. Nach Ansicht der Führer des RLV sollten die administrativen Grenzen der Ostseeprovinzen den nationalen bzw. sprachlichen Grenzen angepasst werden und ein Gouvernement Lettland aus der Provinz Kurland und dem lettisch besiedelten Südlivland gebildet werden. Die weitreichende Autonomie der Provinz Livland im Russischen Reich vor Augen, sprach sich der RLV außerdem für die Übertragung der umfassenden Kompetenzen des livländischen Landtags auf die Provinzselbstverwaltung des zukünftigen Gouvernements Lettland aus. Schließlich sollten in der in diesem Gouvernement neu zu bildenden Landschaftsversammlung die Vertreter der lettischen Bauern die Mehrheit der Sitze erhalten. Dies waren Forderungen, die die lettischen Repräsentanten, wenn auch in anderer Form, 1905 und 1917 wiederholten. Darüber hinaus verfolgte der RLV auch ein kulturelles Programm: Seine Mitglieder widmeten sich der Erforschung der Sprache, der Volkskultur und der Geschichte der Letten und förderten die Entstehung einer lettischen »Hochkultur«, 7

Ījabs, I.: Als »Latwija« zu einem politischen Begriff wurde. Die Revision von 1882/83 durch Senator Nikolaj Manassein und das politische Denken der lettischen Nationalbewegung. In: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 65 (2016), S. 373-406, hier S. 374.

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die sie als einen wichtigen Beweis für die nationale Existenz des Volks erachteten. Dabei wurde das Konzept der lettischen »Hochkultur« von den »dominanten deutschen Bildungswelten aus entwickelt« (J. Joachimsthaler) und z.T. auch mit ihren Mitteln ausgearbeitet. Die Mitglieder des RLV gründeten einen vereinseigenen Verlag, gaben »nützliche« Bücher heraus, sammelten Materialien der Volkskultur und der Sprache, riefen das lettische Nationalmuseum ins Leben und vergaben Stipendien an lettische Studenten. Sie schrieben auch regelmäßig Preise für Werke der lettischen Literatur, der Musik und des Theaters aus, gründeten das erste lettische Theater und unterstützten die lettischen Schriftsteller und Komponisten finanziell. Die Tätigkeit des RLV war also auf die Überwindung der Defizite gerichtet, die der lettischen Nation zu einer vollständigen nationalen Existenz fehlten (vollständige Sozialstruktur, Hochkultur, politische Autonomie). Ein zentrales Ziel des RLV war auch, »das nationale Bewusstsein in breitere Bevölkerungsschichten zu tragen, sie zu mobilisieren und zu einer Nationsgesellschaft zu integrieren«8. Hierzu organisierte der RLV auch große Massenveranstaltungen (die allgemeinen lettischen Sängerfeste, die allgemeinen lettischen Landwirte- und Lehrerversammlungen, die erste lettische ethnografische Ausstellung), an denen zum ersten Mal die Letten Kurlands und Livlands gemeinsam teilnahmen und zum Zusammenhalt, zur Eintracht und zur gemeinsamen Interessenvertretung aufgerufen wurden. Mit Hilfe der genannten Aktivitäten konnte der RLV eine lockere nationale Organisationsstruktur begründen, die sich auf die einzigen von den Letten selbst gewählten Einrichtungen, die Landgemeindeverwaltungen und die Vereine, stützte. So gelang es dem RLV einen bedeutenden Teil der lettischen Gesellschaft national zu mobilisieren: Seinen Aktionen schlossen sich zwischen 1868 und 1905 etwa 300 Landgemeinden und mehr als 100 Vereine in Livland und Kurland an; das dritte allgemeine lettische Sängerfest (1888) besuchten etwa 40.000 und die erste lettische ethnographische Ausstellung (1896) etwa 45.000 Personen. Die Aktivisten des RLV handelten stets nur im Rahmen der bestehenden Gesetze und wollten ihre Ziele nur mit legalen Mitteln erreichen. Seit dem Anfang der 1880er Jahre, als der deutschbaltische Adel die Beteiligung lettischer Bauernvertreter an der Kreis- bzw. Provinzselbstverwaltung abgelehnt hatte, orientierten sie sich immer stärker auf die russische Reichsregierung. Die Verwirklichung seines sozialpolitischen Programms machte der RLV nur noch von der Einführung staatlicher Reformen abhängig. Auch als diese Reformen ausblieben und die reaktionäre Politik Alexanders III. die lettischen nationalen Bestrebungen behinderte, blieben die meisten Aktivisten des RLV der russischen Regierung gegenüber loyal und hielten sich mit ihrer Kritik zurück (am Ende der 1880er Jahre wurden die Gerichts-, Polizei und Verwaltungseinrichtungen der Ostseeprovinzen nach dem russischen Vorbild reformiert, Russisch zur Amts- und Gerichtssprache sowie zur Unterrichtssprache gemacht und die lettische Presse und Vereine einer stärkeren polizeilichen und administrativen Kontrolle unterwor8

Kappeler, A.: Rußland als Vielvölkerreich. München 2001, S. 177-178.

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fen). Der evolutionäre Weg der nationalen Entwicklung, den ein Teil der lettischen bürgerlichen Kreise bis zum Ersten Weltkrieg befürwortete, beruhte auf der Überzeugung, dass die Letten vom wirtschaftlichen Aufschwung und der höheren Bildung profitieren und so auch unter den bestehenden politischen Bedingungen einen immer größeren Einfluss auf das Leben der Provinzen gewinnen würden. Deshalb sollten sie auch gut auf die zukünftige politische Beteiligung vorbereitet werden.

Von der Autonomie zur staatlichen Unabhängigkeit Die seit den 1890er Jahren stark zunehmende soziale Differenzierung der lettischen Gesellschaft sowie der Einfluss der vorwiegend aus Deutschland »importierten« marxistisch-sozialistischen Ideen auf einen Kreis junger lettischer Intellektueller, die sich um die Arbeitervereine Rigas und die Zeitung »Dienas Lapa« (Tageblatt) gruppierten, förderten auch die politische Aufspaltung der lettischen Gesellschaft. Am Anfang des 20. Jahrhunderts entstand die lettische sozialistische Bewegung: 1903 wurde im Schweizer Exil die Union der Lettischen Sozialdemokraten gegründet, deren Mitglieder die Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht des Volkes mit den Idealen des Sozialismus und der Überzeugung verknüpften, dass der individuelle Terror das einzig wirksame Kampfmittel sei. Die weitaus größere und einflussreichere sozialistische Partei war jedoch die 1904 in Riga illegal gegründete Lettische Sozialdemokratische Arbeiterpartei (LSDAP), deren Mitgliederzahl infolge der revolutionären Ereignisse des Jahres 1905 auf 17.000 stieg. Bereits 1906 trat sie als territorial autonome Organisation – Sozialdemokratie Lettlands (SDL) – der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands bei und wurde seit 1914 von den Bolschewiki dominiert. LSDAP/SDL war während der Revolution von 1905 und dann wieder nach der Februarrevolution von 1917 die einflussreichste lettische Partei: Im Sommer 1917 gelang es der Partei, ihren politischen Einfluss auf die Lettischen Schützenregimenter der russischen Armee auszudehnen. Die Wahlen zum Rigaer Stadtrat, zum Livländischen Landesrat und zur Russischen Konstituante, die im Herbst 1917 stattfanden, ergaben für die SDL zwischen 40 und 70% der abgegebenen Stimmen. Auch wenn diese Wahlergebnisse »unter zweifelhaften Umständen, mitten im Krieg, während hunderttausende Letten auf der Flucht sind, auf einem territorial stark eingeschränkten Gebiet Lettlands [...] zustande gekommen waren«9, lassen sie doch erkennen, dass ein bedeutender Teil der lettischen Bevölkerung sich eine radikale und schnelle Umgestaltung der bestehenden Verhältnisse (insbesondere der Agrarverhältnisse) wünschte. Diesem Wunsch schien das klare Aktionsprogramm der 9

Henning, D.: Die Legende vom dritten Weg: Die sozialistische Sowjetrepublik Lettlands (19181920). In: Journal of Baltic Studies 25 (1994), S. 331-348, hier S. 333.

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SDL (Beendigung des Krieges, Machtübergabe an lokal gewählte Räte, Agrarreform) am ehesten zu entsprechen. Die ersten lettischen bürgerlichen Parteien wurden erst nach dem Oktobermanifest von 1905 bzw. im Zusammenhang mit den Wahlen zur russischen Reichsduma gegründet. Die Zahl ihrer Mitglieder blieb jedoch gering und sie fungierten eher als »kurzfristige Wahlorganisationen« (U.Ģērmanis). Echte bürgerliche Parteien bildeten sich erst im Frühjahr 1917 (die Radikaldemokratische Partei, die Republikanische Partei, die Demokratische Partei, die Nationaldemokratische Partei, die Unabhängigkeitsvereinigung). Dabei entwickelte sich der im Mai 1917 gegründete Lettische Bauernbund (LBB) zur größten lettischen Partei. Bereits im August 1917 zählte er 20.000 Mitglieder und gründete mehr als 160 lokale Parteiabteilungen, wobei er sich auf die lettischen Landwirtschaftsvereine stützen konnte. Doch angesichts der großen Zahl der Landlosen, die eine schnelle Lösung der Agrarfrage eher der SDL zutrauten, gelang es dem Bauernbund, der ebenfalls die Enteignung des adligen Großgrundbesitzes und dessen Aufteilung unter den Landlosen forderte, bei den 1917 abgehaltenen Wahlen zu den Kreis- und Landesräten in Livland sowie zur Russischen Konstituante nur 25-40% der abgegebenen Stimmen auf sich zu vereinen. Im Zuge der Herausbildung politischer Parteien gewann auch das Autonomiebestreben der Letten klarere politische Konturen. Bis Ende 1917 gingen alle lettischen Parteien jedoch nicht über die Forderung nach politischer Autonomie im Rahmen des Russischen Reiches hinaus. Lediglich ein führendes Mitglied der Union der Lettischen Sozialdemokraten, M. Valters, hatte sich bereits 1903 für die Gründung einer unabhängigen lettischen Arbeiter-Republik ausgesprochen, in der der Sozialismus etabliert und so unter anderem auch die nationalkulturelle Entwicklung breiter Volksmassen gefördert werden sollte. Im Gegensatz dazu war die SDL mehrheitlich zentralistisch und internationalistisch ausgerichtet und verhielt sich den nationalpolitischen Zielen gegenüber zurückhaltend, um die revolutionäre Bewegung nicht zu spalten. Im Namen der proletarischen (Welt)Revolution lehnte sie auch die Loslösung von Russland ab. Nur ein kleiner demokratisch und national gesinnter Teil der lettischen Sozialdemokratie trat 1913/14 für eine weitreichende Selbstverwaltung Lettlands ein und unterstützte nach der bolschewistischen Machtergreifung im Oktober 1917 auch die Gründung der unabhängigen Republik Lettland. Dabei betonten jedoch auch diese lettischen Sozialdemokraten, dass sie am Klassenkampf festhielten und dass ihr Fernziel ein sozialistisches Lettland in einem sozialistischen Völkerbund bleibe. Die lettischen bürgerlichen Parteien sprachen sich bereits 1905 für eine weitreichende Selbstverwaltung der von Letten bewohnten Provinzen aus. Nach der Februarrevolution von 1917 forderten sie ein politisch autonomes Lettland in einem föderativen demokratischen Russland: Ihre Programme sahen die Einberufung einer lettischen Verfassunggebenden Versammlung sowie die Wahl eines lettisches Parlaments vor. Erst als die Truppen des kaiserlichen Deutschlands im August 1917 Riga besetzt hatten, was die Gefahr der Aufteilung des lettischen

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Siedlungsgebiets zwischen Deutschland und Russland erhöhte, sprachen sich immer mehr bürgerliche Politiker für die staatliche Unabhängigkeit Lettlands aus. Da es angesichts der Besetzung Kurlands und Rigas durch die Deutschen nicht möglich war, ein Organ zu wählen, das den politischen Willen des ganzen lettischen Volkes nach außen vertreten konnte, konstituierte sich am 17./19. November 1917 in der Stadt Valka (Walk) der Lettische Provisorische Nationalrat (LPN). In ihm waren das Zentralkomitee für die Versorgung lettischer Flüchtlinge, verschiedene lettische Organisationen sowie die Landesräte und die lettischen politischen Parteien vertreten, wobei die sozialistischen Parteien und der von ihnen dominierte Livländische Landesrat ihre Mitarbeit verweigerten und die demokratisch und national gesinnten Mitglieder der SDL nur als Beobachter anwesend waren. Unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker protestierte der Provisorische Nationalrat in seiner ersten Resolution vom 19. November 1917 gegen die Aufteilung Lettlands bzw. dessen vollständige Angliederung an Deutschland und erklärte Lettland, bestehend aus Südlivland, Kurland und Lettgallen, zu einer unteilbaren, autonomen Staatseinheit, über deren Zukunft die Verfassunggebende Versammlung und ein Plebiszit entscheiden sollten. Während diese Formulierung noch offen ließ, ob Lettland zukünftig ein unabhängiger Staat oder ein Teil des föderativen Russlands sein würde, erklärte der Nationalrat zwei Monate später, am 17. Januar 1918, dass Lettland eine unabhängige demokratische Republik werden solle. Der Grund für diese Erklärung waren die Ereignisse in Russland, vor allem die von Sowjetrussland begonnenen Friedensgespräche mit den Mittelmächten: Nach der gewaltsamen Auflösung der russischen Konstituante durch die Bolschewiki war in den lettischen bürgerlichen Kreisen die letzte Hoffnung auf ein demokratisches und föderatives Russland erloschen. Darüber hinaus befürchteten die Mitglieder des Provisorischen Nationalrates, dass die Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk zur Aufteilung der von den Letten bewohnten Gebiete zwischen Sowjetrussland und dem Deutschen Reich führen könnten. Diese Aufteilung betrachtete der Nationalrat als den schlimmsten aller denkbaren Fälle, weil sie die Existenz der lettischen Nation massiv bedroht hätte. Auch die mögliche Annexion Lettlands durch das Deutsche Kaiserreich lehnte er ab: Von einem nicht demokratisierten Deutschland befürchtete man nicht nur Germanisierung und Kolonisierung Lettlands, sondern auch die Beibehaltung der bisherigen wirtschaftlichen und politischen Ordnung, die die Dominanz der deutschbaltischen Elite sicherte. Unter diesen Umständen sprachen sich die Mitglieder des LPN für die Unabhängigkeit Lettlands aus. Der lettische Staat sollte mit Unterstützung der Entente und des von Präsident Wilson propagierten Selbstbestimmungsrechts der Völker Wirklichkeit werden. Der LPN ging davon aus, dass der Sieg der Alliierten und die darauffolgenden Friedensverhandlungen zur Annullierung des Vertrags von Brest-Litowsk und zu einem «demokratischen Frieden« führen würden, der das Selbstbestimmungsrecht der Völker achten würde. »Der feste Wille des lettischen Volkes selbst, selbständig zu werden, die Erfolge der Entente und der Sieg der Demokratie in Deutschland – dies sind unsere einzigen Helfer in den Kämpfen für ein selbstän-

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diges Lettland,« sagte auf der Sitzung des Nationalrates am 17. Januar 1918 der spätere Diplomat der Republik Lettland J. Seskis.10 Von da an vergingen bis zur Proklamation der unabhängigen Republik Lettland noch zehn Monate. Der Nationalrat strebte in dieser Zeit vor allem die Anerkennung der lettischen Unabhängigkeitsbestrebungen seitens der Entente Mächte an. Dabei stellten seine Repräsentanten fest, dass die Entente dem Unabhängigkeitsstreben der baltischen Völker wohlwollend gegenüber stand, denn insbesondere Großbritannien betrachtete den wachsenden deutschen Einfluss im Baltikum mit Sorge. Es bedeutete deshalb einen wichtigen Erfolg der lettischen Diplomatie, dass Großbritannien am 11. November 1918 den Lettischen Provisorischen Nationalrat als die unabhängige lettische Interessenvertretung de facto anerkannte. Zum entscheidenden Moment für die Gründung der Republik Lettland wurde jedoch der militärische Zusammenbruch Deutschlands: Am 11. November 1918 unterzeichnete das Deutsche Reich das Waffenstillstandsabkommen mit der Entente. Dies bedeutete »das Ende aller deutscher Annexionspläne im Baltikum, die nach der deutschen Niederlage und der Demokratisierung Deutschlands nicht mehr in Frage kommen konnten.«11 Die neue Lage nutzte der Volksrat Lettlands als vorläufige Volksvertretung, der sich am 17. November aus Vertretern der lettischen politischen Parteien und Repräsentanten Lettgallens gebildet hatte, und erklärte Lettland am 18. November zur »unabhängigen demokratischen Republik«. Er wählte auch die provisorische Regierung Lettlands unter der Leitung des Ministerpräsidenten Kārlis Ulmanis. Die Frage, wie sich die vom Krieg gebeutelte lettische Bevölkerung zur Idee der Staatsgründung verhielt, ist bis jetzt nicht ausreichend untersucht worden. Doch die Historiker stimmen darin überein, dass die Erfahrungen des Krieges die nationale Mobilisierung der Letten erheblich gesteigert hatten. Dazu hatten insbesondere die Fluchterfahrungen von Hunderttausenden von Letten sowie die Gründung von nationalen Truppeneinheiten (lettische Schützenregimenter) innerhalb der russischen Armee beigetragen. Diese vom russischen Generalstab im August 1915 genehmigten Einheiten setzten sich anfangs aus Freiwilligen und später auch aus lettischen Wehrpflichtigen zusammen und umfassten 1916 etwa 40.000 lettische Soldaten (insgesamt waren jedoch 120.000-140.000 Letten in die russische Armee einberufen worden). Da sie von der russischen Heeresleitung vor allem an der Frontlinie entlang der Daugava (Düna) eingesetzt wurden und für ihre Erfolge und ihre besondere Standhaftigkeit bekannt waren, wurden die lettischen Schützen für viele Letten zu nationalen Helden und Identifikationsobjekten: Die lettische Presse und die lettische Bevölkerung insgesamt sahen in den lettischen Bataillonen »unsere Jungs«, die »unsere Heimat« verteidigen 10

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Latviešu Pagaidu Nacionālās Padomes otrās sesijas protokols (15./28.-18./31.1.1918 ) (Protokoll der zweiten Sitzung des Lettischen Provisorischen Nationalrats). In: http://www.historia.lv/ dokumenti/latviesu-pagaidu-nacionalas-padomes-otras-sesijas-protokols-28-3111918. Hiden, J.: Nationalbewegung und Nationalstaatswerdung der baltischen Republiken im internationalen Kontext. In: Maier, R. (Hrsg.): Nationalbewegung und Staatsbildung. Die baltische Region im Schulbuch. Frankfurt am Main 1995, S. 9-22, hier S.13.

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(A. Plakans). Es wurden Poeme über sie geschrieben, die Künstler verewigten ihren heroischen Tod, und die ersten gefallenen Schützen wurden unter großer Anteilnahme der Bevölkerung feierlich beigesetzt. Den nationalen Truppeneinheiten wurde eine »fiktive Autonomie zugeschrieben, die es in Wirklichkeit nicht gab, da ihre Stellungen und Bewegungen ausschließlich vom russischen Oberkommando bestimmt wurden.«12 Ebenso förderte die Fluchterfahrung die Entstehung der nationalen Gemeinschaft. Infolge der Anordnungen der russischen militärischen und zivilen Instanzen zur Zwangsevakuierung der Zivilbevölkerung, der Industrieanlagen und der Fabrikarbeiter aus den frontnahen Gebieten mussten mehr als 760.000 Letten ihre Heimat verlassen. Die Flucht zerstörte zwar die lokalen Gemeinschaften, aber gleichzeitig wurde »jeder Flüchtling Teil einer wesentlich größeren nationalen Gemeinschaft, die durch die gemeinsame Erfahrung des Verlusts der Heimat und den Versuch, diese wiederzuerlangen, zusammengeschweißt wurde. [...] Es war einfacher, individuellen Schmerz zu verarbeiten, wenn er als Teil eines kollektiven nationalen Kampfs gesehen wurde.«13 Außerdem führte die Organisation der lettischen Flüchtlingshilfe im Herbst 1915 zur Gründung des Zentralbüros für die Versorgung der lettischen Flüchtlinge, das als die Dachorganisation von 260 lettischen Flüchtlingshilfskomitees im Russischen Reich fungierte. An der Spitze des Zentralbüros, in dem im Frühjahr 1916 mehr als 295.000 Flüchtlinge registriert waren, stand ein Zentralkomitee, das von den Vertretern der lokalen Komitees gewählt worden war. Es kümmerte sich nicht nur um die Versorgung der Flüchtlinge, sondern war auch bestrebt, ihnen eine Zukunftsperspektive zu bieten. Deshalb widmete sich das Zentralkomitee auch der Lösung nationalpolitischer Fragen und wurde zur treibenden Kraft hinter der Gründung des oben erwähnten Lettischen Provisorischen Nationalrates, der seit Anfang 1918 die staatliche Unabhängigkeit Lettlands anstrebte. Die Kriegs- und Fluchterfahrungen steigerten also das Gemeinschaftsbewusstsein der Letten und förderten ihr Streben nach Selbstbestimmung und der Wiedererlangung der Heimat. Dieses Streben stand in einer direkten Verbindung zur Proklamation der unabhängigen Republik Lettland, denn »die, die diese Erklärung verabschiedeten, taten das in dem festen Glauben, dass genau das den unbewussten oder bewussten Erwartungen ihrer ›Wähler‹ entsprach. Den ›Volkswillen‹ richtig zu deuten, war 1918 schwierig bis unmöglich, und ob die, die die Unabhängigkeit erklärten, ihn richtig gedeutet hatten, hing davon ab, ob sich das ›Volk‹ die Idee so zu eigen machen würde, wie ihre Befürworter sie in Gestalt von Regierungsinstitutionen zu verwirklichen trachteten.«14

12 13 14

Plakans, A.: Concise History of the Baltic States. Cambridge 2011, S. 291. Gatrell, P.: Der Krieg, die Flucht und die Nation. Das Flüchtlingsdrama im Zarenreich und die Folgen, 1914-20. In: Osteuropa 64 (2014), S. 185-196, hier S. 191-192. Plakans, A.: Concise History of the Baltic States. Cambridge 2011, S. 300.

Erwin Oberländer

Stärken und Schwächen des neuen Staates 1918‒1940 Bis zur Jahreswende 1917/18 war es das Ziel der demokratisch gesinnten Führer der lettischen nationalen Bewegung gewesen, ein autonomes »freies Lettland in einem freien Russland« zu schaffen. Seit der »Oktoberrevolution« 1917 und der gewaltsamen Auflösung der Verfassunggebenden Versammlung Russlands durch die Bolschewiki im Januar 1918 war jedoch klar, dass Autonomie und Selbstbestimmung der Letten im Rahmen eines bolschewistischen Russlands nicht zu verwirklichen waren. Im Laufe des Jahres 1918 setzte sich deshalb die Einsicht durch, dass das Ziel nur durch die völlige Unabhängigkeit von Russland, also durch die Gründung eines eigenen Staats erreichbar sei. Die Gelegenheit dazu bot der Waffenstillstand zwischen der Entente und den Mittelmächten vom 11. November 1918, der den Ersten Weltkrieg und damit auch die militärische Vormachtstellung des Deutschen Reichs im Baltikum beendete. Am 13. November annullierte überdies die Sowjetregierung den Friedensvertrag, den sie im März 1918 in Brest-Litowsk mit den Mittelmächten abgeschlossen hatte, in dem Sowjetrussland Kurland abgetreten und Deutschland in Livland weitgehende Rechte eingeräumt hatte. Das kurzfristige Machtvakuum nutzten die nationalen Führer der Letten. Am 17. November 1918 traten im noch deutschbesetzten Riga Mitglieder der acht wichtigsten nationalen politischen Gruppierungen sowie ein Vertreter der Provinz Lettgallen zusammen und gründeten den Lettischen Volksrat, der sich bis zur Wahl der Verfassunggebenden Versammlung zum höchsten Organ Lettlands erklärte. Vorsitzender wurde der angesehene Rechtsanwalt Jānis Čakste, der später auch zum ersten Staatspräsidenten Lettlands gewählt wurde. Der Volksrat erklärte am 18. November 1918 das Siedlungsgebiet der Letten, die Provinzen Livland, Lettgallen, Kurland und Semgallen, zur »unabhängigen demokratischen Republik Lettland«. Gleichzeitig setzte er eine Provisorische Regierung unter Kārlis Ulmanis, einem der Führer des Lettischen Bauernbunds, ein, der sich ebenso wie sein Nachfolger, Zigfrīds Anna Meierovics, der von 1918 bis 1925 auch ein erfolgreicher Außenminister war, große Verdienste um die innere Konsolidierung und äußere Anerkennung des neuen Staats erwarb. Die Ausrufung der Republik Lettland blieb erwartungsgemäß nicht unwidersprochen. Widerstand regte sich insbesondere seitens der Bolschewiki sowie seitens der Deutschbalten, die ihre bisher beherrschende Stellung bedroht sahen. Zunächst waren es jedoch die lettischen Bolschewiki, die Livland mit Hilfe der Roten Armee im Dezember 1918 erfolgreich angriffen. Sie stießen nur auf geringen Widerstand, denn vor allem unter den Kleinbauern und Landlosen in Lettland – und das waren über 60 % der Bevölkerung auf dem Lande – gab es nach vier Jahren eines verheerenden Kriegs viel Sympathie für die kommunistische

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Losung »Frieden, Land, Brot«. Daher optierte die Moskauer Führung auch für eine lettische Sowjetrepublik, die mit Hilfe der Roten Armee am 3. Januar 1919 im nicht mehr von deutschen Truppen besetzten Teil Livlands mit der Hauptstadt Riga sowie in Lettgallen etabliert wurde. An ihrer Spitze stand Pēteris Stučka, der zur Spitzengruppe der bolschewistischen Führung unter Lenin gehörte. Die vor allem von Großbritannien unterstützte Provisorische Regierung des Volksrats unter Ulmanis wich nach Liepāja (Libau) im westlichen Kurland aus. Die kommunistischen Machthaber in Riga verscherzten sich jedoch schnell das anfängliche Wohlwollen von Teilen der Bevölkerung. Ihre Tendenz, die Güter der deutschbaltischen bzw. in Lettgallen polnischen und russischen Gutsherren in Staatskommunen umzuwandeln anstatt den enteigneten Grund und Boden unter Kleinbauern und Landlose aufzuteilen, ihr Terrorregime gegen alle Besitzenden und die bürgerliche Bildungsschicht sowie ihre Verteilungsdiktatur auf dem Gebiet der Versorgung, die das Land mit einer Hungersnot bedrohte, führten alsbald zu aktivem Widerstand der Bevölkerung. Am 22. Mai 1919 gelang es deutschen und lettischen Truppen, Riga zu befreien; die Räteregierung konnte sich nur noch bis Januar 1920 im Osten Lettgallens halten. Die Befreier Rigas bekannten sich jedoch mehrheitlich nicht zur Ulmanis-Regierung, sondern zu einer durch einen Putsch vom 16. April 1919 errichteten lettischen Gegenregierung unter dem Pfarrer und Schriftsteller Andrievs Niedra. Hier handelte es sich im Wesentlichen um eine Marionettenregierung jener Deutschbalten, die weiter auf eine enge Bindung Kurlands und Livlands an das Deutsche Reich setzten, sowie des Generals Rüdiger von der Goltz, der die deutschen Truppen in Kurland befehligte, die dort im Auftrag der Ententemächte die weitere Ausbreitung des Bolschewismus verhindern sollten. Diese Gegenregierung zwang Ulmanis und sein Kabinett, bis Juni 1919 auf dem unter englischem Schutz im Libauer Hafen ankernden Dampfer »Saratow« zu residieren, da in Livland und Lettgallen die Kommunisten und in Kurland und Semgallen die NiedraRegierung bzw. die deutschen Truppen das Heft in der Hand hatten. Als jedoch die Niedra ergebenen, überwiegend deutschen bzw. deutschbaltischen Verbände dazu übergingen, nach der Vertreibung der Kommunisten ganz Livland zu erobern, wurden sie Ende Juni 1919 bei Cēsis (Wenden) von einer estnisch-lettischen Armee geschlagen. Damit war auch das Schicksal der Niedra-Regierung besiegelt. Die Regierung Ulmanis kehrte im Juli 1919 nach Riga zurück. Dort drohte jedoch neues Ungemach. Denn ein russischer Abenteurer, Pavel Bermont-Awalow, hatte inzwischen auf lettischem Territorium die »Westrussische Befreiungsarmee«, eine Truppe von etwa 30.000 Mann aus »weißen« russischen, deutschen und deutschbaltischen Soldaten aufgestellt, mit der er Russland vom Bolschewismus befreien und in seinen alten Grenzen, also unter Einschluss der ehemaligen Ostseeprovinzen, wiederherstellen wollte. Er wurde dabei von von der Goltz unterstützt, der auf diese Weise entgegen den inzwischen erteilten Abzugsbefehlen der Entente deutsche Truppen im Baltikum halten wollte. Es gelang jedoch den Truppen der Provisorischen Regierung, Bermont-Awalows Armee Ende 1919 bei dem Versuch, Riga zu erobern, vernichtend zu schlagen. Mit

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der darauffolgenden Vertreibung der Räteregierung aus Lettgallen im Januar 1920 durch lettische und polnische Truppen fanden die »Unabhängigkeitskriege« ihren Abschluss. Lettland war nun frei von ausländischen Truppen. Im Friedensvertrag von Riga, der am 11. August 1920 zwischen der Provisorischen Regierung Lettlands und Sowjetrussland geschlossen wurde, erkannte Sowjetrussland »vorbehaltlos« die Unabhängigkeit des lettischen Staates an und verzichtete »freiwillig und für alle Zeiten« auf jegliche Hoheitsrechte gegenüber dem lettischen Volk und dessen Territorium. Dieser Vertrag machte sowohl den Weg zum weiteren inneren Aufbau des neuen Staates als auch zu dessen endgültiger internationaler Anerkennung frei. Die junge Republik hatte ihre Feuerprobe bestanden. Dieser Erfolg war nicht zuletzt der Hartnäckigkeit und dem Geschick der Provisorischen Regierung zu verdanken, die es vor allem verstanden hatte, mit der Zusage einer umfassenden Agrarreform und einer demokratisch gewählten Verfassunggebenden Versammlung die Mehrheit der Letten auf ihre Seite zu ziehen. Der Volksrat hatte inzwischen seine legislative Tätigkeit fortgesetzt, wobei das Gesetz zur Wahl der Verfassunggebenden Versammlung höchste Priorität genoss. Es wurde am 19. August 1919 verabschiedet und war mit dem Ziel, jeder nur möglichen Gruppierung in der Bevölkerung die Chance auf einen der 150 Sitze in der Versammlung einzuräumen, äußerst liberal, ja fast schon »zu demokratisch«, wie man gelegentlich liest. Denn um als Partei oder Interessengruppe zur Wahl zugelassen zu werden, mussten lediglich 100 Personen den Wahlvorschlag unterschreiben; eine Prozenthürde, die den Einzug einer Vielzahl von Kleinstparteien in die Verfassunggebende Versammlung und die späteren Parlamente begrenzt hätte, gab es nicht. Zur Wahl der Verfassunggebenden Versammlung traten bereits 25 Parteien und Vereine mit mehr als 50 Wahllisten an, gewählt wurden die Kandidaten von 16 Gruppierungen. Hier zeichnete sich schon ab, was bei den vier Parlamentswahlen zwischen 1922 und 1931 zur Dauererscheinung werden sollte: ein höchst zersplittertes Parlament, in dem die Bildung von handlungsfähigen Regierungen nicht nur äußerst kompliziert war, sondern offenbar auch zu manchem Missbrauch bis hin zu offenkundiger Bestechung führte. Dieses Wahlgesetz bot jedoch den ethnischen Minderheiten die Gelegenheit, ihre Stimme in der Konstituante und in den späteren Parlamenten zu erheben. Denn im »Staat des Volkes Lettlands«, wie es in der Verfassung hieß ‒ nicht »Staat des lettischen Volkes« ‒, lebten um 1920 bei einer Gesamtbevölkerung von knapp 1,6 Millionen nicht nur Letten, sondern auch Angehörige anderer Nationen, die zusammen ein Viertel der Bevölkerung ausmachten: 124.000 Russen (7,8 Prozent), 79.000 Juden (5 Prozent), 64.000 Weißrussen, (4,2 Prozent), 58.000 Deutsche (3,6 Prozent) 52.000 Polen (3,3 Prozent) und 25.000 Litauer (1,6 Prozent). Deren positive Haltung zum neuen Staat konnte keineswegs als sicher gelten. Der Volksrat beeilte sich deshalb nicht nur, Vertreter der Minderheiten in seine Reihen aufzunehmen (Juden und Deutsche), sondern verabschiedete im Dezember 1919 auch zwei Gesetze über die Bildungsanstalten der Letten und das Schulwesen der Minderheiten in Lettland, in denen diesen muttersprachlicher Unterricht mit sehr weitgehender Schulautonomie zugesichert wurde. Der Staat finanzierte

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die nationalen Schulen, die aber von Vertretern der jeweiligen Minderheit verwaltet und geleitet wurden. Mit eigener Presse, Theatern, Wirtschaftsunternehmen und politischen Organisationen der nichtlettischen Nationalitäten gehörte Lettland zumindest bis zur Mitte der 30er Jahre zu den wenigen Ländern Europas mit einer ausgesprochen großzügigen Minderheitenpolitik. Trotz mancher Querelen auf anderen Gebieten, insbesondere mit der ehemals politisch tonangebenden deutschen Minderheit, haben die obengenannten nationalen Gruppen bis auf die Litauer von diesem Angebot regen Gebrauch gemacht. In den vier gewählten Parlamenten (100 Sitze) waren sie mit 15 (1922) bis 19 (1931) Abgeordneten angemessen vertreten. Ja mancher lettische Nationalist monierte, dass die Minderheiten in Lettland weit besser gestellt seien als die Letten es unter russischer bzw. deutscher Oberherrschaft jemals gewesen seien. Noch etwas komplizierter gestalteten sich die Verhältnisse in Lettgallen, dem mehrheitlich (53 Prozent) von Letten besiedelten westlichen Teil des ehemaligen russischen Gouvernements Witebsk mit insgesamt einer halben Million Einwohnern. Hier ging es nicht nur um die Integration zahlenmäßig starker nationaler Minderheiten (Russen, Juden, Weißrussen, Polen) in den Staat, sondern gleichzeitig auch um die Integration der dort lebenden Letten in die lettische Nation. Denn Lettgallen hatte seit dem 16. Jahrhundert zu Polen-Litauen gehört, die lettische Bevölkerung war im Gegensatz zu der der Ostseeprovinzen katholisch und hatte seither eine von den in den Ostseeprovinzen wohnenden Letten durchaus unterschiedliche kulturelle und sprachliche Identität entwickelt. Von der lettischen nationalen Bewegung, die im Gouvernement Witebsk unter scharfer Verfolgung zu leiden hatte, war sie erst am Ende des 19. Jahrhundert erfasst worden. Nicht zuletzt dank der späten Bauernbefreiung – wie im übrigen Russischen Reich erst 1861 und nicht schon 1817 wie in Kurland oder 1819 wie in Livland – lag Lettgallen im Blick auf soziale Differenzierung, Urbanisierung, Alphabetisierung (nur 50 Prozent im Gegensatz zu 95 Prozent in Livland und 88 Prozent in Kurland und Semgallen) sowie ökonomische Modernisierung deutlich hinter den anderen Landesteilen zurück. Alle lettischen Regierungen der Zwischenkriegszeit betrachteten deshalb die »Lettisierung Lettgallens« als eine ihrer innenpolitischen Hauptaufgaben: Die Letten aller vier Provinzen sollten zu einer geeinten Nation zusammengeführt und Lettgallen möglichst reibungslos an die anderen Landesteile angeglichen werden, um die Herausbildung eines allzu ausgeprägten lettgallischen Regionalismus zu verhindern. Abgeordnete aus Lettgallen wirkten in der Verfassunggebenden Versammlung ebenso wie in den vier gewählten Parlamenten, teilweise im Rahmen eigener Parteien, an der Ausgestaltung des gemeinsamen Staates mit. Die Verfassunggebende Versammlung trat am 1. Mai 1920 zusammen, wählte Jānis Čakste zu ihrem Präsidenten und wandte sich vorrangig der Vorbereitung der Agrarreform und der Ausarbeitung der Verfassung zu. Denn nach wie vor befanden sich 48 Prozent des Bodens (3,16 Millionen Hektar) in Livland, Kurland und Semgallen in der Hand nahezu ausschließlich deutscher, in Lettgallen polnischer und russischer Gutsbesitzer, die zusammen kaum 0,4 Prozent der Bevöl-

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kerung ausmachten, während 61 Prozent der lettischen ländlichen Bevölkerung wenig oder gar kein Land besaßen. Die Neuverteilung des Grund und Bodens war deshalb aus sozialen, politischen und besonders nationalen Gründen eine Überlebensfrage des neuen Staates: Durch Enteignung und Neuverteilung sollten die sozialen Gegensätze entschärft, die Bauern für den neuen Staat gewonnen und der Einfluss der Kommunisten auf das landlose Proletariat eingedämmt werden. Vor allem aber sollte das lettische Element massiv gestärkt und den deutschbaltischen Gutsbesitzern die wirtschaftliche Basis ihrer bisherigen politischen Führungsrolle endgültig entzogen werden. Den von den Kommunisten propagierten Kollektivwirtschaften wurde ganz bewusst der selbständig wirtschaftende bäuerliche Familienbetrieb als Grundlage der Volkswirtschaft Lettlands gegenübergestellt. Dementsprechend beschloss die Verfassunggebende Versammlung schon am 16. September 1920, also noch vor der Verabschiedung der Verfassung, die entschädigungslose Enteignung von rund 1.500 Gütern einschließlich Wirtschaftsgebäuden zugunsten des staatlichen Landfonds; die ehemaligen Besitzer durften ein »Restgut« von 50 Hektar behalten. Der Staat behielt jedoch den größeren Teil, überwiegend Wald, in seinem Besitz, während er mit dem übrigen Grund und Boden Kleinbauern förderte sowie 54.500 neue Bauernstellen schuf. Als Ergebnis der Reform, deren Umsetzung sich bis in die 30er Jahre hinzog, waren nur noch 18 Prozent der ländlichen Bevölkerung ohne Land, während sich 80 Prozent des privaten Landbesitzes nun in der Hand von Letten befanden. Der soziale Frieden war damit weitgehend gesichert und der Einfluss der Kommunisten marginalisiert. Wirtschaftlich sah das Ergebnis weniger günstig aus, denn die lettischen Alteigentümer bewirtschafteten durchschnittlich 38 Hektar, während die durchschnittliche Größe der Neusiedlerstellen nur 17 Hektar betrug. In Lettgallen besaß die Hälfte der neuen Bauernstellen sogar weniger als 10 Hektar. Dies behinderte die Entwicklung einer modernen gewinnbringenden Landwirtschaft, förderte die Verschuldung und machte die Neubauern für wirtschaftliche Krisen besonders anfällig. Trotzdem nahm die Landwirtschaft in den 20er Jahren dank des Engagements der nun überwiegend auf eigenem Grund und Boden in »ihrem« Staat wirtschaftenden Bauern sowie mit Hilfe eines hochentwickelten Genossenschaftswesens, das unter den Letten schon eine längere Tradition hatte, einen steten Aufschwung. Schon 1929 übertrafen ihre Erträge das Vorkriegsniveau, auch wenn sie noch Mitte der 30er Jahre nur 35 Prozent zum Bruttosozialprodukt Lettlands beitrug. Das offenbar angestrebte Modell Dänemarks als eines sich auf Familienbesitz stützenden Agrarstaats lag noch in weiter Ferne. Die am 15. Februar 1922 nach monatelangen, teilweise heftigen Diskussionen verabschiedete Verfassung galt mit ihrem klaren Bekenntnis zur Demokratie als Symbol der Einordnung in das neue Europa des Völkerbunds, des Selbstbestimmungsrechts und der liberalen Freiheitsideen. Ob jedoch die mechanische Übernahme demokratischer Normen und Prinzipien westlicher Länder, die im östlichen Europa keine Tradition hatten, für eine Bevölkerung angemessen war, die sich eben erst der russischen Autokratie und der kolonialen Bevormundung durch die Deutschbalten entledigt hatte, deren Mentalität noch stark von den obrig-

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keitsstaatlichen Strukturen des untergegangenen Zarenreiches geprägt war und deren Selbstverwaltungserfahrungen kaum über die Kirchspielebene hinausreichten, war selbst in der Verfassunggebenden Versammlung durchaus umstritten. Der radikal-demokratische Charakter der Verfassung mit ihrem starken Übergewicht des Parlaments über die Exekutive sowie gegenüber dem auf repräsentative Aufgaben beschränkten Präsidenten erwies sich binnen kurzem – in Kombination mit dem liberalen Wahlrecht und einem überaus zersplitterten Parteienspektrum im Parlament ‒ als Hindernis für die von der Bevölkerung offenbar gewünschte klare politische Führung nach dem Vorbild der finnischen Verfassung mit der starken Stellung des Präsidenten oder wie sie Präsident Masaryk in der Tschechoslowakischen Republik praktizierte. Hier handelte es sich um eine eindeutige Schwäche der neuen Staatsordnung, zu deren Überwindung es zwar viele kluge Vorschläge gab, über die aber keine Einigung im Parlament erzielt werden konnte. Die Beteiligung an den vier Parlamentswahlen von 1922 (82 Prozent), 1925 (75 Prozent), 1928 (79 Prozent) und 1931 (80 Prozent) signalisierte breite Zustimmung der Bevölkerung zu Selbständigkeit und Demokratie. Die Zahl der im Parlament (100 Sitze) vertretenen Parteien und Interessengruppen lag jedoch zwischen 20 (1922) und 27 (1931), von denen viele nur über zwei oder drei, ja gelegentlich nur über einen einzigen Abgeordneten verfügten, sodass stabile Regierungsmehrheiten kaum zu erzielen waren. Immerhin bewies die Regierung unter Ministerpräsident Hugo Celmiņš, die von 1928 bis 1931 amtierte, dass auch bei großer Zersplitterung der politischen Kräfte eine starke Exekutive möglich war. Zwischen Juni 1921 und Mai 1934 gab es in Lettland dennoch insgesamt 14 Kabinette. Da die stärkste Partei, die lettische Sozialdemokratie, sich aus überwiegend ideologischen Gründen, wonach Lettland für einen »demokratischen Sozialismus« noch nicht reif sei, nicht an der Regierung beteiligte und bis auf zwei kurze Ausnahmen in der Opposition verharrte, fiel die Regierungsbildung überwiegend der zweitgrößten Partei, dem konservativen nationalen Lettischen Bauernbund zu, der die Mehrzahl der Regierungskoalitionen anführte. Die häufigen Regierungswechsel sollten jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass nicht nur die verschiedenen Ressorts mehrfach mit denselben Ministern besetzt waren, sondern dass auch auf der Ebene der Ministerialbürokratie und der Mitglieder der Parlamentsausschüsse eine hohe personelle Kontinuität herrschte, die eine effektive Gesetzgebungs- und Regierungsarbeit gewährleisteten. Dazu hat nicht zuletzt auch die vorbildlich ausgleichende Art der ersten beiden Staatspräsidenten Lettlands, Jānis Čakste (1922‒1927) und Gustavs Zemgals (1927‒1930), sehr wesentlich beigetragen, die unermüdlich für Freiheit und Demokratie als unveräußerliche Grundlagen des Staates eintraten. Unter diesen Voraussetzungen haben das lettische Parlament und die aus ihm hervorgegangenen demokratischen Regierungen bis 1934, als sich Kārlis Ulmanis zum Diktator aufschwang, die Grundlage für ein in jeder Hinsicht funktionsfähiges Staatswesen geschaffen, das sich als Mitglied des Völkerbundes internationaler Anerkennung erfreute.

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Diese Leistung ist um so höher zu bewerten, als sich der Staatsaufbau Hand in Hand mit dem Wiederaufbau einer weitgehend zerstörten wirtschaftlichen Basis vollziehen musste, denn sechs Jahre Krieg hatten in den vier Provinzen deutliche Spuren hinterlassen. Die Städte hatten einen Großteil ihrer Bevölkerung verloren. Allein aus Riga, 1914 der größte Umschlaghafen und eine der führenden Industriemetropolen des Russischen Reiches, waren 1915 alle wichtigen Industrieanlagen mit den dazugehörigen etwa 80.000 Arbeitern und ihren Familien in das Innere Russlands verlegt worden, um sie dem Zugriff der jenseits der Düna stehenden deutschen Truppen zu entziehen. Da die Verbindung zum ehemaligen Hinterland abgerissen war und der Handel ruhte, lag der Hafen still, die Bevölkerung der Stadt ging im Laufe der Kriegshandlungen von einer halben Million auf weniger als die Hälfte zurück. Doch nicht nur Industrie und Handel, auch die Landwirtschaft war schwer betroffen, denn mehr als die Hälfte der Landgemeinden wies erhebliche Kriegsschäden auf. 80.000 oder 11 Prozent aller Gebäude auf dem Land waren vollständig zerstört, 27 Prozent des Ackerbodens lagen brach. Die größte Katastrophe aber bildeten die enormen Menschenverluste: Das Territorium des späteren Lettlands verlor zwischen 1914 und 1920 durch Evakuierung von Kurland und Livland und durch Flucht vor der deutschen Besatzung, vor allem aber durch Kriegseinsatz 623.000 Personen oder fast ein Drittel seiner Bevölkerung. Zwar kehrten zwischen 1920 und 1925 223.000 Letten aus Sowjetrussland in die Heimat zurück (etwa 150.000 blieben dort), doch die demographische Situation mit einem enormen Frauenüberschuss, einer im Vergleich zur Vorkriegszeit halbierten Zahl von Heranwachsenden und einer ebenfalls halbierten Zahl arbeitsfähiger Erwachsener zwischen zwanzig und vierzig Jahren bedeutete eine schwere Hypothek für den Wiederaufbau, die nur sehr langsam überwunden werden konnte. Von ersten Ansätzen zu einer Industriegesellschaft vor dem Weltkrieg sahen sich die Letten um 1920 in eine überwiegend vom Kleinbauerntum geprägte Gesellschaft zurückversetzt. Gerade vor diesem Hintergrund nahmen sich die Aufbauerfolge des neuen Staates bis zum Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929/30 ausgesprochen beeindruckend aus. Dazu gehörte zunächst die Überwindung der schlimmsten Kriegsfolgen, der schrittweise Aufbau einer staatlichen Verwaltung, an deren Spitze 1925 elf Ministerien standen und 14.600 Staatsbeamte tätig waren, sowie die Neuordnung der Staatsfinanzen durch die Einführung des Lats als neuer Landeswährung (1922). Fortschritte machten auch die Integration der vier Landesteile Livland, Lettgallen, Kurland und Semgallen sowie die Wiedereingliederung von etwa 240.000 Rückkehrern aus Russland und anderen Nachbarstaaten in das Wirtschaftsleben. Eine wichtige Voraussetzung dafür waren der beachtliche Aufschwung von Landwirtschaft, Handel und Industrie (zunächst überwiegend Leichtindustrie für einen eher lokalen Markt) sowie die Schaffung eines Systems der Sozialfürsorge mit einer vorbildlichen Arbeitsschutzgesetzgebung. 11.071 auf Selbstverwaltung basierende Vereine und Genossenschaften (1931) zeugten überdies von einem Engagement der Bevölkerung, das man durchaus als Vorläufer einer Zivilgesellschaft würdigen kann. Vor allem aber waren die 20er Jahre die

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Zeit eines stürmischen Aufschwungs von Bildung und Kultur. Die Zahl der Volksschulen stieg von 1.864 (1920) auf 2.057 (1930), die der Höheren Schulen im gleichen Zeitraum von 36 auf 96. Riga war Sitz der 1919 gegründeten Universität Lettlands, die aus dem seit 1862 bestehenden Rigaer Polytechnikum hervorging, sowie eines Konservatoriums und einer Akademie der bildenden Künste. Die Alphabetisierung in den Randgebieten schritt schnell voran, in der Buchproduktion pro Kopf der Bevölkerung nahm Lettland nach Dänemark bald den zweiten Platz in Europa ein. Die Lebensfähigkeit des neuen Staats stand also ganz außer Zweifel. Diesen Eindruck bestätigte auf seine Weise auch der amerikanische Gesandte in Riga, Frederick W. B. Coleman, der Ende 1929 über Riga und Tallinn nach Washington berichtete: »Man kann die Hauptstädte zwischen 1922 und heute überhaupt nicht mehr vergleichen. Vor sieben Jahren waren die Menschen ärmlich gekleidet, in den Läden gab es keine Waren, die Straßen in den Wohnvierteln waren unbeleuchtet, und es gab keine Verkehrsmittel außer einer gelegentlichen Straßenbahn oder den heruntergekommenen Droschken. Damals gab es keine zwanzig Autos in Riga, und weniger als zehn in Tallinn. Man kann es heute kaum glauben, wenn man die Verkehrspolizisten sieht, die auf ihre Art den Strom von Autos und Bussen auf den Hauptstraßen dirigieren, und wenn man hört, dass die Geschäfte alles bieten, was sich die Damen an Putz und Luxus wünschen mögen. Auf dem Lande wurde unentwegt gebaut und Hunderte neuer Molkereien errichtet.«1 Die Bilanz der »kleinen Stabilisierung« bis zum Beginn der 30er Jahre fiel also durchaus positiv aus. Trotzdem blieb Lettland ebenso wie seine Nachbarn Estland und Litauen äußerst anfällig für internationale Konjunkturschwankungen, sodass die Absatzschwierigkeiten infolge der Weltwirtschaftskrise 1930/31 die bäuerliche Bevölkerungsmehrheit besonders hart trafen. Angesichts der vergeblichen Bemühungen der Regierungen, die Folgen der Krise wenigstens zu mildern, erhielt die Diskussion über die Effektivität der demokratischen Ordnung erneut Auftrieb und es mehrten sich die Rufe nach einer »starken Hand«, obwohl es im Zuge der Krise in Lettland zu keinerlei Streiks oder Unruhen kam wie in anderen europäischen Ländern. Die Forderung nach autoritären Korrektiven der parlamentarischen Demokratie war indes in Lettland keineswegs neu, auch wenn sie bisher kaum Widerhall in der Bevölkerung gefunden hatte, wie vor allem die hohe Beteiligung an den vier Parlamentswahlen erkennen ließ. In den 20er Jahren erhoben diese Forderung zunächst nur kleine Gruppierungen extremer Nationalisten, denen Lettland nicht »lettisch« genug war bzw. die mit der Konkurrenz der Nichtletten im Lande nicht mithalten konnten. Die Ursache dafür sahen sie in der liberal-demokratischen Grundordnung, die den nationalen Minderheiten angeblich zu viele Möglichkeiten der kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Entfaltung bot, die sie zum Nachteil der Titularnation nutzen würden. 1

Frederick W. B. Coleman an Secretary of State, 11. November 1929, S. 5 in: Record of the Department of State Relating to Internal Affairs of Latvia 1910‒1944. Microfilm Publication M 1177, Rolle 1: Political Affairs 1910‒1929.

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Dieser Vorwurf bezog sich in erster Linie auf die Juden und die Deutschbalten, die vor allem in Handel und Industrie, aber auch in den Freien Berufen eine führende Position einnahmen, die nach Meinung der Nationalisten im »lettischen Staat« allein den Letten gebührte. »Lettland den Letten« lautete die Parole, die vor allem der 1932 gegründete extrem nationalistische und antisemitische Verband der »Donnerkreuzler« auf seine Fahnen geschrieben hatte. Von ihm wusste der amerikanische Gesandte zu berichten, dass jedes neue Mitglied beim Eintritt eine Verpflichtungserkärung abgeben müsse, wonach es nur lettische Produkte von lettischen Firmen kaufen und ausschließlich lettische Mediziner, Rechtsanwälte, Architekten, Lehrer, Ingenieure und Künstler beschäftigen würde.2 Die Donnerkreuzler strebten unter faschistischem Einfluss nach einer Diktatur, die ein »lettisches Lettland« verwirklichen sollte, doch wollte die Führung des Verbandes dies nicht durch einen Staatsstreich, sondern durch Wahlerfolge erreichen. Die Forschung ist sich heute darin einig, dass Anfang der 30er Jahre von keiner der verschiedenen extremen rechten Gruppierungen eine echte Gefahr für die Demokratie ausging, auch wenn das Unbehagen an der offenbar allzu demokratischen Verfassung, an dem überaus zersplitterten Parteiensystem, in dem viele Politiker weniger auf die Interessen des Gesamtstaats als auf enge Partei- und Gruppeninteressen fixiert waren, sowie an dem häufigen Wechsel relativ schwacher Regierungen inzwischen in den Mittelpunkt der politischen Diskussion gerückt war. Die Forderung nach einer starken Hand musste sich nicht notwendig gegen die Demokratie an sich richten. Dass es dennoch in Lettland 1934 zum Staatsstreich und zur Diktatur von Kārlis Ulmanis, immerhin einem der »Gründungsväter« der Republik, kam, ist deshalb nicht zuletzt auf dessen persönliches Machtstreben zurückzuführen. Kārlis Ulmanis, um diese Zeit unumstrittener Führer des Lettischen Bauernbunds und seit März 1934 zum wiederholten Male Ministerpräsident, war 1877 in Semgallen geboren, hatte in Zürich und Leipzig Landwirtschaft studiert, an der Revolution von 1905 teilgenommen, war nach kurzem Gefängnisaufenthalt nach Deutschland und 1908 in die USA gegangen, wo er nach Abschluss seiner landwirtschaftlichen Universitätsausbildung bis 1913 eine Milchfarm in Texas betrieb. Im Ersten Weltkrieg ebnete ihm die Mitarbeit im Hilfskomitee für die lettischen Flüchtlinge den Weg in die Politik. Er war ein Asket ohne eigene Familie und engere Freunde, der sich ein Leben ohne Politik offenbar nicht vorstellen konnte. Gerade das aber schien ihm 1933/34 in Gefahr. Denn das Wahlergebnis von 1931 hatte bereits angezeigt, dass sein Stern sank, und die im September 1934 anstehenden Wahlen drohten gar das Ende seiner politischen Karriere zu besiegeln, da man allgemein einen Erfolg der »Donnerkreuzler« auf Kosten des Bauernbunds erwartete. Dem vorzubeugen, nutzte Ulmanis die verbreitete demokratiekritische Stimmung und plante seit Herbst 1933 mit einer kleinen Gruppe von national gesinnten Politikern, Militärs und Schutzkorpsführern den Staatsstreich, 2

Frederick W. B. Coleman an Secretary of State, 21. September 1932. In: Ebd., Rolle 8: Political Affairs 1930‒1939.

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mit dem er in der Nacht vom 15. auf den 16. Mai 1934 das Parlament auflöste, alle Parteien einschliesslich seiner eigenen verbot und seine konservativ-nationale Diktatur errichtete. Seine Begründung, damit einem drohenden Putsch von Rechts zuvorgekommen zu sein, entsprach nicht den tatsächlichen Gegebenheiten, da Ulmanis als amtierender Ministerpräsident alle Machtmittel in der Hand hatte, um einen solchen Putsch zu verhindern. Um sich seinerseits über die Verfassung hinwegsetzen zu können, verhängte er das Kriegsrecht, dessen Geltung er bis 1938 sieben Mal verlängerte. Aktive Verteidiger der Demokratie traten ihm nicht entgegen. Die Bevölkerung schien sich abwartend, teilweise wohl auch zustimmend zu verhalten, wie der amerikanische Diplomat Felix Cole seiner Regierung aus Riga berichtete: «Am Tag nach dem Putsch war die Stadt ruhig. Viele Hausbesitzer hissten die Nationalflagge. Am zweiten Tag nach der Errichtung der Diktatur war praktisch jedes Haus geschmückt und das Leben in der Stadt verlief völlig normal«.3 Die abwartende Reaktion der Bevölkerung hing wohl auch mit dem Versprechen von Ulmanis zusammen, eine für Lettland passendere Verfassung erlassen zu wollen, – ein Versprechen, auf das er jedoch nie zurückkommen sollte. Die Demokratie, die zweifellos Schwächen gezeigt hatte, die man aber durch Verfassungsänderungen durchaus hätte überwinden können, war somit weniger gescheitert als vielmehr ähnlich wie in Polen (Jozef Piłsudski) und Litauen (Antanas Smetona) 1926 sowie in Estland (Konstantin Päts) 1934 gezielt zerstört worden. Der Zeitpunkt war geschickt gewählt, denn seit 1932/33 zeichnete sich eine allmähliche Erholung von der großen Krise ab. Den zu erwartenden Aufschwung konnte Ulmanis als Erfolg seines autoritären Regimes in Anspruch nehmen: Seine sechsjährige Herrschaft blieb seinen Landsleuten nicht nur als eine Zeit der politischen Stabilität, sondern vor allem des zunehmenden wirtschaftlichen Wohlstands in Erinnerung. Das ganz auf die Person von Ulmanis als »Führer« (Vadonis) zugeschnittene neue Regime war trotz mancher vor allem vom italienischen Faschismus übernommenen Anregungen keineswegs als »faschistisch« zu bezeichnen – dazu fehlten eine umfassend ausgearbeitete Ideologie, politische Massenbewegungen und aggressive Ziele nach außen. Wohl aber war das Regime durchaus »autoritär« im Sinne der vier Charakteristika, mit denen solche Regime heute (2018), da ein Viertel aller Staaten der Erde autoritär regiert wird, in der Forschung gekennzeichnet werden: 1. Konzentration der politischen Herrschaft, meist in der Hand einer nicht abwählbaren Person oder einer kleinen Gruppe; 2. exklusive Partizipationsmechanismen, die es ermöglichen, Teile der Gesellschaft in das Herrschaftssystem zu integrieren, um die personelle Ergänzung der herrschenden Elite zu gewährleisten; 3. Dominanz informeller Formen der Herrschaftsausübung, also Vermeidung festgelegter politischer Prozeduren und ideologischer Programme, die die Handlungsfähigkeit des Regimes einschränken könnten; und schließlich 4. eine ausgeprägte Anpassungs- und Wandlungsfähigkeit der Regime, die es ihnen erlaubt, auf politische und wirtschaftliche Krisen durch schnellen 3

Felix Cole an Secretary of State, 18. Mai 1934. In: Ebd., Rolle 8: Political Affairs 1930-1939.

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Wechsel zwischen repressiver und relativ liberaler, ja reformorientierter Politik zu reagieren. Dieser letzte Aspekt spielte in Lettland insofern keine besondere Rolle, da die Schwäche der Opposition ein mit Blick auf die Anwendung polizeilicher Machtmittel relativ mildes Regime ermöglichte. So waren beispielsweise unmittelbar nach dem Putsch über 300 Politiker verhaftet worden, von denen die meisten aber schon bei Jahresende wieder auf freiem Fuß waren, wenn auch viele unter polizeilicher Beobachtung blieben. Die erste große Krise des Regimes wurde 1940 nicht von innen, sondern von den benachbarten Großmächten ausgelöst und führte auch direkt zum Ende der autoritären Herrschaft. Die Zeit zur Ausformung des autoritären Ulmanis-Regimes in Lettland ist also ausgesprochen kurz gewesen, sodass möglicherweise intendierte Umgestaltungsmaßnahmen nicht mehr zum Tragen kamen, was der abschließenden Beurteilung gewisse Grenzen setzt. »Lettisches Lettland, geeintes lettisches Volk und Volksführer Ulmanis« waren die »Grundwerte« des Regimes, das unter der Bezeichnung »Lettland des 15. Mai« in die Geschichte eingegangen ist. Es stand von Anbeginn an ganz im Zeichen der Alleinherrschaft des Diktators. Das Führerprinzip wurde auch auf allen Ebenen des Staates und der Gesellschaft durchgesetzt. Dabei stützte sich Ulmanis auf die Armee, auf die Polizei, auf die Bürokratie, die der ständigen Regierungswechsel mit immer neuen Anforderungen überdrüssig war, sowie vor allem auf das Schutzkorps (Aizsargi), dessen Mitglieder geradezu die »Prätorianergarde« seines Regimes bildeten. Diese paramilitärische Organisation, von der Provisorischen Regierung im März 1919 nach finnischem Vorbild zur Aufrechterhaltung von »Frieden, Ordnung und Sicherheit« gegründet, entwickelte sich nach dem Ende der »Unabhängigkeitskriege« schnell zur »freiwilligen, parapolizeilichen, paramilitärischen Massenorganisation des lettischen Bürgertums« (I. Butulis) sowie unter der Parole »Alles für Lettland« zu einem der wichtigsten Träger der patriotischen Volkserziehung. Es gehörte zu den Schwächen des neuen Staates, dass es dem Parlament bis 1934 nicht gelang, die Tätigkeit dieser großen, mäßig bewaffneten, aber kulturell sehr aktiven Organisation auf eine klare Rechtsgrundlage zu stellen und ihr Verhältnis zu den staatlichen Institutionen gesetzlich zu regeln. Dies hatte sich seit Ende der 20er Jahre vor allem der Bauernbund zunutze gemacht, der infolge der Weltwirtschaftskrise immer weiter nach rechts driftete. Ihm gelang es, das Schutzkorps gezielt zu unterwandern und allmählich in eine »Kampforganisation des Bauernbundes« zu verwandeln, wobei ihm dessen Verankerung auf dem Lande und in den Kleinstädten besonders entgegenkam. Schutzkorpsführer nahmen aktiv an der Vorbereitung des Staatsstreichs teil, Schutzkorpsregimenter sicherten in Riga den reibungslosen Ablauf der Machtübernahme. Danach wurde die Organisation dem neu gegründeten Ministerium für öffentliche Angelegenheiten unterstellt. In dessen Rahmen widmete sie sich unter der veränderten Parole »Mit dem Führer für das ewige Lettland« neben ihrer Rolle als Disziplinierungsorgan und Hilfsorganisation der Armee vor allem kultureller Arbeit. Darin erwarb sie sich durch die Veranstaltung von Konzerten, Theateraufführungen, Sängerfesten, Ausbildungskursen und Vorträgen sowie als

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Vorkämpferin der Körperkultur und des Massensports vor allem auf dem Lande große Verdienste. Da sich Ulmanis nicht durch seinen Weg an die Macht legitimieren konnte, musste er sich über sein durchaus vorhandenes Charisma und die Hervorhebung seiner Verdienste um die Unabhängigkeit zu legitimieren versuchen. Deshalb war seine Alleinherrschaft, besonders nachdem er 1936 verfassungswidrig auch noch das Amt des Staatspräsidenten übernommen hatte, durch einen ständig ausufernden Kult um seine Person gekennzeichnet, zu dem er selbst nach Kräften beitrug. Unermüdlich wurde der »Retter des Vaterlands« zum von Gott gesandten Vollender der lettischen Geschichte stilisiert, der bewusst an die Zeit der Unabhängigkeit der Letten vor der Ankunft der Deutschen im 12. Jahrhundert anknüpfe, als die Letten angeblich ebenfalls unter Führern gelebt hätten, denen man unbedingten Gehorsam schuldig gewesen sei. Was mit der Hervorhebung seiner bäuerlichen Herkunft, seiner Begabung, seines Muts und seines Verantwortungsgefühls begann, endete bald mit eher peinlichen Bezeichnungen wie »doppeltes Genie«, ja »größter Staatsmann Europas«. Im Sinne dieser Glorifizierung seiner Person galt der 15. Mai in der Propaganda des Regimes denn auch als Höhepunkt der lettischen Geschichte, als »Morgen der Freiheit«: »Kummervoll waren wir eingeschlafen, aber glücklich sind wir erwacht, weil wir jetzt einen Führer haben!«4 Zur Stabilisierung und Legitimation des Regimes gehörten auch in Lettland »Kanäle exklusiver gesellschaftlicher Partizipation«. Auch hier vollzog sich beispielsweise das enorme Anwachsen der Beamtenschaft nach 1934 in erster Linie auf informelle Weise, durch Klientelbeziehungen, persönliche Netzwerke oder über Kooptation aus dem Schutzkorps. Letzteres war vor allem bei der Umstrukturierung der ländlichen Selbstverwaltung von gewählten Organen zu ernannten Führern deutlich zu erkennen, obwohl hier kaum noch echte Partizipation geboten wurde. Dies galt in noch höherem Maße für die sechs im Laufe der Jahre eingerichteten Berufskammern, die laut Vize-Innenminister Alfreds Bērziņš als »berufsständische Volksvertretung« dafür sorgen sollten, dass Staatsgewalt und Volk nicht mehr »durch eine Parlamentswand voneinander getrennt« würden.5 Tatsächlich wurde jedoch das genaue Gegenteil erreicht, denn alle Mitglieder der Kammern sowie des ihnen übergeordneten Staatlichen Wirtschafts- bzw. Kulturrats wurden von den zuständigen Ministern ernannt. Erst im Februar 1940 wurde festgelegt, dass zumindest die Mitglieder der Kammer für Handel und Industrie künftig gewählt werden sollten. Was als ganz neue Form der politischen Mitwirkung propagiert wurde, entpuppte sich bei näherer Betrachtung doch eher als Instrument zur Kontrolle und Beeinflussung der Bevölkerung. Dies um so mehr, 4

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Latviju radošā gara atdzimšana. Riga 1936, S. 13. Zitiert nach Butulis, I.: Ideologie und Praxis des Ulmanis-Regimes 1934‒1940, in: Oberländer, E. (Hrsg.): Autoritäre Regime in Ostmittel- und Südosteuropa 1919‒1944. 2.Aufl., Paderborn 2017, S. 273. Segodnija, 1. Januar 1936. Zitiert nach Felix Cole an Secretary of State, 11. Februar 1936, S. 82. In: Record, a.a.O., Rolle 8: Political Affairs 1930‒1939.

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als alle bestehenden Vereinigungen oder Genossenschaften der verschiedenen Berufszweige unter Einführung des Führerprinzips der Leitung durch die jeweilige Berufskammer untergeordnet wurden. Unmittelbar nach dem Staatsstreich waren bereits für 7.000 der damals in Lettland bestehenden 11.071 Vereine und Verbände Liquidationskommissionen eingesetzt worden, während 178 Vereine sofort geschlossen und 312 Vereinen die freiwillige Auflösung nahegelegt worden war. Hier handelte es sich eindeutig um die gewaltsame Zerstörung jeglicher Ansätze zu einer auf freiwilliger und demokratischer Selbstorganisation beruhenden Zivilgesellschaft, die die lettische Gesellschaft insgesamt nachhaltig geschwächt hat. Zur Stärkung der nationalen Geschlossenheit setzte das Regime auf eine enorm übersteigerte nationale Propaganda, mit der den Letten Selbstbewusstsein und ein intensiveres Gefühl der Zusammengehörigkeit vermittelt werden sollte getreu der Überzeugung: »Wir sind kein kleines Volk, wir sind auch kein großes, aber ein großartiges Volk! Wir sind Arier, ein altes Kulturvolk; Lette – das ist eine Ehrenbezeichnung, das klingt stolz!«6 In diesem Zusammenhang erlebte die Erforschung der lettischen Geschichte einen beachtlichen Aufschwung, ja sie erwies sich als eine der wichtigsten Stützen des Regimes. Und wenn die Begeisterung für die eigene Vergangenheit, vor allem diejenige vor der Ankunft der Deutschen, mangels Fakten gelegentlich über das Ziel hinausschoss, hatte der prominente Regime-Historiker und Bildungsminister Augusts Tentelis auch dafür eine Erklärung zur Hand, nämlich dass es neben der »faktischen« auch eine »nationale« Wahrheit gäbe, bei deren Verkündung man durchaus »sehr subjektiv« sein dürfe.7 In diesen Zusammenhang gehören auch die Maßnahmen und Pläne des Regimes zur architektonischen Umgestaltung Rigas von einer deutsch geprägten Stadt zu einer vom »lettischen Nationalgeist« gestalteten Hauptstadt. Diese intensive nationale Mobilisierungskampagne erwies sich als sehr erfolgreich, ja sie führte nach Einschätzung des lettischen Historikers Inesis Feldmanis zu einem »nie zuvor erreichten Höhepunkt des Nationalbewusstseins« und hat damit sicherlich nicht unerheblich zur Resistenz der Mehrheit der Letten gegenüber der sowjetischen Nationalitätenpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg beigetragen. Auch Ulmanis vermied jegliche festgelegten Prozeduren bei der Herrschaftsausübung, ja er experimentierte nicht einmal mit »Demokratie-imitierendenInstitutionen« wie seine autoritären Kollegen in Litauen und Estland ‒ wenn man einmal von den Kammern absieht, die jedoch eher einem verlängertem Arm der Regierung als einer Volksvertretung glichen. Bis 1938 regierte er mit Hilfe des Kriegsrechts, und das Gesetz über die gesellschaftliche Ordnung, das im August 1938 das Kriegsrecht ablöste, schrieb nahezu alle Ausnahmebestimmungen des Kriegsrechts dauerhaft fest. Damit hielt er sich alle Optionen offen: Er hätte je6 7

Latvijas atdzimšana. Riga 1935, S. 135. Zitiert nach Butulis, I.: Ideologie, a.a.O., S. 257. Tentelis, A.: Runa vēstures skolotāju kursos Rigā, 1936. g. 29. jūnijā. In: Trešais gads, Riga 1937, S. 152. Zitiert nach ebd. S. 268.

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derzeit auch eine sehr viel härtere Gangart einschlagen können, wenn es die Situation in Lettland erfordert hätte. Das schien nicht notwendig, denn im Zuge der allmählichen Erholung Europas von der Weltwirtschaftskrise förderte sein Regime durchaus erfolgreich wirtschaftliches Wachstum durch gezielte Unterstützung von Landwirtschaft, Industrie und Außenhandel sowie durch Beschäftigungsprogramme und verbesserte Sozialleistungen. Grundlage dieser relativen »Modernisierung« war jedoch die deutliche Tendenz zu einer staatlich kontrollierten und gelenkten Wirtschaft. Diese beruhte nicht zuletzt auf einem rigorosen Vorgehen gegen jüdische und deutsche Unternehmer, die noch 1935 etwa 72 Prozent der größeren Industrieunternehmen im Lande kontrollierten, obwohl sie nur 8 Prozent der Bevölkerung stellten. Deren enteignete oder anderweitig eingezogene Unternehmen gerieten jedoch keineswegs im Zeichen der offiziellen »Lettisierungs«-Politik in die Hände lettischer Privatunternehmer, sondern sie gelangten durchweg in den Besitz des Staates und damit in die Hände jener lettischen Bürokratie, die eine der wichtigsten Stützen des Regimes bildete. 1940 erwiesen sich jedoch gerade diese von Ulmanis geschaffenen autoritären Strukturen in Politik und Wirtschaft als unbeabsichtigte Hilfestellung für die Machtübernahme der Sowjetkommunisten. Diese mussten sich nicht mit einer im Volk verankerten demokratisch-parlamentarischen Ordnung auseinandersetzen, sondern lediglich die Funktionäre des autoritären Regimes durch kommunistisches Personal ersetzen, während sie die weitgehend staatlich kontrollierte Wirtschaft als günstige Voraussetzung für die zügige Einführung der kommunistischen Planwirtschaft nutzen konnten. Im Windschatten des schnellen deutschen Sieges über Frankreich schritt Stalin im Sommer 1940 zur Annexion der baltischen Staaten, die ihm im Geheimen Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 als seine Einflusssphäre zugesprochen worden waren. Noch am 12. Februar 1940 hatte der lettische Außenminister Vilhelms Munters in einem Vortrag in der Aula der Universität Riga den lettisch-sowjetischen Beistandspakt mit der UdSSR vom 5. Oktober 1939, der auch die Stationierung sowjetischer Truppen in Lettland erlaubte, positiv bewertet und seine Ausführungen mit der rhetorischen Frage geschlossen:«Wo ist die Sowjetisierung, vor der wir mit mehr oder weniger Nachdruck gewarnt worden sind? Und wo in Lettland gibt es jemanden, der sagen kann, dass sich die Sowjetunion in irgendeiner Weise in unsere inneren Angelegenheiten eingemischt hat?«8 Nur vier Monate später, am 26. Juni 1940, musste dagegen der neue Ministerpräsident und Außenminister der inzwischen unter Moskauer Diktat umgestalteten lettischen Regierung, Augusts Kirhenšteins, gegenüber ausländischen Diplomaten einräumen, dass man die Situation Lettlands mit der der Mongolischen Volksrepublik vergleichen könnte, denn die Zukunft Lettlands werde allein im Zeichen sowjetischer Wünsche stehen.9 8 9

John C. Wiley an Secretary of State, 12. Februar 1940, S. 2, in: Record, a.a.O., Rolle 16: Political Affairs 1940‒1944. John C. Wiley an Secretary of State, 26. Juni 1940, in: Ebd.

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In diesem Sinne ging es dann im Juli 1940 ebenso wie in Estland und Litauen auch in Lettland Schlag auf Schlag: Nachdem die Rote Armee das ganze Land besetzt hatte, wurden am 14./15. Juli 1940 »Wahlen« inszeniert. Sie sollten angeblich in dem seit 1934 autoritär regierten Lettland wieder demokratische Verhältnisse herstellen. Es waren jedoch nur die Kandidaten des »Blocks des arbeitenden Volkes« zugelassen, der unter der Aufsicht der Roten Armee die in der UdSSR übliche Zustimmungsquote von 97,6 Prozent erhielt. Obwohl im Wahlprogramm des »Blocks« mit keinem Wort von einer sozialistischen Umgestaltung geschweige denn vom Anschluss an die UdSSR die Rede gewesen war, beschloss das neugewählte »Volksparlament« unter sowjetischem Druck bereits in seiner ersten Sitzung am 21. Juli 1940, Lettland in eine Sozialistische Sowjetrepublik umzuwandeln und um Aufnahme in die Sowjetunion nachzusuchen, die am 5. August vom Obersten Sowjet der UdSSR gebilligt wurde. Damit hatte die Sowjetunion die Republik Lettland völkerrechtswidrig annektiert. Seitdem galt in der sowjetischen »Geschichtsschreibung« die Sprachregelung, wonach sich die baltischen Völker und also auch die Letten 1940 in voller Freiwilligkeit, ja im Rahmen einer sozialistischen Revolution der UdSSR angeschlossen hätten. Tatsache ist dagegen, dass die Republik Lettland – demokratisch oder autoritär regiert – ein in jeder Hinsicht lebensfähiges, ja aus der Sicht der überwältigenden Mehrheit seiner Bürger durchaus florierendes Staatswesen war, in dem es weder eine Revolution gab noch der Wunsch verbreitet war, Teil der UdSSR zu werden. Für das Schicksal der Republik Lettland waren also am Ende weder ihre Stärken noch ihre Schwächen entscheidend, sondern allein die imperialistische Politik Hitlers und Stalins. Das gewaltsame Ende ihrer Unabhängigkeit durch das deutsch-sowjetische Zusammengehen hat entscheidend dazu beigetragen, dass die Erinnerung an die gesamte von 1918 bis 1940 reichende Unabhängigkeitsperiode, die demokratische wie die autoritäre, für das Identitätsbewusstsein der Letten bis heute einen zentralen historischen Orientierungspunkt bildet. Ja sie verwandelte sich nach 1945 im Kontrast zur sowjetischen Unterdrückungspolitik geradezu in eine »kollektive, retrospektive Utopie« (D. Henning), die auch noch den mentalen Hintergrund des konsequenten Kampfes der Letten um die Wiedergewinnung ihrer Selbständigkeit in den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts bildete. Ulmanis selbst zeigte sich, bevor er im Juli 1940 entmachtet und in die UdSSR verschleppt wurde, im Interview mit einem amerikanischen Journalisten davon überzeugt, dass die Bürger Lettlands, sofern sie unter fremde Besatzung geraten sollten, die Unabhängigkeitsperiode in guter Erinnerung behalten und für ihre Wiedergeburt kämpfen würden.10

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Zitiert nach Pabriks, A., Purs, A. (Hrsg.): Latvia. The Challenges of Change. London 2001, S. 22-23.

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Von der Oberschicht zur Minderheit: Die Deutschbalten Zur Rolle der Deutschen vor 1918 Eine Minderheit in zahlenmäßiger Hinsicht waren die Deutschen im späteren Lettland immer gewesen. Sie nannten sich zunächst »Balten«, nach der Nationsbildung im 19. Jahrhundert dann »Deutschbalten«. Letztere Selbstzuschreibung verdeutlicht, dass es nun andere Balten – Esten, Letten – neben ihnen gab. Gleichzeitig betonte diese Selbstbeschreibung eine hohe regionale Verankerung. Die Deutschbalten begriffen sich als Einheimische. Eine begriffliche Gleichstellung zu anderen deutschen Gruppen in Osteuropa, wie den »Russland-« oder den »Sudetendeutschen«, lehnten sie bewusst ab. Den immer wieder anzutreffenden Terminus »Baltendeutsche« benutzten sie – mit Ausnahme der Nationalsozialisten ihrer Volksgruppe – deshalb nicht. Nach der Volkszählung von 1881 machten die Deutschbalten 135.000 Personen (11%) der Bevölkerung des späteren lettländischen Territoriums aus. Dies hatte sie damals zur zahlenmäßig zweitgrößten Bevölkerungsgruppe nach den Letten gemacht. In Riga, der späteren Hauptstadt Lettlands, stellten die Deutschbalten bis in die 1880er Jahre die Mehrheit der Einwohner. Dieser mäßigen Personenzahl, die sich fortan immer weiter verringerte, stand die Tatsache gegenüber, dass die Deutschen seit dem Mittelalter stets die herrschende Schicht darstellten. Sie besaßen Grund und Gebäude und dominierten Gesellschaft und Kultur. Diese Vormachtstellung hatten die Deutschbalten auch nach dem Fall des Deutschordensstaats am Ausgang des Mittelalters bewahren können. Unter schwedischer, polnischer und schließlich russischer Herrschaft in der Frühen Neuzeit und im 19. Jahrhundert wurden die Deutschbalten im Tausch gegen ihre unbedingte Loyalität in ihrer führenden Stellung belassen. Im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert war diese Stellung jedoch doppelt bedroht: Von »unten« forderte die entstandene lettische Nationalbewegung Möglichkeiten der Partizipation in allen Bereichen. Die Verfechter dieser lettischen Nationalbewegung mussten die Deutschbalten als Gegner einstufen, wollten sie in ihren Zielen erfolgreich sein. Vor allem sprachen sie den Deutschbalten die regionale Zugehörigkeit ab und ordneten deren Vorherrschaft als seit 700 Jahren währende »Fremdherrschaft« ein. Die Folge war, wie andernorts in Europa, ein kleinlicher Kampf um vielerlei Belange des öffentlichen Lebens.

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Dazu kam die Bedrohung von »oben«: Hatten Administration und Regierungen des Zarenreichs fast 200 Jahre lang in den Deutschbalten einen Partner erblickt, so führte großrussischer Nationalismus im ausgehenden 19. Jahrhundert zu einer allmählichen Ausschaltung des Deutschen als Verwaltungs- und Bildungssprache. Die politische Führung der Deutschbalten schätzte dennoch die soziale Bedrohung von »unten« durch die Letten als gravierender ein. Die Loyalität zum Zarenreich bröckelte also nicht, da von diesem Hilfe gegen die lettischen Aspirationen erhofft wurde. Während der Russischen Revolution von 1905 zeigten sich die entstandenen sozialen Verwerfungen zwischen Letten und Deutschbalten in voller Schärfe: Die Deutschbalten standen staatsloyal der Umbruchsituation weitgehend kritisch gegenüber und unterstützten Reformen wenn überhaupt nur behutsam, immer auf die Bewahrung ihrer Stellung bedacht. Zahlreiche Letten unterstützten dagegen die Revolution, die Reformen 1905–1907 genügten ihnen bei weitem nicht. Es gelang den Deutschbalten noch einmal, in ihrer Stellung weitgehend bewahrt zu werden. Zu einem Ausgleich mit den Letten kam es nicht. Der Erste Weltkrieg bedeutete für die Deutschbalten erneut eine schwere Belastungsprobe. Anfangs noch uneingeschränkt loyal, wurden sie von Seiten der Administration und der Propaganda des Zarenreichs aufgrund der Kriegsniederlagen Russlands als Sündenböcke eingestuft und mehr und mehr bedrängt. Besagte Niederlagen führten 1915 zur Besetzung Kurlands durch das deutsche Heer. 1917 wurde auch Riga und im Frühjahr 1918 schließlich das südliche Livland eingenommen. Somit befand sich das gesamte heutige Staatsgebiet Lettlands 1918 in den Händen des deutschen Kaiserreichs. Durch den Sturz des Zaren 1917 und den Vormarsch des deutschen Heeres bröckelte die ohnehin schon brüchig gewordene Loyalität der Deutschbalten gegenüber Russland noch weiter. Die Machtübernahme der Bolschewiki in Russland im Herbst 1917 zog unter diesen Prozess schließlich den Schlussstrich, noch ehe die junge Sowjetmacht im Friedensvertrag von Brest-Litowsk im März 1918 durch das Deutsche Reich politisch zum Verzicht auf eine weitere Zugehörigkeit des Baltikums zu Russland gezwungen wurde.

Einstellung der deutschen Minderheit zur neuen Republik Lettland Der 1917/18 politisch dominierende Teil der Deutschbalten – ganz überwiegend aus dem Adel – erstrebte am Ende des Ersten Weltkriegs einen baltischen Einheitsstaat aus Estland, Livland und Kurland. Die Realisierung dieses Projektes passte in das allgemeine Kriegsziel des Deutschen Reiches, einen Gürtel von Vasallenstaaten in Osteuropa zu errichten. Estnische und lettische Wünsche einer staatlichen Selbstständigkeit fanden hier keine Berücksichtigung. Das Schicksal dieses baltischen Einheitsstaates hing ganz am Kriegserfolg des Deutschen Reiches. Mit der Niederlage im November 1918 brach dieser Versuch

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einer Staatsbildung gegen die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung in sich zusammen. Nachdem der neu gebildete Volksrat Lettlands mit Jānis Čakste und Kārlis Ulmanis an der Spitze am 18. November 1918 als letzter der drei baltischen Staaten die Unabhängigkeit Lettlands proklamiert hatte, fand dies schnell Akzeptanz beim Rat der Volksbeauftragten, der neuen deutschen Regierung in Berlin. Die Mehrheit der Deutschbalten stellte sich jedoch nicht auf den Boden der neuen Republik. Obwohl ihnen der Status einer privilegierten nationalen Minderheit versprochen worden war, erschien die Offerte Ulmanis’ und des Volksrats nicht umfangreich genug. Ob die junge Republik Lettland überhaupt die Chance zur Existenz bekommen würde, war zunächst unklar: Die sowjetische Regierung kündigte den Frieden von Brest-Litowsk und ließ die Rote Armee in die Gebiete nachstoßen, die vom deutschen Heer beim Rückzug geräumt worden waren. Im Frühjahr 1919 beschränkte sich das nicht-sowjetisch beherrschte Gebiet auf die Halbinsel Kurland. Eine Mischung aus verbliebenen deutschen Truppen, deutschen Freikorps, antisowjetischen Russen und Letten kämpfte hier gemeinsam gegen die Rote Armee. Eine ernsthafte Kontrolle übte die Regierung Ulmanis selbst hier kaum aus. Ihre Schwäche nutzten interessierte Reichsdeutsche und Deutschbalten zu einem letzten Versuch, die Machtübernahme der lettischen Mehrheitsbevölkerung zu verhindern. Im April 1919 wurde durch einen Militärputsch eine deutsch-lettische Regierung unter dem konservativen Letten Andrievs Niedra eingesetzt, die einseitig die Interessen der deutschen Besitzenden vertrat. Kurzzeitig konnte sich diese Regierung aufgrund der militärischen Erfolge der antisowjetischen Truppen etablieren. Im Juni 1919 wurden die deutschen Truppen allerdings vom vereinigten estnischen und nordlettischen Heer in der Schlacht von Cēsis (Wenden) geschlagen. Der allgemeine Friedensschluss von Versailles setzte der weiteren Präsenz reichsdeutscher Militärs im Baltikum wenig später ein Ende. Ab Juli 1919 regierte in Riga wieder Ulmanis. Nunmehr waren alle Deutschbalten, die in Lettland zu verbleiben gedachten, bereit, die Republik anzuerkennen. Etwa die Hälfte der Deutschbalten entschied sich zur Auswanderung oder, bei bereits vorher erfolgter Flucht, gegen eine Rückkehr. Mehr als 80.000 Deutschbalten lebten in der Zwischenkriegszeit mutmaßlich nie in Lettland, amtlich sogar nur 70.000, wobei diese Zahl zu niedrig gegriffen sein dürfte. Der Anteil der Deutschbalten an der Gesamtbevölkerung fiel auf etwa 4%, wodurch sie nach den Letten, Russen und Juden nur noch die viertgrößte Bevölkerungsgruppe stellten. Das deutschbaltisch-lettische Verhältnis blieb schwer belastet und konnte nie voll bereinigt werden. Angesichts der vorangegangenen gewaltsamen Auseinandersetzungen hatten die lettischen Regierungen wenig Hemmungen, die Deutschbalten in ihren Rechten zu beschneiden. Dies wurde vielfach von den Deutschbalten als ungerecht empfunden. Andererseits war die Republik Lettland vergleichsweise liberal im Umgang mit ihren nationalen Minderheiten in der Zwischenkriegszeit. Dies wurde auch von der neuen politischen Führung der

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Deutschbalten anerkannt, die sich anstelle des bislang dominierenden Adels nunmehr vorrangig aus bürgerlichen Politikern zusammensetzte. Der Vorsitzende der deutschen Parlamentsfraktion, Paul Schiemann, erkannte, dass ohne umfangreiche Preisgaben deutschen Grundbesitzes und in deutschem Besitz befindlicher Gebäude kein sozialer Ausgleich möglich war.

Politische, wirtschaftliche und soziale Entmachtung Die Festigung der Regierung Ulmanis 1919–1920 bedeutete politisch die Durchsetzung demokratischer Prinzipien in der Republik Lettland. Unter diesen Bedingungen war lediglich noch eine partielle Teilhabe der Deutschbalten an der legislativen und exekutiven Macht möglich, nicht aber eine Dominanz des politischen Systems. Das erste frei gewählte Parlament Lettlands, die Verfassunggebende Versammlung, zählte 1920–1922 demnach auch nur sechs deutsche Mitglieder bei einer Abgeordnetenzahl von 150. Verfassunggebende Versammlung und Regierung leiteten zahlreiche Maßnahmen zur wirtschaftlichen und sozialen Entmachtung der Deutschbalten ein. Zunächst wurden im Zuge der Währungsreformen bisherige Schuldverhältnisse im Wesentlichen aufgehoben. 1920 wurden in schneller Folge zunächst der Adelsstand aufgehoben sowie der Grundbesitz der Ritterschaften und schließlich auch 97% des privaten deutschbaltischen Landbesitzes bis auf kleine Restgüter sozialisiert. Die eingezogenen Ländereien wurden anschließend neu an Kleinbauern verteilt. Entschädigungen wurden den Deutschbalten nicht gewährt, auch eine internationale Klage vor dem Völkerbund hiergegen blieb erfolglos. Außerhalb des Agrarbereichs waren die Eingriffe der lettischen Regierung im wirtschaftlichen und auch im sozialen Bereich weit weniger systematisch. So überprüfte zwar die Stadtverwaltung Rigas bei deutschen Kommunalbediensteten, ob sie ihrer Pflicht zum Erlernen des Lettischen nachgekommen waren. Entlassungen erfolgten aber nur bei sehr schlechten Ergebnissen. Fast alle neuen lettischen Stadtverwaltungen außerhalb der Hauptstadt Riga weigerten sich darüber hinaus, einer Regierungsverordnung über das Entfernen deutscher Straßenschilder nachzukommen. Im kirchlichen Bereich sorgte die Wegnahme prominenter Rigaer Kirchen für schwere Konflikte, gerade weil diese Enteignungen politischer und nicht konfessioneller Natur waren. Für die 1922 gegründete übernationale Evangelisch-Lutherische Kirche Lettlands konnte nämlich mit der kollegialen Leitung durch zwei Bischöfe – Kārlis Irbe für die Gesamtkirche und Peter Harald Poelchau für die deutschen Gemeinden – ein vorbildhaftes Modell der Zusammenarbeit gefunden werden. Die Gemeinsamkeiten wogen sogar so stark, dass Irbe 1931 aufgrund staatlicher Eingriffe in das kirchliche Leben unter Protest zurücktrat. Dabei ist zu beachten, dass die evangelische Kirche in der lettischen Nationalbewegung aufgrund der deutschen Dominanz in dieser Kirche einen wesentlich geringeren

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Rückhalt hatte als beispielsweise die katholische Kirche in der polnischen Nationalbewegung, mitunter also weniger Hemmungen für Eingriffe bestanden. Auf beiden Seiten wirkten neben Nationalisten auch Personen des Ausgleichs. Eine deutschbaltisch-lettische Verständigung wäre möglich gewesen. Nach dem Ende der großen Enteignungswelle 1923 und der wirtschaftlichen Erholung nach dem Ersten Weltkrieg stieg die Akzeptanz der Republik Lettland unter den Deutschbalten deutlich an, gepaart mit einer wieder stärkeren Partizipation im politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bereich.

Die Deutsche Fraktion im Parlament Die politische Geschichte Lettlands der Zwischenkriegszeit teilt sich in die parlamentarische Periode 1918–1934 und die Diktatur Ulmanis’ 1934–1940. Nachdem in der Verfassunggebenden Versammlung der Einfluss der Deutschbalten mit sechs von 150 Abgeordneten auf ein Minimum abgesunken war, konnten sich die deutschbaltischen Parteien in der Saeima, dem 1922 eingerichteten lettischen Parlament, deutlich erholen. Stets stellten sie fünf oder sechs von 100 Abgeordneten und standen damit an der Spitze der Minderheiten. Aus einer Reihe von Gründen konnten die Deutschbalten an den viel größeren Nationalitäten der Russen und Juden vorbeiziehen: Zum einen zeigten sich die fünf politischen Parteien der Deutschbalten in hohem Maße kompromissbereit und kandidierten stets miteinander auf einer gemeinsamen Liste. Zudem unterstützten die überwiegend gut gebildeten und interessierten Deutschbalten diese Liste bei Wahlen sehr geschlossen, was die überproportional hohen Erfolge weitgehend erklärt. Darüber hinaus wurden gerne Besonderheiten des lettischen Wahlrechts zur Mobilisierung genutzt und schlussendlich fanden die deutschen Listen auch die Unterstützung einiger tausend lettischer Wähler. Neben den beiden Kammern der Tschechoslowakei war die Saeima Lettlands das einzige Parlament Osteuropas der Zwischenkriegszeit, in denen die Minderheiten auch sprachlich berücksichtigt wurden: Neben Lettisch durfte auch Deutsch oder Russisch gesprochen werden. Dies trug der Tatsache Rechnung, dass die Deutschbalten aus der Zeit des Zarenreichs sehr gut Russisch sprachen, aber nur vereinzelt das Lettische beherrschten. Trotz dieser Spracherleichterung setzten die deutschen Parlamentarier auch ihrerseits ein Zeichen der Integration: Obwohl teilweise bereits vorangeschrittenen Alters erlernten sie ohne Ausnahme das Lettische. Dies ermöglichte wiederum eine umfangreiche Teilhabe am politischen System. Sogar Ministerämter oder Posten im Parlamentsvorstand nahmen sie ein, was im Osteuropa der Zwischenkriegszeit beileibe keine Selbstverständlichkeit war. Die politischen Geschicke der Deutschbalten wurden bis 1933 durch den bereits genannten Liberalen Paul Schiemann geleitet. Neben dem Fraktionsvorsitz im Parlament war er Chefredakteur der renommierten »Rigaschen Rundschau«, einer der

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damals bedeutendsten deutschen Zeitungen Osteuropas. Schiemanns Stellvertreter war der durch die vorangegangenen Konflikte mit den Letten nicht belastete Konservative Wilhelm v. Fircks. Trotz Unterschieden in Herkunft und Zielen einte Fircks und Schiemann eine hohe Konsensorientierung, die maßgeblich zum Erfolg der deutschbaltischen Politik in Lettland vor allem in den 1920er Jahren beitrug. Bei der Bewertung dieser Erfolge gilt es zwischen der zeitgenössischen und der wissenschaftlichen zu unterscheiden. Zeitgenössisch wurden die neuen Bedingungen einer nationalen Minderheit von den Deutschbalten meist als Zumutung empfunden und die vielfachen Wegnahmen deutschen Eigentums und das Herausdrängen der Deutschbalten aus vielen Bereichen des öffentlichen Lebens beklagt. Diese Einschätzung dominiert in den meisten Erinnerungen und Publikationen von Zeitzeugen, darunter auch in dem besonders wichtigen dreibändigen Werk des damaligen Leiters des deutschbaltischen Schulwesens in Lettland, Wolfgang Wachtsmuth. Die moderne Geschichtsforschung in Deutschland – wie auch in Lettland seit 1991 – nimmt dagegen oft Vergleiche der Behandlung von deutschen Volksgruppen in allen Staaten Osteuropas vor. Auch der Umgang Italiens mit den Südtirolern oder Frankreichs mit den Elsässern wird zum Vergleich herangezogen. Dadurch wird insgesamt schnell deutlich, dass die Republik Lettland den Deutschbalten politisch, wirtschaftlich und sozial sehr weitgehende Rechte eingeräumt hatte, auch wenn die Deutschbalten selbst latent unzufrieden waren. Dazu kam die wirtschaftliche Erholung der 1920er Jahre, gepaart mit der relativen Stabilität des politischen Systems, die immerhin fast 15 Jahre währte. So blieben trotz der staatlichen Eingriffe die Deutschbalten die wohlhabendste und bildungsstärkste Nationalität Lettlands. Bis zum Beginn der 1930er Jahre stellten sie auch die politische Speerspitze aller nationalen Minderheiten dar. Ihre große Geschlossenheit erzeugte oftmals Bewunderung oder auch Respekt, gerade auch unter den Gegnern der Deutschbalten innerhalb der lettischen Bevölkerungsmehrheit.

Bildungs- und Kulturautonomie Zentrales Element der Toleranz der Republik Lettland gegenüber ihren nationalen Minderheiten war das im Dezember 1919 noch durch den ernannten Volksrat verabschiedete Schulautonomiegesetz, das von deutschbaltischen Politikern ausgearbeitet worden war und im Kern in der Republik Lettland bis heute gültig ist. Dadurch wurde ein eigenständiges deutsches Schulsystem mit landesweit etwa 100 Schulen möglich. Die Lehrkräfte sowie die Beschäftigten in der Verwaltung des deutschen Bildungswesens waren einerseits Staatsbedienstete der Republik Lettland. Politisch wurden sie jedoch von der deutschen Parlamentsfraktion und nur indirekt vom lettischen Bildungsministerium kontrolliert und angeleitet. Durch die Schulautonomie konnte ein Austragen politischer Meinungsverschiedenheiten auf dem Rücken von Kindern, wie sie bereits vor dem Ersten

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Weltkrieg und erst Recht in der Zwischenkriegszeit in vielen Ländern an der Tagesordnung war, in Lettland vermieden werden. Von Ausnahmen abgesehen arbeitete die deutsche Bildungsverwaltung gut mit den Bildungsministern Lettlands zusammen. Zu Beginn der 1920er Jahre wurde mit dem Herder-Institut zunächst geheim, dann geduldet, eine neue private deutsche Hochschule neben der offiziellen Universität Lettlands eingerichtet. 1927 erreichte die deutsche Parlamentsfraktion die staatliche Anerkennung des Herder-Instituts. Es ersetzte partiell die vormalig deutschsprachige, Ende des 19. Jahrhunderts russifizierte Universität Dorpat, die nunmehr zum benachbarten Estland gehörte. Gerne hätten die deutschbaltischen Parlamentarier auch den gesamten sozialen Bereich im Rahmen einer Kulturautonomie in die Hände der Deutschbalten selbst gelegt, wie dies in Estland der Fall war. Dies wurde von der lettischen Parlamentsmehrheit Mitte der 1920er Jahre schließlich abgelehnt. Allerdings wurde eine privatrechtliche Organisation dieser kulturellen und sozialen Aufgaben in Form der »Deutsch-baltischen Volksgemeinschaft« ermöglicht. Ein weiterer Erfolg der deutschbaltischen Politik war der teilweise Erhalt des Deutschen als Amtssprache Lettlands im Umgang mit den Deutschbalten.

Auseinanderentwicklung: Nationalsozialismus unter den Deutschbalten und Ulmanis-Diktatur Legte die wirtschaftliche Stabilisierung der 1920er Jahre die Grundlage für die genannte große Teilhabe der Deutschbalten in und am lettischen Staat, so zerstörte die Weltwirtschaftskrise, die Lettland alsbald erfasste, die gemachten Integrationsschritte. Angefangen mit der Sprengung eines neuen Denkmals für die deutschbaltischen Lettland-Kämpfer 1919 durch lettische Nationalisten im Jahr 1929 kam es unter den Letten zu einem Rechtsruck. Dieser brachte alte antideutsche Ressentiments wieder zum Vorschein. So musste sich die deutsche Parlamentsfraktion schweren Angriffen auf die Schulautonomie erwehren, die bis dahin nie zur Disposition gestanden hatte. 1932 wurde Deutsch als Amtssprache des lettischen Staates faktisch abgeschafft. Lediglich in Gemeinden mit einem deutschen Bevölkerungsanteil von mehr als 50% durfte das Deutsche noch beibehalten werden. Bei der verstreuten Siedlungsstruktur der Deutschbalten Lettlands traf dies nur auf eine einzige Ortschaft zu: das landwirtschaftlich geprägte Dorf Hirschenhof (lett. Irši) in Livland aus der Zeit Katharinas der Großen. Doch nicht nur der um sich greifende Nationalismus der Letten führte zum Bruch: Innerlich hatten sich die Deutschbalten kaum demokratisiert, sondern waren im alten Standesdenken verhaftet geblieben. Trotz der genannten Erfolge der deutschbaltischen Politik herrschte vielfach die bereits genannte Unzufriedenheit und teilweise Nichtakzeptanz der neuen Verhältnisse. Zu Beginn der 1930er Jahre versuchten deutschbaltische Konservative und deutschbaltische

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Nationalsozialisten unter Erhard Kroeger im Fahrwasser des Aufstiegs der Nationalsozialisten im Deutschen Reich, sich der bisherigen politischen Führung durch Schiemann und Fircks zu entledigen. Dies gelang 1933, als nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten das Auswärtige Amt des Deutschen Reichs die »Rigasche Rundschau« aufkaufte. Schiemann und der erkrankte Fircks mussten dem immer stärkeren Druck nachgeben und traten ab. Fircks starb im Dezember 1933. Die neue konservativere Führung unter Lothar Schoeler versuchte zu vermitteln, doch scheiterte sie völlig: Zum einen verloren die Deutschbalten spätestens jetzt aufgrund der intoleranten Innenpolitik des Deutschen Reichs ihre Führungsrolle unter den Minderheiten wie auch noch vorhandene Sympathien bei zahlreichen lettischen Parteien. Zum anderen hatte die neue Führung keinen politischen Weitblick: Weil Kārlis Ulmanis unter den verbliebenen lettischen Politikern einer der wenigen war, der den Deutschbalten nicht ablehnend gegenüberstand, somit also noch als das kleinste Übel erschien, stützte die deutsche Parlamentsfraktion seine Regierung. Dies tat sie in Kenntnis der Tatsache, dass Ulmanis einen autoritären Umbau Lettlands anstrebte und sich Vorbereitungen eines Putsches im Frühjahr 1934 nicht geheim halten ließen. Am 15./16. Mai 1934 beseitigten Regierungschef Ulmanis und seine Anhänger das demokratische System Lettlands und ersetzten es durch ein Null-Parteien-System ohne jedwede pseudo-demokratische Legitimation. Die Minderheiten waren ein leichtes Opfer des neuen autoritären Regimes: Noch im Juli 1934 wurde die Schulautonomie aufgehoben. Der Übergang zur lettischen Unterrichtssprache in vielen Fächern war die Folge. Deutschbaltische Staatsbedienstete wurden entlassen und über die (Land-)Wirtschaft erging eine neue Welle der Enteignungen und Sozialisierungen zum Schaden der Deutschbalten. 1935 wurde Deutsch als Amtssprache auch in Hirschenhof abgeschafft. Als Ausnahme blieb das Herder-Institut von Desintegrationsmaßnahmen weitgehend verschont. Lediglich die von konservativen und nationalsozialistischen Deutschbalten geleitete Volksgemeinschaft blieb für die kulturellen und sozialen Belange der Deutschbalten erhalten. Im Richtungsstreit konnten sich die vom Deutschen Reich massiv geförderten deutschbaltischen Nationalsozialisten unter Kroeger und Alfred Intelmann 1938 endgültig durchsetzen. Damit lag die politische Führung der Deutschbalten nunmehr in den Händen derjenigen Politiker, die der Republik Lettland gegenüber am illoyalsten waren und sich willfährig der NSAußenpolitik unterordneten. Die Auseinanderentwicklung der Deutschbalten und Letten hatte jedoch, wie erwähnt, schon Jahre vorher eingesetzt. Mangelndes wechselseitiges Verständnis, gepaart mit der Gläubigkeit gegenüber autoritären Antworten in einer wirtschaftlich schwierigen Zeit führten Schritt für Schritt zu diesem Auseinanderleben. Als Minderheit mussten die Deutschbalten dabei, wie Minderheiten fast allerorten, mehr Ausgrenzung als in der vorherigen liberalen Demokratie erfahren. Dies verstärkte die Abwendung von der Republik Lettland noch mehr.

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Umsiedlung infolge des Hitler-Stalin-Paktes Im Geheimen Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Paktes von 1939 wurde Lettland der sowjetischen Einflusssphäre zugeschlagen. Für die Deutschbalten Lettlands und Estlands sah die Reichsaußenpolitik eine Umsiedlung ins besetzte Polen vor – ein typisches Verlangen der nationalsozialistischen Machthaber, um eine Vergrößerung der Anzahl der Deutschen in ihrem Machtbereich zu erreichen. Im Reichsgau Warthe sollten die Deutschbalten zum Gelingen der Germanisierungspolitik beitragen. Diese Pläne wurden den Deutschbalten in Lettland im Oktober 1939 publik gemacht. Mit den Worten »Wir stehen unter dem Befehl unseres Volkes«1, forderten Intelmann und Kroeger in einem gemeinsamen Aufruf die Deutschbalten zur Folgeleistung auf. In der Tat ließen sich 1939/40 etwa fünf Sechstel der Deutschbalten Lettlands umsiedeln. Dieser bemerkenswert hohe Anteil einer noch zehn Jahre zuvor dem Staat gegenüber eher loyal einzuschätzenden Bevölkerungsgruppe mit über 700-jähriger Tradition vor Ort wäre ohne die vorangegangenen Jahre der Dissimilation durch die Ulmanis-Diktatur nicht vorstellbar gewesen. Nicht unerwähnt soll dabei bleiben, dass jedoch auch über 10.000 Deutschbalten, darunter Schiemann, im Lande blieben. Nach der Eingliederung in die UdSSR 1940 kam es zu Beginn des Jahres 1941 zu einer Nachumsiedlung fast aller dieser Verbliebenen. An diesem Stimmungswechsel hatten die vorangegangenen Monate der Sowjetisierung Lettlands einen zentralen Anteil. Die letzten Deutschbalten flohen 1944 vor der Roten Armee. Die Aussiedlung der Deutschbalten war damit – anders als später die der Deutschen aus Schlesien oder aus Rumänien – so allumfassend, dass die Deutschbalten heute eine historische Volksgruppe sind, die auch nach 1991 keine Erneuerung erfuhr. Durch zahlreiche Kirchen, Wohn- und Geschäftshäuser, Statuen und Hinweistafeln sowie vielerlei Kooperation mit den Traditionsverbänden in Deutschland ist ihr Erbe allerdings auch heute noch ein ständiger Begleiter bei einem Besuch Rigas und anderer Orte Lettlands.

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Rigasche Rundschau, 30.10.1939, S. 1.

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Überleben zwischen den Großmächten: Lettische Außenpolitik 1918 – 1940 Die Anfänge lettischer Außenpolitik Es ist eine Binsenweisheit, aber sie trifft zu: Ohne den Zusammenbruch des Russischen Imperiums der Zaren und des Deutschen Kaiserreichs hätte Lettland seine Unabhängigkeit, die der Lettische Volksrat im November 1918 erklärt hatte und die in den Unabhängigkeitskriegen zur Überraschung mancher Zeitgenossen auch behauptet wurde, kaum und vor allem nicht in so kurzer Zeit erreicht. Ab wann aber lässt sich von einer Außenpolitik Lettlands sprechen? In der ersten Jahreshälfte 1919 existierten auf dem Boden jener Gebiete, aus denen der lettische Staat werden sollte, drei Regierungen, die Anspruch darauf erhoben, für Lettland zu sprechen. Während die Regierung um den deutschfreundlichen Andrievs Niedra kaum unabhängig von der Baltischen Landeswehr agieren konnte und in Riga Pēteris Stučka eng mit Moskau kooperierte und versuchte, eine lettische Sowjetrepublik zu etablieren, musste im April 1919 der Ministerpräsident des Lettischen Volksrates, Kārlis Ulmanis, erst nach Liepāja (Libau) ausweichen und dann kurzzeitig unter dem Schutz des britischen Flottenverbandes an Bord der »Saratow« Schutz suchen. Es war also 1918/1919 keinesweges ausgemacht, wer für Lettland international würde sprechen können. Mit Unterstützung der Entente-cordiale und einer temporären Koalition aus deutschen, estnischen und lettischen Truppen gelang es bis zum Juni 1919, die lettischen Bolschewiki aus dem Westen und Norden Lettlands zu vertreiben. Die Ernennung Andrievs Niedras zum Ministerpräsidenten von deutschen Gnaden führte zum Bruch in der bisherigen Koalition, als die Deutschbalten mit Unterstützung von reichsdeutschen Freikorps Nordlettland besetzen wollten. Dieser deutsche Vorstoß konnte mit dem Sieg von vereinten estnisch-lettischen Truppen in der Schlacht von Cēsis (Wenden) im Juni 1919 gestoppt werden. Nach weiteren Kämpfen wurde eine Räumung Rigas deutscherseits als unvermeidlich angesehen. Erst danach kontrollierten die Ulmanis loyalen lettischen Truppen größere Teile des Landes. Vor dem Hintergrund des jeweiligen Ringens um internationale Anerkennung wird man also noch nicht von der Außenpolitik Lettlands sprechen können, aber die Regierung des Volksrates konnte sich bereits in Praktiken internationaler Diplomatie üben, was ohne das Revolutionsjahr 1917 im Zarenreich kaum denkbar gewesen wäre. In dieser Lage nahm der Baltische Nationalausschuss, der für die Deutschbalten zu sprechen beanspruchte, Verhandlungen mit Kārlis Ulmanis in Liepāja auf.

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Eine Einnahme Rigas durch estnische Truppen, die zahlenmäßig ungleich stärker und besser organisiert waren als die lettischen, wurde weder vom Lettischen Volksrat noch von Seiten der Alliierten gewünscht. Der Direktor der amerikanischen Lebensmittelverwaltung, Herbert Hoover, musste aus Paris mit einer Einstellung der Hilfslieferungen an die Esten drohen, damit sich diese zu Verhandlungen bereit erklärten. Am Abend des 2. Juli trafen sich die Vertreter der verschiedenen Parteien im Schulhaus von Strazdumuiža (Strasdenhof), zwölf Kilometer nordöstlich Rigas und unweit der Front, und beschlossen einen Waffenstillstand. Die Regierung Niedra trat zurück, die Baltische Landeswehr wurde in die Lettische Armee integriert und die estnischen Truppen zogen sich zurück, so dass man diesen Waffenstillstand, den Ulmanis aus einiger Entfernung an der kurländischen Küste begleitete, als den Ausgangspunkt einer lettischen Außenpolitik betrachten kann. Auch wenn Großbritannien, Frankreich, die USA und Italien allen Bitten der neuen Regierungen der baltischen Länder auf direkte Intervention widerstanden – hier folgte man der öffentlichen Meinung, für die der Daily Express vom 3. Januar 1919 stehen mag «The frozen plains of Eastern Europe are not worth the bones of a single British grenadier” – so stellte die Interalliierte Baltikumskommission im Jahre 1919 doch jene Organisation dar, die durch ihre bloße Anwesenheit und Mediationsbereitschaft die neuen Regierungen zu sichern half. Sie ermutigte die lettische Regierung sogar, im November 1919 eine Kriegserklärung nach Berlin zu schicken,1 als der vereinbarte Abzug der deutschen Truppen ins Stocken geriet. Auf der anderen Seite blieben die Versuche Lettlands, an den Pariser Vorortverhandlungen gleichberechtigt teilnehmen zu können, vergeblich. Während der Jahre 1919 und 1920 hielten die Alliierten ein Lettland mit weitgehenden Autonomierechten innerhalb eines postbolschewistischen Russlands für möglich und zögerten mit der Anerkennung des Landes, wie auch mit der Anerkennung Litauens und Estlands. Damit war im Gegensatz zu Polen, dem der amerikanische Präsident Woodrow Wilson ja einen eigenen Punkt seiner berühmten 14 Punkte gewidmet hatte, und im Gegensatz zu Finnland, das bereits zu Beginn des Jahres 1918 unabhängig geworden war, die Zukunft der baltischen Länder im Nordosten Europas offen. Dennoch setzten die neu entstandenen Staaten auf den zu gründenden Völkerbund in Genf, der die eigene Existenz abzusichern versprach. Schon im Laufe des Jahres 1920 versuchte Lettland gemeinsam mit Litauen und Estland, dem Völkerbund beizutreten, was zunächst abgelehnt wurde. Aber als ein sowjetischer Sieg im Bürgerkrieg immer wahrscheinlicher wurde, und nachdem die lettische Außenpolitik unter Außenminister Zigfrīds Anna Meierovics, der dominierenden 1

An den Minister des Auswärtigen Deutschlands, in: Herder-Institut (Hrsg.): Dokumente und Materialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte. Themenmodul »Lettland in der Zwischenkriegszeit«, bearb. von Jānis Keruss. URL: https://www.herder-institut.de/resolve/qid/1396.html (Zugriff am 8.06.2017).

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Persönlichkeit lettischer Außenpolitik in der ersten Hälfte der 1920er Jahre, massive Lobbyarbeit betrieben hatte, erkannte zunächst der Alliierte höchste Kriegsrat, in dem immerhin Großbritannien, Frankreich, Belgien Italien und Japan vertreten waren, Lettlands Unabhängigkeit am 26. Januar 1921 an. Dies war der internationale Durchbruch, dem die Anerkennung durch zahlreiche andere Staaten folgte. Lettland wurde schließlich am 22. September 1921 Mitglied des Völkerbundes, die USA erkannten den lettischen Staat im Juli des folgenden Jahres an, bis 1940 sollten es 42 Staaten werden.

Die diplomatische Absicherung der Grenzen Lettlands Wichtiger noch als die Anerkennung durch die Alliierten und die Völkerbundsmitglieder war sicher die Herstellung eines außenpolitischen modus vivendi mit dem geographisch nächsten, großen Nachbarn – mit Sowjetrussland, das zwar durch die möglichen und tatsächlichen Versuche kommunistischer Unterwanderung als Bedrohung angesehen wurde, das aber auch nicht weniger gefährlich für die Eigenstaatlichkeit schien als eine Nachkriegsordnung mit einem bürgerlichen Russland, das die lettische Unabhängigkeit nicht anzuerkennen bereit sein würde. Allmählich gelangte die lettische Regierung wie die baltischen Nachbarn und die Alliierten, trotz des wechselhaften Verlaufs des polnisch-sowjetischen Krieges, zu der Auffassung, dass die »Weißen« in Russland nicht mehr würden siegen können. Während die Alliierten das Ende der Interventionen im russischen Bürgerkrieg vorbereiteten, nahmen die anderen, Letten, Esten und Litauer, die jeweiligen Verhandlungsangebote Moskaus an. Hier wurden erste Eckpunkte eines Vertrages zwischen Lettland und Sowjetrussland vorbereitet und schließlich am 11. August 1920 in Riga fertiggestellt. Die lettische Seite war in diesen Gesprächen durch Jānis Vestmanis, Pēteris Berģis, Ansis Buševics, Eduards Kalniņš und Kārlis Pauļuks vertreten, die russische Seite durch Adolf Abramowitsch Joffe und Jakow Chaniecki. Bezeichnenderweise war die Verhandlungssprache Deutsch. Mit dem lettisch-sowjetischen Vertrag von Riga stabilisierte sich die geopolitische Situation Lettlands entscheidend. Die Unabhängigkeit Lettlands und sein Recht auf Selbstbestimmung wurden anerkannt. Insbesondere der Artikel II des Vertrages wurde zu einem zentralen Bezugspunkt, der in den Beziehungen zu Russland bis in die Gegenwart betont wird: »Ausgehend von dem von der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik verkündeten freien Selbstbestimmungsrecht aller Völker bis zu ihrer vollständigen Loslösung von dem Staate, zu deren Bestände sie gehören, und angesichts des bestimmt ausgedrückten Wunsches des lettischen Volkes nach selbständiger staatlicher Existenz erkennt Russland unbedingt die Unabhängigkeit, Selbständigkeit und Souveränität des lettischen Staates an und entsagt freiwillig und für ewige Zeiten allen Souveränitätsrechten, die Russland gegenüber dem

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lettischen Volke und Lande kraft der früheren staatsrechtlichen Ordnung und auf Grund internationaler Verträge zustanden. Diese Verträge verlieren in dem hier bezeichneten Sinne für die Zukunft ihre Kraft. Aus der früheren Zugehörigkeit zu Russland entstehen für das lettische Volk und das lettische Land keinerlei Verpflichtungen gegenüber Russland.«2 Zudem wurden die Grenzen des lettischen Staates »für alle Zeiten« durch die RSFSR anerkannt. Zwar existierte in weiten Teilen der lettischen Öffentlichkeit durchaus Klarheit darüber, dass die Bolschewiki auch weiterhin jede Möglichkeit benutzen würden, um die lettische Gesellschaft zu destabilisieren und bei Gelegenheit auch die Kernpunkte des Vertrages in Frage zu stellen. Doch hatte man mit Abschluss dieses Vertrages bis zu Annexion 1940 immerhin seine – stabile – Grenze mit dem übermächtigen Nachbarn im Osten gefunden. Die Grenzkonflikte mit den anderen neuentstandenen Staaten waren hingegen für Lettland, anders als im Falle Litauens, nach der Unabhängigkeit nicht so schwerwiegend, dass sie, wenn auch nicht immer zur vollen Zufriedenheit der lettischen Politik, nicht in den ersten Jahren gelöst werden konnten. Schon während des Unabhängigkeitskriegs im Jahre 1919 hatte Estland Lettland militärische Unterstützung gegen die Baltische Landeswehr und die deutschen Truppen unter der Bedingung angeboten, dass einige der territorialen Ansprüche in Livland anerkannt würden. Die lettische Seite hatte dies abgelehnt, und so hatten sich die estnischen Truppen zurückgezogen. Weitere estnische Ansprüche konzentrierten sich auf das Gebiet um Valka. Am 20. März 1920 stimmten Lettland und Estland einer Regelung zu, die von der Interalliierten Baltikumskommission unter der Leitung des britischen Obersten Stephen Tallent vermittelt worden war. Lettland bekam das Dorf Ainaži und weitere umstrittene Gebiete, verlor aber den Großteil der Stadt Valka. Der Streit um die von Schweden bewohnte Insel Ruhnu (Runö) in der Bucht von Riga wurde erst einige Jahre später gelöst, als Lettland schließlich auf alle Ansprüche auf Ruhnu verzichtete, nachdem am 1. November 1923 das Militärbündnis mit dem estnischen Nachbarn unterzeichnet worden war. Trotz der anfänglichen Grenzkonflikte sollte dieses lettisch-estnische Bündnis die ganze Zwischenkriegszeit hindurch Bestand haben. Auch mit Litauen gab es Grenzkonflikte: Lettland wollte die südliche Grenze des ehemaligen Gouvernements Kurland unverändert als Grenze zu Litauen erhalten, während in Kaunas Kurland als möglicher Ostseezugang diskutiert wurde, da das Memelgebiet (noch) außerhalb der litauischen Kontrolle lag. Im September 1919 besetzte die Litauische Armee Ilūkste (Illuxt) und drohte Daugavpils (Dünaburg) einzunehmen. Aber etwa ein Jahr später vertrieb die lettische Armee die Litauer. Auch dieser Konflikt wurde schließlich durch internationale Vermitt2

Lettländisch-russischer Friedensvertrag 1920, in: Herder-Institut (Hrsg.): Dokumente und Materialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte. Themenmodul »Lettland in der Zwischenkriegszeit«, bearb. von Jānis Keruss. URL: https://www.herder-institut.de/resolve/qid/1390.html (Zugriff am 12.05.2017).

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lung unter Führung von James Young Simpson gelöst: Am 21. März 1921 erhielt Litauen die Hafenstadt Palanga und weitere kleinere Gebiete sowie den Eisenbahnknotenpunkt Mažeikiai auf der Eisenbahnlinie Rīga – Jelgava (Mitau) – Liepāja (Libau). Lettland erhielt hingegen die Stadt Aknīste (Oknist) sowie das Gebiet um Bauska (Bauske) und weitere kleine Gebiete. Als Ergebnis des polnisch-sowjetischen Krieges besaß Lettland eine etwa 105 Kilometer lange Grenze mit der 2. Polnischen Republik. Im Juli 1919 kündigte Polen die Annexion aller Gebiete südlich von Daugavpils und ihre Inkorporation in polnisches Staatsterritorium an. In Warschau betrachteten nicht wenige Lettgallen als eigentlich polnisches Land. Zu jenem Zeitpunkt protestierte die lettische Regierung nur verhalten, da die Polen als Partner für die entscheidende Schlacht von Daugavpils gegen die sowjetischen Truppen gebraucht wurden. Dieser Konflikt erledigte sich gleichsam von selbst. Polen musste sich der neuen sowjetischen Offensive auf Warschau im August 1920 erwehren und zog seine Truppen ab und lettische rückten nach. Nach der handstreichartigen Eroberung und Okkupation von Vilnius und Mittellitauen durch Lucjan Żeligowski im Oktober tat die polnische Regierung alles, um gute diplomatische Beziehungen mit Lettland zu pflegen. Die Zugehörigkeit Lettgallens zu Lettland wurde auch öffentlich in Polen kaum noch in Frage gestellt. Rechtlich wurde der Disput im Februar 1929 mit dem Lettisch-Polnischen Handelsvertrag geregelt, der eine Geheimübereinkunft über Kompensationen für polnische Landbesitzer enthielt, die ihren Grund und Boden verloren hatten. Unter Protesten Litauens wurde schließlich die lettisch-polnische Grenze zwischen 1933 und 1938 durch Grenzmarkierungen festgelegt und sichtbar gemacht.

Lettland und das Bemühen um multilaterale Absicherung Die Überlebensfähigkeit des jungen lettischen Staates hing natürlich auch von seiner wirtschaftlichen Prosperität ab. Die Metropole Riga, die im Krieg gelitten und mit der Revolution in Russland ihr ökonomisches Hinterland verloren hatte, war auf die Wiederaufnahme reger Tätigkeit in ihrem Hafen angewiesen. Sowohl die amerikanischen als auch britische Diplomaten hielten vor diesem Hintergrund alle baltischen Staaten 1919/1920 für nicht überlebensfähig. Es gab aber auch in Lettland selbst Stimmen, die einen Dreibund der baltischen Staaten schon aus ökonomischen Gründen befürworteten und die Schaffung eines gemeinsamen Wirtschaftsraumes mit gemeinsamer Währung propagierten, was vor allem Riga zu Gute gekommen wäre – ein Beispiel war Alfred Frauenstein mit seiner Artikelserie »Der Dreibund der drei Baltischen Staaten«.3 Sie konnten sich frei3

Frauenstein, A.F.:Die zentraleuropäischen Randstaaten mit besonderer Berücksichtigung des baltischen Dreibund-Problems Lettland, Estland und Litauen. Mit Personenverzeichnis. Riga 1921.

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lich nicht durchsetzen – die Aufgabe des mühsam erkämpften Nationalstaates kam für die lettische Politik auf der Rechten wie auf der Linken nicht in Frage. Allerdings suchte die lettische Außenpolitik die Kooperation im Nordosten Europas in politischer wie ökonomischer Hinsicht. Ihre Bemühungen trafen insbesondere in Finnland und Estland auf Resonanz. Die Konferenz von Bulduri, heute ein Teil von Jūrmala, war ein solcher durchaus verheißungsvoller Anfang. Diese »tanzende« Konferenz von Bulduri im eleganten Hotel Bilderlingshof, das eigens mit einer Telegrafenleitung versehen worden war, misslang. Sie war aber der erste multilaterale Versuch, bei dem unter anderem Lettland, mit Ulmanis als Gastgeber, Estland, Litauen, Polen und Finnland, aber auch weißrussische und ukrainische Vertreter anwesend waren und über das Verhältnis zu Sowjetrussland redeten wie auch über Möglichkeiten politischer, ökonomischer und institutioneller Kooperation. Es mangelte nicht an Ideen für eine gemeinsame regionale Zukunft, sondern an der Fähigkeit, diese Ideen in Übereinstimmung zu bringen. Die jeweiligen Perspektiven auf die Region waren divergent. Da der deutsche und der sowjetische Revisionismus ihren gemeinsamen Nenner in einer antipolnischen Ausrichtung fanden, lag es nahe, dass Lettland und Estland ausgesprochen gute Beziehungen zu Warschau unterhielten. Dies führte zum Abschluss eines Nichtangriffs- und Konsultationspakts zwischen Lettland, Estland, Finnland und Polen, der am 17. März 1922 in Warschau unterzeichnet wurde. Dieser Vertrag führte jedoch zu keinem engen Zusammengehen der Beteiligten, obwohl sich die lettische Außenpolitik vielleicht am stärksten darum bemühte. Dies galt zu diesem Zeitpunkt auch für eine Baltische Entente, die Litauen mit einbezog. Im Ergebnis unterzeichneten Lettland und Estland, die kleinsten und bevölkerungsschwächsten Staaten im Nordosten Europas, am 1.Oktober 1923 ein Verteidigungsbündnis, dem bilaterale Handelsverträge folgen sollten. Insgesamt lässt sich festhalten, dass in den Jahren 1919-1926 mehr als drei Dutzend multilateraler Treffen stattfanden, an denen Lettland, manchmal federführend, beteiligt war. An einigen dieser Treffen nahmen auch Sowjetrussland und Rumänien teil. Generalstäbe und Vertreter der Polizeibehörden trafen sich, dies freilich immer ohne sowjetische Beteiligung. Sie wurden ergänzt durch eine Diplomatie der bilateralen und multilateralen Begegnung, an denen Studenten, Künstler und Sportler teilnahmen. Doch es scheint, als seien diese Treffen, deren symbolpolitische Funktion gerade mit Blick auf Deutschland und Sowjetrussland wichtig war, bald zur Routine geworden. Aus ihnen erwuchs keine Bereitschaft, Kompetenzen der neuen Nationalstaaten an eine wie auch immer strukturierte »Baltische Liga« abzugeben. Die Konferenzen und Gipfeltreffen in den 1920er Jahren bestätigten vielmehr immer wieder den grundsätzlichen Antagonismus. Litauen boykottierte seinerseits alle Gespräche mit polnischer Teilnahme und versuchte beharrlich, Lettland und Estland auf die eigene Seite zu ziehen. Im Kern des Scheiterns aller baltischen Bündnispläne stand der polnisch-litauische Antagonismus, er verhinderte jegliche politische und militärische Zusammenarbeit im nördlichen Ostmitteleuropa, die französisch-polnische Bündnispolitik

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scheiterte beim Aufbau der nördlichen Flanke des »cordon sanitaire«. Damit besaß der Streit um Vilnius eine internationale Dimension, die weit über alle anderen territorialen Streitigkeiten unter den 1918/19 neuentstandenen Staaten hinausreichte und auch die lettische Außenpolitik präfigurierte. Eine Signalwirkung in die Region besaß der Berliner Vertrag zwischen Deutschland und der Sowjetunion vom 24. April 1926, der den Rapallo-Vertrag als Grundlage der Beziehungen zwischen beiden Staaten bezeichnete und die wechselseitige Neutralität im Konfliktfall festlegte. Er wirkte in den baltischen Staaten als Druckmoment, ähnliche Abkommen mit der Sowjetunion zu schließen. In Lettland beschleunigte der Berliner Vertrag die Verhandlungen über einen deutschlettischen Handelsvertrag, der im Juni 1926 unterzeichnet wurde und auch ein Entschädigungsabkommen enthielt. Außerdem paraphierte am 9. März 1927 der sozialdemokratische Außenminister Felikss Cielēns einen Nichtangriffsvertrag mit der Sowjetunion. Dieser Vertrag wurde jedoch nicht mehr unterzeichnet, da die sozialdemokratische Regierung Lettlands Ende 1927 gestürzt wurde. Erst am 5. Februar 1932 wurden unter veränderten Bedingungen ein lettisch-sowjetischer Nichtangriffsvertrag und später eine Schlichtungsvereinbarung unterzeichnet, während ein Schiedsvertrag zwischen Lettland und Deutschland nicht zustande kam. Die Weimarer Außenpolitik Gustav Stresemanns, die Schiedsverträge nutzte, um Sicherheit unter Ausklammerung strittiger Punkte mit allen Randstaaten zu erreichen, scheiterte in Riga mit ihrem Ansinnen vor allem an divergierenden Standpunkten über die Minderheitenfrage, deren Instrumentalisierung man in der lettischen Hauptstadt fürchtete – nicht zu Unrecht, wie sich nach 1933 unter veränderten politischen Vorzeichen zeigen sollte. Eine Garantieerklärung sowohl Deutschlands als auch der Sowjetunion für die baltischen Staaten kam jedenfalls nicht zustande.

Von der Baltischen Entente zum Hitler-Stalin-Pakt Der Staatstreich von Kārlis Ulmanis bedeutete keinen scharfen Bruch in den Außenbeziehungen Lettlands. Seine Diktatur wies anders als die totalitären Diktaturen in Deutschland und der Sowjetunion keine expansionistischen Züge auf. Vielmehr war es ein anderes Ereignis Anfang des Jahres 1934, das nicht nur in Lettland in hohem Maße für Unruhe sorgte. Der Nichtangriffspakt zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und Polen vom 26. Januar 1934 kehrte Grundannahmen der Außenpolitik im Osten Europas um und bewog Lettland, Estland und Litauen über eine verstärkte Kooperation nachzudenken und machte die »Bewahrung der Unabhängigkeit der baltischen Länder« zur vermeintlichen Angelegenheit der Sowjetunion. Als der sowjetische Außenkommissar Maxim Litwinow im März 1934 in Berlin ein gemeinsames Protokoll Deutschlands und der Sowjetunion mit den baltischen Staaten über deren Unabhängigkeit vorschlug, lehnte Berlin ab. Dies galt erst recht für den Vorschlag von Ulmanis, auf der Grund-

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lage dieses Gedankens von Litwinow einen umfassenden Nichtangriffs- und Garantiepakt der Beteiligten zu verhandeln. Die Regierungen in Riga und Tallinn wiederum standen einer französischen Initiative ab April 1934 für ein »Ostlocarno«, das die Vereinbarungen von Locarno für die Westgrenzen Deutschlands aus dem Jahre 1925 um einen »Ostpakt« ergänzt und eine Garantie der Grenzverhältnisse in Osteuropa bedeutet hätte, skeptisch gegenüber, wenn es nicht gelänge, Polen und Deutschland als Vertragspartner zu gewinnen. Die Ostpaktpläne scheiterten spätestens mit einer Erklärung der baltischen Außenminister in Riga am 6. Mai 1935, in der sie diese Grundbedingungen festhielten. Immerhin gelang eine Erweiterung des lettisch-estnischen Verteidigungsbündnisses aus dem Jahre 1923 um Litauen. Auch hier stand die Vilniusfrage im Hintergrund. Litauens außenpolitische Situation hatte sich durch die polnisch-deutsche Entspannung 1934 und die Verschärfung der Lage im Memelgebiet massiv verschlechtert. Kaunas war nun bereit, auch eine engere Kooperation mit den baltischen Nachbarn anzustreben. Der Wandel der litauischen Politik führte schließlich zu einem Gipfeltreffen in Kaunas im Juli 1934. Litauen wollte von den potentiellen Partnern zumindest die Versicherung einer wohlwollenden Neutralität für seine »spezifischen Probleme«, doch dazu waren Lettland und Estland nicht bereit. Nachdem die Gespräche im August 1934 in Riga fortgesetzt worden waren, kam es schließlich immerhin zu einem Vertrag über »Freundschaft und Zusammenarbeit«, der am 12. September 1934 in Genf beim Völkerbund unterzeichnet wurde. Im Artikel 1 vereinbarten die baltischen Staaten eine Zusammenarbeit in der Außenpolitik und gegenseitige Unterstützung in internationalen Angelegenheiten. Im Artikel 3 wurde jedoch zugleich festgehalten, dass Litauens »spezifische Probleme« nicht unter den Artikel 1 fielen. Mindestens zweimal im Jahr sollten sich die Außenminister zu Gipfelgesprächen treffen, die Auslandsvertretungen eng zusammenarbeiten. Dem Vertrag konnten weitere Staaten beitreten, wenn alle drei baltischen Staaten dem zustimmten. Weitgehend unbekannt ist, dass Lettland und Estland in einem vertraulichen Protokoll erklärten, unter »spezifischen Problemen« sei nur die Vilniusfrage zu verstehen.4 Bereits in den lettisch-estnischen Vorgesprächen zum Treffen in Kaunas herrschte nämlich Einigkeit, dass die nationalsozialistische Aktivität im Memelgebiet auch eine Bedrohung für die eigenen Länder darstelle, weswegen man Litauen unterstützen müsse. Dieses Engagement erleichterte Litauen die Zustimmung zum Vertrag, doch bereits ab 1935 distanzierte man sich in Riga und Tallinn mehr oder weniger von einer Unterstützung Litauens in der Memel-Frage. Besonders deutlich wurde zwei Jahre später der estnische Gesandte in Kaunas: In 4

Vertrag über die baltische Entente 1934, in: Herder-Institut (Hrsg.): Dokumente und Materialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte. Themenmodul »Lettland in der Zwischenkriegszeit«, bearb. von Jānis Keruss. URL: https://www.herder-institut.de/resolve/qid/1411.html (Zugriff am 13.04.2017).

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einem Gespräch im November 1937 entgegnete er dem litauischen Außenminister Lozoraitis auf dessen Klarstellung, im Falle eines Angriffs auf Memel werde Litauen »bis zum Ende kämpfen«, ungerührt, keine Nation werde auch »nur einen Finger heben«, um Litauen zu helfen«.5 Die Bedeutung der Baltischen Entente wurde daher übereinstimmend als gering bezeichnet. Schwach und hilflos, gar »moribund« sei sie gewesen, da sie sich auf gegenseitige Konsultationen beschränkt habe. In der Tat ist die Bezeichnung »Entente« eher übertrieben, denn weder wurde eine wirtschaftliche noch gar eine militärische Zusammenarbeit vereinbart bzw. erreicht. Die regelmäßigen Außenministertreffen sollten sich bald als lästige Pflichtübungen entpuppen, von denen kaum neue Anstöße ausgingen. Die entscheidende Schwäche der Baltischen Entente in den 1930er Jahren lag wie bereits am Ende des Ersten Weltkrieges in den völlig unterschiedlichen Bedrohungsperzeptionen der baltischen Staaten. Während Estland vor allem in der Sowjetunion eine potentiell aggressive Macht sah, unterhielt Kaunas außergewöhnlich gute Beziehungen zu Moskau. Vice versa galt Estland als der »polnische Freund« unter den Balten, was dem Grundkonsens der litauischen antipolnischen Politik diametral entgegenstand. Und die Letten fühlten sich sowohl von Moskau als auch Berlin bedroht. Der lettische Außenminister Munters brachte im Sommer 1935 die inneren Widersprüche in seiner Charakteristik der Beteiligten auf den Punkt: »Litauen mit zwei ernsthaften Problemen und einer starken Orientierung auf Moskau, die realistisch gesehen kaum gerechtfertigt ist. Estland mit seiner pathologischen Manie über Polen und seinen verkalkten Doktrinen in der Außenpolitik […] und einer besonderen Orientierung auf Finnland. Und uns – ein Land, das das Gleichgewicht zwischen allen dreien aufrechtzuerhalten hat und das den Druck von Staaten aushalten muss, die mit der unabhängigen Politik der baltischen Staaten unzufrieden sind, unsere Verbündeten, die Esten, manchmal eingeschlossen.«6 Immerhin saßen Lettland, Litauen und Estland regelmäßig an einem Tisch. Und im Oktober 1936 feierte die lettische Außenpolitik einen prestigeträchtigen Erfolg. Lettland wurde als nichtständiges Mitglied in den Rat des Völkerbundes gewählt. Im Jahr zuvor war die lettische Botschaft in Washington wiedereröffnet worden, die im Jahre 1927 aus Kostengründen geschlossen worden war. Diese Momente internationaler Geltung vermochten jedoch nicht darüber hinwegzutäuschen, dass die Sicherheitsoptionen für die baltischen Staaten schwanden. Auf die Erklärung der Außenministerkonferenz der Entente in Riga vom 11. Dezember 1936, es sei zu vermeiden, sich der einen oder anderen Seite zuzuneigen und man werde sich an keiner Art von Blockkonstellation beteiligen, reagierte die sowjetische Politik deutlich. Neutralität rege, so der sowjetische Gesandte Karskij in Kaunas, den Appetit des Angreifers an. Nur die Sowjetunion 5 6

Zitiert nach Feldmanis, I., Stranga, A.: The Destiny of the Baltic Entente 1934-1940. Riga 1994 S. 87. Zitiert nach ebd., S. 85.

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könne die baltischen Staaten schützen.7 Der Besuch des Generalstabschefs der Roten Armee, Marschall A. I. Jegorow, der sich ähnlich äußerte, wurde eher als bedrohlich denn als beruhigend empfunden. Das Abkommen von München vom September 1938 war in dieser Hinsicht komplett desillusionierend, weil es verdeutlichte, dass die baltischen Staaten auf französischen und englischen Schutz nicht würden rechnen können. Das Prinzip jeder kollektiven Sicherheit schien gescheitert zu sein. Unter dem Eindruck, zwischen Hammer und Amboss geraten zu sein, proklamierte die lettische Regierung am 13. Dezember 1938 in einer Geste der Hilflosigkeit ihre absolute Neutralität. Dass am 28. März die Sowjetunion ohne Absprache mit der lettischen Regierung erklärte, sie sei interessiert an der Aufrechterhaltung und Verteidigung der lettischen Unabhängigkeit, wurde als weitere Drohung empfunden. Während die Sowjetische Regierung in ihren Verhandlungen mit Großbritannien und Frankreich, den schwachen Garanten der europäischen Nachkriegsordnung, seit dem Frühsommer 1939 auch eine Garantie der Unabhängigkeit der baltischen Staaten adressierte, blieben die lettische und die estnische Regierung skeptisch gegenüber den Absichten des Nachbarn im Osten und flüchteten sich jeweils in gegenseitige Nichtangriffspakte mit Deutschland. Der lettisch-deutsche wurde am 7. Juni 1939 in Berlin von den Außenministern Vilhelms Munters und Joachim von Ribbentrop unterzeichnet. Am nächsten Tag betonte Adolf Hitler selbst bei einem Empfang sein Interesse insbesondere an ausgezeichneten Handelsbeziehungen mit den baltischen Staaten. Auch wenn sich die lettische Regierung über die Qualität solcher Bekundungen keinen großen Illusionen hingab, glaubte man in Riga eine Atempause erreicht zu haben, während der Weg in die Katastrophe am 23. August 1939 in Moskau beschritten wurde. Das nationalsozialistische Deutschland und die stalinistische Sowjetunion einigten sich bekanntermaßen nicht nur auf einen Nichtangriffspakt, sondern in dem Geheimen Zusatzprotokoll über die Ein- und Aufteilung Nordost- und Ostmitteleuropas. Der für die baltischen Staaten entscheidende Passus lautete: »Für den Fall einer territorial-politischen Umgestaltung in den zu den baltischen Staaten (Finnland, Estland, Lettland, Litauen) gehörenden Gebieten bildet die nördliche Grenze Litauens zugleich die Grenze der Interessensphäre Deutschlands und der UdSSR. Hierbei wird das Interesse Litauens am Wilnaer Gebiet beiderseits anerkannt.«8 Damit beanspruchten die Deutschen Territorien Litauens, die sie schon während des Ersten Weltkrieges besetzt gehalten hatten, während den Regierungen der baltischen Staaten nach dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 die Sinnlosigkeit der mit Deutschland geschlossen Verträge vor Augen stand.

7 8

Beloff, M.: The Foreign Policy of Soviet Russia. Bd. II 1936-1941. London 1949, S.79. Mit einer Einführung von Bianca Pietrow-Ennker: http://www.1000dokumente.de/index. html?c=dokument_ru&dokument=0025_pak&l=de (Zugriff 14.5.17).

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Das Ende lettischer Außenpolitik Die sowjetischen Pläne beinhalteten jedoch, die baltischen Staaten komplett zu besetzen, und waren dreistufig. Am Beginn stand jeweils, so auch im Falle Lettlands, eine Vertrag über gegenseitige Unterstützung und Hilfe, dem dann die Stationierung von Truppen der Roten Armee folgen sollte, bis dann eine »friedliche sozialistische« Revolution erfolgen sollte. Die Akteure in der lettischen Politik, allen voran Präsident Ulmanis und Außenminister Munters, ahnten natürlich nicht die Details des Szenarios, doch musste spätestens nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen im Osten der 2. Polnischen Republik am 17. September 1939 klar sein, dass die Annexion der baltischen Staaten bevorstand. Am 28. September 1939 massierte die Sowjetunion Truppen an der Grenze zu Lettland, nachdem in einem weiteren Vertrag und einem weiteren geheimen Protokoll vom gleichen Tag zwischen der Sowjetunion und Deutschland die Interessensphären erneut abgeglichen worden waren. Danach erhielt Munters eine Einladung zu Gesprächen für den 2. Oktober nach Moskau, deren Inhalt nicht näher spezifiziert wurde. Als sich Munters und der lettische Gesandte in Moskau, Kociņš, mit den Forderungen Stalins und seines Außenministers Molotow konfrontiert sahen, wurde deutlich, welchen Weg Lettland gehen würde. Folgt man Munters, so erinnerte ihn Stalin an das Ziel Peters des Großen, Russland einen Zugang an der Ostsee zu verschaffen. Stalin soll gesagt haben: »[…] wir müssen grundsätzlich an uns selbst denken. Was 1920 bestimmt wurde, kann nicht immer Bestand haben.”9 In gewisser Weise war eine eigenständige lettische Außenpolitik damit an ihr Ende gekommen, sie begann mit dem lettisch-sowjetischen Friedens- und Grenzvertrag 1920 und endete mit dem am 2.10.1939 geschlossen Beistandsvertrag. 25.000 Soldaten der Roten Armee sollten auf Stützpunkten in Kurland stationiert werden. Auch wenn Stalin beim abendlichen Bankett das «Ehrenwort eines Bolschewiken«10 gab, dass sich die Sowjetunion nicht in die inneren Angelegenheiten Lettlands einmischen werde, war dies das Ende. An militärischen Widerstand war angesichts der Kräfteverhältnisse kaum zu denken. Dass der Schritt Stalins in Abstimmung mit dem Deutschen Reich erfolgte, war offensichtlich. Nicht nur hatte sich Munters vor seiner Reise vergeblich um eine Garantieerklärung der Regierung Hitlers bemüht, sondern nach Abschluss des Moskauer Vertrages zwischen Lettland und der UdSSR erfolgte auch noch die Aussiedlung der deutschbaltischen Minderheit. Die Kosten dieses Exodus hatte übrigens der lettische Staat zu tragen. Die Zeit vom Oktober 1939 bis zum Juni 1940 war die der erzwungenen Einstellung außenpolitischer Aktivitäten. So wie im Grunde kein Plan existierte, sowjetischen Truppen gegebenenfalls militärisch entgegenzutreten, so bestanden 9 10

Denkschrift Munters‘, zitiert nach: Myllyniemi, S.: Die baltische Krise 1938-1941. Stuttgart 1979 (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 38), S. 65. So Bērziņš, A.: The unpunished crime. New York 1963, S. 50.

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auch die Kontakte zu den Vertretungen Frankreichs, Großbritanniens und der USA nur in der gegenseitigen Versicherung, sehr besorgt zu sein. Staatspräsident Ulmanis hielt Reden, in denen von den ausgezeichneten Beziehungen zur Sowjetunion die Rede war. In der Nacht vom 14. auf den 15. Juni 1940 provozierten NKVD-Einheiten einen Zwischenfall am Grenzposten Masļenki. Die sowjetische Propaganda erklärte, lettische Faschisten hätten die Sowjetunion angegriffen, und Moskau warf der Regierung in Riga vor, den Beistandspakt gebrochen zu haben. Die Rote Armee in Lettland besetzte daraufhin alle strategischen Positionen und zog am 17. Juni 1940 in Riga ein. Als am gleichen Tag der stellvertretende Vorsitzende des Rates der Volkskommissare, Andrej Wyschinski, nach Riga kam, präsentierte er die Liste einer neu zusammengesetzten Regierung, die nicht mehr diskutiert werden konnte, da sie von Stalin bereits abgesegnet war. Der neue Ministerpräsident, August Kirhenšteins, hatte nur noch die Juliwahlen vorzubereiten, nach denen das neu zusammengesetzte Parlament in Riga den Beitritt Lettlands zur Sowjetunion zu erklären hätte. Damit war in allen drei baltischen Republiken zeitgleich das gleiche Theaterstück aufgeführt worden, das die Annexion des Baltikums durch die Sowjetunion rechtlich bemäntelte. Am 21. Juli wurde die lettische Sowjetrepublik im Nationaltheater in Riga ausgerufen. Ulmanis war weder zurückgetreten noch hatte er sich in irgendeiner Weise der Entwicklung entgegengestellt, in der Hoffnung er würde ins Exil gehen können. Aber auch diese Hoffnung trog. Er wurde nach Stawropol, schließlich nach Turkmenistan gebracht, wo er 1942 starb. Die »Diplomacy of Survival« (John Hiden), die auch in der autoritären Periode Lettlands nie auf Expansion, sondern Absicherung des kleinen Nationalstaates ausgerichtet war, fand ein tragisches Ende. Während es in den zwanziger Jahren durchaus noch Handlungsspielräume gegeben hatte, lettische Diplomaten Außenpolitik allgemein dazu genutzt hatten, um für den neuen Staat zu werben, und den Völkerbund für ihre Anliegen einzusetzen gewusst hatten, wurden die Handlungsspielräume zwischen den Plänen Hitlers und Stalins immer enger. Revisionismus und kollektive Sicherheit wichen der Gewalt. Dies war der Moment, an dem die Außenpolitik eines kleinen Staates im Nordosten Europas scheitern musste.

II. Lettland im Zweiten Weltkrieg und in der Sowjetzeit 1940-1991

Kaspars Zellis

Die Okkupation Lettlands durch die Sowjetunion 1940/41 Der Verlust der Unabhängigkeit der Republik Lettland im Sommer 1940 ist nicht nur zu einem wichtigen Thema der Politikgeschichte geworden; er spielt auch eine zentrale Rolle im kollektiven Gedächtnis der lettischen Gesellschaft. Es handelt sich um eine traumatische Episode der Geschichte Lettlands, in deren Folge sowohl die gesamte Gesellschaft als auch einzelne Familien in Lettland zerrissen wurden, als das fünf Jahrzehnte andauernde Leben unter den Verhältnissen des sowjetischen Totalitarismus begann. Diese historische Episode ist aber auch zu einem eigenartigen Bezugspunkt im kollektiven Gedächtnis eines bestimmten Teils der russischsprachigen Bevölkerung Lettlands geworden, der die gegen Lettland gerichtete Aggression der Sowjetunion nicht als solche anerkennt und die Sowjetzeit idealisiert. Gleichzeitig ist die Anerkennung bzw. Nichtanerkennung der sowjetischen Okkupation auch zu einem zentralen Thema in den lettischrussischen Beziehungen geworden, da Russland der Ansicht ist, dass der Anschluss Lettlands an die UdSSR den Normen des damals geltenden internationalen Rechts entsprochen habe. Die sowjetische Okkupation Lettlands von 1940 bleibt also weiterhin ein sowohl politisch als auch gesellschaftlich bedeutsames Thema der lettischen Geschichte.

Okkupation und Annexion Lettlands Der am 23. August 1939 geschlossene Hitler-Stalin-Pakt erlaubte es nicht nur den beiden totalitären Mächten, ihre Aggressionen gegenüber Polen zu beginnen, wodurch der Zweite Weltkrieg ausgelöst wurde, sondern er erwies sich auch als Todesurteil für die selbständige Existenz der drei baltischen Staaten. Nach Beginn des deutschen Überfalls auf Polen unterschrieb Kārlis Ulmanis eine Neutralitätserklärung, in der er darauf hinwies, dass Lettland »in einem Krieg zwischen anderen Staaten strengste Neutralität wahren wird«1, und einige Tage später wurde diese Deklaration offiziell an die Regierungen der kriegführenden Staaten übermittelt. Dennoch verletzte Lettland im Unterschied zur Haltung anderer neutraler Staaten seine selbsterklärte Neutralität, indem es am 21. September 1939 aus Furcht vor Reaktionen Hitler-Deutschlands und der Sowjetunion 1

Latvijas neitralitātes deklarācija (Lettlands Neutralitätserklärung). In: Latvijas Kareivis, 2. September 1939, S. 1.

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beschloss, die polnische Gesandtschaft in Riga zu schließen. Diese Entscheidung wurde damit begründet, dass die polnische Regierung das Territorium ihres Staates verlassen habe und Lettland somit nicht mehr mit ihr in Verbindung stehe. Gleichzeitig begannen – insbesondere nach dem Überfall sowjetischer Truppen auf Polen am 17. September – polnische militärische und zivile Flüchtlinge auf lettisches Staatsgebiet überzutreten, für die mehrere Flüchtlings- und Internierungslager eingerichtet wurden. Nach Abschluss der Invasion der Roten Armee in Ostpolen begann Stalin mit der Konzentrierung sowjetischer Truppenkontingente im Grenzgebiet zu den baltischen Staaten, während er diese dazu drängte, bilaterale Beistandsverträge mit der UdSSR zu unterzeichnen, wobei im Falle von Widerstand indirekt mit der Möglichkeit von militärischer Gewalt gedroht wurde. An der lettischen Grenze wurden Teile der 7. Armee mit einer Stärke von rund 170.000 Soldaten zusammengezogen, die, falls Lettland den sowjetischen Forderungen nicht Folge leisten würde, einen Angriff in Richtung Riga beginnen sollten. Am 28. September sah sich Estland gezwungen, dem sowjetischen Druck nachzugeben und einen Vertrag über die Stationierung eines sowjetischen Militärkontingents auf seinem Staatsgebiet zu unterzeichnen. Am 30. September erhielt die lettische Regierung die Aufforderung, einen ähnlichen Vertrag mit der UdSSR zu schließen. Und am 5. Oktober 1939 sah sich schließlich eine lettische Regierungsdelegation in Moskau gezwungen, einen »Pakt über die gegenseitige Hilfe zwischen der UdSSR und der Republik Lettland« zu unterzeichnen, dessen vertrauliches Protokoll auch die Verlegung eines 25.000 Mann starken Bodentruppen- und Luftwaffenkontingents auf lettisches Territorium vorsah. Der Pakt hatte eine Laufzeit von zehn Jahren, ohne dass die Möglichkeit eines vorzeitigen Ausstiegs vorgesehen war. Im Frühjahr 1940 befanden sich mehr als 22.500 Rotarmisten (exklusive Marineangehörige und Hilfspersonal) sowie 369 Panzer und 187 Flugzeuge in Lettland, was die Truppenstärke und Bewaffnung der Lettischen Armee bei weitem übertraf. Denn bei Kriegsbeginn verfügte die Lettische Armee nur über etwas mehr als 17.000 Militärpersonen; im Herbst 1939 wurden Reservisten mehrerer Jahrgänge in die Armee einberufen, wodurch sich die Stärke der Armee auf 30.000 Soldaten erhöhte. Nach der Unterzeichnung des »Militärbasen-Vertrags« verwandelte sich Lettland faktisch in ein Protektorat der Sowjetunion. Das Ulmanis-Regime besaß zwar innenpolitisch noch weitgehende Handlungsfreiheit, doch außenpolitisch waren ihm die Hände gebunden. Dies zeigte sich besonders deutlich während des Winterkriegs zwischen der UdSSR und Finnland, das sich geweigert hatte, einen ähnlichen Protektoratsvertrag wie die baltischen Staaten zu unterschreiben: Von den sowjetischen Militärstützpunkten in Lettland aus wurden die Angriffe der sowjetischen Marine gegen Finnland vorgetragen. Und bei der Abstimmung über den Ausschluss der UdSSR aus dem Völkerbund wegen der Aggression gegen ein anderes Mitglied des Bundes enthielten sich am 14. Dezember 1939 die Delegationen Lettlands und der beiden anderen baltischen Staaten der Stimme. Die UdSSR plante bereits 1939, Lettland vollständig in die Sowjetunion zu inkorporieren; aus Rücksicht auf die Interessen des mit der Sowjetunion verbün-

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deten Deutschen Reichs war jedoch eine stufenweise Eingliederung vorgesehen, denn Deutschland zeigte sich besorgt über die Lebensmittellieferungen aus den baltischen Staaten, die durch einen eventuellen Kriegsausbruch unmöglich würden, sowie über die Durchführung der Vereinbarungen zur Umsiedlung der Deutschbalten aus Estland und Lettland (»Heim ins Reich«). Stalin soll die Okkupation der baltischen Staaten im April 1940 beschlossen haben, die Umsetzung des Vorhabens begann jedoch erst im Juni, als die Aufmerksamkeit ganz Europas auf den Westfeldzug der deutschen Wehrmacht gerichtet war. Am 14. Juni 1940 forderte die UdSSR in ultimativer Form den Austausch der litauischen Regierung, doch bereits am nächsten Tag überschritten Truppen der Roten Armee die Grenze Litauens und besetzten das Land. Am frühen Morgen des 15. Juni überfielen sowjetische Kräfte die lettischen Grenzposten Masļenki und Šmaiļi an der Grenze zur UdSSR; drei Grenzschützer und zwei Angehörige ihrer Familien wurden ermordet, die übrigen gefangengenommen und in die UdSSR verschleppt. Der Überfall diente als Warnung an Lettland, dessen Regierung – ähnlich wie diejenige Estlands – am folgenden Tag eine sowjetische Note erhielt, in der der uneingeschränkte Zugang sowjetischer Truppen zum Staatsgebiet Lettlands sowie die Bildung einer der Sowjetunion freundlichen Regierung gefordert wurde, wodurch angeblich der sowjetisch-lettische Pakt gegenseitiger Hilfe vom 5. Oktober 1939 erfüllt würde. Die lettische Regierung wurde überdies ohne jede Begründung der Bildung einer antisowjetischen Militärallianz mit den beiden anderen baltischen Staaten sowie Finnland gegen die UdSSR beschuldigt. Für die Annahme des Ultimatums wurde der Ulmanis-Regierung eine Frist von sieben Stunden gewährt. Am Abend des 16. Juni akzeptierte das Ulmanis- Kabinett sämtliche sowjetischen Forderungen. Am Morgen des 17. Juni überschritten sowjetische Truppeneinheiten die lettische Grenze und erreichten gegen Mittag Riga. Die Öffentlichkeit wurde über die Vorgänge nicht informiert; das Radio sendete Musik. Erst am Abend wurde es Ulmanis gestattet, sich an die Bevölkerung Lettlands zu wenden. In seiner Rede, die am nächsten Tag im Regierungsblatt »Valdības Vēstnesis« gedruckt wurde, wies er darauf hin, dass der Einmarsch der sowjetischen Truppen mit »Wissen und Zustimmung der Regierung geschieht, was wiederum aus den freundschaftlichen Beziehungen zwischen Lettland und der Sowjetunion resultiert«. Zudem äußerte Ulmanis den Wunsch, dass »die Einwohner dem Einmarsch der Truppenteile freundschaftlich begegneten«.2 Der lettische Historiker Aivars Stranga hat dies als einen schweren politischen Fehler bezeichnet, da er der Ansicht ist, Ulmanis hätte die Öffentlichkeit über das Ultimatum informieren müssen, solange er dies noch ungehindert tun konnte, sowie sämtliche sowjetischen Vorwürfe zurückweisen und zumindest einen Protest oder eine Verurteilung des Ultimatums zum Ausdruck bringen müssen. Dies geschah nicht, so dass es für die lettische Öffentlichkeit schwer war, die Vorgänge richtig einzuschätzen. 2

»Valsts Prezidenta Dr. Kārļa Ulmaņa norādījumi tautai« (Anweisungen des Staatspräsidenten Dr. Kārlis Ulmanis an die Bevölkerung). In: Valdības Vēstnesis, 18. Juni 1940, S. 1.

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Am 18. Juli wurde als sowjetischer Emissär der stellvertretende Vorsitzende des Rates der Volkskommissare, Andrej Wyschinski, nach Riga entsandt, der die Massnahmen der Okkupationsmacht überwachen und die Annexion des Staates vorbereiten sollte. Seine erste Aufgabe war die Bildung einer neuen Regierung, deren Zusammensetzung von Wjatscheslaw Molotow in Moskau abgesegnet worden war. Diese Marionettenregierung sollte einen politisch gemäßigten Eindruck erwecken, weshalb es unter ihren Mitgliedern keine lettischen Kommunisten gab. Das Kabinett, dessen Leitung dem Mikrobiologen Augusts Kirhenšteins übertragen wurde, setzte sich aus politisch blassen Persönlichkeiten zusammen, von denen die Hälfte bereits in den 1920er und 1930er Jahren vom sowjetischen Geheimdienst angeworben worden war, weshalb Wyschinski leichtes Spiel hatte, das Kabinett zu steuern und zu kontrollieren. Der erste Beschluss des Kabinetts war ein Amnestiegesetz, auf Grund dessen die inhaftierten lettischen Kommunisten aus den Gefängnissen entlassen wurden. Im ersten Halbjahr 1940 war die Lettische Kommunistische Partei (LKP) geschwächt und im Untergrund tätig gewesen, wobei nicht mehr als etwa fünfzig Personen zu ihren Aktivisten gezählt hatten, von denen sich der größte Teil in Haft befunden hatte. Obgleich die Partei am 21. Juli ihre legale Tätigkeit wieder aufnahm, wurden ihre radikalsten Forderungen wie etwa die sofortige Errichtung der Sowjetmacht in Lettland laut Anweisung der sowjetischen Botschaft in Riga unterdrückt, deren Ziel es war, eine »demokratische« Basis für die geplante Annexion zu schaffen. Gleichzeitig war die LKP die einzige Partei, der es erlaubt war, sich zu betätigen. Anderen Parteien – auch linken und sozialistischen – war die Wiederaufnahme ihrer unter dem autoritären Ulmanis-Regime verbotenen Tätigkeit nicht gestattet. Am 4. Juli 1940 verabschiedete das Kirhenšteins-Kabinett ein »Gesetz über die Wahlen zur Saeima [Parlament]«, die bereits am 14. und 15. Juli abzuhalten waren, wobei Wahllisten nur bis zum 10. Juli eingereicht werden konnten. Das Gesetz stand in eklatantem Widerspruch sowohl zur lettischen Verfassung als auch zum Wahlgesetz vom 9. Juni 1922. Die kurze Frist für die Vorbereitung der Wahl war nötig, damit nur die von der Okkupationsmacht aufgestellte und akzeptierte Liste zur Wahl antreten konnte. Wahlvorschläge anderer politischer Richtungen wurden als ungültig zurückgewiesen. Somit trat nur eine einzige Liste zur Wahl zum sogenannten »Volksparlament« (Tautas Saeima) an, nämlich der von Andrej Wyschinski akzeptierte »Block des arbeitenden Volkes« (Darba tautas bloks), der sich überwiegend aus Kommunisten sowie Personen zusammensetzte, die mit linken Organisationen in Verbindung standen. Die Wahlversprechen des »Blocks des arbeitenden Volkes« richteten sich vor allem an die sozial benachteiligten Bevölkerungsschichten. Allgemein trat der Block für die Freiheit, die Bürgerrechte und die Sicherheit des Privateigentums ein, sein Programm enthielt jedoch keinerlei Hinweise auf Pläne, den Status Lettlands als unabhängige Republik zu verändern.3 3

»Par mieru, par maizi, par tautas brīvību!« (Für Frieden, für Brot, für die Freiheit des Volkes!) In: Cīņa , 6. Juli 1940, S. 1.

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Die Wahlen waren eine Farce, die Moskau benötigte, um Lettlands Annexion vorzubereiten. Sie wurden unter Kontrolle der Roten Armee durchgeführt, die die Wahllokale und deren Tätigkeit überwachte sowie diejenigen Bürger zu den Wahllokalen beförderte, die aus irgendeinem Grunde nicht erschienen waren; bei den Wahlen selbst gab es keine Wählerlisten, jeder durfte wählen, ohne sich ausweisen zu müssen; als gültig wurden auch die nicht verwendeten und nicht abgestempelten Wahlzettel erklärt. Die Wahlergebnisse selbst verkündete die sowjetische Nachrichtenagentur TASS noch vor der Schließung der Wahllokale, genauer gesagt zwölf Stunden vor Beginn der Stimmenauszählung: Danach hätten sich 94,7% der Stimmberechtigten an der Wahl beteiligt, von denen 97,6% für den »Block des arbeitenden Volkes« gestimmt hätten. Nach den Wahlen organisierten die Kommunisten im ganzen Land Demonstrationen, auf denen nun sowohl die Errichtung der Sowjetmacht in Lettland als auch der Anschluss an die UdSSR gefordert wurde. Als am 21. Juni 1940 das neue »Volksparlament« zu seiner ersten Sitzung zusammentrat, verabschiedete es zwei grundlegende Beschlüsse – es rief die Sowjetmacht in Lettland aus und es ersuchte den Obersten Sowjet der UdSSR, Lettland in die Sowjetunion einzugliedern. Beide Beschlüsse standen im Widerspruch zur Verfassung der Republik Lettland, in der festgelegt war, dass eine Änderung der Staatsordnung und des völkerrechtlichen Status der Republik Lettland nur auf der Grundlage eines Referendums stattfinden konnte. Der letzte Akt der Annexion wurde am 5. August in Moskau vollzogen, als der Oberste Sowjet der UdSSR mit einem speziellen Gesetz die Bitte des lettischen »Volksparlaments« akzeptierte. Ganz ähnlich verlief auch die Zerstörung der staatlichen Unabhängigkeit Litauens und Estlands, die am 3. bzw. 6. August 1940 der Sowjetunion eingegliedert wurden. Obwohl die Republik Lettland damit ihre staatliche Unabhängigkeit de facto verloren hatte, bestand sie doch weiterhin als internationales Rechtssubjekt – und zwar bis zur Wiedererlangung der Unabhängigkeit im Jahr 1991. Denn noch am 17. Mai 1940 hatte die Regierung Ulmanis per Gesetz dem lettischen Gesandten in Großbritannien, Kārlis Zariņš, und nach ihm auch dem lettischen Gesandten in den USA, Alfrēds Bīlmanis, außerordentliche Vollmachten erteilt, wonach diese Gesandten Lettland nach der sowjetischen Okkupation international repräsentierten. Die außerordentlichen Vollmachten dieser Gesandten wurden von Großbritannien und den USA, deren offizielle Vertreter die Okkupation der Republik Lettland verurteilten und die Legitimität von deren Annexion nicht anerkannten, vollständig oder doch weitgehend akzeptiert.

Die Sowjetisierung Lettlands Die Vorbereitungen zur Sowjetisierung Lettlands begannen schon in den ersten Tagen der Okkupation, wobei sich die neuen Machthaber zahlreiche Gesetze des autoritären Ulmanis-Regimes, etwa zur Kontrolle der Medien oder zur staatli-

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chen Lenkung der Wirtschaft, in ihrem Sinne zunutze machten. Der eigentliche Sowjetisierungsprozess der politischen Macht begann jedoch erst nach der Eingliederung Lettlands in die UdSSR am 5. August. Die entsprechenden Massnahmen wurden vom Politbüro des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU(b)) gesteuert und vor Ort von der Gesandtschaft der UdSSR koordiniert; nach der Auflösung der Gesandtschaft übte der ehemalige Gesandte, Wladimir Derewjanski, diese Kontrollfunktionen weiterhin als Bevollmächtigter des Zentralkomitees der KPdSU(b) aus. Am 25. August 1940 verabschiedete das lettische »Volksparlament« die Verfassung der Lettischen Sozialistischen Sowjetrepublik (LSSR), die inhaltlich eine Übersetzung der Konstitution der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik aus dem Jahr 1937 war. Laut der neuen Verfassung wurde die gesetzgebende Macht dem Obersten Sowjet übertragen, wie sich das im Juli gewählte »Volksparlament« von diesem Tage an nannte; gleichzeitig wurden auch das Präsidium des Obersten Sowjets sowie dessen Vorsitzender gewählt, der formal die höchste Amtsperson der LSSR war. Präsidiumsvorsitzender wurde der Chef der bisherigen Regierung, Augusts Kirhenšteins. Am selben Tag wurde auch eine neue Regierung bestätigt, die sich nach sowjetischem Muster »Rat der Volkskommissare« nannte. Vorsitzender dieses Rats wurde Vilis Lācis, ein lettischer Schriftsteller und sowjetischer Geheimagent, der in der Kirhenšteins-Regierung das Amt des Innenministers innegehabt hatte. Im November wurde auch mit der Umgestaltung des Gerichtswesens nach sowjetischem Vorbild begonnen, die mit Entlassungen und Repressionen der Mitarbeiter der lettischen Justiz einherging. Nach der Annexion Lettlands waren die Lettische Kommunistische Partei (LKP) und ihr Zentralkomitee die entscheidenden Machtfaktoren im Lande. Zwar wurde die Partei im Oktober 1940 als Gebietsorganisation in die KPdSU(b) inkorporiert, doch war dies nur ein formaler Akt, weil die lettischen Kommunisten bereits seit zwanzig Jahren in enger Verbindung mit der KPdSU(b) operiert hatten und von ihr nicht nur politisch, sondern auch finanziell abhängig gewesen waren. Hatte es vor der Annexion nur wenige KP-Mitglieder in Lettland gegeben, so wuchs ihre Zahl nun kontinuierlich an, so dass die Zahl der Parteimitglieder im Juni 1941 bereits 5000 betrug. Tiefgreifende Veränderungen betrafen auch die Lettische Armee, deren Offizierskorps zum großen Teil entlassen wurde, während die Truppe schrittweise in die Rote Armee überführt wurde. Aufgelöst wurde auch die paramilitärische Organisation der Aizsargi (Schutzkorps)4, deren Immobilien und Ausrüstung den neu gegründeten Arbeitergarden übergeben wurden. Auch die lettische Volkswirtschaft war von großen Veränderungen betroffen. Bereits am 22. Juli 1940 verabschiedete das »Volksparlament« Gesetze über die Nationalisierung von Banken und großen Industrie-, Handels- und Transportunternehmen; später folgte auch die Verstaatlichung mittelgroßer und kleiner Unternehmen. Für die Verwaltung der nationalisierten Unternehmen wurden Kommissare ernannt, die oftmals nicht über die notwendige Ausbildung und 4

Zur Organisation der Aizsargi siehe den Beitrag von E.Oberländer in diesem Band., S 37.

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Führungsqualität verfügten, was sich sowohl auf die Quantität als auch auf die Qualität der Produktion negativ auswirkte. Auch die landwirtschaftliche Produktion sollte offenbar grundlegend reformiert werden. Zwar war im Sommer 1940 mehrfach versprochen worden, dass es in Lettland keine Kollektivierung geben würde, doch führte die sowjetische Politik die lettische Landwirtschaft zielstrebig in diese Richtung. Der erste Schritt war die Schwächung der Bauernwirtschaften, indem ihnen diejenigen Ländereien, die eine Fläche von 30 Hektar übertrafen, abgenommen und dem staatlichen Bodenfonds übertragen wurden. Ab 1941 wurden den landwirtschaftlichen Betrieben Zwangsabgaben auferlegt, für die der Staat weniger als den Marktpreis bezahlte. Gleichzeitig wurde eine breite Schicht sogenannter »kommunistischer Neubauern« aus ehemaligen Landlosen und Kleinbauern geschaffen, die von den neuen Machthabern jeweils bis zu zehn Hektar Land für den Aufbau von landwirtschaftlichen Betrieben erhielten. Es war klar, dass diese Wirtschaften nicht selbständig bestehen konnten, weshalb auf dem Land mit der Einrichtung von Maschinen- und Traktorenstationen (MTS) sowie Maschinen- und Pferdeverleihpunkten begonnen wurde, mit deren Hilfe man die kollektive Bearbeitung der Ländereien der Neuwirtschaften organisierte. Im Frühjahr 1941 entstanden in Lettland auf der Basis von rund 200 enteigneten Bauernbetrieben die ersten fünfzehn Sowjetwirtschaften (Sowchosen). Die Pläne zu einer allgemeinen Kollektivierung der Landwirtschaft wurden jedoch durch den Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges zunächst vereitelt. Auf dem Gebiet der Finanzen hatte Moskau schon im Juli 1940 – also noch vor der Annexion- vergeblich versucht, die Goldreserven der Republik Lettlands, die in Banken der USA, Großbritanniens, der Schweiz und Frankreichs deponiert waren, mit der fingierten Begründung an sich zu bringen, dass das Gold an die Staatsbank der UdSSR verkauft worden sei. Am 22. Juli 1940 wurden dann sämtliche Privatbanken und Kreditinstitute Lettlands nationalisiert, indem sie in die staatlichen Banken inkorporiert wurden, die später wiederum in Filialen der Banken der UdSSR umgewandelt wurden. Im November 1940 wurde parallel zur lettischen Nationalwährung, dem Lats, auch der sowjetische Rubel in Umlauf gebracht, wobei ein Wechselkurs zwischen den beiden Währungen im Verhältnis von eins zu eins festgelegt wurde, obgleich die Kaufkraft des Rubels beträchtlich niedriger war. Dies zog eine rasche Entwertung des lettischen Lats nach sich und verursachte zudem die Verschärfung des Warendefizits. Denn die Angehörigen der Okkupationstruppen der UdSSR und die sowjetischen Beamten konnten in Lettland Waren unter deren tatsächlichem Wert erwerben und in unbegrenztem Umfang an ihre Angehörigen in der UdSSR schicken. Innerhalb weniger Monate brachte diese Praxis den lettischen Warenmarkt mehr oder weniger zum Erliegen. Im März 1941 wurde der Lats schließlich ohne jede vorherige Ankündigung aus dem Verkehr gezogen. Der sowjetische Totalitarismus war überdies von Anfang an bestrebt, die ideologische Kontrolle über alle Bildungs- und Kulturbereiche zu erlangen. Die bisherigen Leiter der Schulen und Hochschulen wurden abgesetzt und ideologisch unzuverlässige Lehrer und Lehrkräfte durch ideologisch vertrauenswürdige er-

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setzt, obgleich deren Bildungsniveau häufig unzureichend war. In den Lehrplänen, die man sukzessive durch die in der UdSSR geltenden Programme zu ersetzen versuchte, tauchten nun Fächer wie Atheismus, Materialismus, Marxismus-Leninismus, Geschichte der UdSSR und Russisch auf. Dabei wurde nicht nur der politischen Erziehung der Schüler und Studenten, sondern auch der Lehrkräfte besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Regelmäßig fanden Politlehrgänge und Vorlesungen statt, in denen die ideologischen Grundlagen des neuen Regimes dargelegt wurden. Auch im Kulturleben – im Theater, Kino und in der Literatur – kam es zu einer Invasion sowjetischer Erzeugnisse. Die der Sowjetideologie widersprechenden Kulturangebote wurden verboten und im öffentlichen Raum aus dem Verkehr gezogen. Die Haltung der Gesellschaft zu Okkupation und Sowjetisierung war vielfältig und wurde durch sehr unterschiedliche Faktoren beeinflusst. Es fehlte nicht an Menschen, die mit dem autoritären Ulmanis-Regime unzufrieden waren, dem sie eine übermäßige Einflussnahme des Staates auf das Leben der bürgerlichen Gesellschaft vorwarfen. Für Unruhe innerhalb der Gesellschaft sorgte auch die Verschlechterung der Wirtschaftslage Lettlands, da infolge der Kriegshandlungen in Europa die Preise für Lebensmittel, Dienstleistungen sowie Energie bzw. Kraftstoffe anstiegen, während der Lohn der arbeitenden Bevölkerung sank. Viele waren der Ansicht, dass der Krieg früher oder später auch Lettland erreichen würde, weshalb die Einrichtung sowjetischer Militärstützpunkte und später auch die kaum verhüllte Okkupation als das geringere Übel aufgefasst wurden; ein potentieller Zugriff Deutschlands auf die baltische Region beunruhigte die Gesellschaft sehr viel mehr als die Ausweitung des sowjetischen Einflusses. Grundlage dieser Einschätzung, wonach Deutschland als die Hauptbedrohung der Lebensfähigkeit Lettlands zu betrachten sei, waren sowohl die historisch gewachsenen nationalen Stereotypen, wonach die Deutschen die Letten 700 Jahre lang versklavt hätten, als auch jüngere historische Erfahrungen, etwa die deutschen Kolonisierungspläne während des Ersten Weltkriegs oder der Kampf deutscher Freikorps gegen den neugegründeten lettischen Staat im Jahr 1919. Eine adäquate Einschätzung der neuen Lage wurde auch durch mangelnde Kenntnis der realen Situation im sowjetischen Nachbarland behindert, so dass nicht nur linksgerichtete Vertreter der Gesellschaft, sondern sogar Liberale mit dem von der Sowjetmacht durchgeführten Regierungswechsel im Juni 1940 die Hoffnung auf die Wiederherstellung der konstitutionellen Ordnung und der Demokratie verbanden. Diese Hoffnungen wurden jedoch rasch enttäuscht. Auch die Haltung der nationalen Minderheiten Lettlands gegenüber dem Geschehen muss differenziert betrachtet werden. Sie wurde sowohl durch die vom Ulmanis-Regime umgesetzte Lettifizierungspolitik der 1930er Jahre beeinflusst als auch durch Hitlers antisemitische Politik in Deutschland. Obgleich die konservativen und zionistischen jüdischen Schichten Lettlands antikommunistisch gestimmt waren, ließ sie die Angst vor Hitler-Deutschland die sowjetische Okkupation vorsichtiger beurteilen. Die linksorientierte jüdische Jugend wiederum begrüßte die Veränderungen größtenteils, weil die Sowjetmacht zahlreiche Ein-

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schränkungen der ethnischen Minoritäten, die unter Ulmanis gegolten hatten, abschaffte. Die Elite der russischen Bevölkerungsteile, die sich aus Vertretern der weißen Emigration zusammensetzte, erwartete nichts Gutes von der Sowjetmacht; sie bildete denn auch eine der ersten Gruppen von Verfolgten im Sommer 1940. Anders verhielt es sich mit den russischen Arbeiter- und Kleinbauernschichten, die die neue Situationen als Hebung ihres sozialpolitischen Status betrachteten. Analysiert man den Anteil der ethnischen Minoritäten innerhalb der sowjetischen Machtapparats im okkupierten Lettland, so muss man feststellen, dass dieser prozentual dem jeweiligen Bevölkerungsanteil im Staat entsprach. Für die Kollaboration mit dem Sowjetregime gab es also die unterschiedlichsten Ursachen, angefangen von ideologischen Gründen über wirtschaftliche Erwägungen bis hin zur Umsetzung elementarer Überlebenstaktiken. Die Unklarheit der Lage im Sommer 1940 verzögerte die Entstehung von Widerstand gegenüber dem Okkupationsregime. Dieser Widerstand hatte zunächst individuellen Charakter und äußerte sich sowohl durch unbequeme Fragen auf verschiedenen Versammlungen, die zu jener Zeit recht häufig abgehalten wurden, als auch durch das Agitieren gegen die Teilnahme an den Wahlen oder das Nichtbefolgen von Anordnungen der Sowjetmacht, aber auch durch das Verteilen selbstverfertigter Flugblätter. Ende 1940 begannen sich bereits organisierte Widerstandsgruppen zu bilden, deren Ziel es war, die Sowjetmacht zu stürzen und die Unabhängigkeit Lettlands wiederherzustellen. Diese Gruppen wurden jedoch relativ schnell zerschlagen und ihre Mitglieder Repressionen ausgesetzt. Erst nach den Massendeportationen vom 14. Juni 1941 bzw. dem Beginn des deutsch-sowjetischen Kriegs bildeten sich verstärkt bewaffnete Widerstandsgruppen. An mehreren Orten gelang es Gruppen von Nationalpartisanen, die Repräsentanten der Sowjetmacht und die Rotarmisten noch vor dem Eintreffen der deutschen Wehrmacht zu vertreiben. Allerdings wurden viele dieser Gruppen später in die neuen, diesmal der nationalsozialistischen Okkupationsmacht unterstehenden Formationen eingegliedert und ihre Mitglieder auch bei »Säuberungsaktionen« gegen Kommunisten und Juden eingesetzt.

Die sowjetischen Repressionen Unverzichtbares Element des totalitären Sowjetregimes war der Terror gegen ideologische und Klassenfeinde, der im Sommer 1940 auch in den okkupierten baltischen Staaten angewandt wurde. Die sowjetischen Geheimdienste hatten bereits vor der Okkupation Informationen über potentielle Gegner der Sowjetmacht in Lettland gesammelt. Schon zwischen Juni und August 1940 richtete sich der Terror gegen ehemalige Mitglieder der weißen Bewegung des russischen Bürgerkriegs und Aktivisten russischer Emigrantenorganisationen. Später sahen sich Menschen aufgrund ihrer politischen Überzeugungen oder Aktivitäten in Lettland vor 1940 Verhaftungen ausgesetzt. Organisiert und geleitet wurden die Re-

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pressionen vom Volkskommissariat des Inneren der Lettischen SSR, zu dessen Kommissar der einheimische Kommunist und Agent des sowjetischen Geheimdienstes Alfons Noviks ernannt wurde. Sein Stellvertreter war der aus Russland entsandte Semyon Schustin, der nach der Umstrukturierung des Volkskommissariats des Innern im Frühjahr 1941 zum Chef des Volkskommissariats für Staatssicherheit aufstieg. Viele Einheimische traten in die sowjetischen Repressionsorgane ein, wobei aus der UdSSR entsandte Personen die führenden Positionen in diesen Diensten innehatten. Dies charakterisiert die Vertikale der Repressionspolitik, in der die Einheimischen hauptsächlich Befehlsvollstrecker waren. Die wichtigsten repressiven Aktionen wurden von Moskau aus koordiniert. Höhepunkt des Terrors waren in allen drei baltischen Staaten die von der Sowjetmacht durchgeführten Massendeportationen am 14. Juni 1941. Zur Deportation waren alle jene Personen vorgesehen, die von der Sowjetmacht als unerwünscht oder gefährlich erachtet wurden, sowie – unabhängig von Geschlecht oder Alter – deren Familienangehörige. Auf die Deportationslisten gelangten sowohl lettische Politiker, Staatsbedienstete, Offiziere, Angehörige der AizsargiOrganisation, Polizeibeamte und Lehrer als auch Vertreter der wirtschaftlichen, kulturellen und wissenschaftlichen Elite. Die Listen politisch Verdächtiger waren bereits seit November 1940 zusammengestellt worden; die unmittelbare Vorbereitung der Aktion begann im Mai 1941, nachdem sie in Moskau von höchster Stelle genehmigt worden war. In der Nacht auf den 14. Juni wurden allein in Lettland 15.424 Personen verhaftet und deportiert. Die 5362 arbeitsfähigen Männer kamen in die Lager des Stalinschen GULag, wo mehr als 700 Personen sofort erschossen und die übrigen zu fünf bis zehn Jahren Lagerhaft bzw. Zwangsarbeit verurteilt wurden. Von ihnen starben in diesen Lagern insgesamt 3.453 Menschen an Krankheit oder Erschöpfung. Ihre 10.161 Familienangehörigen – Frauen, Kinder, Alte und Gebrechliche – kamen in die sogenannten Sonderansiedlungen, überwiegend im Gebiet von Nowosibirsk und in Kasachstan, wo 1.940 von ihnen ums Leben kamen. Nur rund 60% der am 14. Juni 1941 Deportierten überlebten die Jahre des Stalinismus. Mit Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges erfuhr der sowjetische Terror einen neuen Schub. Ohne dass die Festnahmen potentiell gefährlicher Elemente unterbrochen wurden, erschossen die sowjetischen Repressionsbehörden viele Verhaftete ohne vorheriges Gerichtsverfahren bzw. ohne rechtskräftiges Urteil. So wurden noch kurz vor dem Einmarsch der deutschen Truppen mehr als einhundert Menschen auf lettischem Gebiet ermordet. Abgesehen von den am 14. Juni Deportierten kostete das erste sowjetische Okkupationsjahr insgesamt rund eintausend Menschen das Leben; rund 7.000 weitere lettische Staatsangehörige waren im Laufe dieses Okkupationsjahres festgenommen und als Häftlinge in die UdSSR verschleppt worden. Die sowjetischen Repressionen hatten damit derartige Ausmaße erreicht, dass sie nicht nur die lettische Öffentlichkeit, sondern auch gestandene Kommunisten schockierten. Der Historiker Pēteris Krupņikovs erinnert sich an diese Zeit: »Der 14. Juni 1941 hatte auch auf die Linken, zu denen ich gehörte, eine verheerende Wirkung. Ich erinnere mich sehr gut

DIE OKKUPATION LETTLANDS DURCH DIE SOWJETUNION 1940/41

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daran, wie wir, eine Gruppe ehemaliger Untergrundkämpfer, von Verzweiflung erfasst, am nächsten Morgen auf der Esplanade beim Museum saßen und entsetzt waren über das, was in der Nacht geschehen war. Wir verteidigten doch die Machthaber und alle Neuerungen. Wie sollten wir den Menschen jetzt in die Augen schauen, was sollten wir sagen! […] In uns vollzog sich eine Distanzierung von dieser Macht, ein Gefühl des Ekels stieg auf.«5 Die Brutalität und das Ausmaß der sowjetischen Repressionspolitik wurden später zu einem unauslöschlichen Bestandteil der kollektiven lettischen Erinnerung. Die sowjetische Geschichtsschreibung stellte die Ereignisse in Lettland in den Jahren 1940/41 zunächst als die von der Roten Armee durchgeführte Befreiung Lettlands vom bourgeoisen Regime Kārlis Ulmanis’ dar. Das Narrativ der »Befreiung« Lettlands wurde jedoch in den 1960er und 1970er Jahren durch das Konzept von der »sozialistischen Revolution« ersetzt, die angeblich 1940 in Lettland stattgefunden hatte. Ende der 1980er Jahre, als der Prozess der Demokratisierung und Transparenz in der UdSSR begann, wurde der Mythos von der angeblichen sozialistischen Revolution zerstört. Die Erinnerung und die wahrheitsgemäße Darstellung des Geschehens von 1940/41 wurden in hohem Maße zum Katalysator dafür, dass die Forderung nach Wiederherstellung der unabhängigen Republik Lettland in der Öffentlichkeit immer lauter wurde.

5

Strautmane, G.: Dialogā ar vēsturi. Pētera Krupņikova dzīvesstāsts (Im Dialog mit der Geschichte. Erinnerungen Peter Krupnikovs). Riga 2015, S. 98 f.

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Lettland unter deutscher Besatzung 1941-1944/45 Die vergleichsweise recht kurze Zeit der deutschen Besatzungsherrschaft in Lettland von 1941-1944/5 nimmt in den hundert Jahren lettischer Geschichte von 1918 bis 2018 eine Sonderstellung ein. Wohl kaum eine andere Epoche dieses Jahrhunderts dürfte ähnlich umstritten sein. Dementsprechend ist wohl zu keiner anderen Epoche annähernd viel geforscht worden. Wie sollte es auch anders sein? Schließlich war Lettland in dieser Zeit Teil der »Bloodlands« (Tymothy Snyder) und zu keiner anderen Zeit kam es zu vergleichsweise hohen Bevölkerungsverlusten und Gewaltexzessen auf lettischem Boden1. Und doch hält sich beständig das Bild vom vermeintlich »geringeren Übel« der deutschen Herrschaft in Abgrenzung zur sowjetischen Herrschaft. Vor dem Hintergrund dieser Kontroverse versuchen die folgenden Überlegungen sowohl einen ereignisgeschichtlichen Überblick dieser Jahre zu vermitteln als auch die unterschiedlichen Sichtweisen und Bewertungen dieser Zeit zu thematisieren und nach Gründen für diese teils unversöhnlichen Standpunkte zu suchen. Zu diesem Zweck gliedert sich die Darstellung in vier Abschnitte, welche zum einen die Nachkriegsnarrative geprägt haben, zum anderen aber auch, und das ist die Hauptthese dieses Beitrages, in einem kausalen Zusammenhang mit der realen Besatzungserfahrung verschiedener Bevölkerungsgruppen stehen. Denn die Frage, inwieweit die deutsche Besatzungszeit als »geringeres Übel« wahrgenommen werden konnte, war in erster Linie eine Frage der Perspektive.

Der deutsche Kontext Die deutsche Besetzung Lettlands ist in den Kontext des deutschen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion einzubetten. Gemäß den Zielen Adolf Hitlers ging es dabei nicht nur um die Zerstörung des sowjetischen Staates, sondern um die physische Vernichtung eines Großteils der zivilen Bevölkerung zur Gewinnung von »Lebensraum« für das deutsche Volk im Osten Europas. Entsprechend sahen die unter dem Sammelbegriff »Generalplan Ost« bekannt gewordenen Pläne für 1

Insgesamt verloren etwa 100 000 Zivilpersonen (darunter fast die gesamte jüdische Bevölkerung) und etwa genauso viele Soldaten (auf beiden Seiten der Front) zwischen 1941-1944/45 ihr Leben. Dazu könnte man noch die etwa 35 000 zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportierten Personen und die weit über 100 000 Flüchtlinge von 1944/45 als Bevölkerungsverluste der deutschen Okkupationszeit hinzurechnen. (Zahlenzusammenstellungen aus: Pelkaus, E.: Policy of Occupation Powers in Latvia, 1939-1991. [Riga] 1999, S. 178.f.)

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Lettland und seine Bevölkerung allenfalls einen höheren Anteil der zu germanisierenden Bevölkerung im Vergleich zu slawisch bewohnten Gebieten der Sowjetunion, mitnichten aber einen eigenständigen Status des Landes innerhalb des zu errichtenden »Neuen Europas« vor. Im Sinne der Dekompositionspolitik Alfred Rosenbergs, welcher von Hitler zum Reichsminister für die besetzen Ostgebiete ernannt worden war, und zum Zwecke der besseren Integration in den deutschen Herrschaftsraum wurde das sogenannte Reichskommissariat Ostland gegründet, welches neben Lettland auch die anderen beiden baltischen Staaten umfasste sowie einen Teil Weißrusslands. Zum Reichskommissar mit Sitz in Riga wurde der schleswig-holsteinische Gauleiter Hinrich Lohse ernannt. Lettland wurde zum Generalkommissariat mit dem Lübecker Bürgermeister Otto Drechsler als Generalkommissar. Darunter wurden sechs Gebietskommissariate eingerichtet. Eines davon war Riga-Stadt mit dem Deutschbalten und Rosenbergfreund Hugo Wittrock als Bürgermeister, der Riga als Brückenkopf für die künftige Germanisierung etablieren sollte. Zwar hatten diese langfristigen Ziele aufgrund der militärischen Misserfolge nur zum Teil Einfluss auf die konkrete Besatzungspolitik, doch wirkten sich auch die kurzfristig angelegten Ziele im Kontext der Kriegsplanungen kaum weniger verheerend für den Besatzungsalltag aus, da das wesentliche Grundprinzip des Unternehmens Barbarossa die Versorgung der deutschen Truppen »aus dem Lande heraus« war und somit die radikale Ausbeutung der örtlichen Ressourcen mit sich brachte. Dass eine solche Politik nicht geeignet war, die einheimische Bevölkerung für die deutschen Kriegsanstrengungen zu gewinnen, liegt auf der Hand. Vor diesem Hintergrund waren die deutschen Besatzungsbehörden, aber auch der Nachkriegsdiskurs in Westdeutschland, welcher zunächst stark von ehemaligen Kriegsteilnehmern wie Peter Kleist, Otto Bräutigam oder Hugo Wittrock bestimmt wurde, als Folge der Niederlage vor allem von der Frage dominiert, wie die Besatzungspolitik effektiver hätte gestaltet werden müssen, wie man es also hätte besser machen können. Der Kalte Krieg verstärkte dabei das Interesse an den Fragen der Effizienz einer gegen die Sowjetunion gerichteten Kriegsmaschinerie und verdeckte somit ebenfalls zunächst die Auseinandersetzung mit den von Deutschen verübten Verbrechen. Zwei Themenkomplexe traten in dieser Diskussion besonders hervor. Einerseits ging es um das Verhältnis von Kriegszielen und Besatzungspolitik, wobei sich ein Zielkonflikt zwischen erstens einer sofortigen rassenideologisch begründeten Vernichtungspolitik, zweitens einer auf wirtschaftspolitischen Erwägungen basierenden Ausbeutungspolitik, bzw. drittens in zunehmenden Maße auch einer auf Kollaboration abzielenden Mobilisierungspolitik einstellte, was sowohl die Denkschriftenliteratur während des Krieges als auch den Nachkriegsdiskurs prägte. Andererseits richtete sich der deutsche Kriegs- und westdeutsche Nachkriegsdiskurs zur Frage der größeren Effektivität neben dem Verhältnis von Besatzungspolitik und Kriegszielen auch auf die Besatzungsstruktur und ihrer Effektivität. Der »Fehler« der Besatzungsstruktur habe darin gelegen, dass es keine eindeuti-

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gen Zuständigkeiten gegeben habe, stattdessen wird die deutsche Besatzungsstruktur gemeinhin als »Ämterchaos« klassifiziert. Eine solche Sicht stützt sich auf den Umstand, dass neben der bereits erwähnten Zivilverwaltung unter Alfred Rosenberg insbesondere Himmlers Polizeiapparat wesentlich in die Politik eingriff, sich aber auch andere NS-Akteure Einfluss verschafften wie zum Beispiel die Wirtschaftsverwaltung unter Hermann Göring, später auch Fritz Sauckel und Albert Speer und natürlich auch die Wehrmacht, in Riga vertreten durch den Wehrmachtsbefehlshaber im Reichskommissariat Ostland Walter Braemer. Damit ordnete sich diese Frage in die in der weiteren NS-Forschung bekannte Diskussion zum Polykratiebegriff ein, was bis heute eine gängige Interpretation der deutschen Besatzungsstruktur geblieben ist. Eine solche Konzentration auf die vermeintlichen »Fehler« im Sinne einer effektiven Besatzungspolitik verdrängte für lange Zeit den Blick auf die verbrecherische Dimension der deutschen Besatzungspolitik in Lettland. Erst vergleichsweise spät entdeckte die jüngere deutsche Forschung diese Versäumnisse und es entstanden grundlegende Arbeiten zum Holocaust in Lettland, beispielsweise von Peter Klein, Andrej Angrick und Katrin Reichelt.

Holocaust Von den etwa 90 000 Juden, die im Lettland der Zwischenkriegszeit lebten, gerieten etwa 70 000 unter die deutsche Besatzungsherrschaft, von denen wiederum weniger als 1000 den Krieg überlebten. Zusätzlich gelangten ab Ende 1941 etwa 30 000 Juden aus Mitteleuropa nach Lettland, von denen ebenfalls nur etwa 1000 den Krieg überlebten. Neben der sehr hohen Mordquote ist auch die Geschwindigkeit, mit der die Juden Lettlands ermordet wurden, europaweit zusammen mit den Nachbarländern Estland, wo allerdings deutlich weniger Juden lebten, und Litauen einzigartig. Denn bereits zum Jahresende 1941 lebten nur noch etwa 7000 lettische Juden. Die »Endlösung« der lettischen Juden hatte somit schon vor der Wannseekonferenz stattgefunden. Wie ist das zu erklären? Ein Antwortkomplex steht im Zusammenhang mit der Beteiligung bzw. Unterstützung der lokalen Bevölkerung, also der Kollaboration, welche im Abschnitt zum lettischen Kontext eingehender betrachtet wird. Hier mögen zunächst grundsätzliche Überlegungen zur geografisch-territorialen Verortung Lettlands innerhalb Europas Erklärungsansätze andeuten. Drei Ebenen sind dabei zu bedenken: Erstens fiel, wie erwähnt, die Eroberung Lettlands durch Deutschland zusammen mit der Operation Barbarossa und somit gehörte Lettland zu jenem Gebiet, wo angeführt durch die Einsatzgruppen des Reichssicherheitshauptamts der Massenmord an Juden zum dezidierten Kriegsziel der Deutschen gehörte. Im Fall Lettland war dies die Einsatzgruppe A unter der Leitung von Walter Stahlecker. Zweitens war Lettland darüber hinaus auch Teil jener Gebiete, die erst kurz zuvor in den sowjetischen Machtbereich gelangt waren und wo somit der Mythos

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vom »Jüdischen Bolschewismus« erfolgreich von den Deutschen propagiert und instrumentalisiert werden konnte. Dieser Mythos konnte drittens dort besonders wirksam sein, wo wie auch in Estland und Litauen und im Unterschied zu anderen »neusowjetischen« Gebieten, der Staat zuvor einseitig von der Sowjetunion zerstört worden war. Anders gesagt war es für die Deutschen schwieriger, Polen von der alleinigen Verantwortung jüdischer Bolschewisten an der Zerstörung ihres Staates zu überzeugen als Balten, da im Falle Polens die Beteiligung der Wehrmacht am Untergang des polnischen Staates nicht zu leugnen war. Außerdem war hier aufgrund von rassenideologischen Überlegungen der Deutschen die aktive Unterstützung von Letten und Litauern deutlich weniger problematisch und sogar erwünscht, was zur umgehenden Formierung und Bewaffnung von baltischen Polizeieinheiten führte. Jede dieser drei Ebenen begünstigte die außerordentliche Geschwindigkeit des Massenmordes in Lettland und Litauen. Bei der Massenerschießung im Wald von Rumbula bei Riga wurden allein an zwei Tagen (30.11, 8.12.1941) etwa 27 000 Juden erschossen, was nach Babi Jar bei Kiew die zweitgrößte Massenerschießung überhaupt war. Beide Massenerschießungen standen unter der organisatorischen Leitung des Höheren SS- und Polizeiführers Friedrich Jeckeln, der sich mit seiner »Erfindung«, der »Sardinenmethode«, rühmte. Dabei mussten sich die Opfer in die zuvor von sowjetischen Kriegsgefangenen ausgehobenen Gruben mit dem Kopf nach unten auf die zuvor erschossenen Leichen legen. Anschließend wurden sie von hinten per Genickschuss ermordet. Die danach verschütteten Gruben wurden ab 1943 durch jüdische Sonderkommandos in der sogenannten Sonderaktion 1005 oder auch »Enterdungsdaktion« wieder geöffnet und die Leichen verbrannt, um der nahenden Roten Armee keine Spuren des Verbrechens zu hinterlassen. Die Angehörigen dieser Sonderkommandos wurden anschließend aus demselben Grunde genauso ermordet. Auch in der späteren Besatzungszeit tat sich Jeckeln durch besondere Grausamkeit gegenüber den Partisanen in der »Aktion Winterzauber« hervor und wurde 1946 in Riga für seine Verbrechen gehängt. Die wenigen überlebenden Juden der Massenmorde von 1941 wurden in den Ghettos von Riga, Daugavpils (Dünaburg) und Liepāja (Libau) zur Zwangsarbeit gezwungen, während ab Ende 1941 etwa 30 000 weitere Juden aus Mitteleuropa nach Riga deportiert wurden, die in einem separaten Teil des Rigaer Ghettos untergebracht waren, ansonsten aber das Schicksal der lettischen Juden von andauernden Selektionen, Erschießungen und Zwangsarbeit teilten. Im Spätsommer 1943 übernahm die SS die Verantwortung für die jüdische Zwangsarbeit von der Zivilverwaltung und als Folge dessen wurden die Ghettos geschlossen und die überlebenden Juden in das neu errichtete KZ-Kaiserwald im Norden Rigas verbracht, dem eine Vielzahl von Außenlagern, darunter das berüchtigte Lager Dundangen in Kurland, unterstellt war. Für die Juden bedeutete die Verlegung ins KZ eine weitere Verschlechterung der Lebensumstände und eine Erhöhung der Todesrate. Bei der Flucht der Deutschen im Herbst 1944 wurden die letzten Überlebenden zunächst ins KZ-Stutthof bei Danzig verlegt, von wo aus weitere Todesmärsche in Richtung Westen im Frühjahr 1945 folgten. Ei-

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nige der Überlebenden folgten dem Beispiel von Max Kaufmann, der bereits 1947 seine Erlebnisse veröffentlichte, sodass wir heute zahlreiche individuelle Berichte des Schreckens und Leidens vorliegen haben, darunter u.a. von Josef Katz, Bernhard Press, Elmārs Rivošs, Alexander Bergmann, Frida Michelson und Gertrude Schneider.

Der lettische Kontext Was die lettische Erfahrung betrifft, so ist zunächst auf die Bedeutung der ersten sowjetischen Okkupation von 1940 zu verweisen, denn eine wesentliche Folge dieses Jahres war, dass sich das Verhältnis zu den Deutschen grundlegend geändert hatte. Aus dem jahrhundertealten Feindbild der Deutschen bzw. Deutschbalten, welche man noch im Herbst 1939, als diese in Folge des Hitler-Stalin-Pakts überstürzt das Land verließen, ohne Bedauern verabschiedet hatte, waren innerhalb kürzester Zeit die potentiellen Befreier und Verbündeten geworden. Diese strategische Konstellation führte zu der weit verbreiteten Bereitschaft, die deutschen Kriegsanstrengungen gegen den verhassten sowjetischen Besatzer zu unterstützen. Vor dem Hintergrund der von den Deutschen initiierten und verübten Kriegsverbrechen auf lettischem Boden führte dies zu der bis heute höchst umstrittenen und für viele Letten schmerzhaften Frage der Beteiligung und Mitschuld daran, also dem kontroversen Themenkomplex der Kollaboration. Kollaboration, hier einfach verstanden als Zusammenarbeit mit den Deutschen, erstreckte sich dabei auf drei Felder: Die Beteiligung am Holocaust, die Unterstützung der Besatzungsverwaltung und die bewaffnete Hilfe für die deutschen Kriegsanstrengungen. Zur Rolle der Letten beim Holocaust sind verallgemeinerbare Aussagen problematisch. Das Verhaltensspektrum reichte von einer kleinen Minderheit von Personen, die unter Lebensgefahr Juden retteten, über eine Mehrheit der Bevölkerung, die sich weitgehend passiv verhielt, bis zu solchen, die sich aktiv am Mordgeschehen beteiligten. Unter der ersten Gruppe ist vor allem Jānis Lipke hervorzuheben, der in einem Unterschlupf im Hafen von Riga 56 Juden das Leben rettete, der als »Gerechter der Völker« anerkannt ist und dem heute dort an seiner historischen Wirkungsstätte ein Museum gewidmet ist. Insgesamt wurden in Lettland etwa 300 Juden auf diese Weise von Privatpersonen gerettet. 14 von den ca. 100 Rettern mussten ihren Mut und ihre Hilfsbereitschaft mit dem Leben bezahlen. Die Mehrheit der Bevölkerung beteiligte sich nicht an den Morden und war eher passiv bzw. gleichgültig gegenüber dem Schicksal der Juden eingestellt. Es fanden sich allerdings auch recht viele, die sich durch die Aneignung jüdischen Vermögens oder durch Denunziation indirekt am reibungslosen Ablauf des Judenmordes beteiligten und die man somit nach Raul Hilberg als »Bystanders« klassifizieren könnte. Schließlich existierten bewaffnete lettische Verbände, die aktiv an der Durchführung des Holocausts in Lettland und außerhalb Lettlands

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beteiligt waren, von denen das Kommando unter der Leitung von Viktors Arājs das bekannteste ist, da es allein etwa 30 000 Menschen ermordete. Es war bei der pogromartigen Verbrennung von Juden in der Großen Choral-Synagoge am 4. Juli 1941, kurz nach der Eroberung der Stadt, den Massenerschießungen im Bikerniekiwald bei Riga, in Rumbula und andernorts in Lettland und später im Antipartisanenkampf in Weißrussland beteiligt. Viel ist in der lettischen Historiographie zur Genese der lettischen Hilfsverbände geforscht worden und vor allem zur Frage, wann genau das Morden einsetzte, bzw. ob das möglicherweise schon kurz vor dem Eintreffen der ersten deutschen Truppen im Sommer 1941, während eines eventuellen Interregnums, der Fall gewesen sein könnte. Tatsache ist jedenfalls, dass Walter Stahlecker schon vor dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion sich zum Ziel gesetzt hatte, die Beteiligung der Letten so zu planen, dass sie in der Anfangsphase spontan wirken und als »Selbstreinigungsaktionen« von Seiten der zivilen Bevölkerung wahrgenommen werden sollte. Wichtiger als die Frage des genauen Beginns der Mordaktionen scheint jedoch die Frage, warum diese Menschen überhaupt bereit waren, ihre jüdischen Nachbarn zu töten. Traditionelle Erklärungen verweisen entweder auf den allerdings vergleichsweise eher schwachen Antisemitismus in Lettland oder auf die Bedeutung des sowjetischen Okkupationsjahres. Letzteres wiegt vor allem schwerer, da nur eine Woche vor dem deutschen Angriff in der Nacht vom 13. auf den 14. Juni etwa 15 000 Personen inhaftiert und verschleppt worden waren, sodass sich die lettische Gesellschaft im Schockzustand befand und die Bereitschaft zu gewaltsamem Widerstand gegen die Sowjetmacht sich auf einem Höhepunkt befand. In dieser Situation der Auflösungserscheinungen von staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen fand Stahlecker günstige Voraussetzungen für die Umsetzung seines Planes der Mobilisierung von Letten für den Judenmord, was durch jüngere Überlegungen von Timothy Snyder gestützt wird. Aus seiner Sicht seien sich die Letten sehr wohl bewusst gewesen, dass der von den Deutschen propagierte Mythos des »Jüdischen Bolschewismus« wenig mit der Wahrheit gemein hatte, weil sich die Menschen zum großen Teil selbst bereits mit den sowjetischen Machthabern arrangiert hatten. Aus diesem Blickwinkel erklärt sich die aktive Teilnahme von Letten am deutschen Projekt des Judenmordes als Willkommensgeste gegenüber den neuen Machthabern, um die Scham über die eigene Verstrickung mit der alten Besatzungsmacht zu tilgen und gleichzeitig den neuen Machthabern ein Signal des guten Willens zu übermitteln2. Die Figur Viktors Arājs selbst passt geradezu idealtypisch zum Erklärungsmodell von Snyder, da Arājs unter sowjetischer Herrschaft offensichtlich keine Probleme hatte, sein Jurastudium abzuschließen und sich weitgehend opportunistisch zu zeigen. 2

Insbesondere das Motiv der Scham mag eine überzeugende Erklärung für die extreme Gereiztheit einiger lettischer Historiker sein, die das Thema immer wieder hervorruft, insbesondere bei Andrievs Ezergailis, dessen unbestrittene Kenntnis zum Thema durch seine zuweilen sehr polemische Emotionalität konterkariert wird.

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Ein weniger diskutiertes, aber nicht unwesentliches Feld der Zusammenarbeit mit den Deutschen stellte die Beteiligung im Verwaltungsapparat dar. Da die deutsche Zivilverwaltung unter Leitung von Otto Drechsler als Generalkommissar in Riga personell auf Unterstützung angewiesen war und zudem die Einrichtung einer lettischen Verwaltung propagandistisch wertvoll war, wurde eine lettische so genannte Landeseigene Verwaltung unter Leitung von General Oskars Dankers eingerichtet. Formal lag die Entscheidungsgewalt und Weisungsbefugnis allein in deutschen Händen, doch hatten die Deutschen gelegentlich Probleme, ihre Anordnungen gegen den Willen der lettischen Verwaltung durchzusetzen, da Repressionsmaßnahmen gegen das Verwaltungspersonal wie z.B. gegen den Generaldirektor Alfrēds Valdmanis zum Jahresende von 1942 einen Imageschaden nach sich zogen und sich letztlich kontraproduktiv für die deutschen Mobilisierungsbemühungen auswirkten. Insbesondere bei der Ausbeutung der personellen und materiellen Ressourcen des Landes war die deutsche Verwaltung auf die Unterstützung der lettischen Verwaltung angewiesen, die naturgemäß nicht immer bereit war, die deutsche Ausbeutungspolitik mitzutragen. Nur wenn sich die Zielvorgaben gegen Dritte richteten, funktionierte die Zusammenarbeit vergleichsweise reibungslos, wie z.B. bei der Organisation der jüdischen Zwangsarbeit oder der Rekrutierung von russischen und polnischen Zwangsarbeitern für das Reich. Bei der Affäre um Valdmanis ging es vor allem um die Frage der Gründung eigener lettischer bewaffneter Verbände für die Front, welche es zwar vereinzelt bereits seit Herbst 1941 gegeben hatte, die nun aber in Divisionsstärke gegründet werden sollten, womit der dritte Aspekt der Kollaboration, nämlich auf militärischem Gebiet, angesprochen ist. Valdmanis‘ Idee, für Lettland einen Autonomiestatus nach dem Vorbild der Slowakei im Tausch für eine Lettische Legion zu bekommen, scheiterte. Die Deutschen mussten allerdings als Folge der Affäre feststellen, dass sich die Begeisterung der Letten während der Mobilisierungsbemühungen in Grenzen hielt. Für den lettischen Erfahrungshorizont waren dabei die berühmten Lettischen Schützen des Ersten Weltkrieges Vorbild. Damals wie auch im Zweiten Weltkrieg ging es den lettischen Akteuren um die Bewaffnung möglichst großer zusammenhängender lettischer Verbände, welche bei günstiger Gelegenheit, beispielsweise eines Zusammenbruchs beider kriegführender Großmächte, wie schon 1917/1918 den Grundstein für eine eigene Armee bilden sollten, um die eigene Unabhängigkeit zu erkämpfen und zu verteidigen. Genau ein solches Szenario wollte Hitler unbedingt verhindern und hatte eigentlich die Bewaffnung der »Ostvölker« untersagt. Doch zwangen ihn der Kriegsverlauf und die Fürsprache Himmlers, der diese Verbände seinem Machtbereich zuordnete, zu einem Umdenken, sodass Hitler am 10. Februar 1943 die Formierung einer lettischen SS-Division befahl. Wegen andauernder Niederlagen an der Front wurde 1944 zusätzlich zu der bereits 1943 gegründeten 15. noch die 19. SS-Division ins Leben gerufen. Für die beiden Divisionen zusammengenommen existiert auch die Bezeichnung Lettische Legion, obwohl dieser Begriff sowohl zeitgenössisch als auch gegenwärtig mitunter unterschiedlich definiert wird.

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Die Tatsache, dass diese Divisionen der SS unterstellt waren, sagt mehr über die Machtverhältnisse innerhalb der deutschen Besatzungsverwaltung aus als über den Charakter dieser Einheiten. Doch war und ist die Zugehörigkeit dieser Einheiten zur SS immer wieder Anlass zur effektreichen medialen Inszenierung. Zunächst sollte jedoch daran erinnert werden, dass die etwa 50 000 Letten, die in diesen Einheiten dienten, bei weitem nicht die einzigen Letten waren, die an der Front kämpften. Insbesondere darf nicht vergessen werden, dass auch auf sowjetischer Seite aufgrund der Rekrutierungen von 1940/41 und verstärkt wieder auch ab 1944 nach der Rückeroberung Zehntausende von Letten auch gegen die Deutschen kämpften, sodass sich mitunter Familienmitglieder auf unterschiedlichen Seiten der Front wiederfanden. Außerdem dienten etwa 20 000 als sogenannte Hilfswillige in den Reihen der Wehrmacht, die teilweise zum Ende des Krieges ebenfalls an die Front geschickt wurden. Im Unterschied zu den SS-Legionären waren diese allerdings nicht in lettischen Einheiten organisiert. Doch stehen die Kämpfer der Lettischen SS-Einheiten in jeder Darstellung im Vordergrund. Zum einen wegen der Zugehörigkeit zur SS, zum anderen aber auch wegen der Bezeichnung als »Freiwilligendivision«, welches eine Propagandabezeichnung der Deutschen war. Zwar ist nicht auszuschließen, dass sich unter den sogenannten Legionären nicht auch einige tatsächlich freiwillig gemeldet hatten. Grundsätzlich erfolgte jedoch die Einberufung auf Grundlage der Arbeitspflicht, welche schon im Dezember 1941 durch Rosenberg verfügt worden war und womit die deutschen Besatzer die Tatsache der Mobilisierung der Zivilbevölkerung verschleiern wollten. Die jahrgangsweise einberufenen Rekruten hatten die Wahl, entweder »freiwillig« zur besser bezahlten Legion, wenn sie dafür als tauglich eingestuft worden waren, oder eben zur Wehrmacht oder schließlich zum Arbeitsdienst zu gehen. Erschienen die Einberufenen nicht, erfolgten Zwangsmaßnahmen, um die Mobilisierung zu gewährleisten. Allerdings gelang es dennoch vielen ungestraft nicht zu den Musterungen zu erscheinen, da die deutschen Polizeikräfte nicht in der Lage waren, alle Einberufenen einzeln zu verfolgen und zum Dienst zu zwingen. Noch problematischer als der Begriff der vermeintlichen »Freiwilligkeit« ist jedoch die Assoziation von SS mit Kriegsverbrechen, darunter natürlich vor allem mit dem Holocaust, was, wie schon thematisiert, außerordentlich umstritten ist. Dazu lässt sich grundsätzlich festhalten, dass bei der Gründung der SS-Einheiten der Holocaust, wie bereits beschrieben, im Grunde schon geschehen war, so dass die direkte Teilnahme der lettischen SS-Einheiten am Holocaust in Lettland schon aus zeitlichen Gründen nicht möglich war. Dessen ungeachtet gab es aber durchaus Personen, die ab 1941 entscheidend am Judenmord beteiligt waren und ab 1943 in der Lettischen Legion dienten, wie z. B. Viktors Arājs selbst oder Voldemārs Veiss, sodass die Verknüpfung der lettischen SS-Einheiten mit Kriegsverbrechen auf personeller Ebene wiederum auch nicht völlig unbegründet ist. Dies erklärt sich vor allem durch den Umstand, dass bei der Gründung der 15. SSDivision im Frühjahr 1943 bereits bestehende lettische Schutzmannschaftsbatail-

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lone integriert wurden. Neben der Beteiligung Einzelner am Holocaust wäre in diesem Kontext auch noch die Bekämpfung der Partisanenbewegung in und vor allem außerhalb Lettlands durch lettische Polizeibataillone als ein Beispiel für die Beteiligung von Letten an Kriegsverbrechen zu nennen. Aber wie gesagt, eine pauschale Verurteilung aller Mitglieder der lettischen SS-Legion, die nur an der Front eingesetzt war, ist unangebracht und dient nur einer geschichtspolitisch motivierten pauschalen Verteufelung der Letten als »Faschisten«, wie sie in einigen russischsprachigen Publikationen zu finden ist. Was bei der Diskussion über die Kollaboration häufig zu Unrecht vernachlässigt wird, ist die Frage nach dem Alltagsleben der Bevölkerung und deren Einstellung. In aller Kürze lässt sich die allgemeine Stimmung der Bevölkerung und deren Entwicklung mit Begriffen wie »große Hoffnungen und bittere Enttäuschungen« (Leonīds Siliņš) beschreiben. Oder, wie Uldis Neiburgs es wohl treffend formuliert hat, wuchs nach anfänglichen positiven Erwartungen der Hass auf die Deutschen, doch wurde dieser stets von der Angst vor den Russen noch übertroffen. Die Gründe für die Verschlechterung im Verhältnis zu den Deutschen sind erstens die nicht gewährte Autonomie für Lettland, was vor allem die politische Elite des Landes zunehmend verstimmte, zweitens die erwartete aber nur äußerst zögerliche Reprivatisierung von Wirtschaftsunternehmen, da die Deutschen es auch hier vorzogen, die Kontrolle in eigenen Händen zu behalten, und drittens die mit dem Thema der wirtschaftlichen Ausbeutung verbundenen zunehmenden Requirierungen von Wirtschafts- und Landwirtschaftsgütern sowie die bereits erwähnte Mobilisierung der Bevölkerung zum Arbeitsdienst oder zum Militärdienst, was insgesamt die wirtschaftlichen Verhältnisse dramatisch erschwerte. All diese Aspekte führten zum Anwachsen der Bereitschaft zum widerständischen Handeln, wobei es nur im Zusammenhang mit der Entwaffnung der sogenannten Kureliseinheit im Herbst 1944 zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Deutschen und Letten kam. Dabei war diese Einheit von etwa 3000 Mann unter der Leitung von Jānis Kurelis von den Deutschen selbst mit dem Ziel der Bildung von lettischen Partisaneneinheiten im Hinterland der Roten Armee gegründet worden. Da Kurelis aber zu enge Kontakte zu der Widerstandsorganisation »Lettlands Zentralrat« hatte, erfolgte der Befehl zur Auflösung. Dieser Zentralrat unter der Leitung von Konstantīns Čakste konzentrierte seine Maßnahmen auf die Boykottierung der deutschen Mobilisierungsmaßnahmen sowie auf die diplomatische Kontaktaufnahme über Schweden zu den westlichen Alliierten in der Hoffnung auf Unterstützung im Bestreben nach staatlicher Unabhängigkeit. Doch überwog insgesamt die Angst vor der Rückkehr der Sowjets in der Regel den Hass auf die Deutschen, so dass zum Ende der deutschen Besatzungszeit ein erheblicher Teil der Bevölkerung bereit war, zusammen mit den Deutschen die Region über die Ostsee zu verlassen, um nicht in die Hände der Sowjets zu geraten. Allerdings wurden auch in dieser Schlussphase von den Deutschen noch Zwangsmaßnahmen zur Rekrutierung von Arbeitskräften und insbesondere auch jugendlichen Luftwaffenhelfern durchgeführt, sodass nicht

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alle der etwa 150 000 Personen, die 1944/45 noch nach Deutschland kamen, dies freiwillig taten. Etwa 4000 gelang auch die Flucht über die Ostsee nach Schweden, von denen allerdings die meisten nach dem Krieg aufgrund des Drucks der Sowjetunion auf Schweden wieder zurückkehren mussten. Die Flüchtlinge, die nach Deutschland gelangten, erhielten nach dem Krieg den Status von »Displaced Persons« in Deutschland, von denen wiederum ein Großteil später nach Nordamerika auswanderte, wo kulturell bedeutsame aktive lettische Exilgemeinden entstanden.

Der russische Kontext Obwohl, wie eingangs angedeutet, die Kontroversität zwischen einem lettischen und einem russischen Narrativ über die deutsche Besatzungszeit durchaus bekannt ist, wird selten versucht, diese unterschiedliche Perspektivität aus der Zeit selbst heraus zu erklären. Dies verwundert, da eine zutiefst rassistische Herrschaft in einem Gebiet, in dem es schon zuvor ethnische Spannungen gegeben hatte, beinahe zwangsläufig als Ergebnis eine Verschärfung der innerethnischen Beziehungen haben musste. Vor allem im Westen wurden vor dem Hintergrund des Kalten Krieges ganze Opfergruppen des Deutsch-Sowjetischen Krieges stark vernachlässigt. Das gilt insbesondere für die sowjetischen Kriegsgefangenen, die bis zum Frühjahr 1942 einem rücksichtslosen und bewusst herbeigeführten Massensterben durch Hunger und Unterernährung ausgesetzt waren. Allein auf lettischem Boden starben mehr als 300 000 sowjetische Kriegsgefangene. Dass sie damit die bei weitem größte Opfergruppe der deutschen Besatzungszeit in Lettland darstellten, ist nie angemessen zur Kenntnis genommen worden. Entsprechend ist leider bis heute wenig über diesen Massenmord bekannt. Aber auch nachdem sich die Überlebenschancen für die sowjetischen Kriegsgefangenen verbesserten, blieben die Verhältnisse in den Kriegsgefangenenlagern von der Kriegsnotwendigkeit deutscher Interessen bestimmt, was zwar eine Erhöhung der Lebensmittelsätze zur Folge hatte, aber auch mit verstärkten Repressionsmaßnahmen bei »Arbeitsunwilligkeit« verbunden war. Neben den Kriegsgefangenen füllten ab 1943 auch andere bisher kaum erforschte russische und weißrussische Opfergruppen die Gefängnisse der Deutschen auf lettischem Gebiet. Hier sind zum einen die Opfer der so genannten Antipartisanenaktionen und zum zweiten die ab 1943 massenhaft nach Lettland kommenden »Evarussen« zu nennen. Letztere sind von den Deutschen »evakuierte Russen«, die teils freiwillig, größtenteils aber unter Zwang mit den Deutschen nach Westen gingen und unter zumeist chaotischen Umständen in den Lagern untergebracht wurden, aus denen in großer Eile zuvor Kriegsgefangene entfernt worden waren, indem sie nach Deutschland deportiert worden waren. Die unerwartete Geschwindigkeit des deutschen Rückzuges und das gewaltige Ausmaß dieser Bevölkerungsverschiebung – Lettland allein erreichten 200 000 –

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überforderten die Verwaltungsbehörden derart, dass es zu drastischen Überbelegungen in den Lagern mit entsprechenden Folgen für die hygienischen Zustände und die Versorgungslage kam. Folglich war Unterbringung »unter freiem Himmel« keine Seltenheit. Bemerkenswert ist, dass über die Kriegsgefangenen und die »Evarussen« auch in der russischen Literatur wenig zu finden ist, da deren große Zahl allzu deutlich das militärische Unvermögen der sowjetischen Führung zu Beginn des Krieges offenbart hätte, was die Kriegsgefangenen betrifft, oder mit Blick auf die »Evarussen« das Tabuthema der Kollaboration aufgeworfen hätte. Anders verhält es sich mit den einheimischen Russen, die ebenfalls stärker als ihre lettischen Nachbarn unter den deutschen Mobilisierungsbemühungen zu leiden hatten, was sich vor allem auf dem Gebiet der Rekrutierungen für die Zwangsarbeit in Deutschland und anderswo bemerkbar machte. Während die Kriegsgefangenen und »Evarussen« im russischen Gedenken jedoch tabuisiert wurden, sind die Opfer der Antipartisanenkämpfe, und unter diesen vor allem die verschleppten Kinder, ein bedeutender Topos des russischen Diskurses bis in die Gegenwart hinein. Zum alles überstrahlenden Erinnerungsort dieses Narrativs ist das Lager Salaspils bei Riga geworden, wo seit 1967 eine monumentale Gedenkstätte als Symbol schlechthin für das russische Opfernarrativ dient. Dabei sind in dem nahe gelegenen Kriegsgefangenenlager Stalag 350 deutlich mehr Menschen gestorben. Außerdem waren in Salaspils, das gelegentlich auch als KZ firmiert, organisationsrechtlich aber ein Arbeits- und Erziehungslager war, auch Letten und anfangs auch Juden inhaftiert, doch waren die Haftbedingungen tatsächlich besonders grausam für die im Zuge der »Aktion Winterzauber« im Frühjahr 1943 dorthin aus dem Grenzgebiet zwischen Lettland und Weißrussland gelangten etwa 4500 Russen und Weißrussen. Darunter waren auch etwa 1000 Kinder, deren Eltern zumeist während der Kämpfe ermordet worden waren, in einer Einzelbaracke untergebracht, von denen viele aufgrund der hygienischen Zustände und Unterernährung starben. Da ihnen von den deutschen Lagerärzten auch Blut entnommen wurde, entstand nach dem Krieg der Topos des Wehrmachtsarztes als Vampir, der Blutkonserven von Kindern für die Wehrmachtssoldaten angelegt habe. Ein solches Bild ist durch das Zusammenspiel von traumatischen individuellen Erfahrungen und sowjetischer Propaganda erklärbar, konnte jedoch bisher nicht durch archivalische Quellen bestätigt werden. Auch die komplette Ermordung der 235 Einwohner des russischen Dorfes Audriņi in Lettgallen im Januar 1942 unterstreicht den rassistischen Charakter der deutschen Gewaltmaßnahmen unter Beteiligung lettischer Polizeieinheiten in Lettland und deutet darauf hin, dass die spätere überproportionale Beteiligung von Russen im Partisanenkampf, auf die auch Björn Felder hingewiesen hat, gegen die deutsche Besatzungsherrschaft teilweise selbst verschuldet war, wodurch letztlich eine Gewaltspirale von Widerstand und Antipartisanenaktionen in Gang gesetzt wurde, die weite Teile der russischen Bevölkerung in die Arme der prosowjetischen Partisanen führte.

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Fazit Die von Katja Wezel konstatierte »geteilte Erinnerung« an die deutsche Besatzungszeit in Lettland ist nur zum Teil der nationalistisch orientierten Erinnerungskultur der Gegenwart in Russland und in Lettland geschuldet. Wie durch obige Überlegungen angedeutet, waren zwar durchlässige, aber doch erkennbare Erfahrungsräume entlang ethnischer Grenzen bereits während der Okkupationszeit erkennbar, welche sich in den Nachkriegsnarrativen noch verstärkten. Dass es dabei zu teilweise kuriosen Umdeutungen und Widersprüchen kam, muss nicht grundsätzlich dem beschriebenen Phänomen widersprechen, dass die deutsche Besatzungszeit noch immer je nach Blickwinkel völlig unterschiedlich bewertet wird. Beispiele, welche die hier konstruierten Narrative aufbrechen, wären für den deutschen Fall der lettophile Träger des Goldenen NSDAP-Parteiabzeichen Harry Marnitz, der 1943 von seinem Amt als Leiter der Gesundheitsabteilung beim Generalkommissariat in Riga suspendiert wurde, weil er sich zu sehr für lettische Interessen eingesetzt hatte. Mit Blick auf die Juden und den Holocaust in Lettland ist von Anita Kugler der Fall des vermeintlich jüdischen SS-Offiziers Fritz Scherwitz aufgearbeitet worden, dessen Lebenslauf auch ohne klaren Beweis einer jüdischen Herkunft genügend Wendungen bereithält, um eine eindeutige Kategorisierung ad absurdum zu führen. Was das lettische Narrativ betrifft, so tritt in jüngerer Vergangenheit vermehrt die Person Herberts Cukurs hervor, der einerseits vom Mossad wegen seiner Rolle als »Schlächter von Riga« ermordet wurde, dem andererseits allerdings 2014 ein Musical gewidmet wurde, in dem er gar als Judenretter dargestellt wird. Schließlich ist mit Blick auf die russische Erfahrung vor allem die Person Wassilij Kononow interessant, der zu Sowjetzeiten für seine Partisanentätigkeit mit höchsten Orden ausgezeichnet wurde, nach 1991 aber schließlich noch kurz vor seinem Tod 2011 nach dem Gang durch mehrere Instanzen als Kriegsverbrecher für die Ermordung von neun Personen im Mai 1944 im lettgallischen Dorf Mazie Bati verurteilt wurde. Dieser kleine biographische Ausblick verdeutlicht zum einen mit Blick auf Marnitz und Scherwitz die Widersprüchlichkeit im Einzelfall, was die hier vorgenommenen Generalisierungen problematisch erscheinen lassen. Zum anderen zeigen die Beispiele von Cukurs und Kononov aber auch die absolut unversöhnlichen Sichtweisen auf die deutsche Besatzungszeit, in der die Helden der einen die Kriegsverbrecher der anderen waren, was nur durch eine historisierte Perspektivität verständlich werden kann. Die Darstellung der Genese der unterschiedlichen Narrative der deutschen Besatzungszeit in dieser Zeit selbst birgt allerdings auch die Gefahr in sich, dass bestimmte unterrepräsentierte Opfergruppen vergessen werden. Dies betrifft die bereits im russischen Kontext erwähnten sowjetischen Kriegsgefangenen und die »Evarussen«, aber auch Opfergruppen, die sich nicht einem der vier ethnisch zentrierten Narrative zuordnen lassen. Zu nennen wären die Roma, die zum Teil »wie Landesbewohner«, zum Teil aber auch »wie Juden behandelt« wurden und deren Bevölkerung sich durch die deutsche Vernichtungspolitik somit auf etwa

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2000 halbierte, und zum anderen verfolgten die deutschen Besatzer auch in Lettland ihre eugenischen Ziele und ermordeten bereits im Sommer 1941 sämtliche Patienten der Heilanstalt in Aglona, insgesamt über 400 Personen, als »Geisteskranke«. Diese extreme Verdichtung von Gewalt in der relativ kurzen Zeit der deutschen Besatzung, die eine rassistische und menschenverachtende Ideologie mitbrachte, führte zusammen mit den beiden stalinistischen Terrorwellen zu Traumatisierungen und Verwerfungen in der lettischen Gesellschaft, die bis heute eine sachliche und nüchterne Auseinandersetzung mit dieser Zeit erschweren. Der von außen hineingetragene »Klassen- und Rassenkrieg an der Düna« (Geoffrey Swain) hatte Lettland unverschuldet zum Teil des »Schlachtfelds der Diktatoren« (Dietrich Beyrau) werden lassen.

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Die sowjetische Herrschaft 1944/45–1991 Formal gesehen waren alle Sowjetrepubliken gleichartige und selbständige Einheiten, sogar bis hin zu dem 1936 in die Verfassung der Sowjetunion aufgenommenen Recht auf Austritt aus der Union. Tatsächlich jedoch war die Sowjetunion ein streng zentralistischer Einheitsstaat, in dem das »Zentrum« alle Ressourcen verwaltete und verteilte. Die Dominanz der Zentralgewalt sowie die Kontrolle über die nationalen Republiken lassen den Schluss zu, dass es sich bei der Sowjetunion um ein imperialistisches System handelte. Dieser Schluss ist unter der Mehrheit der Historiker unbestritten, wenn auch nach wie vor unklar ist, was genau man unter einem imperialistischen »Zentrum« verstehen muss bzw. nach welchen Gesichtspunkten die Ressourcen verteilt wurden. Auch in Lettland ist die Vorstellung recht populär, dass das Zentrum des Imperiums Russland war. Dieser Vorstellung wird jedoch entgegengehalten, dass Russland genauso rücksichtslos ausgebeutet wurde wie alle anderen Republiken und in einigen Bereichen vielleicht noch rücksichtsloser, wenn man bedenkt, mit welchen Methoden die Mittel zur Finanzierung der Industrialisierung aus dem Bauernstand herausgepresst wurden. Zugleich waren die Russen das größte Volk der Sowjetunion, die russische Sprache war die Staatssprache und die Russen waren sich sehr wohl ihrer dominierenden und zivilisierenden Rolle bewusst, insbesondere mit Blick auf die Republiken Mittelasiens und im südlich-zentralen Kaukasus. Und dennoch, und im Unterschied zu allen anderen bekannten Imperien der Geschichte, hatte die führende Nation relativ wenig Vorteile von ihrem besonderen Status. So kam es beispielsweise zu der paradoxen Situation, dass der Lebensstandard am »Rand« des Imperiums in den baltischen Republiken höher war als in Russland selbst. Die Sowjetunion unterschied sich von traditionellen Imperien auch dadurch, dass ihr Kern nicht durch ein konkretes Territorium oder eine Nation bestimmt war. In Wahrheit waren die Nutznießer eine Gruppe von transnationalen Funktionären – die Nomenklatura der Kommunistischen Partei, die faktisch die Verwaltung des Staates in der Hand hatte. Den Kern dieser transnationalen Nomenklatura bildeten Vertreter der slawischen Völker (Russen, Ukrainer, Weißrussen), und sie waren es, die die gemeinsamen Interessen des Imperiums vertraten. Das Machtzentrum befand sich in Moskau. Die Beschlussfassung geschah im sehr engen Kreis der höchsten Würdenträger der Kommunistischen Partei – im Politbüro des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (ZK der KPdSU). Seinerseits stützte sich die Organisation der Verwaltung auf den Apparat des ZK der KPdSU, der Vollmachten an die Nomenklatura anderer territorialer Einheiten – der nationalen Republiken – delegierte und deren Arbeit kon-

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trollierte. In den Behörden des Apparats des ZK der KPdSU, die die nicht-slawischen Republiken kontrollierten, waren die wichtigsten Posten nur den Vertretern slawischer Völker vorbehalten. Die Aufgabe der Nomenklatura der Titularnationen in den nicht-slawischen Republiken bestand darin, die Interessen der Sowjetunion in den nationalen Republiken zu vertreten und danach zu streben, diese mit den lokalen Interessen auszubalancieren. Jedoch waren die Möglichkeiten dieser lokalen Nomenklatura, an der gemeinsamen Verwaltung der UdSSR teilzunehmen, sehr begrenzt. Die verdeckte Diskriminierung der Nomenklatura der nicht-slawischen Völker wurde durch einzelne Vertreter dieser Völker, darunter auch einiger Letten, kaschiert, die in die höchsten Staats- und Parteiämter aufstiegen. So waren Arvīds Pelše von 1966-1983 Mitglied des Politbüros des ZK der KPdSU und Augusts Voss von 1984 bis 1989 Vorsitzender des Nationalitätenrats der UdSSR. Die imperialistische, streng hierarchische politische Organisation der Sowjetunion befand sich in einem ständigen Konflikt mit der politischen Organisationsstruktur der nationalen Republiken. Der Kampf um die Verteilung der Ressourcen zwischen dem Zentrum und den nationalen Republiken erhielt damit unweigerlich auch eine nationale Färbung, die das »Zentrum« als außerordentlich gefährlich einschätzte, da es im Nationalismus der Republiken immer auch die Gefahr des Separatismus witterte. Die marxistische Ideologie des Leninismus sollte als Kitt innerhalb der führenden Nomenklatura dienen, und anfänglich erfüllte sie diese Aufgabe auch trotz aller Krisen und Konflikte. Als sich die Rolle der Ideologie jedoch abschwächte, verschärfte sich der Konflikt zwischen den Interessen der Republiken und des Zentrums, was sich am deutlichsten in der Zeit der Perestroika zeigte und schließlich zum Zusammenbruch der Sowjetunion führte.

Lettland als Sozialistische Sowjetrepublik – die politische Machtstruktur Nach der Eingliederung der baltischen Staaten in die UdSSR Anfang August 1940 bestand das vorrangige Ziel Mokaus darin, diese möglichst schnell in das politische, wirtschaftliche, rechtliche und soziale System der Sowjetunion zu integrieren. Bis zum Beginn des Krieges zwischen Deutschland und der UdSSR waren die Grundvoraussetzungen dafür bereits geschaffen, doch war die Sowjetisierung in vielen Bereichen noch oberflächlich. Nach der Rückeroberung Lettlands 1944/45 musste die Sowjetisierung deshalb im Grunde wieder von Neuem beginnen. Dabei galt es vor allem, zwei Hauptprobleme zu lösen, nämlich die Sicherung der Kontrolle über das Territorium der Republik und die Bereitstellung geeigneter Verwaltungskader. Doch stützte sich Moskau grundsätzlich auf die bereits 1940 geschaffenen Verwaltungsinstitutionen.

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Mitte Juli 1944 stießen sowjetische Truppen auf lettisches Territorium vor, doch die Rückeroberung ganz Lettlands dauerte wegen des erbitterten Widerstands der deutschen Truppen noch fast ein ganzes Jahr. Die Führung der Sowjetunion hatte die erneute Okkupation gründlich vorbereitet. Die wichtigsten Verwaltungsinstitutionen – das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei, das Präsidium des Obersten Sowjets und der Rat der Volkskommissare der lettischen Sowjetrepublik hatten während des Krieges in »eingefrorener« Form in Moskau weiterbestanden, d.h. mit deutlich reduziertem Personal und eingeschränkten Funktionen. Sie hatten sich der an die Letten gerichteten Radio- und Flugblattpropaganda, der Unterstützung von sowjetischen Partisanen sowie der Hilfeleistung gegenüber evakuierten lettischen Bürgern gewidmet. Als sich zu Beginn 1944 die Erneuerung der sowjetischen Herrschaft in Lettland abzeichnete, wurden diese Institutionen wesentlich aufgestockt. Schon seit Mai 1942 hatte es Kurse gegeben, in denen die mittleren und unteren Verwaltungskader vorbereitet wurden. Da diese Kader nicht ausreichten, um die Verwaltung des lettischen Territoriums zu gewährleisten, wurden die Mitarbeiter des Verwaltungsapparats von 1940/1941 und potenzielle Kandidaten aus dem Kreis der in der UdSSR lebenden Letten aufgeboten sowie Nichtletten aus dem Partei-, Sicherheits- und Verwaltungsapparat Russlands und anderer Republiken eingebunden. Ziel der Politik Moskaus war es, die sofortige Einführung der Zivilverwaltung in den von den Deutschen befreiten Gebieten zu sichern. Mit diesem Ziel begann man schon zu Beginn des Jahres 1944 mit der Bildung von operativen Gruppen des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei, der Regierung, der Behörden größerer Städte und Regionen, der Leitung größerer Unternehmen und Einrichtungen sowie der Repressionsorgane, um deren Arbeitsbeginn sofort nach der Eroberung zu gewährleisten. Die operativen Gruppen folgten der Roten Armee auf dem Fuße. Dieser Ansatz sicherte eine verhältnismäßig effektive Arbeit der Verwaltungsinstitutionen auf der zentralen und der regionalen Ebene, obwohl es sich als äußerst schwierig erwies, alle Positionen in den Behörden zu besetzen. Noch schwieriger war es, eine effektive Kontrolle auf der Kreisebene zu gewährleisten. Eines der Hauptprobleme dabei war das Fehlen von politisch zuverlässigem Verwaltungspersonal, das zugleich hinreichend mit den örtlichen Gegebenheiten vertraut war. Dem sowjetischen System entsprechend hätte der innere Kern des Verwaltungskaders aus Kommunisten bestehen müssen, doch gab es die unter den Einheimischen praktisch gar nicht. Nach den möglicherweise unvollständigen Angaben des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Lettlands waren bei Kriegsbeginn ungefähr 2000 Kommunisten evakuiert worden und 384 überwiegend mittlere und untere Funktionäre waren im deutsch besetzten Lettland verblieben. Der größere Teil der letzteren wurde kurz nach Beginn der deutschen Okkupation ermordet oder verstarb in Gefängnissen und Konzentrationslagern. Die wenigen Überlebenden hatten vor allem zu beweisen, dass sie nicht mit den Behörden der nationalsozialistischen Besatzungsmacht zusammengearbeitet hatten. Obwohl ganz zu Anfang vielfach noch ein gewisser Liberalismus geduldet wurde, so dass in unpolitischen Ämtern der Gebiets- und vor

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allem der Kreisverwaltung auch Vertreter der örtlichen Bevölkerung eingebunden werden konnten, bewirkte das für das sowjetische Regime typische Misstrauen gegenüber den Überlebenden der deutschen Okkupation doch, dass die Hauptrekrutierungsquelle zum Aufbau des Verwaltungsapparats aus Letten und Nichtletten bestand, die während des Krieges im sowjetisch beherrschtem Gebiet gelebt oder in Partisaneneinheiten gekämpft hatten. Erst in den Jahren 1944/1945 wuchs die Zahl der Kommunisten sehr schnell an. Das geschah jedoch nicht, weil die örtliche Bevölkerung plötzlich massenhaft in die Partei eingetreten wäre, sondern durch die massenhafte Entsendung von Angestellten der Verwaltungs- und Repressionsorgane aus Moskau. Während die Kommunistische Partei der Republik noch im September 1944 weniger als 600 Mitglieder und Kandidaten zählte, waren es zu Beginn 1945 schon über 3500 und Anfang Juni schon mehr als vor dem Krieg – über 6000 Personen. Ungefähr die Hälfte der Kommunisten waren ihrer Nationalität nach Russen, und ihr Anteil an der Zahl aller Kommunisten stieg noch weiter an, während die Letten (in der Mehrheit handelte es sich um ins Innere der Sowjetunion evakuierte Personen sowie um die in anderen Sowjetrepubliken lebenden Letten, die sogenannten Russlandletten) nur ungefähr ein Drittel ausmachten und sich ihr Anteil weiter verringerte. Genau in dieser Zeit bildete sich das Rekrutierungsmodell für die Verwaltungskader heraus, das mit einigen Änderungen bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion und der Wiedererlangung der Unabhängigkeit fortbestand. Dementsprechend wurden die Republiken von aus Moskau entsandten Funktionären verwaltet, auch wenn versucht wurde, diesen Umstand auf die eine oder andere Art und Weise zu kaschieren. In die führenden, öffentlich sichtbaren Positionen setzte man überwiegend Letten aus der Sowjetunion ein. Häufig sprachen diese entweder schlecht oder gar nicht Lettisch und waren eigentlich schon assimilierte Russen, doch vermittelte der lettische Familienname den Eindruck, als ob die Lettische Sowjetrepublik von Letten geführt würde. Die zweite wichtige Gruppe des Verwaltungspersonals bildeten Funktionäre anderer Nationalitäten, hauptsächlich Russen. Die einheimische Bevölkerung war nur auf der unteren und rein administrativen Ebene relativ stark vertreten, doch waren ihre Karrierechancen begrenzt. Bis auf die Ebene der höchsten Parteinomenklatura schafften es nur wenige. Ganz und gar widersprüchlich war die Einstellung gegenüber den einheimischen Kommunisten, die bis 1940 im Untergrund tätig gewesen waren. Während des ersten sowjetischen Okkupationsjahres 1940/1941 war ihre Rolle im sowjetischen Verwaltungssystem noch beträchtlich gewesen. Während des Krieges waren viele von ihnen umgekommen, aber die Überlebenden genossen Anerkennung, insbesondere diejenigen, die auf Seiten der Roten Armee oder in Partisaneneinheiten gekämpft hatten. Viele der jüngeren Vertreter dieser Gruppe kletterten schnell auf der Karriereleiter nach oben, doch die Mehrheit der früheren Untergrundkämpfer wurde bald in weniger wichtige Ämter – weit weg vom Machtzentrum – abgeschoben. Der Hauptgrund für die Marginalisierung der einheimischen kommunistischen Elite lag offenbar darin, dass viele von ihnen

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sich gegenüber der einheimischen Bevölkerung für die Folgen der sowjetischen Politik viel stärker als andere Funktionäre verantwortlich fühlten und häufig, wenn auch überwiegend ohne Erfolg, versuchten, die zerstörerischen Folgen der stalinistischen Politik zu mildern oder zumindest krasse Ungerechtigkeiten gegenüber einzelnen Personen zu verhindern. Überdies verstanden sie die Stimmung in der lettischen Gesellschaft besser und dachten tendenziell eher lokal, womit sie zwangsläufig in Widerspruch zu der strikt zentralistischen Politik und der Priorität imperialistischer Interessen gerieten. Während der Herrschaft Stalins war das Verhältnis zwischen Zentrum und Republiken nach einem strengen hierarchischen Prinzip strukturiert, und, wie einige Historiker gezeigt haben, befand sich der Grad der Zentralisierung auf einem einzigartigen Niveau: »In keiner einzigen Zivilisation, in keinem einzigen Staat der gesamten Weltgeschichte gab es eine solche Machtkonzentration in den Händen eines Kreises so weniger Personen«.1 Die Republiken wurden streng kontrolliert, was sich nicht allein auf den politischen Bereich, sondern ebenso auf die Finanz- und Wirtschaftspolitik bezog. Der Regierung der Lettischen SSR fehlten nicht nur die Erfahrung, sondern auch die personellen Ressourcen, um die Anweisungen aus Moskau umzusetzen, die zu Kriegsende und kurz danach hauptsächlich zwei Probleme betrafen: Den Widerstand gegen das sowjetische Regime zu brechen und landwirtschaftliche Produkte sowie Holz für den Staat zu beschaffen. Ähnliche Probleme bestanden auch in den anderen baltischen Republiken. Stalin wandte gern ad hoc geschaffene Institutionen zur Lösung von Verwaltungsproblemen an, und auch im Baltikum nutzte er zwei derartige Instrumente. Eines davon waren die besonderen Büros des Zentralkomitees der KPdSU in den baltischen Republiken, die von 1944 bis 1947 existierten. Das Büro für Lettland wurde anfänglich von Nikolaj Schatalin geleitet, später von Vasilij Rjazanov. Das Büro war Moskau direkt unterstellt, überwachte die Nomenklatura der Republik und mischte sich auch in Verwaltungsfragen der Republik ein. In Lettland wurde das insbesondere 1946 deutlich, als mehrere höhere Würdenträger ihre Ämter verloren, aber auch auf der unteren Ebene der Verwaltung weitgehende Säuberungen stattfanden. Obwohl sich die Führung der Republik sehr wohl bewusst war, dass sie auf diese Weise aus eigener Kraft weder den bewaffneten Widerstand gegen die Sowjetunion besiegen noch die Abgabenquote von den Bauern eintreiben konnte, litt sie unter der überaus strengen Kontrolle durch das Zentrum und dessen Ignoranz gegenüber örtlichen Gegebenheiten. Das zweite während der Stalinzeit angewandte Instrument der zentralen Verwaltung zur Kontrolle der Republik war die Institution des Bevollmächtigten. So arbeitete in Lettland bis 1949 ein Bevollmächtigter des UdSSR-Staatsplans mit seinem Stab, 1

Suprun, M.N.: Osobennosti razvitija stalinskoj modeli v poslevoennyj period (na materialach Evropejskogo Severa) (Besonderheiten des Stalinschen Modells in der Nachkriegsperiode (Aufgrund von Materialien des europäischen Nordens)). In: Sovetskoe gosudarstvo i obščestvo v period pozdnego stalinizma. 1945-1953. Moskau 2015, S. 428.

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der sich mit der Erstellung volkswirtschaftlicher Zielvorgaben für die Republik und deren Einhaltung befasste und somit in Konkurrenz zur Staatsplankommission der Republik stand. Auch andere zentrale Behörden Moskaus besaßen Bevollmächtigte in Lettland. Das strikt hierarchische Verwaltungssystem war schon zu Stalins Zeiten ineffektiv. Sein Funktionieren basierte in erheblichem Maße auf Repressionsmaßnahmen, die sich auch gegen höhere Führungspersonen der Republik richten konnten. Doch bewirkte diese Ordnung das Fehlen von Eigeninitiative und die mangelnde Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Nach dem Tod Stalins begann der neue Führer der UdSSR, Nikita Chruschtschow, nach anderen Wegen zu suchen, um das Verwaltungssystem der UdSSR zu verbessern. Dabei spielte auch die Frage eine besondere Rolle, wie das Verhältnis zwischen Zentrum und Republik neu gestaltet werden könnte. Die ad hoc Lösungen Moskaus sollten durch beständige Institutionen abgelöst werden. Eine dieser Neuerungen bildete die Institution des Zweiten Sekretärs der Kommunistischen Partei in den nichtslawischen Republiken, die dadurch gekennzeichnet war, dass »1) der Zweite Sekretär ein Russe oder Ukrainer sein musste, 2) der Erste Parteisekretär der Republik ein Vertreter der einheimischen Nationalität sein musste, der Zweite Sekretär jedoch die Aufsicht über die Tätigkeit des Ersten haben sollte, 3) der Zweite Sekretär vom Zentrum entsandt wurde und nicht in der [jeweiligen] Republik aufgewachsen war«.2 Der Zweite Sekretär bildete also die institutionalisierte Verbindung zwischen der Republik und Moskau. Obwohl zuweilen behauptet wird, dass der Zweite Sekretär einflussreicher als der Erste gewesen sein soll, war der Erste Sekretär doch die Hauptperson, die Erfolge seiner Tätigkeit hingen jedoch in starkem Maße von der gelungenen Zusammenarbeit mit dem Zweiten ab. Der zweite Bestandteil der Reformen Chruschtschows waren die Versuche, die staatliche und wirtschaftliche Leitung der Republiken durch eine Erhöhung ihrer Vollmachten effektiver zu gestalten. Am stärksten zeigte sich dieser Ansatz in dem 1957 verwirklichten Dezentralisierungsprojekt der Wirtschaft, demzufolge die Allunionsministerien liquidiert wurden und die Wirtschaftsunternehmen, die sich bisher in deren Zuständigkeit befunden hatten, neuen territorialen Volkswirtschaftsräten übergeben wurden. Bis zu dieser Reform hatte in Lettland nur etwa ein Fünftel der Industriebetriebe unter der Aufsicht der Republik gestanden. Jetzt gelangten wesentlich mehr Betriebe unter die Aufsicht der Republik, denn einige wurden auch direkt lettischen Ministerien unterstellt. Doch sollte man die Bedeutung der Dezentralisierung auch nicht übertreiben, denn die wichtigsten Bereiche – die Luftfahrt-, die Verteidigungs-, Radiotechnik- und die chemische Industrie blieben auch weiterhin unter der Kontrolle der Allunionsministerien. Der staatliche Wirtschaftsplan der UdSSR war auch weiterhin bei der 2

Grybkauskas, S.: Sovietinis «generalgubernatorius”: Komunistų partijos antrieji sekretoriai Sovietų Sąjungos respublikose (Sowjet – «Generalgouverneure”: Die Zweiten Sekretäre der Komunistischen Partei der Sowjetunion). Vilnius 2016, S. 12.

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Aufteilung der Investitionen zwischen den wichtigsten Bereichen bestimmend. In der Folge waren die Spielräume der Republiken also immer noch sehr begrenzt, aber doch etwas größer als zuvor. Die Dezentralisierung hatte viele Gegner in der Führung der UdSSR, weshalb schon 1961/1962 eine Rezentralisierung einsetzte, nach der Absetzung Chruschtschows die Volkswirtschaftsräte abgeschafft wurden und die Sowjetunion 1965 zu einem streng zentralistischen Modell der Wirtschaftsverwaltung zurückkehrte. Die mangelnde Effizienz der Wirtschaft versuchte man jetzt dadurch zu beheben, dass die Initiative nicht den Republiken oder Regionen überlassen wurde, sondern den Unternehmen selbst. Auch diese Reformen erreichten vor allem deshalb nicht die erhofften Resultate, weil weder Moskau selbst noch der Parteiapparat insgesamt die Kontrolle über diesen wichtigen Bereich verlieren wollten. Trotzdem kam es zu einer gewissen Stabilisierung in den Beziehungen zwischen »Zentrum« und Republiken. Die Erhöhung der Vollmachten für die Republik und die Dezentralisierung der industriellen Produktion nahmen viele der Führungspersönlichkeiten der Lettischen SSR in der zweiten Hälfte der 50er mit Enthusiasmus und der Hoffnung auf, dass so die Möglichkeit einer schnelleren Modernisierung entstünde, man so die Vorzüge der Wirtschaft Lettlands effektiver nutzen könne und dass die Republik selbst über die Prioritäten der wirtschaftlichen Entwicklung in Abhängigkeit von den Ressourcen und Notwendigkeiten entscheiden könne. Doch machten sie sich nicht hinreichend klar, dass Moskau und Chruschtschow persönlich ganz andere Vorstellungen von der Selbstständigkeit der Republik hatten – sie wollten dadurch die Bereitschaft der Republik steigern, die Erfüllung der vom Zentrum gestellten Aufgaben effektiver anzugehen, nicht aber um eigene Pläne und Prioritäten zu entwickeln. So drohte ein Konflikt, der sich im Juni und Juli 1959 auch in Lettland zum offenen Angriff auf die sogenannten Nationalkommunisten auswuchs. Einige Autoren, die sich mit dem Phänomen des Nationalkommunismus beschäftigt haben, betonen, dass Moskau in einen inneren Konflikt der Nomenklatura der lettischen Republik hineingezogen wurde. Dem kann man zum Teil zustimmen, doch sollte berücksichtigt werden, dass der lettische Fall einzigartig war. Ähnliche Stimmungen und Tendenzen herrschten zwar auch in anderen nationalen Republiken, und vom Moskauer Standpunkt aus gesehen waren das unerwünschte Kennzeichen des nationalen Partikularismus. Doch der Führungswechsel in Lettland, der zu Beginn noch recht behutsam vor sich ging (der Erste Sekretär des ZK der Lettischen KP, Jānis Kalnbērziņš, und der Vorsitzende des Ministerrates, Vilis Lācis, traten scheinbar freiwillig zurück, während der Stellvertretende Vorsitzende des Ministerrates, Eduards Berklavs, der als Hauptverteidiger des nationalen Partikularismus galt, zwangsweise seines Amtes enthoben wurde), wurde zum Signal für die Forderung an alle nationalen Republiken, Schulter an Schulter den gemeinsamen Weg zu gehen und nicht etwa eigene Wünsche und Möglichkeiten zu deren Verwirklichung zu äußern. Diese Kritik Moskaus nutzten der Propagandasekretär der Lettischen KP, Arvīds Pelše, und seine Gesinnungsgenossen zu ihren Gunsten aus. Sie übernahmen die Zügel der

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Macht und führten 1959-1961 eine sehr breite, wenn auch nicht öffentliche Säuberung der örtlichen Nomenklatura von allen denjenigen durch, die im Verdacht standen, Anhänger Berklavs zu sein oder denen generell liberale Tendenzen unterstellt wurden. Von diesen Säuberungen waren überwiegend Aktivisten der kommunistischen Untergrundorganisationen der Zwischenkriegszeit oder andere einheimische Kommunisten betroffen. Im Ergebnis des ”Umsturzes” von 1959 wurde das koloniale Modell in Lettland weiter ausgebaut. Bis in die zweite Hälfte der 80er Jahre hinein wurde die höchste Regierungsebene hauptsächlich von lettischen Funktionären gebildet, die in den 40er Jahren aus der Sowjetunion nach Lettland gekommen waren, oder von deren Nachfahren, die per Definition als homines sovietici galten, die Moskau treu ergeben waren. Großen Einfluss besaß auch die transnationale Nomenklatura – die Leiter der großen den Allunionsministerien untergeordneten Industrie- und Transportunternehmen sowie die Befehlshaber der in Lettland stationierten bewaffneten sowjetischen Verbände. Im Unterschied zu Litauen und Estland waren die Letten in der Organisation der KP der Republik in der Minderheit. Auch in der Nomenklatura war der Einfluss der einheimischen Letten nur auf regionaler Ebene relativ stark, in den großen Städten und in der Republik insgesamt jedoch sehr gering. In der zweiten Hälfte der 80er Jahre und unter dem Einfluss der Nationalen Bewegung spaltete sich dann die Lettische KP und ihre Nomenklatura. Die Konfrontation zwischen den Verteidigern des sowjetischen Imperiums, die sich in der sogenannten Interfront versammelten, und den Anhängern der Unabhängigkeit war in der Partei außerordentlich scharf; zunächst überwogen die, die für den Fortbestand des Imperiums eintraten.

Die Beziehungen zwischen Macht und Gesellschaft: Repressionen, Widerstand und Kollaboration Zur Stalinzeit waren Repressionen die Grundlage des sowjetischen Systems. Die Repressionen oder deren Androhung wurden nicht nur angewendet, um reale oder vermeintliche Gegner zu unterdrücken, sondern auch zur Lösung von wirtschaftlichen und sozialen Fragen, zum Beispiel um die Arbeitsdisziplin aufrechtzuerhalten oder um die Bürger dazu zu zwingen, den Staatshaushalt mit Hilfe von inneren Staatsanleihen zu finanzieren. Bei der Verurteilung eines jeden Vergehens, sei es kriminell oder nur administrativ, musste das Gericht auch die soziale Herkunft des Angeklagten berücksichtigen. Wenn dieser der früheren wohlhabenden Oberschicht oder bourgeoisen politischen Kreisen entstammte, musste das Strafmaß härter sein. Die größte Angst und Unsicherheit verursachten die politischen Repressionen, die in den Jahren 1944 bis 1953 breite Bevölkerungsschichten erfassten – von den Arbeitern und Bauern bis zur kulturellen Elite. Auf die eine oder andere Weise wurden 170.000 bis 200.000 Einwohner Lettlands Opfer des Terrors. Er begann

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unmittelbar nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in lettisches Territorium und wurde von verschiedenen sowjetischen Sicherheitsorganen durchgeführt – dem militärischen Geheimdienst Smersch (Abkürzung aus dem Russischen: Smert‘ špionam!, Tod den Spionen!), den Kampfverbänden des Innenministeriums und den Vernichtungsbataillonen. Die Hauptrolle bei der Durchführung der Repressionen spielte jedoch das Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten der Lettischen SSR (LPSR NKVD) und das Volkskommissariat für Staatssicherheit (LPSR NKGB). Seit 1946 wurden diese Kommissariate in Ministerien umbenannt – also in Innenministerium (MVD) und Staatssicherheitsministerium (MGB). Zu Kriegsende und unmittelbar danach war die Zusammenarbeit mit deutschen Besatzungsbehörden der Hauptgrund für Verhaftungen. Diese Anklagen konnten sowohl den Dienst in der Wehrmacht, in der Polizei oder in anderen militärischen und paramilitärischen Einheiten beinhalten als auch die Ausübung einer Verwaltungstätigkeit, und zuweilen richteten sich die Anschuldigungen sogar gegen Personen, die zur Zeit der deutschen Besatzung im Ghetto oder im Konzentrationslager gewesen waren. Im Jahr 1945 wurden die meisten Personen verurteilt – beinahe 15.000, überwiegend wegen der Zusammenarbeit mit den deutschen Besatzern. Dabei genügte im allgemeinen allein die Zugehörigkeit zu bestimmten Formationen oder Ämtern. Konkrete Vergehen, wie z. B. die Teilnahme an Judenerschießungen, interessierten die sowjetischen Repressionsorgane wenig. In den folgenden Jahren waren unter den Opfern der Repressionen vor allem die Kämpfer des bewaffneten Widerstandes und deren Unterstützer. Eine beträchtliche Zahl wurde auch aufgrund antisowjetischer Agitation verurteilt, was für gewöhnlich Vergehen wie das Erzählen von Anekdoten oder die öffentlich oder im Freundeskreis bekundete Unzufriedenheit mit den Zuständen in der Sowjetunion usw. umfasste. Darüber hinaus konnte man auch für das Engagement in der Republik der Zwischenkriegszeit verurteilt werden. Diese Repressionen erfolgten nicht selten in Form von Kampagnen. So wurden z.B. Anfang der 50er Jahre fast alle noch in Lettland verbliebenen Führer der lettischen Sozialdemokratie verurteilt. 1953 schließlich wurde eine antisemitische Aktion begonnen, aber wegen Stalins Tod nicht mehr vollständig zu Ende geführt. Zu ihren Opfern gehörten mehrere Vertreter der jüdischen Intelligenz, z.B. der linke Publizist Maks Šac-Anin. In der sowjetischen Rechtspraxis bedeutete Verhaftung immer auch automatisch Verurteilung. Die Gerichtsorgane bestätigten nur die zuvor gesammelten «Beweise” der Ermittlungsbehörden und das vorgeschlagene Strafmaß, das sich meistens zwischen 10 und 25 Jahren Haft bewegte und darüber hinaus vorsah, dass sich der Verurteilte nach der Haft noch weitere fünf Jahre im inneren Exil ohne Rückkehrrecht aufhalten musste. Wer für politische Verbrechen verurteilt worden war, wurde in den Gulag verbracht, weit von Lettland entfernt im russischen Norden oder in Sibirien. Eine häufig geübte Form der stalinistischen Repression waren die Deportationen, also die administrativ geplanten Verschickungen von großen Bevölkerungsgruppen ohne Gerichtsurteil. Verschleppungen kleineren Umfangs erfolgten auch

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noch während des Krieges. So wurden im Februar 1945 mehr als 600 Deutsche, Staatenlose und ihre Familienangehörigen aus Riga deportiert. Auch Familienangehörige von verurteilten sogenannten Vaterlandsverrätern wurden deportiert. Doch die größte Deportation ereignete sich am 25. März 1949, als 42. 125 Menschen (2,2 Prozent der Bevölkerung) nach Sibirien verschleppt wurden.3 Die absolute Mehrheit bildeten ländliche Bewohner, und mit ihrer Deportation sollten zwei Probleme gleichzeitig gelöst werden: Die Bauernschaft sollte eingeschüchtert werden, um ihren massenhaften Eintritt in die Kolchosen zu erzwingen, und damit sollte zugleich der bewaffnete Widerstand gegen die Sowjetmacht endgültig gebrochen werden. Als die Deportierten in Sibirien ankamen, wurde ihnen gesagt, dass sie für immer »umgesiedelt« worden seien. Der psychologische Effekt der Deportation vom 25. März 1949 auf die Gesellschaft war gewaltig. Weil die Mehrheit der Deportierten Letten waren, herrschte die Überzeugung vor, dass es das Ziel sei, alle Letten zu deportieren und dass auf diese Aktion noch weitere folgen würden. Sehr schnell wurde eines der Deportationsziele erreicht – der Widerstand der Bauern gegen die Kolchosen war gebrochen. Ende 1948 waren in der Kolchose nur etwa 12 Prozent der bäuerlichen Höfe vereinigt, doch Anfang Juli 1949 waren es schon mehr als zwei Drittel. Widersprüchlich waren dagegen die Ergebnisse mit Blick auf das Ziel der Beendigung des bewaffneten Widerstandes. Ohne Frage hatte die Deportation viele Förderer der Partisanen getroffen, zumal die Kollektivierung die Kontrolle der ländlichen Bevölkerung erheblich erleichterte. Denn nach dem Eintritt in die Kolchose war es für die Bauern sehr viel schwieriger, die Partisanen etwa mit Lebensmitteln zu unterstützen, denn der größte Teil des Viehs und des Landes war an die Kolchose abzugeben, während auf den Höfen der Kolchosbauern nur eine sehr beschränkte Zahl an Vieh und nur 0,5 Hektar zur häuslichen Bewirtschaftung verblieb. Die Mehrheit der Kolchosbauern geriet in eine Situation, in der es ihnen sehr schwer fiel, selbst die eigene Familie zu ernähren, von einer Unterstützung der Partisanen ganz zu schweigen. Dennoch verstärkte sich der Kampf der nationalen Partisanen unmittelbar nach der Deportation, denn ihre Reihen wurden durch die Bauern verstärkt, die vor der Deportation in den Wald geflüchtet waren, um sich zu retten und sich an den Vertretern der Sowjetmacht für die Deportation zu rächen. Doch war die Partisanenbewegung im Frühjahr 1949 längst nicht mehr auf dem Stand, auf dem sie 1945/1946 gewesen war, und die Partisanen hatten die Durchführung der Deportation nicht im geringsten verhindern können. Nach dem Tod Stalins änderte sich die Repressionspolitik in der Sowjetunion grundlegend. Der Gulag wurde schrittweise abgebaut, Verfahren politisch Inhaftierter wurden revidiert, die Mehrheit erhielt eine Haftminderung oder wurde ganz rehabilitiert. Auch die Deportierten erhielten zunächst Hafterleichterungen, und 1958 durften diejenigen nach Hause zurückkehren, die als »Kulaken« deportiert worden waren. Die Befreiung der anderen Kategorien der Deportier3

Āboliņa, A., Kalnciema, A., Kļaviņa, D., Riekstiņš, J., Šķiņke, I.: The Structural Analysis of the Deportation of March 25, 1949. In: Aizvestie: 1949. gada 25. marts. Riga 2007, S. 193-206.

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ten erfolgte erst Anfang der 60er Jahre. Bemerkenswerterweise betrachtete die Führung der Lettischen SSR, ganz besonders natürlich das Komitee für Staatssicherheit, die Liberalisierungspolitik mit gemischten Gefühlen, denn man befürchtete, dass eine massenhafte Rückkehr der Deportierten die antisowjetische Stimmung in Lettland anheizen könnte. Der Wechsel der Repressionspolitik war in der Sowjetunion mit einem Wandel ihrer ideologischen Rechtfertigung verbunden. Bis 1953 hatte man den Terror mit Stalins These gerechtfertigt, dass die Stärkung des sozialistischen Systems den Widerstand seiner Gegner vergrößern würde. Nach Stalins Tod galt als neue Doktrin, dass die sozialistische Ordnung nicht nur auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet gesiegt habe, sondern auch in den Köpfen der Menschen angekommen sei, womit der Widerstand seine soziale Basis verloren habe. Die Gegner der Sowjetmacht wurden jetzt als isolierte, sozial unvollkommene Individuen eingestuft, deren Auffassungen entweder auf äußere Einflüsse (ungünstiger Familienverhältnisse oder ausländische Propaganda) zurückzuführen seien oder von psychologischer Instabilität zeugten. Der Umfang der Repressionen ging zwar schnell zurück, doch die Erinnerungen an die Repressionen der Stalinzeit wie auch die Politik der Stigmatisierung politischer Häftlinge erwiesen sich als hinreichend wirkungsvoll, um die Gesellschaft unter Kontrolle zu halten. Zu Kriegsende war die soziale Basis des sowjetischen Regimes äußerst schmal, ihre Anhängerschaft minimal. Die Mehrheit der Einwohner hoffte vielmehr, dass die sowjetische Herrschaft in Lettland nicht von langer Dauer sein würde und dass die westlichen Mächte Stalin auf die eine oder andere Weise dazu zwingen würden (durch Krieg oder auf diplomatischem Weg), den baltischen Staaten die Unabhängigkeit zurückzugeben. Der bewaffnete Widerstand, der sich seit dem Herbst 1944 entfaltete, stützte sich auf die Überzeugung, dass die entscheidende Aufgabe darin bestehe, Kräfte zu sammeln, um Lettland von der sowjetischen Okkupation zu befreien, sobald es zum bewaffneten Konflikt zwischen der UdSSR und ihren früheren westlichen Verbündeten kommen würde. Daher wurden die ersten Partisanenverbände sehr oft nach dem Muster von Militäreinheiten gebildet, mit militärischen Dienstgraden, Dienstordnungen usw. In den Jahren 1944-1946 war die Partisanenbewegung sehr stark. Von ihrer Stärke in einigen Rayons zeugt der präzedenzlose Fall, dass im September 1945 im nordöstlichen Teil Lettlands für zwölf Tage der sogenannte Alsviķi-Waffenstillstand zwischen dem NKVD der Lettischen SSR und den Partisanen geschlossen wurde, der im gesamten Kreis Valka in Kraft war. Es bildeten sich auch mehrere territoriale Partisanenverbände und verschiedene Gruppen schlossen sich zu Organisationen zusammen, aber dennoch gelang es nicht, eine Organisation zu schaffen, die die Partisanenaktivität auf dem gesamten Territorriums Lettlands koordiniert hätte. Nach Einschätzung der sowjetischen Sicherheitsorgane beteiligten sich an der Partisanenbewegung in den Jahren 1944-1956 etwa 13.000 Menschen, von denen 10.000 aktive Kämpfer und die übrigen aktive Förderer waren. Die Zahl derjenigen, die sich in der Illegalität befanden, war sogar noch größer, aber nicht alle wollten oder konnten sich am aktiven Widerstand beteiligen. Die Kräfte der Antipartisaneneinheiten erwiesen sich

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überdies als übermächtig. Sie nutzten verschiedene Methoden, um den bewaffneten Widerstand zu brechen – von der Aufforderung sich legalisieren zu lassen bis hin zum Terror gegenüber Familienangehörigen. Auch die am Kriegsende und auch danach noch weit verbreitete Hoffnung, dass der Westen zu Hilfe kommen würde, erfüllte sich nicht, und der bewaffnete Widerstand wandelte sich zunehmend zum verzweifelten Kampf kleiner Gruppen oder sogar einzelner Individuen ums Überleben – ein Kampf, der jedoch immerhin bis 1957 andauerte. Die Widerstandsbewegung beschränkte sich jedoch nicht nur auf den bewaffneten Kampf. In den Nachkriegsjahren entstanden in den Städten und auf dem Lande viele Widerstandsgruppen, die es als ihre Aufgabe betrachteten, durch gewaltlose Maßnahmen die antisowjetische Stimmung in der Gesellschaft aufrechtzuerhalten – durch die Herausgabe von Untergrundzeitungen, in denen sie die Gesellschaft über die internationale Lage informierten, oder durch symbolische Aktionen wie z.B. das Hissen der Nationalflagge auf öffentlichen Plätzen. In der Mehrheit der Fälle wurden diese Maßnahmen von Schülern oder Studierenden, also Jugendlichen, durchgeführt. Die Grenze zwischen bewaffnetem und unbewaffnetem Widerstand war ausgesprochen fließend. Einige Partisanenorganisationen und Gruppen gründeten bewusst unbewaffnete Jugendorganisationen. Auch umgekehrt waren viele jugendliche Widerstandsorganisationen bestrebt, Verbindungen zu den Partisanen zu bekommen. Ebenso wie der Partisanenkampf ließ auch der unbewaffnete Widerstand nach der Massendeportation vom 25. März 1949 nach, doch ist er niemals ganz verschwunden. Die Niederlage des bewaffneten Widerstandes, die Abschwächung der politischen Repression und die allgemeine Stabilisierung der Lage zur Mitte der 50er Jahre veränderten auch die Formen des Widerstandes. Dazu trug auch das Scheitern des Ungarischen Aufstands von 1956 bei, der zur Enttäuschung großer Teile der lettischen Gesellschaft zeigte, dass das sozialistische System ausreichend stabil und der Westen nicht bereit war, antisowjetische Kräfte zu unterstützen. Danach waren auch in Lettland immer weniger Menschen bereit, sich an antisowjetischen Aktivitäten zu beteiligen. In den Vordergrund traten nun gewaltlose Aktionen einzelner Personen oder Gruppen wie etwa das Hissen der Nationalflagge an gut sichtbaren Orten, das Verteilen von Flugblättern sowie individuelle Briefe an Redaktionen von Zeitungen oder in der Gesellschaft besonders angesehene Persönlichkeiten. Durch den wachsenden Kontakt zur Außenwelt tauchten auch neue Formen des Protestes auf, z.B. die Versendung von Briefen an ausländische Radiosender, Organisationen oder Verwandte, in denen die sowjetische Herrschaft verurteilt und über die Zustände in Lettland berichtet wurde. Im Unterschied zur Stalinzeit gelangten so nun häufiger Informationen über die politischen Gefangenen ins Ausland und die antisowjetische Bewegung erhielt von dort moralische Unterstützung. Es gab auch Versuche seitens der Exilletten, den verfolgten Menschen und Gruppen ideologische und materielle Hilfe zukommen zu lassen. In dieser Hinsicht waren die Aktivitäten des in Westdeutschland lebenden Theologen Pauls Kļaviņš am erfolgreichsten. Er war Ende der 60er Jahre in die christliche Men-

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schenrechtsorganisation Hilfsaktion Märtyrer-Kirche eingebunden, deren Radio eine lettische Sendung »Die Stimme der Stille« ausstrahlte. 1977 gründete P. Kļaviņš die Organisation »Aktion des Lichts«, deren Aufgabe es war, Christen sowie auch politisch Verfolgte und ihre Verwandten in Lettland zu unterstützen. Ein wichtiger Teil ihrer Arbeit bestand in der Beschaffung von religiöser Literatur für die Einwohner Lettlands sowie in der Unterrichtung des Westens über die Menschenrechtssituation in Lettland. Die Gegner des Sowjetregimes, die in den 60er bis 80er Jahren für das Recht eintraten, das Sowjetregime zu kritisieren, um ihre politische, intellektuelle und religiöse Integrität zu wahren, bezeichnet man oft als Dissidenten. Die Dissidenz war eine friedvolle Methode zur Verteidigung der Menschenrechte in der Sowjetunion, die die Beachtung der in der sowjetischen Verfassung selbst verankerten Prinzipien der Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit einforderte. Die zentrale Frage für die lettischen Dissidenten blieb dabei die Frage nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit Lettlands. Doch während man in den 40er Jahren gehofft hatte, dieses Ziel im bewaffneten Kampf zu erreichen, standen jetzt gewaltlose Mittel im Vordergrund: Petitionen und Aufforderungen zur Anwendung jener Prinzipien, die in den Statuten der Vereinten Nationen oder allgemeinen Menschenrechtsdeklarationen verankert waren. Mit diesen Zielen erklärten sich auch Dissidenten aller drei baltischen Staaten solidarisch. So unterschrieben 1979 mehr als 40 baltische Dissidenten eine Deklaration »Baltische Charta«, in der sie forderten, den Hitler-Stalin-Pakt zu annullieren und dessen Folgen, also die sowjetische Okkupation des Baltikums, zu beenden. Man muss festhalten, dass die Situation für die Dissidenten in Lettland im Vergleich zu Estland und Litauen am schwierigsten war, da die Führung der Republik und der KGB gnadenlos und effektiv danach strebten, keinerlei Formen des Widerstandes zuzulassen. Es ist außerdem nicht zu leugnen, dass Kollaboration verbreiteter war als Widerstand. Doch ist es in diesem Fall wichtig genau zu definieren, was wir darunter verstehen wollen. Stanley Hoffmann schlägt vor, zwischen Kollaboration und Kollaborationismus zu unterscheiden. Kollaboration ist demnach die Zusammenarbeit zwischen besiegtem Staat und Sieger, und sie stützt sich auf eine Art raison d’état – retten was zu retten ist. Mit dieser Strategie kann man das Verhalten von Kārlis Ulmanis und seiner Regierung im Juni 1940 erklären, aber in den Nachkriegsjahren war eine solche Kollaboration mit der Sowjetmacht nicht mehr möglich. Die einzige Verhaltensstrategie, die das Sowjetregime akzeptierte, war Kollaborationismus, also die offene und freiwillige Zusammenarbeit. Kollaboration/Kollaborationismus ist nur dann möglich, wenn ein unabhängiger Staat nach der Eroberung durch eine fremde Macht entweder noch in irgendeiner Form weiterexistiert oder zumindest die Hoffnung oder Möglichkeit besteht, dass er seine Unabhängigkeit wiedergewinnen könnte. Im lettischen Fall bedeutet dies, dass wir von Kollaborationismus während des Zweiten Weltkrieges sprechen können und möglicherweise auch für eine gewisse Zeit danach – bis in die zweite Hälfte der 50er Jahre. Die Forschung zu den Nachkriegsjahren lässt die Schlussfolgerung zu, dass zu dieser Zeit die Verhaltensstrategien noch

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immer wesentlich durch die Hoffnung auf die Wiederherstellung der Unabhängigkeit beeinflusst waren. Die Hoffnung verschwand in der zweiten Hälfte der 50er Jahre, und das veränderte auch die Verhaltensstrategie der Gesellschaft zumindest in dem Maße, dass die Erneuerung der Staatlichkeit Lettlands nicht mehr der zentrale Bezugspunkt für das Verhalten bleiben konnte. Die bekannten Formen der Zusammenarbeit mit dem sowjetischen Regime (z.B. die Arbeit im Apparat der KP oder in den Sicherheitsorganen) waren immer noch für einen großen Teil, wenn nicht die Mehrheit der Gesellschaft inakzeptabel; trotzdem war klar, dass Warten und Verweigerung nicht mehr länger die beste Strategie sein konnte. In den Vordergrund trat eine andere Frage – das Überleben des lettischen Volkes (das physische Überleben, die Rettung seiner Sprache und Kultur) und die Festigung seiner Position in der Verwaltung und Wirtschaft der Republik. Diese Ziele waren nicht ohne Zusammenarbeit mit der Sowjetmacht zu erreichen, doch ist es problematisch, diese Zusammenarbeit als Kollaborationismus zu bezeichnen, obwohl in den 60er Jahren tatsächlich viele glaubten, dass das sowjetische Regime sich in eine liberalere Richtung bewegen könnte und es wichtig sei, in den staatlichen Strukturen zu arbeiten, um diese Entwicklung beeinflussen zu können. Obwohl der Einmarsch der Warschauer Pakt-Staaten in der Tschechoslowakei 1968 die Hoffnungen auf eine liberalere UdSSR weitgehend begrub, blieb die Idee, dass man die Entwicklung der Republik positiv beeinflussen könne, auf der Tagesordnung. Die Grenzziehung zwischen Kollaborationismus und Widerstand wurde in einer solchen Situation äußerst verschwommen. Erst am Ende der 80er Jahre aktualisierte sich die Frage der Loyalität gegenüber dem Staat erneut, als die Wiedererlangung der lettischen Selbständigkeit zum erreichbaren Ziel wurde. Für diese Zeit kann man wieder von Kollaborationismus sprechen, denn die Haltung zur Wiederherstellung der staatlichen Unabhängigkeit wurde nun wieder zum entscheidenden Kriterium für die Bewertung des Verhaltens der Einwohner und der Politiker Lettlands.

Sozialer und wirtschaftlicher Wandel Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in Lettland noch einen privaten Sektor in der Wirtschaft. Dieser war im Bereich der industriellen Produktion minimal (nicht mehr als ein Prozent), im Bereich Handel und Dienstleistungen gering (bis zehn Prozent), jedoch dominierend in der Landwirtschaft. Bis 1947 waren Privatunternehmen im Handel, im Dienstleistungssektor und in der Industrie liquidiert. Da der staatliche Sektor jedoch nicht in der Lage war, die Bevölkerung hinreichend mit den nötigen Waren und Dienstleistungen zu versorgen, hielt sich ein begrenztes privates Unternehmertum, indem es in den »grauen« oder gar »schwarzen« Bereich wanderte. Als sehr viel komplizierter erwies sich die Aufgabe, die Bauern zur Vereinigung in Kolchosen zu zwingen. Die massive Erhöhung von Steuern und Abgaben als

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Hebel zeitigte kaum Ergebnisse, denn die Bauern hingen an ihren Höfen und ihrem Lebensstil und versuchten verzweifelt, sie zu erhalten. Erst die Deportation vom 25. März 1949 bewog den größeren Teil der Bauern zum Eintritt in die Kolchosen. Doch das bewahrte die Bauern nicht vor weiteren Zwangsmaßnahmen, denn auch die Kolchosbauern wurden zum Objekt der stalinistischen Politik der inneren Kolonisierung und der damit verbundenen Ausbeutungspolitik. Sowohl die Kolchosen als auch die kleinen Hoflandwirtschaften der Kolchosbauern (maximal 0,5 ha), die sie in eigener Regie bewirtschaften durften, wurden mit kaum bezahlbaren Steuer- und Abgabenlasten belegt. Die kurz- und langfristigen Folgen der Kollektivierung der Landwirtschaft erwiesen sich hinsichtlich der Produktivität als katastrophal, und selbst in den offiziellen Statistiken konnte man dies nicht verheimlichen. Obwohl die sowjetische Führung Mitte der 50er Jahre ihre Landwirtschaftspolitik änderte, die Steuern und Abgaben senkte, die staatlichen Preise zum Kauf landwirtschaftlicher Produkte erhöhte und die Investitionen in der Landwirtschaft steigerte, erreichte die Getreideproduktion erst 1987 wieder das Niveau von 1940, bei Kartoffeln gelang dies sogar nur in einem einzigen Jahr, nämlich 1970 aufgrund günstiger Wetterbedingungen; die Fleischproduktion hatte bereits am Ende der 50er Jahre, die Milchproduktion Mitte der 60er Jahre das Vorkriegsniveau erreicht. Außerdem kam in allen Bereichen – Getreide ausgenommen – ein wesentlicher Teil nicht von den Kolchosen, sondern von den kleinen Hoflandwirtschaften. Diese produzierten 1960 ungefähr die Hälfte der Milch, des Fleisches und der Eier. In den 70er und 80er Jahren trat die Bedeutung der kleinen Hoflandwirtschaften allmählich in den Hintergrund, einmal aufgrund der Alterung der ländlichen Bevölkerung und zum anderen, weil die Kolchosbauern besser bezahlt wurden und somit die Einkünfte aus den Hoflandwirtschaften zur Befriedigung der täglichen Bedürfnisse keine große Rolle mehr spielten. Obwohl die Erzeugnisse der Landwirtschaft Lettlands hauptsächlich in der Republik verbraucht wurden, muss man berücksichtigen, dass die Einwohnerzahl der lettischen Städte massiv anstieg und von den in der Republik erzeugten Produkten auch die im Baltikum stehenden militärischen Einheiten versorgt werden mussten. So war die Versorgung mit Lebensmitteln ein permanentes Problem, obwohl die Situation in Lettland bis in die Mitte der 70er Jahre insgesamt besser war als in anderen Regionen der UdSSR. Wenn die lettische Landwirtschaft bis zum Zweiten Weltkrieg eine der stärksten der Region gewesen war, so begann sie in den 70er und 80er Jahren deutlich hinter Estland und Litauen zurückzufallen, denn damals richtete die Führung der Republik ihr Hauptaugenmerk auf die Entwicklung der Industrie. Die sogenannte sozialistische Industrialisierung kann als einer der unbestreitbaren Erfolge der Sowjetherrschaft in Lettland gelten. Tatsächlich wuchs die industrielle Produktion zwischen 1940 und 1950 nach offiziellen Angaben etwa um das Dreifache. Doch verschwieg die sowjetische Propaganda, die das unabhängige Lettland vor 1940 stets als ein zurückgebliebenes Agrarland darstellte, dass 1940 der Urbanisierungsgrad in Lettland höher gewesen war als in der Sowjet-

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union und es außerdem schon eine solide industrielle Infrastruktur gegeben hatte. Das machte Lettland zur idealen Basis für eine Industrialisierung mit minimalem Kostenaufwand. Das einzige, was fehlte, waren Arbeitskräfte, doch die kamen massenhaft aus den nahen und kriegszerstörten Gebieten Weißrusslands und Russlands. Ihr Zustrom erfolge sowohl organisiert als auch ungeordnet. Insgesamt wurde die sozialistische Industrialisierung jedoch weniger im Interesse Lettlands als vielmehr im Interesse der gesamten UdSSR durchgeführt, die meisten Unternehmen waren als Produktionsstätten für die gesamte Union ausgelegt. Die Einwohner Lettlands konnten denn auch das industrielle Potenzial ihrer Republik eher auf der Ausstellung der Erfolge der Volkswirtschaft in Mežaparks (Kaiserwald) als in den Regalen der Geschäfte kennenlernen. Als in den 80er Jahren die Arbeitskraftreserven in der gesamten Sowjetunion mit Ausnahme der zentralasiatischen Republiken knapp wurden, löste das eine substantielle Krise aus, die auch Lettland berührte. Als Resultat der Industrialisierung veränderte sich die nationale Zusammensetzung der Bevölkerung rasch. Schon infolge des Krieges und der Repressionen hatte sich die Bevölkerungszahl Lettlands in einem Maße verringert, das man geradezu als demographische Katastrophe bezeichnen kann. Im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges verschwanden zwei Ethnien fast vollständig, die bis 1940 das politische, wirtschaftliche und kulturelle Leben Lettlands entscheidend geprägt hatten, die Deutschen und die Juden. Die Deutschen (1935 62.100) wurden im Zuge der Vereinbarungen zum Hitler-Stalin-Pakts umgesiedelt4. 1959 lebten noch 1.600 Deutsche in Lettland, denen aber die Pflege deutscher Sprache und Kultur in der Stalinzeit verwehrt war und die daher sehr weitgehend assimiliert waren. Wenn die Volkszählung von 1970 5.400 Deutsche auswies, so lag das daran, das seit den 60er Jahren eine große Zahl von Deutschen aus Russland, Kasachstan oder anderen Republiken in der Hoffnung nach Lettland gekommen war, von hier aus leichter in die BRD übersiedeln zu können oder hier ein geordneteres Leben als in Russland und Zentralasien führen zu können. Diese Umsiedler waren überwiegend russischsprachig und ihre kulturellen deutschen Traditionen unterschieden sich stark von denen der Menschen deutschbaltischer Herkunft. Eine gewisse Verbindung zwischen diesen beiden Gruppen schuf die evangelisch-lutherische Kirche. 1966 erlaubten die Behörden offiziell die Gründung einer deutschen Gemeinde in Riga. Ab 1969 war es Pastor Haralds Kalniņš erlaubt, deutsche Gläubige auch in anderen Republiken der UdSSR zu besuchen, und 1981 wurde er zum Superintendenten mit bischöflichen Rechten für die gesamte deutsche evangelische Gemeinde der Sowjetunion in Tallinn ordiniert. Seine unter schwierigsten Bedingungen ausgeübte Tätigkeit spielte eine wesentliche Rolle nicht nur für das religiöse Leben der Deutschen in der Sowjetunion, sondern auch für die Bewahrung ihrer kulturellen Identität. Die jüdische Minderheit fiel nahezu vollständig dem Holocaust zum Opfer.5 Von 90.000 Juden Lettlands wurden etwa 70.000 ermordet. Nach dem Krieg ge4 5

Vgl. dazu den Beitrag von B.Conrad in diesem Band, S 50. Vgl. dazu den Beitrag von T.Plath in diesem Band, S 78-80.

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langten zunächst zahlreiche Juden aus anderen Republiken der UdSSR nach Lettland, doch begann seit den 70er Jahren eine massenhafte Auswanderung nach Israel und in die USA, wodurch sich die Zahl der Mitglieder der jüdischen Gemeinde drastisch verringerte. Infolge des Krieges und der Repressionen ging auch die Zahl der Letten stark zurück. Demographische Forschungen bezeugen, dass sich der gesamte Bevölkerungsverlust in der Zeit von 1940 bis 1959 auf etwa 325.000 belief (etwa 17 Prozent der Vorkriegsbevölkerung), davon 267.000 Letten. In den Jahren 19591988 befanden sich die Letten hinsichtlich der Fertilitätsrate auf dem letzten Platz aller Völker der UdSSR. In den 80er Jahren besserte sich die Situation etwas, weil in der gesamten UdSSR Maßnahmen zur Geburtenförderung ergriffen wurden. In den Jahren 1945 bis 1959 kamen etwa 400.000 Menschen aus Russland und Weißrussland nach Lettland (einschließlich der in Lettland geborenen Kinder). In den folgenden 30 Jahren wanderten weitere 708.000 nach Lettland ein. Das durch die Immigration verursachte Bevölkerungswachstum in Lettland war das höchste der gesamten Sowjetunion und sogar in ganz Europa einzigartig. Im Ergebnis veränderte sich jedoch die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung der LSSR grundlegend. Die Angehörigen der slawischen Nationen (Weißrussen, Russen, Ukrainer) bildeten 1989 bereits 42% der Bevölkerung, während sich der lettische Anteil von 77% im Jahre 1935 auf 52% im Jahre 1989 verringerte (siehe Tabelle 1). Tabelle 1:  Veränderungen der Einwohnerzahl und der ethnischen Zusammensetzung in Lettland 1935-1989 Jahr Nationalität Gesamtbevölkerung

1935

1959

1970

1979

1989

Tsd.

%

Tsd.

%

Tsd.

%

Tsd.

%

Tsd.

%

1905,4

100

2093,5

100

2364,1

100

2502,8

100

2666,6

100

1467,0 77,0

1297,9

62,0

1341,8

56,8

1344,1

53,7

1387,8

52,0

darunter: Letten Russen

168,3

8,8

556,4

26,6

704,6

29,8

821,5

32,8

905,5

34,0

Weißrussen

26,8

1,4

61,6

2,9

94,9

4,0

111,5

4,5

119,7

4,5

1,8

0,1

29,4

1,4

53,5

2,3

66,7

2,7

92,1

3,4

Polen

48,6

2,5

59,8

2,9

63,0

2,7

62,7

2,5

60,4

2,3

Litauer

22,8

1,2

32,4

1,5

40,6

1,7

37,8

1,5

34,6

1,3

Juden

93,4

4,9

36,6

1,7

36,7

1,5

28,3

1,1

22,9

0,9

Deutsche

62,1

3,3

1,6

0,1

5,4

0,2

3,3

0,1

3,8

0,1

andere

15,1

0,8

17,8

0,9

23,6

1,0

26,9

1,1

39,8

1,5

Ukrainer

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Diese verstärkte Migration verursachte Spannungen in der Gesellschaft. Sie war vor allem mit dem zunehmenden Gebrauch des Russischen nicht nur in der offiziellen Kommunikation in den Behörden, sondern auch im alltäglichen Zusammenleben, auf den Straßen, in den Geschäften, im öffentlichen Nahverkehr usw. verbunden, aber auch mit sozialen und ökonomischen Problemen. So wurde z.B. die Migration dafür verantwortlich gemacht, dass die Letten kaum noch an den größten Defizitartikel der sowjetischen Gesellschaft – nämlich Wohnungen – kamen oder dass sie in einigen Arbeitsbereichen und Berufen diskriminiert wurden. Glasnost und Perestroika eröffneten erstmals die Möglichkeit, über solche Probleme offen zu sprechen, und das Migrationsproblem wurde sofort zu einem der Hauptthemen in der Presse und in den öffentlichen Diskussionen. Die Politik der Sowjetmacht veränderte jedoch nicht nur die ethnische Zusammensetzung Lettlands, sondern auch die soziale Struktur. Die Vielfältigkeit der Gesellschaft wurde auf drei soziale Kategorien reduziert – Arbeiter (zu denen auch die in den staatlichen Landwirtschaftsbetrieben Beschäftigen zählten), Kolchosbeschäftigte und Bedienstete. Diese Kategorien hatten nicht nur statistische, sondern auch politische Bedeutung, denn in den 40er bis 60er Jahren entschied die Zugehörigkeit zu einer dieser Kategorien auch über die Zuteilung sozialer und materieller Begünstigungen. Tatsächlich aber war die Vielfältigkeit der sowjetischen Gesellschaft viel ausgeprägter, da die Gliederung der Gesellschaft vor dem Hintergrund eines permanenten Mangels an materiellen und geistigen Gütern nicht so sehr durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe festgelegt wurde, sondern vielmehr durch die Möglichkeit bzw. Fähigkeit, sich selbst einige Ressourcen zuzuteilen oder Privilegien zu erlangen.

Die widersprüchliche Rolle der Kultur Die Kultur nahm einen herausragenden Platz in der Politik des Sowjetregimes in den nationalen Republiken ein. In Zeiten, in denen jegliche politische und gesellschaftliche Aktivität durch die Kommunistische Partei kontrolliert wurde, entwickelten sich die Kulturschaffenden – Schriftsteller, Bildende Künstler, Komponisten und Theaterleute – zu gesellschaftlichen Meinungsführern und erlangten früher oder später – vor allem nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit – ein nie gekanntes Ansehen und eine herausragende politische Rolle. Die Kultur war der einzig mögliche Rahmen, in dem Widerstand gegen die sowjetische Ideologie, die Russifizierung und die imperialistischen Vereinheitlichungsbestrebungen geleistet werden konnte. Denn auch die Sowjetmacht war auf die Kulturschaffenden der nationalen Republiken angewiesen, um zu demonstrieren, dass die Intelligenz die »sozialistische Wahl« unterstützte und durch ihr Schaffen das angestrebte Aufblühen der nationalen Kultur garantierte. Überdies war die Kultur einer der Bereiche, in dem die einheimischen Spezialisten nicht

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durch Funktionäre aus Moskau ersetzt werden konnten, denn die Kenntnis der Sprache und des lokalen kulturellen Umfelds war absolut unumgänglich. Die Repressionen von 1940/1941 bewogen einen großen Teil der Kulturschaffenden dazu, in die Emigration zu gehen. Unter ihnen waren Schriftsteller wie Jānis Jaunsudrabiņš und Kārlis Skalbe, der Komponist Jāzeps Vītols, der Maler Vilhelms Purvītis und viele andere. Zumindest ein Teil der führenden Kommunisten Lettlands verstand, dass man mit den verbliebenen Kulturschaffenden zusammenarbeiten müsse, obwohl die Politik auf diesem Feld von Anfang an widersprüchlich war. In den Jahren 1944/1945 konnte man von einer bedingten ideologischen Vorsicht sprechen, doch änderte sich dies im August 1946, als eine von Stalin inspirierte und von Andrej Schdanow geführte Kampagne begann, deren Ziel in der Verstärkung der Kontrolle der Partei über das kulturelle Schaffen bestand. In Moskau wurden mehrere Beschlüsse gefasst, die direkt die Literatur, das Theater und den Film betrafen und einen Umschwung im gesamten Kulturleben der Nachkriegszeit bedeuteten, darunter auch in Lettland. Der Sozialistische Realismus wurde jetzt zur einzig möglichen künstlerischen Methode erklärt. Entsprechend dem Sozialistischen Realismus sollte die Kunst volksnah sein, d.h. sie sollte sich auf die Traditionen des Volkes stützen und dem Volk verständlich sein. Selbstverständlich sollte sie mit den ideologischen Prinzipien des Marxismus-Leninismus und des Historischen Materialismus übereinstimmen sowie die Heldenhaftigkeit des sowjetischen Menschen und den Weg zu immer neuen Errungenschaften aufzeigen. Die Pflege der lettischen Kultur wurde in diesem Sinne revidiert, Autoren und Kunstwerke wurden gestrichen, die nicht dem Kanon des Sozialistischen Realismus entsprachen. Zugleich wurde eine antiwestliche Haltung kultiviert, die sich mit einer Glorifizierung der russischen Kultur verband. Der deutsche kulturelle Beitrag zur lettischen Kultur wurde demzufolge vom sog. Standpunkt des Klassenkampfes und in einem xenophoben antideutschen Lichte betrachtet. Ein Ergebnis dieser Tendenz war die Beseitigung der Reste des im Krieg abgebrannten Schwarzhäupterhauses und des Rathauses in der Rigaer Altstadt sowie der Anfang 1950 ausgearbeitete Plan, den größten Teil der angeblich historisch unbedeutenden Altstadt Rigas zu zerstören. Nationalkulturen waren nur dort zu akzeptieren, wo sich Einflüsse der russischen Kultur nachweisen ließen. Das Erbe der russischen Kultur und die zeitgenössische sowjetische Kultur waren der Maßstab, dem es zu folgen galt. In den Republiken durften keine Kunstwerke geschaffen werden, die in irgendeiner Form die russische Kultur übertroffen hätten. Nach Stalins Tod zeigte die politische Führung der UdSSR zunächst keinerlei Tendenz, die Kulturpolitik zu ändern. Doch allmählich wurden die Intellektuellen mutiger und begannen, den Kanon des Sozialistischen Realismus zu kritisieren, was sogar auf der Führungsebene der UdSSR auf offene Ohren stieß. Das verursachte auch große Unruhe im ZK der KP Lettlands, da längere Zeit nicht ganz klar war, welchen Standpunkt Moskau wirklich einnahm. Während früher die Anweisungen aus einer Quelle kamen, nämlich von Stalin, kämpften jetzt verschiedene Strömungen um die ideologische Führung, die unterschiedliche

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Signale aussendeten. Diese Verlegenheit resümierte der Schriftsteller Jānis Niedre in einer Rede auf einer öffentlichen Versammlung des Schriftstellerverbandes 1956 folgendermaßen: «...so wusste man wirklich nicht, worüber man schreiben durfte, worüber man nicht schreiben durfte und wie zu schreiben war”.6 Das betraf nicht nur die Schriftsteller, sondern auch andere Bereiche der Kultur. Die vertikalen Anweisungen und Instruktionen hörten auf, statt dessen gab es es jetzt verschiedene Bewertungsmodelle. Wenn die Kontrollorgane des ZK der KP ihre Unzufriedenheit mit dem, was in Lettland geschah, zum Ausdruck brachten, konnte man sich jedoch im Gegenzug auf angesehene Moskauer Autoren oder Künstler berufen, die anderer Meinung waren. So formten sich Bündnisse zwischen Vertretern des liberalen Flügels der Nomenklatura der Partei und der Intelligenz sowohl in Lettland als auch in Moskau. Doch bildeten sich ähnliche Bündnisse auch auf Seiten der konservativen Kräfte. Die Kulturschaffenden erfüllten für ihre Verbündeten in der Nomenklatura der Partei eine wichtige Funktion, um den Liberalisierungsprozess vorantreiben zu können. Einer der aktivsten Wortführer des kulturellen »Tauwetters« war Voldemārs Kalpiņš – von 1953 bis 1958 Stellvertretender Kultusminister der LSSR und zugleich Redakteur der Zeitschrift des Schriftstellerverbandes «Literatur und Kunst”, danach bis 1962 Kultusminister. Unter seiner Leitung wurde »Literatur und Kunst« zum populären Presseorgan, in dem Probleme behandelt wurden, die große öffentliche Resonanz hervorriefen, z.B. die Diskussion über die geplante Flutung des Felsens Staburags und anderer Objekte im Düna-Tal aufgrund der Bauarbeiten am Staudamm Pļaviņu HES, die breite Kreise der Bevölkerung ablehnten. Am sichtbarsten war die Liberalisierung des kulturellen Lebens vielleicht in der Presse, die versuchte, die Leser in einer anderen Sprache anzusprechen und den schulmeisterlichen Ton abzulegen, der den Journalismus der Stalinzeit geprägt hatte. Auch in der Thematik der diskutierten Fragen und in den Bildern äußerte sich diese Liberalisierung sowie in dem Bestreben, aktuelle Probleme zu diskutieren, eine übermäßige Politisierung zu vermeiden und für »gewöhnliche Menschen« und über die sie interessierenden Themen zu schreiben. Doch darf man den Grad der Liberalisierung in der zweiten Hälfte der 50er Jahre keinesfalls überschätzen. Die Apologeten Stalins hatten immer noch großen Einfluss. Auch die liberaleren Funktionäre der KP waren nur Produkte ihrer Zeit und Umgebung, und es gibt keinen Grund, ihre Weitsicht zu übertreiben. Denn ziemlich regelmäßig gab es immer noch Angriffe auf Schriftsteller und Künstler, die sich zu viel erlaubt hatten. Ihren Höhepunkt erreichte diese Tendenz 1959, als die vermeintlich nationalistischen Führer der LSSR wegen ihres Liberalismus im Kulturbereich scharf angegriffen wurden. Nach dem Plenum des Zentralkomitees der lettischen KP im Juli 1959 begann eine äußerst widersprüchliche Periode in der Kulturpolitik. Unter der Führung von A. Pelše verschärfte das ZK die Bekämpfung jeglicher Erscheinungsformen eines »bourgeoisen Nationalismus«. In Verbindung mit der antireligiösen Kam6

Literatūra un Māksla, 23.06.1956.

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pagne in der Sowjetunion verstärkten sich auch die Angriffe auf die Kirche und die »Überreste des Vergangenen« in den Köpfen der Menschen. Die Ideologen der Kommunistischen Partei betrachteten das Erbe der Geschichte und Kultur überwiegend als negativ, sei es als Ergebnis des Einflusses der deutschen Kultur oder, wenn vom lettischen Kulturerbe die Rede war, als »bourgeoisen Nationalismus«. Lettisches an sich war in ihren Augen immer verdächtig. Daher war der Kampf gegen die lettische Kultur und die Herabsetzung des historischen Erbes in den 60er Jahren hart und bildete eine der Konstanten der Kulturpolitik dieser Zeit. Auch das deutschbaltische kulturelle Erbe wurde überwiegend negativ bewertet, was besonders im Bereich der Bewahrung des architektonischen Erbes deutlich wurde. Dennoch muss gesagt werden, dass die antideutsche Rhetorik offenbar mit Rücksicht auf die der Sowjetunion freundlich gesonnene DDR allmählich milder wurde, zumal sich zwischen der DDR und der Lettischen SSR ein Netz freundschaftlicher Beziehungen entwickelt hatte. Man muss weiter betonen, dass die in der lettischen Gesellschaft bis zum Zweiten Weltkrieg weit verbreitete antideutsche Stimmung, deren Quelle politische und wirtschaftliche Gegensätze gewesen waren, während der sowjetischen Okkupationszeit verschwand. Die »anderen« verkörperten jetzt die Russen, die als die Träger des sowjetischen politischen und sozialen Imperialismus galten. Während der 50er und 60er Jahre kam es zu einem schnellen Generationswechsel in der Literatur, der bildenden Kunst und anderen kulturellen Bereichen, so dass eine Rückkehr zum stalinistischen Kanon kaum noch möglich war. Die Entwicklung der Kultur schritt voran, und die Parteiideologen konnten diesen Prozess bestenfalls noch bremsen, aber nicht mehr aufhalten oder rückgängig machen. In allen Vereinigungen der Kulturschaffenden übernahm eine neue intellektuelle Generation die Führung. Grundsätzlich handelte es sich nach wie vor um eine sowjetische Nomenklatura der Kultur, doch war diese elastischer und gebildeter geworden und besaß größeren Weitblick und Verständnis für die Kulturen der Welt. Vor allem aber verstand sie es, sowohl die Beziehungen zur Parteinomenklatura aufrechtzuerhalten als auch die Meinungen der einfachen Mitglieder der Kulturverbände und der Gesellschaft zu berücksichtigen. In den 70er und 80er Jahren wuchs das Bestreben, einen Hauch von lettischer Kultur in den Kanon der sowjetischen Kultur Lettlands einzubringen. Beispielsweise war abstrakte Malerei zwar nicht akzeptiert, doch als dekorative Kunst durfte sie existieren. In der bildenden Kunst tauchten Strömungen wie Surrealismus, Konzeptualismus und Hyperrealismus auf, und in einigen Bereichen gerade der bildenden Kunst waren die künstlerischen Freiheiten in Lettland viel größer als in Moskau oder Leningrad. Trotzdem musste jeder Schritt in Richtung Freiheit mühsam erkämpft werden. Die Politik machte sich zwar einige Ausdrucksformen der Massenkultur wie Rockmusik, Diskotheken oder die ökologische Bewegung zu eigen, übertrug die Durchführung entsprechender Aktivitäten jedoch der Kommunistischen Jugend oder anderen Sowjetorganisationen. Alle Erscheinungen jedoch, die als ideologisch unannehmbar betrachtet wurden oder deren Träger selbst nicht mit der Sowjetmacht zusammenarbeiten wollten, wurden

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kritisiert, verboten und verfolgt. Trotzdem waren die lettische Kultur und besonders einige ihrer Vertreter (die Schauspielerin Vija Artmane, der Komponist Raimonds Pauls) in der gesamten Sowjetunion berühmt. Schon während der Perestroika-Zeit stießen der Dokumentarfilm von Juris Podnieks »Ist es leicht jung zu sein?« und der Film von Hercs Franks »Das höchste Gericht« auf große Resonanz in der gesamten UdSSR. Demgegenüber waren die Möglichkeiten der lettischen Kultur, sich an den Entwicklungen der Weltkultur zu beteiligen, äußerst eingeschränkt. Als Fazit der Sowjetperiode können wir festhalten, dass es dem Sowjetregime trotz aller Gewalt und Fremdbestimmung in fast fünf Jahrzehnten nicht gelang, die lettische Nation vollständig in ihr System zu integrieren und die Letten in gesichtslose Sowjetmenschen zu verwandeln. Das war nicht nur den inneren Widersprüchen des sowjetischen Imperialismus zu verdanken, sondern in erster Linie dem Überlebenswillen und Unabhängigkeitsstreben des lettischen Volkes.

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Heimat in der Ferne: Lettisches Nachkriegsexil 1944–1991 Unterwegs Im Juli 1944 kehrte der deutsch-sowjetische Krieg, der Lettland vorübergehend von der sowjetischen Herrschaft befreit hatte, nach Lettland zurück. Die sowjetische Sommeroffensive führte zur Besetzung von Teilen des lettischen Ostens und schaffte den Durchbruch zur Rigaer Bucht von Süden her. Sie löste massenhafte Flüchtlingsbewegungen aus. In den Jahren 1944 und 1945 waren tausende Einwohner Lettlands unterwegs. Etwa 150 000 Letten (8-9% der Gesamtbevölkerung) verließen ihr Vaterland Richtung Westen, die meisten auf dem Seeweg nach Deutschland; nur etwa 5000 riskierten die gefährliche Reise in kleinen Booten nach Schweden. Viele hofften auf die baldige Erneuerung ihres Nationalstaats nach dem Krieg mit Hilfe der westlichen Alliierten. Das, was man später als Exil bezeichnete, war anfangs ein ziemlich chaotisches Durcheinander. Flüchtlingstrecks Richtung Westen begannen schon im Sommer 1944. Teilweise war es Flucht, teilweise Zwangsevakuierung wegen der Kampfhandlungen. Nazi-Greuelpropaganda warnte vor der Rückkehr des blutrünstigen sowjetischen Kommunismus und vor leichtfertiger Hoffnung auf Hilfe vom Westen. Die sowjetischen Greueltaten von 1940/41 und die Massendeportation vom 14. Juni 1941 waren noch gut in Erinnerung. Sie hatten vorwiegend den Eliten des unabhängigen Lettland, darunter auch den Anhängern des autoritären UlmanisRegimes gegolten. Diese fühlten sich zu Recht bedroht, insbesondere da viele von ihnen mit den Nazi-Behörden mehr oder weniger willig kollaboriert hatten. Was man damals nicht wusste, war, dass die deutsche Besatzungsmacht auch ihrerseits Evakuierungspläne entworfen hatte, die wegen des schnellen sowjetischen Vorrückens jedoch nur teilweise verwirklicht werden konnten. Deutschland brauchte Arbeitskräfte, die Evakuierten sollten sie liefern. Etwa 20 000 lettische Zwangsarbeiter befanden sich bereits in Deutschland (weitere 15 000 Letten wurden in Konzentrationslagern festgehalten). Jetzt sollten zuerst die Letten, die mit den Deutschen zusammengearbeitet oder ihnen zumindest Hilfe geleistet hatten, Familien von lettischen Legionären, die auf deutscher Seite kämpften1, also besonders Gefährdete nach Deutschland oder in die von Deutschland besetzten Gebiete als Arbeitskräfte evakuiert werden. Als Riga jedoch Ende September/Anfang Oktober von der Roten Armee bedrängt wurde und die deut1

Vgl. dazu den Beitrag von T. Plath in diesem Band, S. 84-85.

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schen Truppen Richtung Kurland abzogen, wurde der Evakuierungsbefehl auch auf breitere Bevölkerungsgruppen ausgedehnt. Menschen wurden auf der Straße aufgegriffen und auf Schiffe verladen. Nach der Einnahme von Riga am 13. Oktober 1944 und der Einkesselung von Kurland wurden Evakuierte und Flüchtlinge aus dem Osten des Landes, die in Kurland Zuflucht gesucht hatten, ebenfalls angehalten, Lettland zu verlassen, um die kritische Versorgungslage im Land zu beheben. So gelangten auch Menschen nach Deutschland, die möglicherweise lieber in Lettland geblieben wären. Die Evakuierung aus Kurland dauerte bis Januar 1945, als der sowjetische Großangriff an der Ostfront die Häfen von Danzig (Gdańsk) und Gotenhafen (Gdynia) erreichte. Welche Beweggründe oder Zwänge – direkte Bedrohung durch Kriegshandlungen, Zwangsevakuierung oder Angst vor den Kommunisten – die Menschen bewegte, Lettland zu verlassen, kann nicht mehr im einzelnen zurückverfolgt werden. Später im Exil lief alles unter der eher ideologischen Rubrik »politische Flucht vor dem Erzfeind«. In vielen Fällen jedoch wurden lebenswichtige Entscheidungen, wenn solche überhaupt möglich waren und die unter normalen Umständen sorgfältig hätten bedacht werden müssen, oft auf der Stelle und unter großem emotionalen Druck getroffen. Für viele war es ein ad hoc gefasster Entschluss oder sogar ein Befehl, das Kriegsgebiet auf dem Landweg Richtung Westen zu verlassen. Später folgte für die meisten der Seeweg. Je weiter es ging, desto mehr war es eine Flucht ins Unbekannte und Ungewisse, wo oft Befehle anderer, verzweifelte Eigeninitiative oder der Zufall das Weitere entschieden. Die nach Schweden Geflüchteten kamen immerhin noch in ein Land, in dem Frieden und bürgerliche Ordnung herrschten. In Ost- und Mitteleuropa tobte jedoch der totale Vernichtungskrieg, und man war ständiger Gefahr durch Kriegshandlungen, Luftangriffe und fehlende Versorgung ausgesetzt. Die meisten hatten kein bestimmtes Ziel und waren nach Ankunft zuerst auf die Behörden angewiesen. Sie wurden zunächst im Osten Deutschlands und den besetzten Gebieten untergebracht. Als die sowjetische Winteroffensive im Januar 1945 begann und die Rote Armee weite Territorien besetzte, mussten sie erneut flüchten. In den letzten Kriegsmonaten war vielerorts die öffentliche Ordnung zusammengebrochen, die Behörden funktionierten kaum noch, meist erwiesen sich Eigeninitiative und die Hilfe Fremder – oder deren Verweigerung – als entscheidend. Insgesamt befanden sich etwa 200 000 Vorkriegseinwohner Lettlands, ausgenommen die schon 1939 ausgesiedelten Deutschbalten, bis Kriegsende außerhalb Lettlands: zwangsverschickt, evakuiert oder geflüchtet. Nach Kriegsende waren im Westen etwa 130 000 geblieben, darunter etwa 25 000 ehemalige lettische Legionäre, die an der Ostfront auf deutscher Seite gegen die Rote Armee gekämpft und sich, als der Kampf zu Ende ging, den Westalliierten ergeben hatten. Was ist mit dem Rest geschehen? Wurden sie Opfer von Kriegshandlungen, wurden sie von der Roten Armee überrollt und zurückgeschickt oder kehrten sie aus eigener Initiative um – darüber gibt es keine verlässlichen Angaben. Die nach enormen physischen und emotionalen Belastungen im Westen Angekommenen bildeten ihrerseits jene Gruppe, die man später als Exil bezeichnete. Anfangs hofften na-

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türlich die meisten, dass die Flucht ein vorübergehender Zustand sei, der bald mit der Rückkehr in die Heimat enden würde. Noch gestand man sich nicht ein, dass das Exil zum Dauerzustand werden könnte.

Im Lager Fast alle lettischen Flüchtlinge im Westen mussten zumindest eine gewisse Zeit im Lager verbringen. In Schweden dauerte das Lagerleben nicht lange. Flüchtlinge, denen das Asylrecht gewährt wurde, wurden ziemlich rasch in die Gesellschaft integriert. Im kriegszerstörten Deutschland mussten die Flüchtlinge dagegen warten, bis die westlichen Alliierten über ihr Schicksal entschieden. Diese richteten zahlreiche Lager für Displaced Persons (DP) ein, die zunächst als Auffang- und Transitlager für ausländische Kriegsgefangene, ehemalige KZ-Insassen, Zwangsarbeiter, Evakuierte oder Flüchtlinge vorgesehen waren und die den Vereinten Nationen unterstanden. Die meisten westeuropäischen Insassen kehrten bald in ihre Heimatländer zurück. Sowjetische Staatsangehörige – Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter, Soldaten im deutschen Dienst und Zivilisten – wurden gemäß den Verträgen von Jalta zum Teil zwangsweise an sowjetische Behörden ausgeliefert. Die Bürger der baltischen Staaten gerieten in eine Grauzone: von sowjetischer Seite wurden sie als Bürger der UdSSR betrachtet. Die Westalliierten hatten jedoch die Annexion Lettlands durch die Sowjetunion völkerrechtlich nicht anerkannt. Die lettischen Botschaften in London und Washington arbeiteten weiter und vertraten die Interessen der lettischen Staatsbürger. Auch die schnellstens etablierten exillettischen Vertretungen plädierten gegen die sowjetischen Ansprüche. Daher wurden – von vereinzelten Fällen abgesehen - sowohl lettische Flüchtlinge als auch ehemalige Legionäre nicht gezwungen, in die »Heimat« UdSSR zurückzukehren, wenn auch den sowjetischen Behörden das Recht auf den Versuch eingeräumt wurde, sie zur Heimkehr zu überreden. Die meisten blieben. Die Lager bedeuteten ein vorläufiges Ende des ungewissen und gefährlichen Herumirrens. Etwa 100 000 lettische Flüchtlinge wurden in Deutschland anfangs in nahezu 300 kleineren oder größeren Lagern untergebracht. In diesen Lagern begann sich die spätere Exilgemeinschaft herauszubilden. Das gemeinsame Schicksal und die Notwendigkeit, in der Fremde zusammenzuhalten, führten zu einer Art nationaler und gesellschaftlicher Integration, in der die nationale und die Lageridentität eine größere Rolle spielten als die regionale oder lokale Verbundenheit in der Heimat. Auch die ethnische Zusammensetzung entsprach nicht der Bevölkerungsstruktur im Vorkriegslettland. Denn die meisten Flüchtlinge waren Letten, obwohl sie im Vorkriegslettland nur etwa 76% der Bevölkerung gestellt hatten. Wegen der etwa 25 000 Legionäre, die nach ihrer Entlassung Teil der Exilgemeinschaft wurden, ergab sich auch ein beträchtliches Ungleich-

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gewicht der Geschlechter. Für die jungen Männer gab es nicht genug junge lettische Frauen, um Familien zu gründen. Am wichtigsten aber war die sozioökonomische Zusammensetzung der Lagerinsassen. Die lettische Mittelschicht und die Intellektuellen waren stark überrepräsentiert. Nahezu 10% verfügten über eine abgeschlossene oder angefangene Hochschulbildung. Unter den Flüchtlingen befanden sich nahezu 3000 Lehrer und um die 2500 Letten, die im künstlerischen Bereich tätig waren: Schriftsteller, Dichter, Schauspieler, Maler, Musiker. Viele engagierten sich auch in der mit Mitteln der United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA) und des Lutherischen Weltbundes von estnischen, lettischen und litauischen Professoren gegründeten Baltischen Universität in Hamburg bzw. Pinneberg, an der von 1946-1949 1200 Studierende von 170 Professoren unterrichtet wurden und von deren Absolventen zwei Drittel Letten waren. So entwickelte sich in den Lagern, gefördert durch die aufgezwungene Muße, fast spontan ein reges gesellschaftliches und kulturelles Leben. Die Letten gründeten gesellschaftliche, kulturelle, akademische, Berufs- und Jugendorganisationen sowie Kirchengemeinden und lettische Schulen. Sie organisierten Theateraufführungen, Konzerte, Liederfeste und andere Veranstaltungen. Um sich als Volksgemeinschaft zu behaupten und ihre Interessen bei den Besatzungsbehörden zu vertreten, wurden zentrale Vertretungen begründet und Wahlen organisiert. Trotz Papiermangel und Genehmigungsproblemen mit den Besatzungsbehörden wurden sobald als möglich Zeitungen oder Zirkulare und Bücher gedruckt oder auf verschiedenste Weise vervielfältigt. Dieses rege gesellschaftliche und kulturelle Leben in den Lagern hat mit Recht die Bezeichnung »mazās Latvijas« (kleine Lettländchen) verdient. Schon im Mai 1947 fand beispielsweise das erste lettische Lieder- oder Sängerfest im Exil in Esslingen statt, wohin es 6000 Letten verschlagen hatte; im Juni 2017 wurde in einem erneuten Fest dieses Ereignisses vor 70 Jahren gedacht. Doch sollten auch die Schattenseiten des Lagerlebens nicht unerwähnt bleiben, wie sie vor allem die Schriftsteller jener Jahre eindringlich geschildert haben, handelte es sich doch um Menschen, die von den Schrecken des Kriegs, vom Verlust oder der Trennung von Familienangehörigen, von der Angst um in der Heimat Zurückgebliebene und vor allem von der Sorge um die eigene Zukunft geprägt waren, was nur zu häufig zu Depressionen, Alkoholismus, ja zum Selbstmord führte. Gleichwohl haben sich die positiven gesellschaftlichen und nationalen Selbsterhaltungsinstinkte in der Exilgesellschaft durchgesetzt. Zwischen 1947 und 1951 leerten sich die Lager, die Auswanderungswilligen- und fähigen verließen Deutschland. Von den in Deutschland verbliebenen etwa 15 000 Letten blieben viele vorerst in Lagern; allmählich integrierten sie sich jedoch in das wirtschaftliche und teilweise auch gesellschaftliche Leben. Viele Letten, insbesondere ehemalige Legionäre, dienten als Hilfskräfte der amerikanischen und britischen Besatzungsmacht. In Münster in Westfalen wurde 1951 ein lettisches Gymnasium gegründet, das bis 1998 bestand und zu einem Ausbildungszentrum für Letten aus der ganzen Welt wurde. Daneben gab es dort auch ein »Lettisches Zentrum«, das sowohl als kul-

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turell-gesellschaftliche Einrichtung als auch als Hauptquartier exillettischer Vertretungen diente und ein wichtiger Anlaufpunkt des weltweiten Exils war. Das Zentrum existiert weiter und hat sich den neuen Verhältnissen angepasst, die durch das Aussterben der alten Exilgesellschaft einerseits und die durch Lettlands Beitritt zur Europäischen Union ermöglichte Migration jüngerer Letten andererseits bedingt sind. Für die meisten Letten bedeutete sowohl die Weiterreise als auch die schrittweise Etablierung in Deutschland die stillschweigende Anerkennung, dass ihre ursprünglichen Erwartungen und Wünsche nach baldiger Rückkehr in ein freies Lettland auf unbestimmte Zeit nicht in Erfüllung gehen würden. Allen war klar: Eine Rückkehr war unmöglich, solange die sowjetischen Besatzer in Lettland regierten. Daraus folgte, dass man alles tun musste, um den Lettland aufgezwungenen Zustand zu beenden. Aber wie?

Exil als Mission Der Verlust des Heimatlandes, die politische Lage in der Welt, die die Wiederherstellung der Unabhängigkeit zwar nicht aufhob aber doch wesentlich aufschob, und die Jahre des aktiven Zusammenlebens und -wirkens in den »kleinen Lettländchen« sorgten dafür, dass die meisten Letten sich als politisch Vertriebene und zugleich als Vertreter des unabhängigen Lettland fühlten oder sich dazu bekannten. Nirgends kam diese Einstellung deutlicher zum Ausdruck als in einer 1947 vom Lettischen Zentralrat verabschiedeten Erklärung »Das Verhalten der Letten in der Fremde« (Latvieša stāja svešumā). In gehobenem pathetischen Stil als feierliches Gelübde verfasst, enthält das Dokument alle patriotischen Leitmotive, die aus Texten geschöpft waren, die allen Letten bekannt waren und die auch die geistige Haltung des Exils bestimmen sollten.2 Das Exil wurde hier zur historischen Mission erklärt, deren oberste Aufgabe es sei, »für die Freiheit des lettischen Volkes und die Zukunft Lettlands zu kämpfen.« Das Ziel der Mission sei die Rückkehr in die Heimat, an der der Exillette »keinen Augenblick zweifelt.« Der Exillette »bewahrt das geistige Erbe seiner Ahnen, pflegt seine Sprache und beschützt die Ehre des lettischen Volkes.« Er ehrt und erkennt die Sitten und Gesetze anderer Völker an, soweit sie die Ehre des Letten nicht verletzen und die universell anerkannten Menschenrechte nicht einschränken. Der Exillette ehrt und gehorcht jeder natur-, gott- und gesellschaftlich gegebenen oder demokratisch gewählten lettischen Autorität, er vergisst nie die Schönheit seines gottgegebenen Landes und gehorcht »der Stimme des Blutes, die ihn auffordert, die Lebenskraft des Volkes zu bewahren und zu mehren.« 2

Tēvzeme (Vaterland. Lettische Exilzeitung, Hanau), 26. April 1947 (Beschluss) und 30. April 1947 (Text). Die Erklärung verlas der Schiftsteller Vilis Lesiņš, der als Autor des Texts gilt (E-mail seines Sohnes Mikus Lesiņš vom 1. Januar 2016).

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Schließlich muss der Exillette jede Gelegenheit nutzen, um unter seinen Landsleuten zu sein und über alle Grenzen hinweg immer mit ihnen in Verbindung zu bleiben. Es war ein ausgesprochen konservatives Dokument, dessen Wurzeln in der Ideologie der nationalistischen autoritären Ulmanis-Diktatur zu suchen sind. Kein Wort über die innen- oder außenpolitische Problematik des von einer »unüberwindlichen Macht« zerstörten und zu erneuernden lettischen Staates. Stillschweigend werden das lettische Volk und der lettische Staat gleichgesetzt, als ob es keine Minderheiten in Lettland gegeben hätte oder geben würde. Kein Hinweis auf die politischen Meinungsverschiedenheiten zwischen Anhängern des autoritären Regimes und Demokraten, die auch nach dem für Lettland katastrophalen Ausgang des Zweiten Weltkriegs keineswegs verschwunden waren. Diese Themen kamen erst viel später wieder auf die Tagesordnung, als eine neue Exilgeneration nach ihnen fragte. Jetzt, 1947, ging es erst einmal darum, den lettischen Flüchtlingen mahnende Worte auf den weiteren Weg mitzugeben und sie auf einen längeren Aufenthalt in der Fremde vorzubereiten. Das Exil wurde damit gleichsam zur Lebensaufgabe erklärt.

Weltweites Exil Der weitere Weg begann in größerem Umfang schon 1947, als der Zentralrat der Letten beschloss, das Aufnahmeangebot Großbritanniens anzunehmen. Es folgten Australien, Kanada und die Vereinigten Staaten als die größten Auswanderungsländer. Bis 1951 war die Auswanderung der Displaced Persons weitgehend abgeschlossen. In Großbritannien wurden schätzungsweise 17 000 Letten angesiedelt, in Australien 20 000, in Kanada 19 000 , in den USA 45 000 und in Südamerika etwa 5000. In Deutschland blieben etwa 15 000, in Schweden 4000 Letten zurück. Die Auswanderungsländer brauchten vor allem Arbeitskräfte. Die Nachkriegsökonomie boomte. Obgleich man in den Lagern tüchtig praktische Berufe und Fremdsprachen, vor allem Englisch, gelernt hatte, taten sich besonders ältere Auswanderer schwer, die am Aufbau des unabhängigen Lettland am aktivsten beteiligt gewesen waren; für sie war der Neuanfang sowohl physisch als auch psychologisch am schwersten. Viele landeten auf der untersten Arbeitsstufe und konnten sich erst mühsam hocharbeiten. In den meisten Ländern waren die Einwanderer nur kurzfristig an die ursprüngliche Arbeitsstelle gebunden. In Australien jedoch wurden sie für zwei Jahre verpflichtet und mussten in dieser Zeit in Lagern wohnen, die den DP-Lagern ähnelten. In den USA gab es keine Verpflichtung, und so konnten die Einwanderer schon bald bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne erreichen. Für die jüngere Generation jedoch, die im unabhängigen Lettland geboren war, also die 1950 Zehn- bis Dreißigjährigen, bedeutete das neue Leben neue

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Chancen. Obgleich die Zwanzigjährigen im Krieg am schwersten gelitten hatten, waren sie flexibler, lernfähiger und noch unbekümmert durch Familienbesorgnisse. Ihre Chancen, sich im Emigrationsland zu behaupten, hingen sowohl von der eigenen Initiative als auch von den herrschenden Zuständen ab. Die Aufstiegs- und Integrationschancen bedeuteten aber zugleich auch die Gefahr der Entfernung und Entfremdung von der lettischen Exilgesellschaft. Dass dies nicht massenhaft geschah, war wohl in erster Linie der Erziehung und Bildung in den nationalen Schulen in Lettland und in den Lagern zu verdanken. Aus dieser Altersgruppe bildete sich in den 50er Jahren die neue intellektuelle Elite des Exils heraus, die – schon weltoffener, moderner, demokratischer als ihre Eltern – den patriotischen Idealen zwar im Grunde treu, aber dennoch kritisch gegenüberstand. Das Establishment des Exils betrachtete diese Andersdenkenden der jüngeren Generation mit Misstrauen. Diese Diskontinuität hatte ihre Wurzeln in den vierziger Jahren, als die Okkupationen und der Krieg schon in der Heimat eine Unterbrechung des normalen Generationenwechsels verursacht hatten, insbesondere mit Blick auf die jungen Männer, die in den Krieg geschickt worden waren. Das lettische Kultur- und Gesellschaftsleben in den Lagern hatte zwar für die Festigung der lettischen Identität und eines gewissen Missionsgefühls gesorgt, aber kaum für die Entwicklung eines differenzierenden politischen Denkens und Wertens. Es blieb bei der Erhaltung der herkömmlichen Denkweise, und dementsprechend blieb die Führung der größeren Exilorganisationen zunächst weitgehend in den Händen der Älteren, insbesondere der Eliten des Nationalstaats und des Ulmanis-Regimes, die Lettland 1944/45 bevorzugt verlassen hatten, um sich vor der anrückenden Roten Armee zu retten.

Struktur des Exils Räumlich umfasste das Exil die ganze Welt außerhalb Lettlands und der Sowjetunion. Dabei ist bemerkenswert, dass es keinen Ort in der Welt gab, an dem die emigrierten Exilletten auch nur annähernd eine zusammenhängende Wohngemeinschaft gebildet hätten. Dazu kam, dass die akademisch ausgebildeten jüngeren Letten oft an Arbeitsstellen gebunden waren, in deren Nähe es keine lettische Gemeinschaft gab. Das bedeutete aber, dass man im Namen des Zusammenhalts größere oder kleinere Entfernungen überwinden musste, was wiederum Zeit und Geld kostete. Zuerst wurden öffentliche Verkehrsmittel und Autos benutzt. Als in den 60er und 70er Jahren der Luftverkehr zugänglich und erschwinglich wurde, konnte man schon von einer globalen Vernetzung reden. Dennoch: je größer die Entfernung zu den größeren Ansammlungen von Landsleuten war, desto größer war auch die Gefahr der Entfremdung. Zeitlich hatte schon das Dokument »Das Verhalten der Letten in der Fremde« als Ende des Exils die Rückkehr in die Heimat festgesetzt, an der der Lette im Exil »keinen Augenblick zweifelt.« So lebte das Exil, wie unzählige Male in der Lite-

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ratur dargestellt, zwischen der Erinnerung an »die Schönheit seines gottgegebenen Landes,« die es ebenso wie den verlorenen Staat nie vergessen durfte, und der ungewissen aber unbezweifelbaren Hoffnung, dass eines Tages Lettland wieder unabhängig werden würde, jedoch ohne die Möglichkeit, diesen Tag voraussehen oder bestimmen zu können. Diese Zeitdimension aber entsprach kaum der allgemeinen Erfahrung, wonach sich das Leben viel mehr in der Gegenwart als zwischen Vergangenheit und Zukunft abspielt. Die meisten Letten führten somit eine Art Doppelleben und eine doppelte Zeitplanung. Als Einwohner ihres Ansiedlungslandes und Mitglieder von dessen Gesellschaft waren sie einerseits mit den gewöhnlichen täglichen Arbeitsaufgaben, Sorgen und Ablenkungen beschäftigt. Andererseits jedoch, insbesondere an Wochenenden, an gemeinsamen Gedenk- und Feiertagen wie dem Unabhängigkeitstag am 18. November oder dem Gedenktag an die sowjetische Massendeportation am 14. Juni, bei regionalen Großveranstaltungen oder Sommerlagern verwandelten sie sich in Mitglieder der abgesonderten und nach anderen Kriterien organisierten lettischen Gesellschaft. Nur durch Organisation, sorgfältige Planung und Kommunikation war es möglich, Gemeinschaften zu bilden, die trotz Entfernungen durch wiederholte gegenseitige Bestätigung des gemeinsamen Glaubens alle zeitlichen und räumlichen Hindernisse überwinden konnten. Es ist wichtig zu betonen, dass das Exil nicht so sehr von oben als von unten organisiert wurde und dass mit sehr wenigen Ausnahmen alles von den Mitgliedern durch Beiträge, Spenden oder freiwillige Arbeit finanziert wurde. Die Exilorganisationen waren echte Bündnisse von freiwilligen Überzeugungs- und Glaubensgenossen. Das war ihre eigentliche Stärke. Wo sich eine Gruppe Letten an einem Ort zusammenfand, wurden Organisationen gegründet: Vereine, Kirchengemeinden, Jugendorganisationen, Schulen, Chöre. In den größeren Zentren gab es jede Woche Veranstaltungen, gewöhnlich am Wochenende: Schule, Kirche, Konzerte, gesellige Veranstaltungen. In den kleineren Zentren war der lettische Kalender bescheidener. Anfänglich fanden die Veranstaltungen in verschiedenen gemieteten Räumlichkeiten statt. Dann wurden Gemeinschaftshäuser und Kirchen gekauft oder gebaut, Sommerlager eingerichtet, so dass es feste Veranstaltungsorte gab, was wiederum das Gemeinschaftsgefühl stärkte. Dieser lokale, regionale, ja internationale (Liederfeste, Kulturtage, Kongresse) organisatorische Zusammenhalt war zweifellos die wichtigste Voraussetzung für die Erhaltung der Exilgesellschaft. Die Dachorganisationen in den Ansiedlungsländern – in den USA, Kanada, Australien, Großbritannien, Deutschland, Schweden – spielten eine wichtige Rolle als Vertretungen und Organisatoren gemeinsamer politischer Aktionen und kultureller Großveranstaltungen. Obgleich anfangs die Absicht bestanden hatte, von Deutschland und der frühen zentralen Organisation ausgehend Zweigorganisationen in den Ansiedlungsländern zu bilden, wurden dort praktisch doch neue zentrale Organisationen gegründet. Erst später taten sich die zentralen Landesorganisationen zum Weltbund freier Letten (PBLA) als der globalen Dachorganisation zusammen. Die größte weltweite Organisation war jedoch die der »Dünafalken« (Daugavas Vanagi), die von ehemaligen lettischen Legionären im

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Gefangenenlager Zedelgem in Belgien als patriotische Selbsthilfeorganisation gegründet worden war und eine hierarchische Struktur aufwies – mit einer zentralen Verwaltung, Landesverwaltungen und Ortsfilialen, die jedoch ziemlich selbständig waren. So wurde beispielsweise in Freiburg i.Br. ein Heim für Invalide eingerichtet, die nicht auswandern konnten, aus dem sich im Laufe der Jahre ein lettisches kulturelles Zentrum entwickelte, das ebenfalls noch heute existiert. Die meisten Organisationen waren mindestens den Satzungen nach demokratisch. Die Demokratie war aber von mehreren Faktoren bedingt. Anfangs waren viele Amtsinhaber Leute, die schon in Lettland Ämter bekleidet hatten, die sich auf ihre Autorität stützten und damit ihren oft bescheidenen Status in der lokalen Gesellschaft aufzuwerten suchten. Da alles auf der Basis der Freiwilligkeit geschah, wurden meist auch Leute gewählt, die entweder pensioniert oder nicht an feste Arbeitszeiten gebunden waren. Später kam es oft auch weniger darauf an, wer gewählt werden wollte, sondern wen man zur Kandidatur überreden konnte. So erwiesen sich viele Exilorganisationen mit Ausnahme der Jugendorganisationen häufig als ausgesprochen überaltert, traditionsgebunden und autoritätslastig, damit aber auch als nur bedingt erneuerungsfähig. Neben den weltlichen Organisationen gab es auch die Kirchen im Exil, die ebenfalls weltweit vernetzt waren. Die Kirchen und Kirchengemeinden wurden zu wichtigen Stützen der Exilgesellschaft. Sie fungierten nicht nur als Vermittler des christlichen, sondern zugleich auch des nationalen Glaubens: Lettland als heimgesuchtes Land und die Letten als von Gott geprüftes Volk, das gottergeben an die Wiederherstellung der Gerechtigkeit glaubt. Die Kirchen wurden oft auch zu wichtigen Zentren für weltliche Organisationen, denn die Pastoren, obwohl zumeist aus Spenden und Abgaben bescheiden entlohnt, waren an vielen Orten die einzigen bezahlten lettischen Amtsinhaber, die in der Gesellschaft nicht nur eine geistliche, sondern vielerorts auch eine einflussreiche weltliche Rolle spielten. Der Zusammenhalt der Letten stützte sich in ganz besonderem Masse auch auf die gemeinsame Pflege der Kultur und Sprache. Das literarische Angebot war reichhaltig und galt nicht nur der neu entstehenden Literatur, sondern auch der Erhaltung des im besetzten Lettland verbotenen Erbes. Es wurden gesammelte Schriften der bedeutendsten lettischen Autoren herausgegeben. Die mehrbändige Ausgabe lettischer Volkslieder wurde neu verlegt. Eine lettische Enzyklopädie entstand. Die Geschichte Lettlands wurde neu geschrieben und in mehreren Bänden publiziert. Zwischen 1951 und 1960 erschienen 1200 lettischsprachige Bücher und zwischen 1944 und 1991 insgesamt etwa 500 lettischsprachige Periodika im westlichen Ausland. Auch das Angebot an Veranstaltungen war vielseitig, und wo die Ortskräfte nicht ausreichten, wurde das Angebot durch Gastaufführungen bereichert: Theater, Konzerte, Dichterlesungen, Kunstausstellungen. Lettische Liederfeste entwickelten sich zu vielseitigen Kulturveranstaltungen, ja die alljährlichen Kulturtage in Australien wurden geradezu zum Höhepunkt des lettischen kulturellen Gesellschaftslebens. Ganz besondere Aufmerksamkeit galt dem Bemühen, die nächste Generationen durch die Einrichtung von Schulen und Jugendorganisationen im nationalen

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Sinn zu erziehen. Auch im weltweiten Exil wurden neben Vereinen und Kirchengemeinden sofort Schulen und Jugendgruppen gegründet. Es konnten nicht mehr wie in den Lagern inklusive Ganztagsschulen sein, sondern sie mussten als freiwillige Samstags- oder Sonntagsschulen mit einem nationalen Curriculum – lettische Sprache und Literatur, Geographie Lettlands, lettische Geschichte, lettisches Chorsingen – organisiert werden. Überwiegend handelte es sich um Grundschulen. Gymnasien konnten nur in größeren Zentren etabliert werden bzw. als Sommerschulen. Das einzige Vollzeitgymnasium bestand in Münster in Westfalen; zunächst nur für die in Deutschland verbliebenen Letten gedacht wurde es später zu einer wahren »Kaderschmiede« der lettischen Jugend weltweit. Zu Organisationen mit besonderer Anziehungskraft entwickelten sich auch die Volkstanzgruppen. Wie schon angedeutet, löste sich die Jugend nur sehr allmählich aus der Vormundschaft der älteren Generation und begann, ihre eigenen Dachorganisationen, weltweite Verbände, Sommerkurse und Großveranstaltungen zu organisieren. Obgleich nicht immer im Gleichschritt mit den Älteren sahen sich auch diese Jugendaktivitäten dem Gebot, »für die Freiheit des lettischen Volkes und die Zukunft Lettlands zu kämpfen«, verpflichtet. Als wichtigstes Ereignis in diesem mühsamen Prozess der nationalen Selbstbehauptung muss der erste Weltkongress der exillettischen Jugend in Berlin im Sommer 1968 gelten, der unter sowjetischem Druck in Berlin verboten wurde und nach Hannover verlegt werden musste und allein schon dadurch großes öffentliches Aufsehen erregte. Dieser allmähliche Wechsel der Generationen und des politischen Kampfes wurde dadurch erleichtert, dass sich seit den 60er Jahren die politische Großwetterlage zu verändern begann, was sich auch auf die wichtigste Aufgabe des Exils auswirkte, nämlich für die Wiederherstellung der Unabhängigkeit Lettlands zu kämpfen. Eine feste, jedoch in vieler Hinsicht eher passive Stütze dieses Kampfes boten die diplomatischen Vertretungen des unabhängigen Lettlands, die infolge der völkerrechtlichen Nichtanerkennung der sowjetischen Besatzung und Annexion durch die westlichen Alliierten weiter bestanden. Sie konnten in begrenztem Umfang ihre Funktionen gegenüber lettischen Staatsbürgern erfüllen, durften jedoch keine politischen Aktivitäten entfalten. Ihre Existenz nährte zwar die Hoffnung auf Wiederherstellung der Unabhängigkeit, doch durften sie in den Kampf dafür nicht aktiv eingreifen. Das war die politische Aufgabe der Exilgesellschaft. Als die größte und wichtigste frühe politische Errungenschaft ist die Gründung des sogenannten Kersten-Ausschusses des amerikanischen Abgeordnetenhauses (1953) zu bezeichnen, dessen Schlussbericht die Machtübernahme der baltischen Staaten durch die Sowjetunion und deren Massenverbrechen offenlegte. Ob das Exil jedoch maßgeblich zur Wiederherstellung der Unabhängigkeit Lettlands beigetragen hat, ist im einzelnen schwer zu bestimmen. Doch die ständige Erinnerung an die Nichtanerkennung der Annexion durch die Westmächte und somit an das völkerrechtliche Weiterbestehen des lettischen Staates ist zweifellos nicht ohne Folgen geblieben. So mussten die Esten, Letten und Litauer beispielsweise 1974–75 in Australien großen politischen Druck ausüben, um den Beschluss der Labour-Regierung, die Annexion de jure anzuerkennen, rückgängig zu machen.

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Immer wieder wurden in der politischen Arena die Unterdrückung und die Menschenrechtsverletzungen der sowjetischen Besatzer angeprangert, was schließlich im Zeichen der Perestroika in den baltischen Staaten eine tausendstimmiges Echo fand.

Generationen- und Paradigmenwechsel Wie schon erwähnt, vollzog sich der Generationenwechsel im Exil verspätet und war mit vielen Schwierigkeiten verbunden. Eigentlich ging dem Generationenwechsel in der Gesellschaft ein Paradigmenwechsel des politischen Denkens voran, der etwa von Mitte der 50er bis Mitte der 70er Jahre zu datieren ist und von den Jugendorganisationen ausging. Er ersetzte den von der älteren Generation in der westlichen politischen Arena geführten Kampf gegen den Kommunismus und die Besatzer durch Bestrebungen, die Widerstandskraft des durch Russifizierung und Geburtenrückgang bedrohten lettischen Volkes in Lettland selbst zu stärken und sich für die Menschenrechte in Lettland einzusetzen. Damit wurde eine von der älteren Generation gesetzte Grenze überschritten, nämlich konsequente und absolute Abschottung vom besetzten Vaterland und den lettischen Kommunisten. Da in der Zwischenzeit auch in Lettland eine neue Generation herangewachsen war, sich nach Stalins Tod das Regime gelockert hatte und durch die gegenseitige atomare Vernichtungsgefahr ein Befreiungskrieg ausgeschlossen war, so argumentierte die jüngere Generation, sei eine indirekte auf Gegenseitigkeit beruhende Interessengemeinschaft mit national denkenden lettischen Eliten in Lettland nicht auszuschließen, die der Erhaltung des gefährdeten lettischen Volkes dienen sollte. In Lettland sei überdies die Kultur inzwischen zur wichtigsten legalen Form des Widerstands geworden, so dass man die dortigen Entwicklungen nicht weiter ignorieren dürfe. Dass eine solche Neubewertung der Kontakte mit der Heimat massiven Widerstand hervorrief, war zu erwarten gewesen. Man sprach sogar von einer gefährlichen ideologischen Kluft zwischen den Generationen, von einer Unterwanderung durch die sowjetische Ideologie. Als erster Herausgeber der 1955 gegründeten Jugendzeitschrift »Jaunā Gaita« (Neuer Weg) sowie als Vorsitzender des Anfang der 1970er Jahre neu gegründeten Lettischen Schriftstellerverbandes wurde auch der Verfasser dieses Beitrags von Vertretern der älteren Generation prokommunistischer und antinationaler Tendenzen verdächtigt. Wichtig ist jedoch, dass die Exilgesellschaft auch die Austragung dieser Gegensätze überstand und, wenn auch taktisch uneins, ihr eigentliches Ziel nie aus den Augen verlor. So war beispielweise die Gründung der Organisation »Baltic Appeal to the United Nations« (BATUN) Mitte der 1960er Jahre ein früher Ansatz der jungen baltischen Exilgeneration im Osten der USA, neue Wege auf dem Feld der Politik zu beschreiten. Im akademischen Bereich folgte die Gründung der Association for the Advancement of Baltic Studies (AABS) 1969, die trotz verschiedener Versu-

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che, sie politisch zu beeinflussen, einen strikt akademischen Weg zur Erforschung der baltischen Zeitgeschichte einschlug. In der breiteren lettischen Exilgesellschaft wirkten sich der verspätete Generationen- und Paradigmenwechsel erst im Gefolge der Helsinki-Konferenzen über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (1973 und 1975) aus, die auch von exillettischen, exillitauischen und exilestnischen Vertretern besucht wurden. Von nun an diente Kapitel VII der Schlussakte »Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit« als Grundlage für das weitere politische Handeln der Exilgemeinschaften. Das Exil wurde damit gleichsam zum Sprachrohr des unterdrückten Volkes in Lettland. Die heftigsten Auseinandersetzungen und Spaltungen in der Exilgesellschaft entstanden schließlich durch Versuche, Kontakte mit Landsleuten im okkupierten Lettland aufzunehmen oder Besucher aus Lettland zu empfangen. Sie begannen schon in den frühen 60er Jahren, als in der Sowjetunion die schlimmsten Unterdrückungsmaßnahmen allmählich gelockert wurden. Die Kontakte konnten jedoch nur individuell und nur über das vom KGB kontrollierte »Kulturkomitee für Kontakte mit Landsleuten im Ausland« aufgenommen werden. Vorsicht war geboten, weil die sowjetischen Funktionäre immer wieder versuchten, die Kontakte für ihre Zwecke zu benutzen, um zumindest Propagandaerfolge zu erzielen. Exilletten, die solche Kontakte befürworteten oder pflegten, mussten dies weitgehend im Alleingang tun und wurden dafür nur zu oft von führenden Exilvertretern verdächtigt oder gar geschmäht. Diese Auseinandersetzungen wurden in den siebziger und achtziger Jahren noch durch sowjetische Verleumdungskampagnen gegen führende lettische Amtsinhaber der älteren Generation verschärft, die auch zur Anklagen und Prozessen wegen Kriegsverbrechen vor westlichen Gerichten führten. Auf die »verspätete« jüngere Generation folgte eine zwar viel kleinere, aber ebenso patriotische und noch immer lettisch sprechende Generation: die schon im Exil Geborenen. Ihre Eltern, lettische Schulen, Jugendorganisationen und die Gesellschaft hatten die Nachfolgenden lettisch erzogen, aber für sie war das Lettentum nicht mehr ererbtes, sondern erlerntes Gut und Erinnerung. Sie waren im besten Sinn des Wortes Wahlletten, die im Land ihrer Geburt zu Hause waren, die aber zugleich eine andere Identität freiwillig angenommen hatten. Lettland war nicht das Land, das sie verlassen hatten, nicht ihr Vaterland, wie sie selbst sagten, sondern das Land ihrer Väter. Dies war schließlich die Generation, die nicht nur ohne größere Vorbehalte das noch immer sowjetische Lettland besuchte und Kontakt mit ihren Altersgenossen aufnahm, sondern sich zugleich auch engagiert und ohne Vorbehalte im Westen für die Unabhängigkeit Lettlands einsetzte.

Heimkehr Mit der Erneuerung der lettischen Unabhängigkeit und des lettischen Staates endete das Exil als Mission. Wenn man die Wiedererlangung der Unabhängigkeit

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als Quintessenz allen politischen Bestrebens des Exils betrachtet, dann war das Exil trotz aller inneren Gegensätze und Spannungen erfolgreich. Dies aber nur, weil dasselbe Bestreben in Lettland wie in den anderen baltischen Staaten unterschwellig weiter bestanden hatte und sich seit dem Ende der 1980er Jahre unaufhaltsam in politischen Handlungen manifestierte. Im lettischen Credo des Exils hatte es auch geheißen: »Ich zweifle keinen Augenblick daran, dass ich in meine Heimat zurückkehren werde, nachdem ich ehrlich meine Mission erfüllt habe.« Die Mission war erfüllt. Für die ältere Generation aber kam die Befreiung zu spät, um heimzukehren. Die jüngere, zwar anders denkende, aber auch schon alternde Generation musste sich entscheiden. In einer Umfrage in den 50er Jahren hatten die in den USA lebenden Letten auf die Frage, was sie tun würden, wenn Lettland wieder ein freies Land würde, ohne zu zögern geantwortet: gleich mit dem ersten Schiff zurückkehren. Als Lettland wieder frei wurde, kamen keine Schiffe mit Exilletten in Lettland an. Auch für viele noch Lebende war es zu spät – Familienverhältnisse, gesundheitliche Gründe, Gewöhnung an das Leben in der neuen Heimat hielten sie zurück. Für andere war das erneuerte Lettland nach langer Fremdherrschaft nicht mehr das Lettland, das sie verlassen und an das sie geglaubt hatten. Auch die Befürchtung, dass der östliche Nachbar doch wieder eingreifen würde, hielt manchen von der Rückkehr ab. Es gab jedoch auch nicht wenige, die es wagten, wie es damals hieß, umzusiedeln und ihre letzten Lebensjahre in ihrer Heimat zu verbringen. Gleichwohl kann kein Zweifel daran bestehen, dass die über die ganze Welt zerstreuten ehemaligen Exilletten und ihre Nachkommen nach wie vor eine loyale, freigiebige und einsatzbereite Stütze ihrer Heimat sind, jederzeit bereit, für Lettland einzutreten.

Das Freiheitsdenkmal in Riga (Kārlis Zāle 1935). Die Inschrift lautet „Für Vaterland und Freiheit“.

Jugendstil in der Alberta iela (Architekt Michail Eisenstein): Geburtshaus des Philosophen Isaah Berlin (1909-1997).

Festung Daugavpils (Dünaburg) mit dem 2013 eröffneten Mark Rothko-Zentrum. Der Maler Rothko (1903-1970) wurde in Daugavpils geboren.

Allgemeines Lettisches Sängerfest (2013).

Das ehemalige Haus der Livländischen Ritterschaft ist heute Sitz des Parlaments.

Gedenktafel am ehemaligen Sitz der »Rigaschen Rundschau«.

Blick auf die Rigaer Altstadt: In der Mitte der Dom, rechts die Petri-Kirche, links das ehemalige Ordensschloss, heute Sitz des Staatspräsidenten.

Nationalbibliothek Lettlands (Architekt Gunnar Birkerts, 2014).

III. Wiedererlangung der staatlichen Selbständigkeit 1991-2018

Una Bergmane

Von der Perestroika zur Wiederherstellung der Unabhängigkeit Seit 1991 haben sich in der lettischen Öffentlichkeit zwei einander entgegengesetzte Narrative zur Wiedergewinnung der Unabhängigkeit 1990/91 herausgebildet. Die eine betrachtet die Einmaligkeit des Kampfes der Letten und dessen entscheidenden Einfluss auf die Auflösung der Sowjetunion als eigentliche Ursache. Die andere behauptet, dass das Wiedererstehen eines unabhängigen und demokratischen Lettlands nicht mehr war als ein Nebenprodukt des sozialen, politischen und wirtschaftlichen Zusammenbruchs der UdSSR. Im folgenden soll versucht werden, diese beiden stark simplifizierenden Narrative durch eine differenzierende Deutung der Dynamik, die zur Wiederherstellung der Unabhängigkeit Lettlands geführt hat, zu ersetzen und zugleich die lettischen Erfahrungen in den größeren Zusammenhang der in der gesamten Region wirkenden Kräfte einzuordnen. Denn es muss betont werden, dass die drei baltischen Staaten gemeinsam, und nicht Lettland, Litauen und Estland je allein, ein einmaliger Fall im sowjetischen Kontext sind und dass sie tatsächlich eine aktive Rolle beim Zusammenbruch des Sowjetstaates gespielt haben. Im Lichte ihrer gemeinsamen tragischen Geschichte und angesichts ähnlicher Herausforderungen im Kampf um die Unabhängigkeit zeigte die Bevölkerung aller drei Länder ein beachtliches Maß an Solidarität, während ihre Führer die Zusammenarbeit suchten. In der Tat können wir im baltischen Fall den gleichen »Überschwapp«-Effekt beobachten, der die Protestwelle in Mitteleuropa im Jahre 1989 so beschleunigte: Aktionen der Unabhängigkeitsaktivisten in einem der drei baltischen Staaten wurden oft sofort von den beiden anderen kopiert. Obwohl jeder der baltischen Staaten seine ganz besonderen Erfahrungen beim Zusammenbruch der Sowjetunion gemacht hat, sind sie doch ohne einen Blick auf die Region als Ganzes nicht zu verstehen. Die drei baltischen Staaten können aus verschiedenen Gründen als Sonderfall im sowjetischen Kontext betrachtet werden: Ihre Annexion vollzog sich erst 1940 und wurde von der Mehrheit der internationalen Gemeinschaft nicht als rechtsgültig anerkannt, ihre wirtschaftliche Leistung erlaubte es ihnen in den 70er Jahren, den Rest der UdSSR zu überholen, ihre geographische Lage und historischen Bindungen machten sie für die revolutionäre Dynamik in Osteuropa ebenso empfänglich wie für skandinavische und deutsche Einflüsse, und schließlich gab es eine gut organisierte baltische Diaspora außerhalb der Grenzen der Sowjetunion. Jeder dieser Faktoren allein und auch ihre Gesamtheit hätten Estland, Lettland und Litauen nicht die Unabhängigkeit gebracht – einmalig zu sein machte die

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Balten nicht unabhängig – aber sie befähigten die Gesellschaften der baltischen Länder, die historische Gelegenheit zu nutzen, die Gorbatschows Reformversuche in der UdSSR eröffneten, und die Grenzen von Perestroika und Glasnost‘ weiter hinauszuschieben als der sowjetische Präsident und seine Mitstreiter erwartet hatten. Darüber hinaus machte die spezielle Situation Lettlands, Estlands und Litauens die dort lebenden Menschen für die Fehler im sowjetischen System besonders sensibel. Die erzwungene Sowjetisierung, das ethnisch-territoriale föderale System, die widersprüchliche Nationalitätenpolitik und die bankrotte Wirtschaft betrafen natürlich das Leben aller Sowjetbürger, doch waren die Balten die ersten, die behaupteten, dass die Unabhängigkeit der einzig mögliche Weg zur Lösung dieser Probleme sei. Ironischerweise erwies sich die Tatsache, dass die Letten eine kleine Nation sind, bei ihrem Streben nach Unabhängigkeit eher als Vorteil denn als Nachteil, weil sich herausstellte, dass eine numerisch kleine Gesellschaft leichter durch formelle und informelle Netzwerke zu mobilisieren ist: Die Unabhängigkeitsbewegung erwuchs aus kleinen Initiativgruppen zur Unterstützung der Perestroika. Die erste antisowjetische Demonstration in Lettland wurde 1987 von den Dissidenten der lettischen Gruppierung »Helsinki-86« organisiert. Auch wenn sich diese offen gegen das Establishment gerichtete Gruppe niemals zu einer Massenbewegung entwickelte, trugen ihre Versuche, die Sowjetmacht in Lettland direkt herauszufordern, doch zur Veränderung der politischen Kultur bei. Weitaus größeren Einfluss auf die lettische Gesellschaft hatten jedoch Organisationen, die sich anfänglich nicht zu politischen, sondern zu Umweltproblemen äußerten. In den Jahren 1986-87 machten die Letten unter dem Eindruck der Nach-Tschernobyl-Stimmung in der Sowjetunion gegen verschiedene sowjetische industrielle Projekte Front, z.B. gegen den Bau eines Staudamms für ein Wasserkraftwerk an Lettlands größtem Fluss, der Daugava (Düna). Diese Erfahrung sollte dauerhafte Folgen haben, war sie doch der Ausgangspunkt für die Gründung einer ganzen Reihe von Basisorganisationen, die sich dem Umweltschutz und der Bewahrung des kulturellen Erbes widmeten. Während diese offiziell unpolitischen Organisationen die Basis für die Mobilisierung der späteren Massenbewegungen bildeten, erwiesen sich die Intellektuellen als eigentliche Triebkraft hinter der Mobilisierung der Letten. Timothy Snyder hat bei seiner Schilderung der Entwicklung in Litauen festgestellt: »Es gab einen besonderen Kompromiss zwischen den litauischen Kommunisten und der litauischen Intelligenz. […] Die Grundlage dieser von einem großen Teil der litauischen Intelligenz akzeptierten stillschweigenden Übereinkunft lautete: Parteimitgliedschaft gegen eine gewisse Freiheit zur Bewahrung der litauischen Kultur.«1 Diesen Kompromiss gab es bis zu einem gewissen Grade auch in Lettland. Während einige wenige maßgebende Intellektuelle wie Knuts Skujenieks sich ganz offen als Dissidenten zu erkennen gaben und entweder verfolgt, verhaftet oder aus der UdSSR ausgewiesen wurden, schloss die Mehrheit der lettischen Intellektuellen einen Kompromiss mit dem System. 1

Snyder, T.: The Reconstruction of Nations. New Haven 2004, S. 95.

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Einerseits erhielten sie wichtige finanzielle Unterstützung vom Sowjetstaat, andererseits wurden sie von der Bevölkerung als Wächter der nationalen Sprache und Kultur wahrgenommen. Doch als Gorbatschows Perestroika eine günstige Gelegenheit für Veränderungen eröffnete, nahm die Intelligenz in allen drei baltischen Ländern diese Gelegenheit wahr. Im lettischen Fall war die Gründung der Unabhängigkeitsbewegung Tautas Fronte (Volksfront) im wesentlichen ein Werk von Schriftstellern. Die lettische Schriftstellerin Anna Žigure hatte an einer Sitzung des estnischen Exekutivkomitees teilgenommen, das die Gründung von Rahvarinne (Volksfront) vorzubereiten hatte, und brachte die Idee nach Lettland.2 Die Möglichkeit, ein lettisches Gegenstück zu gründen, wurde zum ersten Mal auf einer Sitzung des Lettischen Schriftstellerverbands am 1.-2. Juni 1988 diskutiert. Die »graue Eminenz« hinter dem Entstehungsprozess war Jānis Peters, Dichter und Haupt des Lettischen Schriftstellerverbandes. Der Gründungskongress von Tautas Fronte wählte im Oktober 1988 den 33 Jahre alten Journalisten Dainis Īvāns, der die Bewegung gegen den Düna-Staudamm organisiert hatte, zu seinem Vorsitzenden. Eines der Schlüsselelemente für den Erfolg der baltischen Volksbewegungen war die Bereitschaft einer gewichtigen Anzahl von Kommunisten, zunächst Gorbatschows Perestroika zu akzeptieren, sich dann dem Druck und den Forderungen der Volksbewegungen zu beugen und schließlich das Unabhängigkeitsprojekt zu unterstützen. In allen drei Republiken sorgten die für die Unabhängigkeit eintretenden Kommunisten nicht nur dafür, dass die Unabhängigkeitsbewegungen in den Augen Moskaus eine gewisse Legitimation erhielten, sondern auch dafür, die Spaltung der baltischen Gesellschaften zu begrenzen. Wie Anatol Lieven festgestellt hat, war die Kommunistische Partei zwar äußerst unpopulär, aber die einfachen Leute gaben nach wie vor den einzelnen kommunistischen Führern den Vorzug vor den Führern der Opposition.3 Schon 1988 ließen die Parteiführungen im Baltikum erkennen, dass sie willens waren, auf größere Autonomie für Estland, Lettland und Litauen zu drängen. Zwischen 1988 und 1990, also noch bevor die Unabhängigkeitsbewegungen nach den Wahlen von 1990 an die Macht kamen, verkündeten die Obersten Sowjets aller drei Länder den Vorrang ihrer Gesetze vor den Gesetzen der Union, erklärten ihre jeweilige Sprache zur einzig offiziellen Sprache, führten die nationalen Flaggen der Zwischenkriegszeit wieder ein und ließen die Feier des Unabhängigkeitstages von 1918 wieder zu. Während die ersten Demonstrationen 1987 und 1988 noch auf Gewalt gestoßen waren, gab es 1989 keine Hindernisse mehr für Versammlungen, an denen Tausende teilnahmen. Die Gründe für die Unterstützung des Kampfs um Autonomie durch die lettischen Kommunisten sind bisher in der wissenschaftlichen Literatur nicht gründlich untersucht worden, und dieser Beitrag hat nicht den Ehrgeiz, auf 2 3

Interview vom 15. Mai 2015 mit J.Peters, Vertreter der lettischen Regierung in Moskau 1990-1992 und lettischer Botschafter in der Russischen Föderation 1992-1997. Lieven, A.: The Baltic Revolution: Estonia, Latvia, Lithuania and the Path to Indepence. New Haven 1994, S. 231.

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diese Frage eine definitive Antwort zu geben. Doch gewisse Hypothesen sollten erwähnt werden. So hat Stephen Kotkin behauptet, dass der Untergang der Sowjetunion »national in der Form, opportunistisch im Inhalt« gewesen sei.4 Es ist in der Tat durchaus möglich, dass die lettische kommunistische Elite angesichts der wachsenden Macht der Unabhängigkeitsbewegung einfach die Siegerseite gewählt hat. Man muss jedoch bedenken, dass der endgültige Erfolg des Unabhängigkeitsprojekts bis August 1991 nicht sicher war, als Estland, Lettland und Litauen international anerkannt wurden, so dass die Motive der lettischen Kommunisten nicht allein opportunistisch gewesen sein können. Wie andere Kommunisten in der UdSSR waren auch die Mitglieder der baltischen kommunistischen Parteien gespalten in diejenigen, die Gorbatschows Reformen unterstützten, und diejenigen, die den status quo vorzogen. Während die letzteren die baltischen Volksbewegungen von Anfang an mit Misstrauen betrachtet hatten, sahen die ersteren darin eine progressive Kraft, die die Möglichkeiten der Perestroika auslotete. Anfänglich wurden die baltischen Volksbewegungen nicht nur von lokalen liberalen Kommunisten im Baltikum unterstützt, sondern auch von einigen der engsten Berater Gorbatschows in Moskau. In der Hoffnung, dass wirtschaftliche und soziale Reformen die Legitimität der Sowjetmacht im Baltikum stärken würden, und in der Meinung, dass gerade diese Region für Reformen besonders empfänglich sei, waren Gorbatschow und seine engste Umgebung anfangs durchaus bereit, mit den baltischen Aktivisten zusammenzuarbeiten, um ihre eigenen Reformprojekte zu testen.5 Im Sommer 1989 billigte Alexander Jakowlew, der nach Lettland und Estland entsandt worden war, um die dortige Situation zu beurteilen, ausdrücklich das Entstehen der Volksbewegungen, womit er es der kommunistischen Führung vor Ort unmöglich machte, diese Bewegungen zu unterdrücken. Noch im Mai 1989 bestand Gorbatschow darauf, »dass wir die Volksfronten, die von neunzig Prozent der Bevölkerung der Republiken unterstützt werden, nicht mit den Extremisten gleichsetzen können«6.. Es könnte sein, dass Moskau die aufstrebenden Volksbewegungen tolerierte, weil sich durch sie die Möglichkeit zu eröffnen schien, einerseits Gorbatschow gegen die konservativsten Kräfte der Union zu unterstützen und andererseits die moderaten Elemente im Baltikum gegen die radikalen Nationalisten zu stärken. Tatsächlich sah sich die lettische Unabhängigkeitsbewegung Tautas Fronte 1989 mit Opposition von beiden Seiten konfrontiert, von den radikaleren nationalistischen Kräften ebenso wie von den konservativen russischsprachigen Anti-Unabhängigkeitsgruppen. In Lettland wurde im Januar 1989 die »Internationale Front des werktätigen Volkes der Lettischen Sozialistischen Sowjetrepublik« oder Interfront gegründet. Sie wandte sich sowohl gegen die lettische Unabhängigkeit als auch gegen Gor4 5 6

Kotkin, S.: Armageddon Averted. Oxford 2008, S. 105. Z.B. erhielten Estland, Lettland und Litauen im Juli 1989 wirtschaftliche Autonomie. Černjaev, A. u.a. (Hg.): Sojuz možno bylo sochranit‘ (Es war möglich, die Union zu retten). Moskau 2007, S. 77.

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batschows Perestroika und erfreute sich der Unterstützung sowjetischer Konservativer, doch schaffte sie es nicht, eine signifikante Zahl von Anhängern aus der örtlichen russischsprachigen Bevölkerung zu mobilisieren. Für die größte Demonstration, die im Januar 1991 stattfand, konnten nur 10.000 Teilnehmer aufgeboten werden. Bis heute gibt es weder wissenschaftliche Untersuchungen zu den interethnischen Beziehungen in den baltischen Ländern zur Zeit der Perestroika noch zur Einstellung der in Lettland lebenden Russischsprachigen gegenüber der Forderung nach Unabhängigkeit Lettlands, die eine Antwort auf die Frage erlauben würden, warum die Versuche der Konservativen scheiterten, eine größere Zahl von Russischsprachigen zu mobilisieren. Dabei ist jedoch festzuhalten, dass die entscheidende Triebkraft der baltischen Unabhängigkeitsbewegungen zwar der Nationalismus der Esten, Letten und Litauer war, dass diese Bewegungen sich jedoch auch mit Problemen beschäftigten, die für alle Bewohner der baltischen Staaten wichtig waren wie Wirtschaft, Rechtsordnung, Demokratie und Umwelt, was das Unabhängigkeitsprojekt auch für Nicht-Letten, Esten und Litauer attraktiv machte. Zwischen 1987 und 1991 haben ethnische Gruppen in Lettland (oder einem anderen baltischen Staat) niemals zu physischer Gewalt Zuflucht genommen. Tautas Fronte und ihre estnischen und litauischen Gegenstücke haben explizit jede Gewalt zur Erreichung politischer Ziele ausgeschlossen. Auch wenn die Beziehungen zwischen den verschiedenen Teilen der Gesellschaft gespannt blieben, wurden sie nie gewalttätig, sondern ließen immer Raum für den Dialog. Überdies stützte die Tautas Fronte, wie die baltisch-amerikanische Wissenschaftlerin Mara Lazda deutlich gemacht hat, ihren Diskurs über die Unabhängigkeit nicht nur auf nationale, sondern auch auf transnationale Werte7 und das machte das Unabhängigkeitsprojekt auch für Russischsprachige und andere nationale Minderheiten akzeptabel. Tatsächlich gab es in der Zeit zwischen 1988 und 1991 bereits in allen drei Republiken politische Kräfte, die eine radikalere Haltung gegenüber den Sowjetbehörden und den russischsprachigen Minderheiten forderten. Im Laufe des Jahres 1989 entwickelte sich die Lettische Nationale Unabhängigkeitsbewegung (Latvijas Nacionālās Neatkarības Kustība, im ff. LNNK) zu einer bedeutenden politischen Kraft. Sie lehnte jede Zusammenarbeit mit sowjetischen Institutionen einschließlich der Teilnahme an sowjetischen Wahlen ab. Seit dem Sommer 1989 organisierte LNNK sogenannte Bürgerkomitees – Basisgruppen, die alle Bürger, die vor 1940 im Lande gelebt hatten, und deren Nachkommen registrierten. Deren Ziel war die Vorbereitung nationaler Wahlen, von denen die Einwanderer der Sowjetzeit ausgeschlossen sein sollten, sowie die Wahl alternativer Parlamente, die nicht mit den sowjetischen Institutionen verbunden wären. Der Hauptunterschied zwischen Tautas Fronte und LNNK bestand in ihrem taktischen Vorgehen zur Erreichung der Unabhängigkeit. Wie erwähnt, lehnten es LNNK und die Bürgerkomitee-Bewegung ab, die Legitimität der unter Sowjet7

Lazda, M.: Reconsidering Nationalism: The Baltic Case of Latvia in 1989. In: International Journal of Politics, Culture and Society 22 (2009) 4, S. 17-36.

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recht geschaffenen Institutionen anzuerkennen, die sie für unfähig hielten, die Unabhängigkeit durchzusetzen. Tautas Fronte dagegen wählte den sogenannten »parlamentarischen Weg zur Unabhängigkeit«, der die Teilnahme an sowjetischen Wahlen einschloss und das Sowjetsystem zur Förderung des Unabhängigkeitsprojekts nutzen wollte.8 Im Februar und März 1990 fanden in den baltischen Ländern die ersten freien Wahlen unter sowjetischer Herrschaft statt9. Die für die Unabhängigkeit eintretenden Bewegungen gewannen in allen drei Obersten Sowjets die Mehrheit. Am 4. Mai 1990 erklärte der Oberste Sowjet Lettlands die Annexion Lettlands durch die UdSSR für illegal und beschloss, eine Übergangsperiode bis zur vollen Unabhängigkeit einzuleiten. Die Verfassung von 1922 wurde teilweise wieder in Kraft gesetzt, doch behielt die Mehrheit der sowjetischen Gesetze in der Übergangsperiode ihre Gültigkeit. Wie Mark Beissinger bemerkt, testeten die baltischen Aktivisten während der kritischen Jahre 1988-1989 »die Grenzen des Erlaubten und Möglichen«. Die Führung der Tautas Fronte passte ihr Unabhängigkeitsprojekt schrittweise, aber konsequent der Entwicklung an, wobei sie das Sowjetsystem nutzte, um ihren Kurs zu fördern. Geschichte und Erinnerung spielten in diesem Prozess nicht nur deshalb eine bedeutende Rolle, weil sie die treibenden Kräfte hinter der baltischen Mobilisierung waren, sondern weil sie den baltischen Aktivisten halfen, die baltische Frage so zu formulieren, dass man darüber sowohl mit Moskau als auch mit der westlichen Öffentlichkeit kommunizieren konnte. Die Enthüllungen über die sowjetischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die im Baltikum begangen worden waren – am wichtigsten die Massendeportationen der Jahre 1941 und 1949 – führten zu den ersten Massenversammlungen in den drei Ländern. Die erste wurde am 14. Juni 1987 von lettischen Menschenrechtsaktivisten organisiert, um an die Deportationen von 1941 zu erinnern. Am 23. August desselben Jahres kam es in Estland, Lettland und Litauen zu Demonstrationen, die der Erinnerung an den Hitler-Stalin-Pakt von 1939 gewidmet waren. In den Jahren 1987-1991 waren die kritischen Daten des 25.März (Deportationen von 1949), 14. Juni und 23. August durch zunehmend eindrucksvollere Demonstrationen gekennzeichnet. Die Rückbesinnung auf die Vergangenheit hatte durchaus Auswirkungen auf die Vorstellungen von der Zukunft: Unrecht und Leiden unter Stalin (und später) führten zu scharfer Ablehnung vergangener und zukünftiger Sowjetherrschaft. Am 23. August 1989 fand die größte Versammlung in der Geschichte der baltischen Länder statt, um der 50 Jahre seit der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Pakts zu gedenken – etwa zwei Millionen Esten, Letten und Litauer reichten sich die Hände und bildeten eine 675 km lange Menschenkette von Tallinn im Norden bis Vilnius im Süden. Geschichte bildete aber nicht nur eine Quelle der Inspiration und des Kummers, die die Nationen fester zusammenschweißte, sondern Geschichte spielte 8 9

Siehe im einzelnen B. Deksnis und T. Jundzis. Für Letten und Esten waren es die ersten freien Wahlen seit dem Staatsstreich von 1934, während die Litauer seit 1926 nicht mehr frei gewählt hatten.

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auch noch eine weitere Rolle im baltischen Streben nach Unabhängigkeit. Da sich die Letten und ihre Nachbarn durchaus darüber im klaren waren, dass sie einen direkten Zusammenstoß mit den Sowjetbehörden nicht gewinnen konnten, sondern die von Gorbatschows Glasnost‘ gebotenen Möglichkeiten nutzen mussten, versuchten sie, über ihre Unabhängigkeit mit Hilfe einer rechtlichen Argumentation zu verhandeln, die sich auf die Geschichte und das Völkerrecht stützte. Angeregt von der westlichen Politik der Nichtanerkennung10 bestanden die Letten darauf, dass die Annexion ihres Staats 1940 illegal gewesen sei und sie daher formal gar kein Teil der UdSSR seien. So wurde die Geschichte nicht nur zur Basis emotionaler Appelle, sondern auch zur Grundlage rechtlicher Argumente. Die Existenz der Nichtanerkennungspolitik verwandelte das baltische Streben nach Unabhängigkeit von einem innersowjetischen in ein internationales Problem. So fassten spanische Diplomaten während der EWG-Präsidentschaft Spaniens im Sommer 1989 das Problem, das sich aus dem baltischen Streben nach Unabhängigkeit für den Westen ergab, folgendermaßen zusammen: «Die westliche Welt sieht sich einem offensichtlichen Widerspruch gegenüber: Entweder verliert sie die Möglichkeit, die baltischen Staaten zu unterstützen, und bricht damit mit den bis heute aufrechterhaltenen Prinzipien (Nichtanerkennung der Annexion) oder sie unterstützt die baltischen Forderungen nach Unabhängigkeit und reduziert damit Gorbatschows Manövrierfähigkeit und schafft neue Probleme für die Perestrojka.«11 Während die Vorstellung, zwischen der Unterstützung für Gorbatschow und der Unterstützung der Balten ein Gleichgewicht halten zu müssen, die Vereinigten Staaten und die großen europäischen Mächte zu einer sehr vorsichtigen und oft widersprüchlichen Politik in der baltischen Frage bewogen, wurden kleine europäische Staaten wie Island und Dänemark und frühere Angehörige des Ostblocks wie Polen die eigentlichen Fürsprecher des baltischen Kurses auf der internationalen Bühne. Doch muss man betonen, dass es trotz vieler Widersprüche in der baltischen Politik der USA ein konstantes Element in Präsident Bush‘s Umgang mit der baltischen Frage gab – die wiederholte Aufforderung an die Sowjetführung, in Estland, Lettland und Litauen keine Gewalt anzuwenden. Schon bei seinem ersten Treffen mit Gorbatschow in Malta bat er diesen, auf Gewalt in den baltischen Staaten zu verzichten, während eine solche Forderung mit Blick auf die anderen Sowjetrepubliken nicht gestellt wurde. Im Frühjahr 1990 schrieb Bush zwei Mal an Gorbatschow und wiederholte diese Forderung, und einen ähnlichen Wunsch brachte Außenminister Baker gegenüber Schewardnadse vor. Die Anwendung von Gewalt war in gewissem Sinne eine rote Linie für die Bush Administration, eine Frage, die wichtiger war als die Unabhängigkeit der balti10 11

Zur Politik der Nichtanerkennung vgl. auch die Beiträge von V. Nollendorfs und K.Zellis in diesem Band, S. 113, 120 u. S. 69. La Courneuve: URSS (1986-1990), 6592; COREAU (Correspondance Européenne), origine Madrid, destinaire Ministère des Affaires étrangères de la France, Madrid, le 16 mai 1989.

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UNA BERGMANE

schen Staaten. Denn dabei ging es nicht so sehr um die baltischen Nationen, sondern um die Gefahr, dass Blutvergießen in Estland, Lettland und Litauen die OstWest-Beziehungen in der Zeit wichtiger Verhandlungen über die Wiedervereinigung Deutschlands komplizieren könnte. Überdies sahen Politiker, Analytiker und die Medien sowohl in der Nichtanwendung von Gewalt gegenüber Zivilisten als auch in der Demokratisierung im Baltikum zentrale Elemente der Perestroika. Als Gorbatschow im Januar 1991 weder die Anwendung von Gewalt verhinderte noch sie eindeutig verurteilte, schien sich eine gefährliche Verschiebung in der sowjetischen Politik anzukündigen, die weit über die baltische Frage hinausreichende Konsequenzen haben konnte. Seit 1989 hatten die estnischen, lettischen und litauischen Führer nach einer internationalen Lösung für ihre Zielsetzungen gesucht. Doch im Frühjahr 1991 kam ihnen der Gedanke, dass die entscheidende Unterstützung ihrer Unabhängigkeitsbestrebungen aus der Sowjetunion selbst kommen könnte – der wichtigste Faktor, der zur Wiedererlangung der baltischen Unabhängigkeit beitrug, war die Ablehnung des Sowjetstaats durch die Russen selbst. In der ersten Jahreshälfte 1991 hatten scharfe Kritik und Ablehnung des Sowjetstaats gerade unter den Russen stark zugenommen, die in der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) lebten. Marc Beissinger hat darauf hingewiesen, daß sich die Russen zunehmend dem Staat entfremdeten, mit dem sie sich in der Vergangenheit identifiziert hatten. Das sicherte die Unterstützung für Jelzin, stärkte seine Popularität in der RSFSR und half den Regierungen Lettlands und Estlands, die Unterstützung ihrer russischen Minderheiten zu gewinnen. Doch muss man betonen, dass auch die gleichzeitigen internationalen Bemühungen der baltischen Regierungen nicht vergeblich waren; denn einer der Gründe, warum Jelzin sich den Balten annäherte, war seine Suche nach internationaler Legitimation, die er durch die Übereinstimmung mit dem baltischen Kurs zu gewinnen trachtete. Die westlichen Interessen an der Lage im Baltikum und das Bestehen auf Nichtanwendung von Gewalt brachten Lettland zwar nicht die Unabhängigkeit, schufen jedoch einen internationalen Rahmen für den baltischen Unabhängigkeitskampf, indem sie der Gewaltanwendung gegen die Unabhängigkeitsbewegungen enge Grenzen zogen. Während sich die Hauptauseinandersetzung um die Unabhängigkeit Lettlands innerhalb der Sowjetgrenzen abspielte, erwies sich die Wahrnehmung dieses Ringens auf der internationalen Bühne als wichtiger Vorteil für die Letten und ihre Nachbarn, denn es half ihnen, sowohl Verbündete unter den russischen Demokraten zu finden als auch Gegner aus den konservativen Kreisen der Sowjetführung zur Zurückhaltung zu bewegen. Jelzin und die Balten waren denn auch die wahren Gewinner des AugustPutschs. Der russische Präsident vermehrte sein politisches Kapital, und Estland, Lettland und Litauen gewannen ihre Souveränität. Der Putsch war eine günstige Gelegenheit, die Esten und Letten nutzten, um ihre Unabhängigkeit zu verkünden, was Litauen schon am 11. März 1990 getan hatte. Ebenso resultierten auch die Faktoren, die zur internationalen Anerkennung der baltischen Staaten führten, aus langfristigen Entwicklungen: Jelzins ständig wachsende Unterstützung

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und die allmähliche Wiederannäherung der baltischen Staaten und Skandinaviens, besonders Islands. Am 22. August 1991 war Island der erst Staat, der die baltische Unabhängigkeit anerkannte, und als zweiter folgte am 24. August die RSFSR, die damals noch Teil der UdSSR war. In den folgenden Tagen und Wochen folgten ihnen alle europäischen und nordamerikanischen Staaten einschließlich der Sowjetunion am 6. September.

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Zwischen Pluralismus und effektiver Regierung: Lettlands Demokratie seit der Wiederherstellung der Unabhängigkeit Demokratie als moderner gesellschaftlicher Grundbegriff lässt sich auf verschiedene Weise definieren. Im folgenden wird unter Demokratie im engeren Sinne eine politische Ordnung verstanden, in der zur politischen Beschlussfassung ein Meinungsaustausch mit der Gesellschaft erforderlich ist. In Demokratien ist dieser Meinungsaustausch sehr umfassend, denn an ihm nehmen (fast) alle Einwohner des Staates teil. Er ist weiterhin unterschiedslos, denn im Idealfall besitzt jeder daran beteiligte Bürger den gleichen Einfluss. Er ist geschützt, denn die an den Beratungen beteiligten Bürger genießen bestimmte Bürger- und Menschenrechte, die durch den Staat garantiert sind und nicht durch ihn beeinträchtigt werden dürfen. Schließlich sind die Ergebnisse dieser Beratungen bindend, denn die politische Macht muss sie respektieren – was sich gewöhnlich in der Austauschbarkeit der politischen Eliten sowie in fairen und regelmäßig stattfindenden Wahlen ausdrückt. Um die Besonderheiten der Demokratie in Lettland zu verstehen, wird ein kurzer historischer Abriss vorausgeschickt. Danach wenden wir uns der Funktionsweise der wichtigsten demokratischen Institutionen in Lettland zu – der Gewaltenteilung, dem Parteiensystem, den lokalen Selbstverwaltungen usw. Doch sind für eine Demokratie nicht nur die Institutionen wichtig, sondern auch die Einstellungen und Werte der Gesellschaft. Deshalb verdient auch die politische Kultur Aufmerksamkeit, für die im Fall Lettlands vor allem der Umstand von besonderer politischer Bedeutung ist, dass dort Angehörige verschiedener Ethnien leben. Ein kurzer Überblick ist der Situation der Menschenrechte in Lettland gewidmet. Bei allen diesen Aspekten ist jedoch stets daran zu erinnern, dass sich die Demokratie in Lettland seit ihren ersten Anfängen im weiteren europäischen und globalen Kontext entwickelt hat. Deshalb muss man beim Nachdenken über die Demokratie in Lettland stets auch jene Probleme und Entwicklungstendenzen im Auge haben, die für die gesamte demokratische Welt charakteristisch sind. Gleich zu Beginn sei mit Blick auf die Entwicklung der Demokratie in Lettland auch auf einige Einschränkungen verwiesen. Die Zeitabschnitte, in denen im Laufe des 20. Jahrhunderts die Realisierung lettischer Eigenstaatlichkeit mit einer demokratischen politischen Ordnung verbunden war, sind vergleichsweise kurz – vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis 1934 sowie nach der Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit in den Jahren 1990/1991. Somit ist die Erfahrung mit

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der Demokratie in Lettland verhältnismäßig begrenzt. Doch im Laufe der Zeit und während sich konkretere Formen der lettischen Demokratie im 21. Jahrhundert kontinuierlich herausbilden, werden zwei Tendenzen immer bedeutsamer: Erstens ist die demokratische Regierungsform, so wie sie sich in Lettland und auch in einer Reihe anderer mittel- und osteuropäischer Staaten nach dem Ende des Kalten Krieges herausgebildet hat, keineswegs als eine universelle und unveränderbare »Normalität« zu verstehen, die gleichsam als alternativlos zu gelten habe. Ganz im Gegenteil: Die Entwicklung der Demokratie findet vor dem Hintergrund eines ununterbrochenen Wandlungsprozesses statt, wechselseitig bedingt mit anderen grundlegenden Veränderungen wie der Globalisierung, der Revolution der Informations- und Kommunikationstechnologien usw. Zweitens kann die Demokratie keine Lösung für alle gesellschaftlichen Probleme sein, und nicht alle Probleme (wie z. B. Korruption oder die Beziehungen zwischen den ethnischen Gruppen) sind einfach dadurch lösbar, dass man »mehr Demokratie« einführt. Mit Bezug auf die Unterscheidung Samuel Huntingtons liegen die Probleme Lettlands nicht so sehr in der Form der Verwaltung als vielmehr in ihrem Umfang – nämlich darin, ob der Staat dort die sozialen Prozesse effektiv beeinflussen kann, wo es die Gesellschaft wünscht. Die Demokratie gibt dem Bürger die Möglichkeit, die politische Macht wirkungsvoll zu kontrollieren, sie nivelliert Unterschiede und verhindert Diskriminierungen zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen. Zudem eröffnet sie breite Möglichkeiten für individuelle Autonomie und Selbstverwirklichung. Doch nicht weniger wichtig ist die Fähigkeit des Staates, die für die Menschen relevanten Probleme mit Erfolg zu lösen. Das Verhältnis zwischen der Leistungsfähigkeit der Demokratie und der des Staates ist dynamisch und veränderlich, und doch ist es gerade dies Verhältnis, das für den Erfolg der politischen Entwicklung Lettlands in der Zukunft entscheidend ist.

Der Beginn der Demokratie Mitte des 19. Jahrhunderts, als sich die lettische Nation politisch herausbildete, gehörte das Territorium des heutigen Lettlands noch zum Russischen Reich. Es war auf drei Gouvernements mit unterschiedlichem politischen Status aufgeteilt: Livland und Kurland waren eigene Gouvernements, die einen mit Selbstverwaltungsprivilegien verbundenen Sonderstatus genossen, während Lettgallen einen Teil des Gouvernements Witebsk bildete. Weder die deutschbaltischen Ritterschaften in Livland und Kurland noch die russische Zentralgewalt waren einer Demokratisierung freundlich gesinnt. Die Verwaltung in St. Petersburg war im Gegenteil in erster Linie bestrebt, das Russische Reich vor den demokratischen Tendenzen, wie sie in Westeuropa verbreitet waren, zu schützen. Die deutschbaltische Elite ihrerseits hielt verbissen an ihrem korporativen Feudalismus fest, der selbst dem nicht immatrikulierten Adel und den Stadtbürgern das Recht auf

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politische Mitsprache in Livland und Kurland versagte, von den lettischen Bauern ganz zu schweigen. Die Situation änderte sich ein wenig im Zuge der »großen Reformen« Alexanders II. (Regierungszeit 1855-1881), als die Leibeigenschaft im ganzen Russischen Reich abgeschafft, die bürgerlichen Freiheiten erweitert und Einrichtungen lokaler Selbstverwaltung auch im Baltikum eingeführt wurden (Landgemeindeordnung 1866, Städtereform 1877). Diese Neuerungen veranlassten am Ende der 70er Jahre auch die deutschbaltische Elite zu vorsichtigen Reformversuchen – beispielsweise war an eine Erweiterung des Landtags um Vertreter der Städte und Bauern gedacht -, die allerdings ergebnislos endeten. Die lettische Nationalbewegung war bereits seit ihren Anfängen in den 1850er Jahren auf das Ziel demokratischer Teilhabe ausgerichtet, indem sie die Abschaffung der Privilegien der deutschbaltischen Aristokratie und die Gewährung des Stimmrechts für Bauern forderte. Diese Forderungen wurden hauptsächlich im Kontext der Politik der St. Petersburger Regierung erhoben, die dazu aufgefordert wurde, die in großen Teilen des Reiches eingeführte Zemstvo-Selbstverwaltung auch in den Ostseeprovinzen einzuführen. Natürlich hatten diese Selbstverwaltungsbehörden – die Zemstva – nur einen engen Zuständigkeitsbereich, und überdies war die Teilnahme an einen Eigentumszensus gebunden. Somit hätten diese Einrichtungen wenig dazu beigetragen, die Distanz zwischen den Herrschenden und der dynamisch wachsenden lettischen Gesellschaft zu verringern. Diese Distanz zeigte sich besonders deutlich in der Revolution von 1905 – 1907, als sich eine bedeutende Zahl von Letten gegen die Gutsbesitzer und die zaristische Verwaltung wandte. Dennoch erwarben die Letten gerade in der Zeit der »Großen Reformen« erste demokratische Erfahrungen auf der Ebene der lokalen Selbstverwaltung auf dem Lande und in den Städten. Regelrecht parlamentarisch-demokratische Erfahrungen sammelten die Letten jedoch erst mit der Teilnahme an den Wahlen zu den ersten vier Parlamenten Russlands (Duma, 1906 bis 1917), in die auch einige der Politiker des späteren demokratischen Lettlands mit dem Staatspräsidenten Jānis Čakste an der Spitze gewählt wurden. Als sich im Laufe des Jahres 1917 in lettischen Kreisen der Gedanke an die Gründung eines unabhängigen Staates herauskristallisierte, galt die demokratische Staatsform als Selbstverständlichkeit. Die beiden einflussreichsten politischen Kräfte der Letten – die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Lettlands und der Lettische Bauernbund – betonten die Notwendigkeit, Lettland als einen unabhängigen und demokratischen Staat zu schaffen, in dessen politisches Leben breite gesellschaftliche Kreise eingebunden sein sollten. In dieser Hinsicht positionierte sich das demokratische Lettland als direkter Gegenentwurf zu den konkurrierenden Projekten – dem von den Deutschbalten vorgetragenen Plan eines unter der Vormundschaft Deutschlands stehenden »Baltenlandes« oder demjenigen einer eingeschränkten Autonomie in einem neuen »weißen« Russland. Von der Staatsgründung 1918 bis zum autoritären Umsturz unter Kārlis Ulmanis im Mai 1934 war Lettland eine vollwertige Demokratie mit ihren Stärken und Schwächen. Die Gründerväter der Verfassung gestalteten die politische Ordnung Lettlands ausgesprochen demokratisch, mit einem nach allgemeinem und Ver-

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hältniswahlrecht gewählten Parlament (lett. Saeima) im Zentrum. Diese erste Phase der Demokratie in Lettland war durch einen außerordentlich hohen politischen Pluralismus geprägt sowie durch eine aktive Einbindung der Bürger in die demokratischen Institutionen. Gleichzeitig trugen die Weltwirtschaftskrise, häufig wechselnde Regierungen und ein zersplittertes politisches Parteienspektrum nicht gerade zur Festigung der Akzeptanz der Demokratie bei. Auch die »erfolgreichen« Präzedenzfälle autoritärer Herrschaft in vielen anderen europäischen Staaten bereiteten den Boden für den Umsturz vom 15. Mai 1934, als Ministerpräsident Kārlis Ulmanis verfassungswidrig die Saeima auflöste und eine Diktatur errichtete. So begann eine lang andauernde undemokratische Periode, in der dem autoritären Ulmanis-Regime zwei aggressive totalitäre Regime folgten – die UdSSR (1940/41), Nazideutschland (1941-1944/45) und noch einmal die UdSSR bis 1991. Die Rückkehr zur demokratischen Ordnung war eines der Hauptziele im Kampf um die Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit in den Jahren 1986 bis 1991. Denn die »Singende Revolution«, in deren Rahmen sich Hunderttausende Einwohner Lettlands unter der Führung der Volksfront gegen das Sowjetregime wandten, trat nicht nur für die Rückkehr eines souveränen lettischen Staates in den Kreis der Demokratien Europas ein, sondern sie bediente sich auch konsequent ausschließlich demokratischer, gewaltfreier und auf eine transparente Politik ausgerichteter Methoden, um dieses Ziel zu erreichen. Dies wurde am klarsten durch die Entscheidung der Unabhängigkeitsbewegung belegt, die Wiederherstellung der Staatlichkeit Lettlands auf parlamentarischem Weg zu erreichen, nämlich durch Wahlen. 1990 wurde der Oberste Sowjet der Republik Lettlands neu gewählt, dem die wichtige Aufgabe der Wiederherstellung der Selbständigkeit Lettlands zufiel.

Die Institutionen der Demokratie Für den Prozess der Erneuerung der Unabhängigkeit war die historische Verbindung des lettischen Staates zur demokratischen Ordnung der Zwischenkriegszeit von entscheidender Bedeutung. Dadurch wurde Lettland zum einzigen Staat im gesamten postkommunistischen Europa, in dem nach dem Fall des Kommunismus keine neue Verfassung geschrieben, sondern die Verfassung der Zwischenkriegszeit wieder in Kraft gesetzt wurde. Dieser Schritt besaß eine beachtliche symbolische Bedeutung. Er unterstrich zum einen den gesetzwidrigen Charakter der sowjetischen Okkupation und appellierte zum anderen an die »Nichtanerkennungspolitik« der westlichen Mächte (an erster Stelle der USA)1, womit er dazu beitrug, die Ansprüche Russlands (als Rechtsnachfolger der UdSSR) auf Ein1

Die Westmächte hatten die Annexion der baltischen Staaten durch die UdSSR 1940 nicht anerkannt, auch die diplomatischen Vertretungen der Republik Lettland in London und Washing-

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fluss in Lettland zurückzuweisen. Überdies wirkte sich die Wiedereinsetzung der Verfassung von 1922 auch positiv auf die Institutionen aus, als die Republik Lettland im Jahre 1991 als parlamentarische Demokratie mit einheitlicher Struktur, einem Verhältniswahlrecht und vergleichsweise dezentraler exekutiver Macht erneuert wurde. Obwohl sich der institutionelle Aufbau der Demokratie in Lettland in den letzten 25 Jahren kontinuierlich weiterentwickelt und vervollkommnet hat, bildet die Verfassung von 1922 doch nach wie vor die Grundlage für diesen Weg. Die Idee der staatlichen Kontinuität von der Zwischenkriegszeit zur nachsowjetischen Periode hat auf internationaler Ebene vor allem durch ihre Auswirkungen auf die Politik der Staatsbürgerschaft Bekanntheit erlangt. Mit der de iure-Erneuerung des Staates Lettland am 4. Mai 1990 wurde die Okkupation Lettlands durch die UdSSR verurteilt und deren Folgen für illegal erklärt. Damit besaßen diejenigen Immigranten, die in der Zeit der Okkupation Lettlands eingewandert waren, kein automatisches Anrecht auf die lettische Staatsbürgerschaft. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR Ende 1991 führte dies dazu, dass etwa 600.000 Einwohner Lettlands keinerlei Staatsangehörigkeit mehr besaßen. So entstand die Kategorie der sogenannten Nichtstaatsbürger Lettlands (noncitizens, aliens), die zwar den Status ständiger Einwohner Lettlands besitzen, verbunden mit allen zivilen und sozialen Rechten, die jedoch nicht an den Wahlen teilnehmen und auch eine Reihe von Ämtern im öffentlichen und privaten Bereich nicht übernehmen können. 1994 wurde ein Verfahren zur Naturalisierung eingeführt, das für Nichtstaatsbürger die Möglichkeit vorsieht, lettische Staatsbürger zu werden. Zunächst fand die Naturalisierungspolitik nur wenig Resonanz, doch wurde sie 1998 hauptsächlich aufgrund internationalen Drucks liberalisiert. Schon seit den ersten Tagen der erneuerten Demokratie bildete die Frage der Staatsbürgerschaft ein äußerst polarisierendes Thema.2 Mit der russischsprachigen Minderheit sympathisierende Politiker und Wissenschaftler betrachten die Staatsbürgerschaftspolitik der lettischen Regierungen als diskriminierend. Ihrer Meinung nach führe die Kategorie der Nichtstaatsbürger zu einer Entfremdung der russischsprachigen Minderheit vom lettischen Staat, weil einem erheblichen Teil von ihr die Möglichkeit zur Teilhabe versagt bleibe. Dem steht die unveränderliche Position Lettlands gegenüber, dass eine plötzliche demographische Erweiterung Lettlands um eine große Zahl von Menschen, deren kulturelle und historische Verbindungen zu Lettland äußerst oberflächlich sind, nicht zulässig sei. Das heißt jedoch nicht, dass die beträchtliche Zahl von Nichtstaatsbürgern für die Demokratie Lettlands unproblematisch wäre. Entgegen der Erwartung vollzog sich die Naturalisierung sehr viel langsamer als geplant. Mitte 2017 leben in Lettland noch immer rund 250.000 Nichtstaatsbürger, und die durchschnittliche

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ton waren bestehen geblieben. Vgl. dazu auch die Beiträge von V. Nollendorfs und K. Zellis in diesem Band, S. 113, 120 u. S. 69. Vgl. dazu auch den Beitrag von J. Rozenvalds in diesem Band, S. 157-158.

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Zahl der Anträge auf Naturalisierung hat sich auf etwa 1000 pro Jahr verringert. Allerdings sind die Hauptgründe für diese zögerliche Bereitschaft der Nichtstaatsbürger zur Naturalisierung weniger politischer Natur als vielmehr praktische Erwägungen (z. B. die Möglichkeit, als Nichtstaatsbürger ohne Visum nach Russland reisen zu können) sowie fehlende Sprachkenntnisse. Das Problem der Nichtstaatsbürger Lettlands hat bekanntlich auch eine wichtige internationale Dimension. Da Russland häufig das Thema der Nichtstaatsbürger aufgreift und von Diskriminierung der russischsprachigen Bevölkerung in Lettland spricht, war und ist es für Lettland sehr wichtig, den westlichen Verbündeten gegenüber seine Treue zu den Idealen von Demokratie und Menschenrechten zu beweisen; das galt insbesondere in der Phase, als sich Lettland auf die Aufnahme in die NATO und in die EU vorbereitete. Gemäß Verfassung befindet sich im Zentrum des politischen Systems Lettlands ein hundertköpfiges Parlament (Saeima), das nach allgemeinem, gleichem, direktem, geheimem und proportionalem Wahlrecht gewählt wird. Gemessen an den Einflussmöglichkeiten des Parlaments auf die Staatspolitik gehört die Saeima Lettlands zu den stärksten Parlamenten der Welt, und vom institutionellen Standpunkt aus betrachtet ist ein solches Urteil vollkommen begründet. Von allen in der Welt existierenden Kompetenzen, die von Parlamenten wahrgenommen werden, gibt es nur wenige, die nicht auch der Saeima aufgrund der Verfassung zustehen würden. Die einzige wichtige Funktion, die nicht von der Saeima wahrgenommen wird, ist die Ernennung des Ministerpräsidenten. Diese bleibt dem Staatspräsidenten vorbehalten, der ansonsten, ähnlich wie in Deutschland, als Staatsoberhaupt vor allem repräsentative Aufgaben zu erfüllen hat. Die Saeima bestätigt die Regierung (das Ministerkabinett) und den Staatspräsidenten und hat auch das Recht, beide abzusetzen. Die Saeima kann den Rücktritt einzelner Minister fordern, sie verabschiedet Gesetze und ratifiziert internationale Verträge, ernennt Richter und eine Reihe wichtiger Würdenträger. Die Saeima kontrolliert auch die Exekutive, indem sie u.a. parlamentarische Kontrollgremien bildet, Anfragen an die Minister stellt usw.. Berücksichtigt man, dass die Möglichkeiten der Einflussnahme der anderen Gewalten auf die Arbeit der Saeima eingeschränkt sind, kann man sagen, dass das Kräfteverhältnis zwischen den Gewalten in Lettland recht einseitig zugunsten des Parlaments ausfällt. Ein weiteres wesentliches Element der Gewaltenteilung ist das 1996 gegründete Verfassungsgericht, das über die Einhaltung der Verfassung wacht, darunter auch über die durch die Saeima und die Regierung verabschiedete Gesetzgebung. Das Verfassungsgericht ist eine politisch unabhängige Institution, die ein hohes gesellschaftliches Prestige genießt; so hat es beispielsweise die 2009 von der Regierung und dem Parlament beschlossene Rentenkürzung als verfassungswidrig erklärt. Neben den weitgehenden Rechten des Parlaments gehört die proportionale Vertretung der Abgeordneten zu den besonderen Kennzeichen der Verfassung. Bei der Wahl des Parlaments wird ein Parteienlistensystem angewendet, bei dem

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das Land in fünf Wahlbezirke einteilt wird: Vidzeme (Livland), Kurzeme (Kurland), Latgale (Lettgallen), Zemgale (Semgallen) und die Hauptstadt Riga, aus denen jeweils eine bestimmte Anzahl von Abgeordneten entsandt wird. Im Ergebnis konkurriert eine beachtliche Zahl von Parteien um die Parlamentssitze, und jede von ihnen hat Aussichten darauf, im Parlament vertreten zu sein. Das hat die Entwicklung eines ausgeprägten politischen Pluralismus zur Folge. Seit der Wiedererlangung der Unabhängigkeit haben mehr als zwanzig verschiedene Parteien und Parteivereinigungen an jeder Parlamentswahl teilgenommen. Zugleich führt das Verhältniswahlrecht jedoch auch häufig zu parteipolitisch stark zersplitterten Parlamenten, was die Bildung solider und verantwortungsvoller Regierungsmehrheiten erschwert. Aus diesem Grund und mit dem Ziel, die Fragmentierung der lettischen Parteienlandschaft zu verringern, wurde das Verhältniswahlrecht schrittweise eingeschränkt. Seit 1993 galt die Vier-Prozent-Hürde, die eine Partei überwinden muss, um Sitze im Parlament zu erringen, 1998 wurde sie auf fünf Prozent erhöht. 2010 wurde dann das System abgeschafft, das es populären Kandidaten bis dahin ermöglicht hatte, in mehreren Wahlbezirken gleichzeitig anzutreten (sogenanntes Lokomotivsystem); nunmehr ist jeder Kandidat an einen konkreten Wahlkreis gebunden. In der Legislative sind für gewöhnlich etwa sechs bis acht Parteien oder Parteienbündnisse vertreten. Die Voraussetzungen für die Gründung von Parteien sind in Lettland sehr liberal. Bisher ist es jedoch noch keiner Partei gelungen, die absolute Mandatsmehrheit zu erreichen. Dies zwingt zu der in allen europäischen parlamentarischen Demokratien üblichen Bildung von Koalitionsregierungen. Insbesondere die erste Dekade der erneuerten Demokratie war von recht instabilen Koalitionen geprägt, so dass die Regierungen häufig wechselten. In den 25 Jahren seit Wiedererlangung der Unabhängigkeit gab es Lettland bereits 20 verschiedene Ministerkabinette; somit betrug die durchschnittliche Dauer einer Regierung weniger als 16 Monate, was der Herausbildung einer nachhaltigen politischen Verantwortlichkeit nicht förderlich ist. Inzwischen ist jedoch zu beobachten, dass die Amtsperioden der Regierungen dazu tendieren, länger zu werden. Dadurch, dass die Verfassung der Zwischenkriegszeit wieder in Kraft gesetzt wurde, hat das heutige Lettland auch ein breites Instrumentarium an rechtlichen Institutionen der direkten Demokratie geerbt. Die Verfassung Lettlands sieht beispielsweise vor, dass die Gesetzesinitiative direkt vom Volk ausgehen kann, wenn ein Zehntel der Wählerschaft der Saeima ein Gesetzesprojekt vorlegt. Darüber hinaus sind auch in zahlreichen Fällen Volksentscheide vorgesehen. Eine Volksabstimmung ist z.B. obligatorisch, wenn die Saeima eine aus dem Volk kommende Gesetzesinitiative ablehnt, wenn der Staatspräsident die Auflösung der Saeima vorschlägt, wenn er die Unterschrift unter ein Gesetz verweigert und diesbezüglich zu einem Referendum aufruft, und schließlich, wenn die Saeima die wichtigsten Paragraphen der Verfassung ändert. Seit 2009 existiert in Lettland eine in Europa einzigartige Bestimmung, die die vorzeitige Auflösung der Saeima und Neuwahlen auf unmittelbare Initiative des Volkes gestattet. Doch damit die Er-

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gebnisse der Volksentscheide bindend sind, sind die Anforderungen an die Beteiligung vergleichsweise hoch (von der Hälfte der Wählerinnen und Wähler, die an der letzten Saeima-Wahl teilgenommen haben, bis zu der Hälfte aller Wahlberechtigten), was häufig nicht erreicht wird. Seit 1991 haben in Lettland acht Volksentscheide stattgefunden, von denen vier das erforderliche Quorum nicht erreichten. Neben dem Parlament gibt es auch in Lettland die demokratisch gewählten lokalen Selbstverwaltungen (Kommunalverwaltungen), die nach direktem und proportionalem Wahlrecht gewählt werden und eine Reihe von wichtigen wirtschaftlichen und administrativen Aufgaben erfüllen. Entscheidende Auswirkungen auf die lokale Selbstverwaltung hatten die zwischen 1999 und 2009 durchgeführten Gebietsreformen, die mit dem Ziel, wirtschaftlich effektive Selbstverwaltungseinheiten zu schaffen, die Gesamtzahl der Kreise erheblich verkleinerte. Gab es vor der Reform in Lettland 500 lokale Selbstverwaltungen, so waren es im Ergebnis der Reform nur noch 119: 110 Landkreise und 9 kreisfreie Städte. In Anbetracht des anhaltenden Bevölkerungsrückgangs ist eine weitere Verkleinerung der Anzahl der Selbstverwaltungseinheiten in Zukunft durchaus wahrscheinlich. Mit Blick auf die demokratischen Selbstverwaltungen gab es übrigens in den letzten Jahren eine intensive Diskussion, die durch die Forderung ausgelöst wurde, dass an den lokalen Selbstverwaltungswahlen nur noch die registrierten politischen Parteien teilnehmen sollten. Obwohl mehrere Bürgerinitiativen eine solche Regelung anfochten und dafür eintraten, dass auch Wählervereinigungen zugelassen werden, bestätigte das Verfassungsgericht 2015 die genannte Forderung als verfassungskonform. Dennoch gibt es die Möglichkeit des passiven Wahlrechts in Lettland auch ohne Parteimitgliedschaft: Weder von den Abgeordneten der Saeima und der Selbstverwaltungen noch von denen des Europäischen Parlaments wird eine obligatorische Parteizugehörigkeit verlangt, und auf den Wahllisten der Parteien finden sich auch immer wieder parteilose Kandidaten. Zu den demokratischen Institutionen gehört auch eine freie und vielfältige Medienlandschaft. Dieser Norm genügen die entsprechenden rechtlichen Bestimmungen Lettlands. Die Verfassung garantiert die Freiheit des Wortes und verbietet Zensur. Die rechtliche Regulierung der Presse ist vergleichsweise liberal. Im Jahre 2009 wurde die sogenannte »Verleumdung« entkriminalisiert und zu einem Vergehen erklärt, das allein im Rahmen der zivilrechtlichen Ordnung zu ahnden ist. In einem von Reporters Without Borders durchgeführten Ranking zur Pressefreiheit weltweit nimmt Lettland den 28. Platz ein und lässt dabei »alte Demokratien« wie das Vereinigte Königreich, Spanien und Frankreich hinter sich. Doch dies bedeutet nicht, dass die Medien als demokratisches Element in Lettland völlig einwandfrei agieren. Vor allem bleibt festzuhalten, dass in der Medienlandschaft ein eigentümlicher »politischer Parallelismus« zwischen dem lettischen und dem russischen Mediensegment besteht. Sowohl in der gedruckten Presse als auch in den elektronischen Medien sind diese beiden Segmente weitgehend voneinander getrennt und bilden zwei nebeneinander existierende Me-

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dienräume. Ein beachtlicher Teil der Gesellschaft Lettlands folgt den Medien der Russischen Föderation (insbesondere dem Fernsehen), was unter den gegebenen Umständen sicherlich nicht als ein demokratiefördernder Faktor zu bewerten ist. Ähnlich wie in vielen Teilen der Welt gehen auch die lettischen Printmedien durch schwere Zeiten, was die ohnehin schon angespannte Situation lettischsprachiger Medienerzeugnisse weiter kompliziert. Qualitativ hochwertiger – darunter investigativer – Journalismus ist in Lettland nur verhältnismäßig selten anzutreffen. Auf der anderen Seite ist ein relativ hoher Anteil regelmäßiger Internetnutzer zu beobachten (2016 rund 77 %). Das bedeutet, dass das Internet auch in der politischen Kommunikation zunehmend an Bedeutung gewinnt.

Politische Kultur und Teilnahme Eine vollwertige Demokratie bedeutet heute nicht mehr nur die Existenz von Institutionen wie Wahlen, Parlament, Parteien, Gerichte usw. In nicht geringerem Maße wird die Demokratie auch durch eine bestimmte Haltung der Bürger, durch gewisse Werte und die Bereitschaft, sich am demokratischen Prozess zu beteiligen, geprägt. Auch die Entwicklung der Institutionen spiegelt häufig die Überzeugungen derjenigen Menschen wider, die in ihnen tätig sind. Allen voran ist natürlich die Wahlbeteiligung ein essentieller Indikator für die Aktivität der Staatsbürger. Die höchste Wahlbeteiligung seit Wiedererlangung der Unabhängigkeit wurde bei der ersten Wahl zur Saeima im Jahre 1993 erreicht, an der 89,9 % der Wahlberechtigten teilnahmen. Seitdem gibt es einen deutlichen Rückgang der Wahlbeteiligung, die sich bei den letzten vier Saeima-Wahlen bei etwa 60 % eingependelt hat. Das ist im europäischen Vergleich zwar kein Tiefststand, doch liegt dieser Wert bereits heute unter dem EU-Durchschnitt. Auch die Beteiligung an den Regionalwahlen und den Wahlen zum Europäischen Parlament weist eine rückläufige Tendenz auf, da heute bereits weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten daran teilnehmen. Die Wahlbeteiligung hängt in Lettland eng mit dem Parteiensystem zusammen, denn überall, wo gewählt wird, dominieren die politischen Parteien. Insgesamt sind die Parteien in Lettland stark zersplittert und vergleichsweise schwach. Im Oktober 2017 waren 78 Parteien und Parteienbündnisse registriert. Laut verschiedenen Umfragen gaben in den letzten zehn Jahren nur etwa 0,9 bis 1,4 Prozent der Bevölkerung an, Mitglieder einer Partei zu sein, was im internationalem Vergleich ein äußerst niedriger Wert ist. Die Parteien selbst sind deshalb fast durchweg sehr klein, zudem sind die inneren Strukturen der Beschlussfassung oft recht undemokratisch. Außerdem sind die Parteien trotz eines 2010 erlassenen Gesetzes zur staatlichen Parteienfinanzierung in hohem Maße von privaten Großspendern abhängig, was entsprechende Auswirkungen auf die Parteipolitik hat. Daher ist es nicht überraschend, dass die politischen Parteien, die im politischen System Lettlands eine so herausragende Rolle spielen, in der Bevölkerung

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recht unbeliebt sind. Die Neugründung von Parteien vor anstehenden Wahlen ist ein weit verbreitetes Phänomen. Viele Wähler wechseln ihr Votum außerdem bei jeder Wahl. Ähnlich widersprüchlich ist auch die Situation mit Blick auf die Mitarbeit der Bürger in Nicht-Regierungsorganisationen. In den letzten zehn Jahren ist die Zahl von in Lettland registrierten Bürgerorganisationen wesentlich gestiegen. Waren es im September 2004 noch 8232 Organisationen, so hat sich deren Zahl im Laufe der folgenden zwölf Jahre mehr als verdoppelt – 2017 waren 17.951 Verbände und Stiftungen registriert. In den letzten fünf Jahren lag die durchschnittliche Zahl neugegründeter gesellschaftlicher Organisationen bei ungefähr 1600 pro Jahr. Die höchste Zahl wurde 2011 erreicht, als 1739 neue Organisationen registriert wurden.3 Und dennoch kontrastiert die steigende Zahl von Organisationen in den letzten zehn Jahren mit der gegenläufigen Tendenz eines zunehmenden Desinteresses der Bevölkerung an Organisationen wie den Gewerkschaften, beruflichen oder religiösen Organisationen, Frauenbewegungen, Sport- oder Gesundheitsverbänden. Der größte Teil der genannten Organisationen hat in der Bevölkerung einen Beliebtheitsrückgang zu verzeichnen; der Anteil derer, die sich in keiner derartigen Organisation engagieren, stieg von 61,9 % im Jahre 2004 auf 71,7 % im Jahre 2013. Dies lässt die Schlussfolgerung zu, dass der größte Teil dieser Organisationen nur einen kleinen Stamm an Mitgliedern besitzt, sich eine beträchtliche Zahl an Einwohnern offenbar in mehreren Organisationen engagiert und die Erhöhung der Mitgliederzahlen offensichtlich nicht zu den Prioritäten der Organisationen zählt. Mit Blick auf die politischen Einstellungen und Werte der Einwohner Lettlands muss darauf hingewiesen werden, dass diese kein einheitliches Bild hinsichtlich der Akzeptanz der Demokratie ergeben. Die Einwohner Lettlands schätzen die durch die Demokratie gewährleistete Freiheit sehr, zugleich haben viele das Gefühl, zu den demokratischen Prozessen und Institutionen keinen Zugang zu haben. Das Vertrauen der Bürger zum Parlament, zur Regierung und zu den politischen Parteien befindet sich im Vergleich mit dem EU-Durchschnitt auf einem chronisch niedrigem Niveau. Gleichzeitig vertraut die Bevölkerung Lettlands mehr als andere Europäer den einheimischen Selbstverwaltungen. Insgesamt sind die Letten relativ skeptisch gegenüber ihren eigenen Möglichkeiten, die politischen Prozesse zu beeinflussen, und vertrauen lieber auf eine »starke Hand« als auf demokratische Prozeduren. Auch ein weiteres Phänomen der politischen Kultur Lettlands sollte nicht übersehen werden, nämlich die Rolle der ethnischen Vielfalt der Bevölkerung bei der Herausbildung der politischen Haltungen und Werte der Menschen. Nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit war es unumgänglich, die kulturelle Identität des lettischen Staates zu stärken, dessen westlicher und demokratischer 3

Lursoft: Biedrības un nodibinājumi, sabiedriskās organizācijas (Verbände und Stiftungen, gesellschaftliche Organisiationen). Internetlink: http://www.lursoft.lv/lursoft-statistika/Biedribasun-nodibinajumi-sabiedriskas-organizacijas (aufgerufen am 06.10.2017).

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Charakter sich mit der Anwesenheit einer großen Zahl von Immigranten aus der Sowjetära konfrontiert sah, deren Verbindung zum lettischen Staat und seiner Kultur relativ schwach war. Daher erhielten Maßnahmen zum »Nation-building« Priorität, deren Verwirklichung parallel zur Demokratisierung eine große Herausforderung darstellt – vor allem dann, wenn das Land starke Minderheiten und irredentistische Nachbarn besitzt, die sich zu Fürsprechern dieser Minderheiten machen. Einige Elemente der Nationsbildung (Politik der Staatsbürgerschaft, Sprachenpolitik, Einstellung gegenüber der Periode der sowjetischen Okkupation sowie gegenüber Russland) spielen weiterhin eine bedeutende Rolle im politischen Bewusstsein der Gesellschaft. Eine Schlüsselrolle kommt in diesem Zusammenhang auch dem Parteiensystem zu. Im Unterschied zu der sonst oft ähnlichen Situation in Estland ist die Einteilung in Letten und Russischsprachige immer noch das entscheidende Kriterium im Parteienspektrum – es gibt »Parteien der Letten« und »Parteien der Russischprachigen«, die sich größtenteils an ihren jeweiligen Wählern und deren Werten und Einstellungen orientieren. Zwischen den Letten und Lettlands russischsprachigen Bewohnern gibt es selbstverständlich viel Verbindendes. Mit Blick auf individuelle bürgerliche Werte wie die Einstellung gegenüber dem Gesetz, die Notwendigkeit, Steuern zu bezahlen oder die Unterstützung des Meinungspluralismus gibt es kaum Unterschiede zwischen Letten und Russischsprachigen. Anders sieht es aus, wenn es um die Einstellung zum lettischen Staat und die Möglichkeit geht, diesen zu beeinflussen. Große Teile der russischsprachigen Bevölkerung betrachten sich durchaus als Patrioten Lettlands, mit dessen staatlichen Symbolen sie sich identifizieren. Dennoch lehnen sie häufig die lettische Sprache und Kultur als entscheidenden Faktor für die Integration in die Gesellschaft ab, fühlen sich diskriminiert, zeigen ein hohes Maß an Distanz gegenüber den demokratischen Institutionen Lettlands und zweifeln an der Möglichkeit, diese ihrerseits zu beeinflussen. Die Letten hingegen äußern häufig Sorgen über die Bewahrung ihrer Kultur und Sprache und betrachten die Anwesenheit von Menschen aus anderen Kulturen vielfach als Bedrohung. In beiden ethnolinguistischen Gruppen ist in durchaus vergleichbarem Maße politische Passivität, fehlendes Vertrauen in die eigene Fähigkeit, Einfluss auf den Staat zu nehmen, und die Sehnsucht nach der »starken Hand« verbreitet. Dennoch sind diese negativen Tendenzen, die von einem geringen Grad demokratischer Sozialisierung zeugen, in der russischsprachigen Bevölkerung stärker ausgeprägt. Überdies steht ein großer Teil der Russischsprachigen einigen Grundpositionen des Staates wie der Betonung der entscheidenden Rolle der lettischen Sprache, der negativen Einschätzung der Epoche der sowjetischen Okkupation oder der Westorientierung der Außenpolitik ablehnend gegenüber. Die Haltung zur Russischen Föderation markiert eine wesentliche Trennungslinie zwischen Letten und Russischsprachigen, die durch die Annexion der Krim und die Krise im Südosten der Ukraine noch verschärft wurde. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass ein bedeutender Teil der russischsprachigen Bevölkerung nicht im lettischen, sondern im russischen Medienraum lebt und somit tag-

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täglich Informationen erhält, die – vorsichtig gesprochen – nicht zu einer loyalen Einstellung gegenüber Lettland oder den westlichen demokratischen Werten insgesamt beitragen. Die Fähigkeit, eine demokratische und westliche Alternative zu dem umfassenden Einfluss der russischen Medien anzubieten, bildet daher eine der grundlegenden Herausforderungen für die Zukunft der Demokratie in Lettland.

Die Situation der Menschenrechte Zu den Definitionen von Demokratie gehört die Gleichheit und die Rechtssicherheit der Bürger, die in der Praxis durch die Realisierung der Menschenrechte gewährleistet sind. Seit der Wiedererlangung der Unabhängigkeit sind auf diesem Feld positive Resultate erzielt worden. Die Einwohner Lettlands insgesamt sind vor staatlicher Willkür und ungesetzlichen Gewalttaten geschützt. Der 1995 verabschiedete 8. Abschnitt der Verfassung der Republik Lettland kodifiziert klar die für eine Demokratie wesentlichsten Rechte: Die Freiheit des Wortes, das Versammlungs- und Demonstrationsrecht etc. Lettland hat sich auch dem Internationalem Pakt über bürgerliche und politische Rechte sowie einer Reihe weiterer internationaler Konventionen angeschlossen. In internationalen Rankings wird die Menschenrechtssituation insgesamt als gut bewertet. Das bedeutet allerdings nicht, dass Lettland auf dem Gebiet der Menschenrechte nicht seine spezifischen Probleme hätte. Paragraph 103 der Verfassung garantiert das Recht auf die zuvor erwähnten friedlichen Versammlungen, Umzüge und Demonstrationen. Diese Normen werden in der Regel auch eingehalten, doch führt die gesetzliche Vorschrift, Versammlungen zuvor bei der örtlichen Behörde anzumelden, häufig zu politisierten Streitigkeiten. Das betrifft vor allem die »politisch aufgeladenen« Jahrestage. Dazu zählen etwa der »Tag der Lettischen Legion« am 16. März, an dem sich am Freiheitsdenkmal in Riga Veteranen der Lettischen Waffen-SS-Freiwilligenlegion versammeln, um ihrer gefallenen Kameraden zu gedenken, der »Tag des Sieges« am 9. Mai, an dem mit Ritualen, die an die Sowjetzeit erinnern und heute eher für das russische Fernsehen charakteristisch sind, die Niederlage des Nationalsozialismus in Europa gefeiert wird, oder auch die Gay Pride-Paraden der sexuellen Minderheiten. Gleichzeitig finden in Lettland friedliche Demonstrationen und Aktionen sowohl der links- als auch der rechtsextremen politischen Kräfte statt, so dass der Stand der Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit insgesamt als gut bezeichnet werden kann. Die Freiheit des Wortes, die durch Paragraph 100 der Verfassung gewährleistet ist, war Gegenstand von Diskussionen, die sich auf die Verwendung der Staatssprache in privat finanzierten Medien, auf das Schüren von Hass im Internet und ähnliche Fragen bezogen. Insgesamt kann die Meinungsfreiheit in Lettland als gesichert betrachtet werden – die Menschenrechte werden in Lettland respektiert und mit Hilfe eines Systems unabhängiger Gerichte erfolgreich durchgesetzt.

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Die Wahrung der Menschenrechte ist jedoch keine ein für allemal feststehende Errungenschaft, sondern ein ständiger Prozess durch Überwachung und Schutz dieser Rechte. Seit 2007 arbeitet in Lettland ein Ombudsmann-Institut, dessen Hauptaufgabe es ist, die Beachtung der Menschenrechte zu gewährleisten, indem es Verstöße der vom Staat erlassenen Gesetze und deren Anwendung gegen die Menschenrechte identifiziert. Die Zahl der beim Ombudsmann eingereichten Beschwerden verdeutlicht anschaulich die bestehenden Probleme in verschiedenen Bereichen der Menschenrechte. Eine beachtliche Zahl von Beschwerden widmet sich den Rechten der Kinder, insbesondere im Hinblick auf das Recht eines jeden Kindes, in einer Familie aufzuwachsen, auf die Lage von Waisen oder von anderen ohne elterliche Versorgung aufwachsenden Kindern. Im Bereich der bürgerlichen und politischen Rechte bezieht sich ein weiterer großer Teil der Eingaben auf die rechtliche Situation von Gefängnisinsassen. Zugleich kann anhand der abnehmenden Zahl an diesbezüglichen Eingaben eine schrittweise Verbesserung der Situation in diesem Bereich konstatiert werden. Ein bedeutendes Problem hinsichtlich der Situation der Menschenrechte in Lettland besteht beim Recht auf ein faires Gerichtsverfahren – sowohl in Bezug auf die hohen Gerichtskosten bzw. den vom Staat nicht gewährleisteten juristischen Beistand für minderbemittelte Personen als auch in Bezug auf die lange Dauer der Verfahren in allen gerichtlichen Instanzen. Seit der Flüchtlingskrise von 2015 ist auch in Lettland die Frage der Rechte der einwandernden Ausländer, darunter der Asylbewerber, aktuell. Was den Bereich der sozialen, ökonomischen und kulturellen Rechte betrifft, so stehen die staatliche Unterstützung für Rentner sowie Dienstleistungen im Bereich der Gesundheitsfürsorge und der Rechtsanspruch auf Wohnraum im Mittelpunkt der aktuellen Diskussion. Besondere Aufmerksamkeit wird in letzter Zeit auch den Rechten von Menschen mit Behinderungen gewidmet. Wie in vielen anderen europäischen Ländern ist auch in Lettland die Frage der Rechte von LGBT (Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender) politisch aktuell, die jedoch höchstwahrscheinlich erst in der Zukunft gelöst wird. Bisher dominierte auf diesem Gebiet in Lettland eine ausgesprochen konservative Haltung. Im Jahre 2006 wurde eine Änderung der Verfassung bezüglich der Definition der Familie verabschiedet, die diesen Begriff auf einen »Bund zwischen Mann und Frau« einschränkte, um gleichgeschlechtliche Partnerschaften auszuschließen. Im selben Jahr lehnte die Mehrheit der Saeima einen Gesetzesvorschlag über das Verbot von Diskriminierung am Arbeitsplatz aufgrund der sexuellen Orientierung ab (später wurde er doch ratifiziert – allerdings erst nach Intervention seitens der Staatspräsidentin Vaira Vīķe-Freiberga). Gleichgeschlechtliche Paare genießen in Lettland keinerlei rechtlichen Schutz; auch unter den politischen Parteien findet sich keine, die sich für deren Rechte einsetzen würde. Gleichzeitig ist in Lettland eine Reihe von LGBT-Rechtsschutzorganisationen tätig. Einige prominente Persönlichkeiten verheimlichen nicht ihre homosexuellen Neigungen. Das deutet darauf hin, dass das Problem der rechtlichen Stellung von LGBT-Personen in Zukunft auch in Lettland gelöst werden muss.

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Ausblick Innerhalb von 25 Jahren hat Lettlands Demokratie eine beachtliche Entwicklung durchlaufen. Nach den jahrzehntelangen Erfahrungen mit autoritären und totalitären Regimen im 20. Jahrhunderts hat sich inzwischen ein vollwertiges demokratisches System herausgebildet. Dazu gehören international anerkannte demokratische Institutionen, Respektierung der Menschen- und Bürgerrechte sowie das hohe Niveau des politischen Pluralismus. Hinsichtlich der Festigung der Demokratie hat Lettland viele europäische Staaten hinter sich gelassen, mit denen es sich noch vor nicht allzu langer Zeit in der gleichen Ausgangslage befunden hatte. Eine große Rolle spielten dabei die Erfahrungen der ersten demokratischen Periode von 1918-1934, in der auch die Wurzeln der wichtigsten demokratischen Institutionen sowie der politischen Kultur der Gesellschaft zu suchen sind. Auch die rasche Integration des lettischen Staates in westliche Strukturen hat zweifellos zur Stabilisierung der erneuerten Demokratie entscheidend beigetragen. Die demokratischen Institutionen in Lettland haben sich jedoch, wie auch anderswo, schneller entwickelt als die Herausbildung einer demokratischen politischen Kultur. Wahlen, Parlamentarismus oder Rechtsstaatlichkeit funktionieren übereinstimmend mit europäischen Standards, was auch zahlreiche internationale Experten anerkennen. Dennoch genießt die demokratisch gewählte Staatsmacht in Lettland noch immer keine breite Unterstützung. Misstrauen gegenüber gewählten Institutionen, das Gefühl, nicht wirklich beteiligt zu werden, sowie Zynismus und Passivität sind weit verbreitet. Viele Bürger glauben nicht daran, politische Entscheidungen beeinflussen zu können und fühlen sich auch für ihre Wahlentscheidungen nicht verantwortlich. Nicht alle Ursachen dieser Probleme sind ausschließlich in der Qualität des demokratischen Prozesses zu finden. Die Haltung gegenüber der Demokratie wird auch durch die Leistungen des Staates bestimmt und dessen Fähigkeit, für die Gesellschaft wichtige Beschlüsse erfolgreich umzusetzen und zentral wichtige Probleme zu lösen. In dieser Hinsicht hat Lettland noch einen weiten Weg vor sich. Wie in anderen Beiträgen zu diesem Band aufgezeigt wird, besteht in Lettland ein im europäischen Vergleich recht ausgeprägtes Maß an sozialer Ungleichheit und hohe Arbeitslosigkeit. Das Bildungs- und das Gesundheitssystem warten noch auf ihre Reformen. Die Probleme innerer und äußerer Migration werden zunehmend dringender. Nachdrücklich wird gefordert, dass der Staat die gesellschaftlichen Prozesse beeinflussen möge, damit die für die Gesellschaft notwendigen Entscheidungen nicht weiterhin aufgrund politischer Zersplitterung, fehlender Konkurrenz oder informeller Abhängigkeiten auf dem Niveau der Planungsebene verharren. Dennoch bleiben diese Erwartungen häufig unerfüllt, notwendige Reformen werden verschleppt. Die Fragmentierung des Parteiensystems und die Abhängigkeit von privaten Spendern, der Einfluss von informellen Patronage-Netzwerken sowie die eingeschränkte politische Konkurrenz und das weitgehend ethnisch dominierte Wahlverhalten sind die Hauptprobleme, die die Leistungsfähigkeit des Staates und somit auch das Ansehen der Demokratie be-

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drohen. Mit Blick auf die künftige Legitimation der Demokratie in Lettland muss auch über eine Stärkung der Leistungsfähigkeit des Staates nachgedacht werden. Das liberale demokratische System, das nach dem Ende des Kalten Krieges entstand, wird umfassende Reformfähigkeit unter Beweis stellen müssen. In der Wirtschaftspolitik war der sogenannte Washington-Konsens auf eine sehr eingeschränkte staatliche Beteiligung am wirtschaftlichen Leben gerichtet, während gleichzeitig vom Staat gefordert wurde, unpopuläre Reformmaßnahmen mit dem Ziel langfristigen Wachstums durchzusetzen. Während der staatliche Sektor in den 1990er Jahren auch in Lettland entschieden zurückgefahren wurde, fehlte gleichzeitig jedoch der politische Wille, wichtige Reformen umzusetzen, die die Effektivität und die Qualität der staatlichen Dienstleistungen gestärkt hätten – in der Bildung, im Gesundheitswesen, im sozialen Bereich. Dies hat selbstverständlich auch die Einstellung der Gesellschaft gegenüber den neuen Institutionen und der Demokratie insgesamt beeinflusst. Ein weitere entscheidende Schwäche der Demokratie in Lettland ist mit der Rolle der ethnischen Vielfalt in der Politik verbunden. Die Bedeutung des Gegensatzes zwischen den ethnischen Gruppierungen hat sich in den letzten Jahren nicht verringert. Sie ist im Gegenteil eher gewachsen, denn Russlands unrechtmäßiges Vorgehen in der Ukraine 2014 polarisierte zunehmend auch die lettische Gesellschaft in dieser Frage. Doch die gesellschaftliche Integration ist schon seit längerem eines der Hauptprobleme der Demokratie in Lettland. Sie wird einerseits durch die Ablehnung von Grundwerten der Republik Lettland (wie Sprache, Staatsbürgerschaftspolitik und außenpolitische Orientierung) durch einen beträchtlichen Teil der russischsprachigen Politiker erschwert, andererseits aber auch durch den Wunsch lettischer Politiker, die Konkurrenz im politischen Spektrum einzuschränken. Die ethnische Vielfalt ist ein langfristiges Problem, das sich negativ auf die Qualität der Demokratie und das Vertrauen der Gesellschaft in gewählte Institutionen auswirkt. Dennoch ist auch die Lösung dieses Problems ausschließlich im Dialog und im gegenseitigen Respekt der Einwohner Lettlands zu suchen, wie es für demokratische Gesellschaften charakteristisch ist. Die Zukunft der Demokratie in Lettland kann nicht losgelöst von den politischen Prozessen in Europa und anderswo in der Welt betrachtet werden. Einerseits ist nahezu überall ein gewisser Niedergang der traditionellen Institutionen demokratischer Teilhabe zu beobachten: Die Menschen nehmen in immer geringerer Zahl an Wahlen teil, die Mitgliederzahlen der Parteien schrumpfen, das Vertrauen der Wähler zu den gewählten Politikern ist relativ gering. Auf der anderen Seite erzeugen die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien neue Formen der Teilhabe und der Mobilisierung der Gesellschaft; auch der Zugang zu Informationen hat sich wesentlich vereinfacht. Gleichzeitig hat es jedoch gerade die Verbreitung der neuen Technologien den Menschen ermöglicht, sich in geschlossene Denksysteme Gleichgesinnter zurückzuziehen, wobei die Aufnahmefähigkeit für Informationen aus anderen Perspektiven verloren geht. All diese Veränderungen beeinflussen ohne Zweifel auch das Funktionieren der Demokratie. Die formalen Institutionen der Demokratie wie der Elitenwechsel

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durch regelmäßige und ergebnisoffene Wahlen oder die Gewaltenteilung werden höchstwahrscheinlich auch weiterhin bestehen bleiben. Zugleich könnte sich jedoch die Rolle der Gesellschaft in diesen Prozessen wesentlich von den liberalen Demokratien unterscheiden, wie sie seit dem Zweiten Weltkrieg in Europa existieren. Beispielsweise ist im Rahmen der sogenannten »Big data« schon heute die Möglichkeit Realität geworden, das politische Angebot den Interessen und Bedürfnissen des konkreten Individuums anzupassen. Die Programme und Angebote der Parteien und Politiker werden dadurch wahrscheinlich noch allgemeiner als sie dies heute schon sind, wodurch sich die öffentliche Politik in eine grelle, aber inhaltlich amorphe Show verwandelt. Außerdem wird die traditionelle Annahme, dass die Bürger einer Demokratie in einem einigermaßen einheitlichen medialen Raum leben, heute zunehmend problematisch. Dank der sozialen Medien wählen sich die Menschen zunehmend selbst die sie interessierenden Informationsquellen aus, ohne sich um Fragen zu kümmern, die außerhalb ihres Interessenspektrums liegen. Dies macht die Möglichkeiten im Leben eines Durchschnittsbürgers, anderen Meinungen und den Bedürfnissen anderer sozialer Gruppen Aufmerksamkeit zu schenken, problematisch. Bislang ist auch kein verlässliches Instrument gefunden worden, das die Nutzer sozialer Medien vor böswillig verbreiteten Falschmeldungen bzw. »Fake News« schützen könnte. Die Annahme, dass Lettland zu den Ländern gehören könnte, die von dem erwähnten Wandel mit am stärksten betroffen sein werden, scheint begründet. Zunächst, weil Lettland ein sehr offenes Land mit vergleichsweise neuen demokratischen Institutionen ist. Im Vergleich mit Deutschland oder den USA sind die politischen Parteien in Lettland schwach und können die Loyalität der Wähler nicht dauerhaft gewinnen. Auch die Traditionen unabhängiger und professioneller Medien sind lediglich rudimentär. Zudem ist die Bevölkerung Lettlands in höherem Maße als in anderen Ländern Mitteleuropas äußeren Einflüssen unterworfen – vor allem aufgrund der umfangreichen russischsprachigen Minderheit und der weiterhin spürbaren Probleme der gesellschaftlichen Integration. Dennoch wären jegliche Überlegungen zur Zukunft der Demokratie in Lettland unvollständig, wenn man die Entwicklungen und Tendenzen innerhalb Europas und besonders in der Europäischen Union unberücksichtigt ließe. Die Mitgliedschaft in der EU war ein nachhaltiger Anreiz und zugleich eine Garantie für die Entwicklung der Demokratie in Lettland. Bereits vor dem Beitritt sicherte allein die Beitrittsperspektive den Kurs des Staates in Richtung Demokratisierung. Nach dem Beitritt stimulierte die Integration der politischen Eliten Lettlands in dieses Europa die Ausbreitung demokratischer Werte und Einstellungen. Gerade deshalb ist das Erstarken des Euroskeptizismus und des Rechtspopulismus, das potentiell zu einer Schwächung der Integration in die EU führen könnte, auch eine Gefahr für die Demokratie in Lettland. In Europa gehen heute viele Politiker auf Stimmenfang, indem sie zu einer neuen Abkapselung, zum Widerstand gegen das »Diktat Brüssels« und zur Verteidigung der nationalen Interessen einladen – in scharfem Gegensatz zu den Prinzipien der Einigkeit und Solidarität Europas. Da sie populistisch der EU trotzen, verleugnen die politischen

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Eliten einiger Staaten Mittel- und Osteuropas demokratische Grundprinzipien wie Gewaltenteilung, Pressefreiheit oder die Autonomie der Universitäten. Auch Lettland sind ähnliche Tendenzen nicht fremd. Solche populistischen Versuche zur Schwächung der EU können durchaus schicksalhaft für die liberal-demokratische Ordnung in Europa sein. Während heute die Errungenschaften der liberalen demokratischen Grundordnung häufig als selbstverständlich betrachtet werden, geraten die Lehren des 20. Jahrhunderts in Vergessenheit. So liegt der Schlüssel zum Erfolg der europäischen Integration nach wie vor in der Notwendigkeit der Schaffung von stabilen demokratischen Staaten, die die Menschenrechte respektieren und in der Lage sind, dem Rückfall in einen extremen Nationalismus entgegenzuwirken. Ungeachtet der Besonderheiten Lettlands und seines spezifischen historischen Erbes ist diese Erkenntnis für Lettland nicht weniger verpflichtend als für die übrigen Staaten Europas.

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Die russische Minderheit zwischen Integration und Isolierung Russen leben schon seit sehr langer Zeit auf dem Gebiet des heutigen Lettlands. Zur ersten größeren russischen Einwanderungswelle kam es in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, als massenweise Altgläubige in Lettland eintrafen, die in Russland im Zusammenhang mit einer Spaltung der russisch-orthodoxen Kirche verfolgt wurden. Die zweite Welle begann nach der schrittweisen Eingliederung des von Letten besiedelten Territoriums in das Zarenreich zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Im 19. Jahrhundert bildete sich dann in den größeren Städten eine russische Industriellen- und Industriearbeiterschicht heraus. Mehr als andere ethnische Gruppen jener Zeit waren Russen nun in der Verwaltung, im Justizwesen, bei der Polizei und in der Armee vertreten. Ende des 19. Jahrhunderts bildeten sie mit einem Anteil von 12% der Gesamtbevölkerung die zweitgrößte ethnische Gruppe auf dem Gebiet der heutigen Republik Lettland. Infolge des russischen Bürgerkriegs strömte zwischen 1917 und 1920 erneut eine beachtliche Zahl von Immigranten nach Lettland, die Riga zu einem der bedeutendsten antibolschewistischen Zentren der Emigration machten.

Russen in der Republik Lettland vor dem Zweiten Weltkrieg Infolge des Ersten Weltkriegs hatte sich die Zahl der Russen in den lettischen Städten verringert, und im Vergleich zur Vorkriegszeit hatten sich die sozialen Charakteristika der russischen Bevölkerungsteile gravierend verändert. Nach Gründung der Republik Lettland waren die Russen überwiegend in der Landwirtschaft tätig, der Anteil von Mitarbeitern in der Verwaltung, bei der Polizei, im Gesundheitswesen und Handel ging ebenso rasant zurück wie die Zahl der Unternehmer. Das Bildungsniveau war relativ niedrig, auch der Anteil derjenigen, die das Lettische beherrschten, lag unter 15%. In der Folgezeit stieg jedoch sowohl die Anzahl der Russen als auch ihr Bevölkerungsanteil kontinuierlich an (von 7,8 % im Jahr 1920 auf 10,6 % im Jahr 1935) und sie bildeten während der gesamten Zwischenkriegszeit erneut die zweitgrößte ethnische Gruppe in Lettland. Sie genossen eine umfassende Kulturautonomie, zu der vor allem Schulen mit russischer Unterrichtssprache gehörten. Die politischen Parteien der Russen spielten eine sichtbare Rolle im politischen Leben der Republik Lettland, sie waren in allen vier Parlamenten der Zwischenkriegszeit vertreten, wobei sie in Riga und in Lettgallen die meisten Stimmen auf sich vereinigen konnten. Gleichzeitig

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stimmten viele Wähler russischer Volkszugehörigkeit aber auch für andere, vorwiegend linke Parteien. Auf die politische Heterogenität der russischen Minderheit deutet auch die unterschiedliche Reaktion verschiedener russischer Gruppen auf die Ereignisse des Sommers 1940 hin. Ein Teil der russischstämmigen lettischen Staatsbürger nahm an prosowjetischen Demonstrationen teil, womit dieser Teil seine Unzufriedenheit mit der Politik des Ulmanis-Regimes zum Ausdruck brachte. Auf der anderen Seite gehörten zahlreiche russische Politiker und gesellschaftlich aktive Personen, insbesondere aus den Kreisen der antibolschewistischen Emigration, zu den ersten Opfern der sowjetischen Repressionen in den Jahren 1940/41.

In der Umklammerung der »Völkerfreundschaft« Die dramatischen demographischen Veränderungen, die Lettland in den Jahren des Zweiten Weltkriegs erlebte, setzten sich auch nach dessen Ende fort. Sie waren sowohl von rein ökonomischen als auch von ideologisch-strategischen Erwägungen bestimmt, die auf die Dominanz der UdSSR zielten, die mittels forcierter Sowjetisierung und Industrialisierung der Lettischen SSR durchgesetzt werden sollten. Die Industrialisierung wiederum basierte in hohem Maße auf der Ansiedlung von Arbeitskräften aus anderen Teilen der UdSSR, insbesondere aus slawischen Republiken, die zum positiven Migrationssaldo Lettlands von 341.300 Personen zwischen 1951 und 1990 führten. Folglich wuchs der russische Bevölkerungsanteil in der LSSR während der gesamten Zeit der Sowjetherrschaft kontinuierlich an – von 26,6% im Jahr 1959 auf 34% im Jahr 1989. Der russische Bevölkerungsanteil ist jedoch nicht mit dem russischsprachigen Bevölkerungsanteil zu verwechseln, denn die meisten der in der Nachkriegsperiode Eingewanderten bedienten sich unabhängig von ihrer Volkszugehörigkeit des Russischen als Umgangssprache und schickten ihre Kinder in Schulen mit russischer Unterrichtssprache. Die russischsprachige Bevölkerungsgruppe umfaßte also nicht nur Russen, sondern vor allem auch Ukrainer und Weißrussen. Als nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit die Politik besonderen Wert auf die lettische Sprache und Bildung und auch in der Staatsbürgerschaftsfrage den Akzent auf Rechtskontinuität mit der Republik Lettlands der Vorkriegsperiode und nicht auf die aktuellen ethnischen Verhältnisse legte, ließ dies die Russischsprachigen unterschiedlicher Herkunft aufgrund ihrer gemeinsamen Interessen enger zusammenrücken. In diesem Beitrag liegt die Betonung jedoch auf den in Lettland lebenden Russen, die im Jahre 2011 ca. 72% der Russischsprachigen ausmachten. Von der größten unter mehreren gleichberechtigten Minderheiten der Zwischenkriegszeit avancierten die Russen nach dem Krieg zu einem geradezu privilegierten Teil der Gesellschaft, der in den großen Städten eine dominierende Rolle spielte. Dies förderte die Russifizierung, ein unverzichtbares Element der Sowjetisierung, und zwar einmal durch die Durchsetzung der russischen Sprache

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in sämtlichen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens und zum anderen durch die Ideologie vom russischen Volk als »älterem Bruder«, die sämtliche Bereiche des Geisteslebens berührte, angefangen vom Geschichtsverständnis bis hin zu Versuchen, bestimmte Fächer an den Hochschulen ausschließlich auf Russisch zu unterrichten. Ein großer Teil der Russen in Lettland verdiente seinen Unterhalt während der Sowjetzeit als Arbeiter und Ingenieure in Großbetrieben, die Moskau direkt unterstellt waren. In den Strukturen der Kommunistischen Partei und der Staatssicherheit waren Russen überproportional vertreten; sehr viel weniger waren dagegen in der Land- und Waldwirtschaft sowie in kulturellen und künstlerischen Einrichtungen tätig. Riga entwickelte sich in der Sowjetzeit zur baltischen Sowjetmetropole, in der eine ganze Reihe von regionalen wirtschaftlichen und militärischen Strukturen, Forschungsinstitutionen sowie russischsprachigen militärischen und halbmilitärischen Hochschulen konzentriert war. Dies führte auch dazu, dass die russische Bevölkerungsschicht im Lettland der Nachkriegszeit einen hohen Anteil an – insbesondere technischer – Intelligenz aufwies, was sich bis heute in Selbsteinschätzung und Selbstbewusstsein der russischen Minderheit widerspiegelt, die höher sind als etwa die Selbsteinschätzung der russischsprachigen Bevölkerungsteile Litauens und Estlands. Der offizielle politische Diskurs der sowjetischen Gesellschaft war zwar betont internationalistisch, doch in der Realität genossen die Russen und die aus anderen Sowjetrepubliken Eingewanderten in Lettland bestimmte sozioökonomische Vorteile. So bildete sich in Lettland ein deutliches und für die Russischsprachigen günstiges Ungleichgewicht hinsichtlich des alltäglichen Sprachengebrauchs heraus. Laut Daten der Volkszählung von 1989 beherrschten 68% der Letten die russische Sprache, aber nur 21% der Russen die lettische. Demzufolge bildeten sich in Lettland während der Sowjetherrschaft mit Blick auf die Sprachkompetenz zwei zahlenmäßig nahezu gleich große Gruppen heraus – eine lettischsprachige und eine russischsprachige, die sich hinsichtlich ihrer Informationsquellen, ihrer Haltung gegenüber den Verhältnissen in Lettland sowie ihres Verständnisses der Geschichte des Landes deutlich unterschieden. Andererseits gab es und gibt es in Lettland noch immer eine ganze Reihe von Faktoren, die günstigere Voraussetzungen für die Annäherung zwischen den ethnolinguistischen Gruppen boten bzw. bieten als beispielsweise im benachbarten Estland. So sind die Russen in Lettland verhältnismäßig gleichmäßig über das gesamte Staatsgebiet verteilt, es gibt einen relativ hohen Anteil von Russen, deren Vorfahren bereits vor dem Zweiten Weltkrieg in Lettland gelebt haben, sowie über mehrere Jahrzehnte einen relativ hohen Anteil an Mischehen (20 bis 25%). Und schließlich liegt laut einer Umfrage von 2011 in allen drei baltischen Staaten in Lettland der bilinguale – also sowohl Lettisch als auch Russisch sprechende – Anteil der Gesamtbevölkerung mit 40% sehr viel höher als derjenige in Estland bzw. Litauen (jeweils 17%), wenn auch der Löwenanteil der Zweisprachigen auf die Letten entfällt, die angesichts der Dominanz der Russen in den Städten, vor allem in Riga, schon aus Gründen der Konkurrenz zweisprachig sein müssen.

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Die Lettlandrussen und die Idee der Wiederherstellung der Unabhängigkeit Lettlands Unter Berücksichtigung der betont bipolaren Struktur der sowjetlettischen Gesellschaft war zu erwarten, dass die Ereignisse der »Singenden Revolution« in den Kreisen der russischsprachigen Einwohner Lettlands eine eher negative Reaktion hervorrufen würden. Doch dies trat nicht ein. Ein beachtlicher Teil der Nichtletten in der LSSR (rund 39% im Jahr 1990) unterstützten die Wiederherstellung der Unabhängigkeit Lettlands, wobei der Umfang der Unterstützung in Lettland höher war als beispielsweise in Estland, in der Ukraine oder in Kasachstan. Dies belegen auch die Ergebnisse einer Meinungsumfrage vom 3. März 1991, bei der sich mindestens 26% der nichtlettischen Einwohner für die lettische Unabhängigkeit aussprachen – wesentlich mehr als in Litauen und Estland. Die Tatsache, dass so viele der nichtlettischen Bewohner Lettlands, darunter auch Russen, positiv oder neutral gegenüber der Idee der Wiederherstellung von Lettlands Unabhängigkeit eingestellt waren, war ein großer Erfolg der Anhänger der Unabhängigkeitsbewegung. Dieser wurde auch dadurch gefördert, dass die Wortführer der ersten Generation der für die Unabhängigkeit eintretenden Lettischen Volksfront einen »parlamentarischen« Weg zur Wiederherstellung der Unabhängigkeit eingeschlagen hatten, der vorsah, auf die aus der Sowjetzeit überkommenen Vertretungsstrukturen zurückzugreifen und so Unterstützung in sämtlichen ethnischen Gruppen Lettlands zu suchen. Vor diesem Hintergrund wurde auf dem 2. Kongress der Volksfront auch eine auf Integration zielende Staatsangehörigkeitspolitik formuliert, derzufolge alle langjährigen Einwohner zu Staatsbürgern des unabhängigen Lettlands werden konnten, die ihre Bereitschaft bekundeten, ihr Schicksal mit dem lettischen Staat zu verknüpfen. Die Formulierung dieses Beschlusses kann man unterschiedlich interpretieren, doch erhielt die Volksfront in der Folge bei allen Wahlen während der »Singenden Revolution« überzeugende Mehrheiten, die den Abgeordneten des Obersten Sowjets (Parlaments) Lettlands die Möglichkeit eröffneten, am 4. Mai 1990 den Beschluss zu fassen, zur vollständigen Wiederherstellung des unabhängigen lettischen Staates überzugehen. Das wäre ohne die Wahlhilfe der Minderheiten einschließlich der russischen nicht möglich gewesen. Gleichzeitig mit diesem »sozial-realistischen« Ansatz der Volksfront wurde auch der »gesetzeskonforme« Weg zur Unabhängigkeit diskutiert, der die rechtliche Kontinuität mit der Republik von 1918 in den Vordergrund rückte und alle, die sich nach dem 17. Juni 1940 in Lettland niedergelassen hatten, als illegale Immigranten betrachtete. Im Rahmen einer solchen Herangehensweise konnte von einer auf Integration zielenden Staatsbürgerschaftspolitik natürlich keine Rede sein. Diese Haltung in der Frage der Staatsbürgerschaft wurde nicht zuletzt durch die offene Parteinahme der damaligen Führung der Lettischen Kommunistischen Partei für die Anführer des Putsches vom August 1991 noch bestärkt.

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Das Ringen um die Staatsbürgerschaft Am 15. Oktober 1991, knapp zwei Monate nach der de facto-Wiederherstellung der Unabhängigkeit der Republik Lettland , beschloss der Oberste Sowjet – im Widerspruch zu dem zu diesem Zeitpunkt noch geltenden Programm der Volksfront – , die Staatsbürgerschaft nur für alle diejenigen automatisch zu erneuern, die schon vor der sowjetischen Okkupation im Jahr 1940 Staatsbürger der Republik Lettland gewesen waren, sowie für deren Nachkommen. Damit wurden die Wähler des Obersten Sowjets durch einen Beschluss ihrer eigenen Vertreter in »die Unsrigen« und »die Fremden« unterteilt. In die Gruppe der letzteren gerieten auch 60,9% der Russen in Lettland, da sie erst nach 1940 eingewandert waren. Im Hinblick auf die während der »Singenden Revolution« gemachten, in Lettland aber heiß umstrittenen Versprechen hatte dieser Schritt einen ausgesprochen destruktiven Effekt – er grenzte viele lettische Fremdstämmige aus und bildete die Grundlage für den unter den Russen in Lettland bis heute weit verbreiteten Eindruck, dass sie im Herbst 1991 schlichtweg betrogen worden seien. Es wäre falsch, das Vorgehen der lettischen Politiker Anfang der 1990er Jahre einzig und allein mit der Sorge um die staatsrechtliche Kontinuität und die demokratische Stabilität zu erklären. Nicht weniger wichtige Zielsetzungen betrafen die Sicherung der politischen und wirtschaftlichen Macht zugunsten der ethnischen Letten, indem man für ähnliche ethnische Verhältnisse innerhalb der Gesamtheit der Staatsangehörigen sorgte wie in der Vorkriegszeit, sowie die Verdrängung unerwünschter Konkurrenten während des Privatisierungsprozesses und beim Zugang zu einer ganzen Reihe von Berufen. Zweifellos spielten gelegentlich auch spezifische Gefühle einer ethnopolitischen Revanche eine gewisse Rolle sowie die Hoffnung, die Probleme der ethnischen Beziehungen durch die freiwillige Auswanderung eines großen Teils von Fremdstämmigen aus Lettland zu lösen – eine Erwartung, die sich teilweise auch erfüllte: Die Zahl der zwischen 1991 und 1995 aus Lettland ausgewanderten Personen überstieg die Zahl der eingewanderten um 168.200, wobei 74,5% derjenigen, die Lettland verließen, in GUS-Staaten übersiedelten. Dies waren der Kontext und der emotionale Hintergrund, vor denen die weitere Auseinandersetzung über die Frage der Staatsbürgerschaft in den 1990er Jahren zu beurteilen ist. Die von der Regierung angebotenen Lösungen zielten in Wirklichkeit auf die Einschränkung des Naturalisierungsprozesses ab, und erst auf massiven Druck der westlichen Verbündeten wurde 1998 das Staatsbürgerschaftsgesetz dahingehend abgeändert, dass die Naturalisierung erleichtert und ein Weg für die Registrierung der nach 1991 geborenen Kinder von Nichtstaatsbürgern als lettische Staatsbürger gefunden wurde. In den 1990er Jahren bildeten sich innerhalb der Russen in Lettland drei hinsichtlich ihres staatsbürgerlichen Status unterschiedliche Gruppen heraus, die bis auf den heutigen Tag existieren. Die ursprünglich größte von ihnen waren die sogenannten »nepilsoņi«, wörtlich übersetzt »Nichtstaatsbürger«, also ehemalige Bürger der UdSSR, denen durch ein spezielles Gesetz von 1995 zwar die lettische Staatsangehörigkeit zugesichert worden war, für die jedoch Einschränkun-

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gen hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Rechte und des Zugangs zu einigen Berufen galten und denen das Wahlrecht verwehrt war. Im Laufe der Zeit ging die Zahl der Nichtstaatsbürger innerhalb der Russen in Lettland infolge von Naturalisierung, des Erwerbs der Staatsangehörigkeit anderer Staaten sowie des Rückgangs der Geburtenrate kontinuierlich zurück: Bildeten sie 1993 noch 60,9% der Gesamtzahl der Russen in Lettland, waren es Anfang 2017 nur noch 28,52%. Der Anteil der Nichtstaatsbürger korreliert überdies deutlich mit der Alterspyramide der Bevölkerung. Anfang 2017 bildeten 242.560 Nichtstaatsbürger 12,3% der lettischen Gesamtbevölkerung von 1,96 Millionen, wobei sie in der Altersgruppe der Fünfzig- bis Sechzigjährigen 16,7% stellten, in der Altersgruppe von 18 bis 25 Jahren jedoch nur 2,6%. Die letztere Zahl sollte jedoch nicht überbewertet werden, denn der durch die Wende ausgelöste wirtschaftliche Niedergang erzeugte in allen Bevölkerungsgruppen Lettlands einen dramatischen Geburtenrückgang. Insgesamt zeigt die Erfahrung der letzten Jahre, dass sich die lettischen Nichtstaatsbürger in eine in sich abgeschlossene Gruppe verwandeln, die keine besondere Tendenz erkennen lässt, sich auf dem Wege der Naturalisierung politisch in die lettische Gesellschaft zu integrieren. Wie eine Studie von 2011 zeigt, planen 65% von ihnen nicht, in der nächsten Zeit die lettische Staatsbürgerschaft zu erwerben – 22% gaben an, nicht in der Lage zu sein, die für die Naturalisierung notwendigen Prüfungen abzulegen, 19% waren der Ansicht, dass die Staatsbürgerschaft ihnen automatisch zustehe, 13% wiesen auf die Vorteile hin, die Nichtstaatsbürger Lettlands bei Reisen nach Russland und in die GUS genießen, und 14% gaben an, mit ihrem gegenwärtigen Status zufrieden zu sein. Die zweite Gruppe der Russen in Lettland bilden russische Staatsbürger. In den ersten Jahren der wiederhergestellten Unabhängigkeit gab es (im Unterschied zum benachbarten Estland) nur sehr wenige russische Staatsbürger in Lettland, nämlich rund 8.000 am Ende der 1990er Jahre. In den letzten Jahren ist die Anzahl der russischen Staatsbürger stark angestiegen, und Anfang 2017 waren 55.440 russische Staatsbürger in Lettland registriert. Viele der Russischsprachigen in Lettland haben sich aus sozioökonomischen Erwägungen für die russische Staatsbürgerschaft entschieden, indem sie z.B. den Umstand nutzen, dass das Pensionsalter in Russland niedriger ist als in Lettland. Gleichzeitig spielen bei der Entscheidung zugunsten der russischen Staatsbürgerschaft auch politische Motive eine Rolle, beispielsweise die Unzufriedenheit mit ihrem Status in Lettland. In jedem Fall birgt die Entstehung eines solchen Segments russischer Staatsangehöriger innerhalb des lettischen Staates zusätzliche Risiken für die nationale Sicherheit. Die dritte und derzeit größte Gruppe der Russen in Lettland schließlich bilden die Russischstämmigen, die die lettische Staatsbürgerschaft besitzen – also sowohl diejenigen, deren Staatsbürgerschaft durch den Beschluss des Obersten Sowjets vom 15. Oktober 1991 erneuert wurde, als auch diejenigen 94.622 Russen, die sich zwischen 1990 und 2017 naturalisieren ließen. Der Anteil von Staatsbürgern der Republik Lettland mit russischer Volkszugehörigkeit hat sich innerhalb der Gesamtzahl der lettischen Staatsbürger von 16,3% im Jahre 1995 auf 19,6% Anfang 2017 erhöht.

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Was tun mit der russischen Sprache? Ein weiterer Bereich schmerzlicher Veränderungen für die Gemeinschaft der Russen in Lettland bezieht sich auf den Gebrauch der russischen Sprache und auf das Bildungswesen. Stand das Problem der Staatsbürgerschaft auch international im Fokus der Aufmerksamkeit, so erzeugten die Themen Sprache und Bildung die größten inneren Spannungen, weil sie die intellektuelle Elite der Russen in Lettland sowie die Zukunft der russischsprachigen Kinder sehr viel unmittelbarer betrafen. Das Bildungsgesetz von 1998 legte fest, dass der Unterricht in den staatlichen und kommunalen Lehranstalten ab 2004 nur noch auf Lettisch stattzufinden habe. 1999 wurde das Gesetz zur Staatssprache verabschiedet, das die Sprachen der Minderheiten in Lettland, darunter auch das Russische, zu Fremdsprachen erklärte und keine Normen für deren Verwendung in Lettland festlegte. Das Ziel des Sprachengesetzes war zweifellos legitim, nämlich den Schutz der lettischen Sprache und deren weitere Festigung in sämtlichen Lebensbereichen der Gesellschaft Lettlands zu gewährleisten. Dennoch widersprachen die hierfür gewählten Mittel dem Rahmenübereinkommen zum Schutz der nationalen Minderheiten, ja das Gesetz festigte in der Gesellschaft die Vorstellung, dass es sich bei den Beziehungen zwischen der lettischen und den fremdländischen Sprachen um ein a priori festgelegtes »Nullsummenspiel« handelte – jede Abweichung von der »harten Linie« zugunsten der Minderheitensprachen galt als Schädigung der Stellung der lettischen Sprache. Die Weigerung, der russischen Sprache, die von mehr als einem Drittel der Bevölkerung Lettlands im Familienalltag benutzt wird, keinerlei offiziellen Status zuzuerkennen, rief bei vielen Russen in Lettland verständlicherweise Gefühle der Demütigung hervor, die unter demagogischen Prämissen durchaus instrumentalisiert werden konnten, wie der folgende Gang der Ereignisse bewies. Die Einführung der Normen des Bildungsgesetzes zog in den Jahren 2003/04 bis dahin in Lettland noch nie dagewesene Proteste der russischsprachigen Bevölkerungsteile nach sich. Zum Höhepunkt des Protests gegen die Verweigerung jeglichen offiziellen Status‘ für die russische Sprache und gegen strikte Einschränkungen von deren Gebrauch im öffentlichen Raum wurde das von radikalen russischen Aktivisten veranlasste Referendum über Russisch als zweite Landessprache, das am 18. Februar 2012 abgehalten wurde. Die aktive Teilnahme der russischsprachigen Wähler an Vorbereitung und Durchführung des Referendums überraschte selbst dessen Initiatoren. Auch wenn 74,8% der Wähler (die Wahlbeteiligung lag nur bei 70,7%, da viele Letten dem Referendum im Sinne eines »aktiven Ignorierens« fernblieben) die Gesetzesinitiative wie erwartet ablehnten, stimmten doch 24,8% der Wähler dafür, der russischen Sprache den Status einer Landessprache zuzuerkennen. Das war mehr als der prozentuale Anteil von Einwohnern russischer Volkszugehörigkeit an der Gesamtzahl der Einwohner Lettlands, wenn man berücksichtigt, dass die etwa 242 000 Nichtstaatsbürger, überwiegend Russen, nicht stimmberechtigt waren. Das Ergebnis des Referendums war offenkundig ethnisch begründet; jedenfalls vergrößerte es die Spannungen

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zwischen den beiden großen ethnolinguistischen Gruppen und beeinflusst es weiterhin negativ, weil im lettischen Umfeld die Ansicht weit verbreitet ist, dass der eigentliche Grund für den Protest eine ablehnende Haltung gegenüber der lettischen Sprache und eine nostalgische Sehnsucht nach der Sowjetzeit sei. Dazu muss man sagen, dass der Grad des Misstrauens zwischen den beiden größten ethnolinguistischen Gruppen Lettlands auch vor dem Referendum schon der höchste innerhalb der baltischen Staaten war. So schätzen laut der Daten von M. Ehala die Letten das gegenseitige Misstrauen der ethnischen Gruppen bei einer Höchstpunktzahl von 6 auf 3,29 Punkte, was wesentlich höher ist als die jeweilige Einschätzung bei den Esten (3,06 Punkte) und Litauern (2,76 Punkte). Ein ähnliches Bild ergibt sich auch bei den Russischsprachigen Lettlands, die das gegenseitige Misstrauen mit 3,37 Punkten einschätzen, was sich deutlich von den Einschätzungen der Russischsprachigen Litauens und Estlands unterscheidet (2,67 bzw. 3,16 Punkte). Dennoch gerät die Vorstellung vom Unwillen der Russen in Lettland, die lettische Sprache zu respektieren, in Widerspruch mit den Daten einer Umfrage, die ein Jahr nach dem Referendum durchgeführt wurde und in der sich die Befragten für eines von drei Szenarien der ethnokulturellen Entwicklung Lettlands entscheiden konnten: für die Idee eines »lettischen Lettland«, das die Einschränkung anderer Sprachen und Kulturen vorsehen würde; für das integrative Modell, das nur eine bevorzugte Entwicklung der lettischen Sprache und Kultur vorsehen, gleichzeitig aber auch der Entwicklung anderer Sprachen und Kulturen seine Unterstützung zusichern würde; und schließlich das »Schmelztiegel-Modell«, in dem die Beziehungen zwischen den Sprachen und Kulturen auf der Grundlage der freien Konkurrenz gestaltet würden – mit den in Lettland bereits erlebten negativen Konsequenzen. Fast zwei Drittel der Befragten mit russischer Volkszugehörigkeit unterstützten das integrative Modell, etwa ein Drittel befürwortete die freie Konkurrenz von Sprachen und Kulturen. Auch die Daten über das Beherrschen der lettischen Sprache bei den Russen in Lettland weist einen wesentlichen Fortschritt auf: 1989 beherrschten 21,1% der Fremdländischen das Lettische, im Jahr 2000 bereits etwas mehr als die Hälfte (53%), und 2012 schätzten in einer Eurobarometer-Umfrage zwei Drittel der Fremdländischen ihre Lettischkenntnisse als gut oder sehr gut ein. Einen ähnlichen Widerspruch weisen auch der Verlauf der Proteste gegen die Schulreform auf. Interviews mit Teilnehmern der Proteste belegen, dass im Unterschied zur Staatsbürgerschaftspolitik der lettischen Regierung das Ziel der Sprach- und Bildungspolitik als legitim betrachtet wurde, jedoch die Art und Weise ihrer Umsetzung, das heißt die Unfähigkeit der Staatsgewalt, mit einem bedeutenden Teil der Gesellschaft zu kommunizieren, inakzeptabel erschien. Eine ähnliche Schlussfolgerung kann auch im Hinblick auf das Referendum von 2012 gezogen werden – die meisten der 273.347 lettischen Staatsbürger, die die Forderung nach Anerkennung des Russischen als zweiter Landessprache unterstützten, zielten in Wirklichkeit auf die Anerkennung der russischsprachigen Gemeinschaft Lettlands als eines legitimen Gegenübers der lettischen Bevölkerungsmehrheit, dessen Interessen bei wichtigen gesellschaftlichen Entscheidungen berücksichtigt werden sollten.

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Die Russen in Lettland in der lettischen Politik Das Verständnis von politischer Kultur und politischer Teilhabe sowie das Verhältnis gegenüber bürgerlichen Werten unterscheidet sich bei Russen in Lettland und den Letten kaum. Doch engagieren sich die Russen in Lettland im Durchschnitt weniger in nichtstaatlichen Organisationen (NGO) bzw. Bürgerinitiativen, denn die lettischen und russischen Segmente der Bürgergesellschaft sind in hohem Maße voneinander abgegrenzt. Die Minderheiten in Lettland, unter ihnen auch die Russen, schätzen ihr Vermögen, staatliche oder kommunale Strukturen zu beeinflussen, niedriger ein als ethnische Letten. Wenn wir uns der traditionellen und am weitesten verbreiteten Form politischer Teilhabe zuwenden, nämlich der Teilnahme an Wahlen und der Unterstützung von Parteien, muss angemerkt werden, dass das politische Spektrum in Lettland nach ethnischen Kriterien aufgeteilt ist – es gibt »lettische« Parteien und »russische« Parteien. Die Wurzeln dieser Konfrontation sind noch in den 1990er Jahren zu suchen, als Fragen der Staatsbürgerschaft, der Geschichtsinterpretation und der Sprache zur Trennlinie wurden. Diese Entfremdung wurde auch dadurch gefördert, dass ein Teil der »russischen« Parteien mit Blick auf ihre Führungspersönlichkeiten und politischen Positionen unverhohlen die Erben derer waren, die die Unabhängigkeitsidee während der »Singenden Revolution« bekämpft hatten, also pro-Moskauer Kräfte. Doch bildete sich bereits Anfang der 1990er Jahre auch eine gemäßigte politische Richtung heraus, die zum interethnischen Dialog aufrief und gleichzeitig bemüht war, die Interessen der Russischsprachigen in Lettland zu verteidigen. In den letzten Jahren hat sich der Anteil der für »russische« Parteien abgegebenen Stimmen bei den Wahlen zum Parlament stetig vergrößert, 2011 näherte er sich bereits einem Drittel der Stimmberechtigten (s. Tabelle 1). Dies wurde durch den Anstieg der Zahl russischsprachiger Wähler begünstigt, aber auch durch die gemäßigten Positionen der russischen Parteien, womit sie ihrerseits einen beträchtlichen Teil der lettischen Wählerschaft an sich binden konnten. Tabelle 1: Stimmen für »russische« Parteien bei den Wahlen zum Parlament1 Ca.

1993

1995

1998

2002

2006

2010

2011

2014

17%

12,4%

14,1%

20,1%

22,5%

27,5%

29,1%

24,6%

Grundsätzlich bilden Russen (62%) und Vertreter anderer Minderheiten (11%) die Mehrheit der Anhänger der auf die russischsprachigen Wähler orientierten Partei »Harmonie« (Saskaņa), doch stellen auch Letten einen beachtlichen Anteil ihrer Wählerschaft (27%). Obwohl die Harmonie-Patei in den letzten Jahren kontinuierlich zur stärksten politischen Kraft in Lettland aufgestiegen und mit 1

Wahlen seit der Wiederherstellung der Unabhängigkeit der Republik Lettland. In: https://www. cvk.lv/pub/public/27093.html

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der größten Fraktion im Parlament vertreten ist, sind ihre Chancen für eine Regierungsbeteiligung bislang minimal. Die »lettischen« Parteien hingegen vermögen die russischsprachigen Wähler kaum zu erreichen: Von den Parteien der gegenwärtigen Regierungskoalition hat mit 13% nur der »Grünen- und Bauernbund« (Zaļo un Zemnieku savienība) einen einigermaßen beachtlichen Rückhalt unter den russischen Wählern; bei der Partei »Einigkeit« (Vienotība) sind es nur 4% und bei der »Nationalen Vereinigung« (Nacionālā apvienība) nur 1%. Infolgedessen bleibt der »Graben« der Entfremdung zwischen dem russischsprachigen Teil der Bevölkerung und der lettischen politischen Elite bestehen, was mit Blick auf die gesamtgesellschaftlichen Prozesse negative Folgen hat.

Berufliche Stellung der Russen in Lettland Die raschen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwälzungen in Lettland, darunter die Abwicklung der Moskau direkt unterstellten Großunternehmen, die Forderung nach lettischen Sprachkenntnissen der Arbeiter und das Problem der Staatsangehörigkeit brachten tiefgreifende Veränderungen in der sozioökonomischen Situation der Russen in Lettland und ihrer Beschäftigungsstruktur mit sich. Im wiederhergestellten lettischen Staat sind die Russen gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil in der staatlichen und kommunalen Verwaltung, in staatlichen und kommunalen Unternehmen, in der Landwirtschaft sowie in kulturellen und künstlerischen Einrichtungen wenig vertreten. Überdies sind Angehörige von Minderheiten im heutigen Lettland eher von Arbeitslosigkeit bedroht als Letten. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Situation in Lettland nach Wiedererlangen der Unabhängigkeit jedoch nicht wesentlich von der der Europäischen Union insgesamt, obwohl sich die Lage der Russischsprachigen auf dem Arbeitsmarkt besonders rasch wesentlich verschlechterte, nämlich innerhalb einer Generation. In den 1990er Jahren bildete sich in Lettland ein Gegensatz zwischen der Beschäftigung von Letten und Angehörigen von Minderheiten heraus. Dieser wurde zwar bis zum Jahr 2007 dank des sozioökonomischen Wachstums Lettlands und der Abwanderung von Arbeitskräften in andere EU-Staaten teilweise überbrückt, doch im Zuge der folgenden Wirtschaftskrise ist der ethnische Gegensatz im Beschäftigungsbereich wieder zum Tragen gekommen. Einer der Hauptgründe für diesen Gegensatz sind unzureichende Lettischkenntnisse, vorwiegend unter den Arbeitssuchenden der älteren Generation. Jedenfalls bleibt die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt eine der wesentlichen Herausforderungen der Integrationspolitik des lettischen Staates insgesamt. Dies wird auch durch die Tatsache belegt, dass unter denjenigen, die auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen Lettland verlassen, der Anteil der gut ausgebildeten Nichtlettischstämmingen mit lettischer Staatsbürgerschaft in den letzten Jahren wesentlich angestiegen ist. Die Auswanderung gerät zur Hauptursache für den Rückgang der Zahl der Russen in Lettland, die zwischen 2000 und 2017 wesentlich höher war als die der Letten, und zwar

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nicht nur prozentual (28,3% gegenüber 11,25%), sondern auch in absoluten Zahlen (198.873 im Verhältnis zu 154.260). Anfang 2017 lebten in Lettland 504.000 Russen aller drei oben genannten Kategorien gegenüber 821.000 im Jahre 1989. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung hat sich dabei auf 26,1% reduziert.

Die Identitätskrise und die Rolle des russischen Fernsehens Die während der Sowjetzeit eingewanderten russischsprachigen Einwohner Lettlands gerieten im Zuge der dramatischen Veränderung ihres Status in eine tiefe Identitätskrise. Zum wichtigsten Bezugspunkt ihrer Selbstidentifikation wurde für viele von ihnen die Erinnerung an die Sowjetzeit. Im Jahr 2010 antworteten 80,6% der russischen Befragten bejahend auf die Frage: »Haben Sie sich während der Jahre der Sowjetherrschaft besser gefühlt als nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit Lettlands?« Solche nostalgischen Gefühle werden durch die Misserfolge der Integrationspolitik des lettischen Staates und eine immer stärkere Betonung ethnischer Gesichtspunkte in der offiziellen Politik noch verstärkt. Zu wichtigen konsolidierenden Faktoren der russischsprachigen Bevölkerungsteile wurden das Bewusstsein, eine linguistische Minderheit zu sein, der orthodoxe Glaube und der Stolz auf den Sieg der UdSSR im Zweiten Weltkrieg, den 2010 30,5% der Russischsprachigen in Lettland als das größte Ereignis in der lettischen Geschichte des 20. Jahrhunderts bezeichneten. Diese Stimmung spiegelt auch die im Laufe des letzten Jahrzehnts zum Massenphänomen gewordene Feier des »Tags des Sieges« zeitgleich mit Russland am 9. Mai, obwohl offiziell in Lettland – ebenso wie in den anderen EU-Staaten – am 8. Mai des Endes und der Opfer des Zweiten Weltkriegs gedacht wird. Da die Letten in diesem Sieg jedoch mehrheitlich nur eine Fortsetzung von Unterdrückung und Terror unter anderen Vorzeichen sehen, versteht sich, dass die Feiern am 9.Mai nicht gerade zur Entspannung zwischen Letten und Russen in Lettland beitragen. Diese Bewusstseinsveränderung unter den Russen in Lettland im letzten Vierteljahrhundert kann man nicht nachvollziehen, ohne die Verschiedenheit der lettischen und der russischen Informationsquellen zu berücksichtigen, die von eklatant unterschiedlichen Werteorientierungen und Geschichtsinterpretationen geprägt sind. Laut einer im Jahr 2014 durchgeführten Umfrage nutzen 84,1% der Russischsprachigen vorwiegend oder ausschließlich russische Fernsehkanäle. Diese Tendenz rührt zwar noch aus Sowjetzeiten her, doch in den letzten Jahren wuchs ihre Bedeutung entschieden dank der Bemühungen Russlands, seinen Einfluss im »nahen« und »fernen« Ausland zu verstärken, was einer Gratwanderung auf der Grenze zum Informationskrieg gleicht. Einem beachtlichen Teil der russischsprachigen Fernsehzuschauer dienen die russischen TV-Kanäle als Hauptinformationsquelle über alle Ereignisse sowohl in der Welt als auch in Lettland. Deshalb verwundert es nicht, dass sich in der Stimmung eines beachtlichen Teils der Russen in Lettland russische Propagandaklischees widerspiegeln, beispiels-

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weise die Behauptung, dass die sozioökonomische Lage in Lettland »katastrophal« sei – eine Sichtweise, der 55,1% der befragten Russen in Lettland bei einer Umfrage im Jahr 2016 beipflichteten. Auch die entschiedene Parteinahme der Russen für die Kandidatur von Donald Trump bei den US-Präsidentschaftswahlen im Jahr 2016 – im Unterschied zur Bevölkerungsmehrheit in anderen EUStaaten wie auch zur klaren Parteinahme der Letten für Hillary Clinton – sind nicht anders zu erklären als durch den Einfluss der russischen Fernsehkanäle, die Donald Trump vehement als »einen der Unsrigen« darstellten.

Wohin schauen die Russen in Lettland? »Die Rückkehr nach Europa« nach fast 50 Jahren Sowjetunion war eine der wichtigsten Losungen der »Singenden Revolution«, und nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit wurde die Integration in die europäischen und transatlantischen Strukturen eines der Hauptziele der Politik des lettischen Staates. Einen wichtigen Faktor in diesem Kontext bildete die geopolitische Orientierung der beiden bedeutendsten ethnolinguistischen Gruppen, d. h. ihre jeweilige Haltung gegenüber EU und NATO bzw. der GUS, die aus Sicht der Gesellschaft die Entscheidung zwischen »West« und »Ost« symbolisierten. Im lettischen und im russischsprachigen Teil der Gesellschaft waren und sind diese Haltungen fundamental verschieden. Sehr anschaulich zeigte sich dies im September 2003, als beim Referendum zum EU-Beitritt nur 20% der russischsprachigen Staatsbürger Lettlands für den Beitritt stimmten. Dennoch darf man die Tatsache nicht ignorieren, dass die Russen in Lettland noch im Oktober 1998 eine größere Unterstützung für den EU-Beitritt Lettlands zum Ausdruck gebracht hatten als die Letten selbst (64% gegenüber 57%). Offensichtlich wurde die Europäische Union im russischsprachigen Teil der lettischen Gesellschaft in erster Linie unter sozioökonomischen und humanitären Aspekten wahrgenommen – nämlich als Chance, einen höheren Lebensstandard zu erreichen und die Politik des lettischen Staates in Fragen der Staatsbürgerschaft, der Sprache und der Bildung in eine für die Minderheiten günstige Richtung zu korrigieren. Als klar wurde, dass sich die Hoffnungen auf einen größeren Druck der EU auf die politische Elite Lettlands nicht erfüllten, ließ die Zustimmung der Russen in Lettland zum EU-Beitritt rasch nach. Im Hinblick auf Russland ist es wichtig zu unterscheiden, wo eher natürliche und verständliche Gefühle gegenüber der eigenen Heimat oder derjenigen der Eltern und Großeltern enden und wo eine politisch oder wirtschaftlich motivierte Orientierung auf Lettlands östlichen Nachbarn beginnt. In dieser Frage sind die Russen in Lettland nicht homogen – unter ihnen vollziehen sich Abgrenzungsprozesse zwischen denjenigen, die sich nach Westen, und denjenigen, die sich nach Osten orientieren, und die Zahl der Befragten, die keine klare Position in dieser Frage haben, geht zurück. Gerade die jüngere Generation der Russischsprachigen in Lettland ist Europa gegenüber relativ aufgeschlossen. Dennoch

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betrachten auch zwölf Jahre nach Lettlands EU-Beitritt nur 43% der Befragten, die im familiären Umfeld Russisch sprechen, diesen als die richtige Entscheidung; unter den Lettischsprachigen sind es hingegen 70%. Den Beitritt zur NATO betrachten entsprechend 38% bzw. 73% der Befragten als die richtige Entscheidung.

Wie kann die Konsolidierung der lettischen Gesellschaft gelingen? Es gibt keinen Zweifel daran, dass die Beziehungen zwischen den Russen als größter Minderheit Lettlands und den Letten für die Wahrung des gesellschaftlichen Friedens und einer nachhaltigen Entwicklung des Landes von entscheidender Bedeutung sind. Für die künftige Gestaltung der Beziehungen zwischen den beiden größten ethnolinguistischen Gruppen Lettlands zeichnen sich zwei mögliche Szenarien ab. Das eine basiert auf einer immer stärkeren Betonung der lettisch-ethnischen Werte als der wichtigsten Voraussetzung für die Entwicklung der Gesellschaft Lettlands. Für dieses Szenario hat sich in den letzten Jahren der größte Teil der lettischen politischen Elite entschieden – offenbar als Antwort auf die Erfolge der »russischen« Parteien bei den Parlaments- und Kommunalwahlen. Dies bezeugen die 2011 verabschiedeten Leitlinien zur Politik der Konsolidierung der Gesellschaft und die Ergänzungen zur Präambel der Verfassung, die mehrfach die entscheidende Rolle der Letten bei der Staatsgründung hervorheben. Ob die Gesellschaft Lettlands auf diese Weise konsolidiert werden kann, erscheint zweifelhaft, weil zwar 90,9% der lettischen, aber nur 43,1% der russischen Befragten die lettische Sprache und Kultur als wichtigste Grundlage der Einheit der lettischen Gesellschaft betrachten; die Gegensätze zwischen Letten und Russen bezüglich dieser Fragen sind in den letzten Jahren jedenfalls nicht geringer geworden. Dies gibt Anlass zur Sorge, dass die Umsetzung des »ethnischen« Szenarios zu einem ganz anderen Ergebnis führen könnte, als es dessen Anhänger im Sinn haben – nämlich zu weiterer gegenseitiger Abgrenzung der Bevölkerungsgruppen und zur Festigung einer gespaltenen Gesellschaft. Das zweite – »bürgerliche« – Szenario vernachlässigt keineswegs die Notwendigkeit, die lettische Kultur und Sprache zu schützen und zu pflegen sowie eine aktive Sprachenpolitik zu verwirklichen. Doch die Politik der Einigung der Gesellschaft sollte den Akzent primär auf die bürgerlichen Werte und darauf legen, die Minderheiten bei der Erarbeitung von Beschlüssen, die für die Gesellschaft Lettlands besonders wichtig sind, umfassend einzubeziehen. Entscheidend sind die Absage an die »Als ob sie nicht hier wären«-Politik und die Schaffung eines neuen Klimas in den Beziehungen zwischen dem lettischen Staat und den Minderheiten einschließlich der Russen in Lettland. Das »bürgerliche« Szenario verspricht keine raschen Erfolge, denn die Last des gegenseitigen Missverstehens und der erlittenen Verletzungen ist auf beiden Seiten beträchtlich. Dennoch hat es das Potential, zum Szenario einer nachhaltigen Entwicklung der lettischen Gesellschaft zu werden.

Māris Andžāns, Andris Sprūds

Lettlands Außen- und Verteidigungspolitik seit 1991 Nach Wiederherstellung der Staatlichkeit gehörte es zu den wichtigsten Aufgaben der Politik Lettlands, die Wiedergewinnung der Souveränität unumkehrbar zu machen und die Sicherheit des Staates zu gewährleisten. Die für die Umsetzung einer entsprechenden Außen- und Verteidigungspolitik notwendigen Strukturen und Kenntnisse mussten jedoch zunächst von Grund auf entwickelt bzw. erworben werden. In dem sich rasch verändernden internationalen Umfeld bedeutete dies eine außergewöhnliche Herausforderung für den wiedererrichteten Staat. Die Formulierung der nationalen Interessen Lettlands und ihre Umsetzung in konkrete Beschlüsse durchlief mehrere Phasen, in denen jeweils unterschiedliche Prioritäten in den Vordergrund rückten. Die Dynamik der lettischen Außenund Verteidigungspolitik wurde sowohl von den Errungenschaften der jeweils vorhergehenden Phase als auch von den Herausforderungen und Möglichkeiten des internationalen Umfelds beeinflusst, aber auch von den Zielsetzungen der lettischen Innenpolitik sowie den Ansichten und Einstellungen der an der Gestaltung der Außenpolitik beteiligten Persönlichkeiten.

Die Sicherung der faktischen Souveränität und die Integration in die internationale Gemeinschaft Lettland erlangte seine staatliche Unabhängigkeit im August 1991 zurück. Dieses Datum markierte jedoch lediglich den Beginn der Bemühungen um die Sicherung der faktischen Souveränität. Denn nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit und der internationalen Anerkennung Lettlands bestand die Hauptaufgabe der erneuerten staatlichen Strukturen darin, Lettland den Weg in die internationalen Organisationen zu ebnen. Ungeachtet der Tatsache, dass sich der diplomatische Dienst des neuen Staates und die Verteidigungsstrukturen noch im grundlegenden Aufbau befanden, wurde Lettland bereits im September 1991 sowohl in die Vereinten Nationen (17.09.) als auch in die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (10.09.) aufgenommen. Mitgliedsstaat des Europarats wurde Lettland hingegen erst 1995 – knapp zwei Jahre, nachdem die beiden anderen baltischen Staaten Mitglieder dieser Organisation geworden waren. Der Grund für Lettlands verzögerten Beitritt zum Europarat war die Besorgnis des Europarats über die Lage der russischsprachigen Einwohner und die damit verbundene Gesetzgebung zur Staatsbürgerschaft in Lettland. Die Situation

LETTLANDS AUßEN- UND VERTEIDIGUNGSPOLITIK SEIT 1991

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der Russischsprachigen wurde zu einer Frage, die Russland seither beständig sowohl innerhalb des Europarats als auch in anderen internationalen Organisationen sowie im Rahmen der bilateralen Beziehungen thematisiert. Parallel zur Integration in internationale Organisationen von umfassenderer geographischer Dimension knüpfte Lettland engere Beziehungen zu Staaten in der Ostseeregion, die sich in einer ähnlichen Lage befanden. Gleich nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit begann die Suche nach einer gemeinsamen Sprache. Am 8. November 1991 wurde mit der Baltischen Versammlung eine Institution für die Kooperation der Parlamente der baltischen Staaten geschaffen. Diese Organisation fördert nicht nur die Zusammenarbeit zwischen den Parlamentariern der drei Staaten, sondern ist auch darum bemüht, eine übereinstimmende Haltung zu verschiedenen außenpolitischen Fragen zu erzielen. Am 13. Juni 1994 wurde eine weitere Organisation der baltischen Staaten gegründet, die für die Zusammenarbeit zwischen den Regierungen aller drei Staaten vorgesehen ist, der Baltische Ministerrat. Beide Institutionen wurden nach dem Vorbild des Nordischen Rats bzw. des Nordischen Ministerrats gebildet. Diese beiden Organisationen der nordischen Länder hatten bereits seit der Wiederherstellung der Unabhängigkeit der baltischen Staaten eine aktive Zusammenarbeit mit Lettland gepflegt. Die Zusammenarbeit mit diesen und anderen Staaten der Region wurde am 6. März 1992 auch dadurch gestärkt, dass Lettland einer der Mitbegründer des Ostseerats wurde. Eine wichtige Kontaktebene bildete in den ersten Jahren der wiederhergestellten Unabhängigkeit auch die militärische Zusammenarbeit der drei baltischen Staaten. Mit Unterstützung westlicher Staaten – im Falle Lettlands leistete Schweden bedeutende Hilfe – wurden verschiedene Verteidigungsmaßnahmen und Grundzüge einer Verteidigungspolitik entwickelt. Dazu gehörten gemeinsame Projekte wie das Baltische Bataillon (BALTBAT), der Minensuchverband der baltischen Staaten (BALTRON), das radargestützte militärische Luftraumüberwachungssystem der Luftstreitkräfte von Estland, Lettland und Litauen (BALTNET) oder die Baltische Verteidigungsakademie (BALTDEFCOL). Diese Zusammenarbeit der baltischen Staaten wurde zu einem der wichtigsten Instrumente, um eine moderne Verteidigungspolitik zu entwickeln und eine Armee aufzustellen, die sich den Standards der Organisation des Nordatlantikvertrags (NATO) annäherte. Ungewiss ist jedoch, ob sich eine ähnlich enge trilaterale Zusammenarbeit herausgebildet hätte, wenn die westlichen Staaten nicht darauf bestanden und sie unterstützt hätten. Andernfalls hätten sich Estland und Litauen wahrscheinlich für eine noch engere Zusammenarbeit mit stärkeren regionalen Kooperationspartnern entschieden – Estland mit Finnland und Litauen mit Polen. Jedenfalls ergab sich aus der tatsächlichen Entwicklung die Einsicht, dass die baltischen Staaten zusammenarbeiten müssen, dass sie aber starke Verbündete benötigen, wenn sie auf der internationalen Bühne Gehör finden wollen. Im Rahmen der Sicherung der faktischen Souveränität Lettlands gehörte es zu den wichtigsten, aber auch kompliziertesten Aufgaben, Russland zum Abzug seiner in Lettland stehenden Truppen zu bewegen. Ungeachtet dessen, dass Russ-

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land die Unabhängigkeit Lettlands und der beiden anderen baltischen Staaten bereits im August 1991 international anerkannt hatte, warf die Anwesenheit seiner Truppen weiterhin einen Schatten auf die wiedererlangte Staatlichkeit: In einem unabhängigen Staat befanden sich Verbände, die über eine bedeutend größere militärische Schlagkraft verfügten als die einheimischen Kräfte. Dementsprechend galt der Abzug der russischen Truppen als Priorität der Außenpolitik mit sowohl außenpolitisch als auch innenpolitisch bedeutsamen symbolischen und praktischen Folgen. Die Verhandlungen gestalteten sich kompliziert, denn Russland zeigte weder Initiative noch Eile bei der Lösung dieser Frage. Es schien, als erhoffe sich Russland von diesem Verhalten wenn schon nicht die Erhaltung seiner militärischen Präsenz in Lettland, so doch zumindest einen möglichst großen Einfluss auf die weitere politische Entwicklung Lettlands. Eine wesentliche Rolle bei den Verhandlungen über den Abzug der Truppen der ehemaligen Sowjetunion spielten westliche Staaten, insbesondere die USA und Schweden, ohne deren Beteiligung sich die Verhandlungen noch problematischer gestaltet hätten. Ebenso wie Lettland und die anderen baltischen Staaten mussten sich auch deren westliche Verbündete während der Verhandlungen über den Abzug der Truppen verschiedenen Forderungen Russlands beugen, beispielsweise dass ehemalige russische Militärangehörige und ihre Familien in Lettland bleiben durften oder die Tätigkeit der Radarstation von Skrunda noch über mehrere Jahre gewährleistet werden sollte. Die letzten russischen Truppenteile wurden im August 1994 aus Lettland abgezogen. Der unvollendete Neubau der Radarstation von Skrunda wurde 1995 durch eine kontrollierte Sprengung zerstört und die funktionierende Station im August 1998 stillgelegt. Es hatte durchaus symbolischen Charakter, dass gerade im Juli 1994 – also kurz vor dem endgültigen Abzug der russischen Truppen aus Lettland – mit Bill Clinton das erste Mal ein amerikanischer Präsident Lettland und die beiden anderen baltischen Staaten besuchte. Er spielte eine wesentliche Rolle bei den Gesprächen mit dem Präsidenten der Russischen Föderation, Boris Jelzin, über den Truppenabzug. Dieser bedeutete eine erneute und sehr reale Anerkennung der Unabhängigkeit Lettlands von Seiten Russlands. Lettland hatte damit seine Souveränität faktisch zurückerlangt und war wieder zu einem selbstständigen Subjekt der internationalen Politik geworden. Der Abzug der russischen Truppen eröffnete auch diplomatische Möglichkeiten, nun auf eine Annäherung und Integration Lettlands in die Euro-Atlantischen Sicherheitsstrukturen zu dringen. Erst 1998, also lange nach dem Truppenabzug, kam es zu einer intensiven Trübung der Beziehungen zwischen Russland und Lettland. Im März jenes Jahres löste die lettische Polizei eine ungenehmigte, überwiegend von russischsprachigen Rentnern durchgeführte Protestaktion vor dem Rigaer Rathaus auf. Obwohl sozialökonomische Gründe der Anlass für die Proteste waren, benutzte Russland diesen Fall, um Lettland international der Unterdrückung der russischsprachigen Bevölkerung zu bezichtigen. Im Zusammenhang damit verhängte Russland auch informelle Wirtschaftssanktionen gegen Lettland, beispielsweise wurde der Import lettischer Lebensmittel nach Russland erschwert. In den folgenden Jahren

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setzte Russland seine Kritik an Lettland hinsichtlich der Lage der russischsprachigen Bevölkerungsteile fort, die sich besonders dagegen richtete, dass den (überwiegend) russischsprachigen Einwohnern Lettlands nur der Status von »Nichtstaatsbürgern« zuerkannt wurde, soweit sie nicht schon vor der Okkupation des Landes im Juni 1940 in Lettland gelebt hatten oder Nachfahren von damals in Lettland lebenden Staatsbürgern waren. Dennoch führte die Trübung der Beziehungen zu keinem weitergehenden Konflikt. Russland war daran interessiert, während der Wirtschaftsrezession die ökonomischen Beziehungen zu Lettland aufrechtzuerhalten und insbesondere dessen Verladehäfen für den Rohöltransport nach Westen zu nutzen. Diese wirtschaftliche Abhängigkeit wurde später allerdings dadurch gemindert, dass Russland – bereits während der Präsidentschaft von Wladimir Putin – zielstrebig die Rohölterminals seiner eigenen Häfen ausbaute.

Die »Rückkehr nach Europa« und die Einbindung in die Euro-Atlantischen Strukturen Lettlands »Rückkehr nach Europa« wurde zu einer wichtigen Leitlinie der außenpolitischen Aktivität nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit. Gemeinsam mit den beiden anderen baltischen Staaten betonte Lettland seine Zugehörigkeit zur westlichen Welt, von der diese Länder durch die sowjetische Okkupation für die Dauer eines halben Jahrhunderts gewaltsam abgeschnitten gewesen seien, und somit das Recht, sich wieder vollwertig in die westliche Gemeinschaft einzugliedern. Die Rückkehr in die Euro-Atlantische Gemeinschaft bedeutete für die baltischen Staaten ein fundamentales Bekenntnis zur westlichen Zivilisation, das die weitere Entwicklung bestimmen sollte. Deshalb verweigerten sowohl Lettland als auch Estland und Litauen als einzige der ehemaligen fünfzehn Sowjetrepubliken die Mitgliedschaft in den neugebildeten Kooperationsformen Russlands wie beispielsweise der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS). Vielmehr strebte man nach der Sicherung der Souveränität und der Integration in die internationale Gemeinschaft konsequent nach der Mitgliedschaft in der Europäischen Union und der NATO, die in den Augen der politischen Elite Lettlands einen vollständigen Gegenentwurf zur ehemaligen Sowjetunion verkörperten. Im April 1995 verkündete die Saeima, das Parlament der Republik Lettland, unter den Leitlinien der Außenpolitik auch formell das Ziel, sich in die europäischen, die transatlantischen sowie weitere internationale Strukturen zu integrieren und unter anderem vollwertiges Mitglied der Europäischen Union und der NATO zu werden. Diesem strategischen Ziel folgend stellte die Republik Lettland einen formellen Antrag zur Aufnahme in die EU. Bereits zuvor war mit der Ausarbeitung einer vertragsrechtlichen Grundlage für die Beziehungen zwischen der EU und Lettland begonnen worden: ein Freihandelsabkommen wurde unter-

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zeichnet und trat in Kraft. 1995 wurde auch ein Assoziationsvertrag zwischen der EU und Lettland geschlossen. Der Aufbau formeller und praktischer Beziehungen mit Institutionen der EU förderte die Durchführung politischer und wirtschaftlicher Reformen in Lettland und sorgte für eine schrittweise Annäherung Lettlands an die Normen der EU. Diese Kontakte führten dazu, dass sich der lettische Außenhandel schrittweise vom Gebiet der ehemaligen Sowjetunion auf die westlichen Ländern orientierte. Die Aufnahme Lettlands in die Welthandelsorganisation (WTO) im Februar 1999 bedeutete eine deutliche Anerkennung der lettischen Wirtschaftsreformen und der Annäherung des Landes an die wirtschaftlichen EU-Standards. Im Dezember desselben Jahres beschloss die EU, Beitrittsverhandlungen mit Lettland aufzunehmen, die nach drei Jahren abgeschlossen werden konnten. Kurz darauf, im April 2003, wurde ein Vertrag über den EU-Beitritt unterzeichnet. Ein wesentliches innenpolitisches Element im Rahmen dieser Annäherung war das im September 2003 abgehaltene Referendum, bei dem rund zwei Drittel der abgegebenen Stimmen den EU-Beitritt Lettlands unterstützten. Obgleich die Zustimmung der wahlberechtigten Bevölkerung für den Beitritt zur EU eindeutig war, herrschte in der Öffentlichkeit dennoch eine gewisse Zurückhaltung gegenüber diesem Schritt: Ein Teil der russischsprachigen Bevölkerung in Lettland empfand ihn als Entfremdung von ihrer ethnischen Heimat, ein Teil der Letten wiederum betrachtete ihn als Einschränkung der eben erst wiedererlangten Unabhängigkeit. Im Vergleich zur Zustimmung zum EU-Beitritt genoss der Beitritt zur NATO unter den lettischen Staatsbürgern, insbesondere unter den ethnischen Letten, eine deutlich größere und eindeutigere Zustimmung. Denn gerade der NATOBeitritt wurde als Chance gesehen, Lettlands Unabhängigkeit und Souveränität unumkehrbar zu festigen. Im Dezember 1991 wurde Lettland Mitglied des von der NATO gegründeten Nordatlantischen Kooperationsrats (seit 1997 Euro-Atlantischer Partnerschaftsrat) und schloss sich später auch dem von der Allianz ins Leben gerufenen Programm »Partnerschaft für den Frieden« an. Im Rahmen dieses Programms begann Lettland mit der Teilnahme an Friedensmissionen auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien. Diese erlaubte es den lettischen Militärs, internationale Erfahrungen zu sammeln und sich schrittweise den Standards der NATO anzunähern. 1999 traten Polen, die Tschechische Republik und Ungarn der NATO bei, womit sich ein wesentlicher Umgestaltungsprozess des Bündnisses nach Beendigung des Kalten Krieges abzeichnete. Unter Berücksichtigung der starken USamerikanischen Beteiligung an der europäischen Sicherheitsarchitektur und der relativen Schwäche Russlands verbesserten sich auch Lettlands Aussichten auf die Mitgliedschaft in der NATO. Die USA spielten eine bedeutende Rolle hinsichtlich der Stärkung der Sicherheit der Republik Lettland und der Durchsetzung ihrer Integration in die NATO. Symbol dieses Engagements war die Unterzeichnung der Charta der Partnerschaft zwischen den USA und den baltischen Staaten im Januar 1998. Dies war ein deutliches diplomatisches Signal der USA zur Unterstützung der baltischen Staaten in ihrem Wunsch nach vollständiger Inte-

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gration in die wichtigsten westlichen Strukturen. 1999 wurde auf dem NATOGipfel in Washington beschlossen, Lettland die Ausarbeitung eines Plans anzubieten, in dem die einzelnen Schritte zur Mitgliedschaft festgelegt werden sollten. Auf dem Prager NATO-Gipfel von 2002 erhielt Lettland bereits die Einladung, der NATO beizutreten. Obwohl Russland formal weiterhin die Osterweiterung der NATO als Bedrohung seiner nationalen Sicherheit verurteilte, vermochte es dennoch nicht, die zweite Erweiterung der NATO nach dem Ende des Kalten Krieges zu verhindern. Russlands relative Schwäche sowie die Bemühungen seines neuen Präsidenten Wladimir Putin, Berührungspunkte mit dem Westen zu suchen, erzeugte in Kombination mit der aktiven Rolle der USA ein günstiges Klima für Lettland und die anderen mittel- und osteuropäischen NATO-Beitrittskandidaten. Lettland nahm bereits 2003 sowohl an einer Militäroperation im Irak unter Führung der USA als auch an einer von der NATO geleiteten militärischen Operation in Afghanistan teil. Die Teilnahme an diesen internationalen Operationen gab Lettland die Möglichkeit zu zeigen, dass es nicht nur einen politischen, sondern auch einen praktischen Beitrag zu dem von den USA angeführten globalen Kampf gegen den Terrorismus zu leisten vermochte. Die partielle Umgestaltung der NATO für den Kampf gegen den Terrorismus in den westlichen Ländern entkräftete die Argumentation Russlands bezüglich des negativen Einflusses der NATO-Erweiterung auf seine Sicherheit. Russland wurde in diesem Kampf zu jenem Zeitpunkt sogar überwiegend als potentieller Kooperationspartner betrachtet. Deshalb darf man wohl davon ausgehen, dass die westlichen Staaten der Aufnahme der baltischen Staaten in die NATO nicht zuletzt deshalb zugestimmt haben, weil zu jenem Zeitpunkt die Möglichkeit, dass die drei neuen Mitgliedsstaaten künftig gegen eine potentielle Aggression Russlands geschützt werden müssten, als kaum denkbar eingeschätzt wurde.

Außenpolitik im Kontext der Integration in die EU und die NATO 2004 wurde Lettland sowohl in die NATO als auch in die EU aufgenommen. Somit hatte Lettland seine zentralen Ziele der Außen- und Verteidigungspolitik, die es sich nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit gesteckt hatte, formell erreicht. Der Abschluss der Aufnahmeprozesse bedeutete den Beginn eines neuen Abschnitts sowohl in der lettischen Außen- als auch in seiner Verteidigungspolitik. Vom Beitrittskandidaten war es zu einem vollwertigen Mitglied und Mitgestalter der Politik der beiden Organisationen geworden. Schon bald nach dem EU-Beitritt wurden in Lettland erstmals Wahlen zum Europaparlament abgehalten. Lettland verfügte fortan nicht nur über eine Vertretung im Europäischen Parlament (anfangs neun, derzeit acht Abgeordnetenmandate), sondern auch über einen Kommissar in der Europäischen Kommission. Im Rahmen des Schengen-Abkommen entfielen ab 21. Dezember 2007 die regulären Grenzkontrollen

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mit Litauen und Estland. Nunmehr konnten sich die Staatsbürger der Republik Lettland innerhalb der Mitgliedsstaaten des Schengen-Raumes frei bewegen. Auch auf anderen Gebieten vertieften sich die Verbindungen zwischen Lettland und den EU-Staaten. Im November 2006, zwei Jahre nach dem NATO-Beitritt, fand in Riga ein NATOGipfel statt, also ein Treffen der Staats- und Regierungschefs der NATO-Mitgliedsstaaten. Es war dies der erste NATO-Gipfel auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, ein Ereignis mit hoher Symbolkraft, das Lettlands internationale Erfolge nach Wiedererlangung der Unabhängigkeit unterstrich. 1991 beispielsweise wäre die Abhaltung eines solchen Gipfels in Lettland als einem vollwertigen NATOMitglied nur ein ferner Traum gewesen. Im Rahmen des Gipfels besuchte Präsident George W. Bush zum zweiten Mal Lettland (es war die dritte und bisher letzte Visite eines Präsidenten der USA nach den Besuchen Clintons 1994 und Bushs 2005). Zuvor hatte Bush eine wesentliche Rolle bei der Beschleunigung des Prozesses der NATO-Erweiterung gespielt. Obwohl Lettland nun NATO-Mitglied geworden war, war die vom litauischen Hoheitsgebiet aus durchgeführte Patrouillenmission im Luftraum der baltischen Staaten die einzige dauerhafte militärische Präsenz der verbündeten Staaten in der Region. Diese Mission wird seit dem Beitritt der baltischen Staaten zur NATO turnusmäßig von anderen NATO-Mitgliedsstaaten – darunter auch Deutschland – durchgeführt, deren Streitkräfte über Kampfflugzeuge verfügen. Eine umfassendere militärische Präsenz der Allianz wurde von den westlichen Staaten zu jenem Zeitpunkt abgelehnt, da sie der Ansicht waren, dass die Beziehungen zu Russland dadurch unnötig belastet würden. So wurde Russland in Lettland immer weniger als potentielle militärische Bedrohung wahrgenommen, weil sich Lettland mehr und mehr auf die in Paragraph 5 des Nordatlantischen Vertrages von 1949 gewährte kollektive Verteidigungsgarantie verließ, das heißt darauf, dass die anderen NATO-Mitgliedstaaten Lettland im Falle einer Aggression verteidigen würden. Immer weniger Aufmerksamkeit wurde auf den Schutz des Territoriums der Republik Lettland gerichtet: 2006 entschied man unter anderem, den Wehrdienst in Lettland abzuschaffen und den Übergang zu einer Berufsarmee zu vollziehen. Im Zuge des negativen Einflusses der Wirtschaftskrise auf den Verteidigungshaushalt konzentrierte sich die Entwicklung der Lettischen Armee immer stärker auf die Teilnahme an den bereits erwähnten internationalen Operationen wie im Irak und in Afghanistan. Lettland nahm darüber hinaus auch an Friedensmissionen auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien sowie in Afrika teil. In der ersten Dekade nach Wiedererlangung der Staatlichkeit gab es hinsichtlich der Ziele der Außen- und Verteidigungspolitik einen klaren politischen Konsens und eine breite Unterstützung seitens der Öffentlichkeit. Nach dem formellen Abschluss des Euro-Atlantischen Integrationsprozesses existierten keine ebenso klar formulierten außenpolitischen Ziele mehr, die die politische Elite und die Gesellschaft leiten konnten. Lettland sah sich nun herausgefordert, weitergehende strategische Leitlinien und Ziele zu formulieren und umzusetzen.

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Eine der schwierigsten Herausforderungen war zweifellos die Gestaltung der Beziehungen zu Russland. Einerseits war Lettland bestrebt, freundschaftliche Beziehungen zu dem großen Nachbarstaat aufzubauen, vor allem wegen wirtschaftlicher Vorteile. Andererseits bemühte sich Lettland, einen übermäßig großen wirtschaftlichen Einfluss Russlands zu vermeiden, da dieser zwangsläufig auch einen politischen Einfluss nach sich ziehen würde. Mitte der 2000er Jahre unternahmen beide Seiten Versuche, die Beziehungen auf eine pragmatische Grundlage zu stellen. Aufgrund der als geringer empfundenen potentiellen Bedrohung durch Russland kam es zu einer Neudefinierung der auf den Osten gerichteten Außenpolitik Lettlands. Ein besonderer Akzent wurde jetzt auf die Entwicklung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit gelegt, potentiellen Sicherheitsrisiken hingegen weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Im Jahr 2005 nahm die lettische Staatspräsidentin Vaira Vīķe-Freiberga als einzige Staatschefin der baltischen Staaten an den Feierlichkeiten zum 9. Mai bzw. zum Ende des Zweiten Weltkriegs in Moskau teil. Weiterhin ist anzumerken, dass im März 2007 ein lettisch-russischer Grenzvertrag unterzeichnet wurde, den das lettische Parlament im Mai desselben Jahres ratifizierte. Die Unterzeichnung des Grenzvertrags wurde und wird in Lettland weiterhin kontrovers beurteilt, da Lettland sich dadurch gezwungen sah, auf seine Ansprüche auf den Landkreis Abrene zugunsten Russlands zu verzichten – ein Gebiet, das bis zur sowjetischen Okkupation 1940 lettisches Staatsgebiet gewesen war. Während der Moskau-Visite des lettischen Ministerpräsidenten Aigars Kalvītis im Jahr 2007 kam es nicht nur zu einem Treffen mit dem russischen Regierungschef Michail Fradkow, sondern auch mit Präsident Wladimir Putin. Auch später gab es Versuche, die Beziehungen zu Russland zu verbessern – im Rahmen der Wirtschaftskrise und der Newstart-Politik zwischen Russland und dem Westen. Und Staatspräsident Valdis Zatlers traf anlässlich einer offiziellen Russlandvisite im Dezember 2010 sowohl mit dem damaligen russischen Präsidenten Dmitri Medwedew als auch mit dem damaligen Regierungschef Putin zusammen. Während dieser Intensivierung der Beziehungen bemühte sich Lettland insbesondere um die Vertiefung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Dennoch komplizierte sich das Verhältnis zwischen Lettland und Russland in den Folgejahren sowohl durch internationale Ereignisse als auch durch innenpolitische Entwicklungen in Lettland. Eine der wesentlichsten Erschütterungen des regionalen Sicherheitsumfelds zu Anfang des 21. Jahrhunderts bildete der bewaffnete Konflikt zwischen Russland und Georgien im August 2008. Dieser Konflikt ließ erkennen, dass Russland bereit ist, seine Interessen im Ausland auch mit Waffengewalt durchzusetzen. Gemeinsam mit den beiden anderen baltischen Staaten und Polen bekundete Lettland seine nachhaltige Unterstützung der georgischen Souveränität und territorialen Integrität, während sich die meisten westlichen Staaten eher zurückhaltend äußerten. Dennoch führten die Beendigung der Kriegshandlungen und der rasche Politikwechsel der USA – und damit auch der NATO – gegenüber Russland in den folgenden Monaten zu keinen nachhaltigen Konsequenzen in der lettischen Verteidigungspolitik, ja nicht einmal

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zur Wahrnehmung einer möglichen Bedrohung durch Russland. So wurde beispielsweise der lettische Verteidigungshaushalt bereits ein Jahr nach dem Georgien-Konflikt um rund ein Viertel gekürzt, was jedoch primär eine Folge der 2008 einsetzenden Wirtschaftskrise war. In der Region trafen die Folgen der Krise Lettland am härtesten; innerhalb eines Jahres ging das Bruttoinlandsprodukt um etwa 15% zurück. Die Haushaltskürzungen trafen auch den diplomatischen Dienst, der gleichzeitig sowohl verkleinert wurde als auch eine Umstrukturierung seiner Aufgaben erlebte, da die Förderung der außenwirtschaftlichen Interessen Lettlands fortan eine sehr viel zentralere Rolle einnehmen sollte. Im Februar 2012 wurde in Lettland ein Referendum darüber abgehalten, ob dem Russischen der Status einer zweiten offiziellen Landessprache zuerkannt werden sollte. Dieser Vorschlag wurde von rund Dreiviertel der Stimmberechtigten abgelehnt. Trotzdem veranschaulichte dieses Ereignis erneut die komplizierten innergesellschaftlichen Beziehungen in Lettland. Obwohl sich die Zahl der »Nichtstaatsbürger« seit Wiederherstellung der Unabhängigkeit und insbesondere seit dem EU-Beitritt wesentlich reduziert hat, übt Russland auf internationalem Parkett dennoch unablässig Kritik an Lettland – in den bilateralen Beziehungen ebenso wie im Rahmen der UNO, des Europarats, der OSZE und anderer internationaler Organisationen. Sowohl im Hinblick auf dieses Referendum als auch auf andere Ereignisse kritisiert Russland fortwährend die vermeintliche Einschränkung der Rechte der russischsprachigen Bevölkerung, die angebliche Zurückdrängung des Gebrauchs der russischen Sprache sowie die lettische Interpretation der Geschichte, die sich vor allem mit Bezug auf den Zweiten Weltkrieg und die folgende Sowjetperiode fundamental von der russischen Interpretation unterscheidet. So erkennt Russland beispielsweise die Tatsache, dass Lettland 1940 von der Sowjetunion okkupiert wurde, nicht an, indem es auf den angeblich freiwilligen Beitritt Lettlands zur Sowjetunion verweist. Eine Analyse des von der Sowjetunion durch die Okkupation verursachten Schadens für Lettland wiederum kritisiert Russland als einen Versuch, die Geschichte umzuschreiben. Ungeachtet der Versuche, die bilateralen Beziehungen pragmatisch zu gestalten, gelang dies also nur teilweise. Es war dann vor allem die russische Aggression in der Ukraine, die in der lettischen Gesellschaft das historisch begründete Gefühl, von Russland bedroht zu werden, zu neuem Leben erweckte und sich zu einer erheblichen Belastung der bilateralen Beziehungen entwickelte.

Der Ukraine-Konflikt und die Stationierung von Truppen der NATO-Verbündeten Die Ereignisse in der Ukraine – die Ende 2013 beginnenden Unruhen in Kiew, die darauffolgende Okkupation der Halbinsel Krim durch Russland im März 2014 und der Beginn der Auseinandersetzungen in der Ostukraine im April desselben

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Jahres – gehörten zu den Faktoren, die den größten Einfluss auf die lettische Sicherheits- und Außenpolitik seit der Wiederherstellung der Unabhängigkeit ausübten. Die offensichtliche Einmischung Russlands in den Konflikt innerhalb der Ukraine steigerte das Bewusstsein für die Bedrohung durch Russland nicht nur in der lettischen politischen Führung, sondern auch in der Gesellschaft enorm. Lettland verurteilte die Einmischung Russlands in die inneren Angelegenheiten der Ukraine und gewährte der Ukraine sowohl politische als auch praktische Unterstützung. Bis zu den Ereignissen in der Ukraine war der lettischen Verteidigung unzureichende Aufmerksamkeit gewidmet worden, man hatte auf die Teilnahme an internationalen Operationen gesetzt, während man auf den Schutz des lettischen Territoriums nur unzureichend vorbereitet war. Überdies war der ohnehin schon ungenügende Verteidigungshaushalt im Zeichen der Wirtschaftskrise deutlich gekürzt worden. Eine wesentliche Erhöhung – etwa um ein Drittel – erfuhr der Verteidigungsetat erst 2016. Auch die Verpflichtung, im Jahr 2018 erstmals seit Beitritt zur NATO deren Leitlinien über die Festsetzung des Verteidigungshaushalts in Höhe von mindestens 2% des Bruttoinlandsprodukts zu erfüllen, erfuhr jetzt breite politische Unterstützung. Die Erhöhung des Verteidigungsetats ermöglichte eine wesentliche Stärkung der lettischen Armee, unter anderem konnten erstmals in der Geschichte der erneuerten Republik Lettland gepanzerte Transportfahrzeuge erworben werden. Unter dem Einfluss des Ukraine-Konflikts erlebte auch die NATO wesentliche Veränderungen. Als Reaktion auf die Einmischung Russlands in den UkraineKonflikt schickten die USA bereits im März 2014 zusätzliche Kampfflugzeuge zur Bekundung ihrer Solidarität in die baltischen Staaten. Im April desselben Jahres wurden in allen drei baltischen Staaten jeweils rund 150 US-amerikanische Soldaten im Rotationsverfahren stationiert. Diese Entwicklung spiegelte wesentliche Veränderungen in den Beziehungen zwischen den USA und der NATO einerseits und Russland andererseits wider, in denen seit der 1997 unterzeichneten NATO-Russland-Grundakte stets darauf geachtet worden war, in den neuen Mitgliedsstaaten der Allianz keine nennenswerten zusätzlichen Truppen dauerhaft zu stationieren. Auf dem NATO-Gipfel in Newport/Wales 2014 wurde ein Plan zur Verbesserung der Handlungsfähigkeit der NATO (Readiness Action Plan) vereinbart, in dessen Rahmen die NATO Anfang April 2014 die militärische Zusammenarbeit mit Russland einstellte. Auf dem Festland, in den territorialen Gewässern und im Luftraum der baltischen Staaten wurde die Truppenpräsenz der NATO-Verbündeten verstärkt, in erster Linie im Rahmen von militärischen Übungen. Auf dem NATO-Gipfel von 2016 in Warschau wurde schließlich der Beschluss gefasst, in Polen und den baltischen Staaten rotierende multinationale Kampfgruppen von insgesamt rund 1000 Soldaten zu stationieren. Dem seit Sommer 2017 in Lettland stationierten Kampfverband unter der Führung von Kanada gehören auch spanische, italienische, polnische, albanische und slowenische Soldaten an. Gleichzeitig unterhalten auch die USA in Lettland eine kleine Truppe auf Rotationsbasis.

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Im Vergleich zur Stärke der russischen Truppen in der Nähe der baltischen Staaten ist die Präsenz der NATO-Verbündeten geringfügig und hat grundsätzlich nur den Zweck, Russland von einer potentiellen Aggression abzuhalten. Ungeachtet dessen klagt Russland unablässig über die Stationierung der Truppen der NATO-Verbündeten an seinen Grenzen. Es leugnet dabei nicht nur seine Beteiligung am Konflikt in der Ukraine, sondern behauptet auch, keine Gefährdung für die NATO-Mitgliedsstaaten darzustellen – vielmehr gefährdeten die NATOStaaten mit der Verstärkung ihrer Präsenz in der Nähe der Grenze Russlands dessen Sicherheit. Als Reaktion darauf demonstriert Russland in der Nähe der Grenzen zu den baltischen Staaten regelmäßig seine militärische Stärke und lässt durchblicken, seine Verteidigungskraft weiter ausbauen zu wollen. Auf die von der EU und anderen westlichen Staaten verhängten Sanktionen gegen Russland wegen der Okkupation der Krim und der Einmischung in den Ukraine-Konflikt reagierte Russland seinerseits mit Sanktionen gegen die EU und andere Staaten, die Sanktionen gegen Russland verhängt hatten. Lettland war einer der aktivsten Befürworter der Verhängung und Verlängerung von Sanktionen gegen Russland – ungeachtet des negativen Einflusses der russischen Gegensanktionen auf die lettische Wirtschaft. Parallel zur raschen Entwicklung der Ereignisse fuhr Lettland mit der weiteren Integration in die politischen und ökonomischen Strukturen des Westens fort. Seit Januar 2014 hat die Gemeinschaftswährung der EU, der Euro, die lettische Nationalwährung, den Lats, abgelöst, wodurch die Integration Lettlands in die Europäische Union weiter verstärkt wurde. Im ersten Halbjahr 2015 hatte Lettland erstmals die EU-Ratspräsidentschaft inne und leitete die Arbeit der EUMitgliedstaaten. Während seiner Ratspräsidentschaft legte Lettland den Akzent auf die EU-Initiative der »Östlichen Partnerschaft« sowie auf Fragen der elektronischen Kommunikation und Investitionen. 2016 wiederum wurde Lettland in die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) aufgenommen, die auch »Club der reichen Nationen« genannt wird. Gleichzeitig führten die von Russland verhängten Sanktionen zu einer noch stärkeren Umorientierung der lettischen Wirtschaft auf andere Märkte. Obwohl Russland nach wie vor der wichtigste Partner auf dem Sektor des Gütertransits und auch einer der größten Handelspartner Lettlands blieb, ging sein Anteil am Gesamthandelsvolumen sukzessive zurück. Etwa drei Viertel des lettischen Außenhandelsvolumens beziehen sich heute auf die EU-Mitgliedstaaten. Auch Lettlands Energieunabhängigkeit zeigt eine ähnliche Entwicklung: Im Zuge des Ausbaus der Stromverbindungsnetze zwischen den baltischen Staaten sowie Finnland, Polen und Schweden, des Baus eines Flüssiggasterminals in Litauen und zusätzlicher geplanter Erdgasverbindungen mit Finnland und Polen gab es kaum noch Anlass, die baltischen Staaten als »Energieinsel« innerhalb der EU zu betrachten. In der Transportbranche hingegen wurde mit der Arbeit an dem größten Infrastrukturprojekt der letzten Jahrzehnte begonnen: der »Rail Baltica«, einer neuen Eisenbahnverbindung zwischen den baltischen Staaten und Polen. Die Eröffnung des Streckenabschnitts der neuen Bahnstrecke mit europäischer Spurweite (wäh-

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rend der Sowjetzeit war das Eisenbahnsystem der baltischen Staaten komplett in das System der UdSSR mit seiner größeren Spurweite integriert) von Tallinn bis Kaunas ist für 2025 und die Verbindung bis Warschau für 2030 geplant.

Schlussfolgerungen: Von der formalen zur faktischen Unabhängigkeit Obgleich Lettland seine Unabhängigkeit 1991 formal wiedererlangte, war dies nur der Beginn für den langen Weg zur unumkehrbaren Festigung der Souveränität. Vor 1991 wäre selbst der Gedanke an eine vollständige Integration Lettlands in die politischen, militärischen und wirtschaftlichen Strukturen des Westens gleich nach Wiederherstellung der Unabhängigkeit eher als ein überaus ferner Traum betrachtet worden. Eine Währungsunion mit den entwickelten westeuropäischen Staaten und die militärische Präsenz der USA auf lettischem Staatsgebiet wäre als völlig unmöglich erachtet worden. Aus heutiger Sicht mag das inzwischen Erreichte zwar vielen Einwohnern Lettlands als selbstverständlich erscheinen; auch im Vergleich mit Lettlands nächsten Nachbarstaaten Estland und Litauen weist der von Lettland zurückgelegte Weg in der Außen- und Verteidigungspolitik keine herausragenden Besonderheiten auf. Vergleicht man jedoch den zurückgelegten Weg mit der heutigen Situation im größten Teil der übrigen ehemaligen Sowjetrepubliken, so sind die Erfolge der baltischen Staaten unübersehbar und beachtlich. Dabei ist zweifellos stets zu beachten, dass die Erfolge in der Außen- und Sicherheitspolitik keineswegs allein ein Verdienst Lettlands sind: Ganz entscheidend haben dazu die Schwäche Russlands, die Unterstützung Lettlands durch die westlichen Staaten sowie die insgesamt günstige Entwicklung des internationalen Umfelds beigetragen.

IV. Wirtschaft

Aivars Stranga, Gatis Krūmiņš

Von der Marktwirtschaft über die Staatswirtschaft zur Planwirtschaft 1918 bis 1990 Im 20. Jahrhundert erlebte Lettlands Wirtschaft einschneidende Veränderungen. Nachdem sie die wichtigsten wirtschaftlichen Herausforderungen, die mit der neuen geopolitischen Situation im Baltikum zusammenhingen – der Bildung von drei unabhängigen Staaten nach dem Ersten Weltkrieg – insgesamt gesehen schnell und erfolgreich bewältigt hatte, sah sie sich in den folgenden Jahrzehnten mit immer neuen Prüfungen konfrontiert, angefangen von der Weltwirtschaftskrise über die Einmischung seitens des autoritären Regimes bis hin zum langandauernden Verlust der Unabhängigkeit, die durch den Zweiten Weltkrieg eingeleitet wurde. Diese Faktoren beeinflussten die Entwicklung der lettischen Volkswirtschaft fundamental. Einerseits bewiesen deren einzelne Branchen zwar eine überraschende Anpassungsfähigkeit, um nahezu unter jeglichen Umständen funktionieren zu können, andererseits jedoch verhinderte die andauernde Präsenz autoritärer und totalitärer Regime eine normale Entwicklung der ökonomischen Prozesse, wie sie sich in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg vollzogen. Aufgrund ihres eingeschränkten Umfangs erheben die folgenden Ausführungen keineswegs den Anspruch, eine umfassende allgemeine Analyse der wirtschaftlichen Prozesse zu bieten. Vielmehr haben die Autoren ihr Hauptaugenmerk bewusst auf jene Aspekte gerichtet, die für die besondere Rolle des Staates in den Wirtschaftsprozessen charakteristisch waren, was vor allem für die Jahrzehnte gilt, in denen es in Lettland keine demokratische Staatsordnung gab.

Die lettische Wirtschaft zwischen 1918 und 1940 Wer am Vorabend des Ersten Weltkriegs in Lettland gelebt oder das Land besucht hat, hätte, wenn er 1919/20 dorthin zurückgekehrt wäre, den durchaus berechtigten Eindruck gewinnen können, an einem vollkommen anderen Ort gelandet zu sein. Angesichts des vom Krieg verwüsteten Landes hätte er allen Grund zur nostalgischen Erinnerung an die glänzenden Friedenszeiten gehabt. Heute sind wir uns jedoch darüber im klaren, dass Europa vor dem Ersten Weltkrieg keineswegs nur ein Kontinent der Erfolge und des Optimismus war – wäre es so gewesen, dann wäre die Bereitschaft der Europäer, sich vier Jahre lang gegenseitig abzuschlachten, kaum zu erklären gewesen. Dass die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts jedoch eine Zeit gewaltiger Errungenschaften war, war für jeden offenkundig, der auch Russland bzw. dessen Ostseeprovinzen besucht hatte. Die Industrie erlebte

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in der Zeit nach 1909 einen neuen und raschen Aufschwung, der allerdings bereits 1914 an Tempo verlor, wobei die Frage unbeantwortet bleiben muss, wie lange es ohne Krieg weiter aufwärts gegangen wäre. 1913 waren in Lettland bereits 134.800 Menschen in der Großindustrie beschäftigt, doch nicht allein diese Zahl war beeindruckend. Denn Zeichen des Wachstums war nicht nur die steigende Zahl der Arbeiter, sondern vor allem die Steigerung der Produktivität, die das Anwachsen der Arbeiterschaft um das Doppelte übertraf. Ursache dafür war die Modernisierung der Produktion in jeglicher Hinsicht. Nur weniges verkörperte die Modernisierung in so hohem Maße wie neue Anlagen, insbesondere Elektromotoren und neue, helle und für den Arbeiter zuträgliche Arbeitsräume. Herausragend war auch die Rolle westlichen Kapitals bei der Modernisierung der Wirtschaft der Ostseeprovinzen. Die meisten modernen Maschinen wurden aus Deutschland importiert. Eines der Flaggschiffe der Rigaer Industrie, die Rigaer Elektrotechnische Fabrik, die der berühmte deutsche Konzern AEG übernommen hatte, errichtete 1914 ein neues Fabrikgebäude nach einem Entwurf des deutschen Architekten Peter Behrens, der als einer der Wegbereiter des Funktionalismus Weltruhm genießt. Was wurde nicht alles in Lettland produziert! Eindrucksvollstes Zeichen der Modernisierung waren zwischen 1909 und 1915 drei PKW- und mehreren LKWTypen, von denen in Riga insgesamt 625 Stück produziert wurden. Mehr noch – es wurde sogar mit dem Bau von Flugzeugen und modernen Schiffen begonnen. Diese Modernisierung konnte nicht ohne einen neuen Produktionstypus und eine neue Art von Arbeitsbedingungen erreicht werden. Auch im Gebiet des späteren Lettland begann der sogenannte Taylorismus aus den USA Einzug zu halten: So notierte beispielsweise in einer der Abteilungen der gigantischen Gummifabrik Prowodnik mit ihren 15.000 (!) Arbeitern (75% des Kapitals stammte aus Frankreich) ein spezieller Aufseher mit Uhr und Notizbuch die Arbeitsabläufe einer jeden Maschine und eines jeden Arbeiters. Es musste schneller und geschickter gearbeitet werden. Doch die gigantische Fabrik kümmerte sich auch um die Arbeiter – für sie gab es einen Lesesaal, ein Orchester, ein eigenes Krankenhaus und eine Kinderkrippe, wo die Kinder täglich vier kostenlose Mahlzeiten erhielten. Am 23. Juni 1912 wurde auch in Russland ein neues Gesetz zur obligatorischen Versicherung der Arbeiter verabschiedet, das einen bedeutenden Schritt zur Berücksichtigung der Arbeiterinteressen darstellte. Man darf allerdings auch nicht vergessen, dass Russland sich, entgegen dem Zeitgeist, mit hohen Zollschranken umgeben hatte und es so ausländischen Gütern verwehrt war, in Konkurrenz mit der russischen Produktion zu treten. Das galt auch für Riga: 89% der Industriegüter wurden in Russland selbst abgesetzt – durch den riesigen Binnenmarkt war die Industrie vollständig gesichert. Nur 11% der produzierten Waren gingen in den Export. Das alles fand im Sommer 1915 ein Ende, als die deutsche Armee bereits ganz Russisch-Polen, einen Teil Litauens sowie Kurland erobert hatte und offenbar Riga bedrohte. Wie real diese Bedrohung war, war damals unklar. Doch in der Zarenregierung begann man zur Rettung der Industrieanlagen zwei Möglichkei-

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ten zu erwägen, beide mit tragischen Konsequenzen für die Industrie im Generalgouvernement Livland. Die eine lautete: Wir produzieren bis zum letzten Augenblick, und wenn dieser gekommen ist, sprengen wir die Fabriken; die Alternative hieß: Wir evakuieren die Anlagen rasch und rechtzeitig ins russische Hinterland. Für die letztere Variante setzten sich insbesondere Moskauer Industrielle ein – ethnisch russisch, chauvinistisch, lautstark, mit guten Verbindungen zur Reichsduma und zur Presse und mit Unterstützung von Industriellen anderer russischer Städte. Denn die Industrie der Ostseeprovinzen war ihr alter Konkurrent, sie wurde jetzt als völlig »deutsch« und damit potentiell illoyal und unzuverlässig dargestellt. Der eigentliche Hintergrund bestand jedoch darin, dass die staatlichen Bestellungen bei der Industrie während der Kriegsjahre einen ungeheuren Aufschwung erlebten, und diese Bestellungen wollten sich die russischen Industriellen möglichst vollständig sichern. Vor allem aber wollten sie der Industrieanlagen in Livland und Riga habhaft werden, insbesondere der modernen Werkbänke. Denn in Russland gab es 1915 bereits zweierlei Arten von »Hunger« mit dramatischen Konsequenzen für den Staat: den Geschosshunger (snarjadnij golod), der die Lage an der Front nachteilig beeinflusste, und den Werkbankhunger (stanotschnij golod), der die Produktion im Hinterland beeinträchtigte; es entstand sogar ein neuer »Beruf« – der des Werkbankjägers. Die russischen Chauvinisten trugen den Sieg davon – obwohl auch die Besitzer der Fabriken in den Ostseeprovinzen ihre Verbindungen zum Hof hatten, vermochten sie die Evakuierung nicht zu verhindern. Nachdem diese im Juli 1915 ihren Anfang genommen hatte, entwickelte sich die Evakuierung der Industrie zu einer Aktion von solch gewaltigem Ausmaß, das nicht nur innerhalb Russlands, sondern unter allen kriegsführenden Nationen einzigartig war. Obwohl die Verlagerung der Produktionsanlagen gleich im ersten Jahr ihren dramatischsten Umfang erreichte, wurde sie bis zum Sommer 1917 fortgesetzt; insgesamt wurden mehr als 500 Industrieunternehmen ins Innere Russlands verbracht. Zusammen mit den Anlagen verließen mehr als 200.000 Arbeiter und ihre Familienangehörigen die Ostseeprovinzen. An dem zuvor buchstäblich brodelnden Produktionsort Riga gab es im Jahr 1916 nur noch 31 kleinere Unternehmen sowie weitere sieben anderswo im Generalgouvernement Livland mit landesweit insgesamt 2100 Arbeitern. Der Maschinenbau im Gebiet des späteren Lettland kam ganz zum Erliegen. Allerdings nahmen nur 22 bis 23% der Rigaer Unternehmen und nur 14% der aus Daugavpils (Dünaburg) evakuierten Betriebe die Produktion an den Zielorten wieder auf, und viele Arbeiter radikalisierten sich, nachdem sie ihre neuen Heimstätten erreicht und dort nicht hatten Fuß fassen können, indem sie nicht selten zu Opfern der aggressiven bolschewistischen Agitation wurden. Werfen wir einen kurzen Blick auf die Lage der Landwirtschaft im Gebiet des späteren Lettland vor dem Ersten Weltkrieg. Einerseits war die landwirtschaftliche Produktion eine der fortschrittlichsten im zaristischen Russland; analysiert man jedoch die Besitzverhältnisse auf dem Land, dann gehörten sie zu den ungerechtesten. Eine sehr kleine Anzahl von überwiegend deutschen Großgrundbesitzern – nicht mehr als 19 bis 20.000, also weniger als ein Prozent der Bevöl-

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kerung – besaß 48% des Landes, während dem Adel im gesamten Russischen Reich nur 26% des Landes gehörte. Allein die Barone Wolff besaßen 24 Güter; das der Familie Osten-Sacken gehörende Gut Dundaga (Dondangen) war 60.000 Hektar groß, während den vielen Zehntausenden Bauern nur 38,5% des Landes gehörten und die Zahl der Landlosen, die noch immer nicht genau ermittelt ist, schätzungsweise eine halbe Million erreichte. Das Verlangen der Bauern nach »dem eigenen Eckchen, dem eigenen Fleckchen Land« war gewaltig. Eine solche Eigentumsstruktur glich einer Bombe mit Zeitzünder, und sie war bereits einmal mit äußerster Gewalt explodiert, nämlich nur eine Dekade zuvor in der Revolution von 1905. Es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass viele Güter höchst erfolgreiche Unternehmen mit hervorragender Technik und hochwertiger Produktion waren, beispielsweise den in ganz Russland berühmten Rasserindern, doch hatten es die Wirtschaften der Bauern bis zum Vorabend des Krieges bereits geschafft, die Produktion der Güter der Adligen hinsichtlich der Quantität und nicht selten auch der Produktivität zu übertreffen. Der Bauer nutzte seinen gesamten Landbesitz – gerade weil er nicht groß war – überaus intensiv, indem er nur drei bis sechs Prozent der Fläche unbearbeitet ließ. Genauso intensiv wurde die Technik genutzt. Ebenso wie die Güter entwickelte auch der einzelne Bauer seine Spezialisierung: Viehzucht und Milchwirtschaft brachten bereits hervorragende Ergebnisse. Die Genossenschaften wiederum, beispielsweise die 1906 gegründete Rigaer landwirtschaftliche Zentralgenossenschaft – eine der größten in ganz Russland –, förderten die Steigerung der Qualität der Produktion und den erfolgreichen Export. Ab 1912 erreichte Butter aus dem Gebiet des späteren Lettland bereits den deutschen, den britischen und sogar den amerikanischen Markt. Man muss schließlich auch einen zumindest oberflächlichen Blick auf einen weiteren ganz entscheidenden Wirtschaftsfaktor auf dem Territorium des späteren Lettland werfen – die ausgezeichneten Häfen, deren Bedeutung im russischen Außenhandel vor 1914 ständig wuchs. Riga entwickelte sich hinsichtlich des Güterumschlags zum größten Hafen des Russischen Reiches und ließ Giganten wie die Häfen von St. Petersburg und Odessa hinter sich. Sehr rasch verlief auch der Ausbau des Hafens von Ventspils (Windau), besonders nachdem er 1902 an die Eisenbahnlinie ins russische Hinterland angeschlossen worden war (MoskauWindau-Rybinskij-Eisenbahn). Ventspils war seit 1907 der landesweit größte Exporthafen für Butter, während Riga der größte Umschlagplatz für Holz, Leinen und andere Güter und Liepāja (Libau) der Hauptexporthafen für Fleisch war. Wichtigste Abnehmer der Produktion waren England und Deutschland, aus denen auch die meisten Waren eingeführt wurden. Im Rahmen der Einfuhr spielten Industrieanlagen und Werkbänke eine besondere Rolle. Wenn auch ein großer Teil der importierten landwirtschaftlichen Maschinen auf dem Bahnweg weiter ins russische Hinterland geliefert wurde, so blieben gerade die kompliziertesten und teuersten Werkbänke im Gebiet des späteren Lettland, da sie für Großunternehmen in Riga und Liepāja bestimmt waren. Nachdem die lettischen Freiheitskämpfe 1920 beendet waren, sah es in der neuen Republik Lettland ganz anders aus. Gemäß dem Friedensvertrag, den Lett-

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land und Sowjetrussland am 11. August 1920 unterzeichneten, musste Russland Lettland nur so viele Industrieunternehmen zurückgeben, wie es wollte und konnte. Das Ergebnis war, dass Lettland am Ende weniger als 10% der evakuierten Fabriken zurückerhielt – möglicherweise nicht mehr als 40 bis 50, zudem überwiegend kleine Unternehmen. Freilich kann man mit Recht fragen: Was hätte Lettland, das den russischen Markt verloren hatte, mit einer Großindustrie angefangen sollen, die den neuen Verhältnissen nicht mehr gerecht wurde? Zudem waren viele Anlagen während der Wirren des Krieges abgenutzt oder beschädigt worden. 1920 gab es in Lettland nur noch 21.000 Arbeiter – sechs- bis siebenmal weniger als 1913, und als Industrieunternehmen wurde jetzt bereits eine Werkstatt mit fünf Arbeitern ohne mechanisches Antriebsaggregat oder mit einem (!) Arbeiter bei Vorhandensein eines solchen Aggregats betrachtet. Es veränderten sich auch die Schwerpunkte der Produktion – die einfache Holzverarbeitung rückte an die erste Stelle. Das war zwar für Lettland als waldreiches Land durchaus charakteristisch, doch steuerte diese einfache Produktion lediglich 13% zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) bei, auch wenn sie das wichtigste Exportgut Lettlands war, insbesondere im Blick auf die beiden bedeutendsten Außenhandelspartner England und Deutschland. Hinsichtlich des Produktionswertes nahm dagegen die Lebensmittel- und Gewürzproduktion den ersten Platz ein. Besonders erfolgreich war auch die Konfekt- und Schokoladenindustrie. Drei große Vorkriegsfabriken nahmen ihre Produktion wieder auf: L. W. Goegginger, Th. Rieger und die berühmte Fabrik von Vilhelms Ķuze. Gegründet 1911, war sie 1915 ins Innere Russlands evakuiert worden, doch gelang es Ķuze nach Abschluss des Friedensvertrages, sie zurückzuführen. Anfangs beschäftigte er nur zehn Arbeiter, doch bereits nach wenigen Jahren waren es zweihundert – und die Erzeugnisse wurden bis nach Dänemark, in die USA und nach Mexiko exportiert. Damals untersuchte ein Universitätslabor die Schokoladenerzeugnisse von zwölf verschiedenen Fabriken, darunter neben Ķuze bekannte Marken aus der Schweiz, Deutschland und anderen Ländern, und konstatierte erstens die feine Verarbeitung der Ķuze-Schokolade und zum anderen, dass letztere im Vergleich mit den ausländischen Fabrikaten viel weniger Kalorien enthielt. Den raschesten Aufschwung nahm die neue Laima-Fabrik, die unter diesem Namen bis heute tätig ist. Nachdem sie ihre Arbeit 1921 als Kleinunternehmen mit vier Mitarbeitern wieder aufgenommen hatte, beschäftigte sie 1928 bereits 250 Arbeiter, deren an dreißig modernen Maschinen produzierte Erzeugnisse sogar in den USA geschätzt wurden.1 Insgesamt gab es Ende der 1920er Jahre in Lettland vierzig Süßwarenfabriken, in denen ein ganzes Süßigkeitenuniversum produziert wurde – rund neunzig Arten von Schokoladenkonfekt und 150 Bonbonsorten. Gerade in dieser Branche wurde denn auch der höchste Produktionswert pro Arbeiter in der gesamten lettischen Industrie erreicht. 1

1937, also während des autoritären Regimes K.Ulmanis’, wurden die im Besitz deutschbaltischer bzw. jüdischer Unternehmer befindlichen Firmen »Th. Riegert« und »Laima« »lettisiert«, d.h. enteignet und unter dem lettischen Namen »Laima« vereinigt.

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Rasch entwickelten sich auch andere Zweige der Lebensmittelindustrie. Beispielsweise gab es 1920 bereits vierzehn Schnapsbrennereien, 1921 kamen zehn weitere hinzu. Sogar deutschbaltische Adlige wandten sich ganz am Ende ihrer langen Geschichte erneut diesem auch unter ihnen traditionellen Gewerbe zu. Dabei erweckte eines der Güter, in dem eine Schnapsbrennerei eingerichtet war, ganz besonderes Interesse. Es handelt sich um das Gut Tūjas muiža (Kragenhof) im damaligen Landkreis Valka, das keinem anderen gehörte als dem in der Vorkriegszeit bekannten deutschbaltischen Juristen und Publizisten Astaf von Transehe-Roseneck (1865–1946). In Deutschland wurde er durch seine 1906/7 in Berlin herausgegebene Abhandlung »Die lettische Revolution« bekannt, für die sich Historiker bis heute interessieren. Zwar lebte Transehe-Roseneck selbst nicht mehr in Lettland, doch seine Verwandten fühlten sich in der Heimat der Revolution sicher und behielten die Schnapsbrennerei als unveräußerlichen Teil ihres Gutes auch nach der Agrarreform in ihrem Besitz. Schliesslich gab es landesweit 33 Schnapsbrennereien und 25 Brauereien – man kann also nicht gerade sagen, dass in Lettland wenig getrunken wurde. Erst an dritter Stelle hinsichtlich des Produktionswerts kam nun die chemische Industrie, die vor dem Krieg weltberühmt gewesen war. Es gelang z.B. nicht, die Prowodnik-Werke aus Russland zurückzuholen, doch die tatkräftigen Industriellen eröffneten bereits in der ersten Hälfte der 1920er Jahre drei Fabriken – Varonis, Kontinents und Kvadrāts –, die ihre Produktion überwiegend exportierten; beispielsweise gingen Gummistiefel und Überschuhe sowohl in die Schweiz als auch ins chinesische Harbin. Eine wichtige Wegmarke war das Jahr 1925, als in Lettland der Rundfunk auf Sendung ging und mit der Produktion einfacher Radioempfänger begonnen wurde. Ein beträchtliches Problem war der Kapitalmangel. Die Privatbanken verlangten sehr hohe Zinsen für Kredite und verfügten auch nicht über ausreichend Geld; die staatliche Bank (in Lettland betätigte sich selbst die Staatsbank als Kommerzbank und vergab Kredite) verlieh ihr Geld hauptsächlich an die Landwirtschaft – also eine »nationale« Branche: In diese flossen im Jahr 1929 60% der vergebenen Kredite, während nur 13% in die »nichtlettische« Industrie gingen, die, insbesondere die Großindustrie, überwiegend einheimischen Deutschbalten und Juden gehörte. Letztere verdienen hohe Anerkennung für die Instandsetzung und Neubegründung der Industrie im Land sowie für die Gewinnung von Kapital, wobei sie auf ihre internationalen Verbindungen zurückgriffen. Die 400 Millionen Lats, die gegen Ende der 1920er Jahre ausländische Investoren (hauptsächlich aus Deutschland und England) in die lettische Industrie (insbesondere die chemische) gepumpt hatten, waren bitter nötig. 1930, als Lettland ebenso wie alle anderen Staaten bereits am Rande der Wirtschaftskrise stand, arbeiteten schon 63.000 Menschen bzw. 13,5% der landesweit Beschäftigten in der Industrie, im Vergleich zu 6,6% zehn Jahre zuvor. Dies war ein beachtlicher Anstieg, wenn auch die Produktivität des einzelnen Arbeiters sehr viel niedriger lag als vor dem Krieg, insbesondere in den unzähligen Kleinunternehmen, in denen nur sehr wenig Technik genutzt wurde. Dennoch war just das Jahr 1930 auch ein Jahr großer Erfolge: Die Arbeitsproduktivität der Arbeiter erreichte das höchste Niveau wäh-

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rend der gesamten Phase der lettischen Unabhängigkeit – abgesehen von Einzelbeispielen, von denen im folgenden die Rede sein wird, wurde dies Niveau in der zweiten Hälfte der 30er Jahre nicht wieder erreicht – , die reale Kaufkraft der Löhne war am höchsten und die Lebenshaltungskosten am niedrigsten. Lettlands Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise unterschied sich kaum von der anderer Staaten, doch die Folgen waren dramatisch. Ebenso wie andere Länder wandte sich Lettland dem Protektionismus zu, indem es sich mit hohen Zollschranken umgab. Dies bewahrte weniger konkurrenzfähige Branchen vor dem Bankrott. Die Folge war, dass die industrielle Produktion nicht nur nicht zurückging, sondern sich, geschützt vom Protektionismus, in einem Tempo entwickelte, das damals das höchste in ganz Europa war. Ende der 1930er Jahre beschäftigte die lettische Industrie mehr als 100.000 Menschen, doch es gab kein äquivalentes Wachstum der Arbeitsproduktivität. Immer häufiger mussten überdies Rohstoffe importiert werden, und die Abhängigkeit von diesen Importen wurde zu einer ernsten Bedrohung. Ähnlich wie einst im zaristischen Russland wurden ausländische Fertigprodukte mit hohem Einfuhrzoll belegt. Dies gestattete beispielsweise, in Lettland Ford-Automobile zu montieren, die dort unter dem Namen Ford-Vairogs vertrieben wurden und deren Einzelteile aus den Ford-Lagern in Kopenhagen importiert wurden. Fertige ausländische Automobile dagegen wurden mit hohen Zöllen belegt, um die im Inland gefertigten vor Konkurrenz zu schützen. Die VEF-Werke (Staatliche Elektrotechnische Fabrik) versuchten in ihren Produktionsstätten ein vollständiges Automobil zu konstruieren, bei dem nur auf einzelne im Ausland produzierte Teile zurückgegriffen werden musste. Es war als relativ preiswertes Auto konzipiert, geeignet für die lettischen Landstraßen und in erster Linie für die Menschen in der Provinz gedacht. Aber es gelang nicht, die Produktion des Kleinwagens in Gang zu bringen. Für die Landwirtschaft hatte dieser extensive Ausbau der Industrie jedoch dramatische Folgen – sie verlor potentielle Arbeitskräfte, die in die Stadt abwanderten, worauf im folgenden noch eingegangen wird. Doch es gab auch bedeutende Erfolge. Spannend ist Lettlands große Erfolgsstory: Die Entwicklung eines Kleinstfotoapparats, der weltberühmten Minox, in den VEF-Werken zwischen 1936 und 1938. Walter Zapp, ein 1905 in Riga geborener Deutschbalte, träumte schon seit seinem 17. Lebensjahr vom Bau einer Kleinkamera. Während er einige Zeit in Tallinn lebte, boten er und sein Freund und Förderer, Richard Jürgen, die Idee den Esten an, fanden aber kein Gehör. Im Herbst 1936 kam Zapp nach Riga und stieß beim VEF-Direktor Teodors Vītols auf begeistertes Interesse. Eine große Gruppe von Ingenieuren und Technikern, insgesamt 65 Personen, machte sich unter der Leitung von Eduards Bērziņš an die Arbeit, wobei sie unter anderem von Professor Roberts Erdmanis von der Universität Lettlands beraten wurden. Im November 1938 war das einzigartige Produkt fertig, einige Monate später kam es auf den Markt. Der lediglich 125 Gramm wiegende und einfach zu bedienende Fotoapparat war damals der kleinste der Welt und erntete in populären ausländischen Fachjournalen einschließlich der britischen »Miniature Camera World« und der amerikanischen »Popular Photogra-

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phy« unverzüglich Anerkennung. Mitte 1939 produzierte die VEF bereits 180 Apparate pro Tag und begann mit dem Export. Parallel dazu wurde unablässig die Weiterentwicklung der von der VEF produzierten Radioapparate fortgesetzt. 1939 kamen fünf neue Modelle auf den Markt, einschließlich dreier batteriebetriebener Empfänger, die besonders nützlich in der Provinz waren, wo es keinen Stromanschluss gab. Über den Drei-Röhren-Wechselstromempfänger VEFSUPER MD 39 hingegen schrieb die Presse mit begründetem Stolz: »Die Sendereinstellung wird durch das magische Auge erleichtert, wobei die automatische Lautstärkeregulierung bei allen stärkeren Radiosendern eine nahezu gleiche Empfangslautstärke ermöglicht«.2 Die Apparate waren hinsichtlich ihres Designs sehr schön – Kārlis und Ādofs Irbīte verbanden den modernen Art-Déco-Stil mit abgerundeten geometrischen Formen der Radioapparate und besonderen Details.3 Sie wurden in ganz Europa sehr geschätzt. Auf der Internationalen Weltausstellung von Brüssel 1935 mit dem Grand Prix ausgezeichnet erfreuten sie sich auch in Finnland, Schweden und Norwegen bereits großer Beliebtheit, obwohl die VEF-Radios verhältnismäßig teuer waren – sie konnten bis zu 200 Lats und darüber kosten, die einfacheren Modelle waren jedoch bereits ab 45 Lats erhältlich. Werfen wir nun einen kurzen Blick auf die Entwicklung des wichtigsten Wirtschaftszweigs Lettlands, der Landwirtschaft. Schon 1919 war klar, dass eine umfassende Agrarreform unvermeidlich sein würde, sowohl unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten – fast die Hälfte der Güter war ökonomisch nicht lebensfähig und in staatliche Verwaltung gelangt – als auch vor allem unter politischen Gesichtspunkten. Denn mit einer hohen Zahl von Arbeitslosen würde Lettland kein stabiler Staat sein können. Die Erhaltung der Güter war ausgeschlossen, insbesondere nachdem die deutschen Barone nicht nur gegen die vorläufige Regierung Lettlands geputscht, sondern auch noch den Angriff Pawel Bermondt-Awalows auf Riga unterstützt hatten.4 Als erste forderten die Sozialdemokraten eine radikale Agrarreform – also eine Partei, die über gar kein eigenes Agrarprogramm verfügte. Denn das Vorbild der lettischen Sozialdemokraten war die deutsche SPD, deren Zielgruppe ja nicht die Bauern waren und deren vorrangigen Ziele auch nicht im Agrarbereich lagen. Doch in Lettland wurden die Sozialdemokraten, möglicherweise zu ihrer eigenen Überraschung, zum Sprachrohr der Interessen der Landlosen und Kleinbauern, und das mit einer dezidiert nationalen Ausrichtung. Während der militärischen Auseinandersetzungen mit der Armee Bermondt-Awalovs formulierten sie die politisch attraktivsten Parolen: »Wenn es jetzt auf den Feldern Kurlands zur Entscheidungsschlacht gegen die Barone kommt, dann reicht es nicht, dass wir sie mit Waffen schlagen. Es gilt vielmehr, sie auch in wirtschaftlicher Hinsicht endgültig zu vernichten und die Grundla2 3

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Jaunumi radioaparātu tirgū (Neuigkeiten auf dem Radioapparate-Markt). In: Rīts, 26.10.1938, S. 8. Abbildungen siehe in: Kļaviņš, E. (Hrsg.): Latvijas mākslas vēsture. V. Klasikā modernisma un tradicionālisma periods. 1915-1940 (Kunstgeschichte Lettlands. V. Periode der klassischen Moderne und des Traditionslismus. 1915-1940. Riga 2016, S. 629-631. Vgl. dazu auch die Beiträge von E.Oberländer und B. Conrad in diesem Band, S. 28 und S. 44.

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gen jener Sklaverei mit der Wurzel ausreißen, die die Festigung unserer Kultur und Demokratie nicht zulassen […] Die Landlosen und Arbeiter Lettlands sind die Basis unserer Armee. Sie vergießen an den Ufern der Daugava [Düna] ihr Blut. Beruhigen wir sie fortan nicht mehr mit Worten, dass sie Freiheiten erlangen werden. Ihnen muss das Recht gegeben werden, diese auch zu nutzen und zu verteidigen. Deshalb soll ihnen der Grund und Boden des Adels gehören!«5 Als im April 1920 in Lettland die Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung stattfanden, vereinte die Lettische Sozialistische Arbeiterpartei mit 38,7% die meisten Stimmen auf sich, von denen wiederum 76,8% aus den ländlichen Wahlkreisen stammten. Dies verschaffte der Partei die Möglichkeit, den Vorsitz in der einflussreichsten Kommission der Verfassunggebenden Versammlung – der Agrarkommission – zu übernehmen und damit außergewöhnlich großen Einfluss auf den Gang der Agrarreform auszuüben. Infolge der Agrarreform übernahm der Staat nicht nur den größten Teil der Ländereien der Adelsgüter und verteilte diese faktisch kostenlos an Landlose, sondern begrenzte auch den Besitz der Adeligen auf jeweils 50 Hektar Land, wobei für die enteigneten Ländereien keine Entschädigung gezahlt wurde. Dahinter stand vor allem das politische Motiv nationaler Gerechtigkeit – die Genugtuung für das »in 700 Jahren Sklaverei« erlittene Unrecht. Da die politischen über die wirtschaftlichen Motive dominierten, erwiesen sich die Ergebnisse der zwischen 1920 und 1937 durchgeführten Agrarreform als ambivalent. In politischer und sozialer Hinsicht waren die Ergebnisse eindrucksvoll: die Zahl der Landlosen im Staat verringerte sich um mehr als zwei Drittel – von 61% im Jahr 1920 auf 18% gegen Ende der Agrarreform; die sozialpolitische Stabilität des Staates war damit gesichert. Die wirtschaftlichen Resultate waren sehr viel widersprüchlicher. Die Landwirtschaft entwickelte sich zwar sehr rasch, doch hauptsächlich extensiv. Die kleinen Neuwirtschaften kosteten Arbeitskräfte: Der Landarbeiter vergangener Zeiten war zum Landwirt geworden, so dass es auf dem Land zunehmend an Arbeitskräften mangelte. Noch akuter wurde das Problem in den 1930er Jahren, als, wie oben bereits erwähnt, die Industrie und auch die Bauwirtschaft zu expandieren begannen, was zur Landflucht führte. Schon in den 1920er Jahren hatte man darin einen Ausweg gesucht, dass man Landarbeiter aus Polen und Litauen angeworben hatte. Die vermeintlich kurzfristige Lösung entwickelte sich mit den Jahren zur unvermeidlichen Dauererscheinung, die Zahl der ausländischen Landarbeiter lag gegen Ende der 1930er Jahre bei 50.000. Dramatisch wurde die Situation 1940, als aus dem von Deutschland und der Sowjetunion okkupierten und geteilten Polen keine Landarbeiter mehr nach Lettland kamen. Eine Lösung suchte die autoritäre Regierung von Kārlis Ulmanis in ihrem radikalsten Gesetz – dem »Gesetz über den wirtschaftlichen Dienst« vom Mai 1940, das jeden Einwohner Lettlands zwischen 16 und 60 Jahren verpflichtete, bis zu sechs Monaten landwirtschaftlicher Arbeit zu verrichten. 5

Zemi bezzemniekiem! (Das Land den Landlosen). In: Socialdemokrāts, 17.10.1919.

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Es gibt Grund zu der Annahme, dass die Regierung es nicht dabei belassen hätte. Nach der Okkupation Lettlands im Juni 1940 schrieb Ulmanis an seinem Deportationsort in der Sowjetunion über radikale Pläne, deren Ziel die endgültige Lösung des Problems des Arbeitskräftemangels in der Landwirtschaft gewesen sei: »Der von mir noch nicht verkündete Plan sah die Reduzierung oder sogar vollständige Liquidierung der Lohnarbeit in der Landwirtschaft durch die schrittweise Zerschlagung der Großwirtschaften vor, wobei jedes Jahr auf dem Wege der Vererbung oder des Verkaufs Land in die Hände einiger Tausend neuer Wirtschaften gelangen sollte. […] Im Hinblick auf die recht unbefriedigenden Resultate der Freiwilligen Kooperationen musste an eine zwangsweise Kooperation gedacht werden […] In meinem Programm gab es ausgesprochen viele gegen den Großgrundbesitz gerichtete Punkte, die sich also gegen Menschen richteten, die aktive Teilnehmer des Umsturzes vom 15. Mai 1934 gewesen waren, und plötzlich wende ich – ihr Führer – mich gegen ihre Interessen, die sie jedoch mit den Interessen des gesamten Volkes und Staates verwechselten.«6 Dies ist ein sehr wichtiges Bekenntnis. Denn um das Problem der mangelnden Arbeitskräfte endgültig zu lösen, sollten nicht nur die Landgüter zerschlagen werden, die bereits seit langem nicht mehr existierten, sondern, um mit Ulmanis’ Worten zu sprechen, »der Großgrundbesitz« an sich. Das bedeutet, dass faktisch die Altwirtschaften zerschlagen worden wären – das Rückgrat der lettischen Landwirtschaft –, die man aufgrund ihrer verhältnismäßig geringen Landfläche eigentlich nicht als Großwirtschaften bezeichnen konnte. In Lettland gab es nur 3,3% landwirtschaftliche Betriebe mit einer Landfläche von mehr als 100 Hektar, 20,9% der Höfe verfügten über Flächen von 50 bis 100 Hektar. Dies waren nach Ulmanis’ Ansicht ebenfalls »Großwirtschaften«, die Lohnarbeiter beschäftigten. Es wurde deren Aufteilung in kleinste Einheiten erwogen – in derart kleine, dass keine Lohnarbeiter mehr nötig wären -, und dann wären diese Kleinwirtschaften – wie Ulmanis bekannte – zwangsweise zu Kooperativen vereinigt worden. Etwas derart Radikales hatten nicht einmal die lettischen Sozialdemokraten in ihrem Programm vorgesehen. Ulmanis gestand zurecht ein, dass ein solcher Plan, wenn er bekannt geworden wäre, die »Großbauern« gegen ihn aufgebracht hätte – die Aizsargi7, denen er für ihre Unterstützung seines Putsches von 1934 Dank schuldete. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich die früheren Gefolgsleute, wenn sie von seinen Absichten erfahren hätten, gegen ihren »Führer« gewandt und einen Gegenputsch organisiert hätten. Doch dann kam der 17. Juni 1940 – Lettland wurde von der UdSSR annektiert, und die Frage, was geschehen wäre, wenn Ulmanis seine Pläne publik gemacht hätte – und sei es auch nur gegenüber den Mitgliedern der Regierung –, muss offen bleiben. Zum Schluss einige Worte zum Außenhandel. Obwohl man in Lettland große Hoffnungen auf die Entwicklung der wirtschaftlichen Verbindungen mit Russ6 7

Ronis, I., Žvinklis, A. (Hrsg.): Kārlis Ulmanis trimdā un cietumā. Dokumenti un materiāli (Kārlis Ulmanis in Verbannung und Gefängnis). Riga 1994, S. 323-324. Vgl. zu den Aizsargi auch den Beitrag von E.Oberländer in diesem Band, S. 37.

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land und insbesondere den Gütertransit gesetzt hatte, trugen diese insgesamt nicht viel zur wirtschaftlichen Entwicklung des Staates bei. Die wichtigsten Außenhandelspartner waren England und Deutschland. Da 94% des Gesamtvolumens des lettischen Außenhandels auf dem Seeweg transportiert wurden, kam einer starken Handelsflotte große Bedeutung zu. 1914 waren in den lettischen Häfen 59 Dampfschiffe und 274 Segelschiffe registriert, 1921 lediglich zehn Dampfund 71 Segelschiffe, 1940 bereits wieder 89 Dampfschiffe. Die bedeutendste Reederei war diejenige von Fricis Grauds – ihr gehörten dreizehn Dampfschiffe, deren Namen alle mit »Ever…« anfingen wie beispielsweise »Everest«. 1939 war Riga bereits durch fünfzehn regelmäßig befahrene Seerouten mit dem Ausland verbunden, darunter mit New York. Dies alles fand im Winter 1939/40 sein Ende, als Deutschland die lettischen Außenverbindungen über die Ostsee brutal kappte und Lettland in eine schwere Wirtschaftskrise stürzte – und es in eine wachsende Abhängigkeit von den Wirtschaftsbeziehungen mit Deutschland und dessen Verbündetem, der UdSSR, brachte.

Die makroökonomischen Prozesse in Lettland nach dem Verlust der Unabhängigkeit 1940 bis 1990 Die 1940 erfolgte Okkupation Lettlands durch die UdSSR und der daraus folgende Verlust der politischen Unabhängigkeit für die nächsten fünfzig Jahre brachte auch im wirtschaftlichen Bereich tiefgreifende Veränderungen. Die Aufgaben der staatlichen Volkswirtschaft veränderten sich radikal. Wenn die volkswirtschaftliche Hauptaufgabe eines souveränen Staates darin besteht, die von der Regierung gesteckten Ziele zu erreichen, die zumeist mit der Befriedigung komplexer innerer Bedürfnisse des Staates und den nationalen Interessen, so wie sie die Regierung versteht, zusammenhängen, dann ändert sich der Schwerpunkt radikal, wenn der Staat plötzlich zum Bestandteil eines anderen, extrem zentralisierten Staates wird. Denn dann erhalten die von diesem Großreich gesteckten Entwicklungsziele unausweichlich höchste Priorität. Berücksichtigt man überdies, von welchem Staat Lettland 1940 eingegliedert wurde, dann wird es niemand überraschen, dass die nationalen Interessen Lettlands während der gesamten Periode der sowjetischen Besatzung relativ unverhohlen ignoriert wurden. Dasselbe gilt natürlich auch für die nur wenige Jahre währende Besatzung durch das nationalsozialistische Deutschland während des Zweiten Weltkriegs. Die Eingliederung in einen anderen Staat bestimmte unweigerlich nicht nur die Hauptrichtungen der volkswirtschaftlichen Entwicklung, sondern auch die Grundprinzipien, nach denen die lettische Volkswirtschaft funktionierte, da die Bedingungen übernommen werden mussten, die im Staat der Besatzungsmacht herrschten. Eine länger währende Okkupation bzw. Eroberung ist meist nicht nur mit einem kurzfristigen Ausplündern des Territoriums verbunden, sondern auch mit einer regelrech-

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ten Kolonialpolitik – der relativ gnadenlosen Ausbeutung des Landes und seiner Bewohner. Die Last einer solchen Politik kann unterschiedlich drückend sein, was auch für die einzelnen Perioden der sowjetischen Besatzung charakteristisch ist.

Makroökonomische Prozesse während des Zweiten Weltkriegs Gestützt auf die völkerrechtswidrigen Vereinbarungen mit ihrem damaligen Verbündeten, dem nationalsozialistischen Deutschland (Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939), gelang es der UdSSR 1940, weiträumige Territorien in Europa zu besetzen, darunter auch die Republik Lettland. Die Wirtschaftspolitik der UdSSR und des nationalsozialistischen Deutschlands in Lettland war in vielerlei Aspekten sehr ähnlich; daher ist es vom heutigen Standpunkt aus methodisch durchaus angemessen, sie nicht getrennt, sondern gemeinsam zu analysieren. Die Ablösung des Ulmanis-Kults durch den Stalin- bzw. Hitler-Kult, die Einführung einer neuen ideologischen Terminologie, die Umbenennung von Straßen entsprechend den Autoritäten und Symbolen, die dem jeweiligen Regime genehm waren – alles das waren Äußerlichkeiten, die die lettische Gesellschaft schnell bemerkte. Doch ebenso große Ähnlichkeiten gab es hinsichtlich der Regulierung der wirtschaftlichen Prozesse während des Zweiten Weltkriegs. Die erste und wichtigste Bedingung für die Festlegung der volkswirtschaftlichen Prioritäten war die internationale Situation – die Kriegshandlungen in Europa, die entscheidend zur Umorientierung der Volkswirtschaft auf die Befriedigung der militärischen Bedürfnisse beitrugen. Unter diesem Aspekt war der 22. Juni 1941, also der Beginn des Kriegs zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und der Sowjetunion, auch im Falle Lettlands ein Wendepunkt, da die Umgestaltung der Volkswirtschaft für die Bedürfnisse des Krieges jetzt extreme Formen annahm. Hierzu dürfen gewiss auch die zielstrebige Zerstörung der Infrastruktur sowie die Evakuierung materieller Werte und menschlicher Ressourcen beim Rückzug zunächst der Roten Armee und später der Wehrmacht gezählt werden. Die Übernahme materieller Ressourcen aller Art sowie der Infrastruktur spielt bei jeder Besetzung eines fremden Territoriums eine zentrale Rolle. Nach ihrem Einmarsch in das lettische Staatsgebiet schuf die sowjetische Besatzungsmacht im Sommer 1940 innerhalb eines Monats einen den Standards der Sowjetmacht entsprechenden gesetzlichen Rahmen, um sich ihre Kriegsbeute zu sichern. Nach sowjetischem Verständnis war dies am einfachsten durch Enteignungen zu erreichen, die am 22. Juli 1940 verkündet wurden – nur einen Tag nach der Ausrufung der Sowjetmacht in Lettland. Grund und Boden, Banken sowie große Industrie-, Handels- und Transportunternehmen gingen in staatlichen Besitz über. Ein wichtiger Gesichtspunkt war dabei, dass sich die entsprechenden Beschlüsse auch auf diejenigen Unternehmen (Banken, Fabriken etc.) bezogen, die zuvor schon in staatlichem Besitz gewesen waren – es wurde also auch das Eigentum

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der Republik Lettland enteignet. Auf diese Weise wurde faktisch alles, was sich in Lettland befand, zur Kriegsbeute der UdSSR erklärt. Anders kann auch die Konfiszierung der Bankeinlagen, Wertpapiere und der in den Banktresoren befindlichen Wertgegenstände nicht interpretiert werden. Relativ ähnlich ging im Sommer 1941 die deutsche Besatzungsmacht vor, die ebenfalls die materiellen Werte Lettlands zur deutschen Kriegsbeute erklärte. Die bedeutendsten lettischen Unternehmen wurden direkt der Aufsicht der deutschen Behörden unterstellt, die frei über sie verfügen konnten. Ein wichtiges Element bei der Übernahme und Ausbeutung des Landes durch die Besatzungsmächte war auch die Geldpolitik. Es gelang der sowjetischen wie der deutschen Besatzungsmacht innerhalb von anderthalb Jahren, das stabile Finanzsystem und den ausgewogenen Binnenmarkt Lettlands vollständig zu zerstören. Konnte man Anfang Juni 1940, also vor der sowjetischen Okkupation, in Lettland faktisch uneingeschränkt Lebensmittel und Industrieerzeugnisse kaufen, so hatte das im Umlauf befindliche Geld im Herbst 1941 seine Deckung verloren; zu den staatlich festgesetzten Preisen konnte man Waren im freien Handel nur noch mit Einschränkungen erwerben. Das Geld hatte innerhalb kurzer Zeit 90% seines Wertes eingebüßt. Ursache war eine zielgerichtete Politik der Besatzungsmächte – nämlich dem besetzten Territorium die jeweils eigene Währung aufzuzwingen, wobei der Wert der zuvor im Umlauf befindlichen Währung unangemessen niedrig veranschlagt wurde. Zuerst handelte so die UdSSR, die den Kurs des lettischen Lats zum sowjetischen Rubel im Verhältnis von 1:1 festsetzte und danach unter Zugrundelegung dieses Kurses den Übergang zum sowjetischen Rubel in Lettland vollzog. Tatsächlich jedoch konnte man für einen Lats in Lettland das fünfzehnfache und mehr von dem erwerben, was man für einen Rubel in der UdSSR erhielt (siehe Tabelle 1). Tabelle 1: Preise auf den Märkten von Lettland8 und auf den Kolchos-Märkten der sowjetischen Stadt Smolensk9 im Juli 1940 Preise in Lettland Lebensmittelart (in Lats)

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Preise in Smolensk (in Rubel)

Prozentuales Verhältnis der Preise auf dem sowjetischen Markt zu denjenigen auf dem lettischen Markt

Rindfleisch (kg)

1,15

18

1565

Milch (Liter)

0,22

3,5

1590

Butter (kg)

2,40 – 2,70

40

1568

Eier (10 St.)

0,9 – 1,1

14

1400

Kartoffeln (kg)

0,07

3,50

5000

Quelle: Lettische Regionalzeitungen sowie Lavijas Valsts arhīvs (Lettisches Staatsarchiv, im ff. LVA) Fonds 389, Aktenverzeichnis 1, Akte. 248. Rossijskij gosudarstvennyj archiv novejšej istorii (Russisches Staatsarchiv für die Neueste Geschichte). Fonds 5, Aktenverzeichnis 24, Akte 534. , 96 S..

194

AIVARS STRANGA/GATIS KRŪMIŅŠ

Recht ähnlich war auch die Politik des nationalsozialistischen Deutschlands, das nach der Eroberung Lettlands einen Wechselkurs von einer Reichsmark zu 10 sowjetischen Rubeln dekretierte. Auch in diesem Fall war der Wert der deutschen Währung unverhältnismäßig hoch angesetzt, was es den deutschen Soldaten und Beamten ermöglichte, Waren zu Preisen einzukaufen, die beträchtlich unter denen in Deutschland lagen. Folglich entwickelte sich während der nationalsozialistischen Besatzung der Schwarzmarkt, auf dem die Preise für einzelne Warengruppen um das Zehnfache über den staatlich festgelegten Preisen lagen. Die Besatzungsmacht versuchte diese Situation durch die Ausgabe von Lebensmittelkarten und anderen Bezugsscheinen an die Einwohnerschaft zu regulieren, die den Erwerb eines begrenzten Mindestbedarfs zu den staatlich festgelegten Preisen garantierten. Die Industrie musste vorrangig die Aufträge des Militärs erfüllen. Bereits im Herbst 1940 gab die Regierung der UdSSR die Anweisung, in Lettland eine Luftwaffenfabrik zu bauen, die im Sommer 1941 ihre Produktion aufnehmen sollte. Für die Errichtung dieser Fabrik wurden nicht nur qualifizierte Arbeitskräfte aus ganz Lettland mobilisiert, sondern auch Werkbänke aus den größten lettischen Fabriken wie beispielsweise VEF, Vairogs, Tosmare u.a. beschlagnahmt. Vor Ausbruch des sowjetisch-deutschen Krieges arbeiteten auch andere Unternehmen für den Bedarf der Roten Armee, danach dann für den der Wehrmacht. Die Hauptaufgabe der Landwirtschaft bestand aus der Sicht der Besatzungsmacht darin, möglichst große Mengen landwirtschaftlicher Produkte für die Bedürfnisse der Armee und anderer Verbraucher zu liefern. Dabei muss man betonen, dass sich die Agrarpolitik der beiden Besatzungsmächte durchaus unterschied. Während strukturelle Veränderungen für die Deutschen sekundär waren, da es vor allem um Erreichung einer bestimmten Menge fertiger Produkte ging, begann die sowjetische Besatzung recht bald damit, ihr landwirtschaftliches Produktionsmodell zu oktroyieren – die Kollektivwirtschaften bzw. Kolchosen. Es wurden sofort verschiedene Schritte unternommen, die darauf zielten, innerhalb kurzer Zeit die Kollektivierung der lettischen Landwirtschaft zu gewährleisten. Dazu gehörte zunächst eine unter wirtschaftlicher Gesichtspunkten absolut sinnlose Agrarreform: Allen Bauernwirtschaften, die eine Fläche von mehr als 30 Hektar besaßen, wurde Land weggenommen und im Umfang von 10 Hektar großen Parzellen an Landlose verteilt. Damit wurden nicht nur die stärkeren landwirtschaftlichen Betriebe geschwächt, da sie Land und auch Arbeitskräfte verloren, sondern auch die nunmehr zu Land Gekommenen in eine wenig beneidenswerte Lage versetzt. Von gutbezahlten Landarbeitern waren sie zu mittellosen Eigentümern kleiner Landparzellen geworden, und das in den meisten Fällen auch noch ohne Gebäude, Vieh und Inventar. Im Frühjahr 1941 begann die sowjetische Besatzungsmacht damit, die kollektive Bearbeitung der Landflächen dieser Neuwirtschaften zu organisieren, wobei ein Teil des Ackerlandes den Sowchosen (Kollektivwirtschaften im Staatsbesitz) übertragen wurde. Dokumente der Kommunistischen Partei belegen, dass für den Herbst 1941 der Beginn der Kollektivierung in Lettgallen und danach auch in ganz Lettland geplant war. Dieses Vorhaben wurde durch die deutsche Besatzung um einige Jahre verzögert. Angesichts der offensichtlichen wirtschaftlichen Sinnlosig-

MARKTWIRTSCHAFT – STAATSWIRTSCHAFT – PLANWIRTSCHAFT 1918–1990

195

keit der sowjetischen Agrarpolitik setzte die deutsche Besatzungsmacht die sowjetische Agrarreform außer Kraft und stellte die ursprüngliche Größe der landwirtschaftlichen Betriebe aus der Zeit vor der sowjetischen Okkupation wieder her. Beide Besatzungsmächte beuteten die Einwohner Lettlands schonungslos aus, indem sie sie zu unterschiedlichen Arbeiten dienstverpflichteten. Als die UdSSR beispielsweise im Frühjahr 1941 mit dem Bau umfangreicher militärischer Objekte, darunter mehrerer Flugplätze, begann, wurden zahlreiche Landesbewohner zu Zwangsarbeiten herangezogen. Im Juni 1941 wurden für den Bau der Flugplätze 15 bis 19.000 Pferdefuhrwerke mit einer mindestens ebenso großen Anzahl an Landarbeitern ohne Rücksicht darauf angefordert, dass dies in einer Periode intensiver landwirtschaftlicher Arbeiten geschah. Die Anlage der Flugplätze wurde durch den Überfall der Wehrmacht unterbrochen. Die höchste Stufe der Ausbeutung der Einwohnerschaft (auch hinsichtlich der Schamlosigkeit) war zweifellos die völkerrechtswidrige Mobilmachung lettischer Staatsbürger für die Heere sowohl der UdSSR als auch des nationalsozialistischen Deutschlands und deren Involvierung in Kriegshandlungen.

Die Vollendung der Sowjetisierung und der Einbindung Lettlands in die Wirtschaft der UdSSR Am Ende des Zweiten Weltkrieges erlangte die UdSSR erneut die Kontrolle über das Territorium Lettlands und begann, ihre Projekte fortzuführen – die Sowjetisierung und die Integration in den Wirtschaftsraum der UdSSR. Als die sowjetische Besatzungsmacht nach Lettland zurückkehrte, wurde das Land (ebenso wie auch Estland und Litauen) einer verstärkten Kontrolle unterworfen, die deutlich strenger war als in anderen Sowjetrepubliken. Aus guten Gründen misstraute die Besatzungsmacht nicht nur den Bewohnern, die in den Nachkriegsjahren zum größten Teil auf die baldige Wiederherstellung der Unabhängigkeit hofften, sondern auch der von ihr selbst eingesetzten Führung der Lettischen Sozialistischen Sowjetrepublik (LSSR) einschließlich der Spitzen der Kommunistischen Partei. Den absurden Charakter der sowjetischen Politik bemerkte sogar ein Teil derjenigen, die aus der UdSSR nach Lettland geschickt und auf verantwortliche Posten gesetzt worden waren, um »den Sozialismus zu errichten«. In den ersten Nachkriegsjahren setzte die Sowjetmacht die 1940/41 begonnene Politik fort, indem sie die Wirtschaft mit Hilfe einer speziellen Struktur direkter Verwaltung durch die Besatzungsmacht, nämlich ein besonderes Büro des Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki) leitete. Dieses Büro verfügte über faktisch uneingeschränkte Vollmachten, sich in die Arbeit der sowjetlettischen Behörden einzumischen; überdies unterhielt es direkte Kontakte zu Moskau und erstattete regelmäßig Bericht über die Lage in Lettland.10 10

Zum Büro vgl. auch den Beitrag von D.Bleiere in diesem Band, S. 93.

196

AIVARS STRANGA/GATIS KRŪMIŅŠ

Im Zuge der Sowjetisierung wurde der Agrarsektor am weitgehendsten umgestaltet. Unter Anwendung wirtschaftlicher Maßnahmen und Zwang wurden sämtliche Bauern zu Landarbeitern gemacht, zu Arbeitern in Kollektivwirtschaften, die vom Sowjetregime kontrolliert wurden. 1947 wurde mit einer intensiven Kollektivierungskampagne begonnen, doch der wirtschaftliche Druck zeigte nicht die gewünschte Wirkung. Ungeachtet der überhöhten Steuern sowie der Konfiszierung von Vieh und technischem Gerät traten die individualistisch eingestellten Landwirte keineswegs massenhaft in die Kolchosen ein; ein beachtlicher Anteil der 1948 gebildeten Kolchosen existierte deshalb eher fiktiv, da man die Ländereien zwar formal zusammengelegt hatte, die Bauern aber fortfuhren, individuell zu wirtschaften. Nicht einmal die Marionettenregierung Sowjetlettlands war vom »Kolchosenprojekt« begeistert: Im zweiten Halbjahr 1948 bekannte der Führer der lettischen Kommunistischen Partei, Jānis Kalnbērziņš, den Vertretern Moskaus gegenüber offen, dass er nicht plane, sich mit Kollektivierung zu beeilen. Erst nachdem die Führung der Kommunistischen Parteien aller drei baltischen Sowjetrepubliken im Januar 1949 nach Moskau zu Stalin zitiert worden waren, stimmten sie einer zügigen Umsetzung der Kollektivierung zu. Um diese zu erreichen, wurde am 25. März 1949 in allen drei baltischen Staaten Massendeportationen in entlegene Gebiete der UdSSR durchgeführt, denen überwiegend Landbewohner und ihre Familien (in Lettland 42.125 Personen) zum Opfer fielen und die zur Beendigung des Widerstands gegen die Kollektivierung führten. Ende 1949 waren in Lettland bereits 93% der landwirtschaftlichen Betriebe kollektiviert. Während der Kollektivierungsphase interessierte sich das Sowjetregime kaum für die Produktivität der Landwirtschaft und noch weniger für die Lebensqualität der Landbewohner. Das Hauptziel der Kollektivierung bestand darin, die volle Kontrolle über die Produktion der landwirtschaftlichen Erzeugnisse und über diese Erzeugnisse selbst zu erreichen. Dies wiederum erlaubte eine beliebige Festsetzung der Einkaufspreise landwirtschaftlicher Erzeugnisse. Sobald die Kollektivierung in Lettland abgeschlossen war, liquidierte das Regime der UdSSR die kooperativen Organisationen, die bisher von den Bauern die landwirtschaftliche Produktion angekauft hatten. Die Preise für den Ankauf der Produktion fielen mehrfach, und in einem großen Teil der Kolchosen wurde in den ersten Jahren nach der Kollektivierung auch kein Lohn für die geleistete Arbeit gezahlt. Die Kollektivierung und die Deportationen vom März 1949 hatten auch eine symbolische Bedeutung – sie sollten die Hoffnungen der Einwohnerschaft auf eine baldige Wiederherstellung des unabhängigen Staates zunichte machen. Es wurde klar, dass sich das Besatzungsregime auf längere Zeit festgesetzt hatte und keinerlei ausländische Hilfe zur Vertreibung der Besatzer zu erwarten war. Das lettische Volk begann, die aufgezwungenen Spielregeln des Sowjetregimes zu akzeptieren, und jeder versuchte auf seine Weise, Überlebensstrategien unter den neuen Verhältnissen zu entwickeln.

MARKTWIRTSCHAFT – STAATSWIRTSCHAFT – PLANWIRTSCHAFT 1918–1990

197

Tendenzen der Wirtschafts- und Finanzpolitik in der Lettischen Sozialistischen Sowjetrepublik (LSSR) 1949-1990 Zu dem Zeitpunkt, als Lettland annektiert wurde, war das Niveau der wirtschaftlichen Entwicklung Lettlands, der Lebensqualität und auch der Bildung der Einwohnerschaft ungleich höher als in der übrigen UdSSR. Der Zweite Weltkrieg hatte diesen Abstand sogar noch vergrößert, denn ungeachtet der massiven Kriegszerstörungen und Menschenverluste in Lettland war die Situation anderswo in der UdSSR noch dramatischer. Dies hatte unmittelbare Auswirkungen auf die sowjetische Politik sowohl in der Nachkriegsperiode als auch in den folgenden Jahrzehnten. Ebenso bedeutsam war die geographische Lage Lettlands im westlichen Grenzgebiet der UdSSR, also in unmittelbarer Nähe zu den potentiellen Gegnern der UdSSR im Falle eines Krieges. Drei Grundelemente charakterisierten die Wirtschafts- und Finanzpolitik der UdSSR in Lettland: 1. der Abfluss von Finanzmitteln bzw. Einnahmen aus Lettland, 2. die forcierte Industrialisierung, insbesondere seit den 1960er Jahren sowie 3. die Militarisierung des Territoriums und der Volkswirtschaft Lettlands. Nach außen wurde zwar der Eindruck erweckt, als stimme der Oberste Sowjet Lettlands regelmäßig über einen ausgeglichenen Haushalt einer souveränen Sowjetrepublik ab, doch hatte dieser Haushaltsbeschluss nur einen recht entfernten Bezug zur Wirklichkeit. Der reale Geldfluss auf dem Territorium Lettlands vollzog sich während der Besatzung durch die UdSSR in einem fest verbundenen System der Budgets der LSSR und der UdSSR, wobei das Budget der LSSR nichts anderes war als ein Bestandteil des Budgets der UdSSR. Die tatsächliche Finanzlage, die Haushaltsverhältnisse, die Bilanz und die Abrechnungen wurden vor der Öffentlichkeit sorgfältig geheim gehalten, über die tatsächliche Situation war nur die oberste Staatsführung informiert. Die Obersten Sowjets der UdSSR und der Lettischen SSR diskutierten und verabschiedeten die Budgets, doch die Abgeordneten hatten keine Ahnung, wie die tatsächliche Finanzlage war und wohin die Finanzströme gelenkt wurden. Während der gesamten Periode der sowjetischen Besatzung wurden beachtliche Mittel aus dem Territorium Lettlands in andere Regionen der UdSSR abgezogen. In den Nachkriegsjahren floss nur etwa ein Viertel der in Form von Steuern und Abgaben in Lettland getätigten Einnahmen in den Haushalt der LSSR. Die restlichen Einnahmen gingen in den Haushalt der UdSSR, wo sie entsprechend den Prioritäten der Zentralmacht verteilt wurden. Über die Haushaltseinnahmen und -ausgaben der UdSSR gab es in Lettlands keinerlei offizielle Informationen – mit Ausnahme einer bestimmten Summe, die alljährlich aus dem Budget der UdSSR in den Haushalt der Lettischen SSR überwiesen wurde. Dies erzeugte den trügerischen Eindruck, dass die UdSSR Mittel in Lettland investiere. Auch in späteren Jahren wurde auf geschickte Weise der Mythos erzeugt, dass die Liquidierung der Kriegsschäden und die Entwicklung der Industrie in Lettland lediglich den Investitionen seitens der UdSSR zu verdanken sei. Tatsächlich

198

AIVARS STRANGA/GATIS KRŪMIŅŠ 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0

1946 1947 1948 1949 1950 1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960

Einnahmen 3.6

4.6

4.4

4.3

4.6

4.7

5.1

5.4

5.4

6.1

6.7

7.5

7.7

8.4

9.4

Ausgaben

3.3

3.5

3.8

3.7

4

4.2

4.6

5.5

5.1

5.4

6

6.9

7.2

7.3

2.4

Einnahmen

Ausgaben

Abbildung 1: Vergleich der auf lettischem Territorium getätigten Einnahmen und Ausgaben (einschließlich der Militärausgaben) zwischen 1945 und 1960 (in Milliarden Rubel)

3 2.5 2 1.5 1 0.5 0

1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1972 1974 1975

Einnahmen 0.9 Ausgaben

0.7

1

1.2

1.2

1.3

1.4

1.5

1.6

1.5

1.8

2

2

2.2

2.3

2.5

0.8

0.8

0.8

0.9

0.8

0.9

1

1.1

1.3

1.4

1.5

1.5

1.6

1.8

Einnahmen

Ausgaben

Abbildung 2: Vergleich der auf lettischem Territorium getätigten Einnahmen und Ausgaben (einschließlich der Militärausgaben) zwischen 1961 und 1975 (in Milliarden Rubel)

MARKTWIRTSCHAFT – STAATSWIRTSCHAFT – PLANWIRTSCHAFT 1918–1990

199

5 4.5 4 3.5 3 2.5 2 1.5 1 0.5 0

1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990

Einnahmen 2.5 Ausgaben

1.9

2.7

2.8

3

3.2

3.3

3.4

3.5

3.6

3.5

3.6

4

4.2

4.3

4.5

2

2

2.1

2.1

2.3

2.8

3.1

3.3

3.5

3.6

3.4

3.9

4

4.6

Einnahmen

Ausgaben

Abbildung 3: Vergleich der auf lettischem Territorium getätigten Einnahmen und Ausgaben (einschließlich der Militärausgaben) zwischen 1976 und 1990 (in Milliarden Rubel)

jedoch zog die UdSSR vom Territorium Lettlands beachtliche Geldmittel ab, von denen ein großer Teil außerhalb Lettlands eingesetzt wurde. Auch in den folgenden Jahrzehnten blieb es dabei, dass ein sehr wesentlicher Teil der in Lettland getätigten Einnahmen vom Haushalt der UdSSR verschlungen wurde. Obwohl in den 1960er und 70er Jahren Investitionen aus dem Haushalt der UdSSR in die Industrialisierung Lettlands flossen, wuchs gleichzeitig auch der Umfang der Einzahlungen Lettlands in den Haushalt der UdSSR. Einen besonders hohen Anteil seiner Einnahmen überwies Lettland in der zweiten Hälfte der 1960er sowie in den 1970er Jahren in den Staatshaushalt der UdSSR. Der Fluss der Finanzmittel lässt auch einen Rückschluss auf das Zentralisierungsniveau der Wirtschafts- und Volkswirtschaftszweige der UdSSR zu. Flossen in den 1940er Jahren in Lettland rund 75% der zur Verfügung stehenden Mittel durch den Haushalt der UdSSR, so reduzierte sich dieser Anteil nach den Reformen am Ende der 1950er Jahre auf 50%.11 Auf dem Gebiet der Finanzen begann sich die Lage erst Mitte der 1980er Jahre zu normalisieren, als die UdSSR aus dem zentralen Haushalt nennenswerte Zuzahlungen an landwirtschaftliche Unternehmen für die über das Plansoll hinaus gelieferten Produkte zu leisten begann. Dies führte zu einer Verbesserung der finanziellen Situation der Kollektivwirtschaften in Lettland: Sie alle waren plötz11

Quelle: LVA Fonds 327, Aktenverzeichnis 20 sowie Fonds 202, Aktenverzeichnis 1-a. In den Abbildungen wird der Geldwert entprechend dem Wert des damals im Umlauf befindlichen Rubels dargestellt.

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lich rentabel, der Unionshaushalt dagegen geriet in eine beträchtliche Schieflage. Erst 1990, als die Regierung der Republik Lettland nach Verabschiedung der Unabhängigkeitserklärung vom 4. Mai die unangemessen hohen Einzahlungen in den Staatshaushalt der UdSSR teilweise einschränkte, schloss das lettische Territorium das Jahr mit einer positiven Bilanz ab (siehe Abb. 3). Zuvor war dies zum letzten Mal im fernen Jahr 1954 geschehen, als Lawrenti Berija nach Stalins Tod die in den zurückliegenden Jahren gelieferte landwirtschaftliche Produktion bezahlt und auf diese Weise versucht hatte, die Gunst der Unionsrepubliken zu erringen. In den Nachkriegsjahren wurden aus dem lettischen Territorium, die Budgets der Lettischen SSR und der UdSSR zusammengenommen, 84 Milliarden Rubel Gewinn gezogen (gerechnet im Äquivalent des Rubels von 1961); davon wurden 14 Milliarden in Lettland eingenommener Rubel außerhalb des lettischen Territoriums verausgabt.12 Natürlich kann man das als eine Art »Solidaritätspolitik« der UdSSR bezeichnen, doch geschah dies ohne jede Zustimmung seitens der Einwohner Lettlands oder in Abstimmung mit ihnen. Die Aussicht, beträchtliche Gewinne aus dem lettischen Territorium zu ziehen, war höchstwahrscheinlich einer der Faktoren, warum die Zentralregierung der UdSSR so sehr darum bemüht war, in Lettland die Industrieproduktion auszubauen. Seit den 1960er Jahren war dies auch in energieintensiven Produktionszweigen möglich, da Lettland parallel zu den bereits errichteten Wasserkraftwerken nun auch Primärenergie in Form von Erdgas erhielt. Zweifellos war die gezielte Industrialisierung Lettlands auch einer der ideologischen Eckpfeiler der sowjetischen Wirtschaftspolitik. Denn Lettlands angebliche Umwandlung von einem früheren Anhängsel der westlichen Welt zu einer hochentwickelten Sowjetrepublik wurde zum absoluten Erfolg stilisiert. Die sowjetischen Ökonomen präsentierten Daten, nach denen die Produktion auf dem Sektor des Maschinenbaus und der Metallverarbeitung zwischen 1940 und 1980 um das 573-fache, diejenige der chemischen Industrie um das 593-fache gestiegen sei (diese Zahlen müssen allerdings aufgrund der bewusst zu niedrig angesetzten Werte von 1940 bezweifelt werden). Es handelte sich auch nicht um die Industrialisierung Lettlands im engeren Sinne, sondern ihre Dimensionen bezogen sich auf die gesamte UdSSR. Riesige Fabriken mit Zehntausenden von Arbeitern produzierten Waren für die gesamte Union, z.B. Radios, Telefone oder Kleinbusse. Dabei galt die höchste Priorität auch keineswegs immer der Qualität, sondern vielmehr der Quantität; in den 80er Jahren waren nur ein Fünftel der Produkte von höchster Qualität. Während der Periode der sowjetischen Besatzung wuchs jedoch nicht nur der Umfang der industriellen Produktion, sondern auch derjenige der Lieferungen örtlicher Unternehmen an das in Lettland stationierte Militär der UdSSR. Der militärische Industriekomplex der UdSSR wurde zum integralen Bestandteil der lettischen Volkswirtschaft. Die Militärausgaben spielten in Lettland eine bedeutende Rolle, sie erreichten ihren höchsten Anteil am Gesamthaushalt auf dem 12

Krūmiņš, G.(Hrsg.): Latvijas tautsaimniecības vēsture (Geschichte der Volkswirtschaft Lettlands). Riga 2017, S. 229-357.

MARKTWIRTSCHAFT – STAATSWIRTSCHAFT – PLANWIRTSCHAFT 1918–1990

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lettischen Territorium in der ersten Hälfte der 1950er Jahre, als sie fast die Hälfte (!) der Gesamtausgaben der Lettischen SSR und der UdSSR auf dem Territorium Lettlands ausmachten. Während des gesamten Zeitraums von 1946 bis 1990 erreichten die militärischen Ausgaben der UdSSR in Lettland (unter Zugrundelegung des Rubel-Äquivalents der UdSSR von 1961) 13,3 Milliarden bzw. 18,9% der Gesamtausgaben in der Sowjetrepublik Lettland.13 Es wurden nicht nur Energie- und Rohstoffströme nach Lettland gelenkt, sondern auch menschliche Arbeitskräfte. In den lettischen Städten ging der prozentuale Anteil von Einwohnern lettischer Volkszugehörigkeit rasant zurück. Die Entwicklung der Volkswirtschaft wurde bewusst an die Anwerbung von Immigranten gekoppelt bzw. ging, um mit der damaligen Terminologie zu sprechen, »mit der Förderung des mechanischen Wachstums der Bevölkerungszahl einher«. Bei der 1960 erfolgten Festlegung der weiteren Perspektiven der volkswirtschaftlichen Entwicklung Lettlands wurde die Immigration von 100.000 Menschen innerhalb von zwanzig Jahren geplant. Leider wurde das Plansoll in dieser Hinsicht deutlich übertroffen. Die Immigration vollzog sich nicht nur organisiert, sondern auch ungeplant. Eine bedeutende Rolle spielte dabei auch der Ruf des Baltikums als »sowjetischer Westen«. Deshalb war das Leben in einer der baltischen Republiken auch eine Frage des Prestiges. Obwohl der Lebensstandard in Lettland sich nicht mehr so krass von demjenigen in anderen Regionen der UdSSR unterschied wie 1940 oder in den Nachkriegsjahren, erschien Lettland aus Sicht der Wirtschaftsmigranten auch weiterhin attraktiv. Eine große Rolle spielten hierbei das Unvermögen und der Unwille der Führung der Lettischen SSR, sich dieser Zuwanderung zu widersetzen (dass dies durchaus möglich war, zeigt das Beispiel Litauens). Dass auch eine beachtliche Zahl von Militärangehörigen der UdSSR Lettland als Alterssitz wählte, machte Lettlands demographische Situation noch problematischer.14 Die insgesamt sehr weitgehende Integration der lettischen Volkswirtschaft in die Volkswirtschaft der UdSSR war einer der Hauptgründe dafür, dass die Produktion nach dem Zusammenbruch des Wirtschaftsraums UdSSR rasch einbrach. Wie wir jedoch bereits in der Einführung betonten, haben die verschiedenen Zweige der lettischen Volkswirtschaft ebenso wie die Gesellschaft insgesamt im geschilderten Zeitabschnitt eine überraschende Adaptionsfähigkeit bewiesen – das Vermögen, sich den unterschiedlichsten Verhältnissen anzupassen und zu überleben, mögen die von der jeweiligen politischen Machthabern getroffenen Entscheidungen auch noch so sinnlos gewesen sein. Natürlich hat diese »Überlebensschule« tiefe Wunden geschlagen, und es wird Jahrzehnte dauern, bis die lettische Volkswirtschaft jene Entwicklungsstufe erreicht, die ihr aufgrund der geschilderten politischen Schicksalsschläge vorenthalten wurde.

13 14

Ebenda, S. 268, 343. Zur Immigration vgl auch die Beiträge von D.Bleiere und J.Rozenvalds in diesem Band, S. 105 und S. 154.

Morten Hansen

Lettlands wirtschaftliche Entwicklung seit 1990: Ist das Glas halbvoll oder halbleer? Lettlands wirtschaftliche Entwicklung seit der Unabhängigkeit kann man am besten als eine Achterbahnfahrt mit Zeiten massiver Rezession und Perioden atemberaubenden Wachstums beschreiben, permanent gespickt mit strukturellen Veränderungen und Transformationen. Seine Wirtschaft ist 2018 sehr weit von dem Punkt entfernt, an dem sie 1991 war, und wenn man einen gemeinsamen Faktor für die jüngste Entwicklung benennen sollte, dann müsste es Neuorientierung sein. Neuorientierung auf die Marktwirtschaft, auf Westeuropa und weg von der Planwirtschaft der Sowjetunion und ihrer wirtschaftlichen Isolation. Aber ist Lettlands Transformation wirklich eine Erfolgsgeschichte, wie man es im Lande selbst gerne formuliert? Das folgende Kapitel will Lettlands wirtschaftliche Entwicklung seit der Unabhängigkeit in zehn Abschnitten beschreiben, einige kurz, einige etwas länger, um ein Bild jener Prozesse zu entwerfen, die in diesem Zeitraum stattgefunden haben, zugleich aber auch in eine Diskussion über die Besonderheiten und Anomalien der lettischen Wirtschaft einzutreten.

Wirtschaftliches Wachstum seit der Unabhängigkeit Wirtschaftliche Transformation gilt als Kombination von vier Faktoren: Liberalisierung (von Preisen und Handel), Stabilisierung (von Inflation und Staatsfinanzen), Privatisierung (von staatlichen Unternehmen) und Neustrukturierung (von öffentlichem zu privatem Eigentum, von industrieller und landwirtschaftlicher Produktion zu Dienstleistungen). Lettland leitete diese Transformation relativ zügig ein, die sog. kalte Dusche, aber mit dramatischen Folgen für das wirtschaftliche Wachstum, für Inflation und Lebensstandard. Lettland war eine der wohlhabendsten Sowjetrepubliken gewesen, die die Union mit vielen industriellen Produkten versorgt hatte, vielleicht am deutlichsten sichtbar an der Firma VEF, der Staatlichen Elektronik-Fabrik mit etwa 20.000 Beschäftigten, die Telefone und Radios für die gesamte Sowjetunion produzierte. Mit dem Zusammenbruch der UdSSR fand diese Produktion keinen Markt mehr. Nimmt man die Öffnung der Wirtschaft nach Westen hinzu, wo attraktiverer Ersatz verfügbar war, dann war die bisherige Produktion gleichsam über Nacht erledigt. Wie aus Abbildung 1 zu ersehen ist, erzeugte dieser industrielle Kollaps

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LETTLANDS WIRTSCHAFTLICHE ENTWICKLUNG SEIT 1990

10 0

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-40

Abbildung 1: Wirtschaftliches Wachstum in Lettland 1991-2016 Quellen: International Monetary Fund (IMF) und Macroeconomic Indicators, Ministry of Economy, Latvia

zwischen 1991 und 1993 einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um etwa 50 Prozent – ein in jeder Hinsicht enormer Einbruch. Die Lösung der Preise aus einer Bindung, die sie auf künstlich niedrigem Niveau gehalten hatte, erzeugte eine massive Inflation, die 1992 956 Prozent erreichte und die Ersparnisse vieler Menschen zerstörte. Der Niedergang des Wirtschaftslebens war zwar massiv, aber doch relativ kurzfristig. Die Wirtschaft begann schon 1994 wieder zu wachsen, viel früher als etwa in der Ukraine und in Russland, doch das Wachstum endete 1995 infolge des Zusammenbruchs der Banka Baltija, der damals größten Bank im Baltikum, den man am besten als Ergebnis eines Pyramidenspiels oder Ponzi-Tricks beschreiben kann. Wachstum kehrte 1996 zurück, wurde aber von der russischen Krise von 1998/99 gebremst, als der russische Rubel drei Viertel seines Wertes verlor und damit Lettlands Exporte schädigte. Dann folgten die Jahre 2000-2007, die »fetten Jahre«, als ein Kredit-Boom zusammen mit dem Beitritt zur Europäischen Union für mehrere Jahre zu den höchsten Wachstumsraten in der EU führte, auf die jedoch ein massiver Rückgang folgte, als die Finanzkrise Lettland erfasste. Auch dieses Mal war die Krise zwar sehr tiefgehend, wurde aber rasch bewältigt. Seit 2013 ist das Wachstum gedämpft, aber vielleicht können gerade diese letzten Jahre als die einzige »normale« Wachstumsperiode seit der Unabhängigkeit bezeichnet werden. Lettland ist das viertärmste Land der EU. Das gilt, wenn man die Armut nach EU-Maßstäben beurteilt, es gilt jedoch nicht im Kontext Osteuropas, wie Abbildung 2 zeigt.

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MORTEN HANSEN

140

120 100 80 60 40 20

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Abbildung 2: Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in den Ländern Osteuropas, 2016. Lettland = 100 Quellen: International Monetary Fund

Seit der Zeit der Unabhängigkeit hat Lettland im Bezug auf das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf mit seinen baltischen Nachbarn nicht Schritt gehalten – Estland war besser auf die Marktwirtschaft vorbereitet und erlebte nach 1991 weniger Rückgang, während Litauen möglicherweise davon profitiert, dass es mehr als nur eine große Stadt besitzt. In Lettland stehen sich dagegen eher Riga und der »Rest« gegenüber, wobei erhebliche Unterschiede bezüglich der industriellen Struktur und des Einkommensniveaus zwischen Riga und dem übrigen Land zu beobachten sind. Bezüglich des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf hat Lettland mit ungefähr 64 Prozent des EU-Durchschnitts noch nicht entscheidend aufgeholt, aber für ein Land, das 1995 ärmer als Rumänien und Bulgarien war, hat doch eine teilweise Einkommensangleichung stattgefunden.

Neuorientierung Mit Blick auf die Handelspartner hat Lettland seine Wirtschaft auch sehr rasch umgestellt, und man kann davon ausgehen, dass diese Entwicklung durch zwei Ereignisse angeregt wurde: Die Unabhängigkeit 1991 und die EU-Mitgliedschaft 2004. Kurz nach der Unabhängigkeit errichteten Lettland und die beiden anderen baltischen Länder eine Freihandelszone (BAFTA – Baltic Free Trade Area) für die meisten Fabrikwaren ausgenommen landwirtschaftliche Erzeugnisse, und der Außenhandel mit den baltischen Nachbarn wie mit westeuropäischen Ländern entwickelte sich rapide. Zum Erstaunen einiger Beobachter verstärkte die EU-Mitgliedschaft jedoch nicht so sehr den Handel mit westeuropäischen Län-

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LETTLANDS WIRTSCHAFTLICHE ENTWICKLUNG SEIT 1990

dern im engeren Sinne, als vielmehr den Handel mit anderen Neumitgliedern der EU wie Polen, aber auch mit Estland und Litauen, die bis heute Lettlands bei weitem wichtigsten Handelspartner sind, wie Tabelle 1 zeigt. Export Rang

Import

Land

Anteil

1

Litauen

19.2%

2

Estland

3

Rang

Land

Anteil

1

Litauen

17.3%

11.7%

2

Deutschland

11.2%

Russland

8.1%

3

Polen

11.0%

4

Deutschland

6.4%

4

Russland

8.6%

5

Polen

5.9%

5

Estland

7.5%

6

Großbritannien

5.2%

6

Finnland

5.3%

7

Schweden

5.2%

7

Niederlande

3.7%

8

Dänemark

4.0%

8

China

3.3%

9

Niederlande

2.5%

9

Schweden

3.3%

10

Norwegen

2.3%

10

Italien

3.2%

Andere

29.6%

Andere

25.5%

Tabelle 1: Die zehn wichtigsten Export- und Importländer für Lettland, 2015 Quelle: Investment and Development Agency of Latvia, www.liaa.gov.lv

Etwa 75 Prozent Außenhandel mit anderen EU-Mitgliedern bedeutet eine bemerkenswerte Neuorientierung in Lettlands Handelsverhalten, und angesichts von Exporten und Importen, die fast 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachen, ist die Feststellung angemessen, dass Lettland eine sehr offene Wirtschaft besitzt, die mit Blick auf die Handelsbedingungen sehr gut in die Europäische Union integriert ist. Die Neuorientierung auf die EU/Westeuropa ist bemerkenswert, aber ebenso bemerkenswert ist die Neuorientierung weg von den ehemaligen Ländern der Sowjetunion. Weder Weißrussland, ein Nachbarland, noch die Ukraine sind unter den ersten Zehn, und Russland ist trotz seiner sehr großen und ebenfalls benachbarten Wirtschaft nur auf Platz drei bzw. vier der Handelspartner.

Verankerung Seit der Unabhängigkeit hat sich Lettland politisch und wirtschaftlich ganz auf Demokratie und freie Märkte orientiert, und man kann durchaus von einer Art von »Verankerung« sprechen: Lettland nutzt die Mitgliedschaft in verschiedenen multilateralen Institutionen als Sprungbrett für die weitere wirtschaftliche Ent-

206

MORTEN HANSEN

wicklung hin zu einem erfolgreicheren und »westlichen« Wirtschaftstyp. Lettland ist den Vereinten Nationen bereits 1991 beigetreten, dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank 1992, der Welthandelsorganisation 1999, der NATO und der EU 2004, der Schengen-Zone 2007, der Eurozone 2014 und der OECD 2016. Das bedeutet in der Tat einen sehr hohen Grad der Integration; nur zwölf andere Länder weisen einen ebenso hohen Integrationsgrad auf. Einerseits ist dieser anhaltende und hartnäckige Drang nach mehr westlich orientierter Integration bemerkenswert, andererseits besteht die Kehrseite dieses Verhaltens darin, dass sich das Land möglicherweise nur deshalb dafür entscheidet, die besten Verfahrensweisen von woanders her zu übernehmen, weil es über keine eigenen Entwicklungsstrategien verfügt. Man darf auch nicht die politische Dimension etwa des Eintritts in die Eurozone unterschätzen, so unpolitisch diese auch erscheinen mag, denn Teilhaber der einheitlichen Währung zu sein ist zwar eine weitere Steigerung der Integration, zugleich jedoch auch ein weiterer Schritt weg von Russland. Im Rahmen der EU-Mitgliedschaft ist Lettland auch besonders bestrebt gewesen, sich neue Initiativen zu eigen zu machen wie etwa die Einrichtung eines Finanzrats (d.h. die Umsetzung des Finanzpakts, die Lettland auch unternommen hat) oder eines Wettbewerbsrats (der »Nationaler Produktivitätsausschuss« heißen soll), wie er im 5. Bericht des Präsidenten der EU-Kommission vorgesehen ist. Die OECD-Mitgliedschaft könnte die letzte derartige Verankerung bedeuten, und man wird sehen müssen, wie engagiert Lettland den Rat der OECD nutzen wird. Dies könnte eine entscheidende Frage für Lettland werden, wenn man bedenkt, dass es sich um eine Wirtschaft handelt, die noch ziemlich weit von der Annäherung an den EU-Durchschnitt entfernt ist, und dass die OECD-Mitgliedschaft die letzte Stufe der Verankerung ist, die man erreichen kann, denn eine höhere Stufe der Integration gibt es nicht. Dies bedeutet aber zugleich, dass die Übernahme fremder Modelle an ihre Grenzen gelangt ist und Lettland sich der Herausforderung gegenübersieht, eigene Strategien zur Lösung seiner wirtschaftlichen Probleme zu entwerfen.

Ein nordisches Land – aber mit einer Wirtschaft angelsächsischen Typs Lettland ist sicherlich eine freie Marktwirtschaft, und man könnte es aufgrund seiner geographischen Lage sogar etwas großzügig als Nordisches Land bezeichnen. Doch seine Wirtschaft und Gesellschaft haben wenig gemein mit den Wohlfahrtsgesellschaften Norwegens, Schwedens und Dänemarks. Eher können Lettlands Wirtschaft und Gesellschaft als angelsächsisch charakterisiert werden, da sie an Großbritannien oder die Vereinigten Staaten erinnern. Steueraufkommen und öffentliche Ausgaben gehören zu den niedrigsten in der EU (etwa 30 Prozent

Romania

Latvia

Bulgaria

Estonia

Spain

Greece

Portugal

Cyprus

United Kingdom

Italy

Poland

Ireland

Croatia

France

Germany

Luxembourg

Malta

Hungary

Denmark

Austria

Netherlands

Belgium

Finland

Sweden

Slovenia

Czech Republic

Slovakia

40.0 38.0 36.0 34.0 32.0 30.0 28.0 26.0 24.0 22.0 20.0

Lithuania

207

LETTLANDS WIRTSCHAFTLICHE ENTWICKLUNG SEIT 1990

Abbildung 3: Gini-Koeffizient, EU 28, 2015 Quelle: Eurostat

des Bruttoinlandsprodukts, während es etwa 50 Prozent in den Nordischen Ländern sind). Dies ist das Ergebnis eines Einkommenssteuersystems, das auf einer Pauschalsteuer beruht, sowie niedriger Körperschaftsteuern und sehr niedriger Steuern auf Zinserträge. Dementsprechend bietet diese Wirtschaftsform auch nur ein eher begrenztes soziales Wohlfahrtssystem, sei es bei der Arbeitslosenunterstützung (nur für einen kurzen Zeitraum) oder bei Renten (niedrig), und ganz allgemein kann von einer gerechten Einkommensverteilung keine Rede sein, vielmehr ist eine markante Ungleichheit bei den Einkommen zu beobachten, wie man z.B. mit Hilfe des Gini Koeffizienten feststellen kann.1 Wie man sieht, stand Lettland 2015 auf Platz 4 (oder Platz 4 von unten, je nach Blickwinkel). Viele Jahre lang hatte es jedoch auf der höchsten Stufe der Einkommensungleichheit gestanden. In einem Land, das ohnehin schon arm ist – zumindest nach EU-Standards -, führt das auch zu einem schlechten Ranking etwa im Blick auf materielle Unterversorgung, wobei einige Daten darauf schließen lassen, dass fast die Hälfte der Bevölkerung unter einem gewissen Grad materieller Unterversorgung leidet. Abgesehen von den damit verbundenen sozialen Problemen muss man darüber besorgt sein, welche Auswirkungen dies auf die zukünftige Teilnahme am Arbeitsmarkt haben könnte, da man erwarten muss, dass materiell unterversorgte Familien sich bezüglich Bildung nicht viel leisten können. Woher kommt dieser Unterschied zwischen den »Westlich-Nordischen« und den »Östlich-Nordischen« Ländern? Ein Grund ist sicherlich die kommunistische Vergangenheit Estlands, Lettlands und Litauens, die keine Sympathie für einen übergeordneten Staat erzeugt hat. Im Falle Lettlands spielt jedoch zweifel1

Der Gini-Koeffizient, nach dem italienischen Statistiker C. Gini, gibt den Grad der Ungleichheit der Einkommensverteilung, z.B. in einem Land oder einer Region, nach dem häuslichen Pro-Kopf-Einkommen an. Skala von 0 (gleichmäßige Einkommensverteilung) bis 100.

208

MORTEN HANSEN

los auch das Fehlen von Einrichtungen eine Rolle, die Fürsprecher des ärmeren Teils der Bevölkerung sein könnten. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad ist niedrig, und die, die keine Stimme in der öffentlichen Diskussion haben, finden keine Fürsprecher in Gestalt von Nichtregierungsorganisationen, politischen Parteien und Interessenverbänden.

Die Finanzkrise 2008 – 2010 Nach der russischen Krise von 1998/99 wuchs Lettlands Wirtschaft während der »fetten Jahre« 2000-2007 rasant, was das Einkommen pro Person zwar mehr als verdoppelte, jedoch mit dem spektakulären Zusammenbruch in der Finanzkrise von 2008-2010 endete. Die folgenden Ausführungen geben einem kurzem Überblick über diese drei Perioden: den Boom, die Pleite und die folgende Erholung.2 In den frühen 2000er Jahren kam es zur Niederlassung zahlreicher ausländischer, meistens schwedischer Banken in Lettland, die das Bankensystem dadurch veränderten, dass sie dem einfachen Letten ein Privatkundenbankgeschäft anboten. Die sich daraus ergebenden Möglichkeiten wurden durch den EU-Beitritt 2004 noch gesteigert, so dass sich in einer Zeit niedriger Zinsraten ein Kredit-Boom anbahnte. Lettland stand damit nicht allein – Estland und Litauen folgten seinem Beispiel, und mehrere westeuropäische Länder, vor allem Spanien und Irland, erlebten infolge der Einführung des Euros eine ähnliche Hochkonjunktur. Lettland jedoch erlebte zusammen mit Island den wildesten Boom. Auf seinem Höhepunkt ergab sich in Lettland ein Leistungsbilanzdefizit von 25 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, d.h. um vier Lat einzunehmen mussten fünf Lat ausgegeben werden, also ein ganz enormes Defizit. Wie immer ist ein Kredit-Boom zunächst günstig, denn Geld verleihen und Geld aufnehmen erzeugt ein hohes Maß an wirtschaftlicher Aktivität im Bauwesen und im Immobilienbereich, aber auch im Einzelhandel, zum Beispiel bei Autos, Fernsehern und Reisen. Verstärkte wirtschaftliche Aktivität steigert auch den Bedarf an Arbeitern, so dass die Zahl der Arbeitslosen sinkt, wie Abbildung 4 zeigt. Es sieht vielleicht auf den ersten Blick nicht ganz so dramatisch aus, aber die Arbeitslosigkeit ging zwischen 2002 und 2007 von etwa 15 Prozent auf unter 6 Prozent zurück, ein zweifellos sehr starker Rückgang. Seit etwa 2005 erzeugte dies jedoch Engpässe auf dem Arbeitsmarkt, und die Firmen sahen sich gezwungen, höhere Löhne zu bieten, um Arbeitskräfte zu gewinnen – ein Prozess, der durch die Auswanderung von Arbeitskräften, die in Abschnitt 7 behandelt wird, noch verschärft wurde. Die höchsten wirtschaftlichen Wachstumsraten der EU erzeugten in Lettland die größten Lohnsteigerungen. Im September 2008 kam dieser riesige Kredit-Boom zu einem abrupten Ende, als die amerikanische Investment-Bank Lehmann Brothers zusammenbrach. Die Banken hörten auf, sich gegenseitig und ihren Kunden Geld zu leihen, und für eine Wirtschaft, die derart abhängig von der Kreditaufnahme war, führte das zu einem freien 2

Ein detaillierte Beschreibung bei Auers 2015.

20 2002M01 2002M06 2002M11 2003M04 2003M09 2004M02 2004M07 2004M12 2005M05 2005M10 2006M03 2006M08 2007M01 2007M06 2007M11 2008M04 2008M09 2009M02 2009M07 2009M12 2010M05 2010M10 2011M03 2011M08 2012M01 2012M06 2012M11 2013M04 2013M09 2014M02 2014M07 2014M12 2015M05 2015M10

0

Quelle: Central Statistical Bureau of Latvia

15

10

5

0

-5

-10

Abbildung 5: Inflation in Lettland, 2002-2016 2016/2nd quarter

2015/3rd quarter

2014/4th quarter

2014/1st quarter

2013/2nd quarter

2012/3rd quarter

2011/4th quarter

2011/1st quarter

2010/2nd quarter

2009/3rd quarter

2008/4th quarter

2008/1st quarter

2007/2nd quarter

2006/3rd quarter

2005/4th quarter

2005/1st quarter

2004/2nd quarter

2003/3rd quarter

2002/4th quarter

2002/1st quarter

LETTLANDS WIRTSCHAFTLICHE ENTWICKLUNG SEIT 1990

10

209

30

25

20

15

Males

Females

5

Abbildung 4: Arbeitslosenzahlen, Männer und Frauen, Lettland 2002-2016 Quelle: Central Statistical Bureau of Latvia

210

MORTEN HANSEN

Fall mit einer sehr tiefen und schweren Rezession (Abbildung 1). Die ersten betroffenen Bereiche waren Bauwesen und Immobilien (wie man an den Arbeitslosenzahlen in Abbildung 4 erkennen kann; im Bausektor kam es zu Massenentlassungen), danach wurden das Bankwesen, da Geldverleihen kein großes Geschäft mehr war, und dann weitere Wirtschaftszweige wie der Einzelhandel usw. in Mitleidenschaft gezogen. Innerhalb von nur zwei Jahren stieg die Arbeitslosigkeit von weniger als 6 Prozent auf mehr als 20 Prozent – ein enormer wirtschaftlicher Schock. Nachlassende wirtschaftliche Aktivität und höhere Arbeitslosigkeit ziehen sofort geringere Steuereinkünfte nach sich, und die lettische Regierung sah sich mit einem ernsthaften Defizit konfrontiert, das aus dem leichtsinnigen Ausgeben der unverhofften Steuereinnahmen während der »fetten Jahre« resultierte. Fügt man die Nationalisierung der lettischen Inlandbank Parex im Herbst 2008 hinzu und verbindet dies mit einem eingefrorenen Finanzmarkt, dann steuerte Lettland auf Zahlungsunfähigkeit zu. Um sein wachsendes Budget-Defizit zu finanzieren (s. Abbildung 6), wandte sich Lettland an internationale Verleiher, vor allem an den Internationalen Währungsfond und die Europäische Union, und Ende 2008 wurde ein Überbrückungskredit vereinbart. Das Hauptelement des Rettungspakets war die Stabilisierung der öffentlichen Finanzen durch »Austerity-Maßnahmen« – ein Begriff, der den Letten nur allzu bald vertraut wurde -, die die Parex Bank und das Finanzsystem im allgemeinen retteten und die, was jedoch eher umstritten ist, zum Wiedergewinn der in der Zeit der hohen Inflation verlorenen Wettbewerbsfähigkeit durch eine »interne Abwertung«, eine Komprimierung der Preise durch niedrige Löhne und höhere Produktivität, anstatt durch eine »externe Abwertung«, das heißt einer Abwertung des Lats, führten. Die Zentralbank Lettlands bestand hartnäckig darauf, dass eine externe Abwertung vermieden werden sollte, obwohl sie sich damit gegen den Rat des Internationalen Währungsfonds stellte. Warum nahm sie diese Haltung ein? Die Letten hatten überwiegend Geld in Euros aufgenommen, obwohl sie in Lats verdienten. Eine sehr große Abwertung hätte viele Insolvenzen unter den Kreditnehmern hervorgerufen, die zu einer Bankenkrise hätten führen können. Überdies wollte die Zentralbank Lettlands ihr Ziel nicht aufgeben, so bald wie möglich den Euro zu übernehmen, und eine Abwertung wäre eine Verletzung der Maastrichter Kriterien für die Euro-Übernahme gewesen. Die Diskussion über interne oder externe Abwertung dürfte unter Wissenschaftlern jedoch so bald nicht verstummen3. Lettland stabilisierte seine Wirtschaft wenn auch um den Preis hoher sozialer Kosten (Angestellte des öffentlichen Dienstes sahen ihre Löhne um 25 Prozent gekürzt, Schulen und Krankenhäuser wurden geschlossen, was jedoch schon in den »fetten Jahren« hätte geschehen müssen, denn ein Land mit zwei Millionen Einwohnern braucht keine 59 Krankenhäuser) und mit langfristig schädlichen Folgen wie der Auswanderung, die in Abschnitt 7 behandelt wird. 2012 konnte Lettland mit viel Tamtam die Vereinbarung über den Überbrückungskredit ver3

Zwei entgegengesetzte Ansichten dazu finden sich bei Aaslund u. Dombrovskis 2011 und Dovladbekova 2012.

LETTLANDS WIRTSCHAFTLICHE ENTWICKLUNG SEIT 1990

1

211

2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016

0 -1 -2 -3 -4 -5 -6 -7 -8

Abbildung 6: Haushaltsausgleich, Lettland, Prozente des BIP 2002-2016 Quelle: International Monetary Fund

lassen, die Wirtschaft erholte sich durch Steigerung des Exports und muss heute keine kurzfristigen Schwankungen befürchten.4 Wie war es zu einem so spektakulären Zusammenbruch gekommen? Der Regierung ist ohne Frage ihre leichtsinnige Finanzpolitik vorzuwerfen, die die Nachfrage in der Wirtschaft durch das Ausgeben von unverhofften Steuereinnahmen anheizte, als sie eigentlich die wirtschaftliche Aktivität in der massiv überhitzten Atmosphäre der Jahre 2005-2007 hätte bremsen müssen. Sie hätte auch die Immobilien-Investition und Spekulation durch Besteuerung weniger attraktiv machen müssen. Dass dies nicht geschah, lässt darauf schließen, dass vielleicht die schwache Hoffnung bestand, dass Lettland schnell die Ökonomien Westeuropas einholen würde, was die Abwanderung in andere Länder beenden würde. Als entscheidend erwies sich jedoch auch, dass es damals in Lettland kaum eine intensivere Debatte über die wirtschaftliche Entwicklung gab.

Eine sehr deutsche Geldpolitik Eine Besonderheit der Wirtschaft Lettlands ist ihre »deutsche« Geldpolitik und die herausgehobene Rolle der Zentralbank, der Bank von Lettland, in der öffentlichen Debatte. Das bedeutete, dass man den Schwerpunkt auf den Kampf mit der Inflation legte – Lettland war immerhin das erste europäische Land mit ein4

Eine gründliche Analyse bietet Blanchard 2013.

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MORTEN HANSEN

stelliger Inflationsrate (1997) nach der Umgestaltung in Richtung auf die Marktwirtschaft 1989-1991 – und dass man stark auf feste Wechselkurse und dann auf die Übernahme des Euro vertraute. Die Lettische Zentralbank hatte seit ihrer Wiedererrichtung im Jahr 1991/92 nur zwei Gouverneure, die beide von dem verstorbenen lettisch-amerikanischen Professor der Georgetown Universität George (Juris) Viksniņš beeinflusst waren, der sie in Fragen der Währungsreform beriet. Seine Ansichten, ausgesprochen deutsch: Anti-Inflation, Pro-Gold, scheinen sich gehalten zu haben. Infolge des allgemeinen Fehlens von Planungsstäben und Forschungsinstituten in Lettland ist die Bank von Lettland zweifellos die wichtigste Forschungsinstitution, wenn es um die Volkswirtschaft des Landes geht, und ihre Forschungsergebnisse sind geeignet, die Debatte in Lettland zu prägen und/oder zu dominieren.

Demographie und Migration Diese beiden Probleme bilden, zusammen mit der weiterhin bestehenden Einkommenslücke gegenüber dem EU-Durchschnitt, langfristig wohl den größten Anlass zur Sorge um die Wirtschaft Lettlands. Und ganz sicher sind sie die zentralen Probleme in der öffentlichen Diskussion. Denn das demographische Debakel hatte schon vor längerer Zeit begonnen, wie Abbildung 7 zeigt. 1990 war das letzte Jahr, in dem Lettland einen natürlichen Nettozuwachs seiner Bevölkerung erlebte, oder in anderen Worten: in jedem einzelnen Jahr seit der Unabhängigkeit übertraf die Zahl der Todesfälle die der Geburten. Dies ist keineswegs ein ausschließlich lettisches Problem; es spielt in ganz Osteuropa eine Rolle und geht bis auf Gorbatschows Glasnost‘- und Perestroika-Reformen in den späten 80er Jahren zurück. Angesichts der wirtschaftlichen Unsicherheit schoben es viele auf, Kinder zu haben, was in sehr vielen Fällen damit endete, dass sie gar keine Kinder bekamen. In weniger als zehn Jahren, von 1989 bis 1997 ging die Zahl der in Lettland geborenen Kinder von etwa 40.000 auf etwa 20.000 jährlich zurück, ein 50-prozentiger Rückgang, der niemals wieder aufgeholt wurde. Die Finanzkrise führte zu einem weiteren Geburtenrückgang; mit der wirtschaftlichen Stabilisierung hat sich die Zahl der Geburten seit 2011 zwar jedes Jahr erhöht, doch bleibt sie konstant hinter der Zahl der Todesfälle zurück. Mehr als zwanzig Jahre mit kleinen Kohorten zunächst von Babys, dann von Kindern, jungen Leuten und schließlich jungen Erwachsenen haben eine Konzentration der Arbeitsmärkte in Gang gesetzt, die sich über viele Jahre fortsetzen und dauerhafte Auswirkungen auf die lettische Gesellschaft haben wird. Die Zahl der Arbeitskräfte wird weiter schrumpfen, Engpässe auf dem Arbeitsmarkt werden wahrscheinlicher, die demographische Bürde wird sich schonungslos verschärfen und Lettland, das heute schon ein altes Land (Durchschnittsalter etwa 40 Jahre) ist, wird noch älter werden. Dieses Phänomen wird zusätzlich durch die Migration verschlimmert, die Lettland in drei Wellen betroffen hat: Die erste Abwanderung folgte auf die Un-

213

LETTLANDS WIRTSCHAFTLICHE ENTWICKLUNG SEIT 1990

45000 40000 35000 30000 Births

25000

Deaths

20000 15000 10000

Abbildung 7: Geburten und Todesfälle in Lettland, 1980-2915 Quelle: Central Statistical Bureau of Latvia

abhängigkeit, als einige nach Russland und andere in den Westen gingen, die zweite folgte auf die EU-Mitgliedschaft, als viele wegen der höheren Löhne nach Großbritannien, Irland oder Schweden wechselten, in Länder also, die keine Übergangsbestimmungen für ihre Arbeitsmärkte erlassen hatten, um dem erwarteten Migrationsstrom nach dem 1. Mai 2004 Einhalt zu gebieten, und die dritte Welle folgte auf die Finanzkrise, als viele Lettland wegen der hohen Arbeitslosigkeit verließen. Zahlen zur Emigration sind notorisch unzuverlässig, so dass wir ihre Auswirkungen auf andere Weise demonstrieren wollen. Abbildung 8 zeigt die Entwicklung der Arbeitskräfte und des Beschäftigungsgrads seit 2002. Die Beschäftigung erreichte ihren Höchststand naheliegenderweise auf dem Höhepunkt der Boom-Jahre, nämlich im vierten Quartal des Jahres 2007 mit 1.080.000 Arbeitnehmern. Heute gibt es dagegen weniger als eine Million Arbeitskräfte (und natürlich haben noch weniger eine Anstellung). Das heißt, dass Lettland wohl niemals wieder einen Beschäftigungsgrad erleben wird wie vor der Krise. Die Zahl der Arbeitskräfte ist seit dem Beschäftigungshöhepunkt um 160.000 zurückgegangen, also um etwa 14 Prozent; Ursache ist die Kombination von ungünstiger demographischer Situation und Abwanderung. Diese Kombination bildet eines der Hauptprobleme der lettischen Wirtschaft: Wenn die Menschen abwandern, tragen sie nichts zum heimischen wirtschaftlichen Wachstum bei. Dies hält das Niveau der Einkommen niedrig, das der Hauptgrund für die Abwanderung war. Diese negative Auswirkung auf die Schaffung von Einkommen könnte jedoch zu einer anhaltenden Migration führen und so dauerhaft einen negativen Einfluss auf das Wirtschaftsleben ausüben, der zu noch mehr Migration führt usw. – ein Schneeballeffekt, der kaum einzudämmen ist. Deshalb ist es äußerst wichtig, dass Lettland sich dieses Problems annimmt.

214

MORTEN HANSEN 1200 1150 1100 1050 1000 950 900 850

Labour force

800

Employment

700

2002/1st quarter 2002/3rd quarter 2003/1st quarter 2003/3rd quarter 2004/1st quarter 2004/3rd quarter 2005/1st quarter 2005/3rd quarter 2006/1st quarter 2006/3rd quarter 2007/1st quarter 2007/3rd quarter 2008/1st quarter 2008/3rd quarter 2009/1st quarter 2009/3rd quarter 2010/1st quarter 2010/3rd quarter 2011/1st quarter 2011/3rd quarter 2012/1st quarter 2012/3rd quarter 2013/1st quarter 2013/3rd quarter 2014/1st quarter 2014/3rd quarter 2015/1st quarter 2015/3rd quarter 2016/1st quarter 2016/3rd quarter

750

Abbildung 8: Arbeitskräfte und Beschäftigung (in Tausend) in Lettland 2002-2016 Quelle: Central Statistical Bureau of Latvia

Probleme, die sich einfach nicht von selbst lösen werden Wirtschaftlicher Wohlstand wird durch eine ungünstige demographische Situation und durch Abwanderung gebremst. Beide Probleme plagen Lettland seit der Unabhängigkeit fast permanent. Doch andere, eher strukturelle Probleme sind ebenfalls im Spiel und zeugen von einem wirtschaftlichen/politischen System, das wenig auf die Lösung tiefergehender struktureller Probleme ausgerichtet ist. Während der gesamten Zeit seit der Unabhängigkeit haben folgende Fragen in der wirtschaftspolitischen Debatte eine herausragende Rolle gespielt: Die große Schattenwirtschaft, Korruption, hohe Sozialsteuern und ineffiziente, geschäftsschädigende Verwaltungsvorschriften – getan wurde jedoch herzlich wenig. Das Problem der Korruption zu nennen, ist vielleicht etwas unfair, weil Lettland im jüngsten Ranking der Tranparency International besser plaziert ist als zehn andere EU-Länder, aber das Land kann nicht als völlig sauber bezeichnet werden, auch wenn durchaus Fortschritte zu erkennen sind. Hohe Arbeitgeberund Arbeitnehmersteuern sind nachteilig für die Wettbewerbsfähigkeit lettischer Unternehmen, weil sie die Arbeitskosten stark erhöhen und ein gewichtiger Anreiz zur Entlohnung über »Lohntüten« sind, um diese Steuern auf illegale Weise zu umgehen. Dies trägt zur grauen Wirtschaft bei, beraubt den öffentlichen Sektor dringend benötigter Steuereinnahmen, ist eine unfaire Konkurrenz gegenüber den Unternehmen, die ihre Steuern bezahlen, und kann dadurch auch ausländische Investitionen abschrecken. In seinem jährlichen Globalen Wettbewerbsbericht weist das Weltwirtschaftsforum ständig auf die Bedeutung eines effizienten rechtlichen Rahmens als entscheidende Voraussetzung für das Geschäftsleben hin – ein Rechtssystem jedoch, das langsam arbeitet, ist teuer und läuft Gefahr,

LETTLANDS WIRTSCHAFTLICHE ENTWICKLUNG SEIT 1990

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dass Gerichtsurteile beeinflusst werden, was einheimische und ausländische Investoren abschreckt und damit wirtschaftliche Entwicklung blockiert. Auch Rom wurde nicht an einem Tag erbaut, und es ist schwierig, mit diesen Problemen fertig zu werden, aber man sollte berechtigterweise doch mehr Fortschritt innerhalb eines Vierteljahrhunderts erwarten können. Der Mangel an Fortschritt muss als Spiegelbild eines schwachen politischen Systems und starker Partikularinteressen betrachtet werden, die nicht im Interesse von Lettland als Ganzem sind.

Wo Lettland glänzt Gerechterweise sollte man jedoch auch solche Bereiche hervorzuheben, in denen Lettland glänzt, insbesondere im Vergleich zu seinen Nachbarn. Riga und nicht Tallinn oder Vilnius (oder auch Warschau, Prag oder Bratislava) ist das Finanzzentrum des (Nord)Ostens. Bankwesen ist eine Industrie mit hohem Mehrwert, und Lettland genießt einen vergleichsweise starken Vorteil, wenn es um Bankgeschäfte mit nicht in Lettland ansässigen Kunden geht (das heißt, es werden überwiegend Kunden aus Ländern der ehemaligen UdSSR bedient), da Russisch überall gesprochen wird, da es intakte Geschäftsverbindungen nach dem Osten und dank Mitgliedschaft in der EU ein transparentes und vertrauenswürdiges Bankensystem gibt und da man vielleicht auch zuweilen nicht allzu viele Fragen stellt. Riga und nicht Tallinn oder Vilnius ist auch das dominierende Zentrum der Luftfahrt mit der nationalen Fluglinie airBaltic, die viele Arbeitsplätze bietet und ausländische Investitionen erleichtert, vom Tourismus ganz zu schweigen. Und Lettland ist der wichtigste Korridor für den Transport von Gütern aus dem Osten (Russland, China) nach Westeuropa mit seiner vergleichsweise sehr großen Eisenbahngesellschaft, Latvijas Dzelzceļš, und seinen Häfen in Riga, Ventspils (Windau) und Liepāja (Libau).

Die Zukunft der Wirtschaft Lettlands Hundert Jahre nach der ersten Unabhängigkeit ist Lettland ein Land mit einer vollwertigen Marktwirtschaft, das eine eindrucksvolle Neuorientierung seiner Wirtschaft vollzogen hat und heute fest in die Europäische Union integriert ist – eine Wirtschaft, die völlig anders ist als zu der Zeit, als sie 1991 aus den Ruinen der Sowjetunion hervorging. Aber es ist auch eine Wirtschaft, die sich noch im Prozess des Aufholens befindet, die mit Blick auf das Einkommen pro Kopf in der EU noch am unteren Ende der Skala steht, und eine Wirtschaft, die ein zähes Ringen mit demographischen Problemen, mit Alterung und Migration vor sich hat, für deren Lösung das politische System manchmal keine klaren Ideen zu haben scheint. Ist das Glas halbvoll oder halbleer? Das hängt vom Blickwinkel des Betrachters ab; der Autor dieses Beitrags tendiert zu halbleer, beeilt sich jedoch hinzuzufügen, dass im Glas ganz sicher etwas drin ist.

Jānis Čakste (1859-1927), Vorsitzender des Lettischen Volksrats und der Verfassunggebenden Versammlung 1918-1922, Staatspräsident 1922-1927.

Gustavs Zemgals (1871-1939), 2. Stellvertretender Vorsitzender des Lettischen Volksrats, Staatspräsident 1927-1930.

Kārlis Ulmanis (1877-1942), Ministerpräsident der Provisorischen Regierung 1918-1920 und mehrerer weiterer Kabinette, errichtete 1934 ein diktatorisches Regime, 1936-1940 Staatspräsident.

Zigfrīds Anna Meierovics (1887-1925), lettischer Aussenminister 1918-1925 und Ministerpräsident 1921-1923 sowie 1923/24. Er starb 1925 bei einem Autounfall.

Vilhelms Munters (1898-1967), lettischer Aussenminister 1936-1940.

Rainis (eigentlich Jānis Pliekšāns, 1865-1929) gilt als der bedeutendste Dichter seines Landes. Als Sozialdemokrat nahm er regen Anteil am politischen Leben der Gründungsphase der Republik

Vilhelms Purvītis (1872-1945), bedeutendster lettischer Landschaftsmaler, Mitbegründer und 1919-1934 erster Rektor der Akademie der Künste Lettlands.

Pēteris Vasks (geb. 1946) gilt als einer der international meistaufgeführten Komponisten der Gegenwart. Er erhielt bislang dreimal den Großen Musikpreis Lettlands (1993, 1997, 2000).

V. Kultur

Marija Golubeva

Bildung und Wissenschaft Der vorliegende Beitrag befasst sich mit der Entwicklung von Bildung und Wissenschaft seit der Gründung der Republik Lettland, jedoch nicht chronologisch, sondern mit besonderer Betonung auf den institutionellen Traditionen und den ideologischen Paradigmen, die die Bildung in Lettland geprägt und verändert haben. Das lettische Bildungssystem hat seine Wurzeln in zwei institutionellen Traditionslinien: Die der deutschsprachigen Länder (seit dem Mittelalter) und die des Russischen Reiches (das seit der Mitte des 19. Jahrhunderts einen stärkeren Einfluss auf das lettische Bildungswesen hatte). Die Entwicklung des lettischen Bildungssystems war auch durch vielfältige ideologische Paradigmen entscheidend beeinflusst. Diese institutionellen Wurzeln und ideologischen Einflüsse prägten auch die Entwicklung des lettischen Bildungssystems nach 1918. Die institutionellen Traditionen lassen sich relativ einfach zusammenfassen, zumal sie denen vieler anderer Länder in der Region glichen. Die ältere der beiden war die deutsche Bildungstradition, die zwar selbst etliche Transformationsprozesse durchlaufen hatte (z.B. während der Reformation), aber dennoch die institutionelle Kultur lettischer Schulen und Universitäten sowohl während der Zugehörigkeit der Letten zum Russischen Reich als auch noch während der ersten Phase der Unabhängigkeit geprägt hat. Zu den vielen Elementen, die bis ins zwanzigste Jahrhundert Bestand hatten, zählen vor allem die dreigliedrige Einteilung der Schulen in Gymnasien, Realschulen und Volksschulen mit einer weiteren Unterteilung in Schulen, die die alten Sprachen unterrichteten (ein Zeichen der Elitebildung) und Schulen ohne diesen Schwerpunkt. In der Hochschulbildung erinnerten die wichtige Rolle der Burschenschaften im Universitätsleben sowie das besondere Ansehen der Professoren innerhalb der akademischen Strukturen stark an die deutschen akademischen Traditionen. Der Zugang zur Bildung in den verschiedenen Teilen des späteren Lettlands gestaltete sich seit der Reformation sehr unterschiedlich. Im späten siebzehnten und im achtzehnten Jahrhundert bestanden große Unterschiede zwischen der an Schweden orientierten, streng lutherischen und des Lesens und Schreibens relativ kundigen Bevölkerung Livlands, der provinziellen und nur wenig alphabetisierten Bevölkerung Kurlands sowie der überwiegend analphabetischen Bevölkerung der polnisch-litauischen Woiwodschaft Inflanty (heute Lettgallen). Diese Unterschiede verringerten sich im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts durch den allgemeinen europäischen Trend zur zunehmenden Alphabetisierung der Bevölkerung deutlich. Bis zum Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts waren die Alphabetisierungsraten auf dem Gebiet des heutigen Lettlands die höchsten

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im ganzen Russischen Reich. Wie in den meisten europäischen Regionen dieser Zeit standen nur Teile des Bildungswesens unter staatlicher Kontrolle, während die Kirchen und private Initiativen wohlhabender Bürger eine große Rolle bei der Expansion der schulischen Netzwerke spielten. Das Bildungssystem des Russischen Reiches, von dem der baltische Raum zunächst ausgenommen war, begann in dem Augenblick eine entscheidende Rolle zu spielen, als der Druck zur Vereinheitlichung im 19. Jahrhundert deutlich zunahm. Versuche der lokalen russischen Autoritäten, das gesamte Schulsystem von seinen früheren Besitzern – dem deutschbaltischen Adel, den Städten und der lutherischen Kirche – zu übernehmen, erwiesen sich zunächst und bis in die Mitte der 19. Jahrhunderts hinein als wenig erfolgreich. Studien hierzu haben aufgezeigt, dass die kaiserlichen Behörden bald feststellten, dass ihnen die finanziellen Ressourcen zum Betrieb aller Schulen fehlen würden, wenn die deutschbaltischen Eliten sich aus der Finanzierung der Schulen zurückziehen würden. Dennoch wurde nach und nach eine gewisse Einheitlichkeit – und die Russische Sprache als Teil des Lehrplans – eingeführt. Damit einher ging auch ein Statuswechsel (wenngleich nicht unbedingt des modus operandi) der ältesten Schulen Rigas, Livlands und Kurlands, die sich der vom Schulsystem des Russischen Reiches vorgegebenen Form anpassen mussten. Die Einführung der formalen Bildung in russischer Sprache war ein weiteres Element dieses Erbes, das bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein bestand. Es gibt viele ideologische Paradigmen, die die Entwicklung der Bildung beeinflusst haben; die folgende Zusammenfassung beinhaltet nur die wichtigsten. Das Paradigma der Nationsbildung war eng verbunden mit der Vorstellung von Bildung und Kultur als konstitutiven Kennzeichen einer Nation. Diese Vorstellung entsprach der Idee führender intellektueller Leitfiguren des 19. Jahrhunderts vom Kulturvolk, von der »kultivierten Nation«. Dieses Konzept, dem die Vorstellung von einer Hierarchie der Kulturen zu Grunde liegt, hatte seinen Ursprung in Deutschland und wurde von den Jungletten enthusiastisch aufgegriffen, einer Gruppe lettischer Intellektueller, die eine Brücke zwischen der deutschsprachigen Kultur der baltischen Oberschicht und der lettischsprachigen Kultur der übrigen Bevölkerung schlagen wollte. Atis Kronvalds, einer der führenden Männer der Nationalbewegung, äußerte in einem Essay, dass so wie die Deutschen einst ihre Kultur auf der Grundlage der Gelehrsamkeit der Griechen und Römer erschaffen hatten, so sollten auch die Letten ihre Kultur auf die Errungenschaften der Deutschen gründen. Die Betonung von Bildung als einem zentralen Element, das notwendig ist, um den Letten den Weg zur eigenen nationalen Identität zu ermöglichen, stand im Mittelpunkt der Bildungsbemühungen von verschiedenen Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts, ganz besonders auch von Krišjānis Valdemārs, der Marineschulen gründete, um die soziale Mobilität der Letten durch die Seefahrerberufe zu fördern. In der neu gegründeten Republik Lettland nach 1918 existierte das Paradigma der Nationsbildung ohne weiteres neben der kulturellen Autonomie der nationalen Minderheiten weiter, die die Notwendigkeit betonten, auch die Minder-

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heitensprachen und -kulturen durch das Bildungssystem zu erhalten. In der Praxis hieß das, dass es in Lettland mehr als 500 Minderheitengrundschulen und 38 Höhere Schulen (speziell für deutsche, russische, jüdische, polnische und weißrussische Minderheiten) gab. Die neu gegründete Republik Lettland stand jedoch auch stark unter dem Einfluss sozialdemokratischer Ideen (die größte politische Gruppe in der Verfassunggebenden Versammlung bildeten die Sozialdemokraten). Das sozialdemokratische Bildungsparadigma, das vor allem den Kindern von Bauern und Arbeitern qualitätsvolle Bildung zugänglich machen wollte, war grundlegend für viele bildungspolitische Entscheidungen in den 1920er Jahren und erzielte bedeutende Erfolge nicht nur mit Blick auf die hohen Alphabetisierungsraten während der ersten Phase der Unabhängigkeit, sondern auch mit Blick auf das hohe Prestige, das Bildung unter allen Schichten der Bevölkerung genoss. Bildung als Motor für soziale Emanzipation war ein wichtiges Argument für die Entwicklung des Bildungssystems in der Republik Lettland in den 1920er Jahren. Nach dem politischen Coup von Kārlis Ulmanis (1934), der eine autoritäre Diktatur errichtete, wurde das Paradigma der Nationsbildung abgewandelt und erhielt neue ideologische Elemente sowie einen starken Fokus auf Disziplin. Die ideologischen Kernelemente des Ulmanis-Regimes – Einheit, Nationalismus, Verherrlichung von körperlicher Arbeit und besonders des bäuerliche Lebensstils – spiegelten sich im Lehrplan der Schulen ebenso wider wie in den Massenveranstaltungen, die unter Ulmanis inszeniert wurden – dem epischen Lied der Wiedergeburt (Adzimšanas dziesma), Erntefesten und Arbeiterfesten. Das Ministerium für Öffentlichkeit, das die staatliche Ideologie kontrollierte, veranstaltete nun auch die Sängerfeste – eine eigene traditionsreiche Institution, die sich zuvor auf eine gesellschaftliche Initiative gegründet hatte. Die Teilnahme von Schülern an ideologischen Aktivitäten, auch an Massenfesten, wurde gefördert und erwartet. Die staatliche Förderung von Minderheitenschulen wurde ausgesetzt. Parallel zum Paradigma der Nationsbildung blühte in den Jahren der Ulmanis Diktatur das sozialkonservative Bildungsparadigma auf. Das Konzept der Priorität von Pflichten vor Rechten, die Notwendigkeit, das individuelle Streben nach Freiheit den gemeinsamen Zielen der Nation zu unterwerfen, und die Einführung einer strengen Disziplin waren wichtige Bestandteile des lettischen Bildungssystems in den 1930er Jahren. Das Wesen der sozialkonservativen Umgestaltung der lettischen Schulen unter Ulmanis lässt sich besonders gut anhand des etwas übertriebenen Falls des Vorzeigewaisenhauses in Pleskodāle (einer Vorortregion von Riga) veranschaulichen. Als ein klassisches Heim für Jungen aus armem Hause, 1919 anstelle einer vorher dort angesiedelten deutschbaltischen Einrichtung für ›schwierige‹ Kinder gegründet, hatte Pleskodāle in den frühen 1930er Jahren Probleme mit der Lerndisziplin, so wurde jedenfalls berichtet. Die Regierung Ulmanis nahm sich der Situation an – und Mitte der 30er Jahre wurde die vierjährige Grundschule einem System ständiger unnachsichtiger Überwachung von Arbeit und Lernen der Schü-

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ler unterworfen, mit etwas weniger rigoroser Behandlung der Schüler mit den Bestnoten (1. Kategorie), und geradezu haftartigen Lebensbedingungen für Schüler mit den schlechtesten Noten (5. Kategorie). Das Land um die Schule herum war in Parzellen aufgeteilt, die von den Schülern einzeln bearbeitet werden mussten. Die Mitwirkung an Gartenausstellungen war Pflicht und Bestandteil des Bewertungsprozesses. Die besseren Schüler durften an Ausflügen und geführten Exkursionen teilnehmen. Auch eine Mazpulki Organisation (als Teil einer nationalen Organisation für Kinder und Jugendliche vom Land, die, von Ulmanis nach einem US-amerikanischen Vorbild gegründet, landwirtschaftliche Arbeit und Disziplin unterrichtete) hatte ihren Sitz in Pleskodāle. Der größte Teil der Schlüsselelemente der Ulmanis-Version des Nationsbildungsparadigmas – abgesehen vom Nationalismus an sich – überlebte und wurde ganz offen im lettischen Bildungssystem während der Sowjetokkupation verwendet. Die Sowjetideologie integrierte erfolgreich viele Charakteristika, die für die lettischen Schulen seit den 1930er Jahren typisch gewesen waren. Der Austausch der Führerportraits von Ulmanis zu Stalin bedeutete nicht, dass sich das ideologische Vokabular der ›Erziehung‹ radikal verändert hätte. Die Betonung der Unterordnung von persönlichen Zielen unter die des ›Volkes‹ blieb das ideologische Rückgrat der Indoktrinierung, verbunden mit dem neuen Verweis auf die besondere Rolle der kommunistischen Partei. Ähnliche oder identische Mittel der Massenindoktrination wurden verwendet – Massenfeste zur Verherrlichung von körperlicher Arbeit, staatliche ideologische Kontrolle der Sänger- und Tanzfeste, an denen die Schuljugend teilnahm. Sogar die massenhafte Verwendung derselben ikonographischen Elemente (Kränze aus Kornähren, lachende Jugendliche und Mädchen in Trachten, Strahlen der aufgehenden Sonne etc.), die sich in den Schulbüchern von den 1930er bis zu den 1950er Jahren und darüber hinaus fanden, zeugen von einer eigenartigen Kontinuität von den autoritären zu den totalitären Traditionen im Bildungssystem. Gleichzeitig ersetzten die sowjetischen Formen von Jugendorganisationen – Pioniere und Komsomol – die bisherigen eher freieren Formen der Zusammenschlüsse (z.B. Mazpulki und Pfadfinder) und verbanden sie ebenso wie auch die pädagogischen Institute, an denen die Lehrer ausgebildet und die Lehrmethoden entwickelt wurden, mit den Strukturen auf Unionsebene. Jeder Tätigkeitsbereich im sowjetisch-lettischen Bildungssystem war strikten zentralen Kontrollen unterworfen. Die Leitlinien für die Erziehung wurden von der Zentralregierung in Moskau entwickelt und dem gesamten Schulsystem ein höheres Maß an Vereinheitlichung auferlegt. Nach Olena Fimyar (die die Erinnerungen an das sowjetische Bildungssystem anderweitig untersuchte) kann »jeder, der die sowjetische Schule durchlaufen hat, sich daran erinnern, wie wirksam und allmächtig die Sowjetideologie in der Schule war.«1 Die Schädlichkeit dieses Paradigmas allein auf die Ideen des Kommunismus (aus dem letti1

Fimyar, O.: Five conversations about the ‘Soviet’. In: Paul Smeyers, David Bridges, Nicholas C. Burbules, Morwenna Griffiths (Hrsg.): International Handbook of Interpretation in Educational Research. Dordrecht 2015, S. 1513.

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schen Bildungssystem nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit längst entfernt) zurückzuführen, wäre jedoch irreführend – es war zunächst und vor allem ein etatistisches, kollektivistisches Paradigma, das Einheitlichkeit propagierte. Sein Erbe ist noch immer in einigen Elementen des Bildungssystems erkennbar, so wenn Lehrer, die im sowjetischen System ausgebildet wurden, gelegentlich noch immer lehrerzentrierte, autoritäre pädagogische Praktiken und strafende Formen der Bewertung verwenden, indem sie Schüler vor der Klasse vorführen. Ein weiteres Merkmal des sowjetischen Bildungssystems in Lettland war die sogenannte asymmetrische Sprachbeherrschung, da von den meisten Absolventen der lettischsprachigen Schulen erwartet wurde, dass sie die russische Sprache einwandfrei beherrschten, während von den Absolventen der russischsprachigen Schulen weniger häufig erwartet wurde, dass sie die lettische Sprache beherrschten (und auch die Zahl der Stunden, die dafür im Lehrplan zur Verfügung stand, war begrenzt). Weniger intensiv als der ideologische Schaden durch das Sowjetsystem wurde das sogenannte wissens-technokratische Paradigma diskutiert, das die Aneignung von Wissen als wichtiger erachtete als den Lernprozess an sich und die persönlichen Entwicklungsbedürfnisse der Schüler und das die Bildungspolitik und die Erziehungspraxis in Lettland stark beeinflusste. Entgegen der Annahme einiger theoretischer Untersuchungen zum Übergang von der sowjetischen zur postsowjetischen Erziehung endete der Einfluss dieses Paradigmas keineswegs in den 1990er Jahren. Nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit beflügelte das schülerzentrierte humanistische Paradigma zwar einige Reformen (z.B. die freie Fächerwahl in den letzten Schuljahren, die sich stärker nach den individuellen Interessen und Neigungen der Schüler richten sollte), doch blieb das alte technokratische Paradigma lange Zeit Grundbestandteil bildungspolitischer Bestrebungen, wie sogar noch der Lehrplan für die Elementarbildung von 2014 zeigt, der nach wie vor der bloßen Reproduktion von Wissen den Vorrang gab. Im Jahr 2016 bildete eine neue Reform, die auf die Einführung eines kompetenzbasierten Lehrplans zielte, den ersten entscheidenden, das ganze Bildungssystem umfassenden Versuch einer Abkehr vom wissensreproduzierenden, lernmechanischen, lehrerzentrierten Paradigma. Ein eher schülerzentrierter Ansatz wird nun allmählich eingeführt, in Kombination mit einer konzeptionellen Wende zum Lernen als Entwicklung individueller Kompetenzen. Auch das sozialkonservative Paradigma tauchte nach der Erlangung der Unabhängigkeit vorübergehend wieder auf. Im Zusammenhang mit dem Aufkommen sozialkonservativer Ideen seit den 1980er Jahren zielten die konservativen Interessensgruppen auf die Wiedereinführung einer ideologischen Kontrolle des Fortpflanzungsverhaltens und der Einhaltung der Geschlechterrollen mittels der Erziehung. Diese Versuche haben jedoch bislang nur einen recht oberflächlichen Einfluss auf das lettische Bildungssystem ausgeübt; als einzig greifbaren Beweis eines geringen Erfolgs kann man die sogenannten ›Zensuranhänge‹ des Bildungsgesetztes nennen, die die Lehrer verpflichten, eine ›moralisch gesunde‹ Bildung zu gewährleisten (2015). Dies ist ein symbolisches Echo auf den Versuch, ›mora-

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lisch schädliche‹ Materialien in Schulen zu verbieten, darunter jeglichen Zugang von Schulkindern zu Informationen über Genderfragen einschließlich LGBT. Die Verbotsforderung selbst wurde vom lettischen Parlament zurückgewiesen. Obwohl der Sozialkonservativismus noch immer eine starke Lobby im lettischen Bildungssystem hat, kann man seine Bedeutung kaum mit der zentralen Rolle der Religion etwa in Polen oder Russland vergleichen, wenn es darum geht, die Beachtung sozialkonservativer Werte einzufordern. Lettische Schulen sind vornehmlich säkular. Mit der Wiedererlangung der politischen Freiheit wurde schließlich das multikulturelle Erziehungsparadigma von einigen Lehrern und Schulen positiv aufgenommen. Mit der Unterstützung des Open Society Institute von George Soros wurden Schlüsseltexte zur multikulturellen und bilingualen Erziehung ins Lettische übersetzt, die die Voraussetzung für die Einführung von bilingualer Erziehung in Minderheitenschulen schufen, überwiegend in russischsprachigen Schulen, die noch aus der Sowjetzeit stammten. Internationale Geldgeber wie das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen und die Regierungen der Vereinigten Staaten und Schwedens stellten bedeutende finanzielle Hilfen zur Entwicklung von bilingualen Erziehungsmethoden und entsprechender Lehrerausbildung zur Verfügung. Der ursprüngliche Reformplan für die Minderheitenschulen ging davon aus, dass bilinguale Bildung nur eine temporäre Lösung sei, und sah einen vollständigen Übergang zur lettischen Unterrichtssprache vor. Nach heftigen Protesten von Lehrern, Eltern und Schülern der russischsprachigen Schulen im Jahr 2004 wurde jedoch ein Kompromiss erarbeitet, der bilinguale Bildung als ein mehr oder weniger dauerhaftes Element im lettischen Bildungssystem absicherte. Während einer Übergangsphase, die vom Ende der 1990er bis zum Jahr 2004 dauerte, wurde das Konzept der multikulturellen Bildung sowohl von den Gegnern des Übergangs zum Lettischen als einziger Unterrichtssprache als auch von den Reformern, die sich ein Ende der Ausnahmeregelung für »russische« Schulen und eine Verstärkung der Rolle der lettischen Sprache als sozialen Kitt wünschten, instrumentalisiert. Einige Lehrer an Minderheitenschulen gaben bei Unterrichtsbesuchen der Inspektoren vor, bilingual zu unterrichten, während sie tatsächlich noch einige Zeit lang ausschließlich auf Russisch unterrichteten, was die Wissenschaftlerin Iveta Silova als »bilinguales Bildungstheater« bezeichnete. Nach und nach zeigten jedoch die Bemühungen zur Lehrerumschulung durch das Lettische Sprachtrainingsprogramm (später Lettische Sprachagentur) Erfolg und ermöglichten eine echte bilinguale Erziehung. Die »russischen« Schulen bleiben zwar als soziales Phänomen bestehen (die meisten Schüler aus russischsprachigen Familien gehen noch immer auf Minderheitenschulen mit Programmen in russischer Sprache), aber die bilinguale Erziehung hat die monolinguale Erziehung erfolgreich abgelöst. Trotz der politischen Anfangsschwierigkeiten kann die Einführung der bilingualen Erziehung als ein Erfolg des lettischen Bildungssystems gewertet werden – die Beherrschung des Lettischen durch Schüler mit russischer Muttersprache hat sich signifikant verbessert, während ihre akademischen Leistungen denen der Schüler lettischsprachiger Schu-

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len entsprechen. Nichtsdestoweniger sieht sich das multikulturelle Paradigma in der Bildung weiterhin starker und bisweilen unfairer Kritik der politischen Rechten ausgesetzt, die behauptet, dass die Nationsbildungsfunktion des Bildungssystems um ein vielfaches wichtiger sei, und die auf den bisher (recht offensichtlichen) Mangel an politischer Integration der russischsprachigen Minderheit in die lettische Mehrheitsgesellschaft verweist. Diese kurze Zusammenfassung sollte die häufigen und heftigen Ausschläge des ideologischen Pendels in der Bildungsgeschichte Lettlands seit 1918 illustrieren. Aufgrund der permanenten Konflikte zwischen diesen ideologischen Paradigmen hat sich das lettische Bildungssystem – sowohl während der ersten Phase der Unabhängigkeit als auch seit deren Wiedererlangung 1991 – nie geradlinig entwickelt, sondern es hat ständig verschiedene Wege eingeschlagen, die teils zum Erfolg, teils aber auch zum Scheitern geführt haben. Trotzdem ist man versucht zu behaupten, dass sich das lettische Bildungssystem seit der Aufnahme in die Europäische Union im Jahr 2004 teilweise stabilisiert und bedeutende Fortschritte hin zu einem vorläufigen Konsens über Ziele und Werte von Bildung gemacht hat. Der stabilisierende Einfluss kam ausgerechnet von einer Seite, die oft beschuldigt wird, lokale Bindungssysteme zur untergraben und zu destabilisieren, nämlich von der Globalisierung. Seit dem EU-Erweiterungsprozess sah sich Lettland ständig angespornt, die Entwicklung seines Bildungssystems anhand der gemeinsamen Maßstäbe der Europäischen Union zu bewerten, während es gleichzeitig vom Zugang zu Mitteln der EU profitierte. Viele Bildungsbereiche wurden mit Hilfe finanzieller Anreize der EU reformiert. Dies betrifft in jüngsten Jahren vor allem die Einführung des Europäischen Semesters (und die daran geknüpfte Bedingung für den Erhalt von EU Mitteln) und deren Auswirkungen auf die Reform der Hochschulbildung und der beruflichen Bildung. Der Wunsch, der OECD beizutreten, hatte ebenfalls eine umfassende Begutachtung des Bildungssystems zur Folge und bot einen weiteren Vergleichsrahmen für bildungspolitische Maßnahmen. Schon vor dem OECD-Beitritt hatte Lettland an der Internationalen Schulleistungsstudie PISA teilgenommen, doch nachdem das Land Mitglied der OECD geworden war, hat das Interesse der Politiker und anderer Akteure am Abschneiden des Landes im PISA-Vergleich stark zugenommen. Insgesamt hatte also der Einfluss der Globalisierung im allgemeinen und der europäischen Integration im besonderen einen stabilisierenden Effekt: In der Auseinandersetzung mit einer Reihe von klar definierten Kriterien der EU und später der OECD hat das lettische Schulsystem vielleicht sein bislang höchstes Leistungsniveau erreicht. Die lettischen Schüler schneiden im Schnitt sehr gut in Mathematik und den Naturwissenschaften ab, und die Abweichungen sind eher geographischer als sozioökonomischer Natur (laut PISA Studie gibt es einen Qualitätsunterschied zwischen den städtischen und den ländlichen Schulen). Diese geographisch begründeten Abweichungen sind zumindest theoretisch leichter zu beheben. Vor allem aber gibt es zum ersten Mal den politischen Willen, die Voraussetzungen für höhere Leistungen der Schüler als einen Wert an sich zu verbessern, und dies könnte zu besseren Lernbedingungen insgesamt führen.

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Auch die Entwicklung der Wissenschaft hatte in Lettland im zwanzigsten Jahrhundert ihre Höhen und Tiefen; die Fortschritte in den ›exakten‹ Wissenschaften waren jedoch aufgrund einiger besonderer Faktoren deutlich größer. Bevor wir auf diese eingehen, ist es jedoch notwendig, eine Unterscheidung zwischen zwei Erscheinungen vorzunehmen – der Entwicklung einer akademischen institutionellen Infrastruktur und der Entstehung einer Forschungs- oder Wissenschaftsgemeinschaft. Im zwanzigsten Jahrhundert hat es in Lettland große Fortschritte in der Entwicklung einer Infrastruktur für die Wissenschaft gegeben, während die Entfaltung einer Wissenschaftsgemeinschaft jedoch einige Male unterbrochen wurde. Die erste Hochschule, die systematische Forschung betrieb, war das 1882 gegründete Rigaer Polytechnikum. Bis die Universität Lettlands 1918/19 gegründet wurde, hatte sich in Verbindung mit den akademischen Gemeinschaften Europas und besonders der deutschsprachigen Länder bereits eine starke Tradition naturwissenschaftlicher Forschung und eine bedeutende lokale Ausbildungsstätte für Ingenieure herausgebildet. In relativ kurzer Zeit hatte diese Tradition die Voraussetzungen für die schnelle Entwicklung von Disziplinen wie der Physik, der Physikalischen Chemie, der Organischen Chemie sowie der Mathematik und diverser anderer angewandter Fachrichtungen in Lettland geschaffen. Der zeitliche Abstand zwischen den ersten lettischen Akademikern im 19. Jahrhundert und dem Star der Quanteninformationstheorie Andris Ambainis ist um knapp zwei Drittel kürzer als der zeitliche Abstand zwischen der Gründung der Royal Society und dem Auftreten von Stephen Hawking. Dies illustriert, dass Lettland ein viel größeres Feld in viel kürzerer Zeit abdecken musste. Es hat dabei sehr gut abgeschnitten, wenn auch mit einigen Schattenseiten. Politische Unruhen bildeten den Hauptstörfaktor für die lokale Wissenschaftsgemeinschaft im zwanzigsten Jahrhundert. Emigration während der beiden Weltkriege, noch mehr Emigration am Ende des Zweiten Weltkriegs infolge der Sowjetokkupation, die politisch gesteuerte Umsiedlung der Deutschbalten nach Deutschland in den 1930er Jahren sowie die Repressionen während des ersten Jahrzehnts der Sowjetherrschaft waren die Ursachen für den Verlust vieler Wissenschaftler und ihrer Studenten. Das »Brain-drain« setzte sich nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit fort, wenn auch vielleicht in geringerem Umfang. Einige russischsprachige Wissenschaftler verließen Lettland oder stellten ihre Forschungen ein, während die Mittelknappheit und Fehler der Regierungspolitik dazu führten, dass viele lettische Doktoranden an westlichen Universitäten in den folgenden Jahrzehnten nicht zurückkehrten. Trotzdem hat sich die Wissenschaftsgemeinschaft im letzten Jahrzehnt durch bedeutende Fortschritte in den »exakten« Wissenschaften bis zu einem gewissen Grade erholt. Mindestens zwei Faktoren wären hier zu nennen, die dazu entscheidend beigetragen haben – eine entwickelte Infrastruktur und die Öffnung der »exakten« Wissenschaften hin zur Internationalisierung. Im Gegensatz zur Wissenschaftsgemeinschaft konnte sich die wissenschaftliche Forschungsinfrastruktur auch nach den Unterbrechungen durch die Weltkriege weiterentwickeln. Die Sowjetregierung stand der Wissenschaft durchaus

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positiv gegenüber, sofern sie ihren industriellen und militärischen Zielen diente. Dies bedeutete, dass weiterhin in die Forschungsinfrastruktur investiert wurde und die Wissenschaftler an den Instituten, nun laut einer passenden Formulierung von Valters Nollendorfs »regimentsweise« unter dem Dach der Akademie der Wissenschaften organisiert, vom Zugang zu dieser Infrastruktur profitieren konnten. Andererseits wurde die Wissenschaftsgemeinschaft jedoch durch die Zuordnung zu streng voneinander getrennten Disziplinen und durch den beschränkten Zugang zu internationalen Kontakten und Austausch stark behindert. Dieser Zustand war besonders nachteilig für die Geisteswissenschaften, in denen die Wissenschaftler aus ideologischen Gründen keinen Zugang zu internationaler Fachliteratur erhielten. Ganz aktuell haben die Naturwissenschaften in Lettland einen großen Schub durch die Förderung mit EU-Mitteln erhalten, die in die Erneuerung der Infrastruktur investiert wurden, und die Wissenschaftler sind nun auf dem Weg, ihre Kollegen im restlichen Europa allmählich einzuholen. Man sollte jedoch vorsichtig damit sein, den Erfolg zu überschätzen, denn die Anzahl der von internationalen Experten begutachteten (peer reviewed) Publikationen ist im allgemeinen noch gering, jedenfalls deutlich niedriger als im benachbarten Estland und in Litauen, und laut einer Untersuchung der Hochschulbildung und Forschung aus dem Jahr 2013 schneidet Lettland auch im Bereich der Innovation nicht gut ab (Technopolis). Doch ist das Abschneiden in den naturwissenschaftlichen Disziplinen vergleichsweise besser als in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen, in denen eine relative Stagnation zu beobachten ist. Es gibt einen Grund für die Unterschiede in der Entwicklung der Disziplinen. Die fruchtbarsten Zeiten für lettische Forscher waren diejenigen, die sich durch größere Offenheit und Internationalisierung auszeichneten, was kaum verwunderlich ist, da sich Wissenschaft in der Regel international entwickelt. Nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit haben sich die Geisteswissenschaften jedoch mehr mit nach Innen gerichteter Forschung beschäftigt und dabei hauptsächlich nur die Werke anderer lettischer Wissenschaftler rezipiert. Das gesamte Förderprogramm für die Geistes- und Sozialwissenschaften lief auch in den politischen Dokumenten vor allem unter der Rubrik »Programm zur nationalen Identität«. Der durch diesen eng begrenzten Rahmen geförderte Mangel an gegenseitiger Befruchtung durch die internationale Forschung hat zu einem vergleichsweise geringen Interesse an internationalen Forschungsdebatten geführt und dementsprechend auch nur zu einer relativ geringen Zahl von Publikationen, die von internationalen Fachleuten begutachtet waren. Sprachanforderungen, die davon ausgingen, dass staatlich geförderte Bildungsprogramme nur von Dozenten mit hervorragender lettischer Sprachfertigkeit unterrichtet werden sollten, haben die Möglichkeit, internationales Personal zu berufen, weiter eingeschränkt. Die Investitionen in die Geistes- und Sozialwissenschaften sind konstant niedrig geblieben, was kombiniert mit ihren eingeschränkten Fähigkeiten, international konkurrenzfähige Forschungsleistungen zu erbringen, einen Teufelskreis darstellt.

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Bislang haben die sogenannten harten Wissenschaften, die exakten oder naturwissenschaftlichen Disziplinen das gesamte Potential der steilen Entwicklungskurve der lettischen Wissenschaftsgemeinschaft für sich ausgeschöpft. Dies ist bis zu einem gewissen Grade logisch – mit wenigen Leuten und geringen Mitteln muss man Prioritäten setzen. Ein solches Ergebnis ist jedoch der Qualität der öffentlichen Debatte über politische und soziale Fragen nicht zuträglich, weil dann innovative und gut begründete Argumente aus der akademischen Gemeinschaft fehlen. Die Regierungspolitik trägt einen guten Teil der Verantwortung für das »Aushungern« der Geisteswissenschaften, aber über das Widerstreben der Wissenschaftler, die vollen Vorteile der Internationalisierung zu nutzen, darf nicht einfach hinweggesehen werden. Die Politik des Erhaltens und des Bewahrens, die die Geisteswissenschaften dominiert hat, hat letztlich nur dazu geführt, den status quo der Periode mit den geringsten Fördermitteln – den der 1990er Jahre – zum Nachteil der Geisteswissenschaften bis weit in die 2010er Jahre hinein zu konservieren. Ungeachtet dieser Sorge sind die Aussichten für die »exakten« Wissenschaften in Lettland vergleichsweise hervorragend, da ihre Fähigkeit, im internationalen Wettbewerb um Erfolge und Förderung mitzuhalten, die für die weitere Entwicklung unabdingbar ist, allmählich wächst. Die Aussichten für das Hochschulwesen im allgemeinen sind weniger glänzend, da Lettland im Verhältnis zu seiner Bevölkerung von knapp zwei Millionen viel zu viele Hochschulen unterhält und diese um relativ geringe Mittel konkurrieren. Im Jahr 2015 wurden einige wichtige Schritte mit Blick auf die Hochschulpolitik unternommen: So wurde eine neue unabhängige Akkreditierungsagentur für Studiengänge eingerichtet und ein neues Finanzierungsmodell für die Hochschulen eingeführt. Als noch entscheidender dürften sich jedoch politische Maßnahmen erweisen, die darauf abzielen, die internationale Konkurrenzfähigkeit der Forschungseinrichtungen zu erhöhen, wenn die Mittelzuweisungen in Zukunft steigen. Es ist teuer, ein Staat mit einer fortschrittlichen Wissenschaftsgemeinschaft zu sein, aber es besteht die Aussicht, dass Lettland ein solcher Staat bleibt.

Helēna Demakova

Nationale Identität, Religion und Kultur Das Lettland von heute schöpft seine Kraft aus vielfältigen historischen und kulturellen Wurzeln, tiefgreifenden politischen Ereignissen und einer ganz besonderen Natur, die Land und Leute über Jahrhunderte geprägt hat. Diese Aussage mag als Selbstverständlichkeit erscheinen, doch fällt ihr ganz besondere Bedeutung zu, wenn wir uns der vielen verlorenen Welten erinnern, die in unserem Land im letzten Jahrhundert oder erst kurze Zeit vor der Gründung der Republik buchstäblich ausradiert wurden. So ist es mit der harmonischen Welt der ehemals deutschbaltischen Gutshäuser geschehen. Die zu ihnen führenden Alleen und sie umschließenden Felder, ganze Gebäudekomplexe mit ihren Seen und Weihern verkörperten das ausgewogene Zusammenspiel einer vollendeten Kulturlandschaft. Diese Welt ging in der schonungslosen Revolution des Jahres 1905 und in der Brutalität des Ersten Weltkriegs unter. Davon verschont geblieben sind jedoch die von Deutschbalten errichteten Hansestädte. Dies gilt für Riga, aber auch für weitere Städte in Livland und Kurland wie Kuldīga (Goldingen), Straupe (Groß-Ropp), Cēsis (Wenden) und andere, in denen man bis heute auf die Ruinen mittelalterlicher Befestigungen stößt. Das Panorama der Stadt Riga beeindruckt mit seinen historischen Bauten. Die markanten Türme überragen in der Altstadt mittelalterliche Gebäude wie das Schloß des Deutschen Ordens, in der heute der Staatspräsident seinen Sitz hat, oder die Bürger- und Gildenhäuser. Spätere Epochen hinterließen ebenfalls ihre Spuren in der Altstadt von Riga. Unübersehbar ist etwa das für die sozialistische Periode typische Hochhaus der heutigen Akademie der Wissenschaften im Stil des »Stalinbarocks«. Dennoch ist dieses Panorama bis heute in seiner ästhetischen Homogenität wunderschön. Die Aufnahme in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes schützt seit 1997 das historische Zentrum der Stadt Riga. Ein 2003 verabschiedetes Gesetz soll überdies in besonderem Maße dafür sorgen, dass dieses Erbe für die nachfolgenden Generationen bewahrt wird. Vor allem die Architektur der imposanten Rigaer Gotteshäuser ist prägend für das Flair der Altstadt. Die Teilrestaurierung des Doms zu Riga wurde 2015 abgeschlossen. Die St.-Petri-Kirche wurde schon in der Sowjetzeit wiedererrichtet. Zu den besuchenswerten Gotteshäusern der Altstadt gehören aber auch die evangelische St.-Johannis-Kirche, die anglikanische Kirche St. Saviour, die römisch-katholische Maria-Magdalena-Kirche und die St.-JakobsKathedrale. Im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereicherten mächtige und mondäne Gebäude der Neoklassik und des Jugendstils an den neu angelegten Boulevards das Antlitz Rigas. Unverwechselbar ist dabei die Handschrift von Michael

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Eisenstein (des Vaters des berühmten russischen Regisseurs Sergei Eisenstein) in den von ihm geschaffenen Jugendstilfassaden. Zur selben Zeit entwickelten die Rigaer Architekten lettischer Herkunft ihre eigene Richtung des Jugendstils, die dem Geist der nationalen Romantik entsprang. Der Jugendstil ist neben der teilweise sehr gut erhaltenen Holzarchitektur ein Erbe dieser Stadt, das als besonderer Schatz und typisches Attribut Rigas selbst im 21. Jahrhunderts beeindruckt. Die Epoche des Russischen Kaiserreichs hinterließ im 18. und 19. Jahrhundert manchenorts in Lettland die für das Zarenreich charakteristischen Befestigungen und Waffenarsenale. Dass die südöstliche Region Lettgallen dauerhaft katholisch und teilweise auch orthodox geprägt war, ist auch an der Architektur dieser Region deutlich zu erkennen, zu deren Meisterwerken die barocken Gebäude von Pasiena (Posin), Krāslava (Kraslau) und Aglona (Aglohn) gehören. Als Teil des russischen Gouvernements Witebsk standen die Bewohner Lettgallens in einer vom übrigen Lettland ganz verschiedenen architektonischen Tradition, die sich in einer markanten Bauweise und in einer hellblauen, grünen oder expressiv ziegelroten Kolorierung der Holzgebäude äußerte. Mit einer weiteren untergegangenen Welt sollte man sich in ganz besonderer Weise befassen, nämlich mit den verlorenen jüdischen Schtetl in ganz Lettgallen samt ihren Synagogen, Kleingeschäften und Wohnhäusern. Diese Welt ging im Zweiten Weltkrieg vollständig unter. Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs bemühte sich der Diktator Kārlis Ulmanis intensiv darum, der Stadt Riga ein ganz neues Aussehen zu verpassen. In dieser Zeit entstanden in Riga die monumentalen Gebäude, deren Geschwister überall (und auch in der Sowjetunion) als Inbegriff des internationalen autoritären Stils der dreißiger Jahre zu finden sind. Dies gilt in Riga etwa für den 1938 vollendeten Justizpalast, in dem heute das Ministerkabinett seine Sitzungen abhält, und das 1940 teilweise fertig gestellte Finanzministerium. Ein Erbe des Ulmanis-Regimes waren in ganz Lettland auch die sogenannten Volkshäuser (manchenorts auch Schutzkorps- oder Versammlungshäuser genannt), um die herum sich aktive Chor-, Tanz- und Theatergesellschaften gebildet hatten. Zur Sowjetzeit wurden daraus »Kulturhäuser«, deren Zahl – nun mit einem unpersönlichen sowjetischen Äußeren – landesweit noch weiter zunahm. Dort sollte sich die Arbeiterschicht in den sogenannten Amateurkünsten üben. Der Zweite Weltkrieg, Deportation und Emigration zerstörten große Teile der historischen Kulturlandschaft. Dem Krieg fielen offenbar absichtlich so wunderschöne Städte wie etwa Jelgava (Mitau) und Rēzekne (Rositten) oder die Innenstadt von Valmiera (Wolmar) vollständig zum Opfer. Nach der erzwungenen Kollektivierung begann die Sowjetregierung in den sechziger Jahren, überall in Lettland öde und unansehnliche Kolchoswohnblocks zu bauen, in die die Letten aus ihren Bauernhöfen zusammen mit den vielen aus der Sowjetunion herbeigeholten Arbeitern angesiedelt wurden. So verfielen die alten Bauernhöfe zusehends. Zu einem besonders abstoßenden Beispiel des sowjetischen staatlichen Vandalismus wurde die stillschweigend geduldete Zerstörung des Großen Friedhofs

NATIONALE IDENTITÄT, RELIGION UND KULTUR

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von Riga, als über die Gräber hinweg eine Straße gebaut wurde. Wegen der zahlreichen Grabstätten deutschbaltischer Rigenser wurde dieser Friedhof von den Einheimischen auch als Deutscher Friedhof bezeichnet. Ähnlich verheerend war das Schicksal der Gotteshäuser im ganzen Land, die zu Lagerhäusern umfunktioniert wurden. So wurde beispielsweise die St.-Meinhards-Kirche in Ikšķile (Uexküll) – der Ort, an dem Bischof Meinhard am Ende des 12. Jahrhunderts die ersten Liven getauft hatte – zu einem Nebenlager der Staatlichen Vilis-Lācis-Bibliothek (der heutigen Nationalbibliothek). Ein Großteil der übrigen Kirchen wurde einfach ausgeraubt und ihrem Verfall überlassen. Dank einer Gruppe von Gleichgesinnten gelang es jedoch, wenigstens einen Teil dieser Atlantis für die nachkommenden Generationen zu retten. So organisierten freiwillige Experten aus dem Museum des Schlosses Rundāle (Ruhenthal) mit dem heutigen Museumsdirektor Imants Lancmanis an ihrer Spitze seit Anfang der sechziger Jahre Expeditionen zu den zerstörten Schlössern, Gutshäusern und Kirchen, wo sie die dort aufgefundenen Kunstwerke (Gemälde, Skulpturen, Möbel und sogar ganze Altäre) dokumentierten und erfassten, die sie dann zur Aufbewahrung in das Museum des Schlosses Rundāle brachten. Nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums verschwanden zunächst die Lenin-Statuen, von denen es landesweit mehr als fünfzig gab, von sämtlichen öffentlichen Plätzen, aus den Parkanlagen und vom Gelände der großen Industrieunternehmen. Dasselbe galt für die Bildnisse der Kommunarden auf der alten Esplanade der Stadt Riga sowie für andere ideologische Relikte dieser Zeit. Bei den Kommunarden handelte es sich um insgesamt 27 auf der Esplanade beigesetzte Kämpfer, die 1919 im Einsatz für das damalige Sowjetregime gefallen waren und denen zu Ehren die Esplanade nach dem Zweiten Weltkrieg in den Kommunardenplatz umbenannt und 1950-1952 neu gestaltet worden war. Auf diesem Platz war eine besonders große Zahl von Skulpturen ehemaliger kommunistischer Führer versammelt. Nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit gab sich der lettische Staat mit dem Bau kultureller Mittelpunkte selbst ein neues Gesicht. Hier sind vor allem die Lettische Nationalbibliothek und die Konzerthäuser in Liepāja (Libau), Cēsis und Rēzekne zu nennen. Das vom amerikanischen Architekten lettischer Herkunft Gunnar Birkerts (Gunārs Birkerts) errichtete Gebäude der Lettischen Nationalbibliothek trägt als Zeichen der lettischen Liebe zu Metaphern den Namen »Lichtpalast«. Es ist ein mächtiger und moderner Bau auf dem linken Ufer des Flusses Daugava (Düna). Seine Bedeutung als geistiges und kulturelles Zentrum des Landes ist geradezu mit Händen zu greifen. Dieses architektonische Meisterwerk ist jedoch das Ergebnis eines langen und dornigen Weges. Der Bau wurde erst 2014 errichtet, ganze 24 Jahre nach der ersten Skizze von der Hand des großen Architekten. Die Widerstände, die für dieses Projekt zu überwinden waren, waren beispiellos in der lettischen Kulturgeschichte. Zu den Gegnern gehörten die Populisten unter den Politikern, die Mehrheit der Medien und jene vielen Banausen , denen kulturelle Werte völlig fremd sind und von denen es offenbar unter den Rigensern kaum weniger gibt als anderswo.

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Bei der Betrachtung der architektonischen Schöpfungen des wieder unabhängigen Landes, die der Kultur gewidmet sind, darf man nicht außer Acht lassen, welch großes Verdienst hier der Förderung durch die Europäische Union zukommt. Nur dank diesen aus Solidarität gewährten Mitteln erhält die lettische Bevölkerung Schritt für Schritt ihre wunderschönen Kirchen, auch Synagogen, Gutshäuser und Schlösser zurück. Die wieder hergerichteten Kulturdenkmäler in den Städten und auf dem Land gehören zu den größten Errungenschaften der jüngsten Unabhängigkeitsperiode. Kultur ist jedoch in Lettland stets und unter jeder Herrschaft der vergangenen 100 Jahre von besonderer Bedeutung gewesen, wenn auch das konkrete Verhalten gegenüber dem historischen Erbe unter den verschiedenen Regimen unterschiedlich ausgefallen sein mag. Diese besondere Bedeutung der Kultur ist einerseits ein Zeugnis der grundsätzlichen Haltung der Bevölkerung, sie spiegelt sich andererseits aber auch in den politischen Beschlüssen der verschiedenen Regime wider, die auf ihre Art alle die Kultur gestärkt und fortentwickelt haben. Bei der Definition der Kultur beginnt man meist mit den Bräuchen, den zwischenmenschlichen Beziehungen und der Lebensart. Die Letten neigen dazu, sich selbst als Eigenbrötler zu sehen, die lediglich zu den großen Sängerfesten zusammenkommen, während sonst eine durchaus charakteristische Zurückhaltung zwischen ihnen herrscht. Sie feiern insbesondere Friedhofsfeste und empfinden das Freiheitsdenkmal im Zentrum Rigas als eine architektonische und künstlerische Höchstleistung, als nationales Heiligtum. Das Parlament der Republik Lettland verfasste 2016 eine Präambel zum historischen Verfassungstext von 1922. Danach wird »die Identität Lettlands im europäischen Kulturraum seit Urzeiten durch die lettischen und livischen Traditionen, die lettische Volksweisheit, die lettische Sprache sowie allgemeinmenschliche und christliche Wertvorstellungen« geprägt. Der Begriff der Volksweisheit wird jedoch bereits seit dem Ende der dreißiger Jahre unter den Bewunderern von Folklore und folkloristischen Ornamenten intensiv diskutiert. Diese Diskussionen waren jedoch nie sehr ergiebig. Bis heute ist es offen geblieben, was der Begriff eigentlich meint. Etwas böswillig gefragt: Soll er etwa auch die bei den Letten so beliebte Gartenpflege umfassen? Oder etwas kultivierter: Soll er das Verständnis dafür bezeichnen, dass die von Krišjānis Barons gesammelte rund eine Million lettischer Dainas – der mündlich überlieferten lettischen Volksgedichte – einen Schlüssel zur lettischen Weltanschauung liefern? Es mag sein, dass der lettischen Identität eine Art Durchhaltevermögen in Verbindung mit einer hohen Anpassungsfähigkeit zugrunde liegt, die dann um einige Rituale ergänzt werden, die so bei kaum einem anderen Volk zu entdecken sind. So verschenken die Letten beispielsweise stets Blumen, ob an einen Freund an seinem Geburtstag, an einen Künstler zu seiner Ausstellungseröffnung oder an einen Schauspieler zur Premiere oder auch an die Lehrer zum jährlichen Schulanfang im September. Doch das älteste Ritual, das vom größten Teil des Volkes akzeptiert wird, ist das Mittsommerfest, das jedes Jahr auf den Tag nach der Sonnenwende fällt. Dieses Fest bezeichnet man in Lettland als Līgo oder auch Kräu-

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terabend, an dem Kränze aus Eichenzweigen und Wiesenblumen geflochten werden, die Räume mit Bäumen und Gräsern geschmückt sowie Johanniskäse, reichlich mit Kümmel gewürzt, und Speckpiroggen mit Bier verzehrt werden. Das Zentrum der Feierlichkeiten bildet ein großes Feuer, um das herum getanzt wird und über das die Waghalsigsten auch gerne springen. Doch erst die Dainas verleihen diesem Fest seinen Inhalt, denn jeder Lette kennt die charakteristischen Līgo-Dainas wie auch viele andere Volkslieder. Früher liefen die Familien von Haus zu Haus und sangen für die Nachbarn, von denen sie dann mit reichlich Festessen belohnt wurden. Zu Mittsommer kommt auch jeder Mann zum Zuge, der den Namen Jānis trägt, denn der auf den Līgo-Abend folgende Johannistag ist stets sein Namenstag. Dieses Fest wird meistens in seiner ursprünglichen Form begangen, wenn man auch immer wieder solche jüngeren Neuerungen aus der Sowjetzeit erlebt wie den Schaschlikrost neben dem traditionellen Kümmelkäse oder die Schlager aus dem Radiogerät anstelle der Dainas. Zu den Erfahrungen der Sowjetzeit gehört aber auch der Versuch, die Mittsommerfeierlichkeiten zu verbieten, ein Versuch, der zugleich die Grenzen der Sowjetmacht aufzeigte, da sich das Verbot dieser alten Volkstradition als nicht durchsetzbar erwies. Im Zentrum des lettischen kulturellen Selbstverständnisses steht jedoch das große Sänger- und Tänzerfest. Dieses Fest fand in Lettland – angeregt von der deutschen Chorgesangstradition – zum ersten Mal im Jahr 1873 statt. Seitdem sah sich kein politisches Regime in der Lage, den regelmäßigen Turnus dieses Festes zu unterbrechen. In der sowjetischen Besatzungszeit gehörte jedoch der Pflichttribut an die Partei, Lenin und die sowjetische Völkerfreundschaft zum Repertoire. Als eine bedeutende, von breiten Massen getragene kulturelle Manifestation, die zugleich einen hohen künstlerischen Wert durch die Pflege des Acapella-Gesanges besitzt, wurde das Sänger- und Tänzerfest 2003 in die Liste des immateriellen UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen. Das Fest hat insgesamt 25 Mal stattgefunden, was etwa einem Fünf-Jahre-Turnus entspricht. Zu diesem Fest kommen Zehntausende Chorsänger und Tänzer sowie traditionsbewusste Volkskunsthandwerker zusammen. Den Dirigenten des großen Sängerfestes gilt die größte Hochachtung der gesamten Bevölkerung. Das wichtigste Lied des gesamten Festes ist für viele Letten »Wehe, Windchen!«, das sowohl von den Sängern auf der großen Bühne des Sängerfests als auch vom gesamten Publikum gesungen wird. Dabei handelt es sich eigentlich um ein recht trauriges, gedämpftes Singen mit einem erhebenden Finale als Zeichen für den unabhängigen lettischen Charakter. Dieses Lied hat seinen Ursprung in den livischen Hochzeitsbräuchen, fand im Laufe der Zeit Eingang in die lettische Folklore und gilt nun als eines der lettischen Volkslieder. Der lettische Dichterfürst und Politiker Rainis ließ sich sowohl vom Namen als auch von der Handlung des Liedes »Wehe, Windchen!« inspirieren. So entstand 1914 in seinem schweizerischen Exil das gleichnamige Theaterstück, das im Laufe der vergangenen gut hundert Jahre immer wieder aufgeführt wurde. Zum Zeitpunkt der Staatsgründung befand sich der Dichter fern von seiner Heimat. Er und seine Lebensgefährtin, die Dichterin Aspazija, kehrten erst 1920 nach

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einem insgesamt fünfzehnjährigen Exil in der Schweiz zurück. Die Dichtung und die Dramaturgie von Rainis bildeten eines der wichtigsten Fundamente der lettischen Literatur. Sie gehörten ohne Rücksicht auf die jeweiligen Herrschaftssysteme der letzten hundert Jahre stets zur selbstverständlichen Pflichtlektüre an lettischen Schulen. Politisch stand Rainis klar links (er war Mitglied der Sozialdemokratischen Partei, zeitweilig auch Mitglied des Parlaments und Bildungsminister). Er galt als einer der geistigen Führer der Revolution von 1905 und wurde wegen seiner politischen Ansichten und journalistischen Tätigkeit vom zaristischen Regime verfolgt, was ihn ins Exil zwang. Viele seiner so lyrischen und ausdrucksvollen Reime aus seinem vorrevolutionären Schaffen lernten die Menschen auswendig. Seine Gedichtsammlungen »Entrückte Stimmungen an einem blauen Abend« (1903) und »Die Saat des Sturmes« (1905) fanden eine begeisterte Leserschaft. Die Bühnendichtung von Rainis zeichnete sich durch eine sehr monumentale, dennoch feine poetische Sprache aus, die sich zahlreicher Symbole aus der Geschichte, der Mythologie und dem Leben des Volkes bedient. Rainis behandelte in seinen Werken die großen Themen der westlichen Literatur und brachte durch die gemeinsam mit Aspazija übersetzten klassischen Werke der Weltliteratur dem lettischen Volk das Erbe der europäischen Kulturnationen näher. Die Lage Lettlands an einem Kreuzungspunkt des europäischen kulturellen und politischen Koordinatensystems markieren in besonderer Weise die Lebensläufe der beiden bedeutenden lettischen Bildhauer Kārlis Zāle und Teodors Zaļkalns. Während ihrer Schaffenszeit in Russland bis zum Anfang der 20er Jahre beteiligten sie sich erfolgreich an der Umsetzung des kommunistischen Plans für monumentale Propaganda, was offenbar keineswegs der Tatsache widersprach, dass sie später zur deutschen Avantgarde gerechnet wurden. Danach kehrten sie in ihre Heimat zurück, um hier wirklich Großes zu bewirken. Man sieht anhand dieses Beispiels sehr deutlich, wie nachhaltig die beiden Nachbarn – Deutschland und Russland – die lettische Kulturlandschaft im Laufe der Geschichte beeinflusst haben. Demgegenüber erfolgte die Staatsgründung als ein klarer Bruch, nach dem Lettland seine eigenen Wege in der kulturellen Entwicklung suchte und sich selbst teilweise sogar als Gegenüber der beiden großen Kulturvölker verstand. Seit der Gründung der Republik Lettland wurde verständlicherweise das Nationale besonders gewürdigt, was in den dreißiger Jahren einen Höhepunkt erreichte. Das besondere Lettische wurde damals zum Wesensmerkmal und Deutungsmaßstab aller kulturellen Entwicklungen. Dabei spielte die enge Naturverbundenheit und der Fleiß des Volkes eine zentrale Rolle. Lettland kann harte und sehr weiße Winter erleben, nach denen die bezaubernde Frische des Frühjahrs, die tiefgrünen Sommer und die goldene Herbstzeit für einen Ausgleich sorgen. So bemüht sich die unberührte Natur Lettlands mit ihren tiefen Wäldern, von Menschen unveränderten weißen Stränden, Seen- und Moorlandschaften, Wiesen und Naturschutzgebieten, der als lettischen Schicksalsstrom bezeichneten Daugava, den malerischen Flüssen Gauja, Venta, Salaca, Lielupe und Ogre,

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die hier angedeuteten Verluste an Kulturlandschaft zu überwinden. Diese Pracht der Natur bildet die Grundlage für die Bildersprache des lettischen Gesangs, der Dichtung, Literatur, Malerei und sogar des Films der vergangenen hundert Jahre. Der Geburt des Staates folgte im Jahre 1919 die Gründung zahlreicher Kulturinstitute, die bis heute eine bedeutende Rolle spielen. Zum ersten Rektor der Lettischen Kunstakademie wurde einer der Begründer der lettischen Malerei Vilhelms Purvītis. Sein Name steht für einen künstlerischen Blick auf die Landschaften Lettlands, der fast eine kanonisierende Wirkung entfaltet hat: Purvītis beeinflusste Generationen von Künstlern wie auch die breite Öffentlichkeit in ihrer Wahrnehmung der malerischen Frühjahrsszenen mit den Tauwasserfluten auf Wiesen und Feldern, den vielfach reflektierenden Birkenhainen und Färbungen des Herbstes. Vilhelms Purvītis war ein umtriebiger Kunstschaffender. Neben seiner Stellung als Professor und Rektor übernahm er auch die Leitung des Rigaer Städtischen Kunstmuseums (des heutigen Nationalen Kunstmuseums) als dessen erster Direktor. Unter seiner Führung erlebte die lettische Kunst in den zwanziger und dreißiger Jahren zahlreiche bedeutsame Ausstellungen im Westen. Der Lebensweg von Purvītis endete 1944 in Deutschland, wo er Zuflucht gesucht hatte. Fast zur selben Zeit ging ein Großteil seiner Werke beim Angriff auf Jelgava in Flammen auf. In Deutschland ist auch ein weiterer Begründers der lettischen Malerei begraben, der sehr empfindsame Kolorist Johann Walter, der bereits in den 30er Jahren verstorben war. Das neue Konservatorium (heute die Lettische Musikakademie) leitete als erster der Komponist Jāzeps Vītols. Seine Chorlieder gehören zu den größten Schätzen der lettischen Musik, und viele Teilnehmer von Sängerfesten empfinden das Singen des von Vītols komponierten Chorhymnus »Lichtpalast«, der auf einer Dichtung von Auseklis (eines der Mitglieder der sog. Jungletten, einer lettischen Intellektuellenbewegung des 19. Jahrhunderts) beruht, stets als einen der erhabensten Momente im Verlauf des Sängerfestes. Diese beiden außergewöhnlichen Persönlichkeiten – sowohl Vilhelms Purvītis als auch Jāzeps Vītols – erhielten ihre Ausbildung und begannen ihr Schaffen in Russland. Im weiteren Verlauf ihres Lebens war dann ihr künstlerisches Wirken in der Malerei und Musik um so stärker national geprägt. Ein weiterer institutioneller Grundpfeiler der nationalen Kultur Lettlands in den vergangenen hundert Jahren war auch die Lettische Nationaloper, die ebenfalls 1919 gegründet und – das ist die herrschende Meinung – mit dem »Tannhäuser« von Richard Wagner eröffnet wurde. Die Nationaloper befindet sich am Rande der Altstadt im bereits 1863 errichteten neoklassizistischen Bau des Ersten Städtischen Theaters, das im 18. Jahrhundert als das Deutsche Theater gegründet wurde. Einer der Höhepunkte der lettischen Operninszenierungen des 21. Jahrhunderts war die unkonventionelle, fast avantgardistische Aufführung des vierteiligen Opernzyklus »Der Ring des Nibelungen« von Richard Wagner, der einst ( 1836-1839) Kapellmeister in Riga gewesen war. Das Rigaer Schloss dient seit 1918 nicht nur als Sitz des Staatspräsidenten, sondern auch als Sitz des Nationalen Historischen Museums, das seine Wurzeln in

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der umfassenden ethnographischen und archäologischen Sammlung des 1869 gegründeten Wissenschaftlichen Ausschusses des Rigaer Letten Vereins hat. Diese Sammlung entstand als Gegenpol zu den deutschbaltisch geprägten Museen, um den Letten ein eigenes Bild ihrer Geschichte zu vermitteln. Es soll nicht verschwiegen werden, dass einige der aus Lettland stammenden Größen der weltweiten Kultur erst nach dem frühen Abschied von ihrer Heimat – kurz vor oder nach der Gründung der Republik – zum Höhepunkt ihres Schaffens gelangten. Dazu gehören Isaiah Berlin, Mark Rothko, Sergei Eisenstein oder Gustavs Klucis. Sie wählten West oder Ost. So zogen Eisentein und Klucis in Richtung Sowjetrussland, doch sie sind teilweise – sinnbildlich gesprochen – in ihren Werken wieder heimgekehrt: Dank einer bereits zur Sowjetzeit durch die Frau von Gustavs Klucis erfolgten Schenkung befinden sich heute rund 400 seiner Werke im Lettischen Nationalen Kunstmuseum. In der Heimatstadt von Rothko Daugavpils (Dünaburg) wurde 2013 ein beeindruckendes und bereits international renommiertes Mark-Rothko-Zentrum eröffnet, das einige seiner Originalwerke beherbergt. Seit 2009 feiert man jährlich in Riga den Isaiah-Berlin-Tag mit einer umfangreichen internationalen Konferenz. Im Rückblick auf die Ursprünge der lettischen Staatlichkeit lohnt es sich, sich mit den zwanziger Jahren als einer Zeit der besonderen Blüte des gesellschaftlichen Pluralismus, des Theaters und der Kunst zu beschäftigen. Der Pluralismus manifestierte sich vor allem in einer tiefgehenden religiösen Toleranz. In den vergangenen hundert Jahren waren die zahlenmäßig stärksten christlichen Gemeinden die der Lutheraner, Katholiken und Orthodoxen. Man darf jedoch die jüdischen chassidischen und litwakischen Gemeinden nicht unerwähnt lassen. Daneben waren auch weitere religiöse Gruppen wie die Zeugen Jehovas, Baptisten und viele andere aktiv. Der Katholizismus in Lettgallen hatte in seiner durch das Polnisch-Litauische Reich geprägten Form die dortigen Letten vor der Russifizierung bewahrt. Für die lettischen Katholiken ist die römisch-katholische Basilika der Himmelfahrt der Allerheiligsten Jungfrau Maria in Aglona (Aglohn) von höchster Bedeutung. Diese Wallfahrtskirche beherbergt die berühmte, von den Dominikanern geschenkte Ikone, die eine von Gold umrahmte Gottesmutter zeigt. Jährlich pilgern Zehntausende aus der ganzen Welt zu diesem internationalen katholischen Heiligtum, um dort jeweils am 15. August gemeinsam das Fest Mariä Himmelfahrt zu begehen. Diese Tradition wurde auch nicht durch ein sowjetische Verbot unterbrochen. Überdies ruhen hier seit 1993 die sterblichen Überreste des in Sowjetrussland gefolterten und nach Sibirien verschleppten Bischofs Boļeslavs Sloskāns, der 1981 im belgischen Exil verstorben war. In den zwanziger und dreißiger Jahren genoss das Luthertum inoffiziell den Status der lettischen Staatsreligion, wobei die Kirche und der Staat rechtlich getrennt waren. Die evangelisch-lutherische Kirche spielte auch eine wichtige Rolle bei der Zusammenführung der Letten im westlichen Exil nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die orthodoxe Kirche ordnete sich in der ersten Unabhängigkeitsperiode dem Patriarchen von Konstantinopel unter. Nach der sowjetischen Okkupation wurde ein die lettische orthodoxe Kirche recht erniedrigender

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»Akt der Reue« in Moskau inszeniert, wonach diese nun erneut dem Patriarchat von Moskau angegliedert wurde. Das besondere Privileg des Lettischen als einer der Liturgiesprachen wurde jedoch beibehalten. Der orthodoxe Erzbischof Jānis Pommers wurde 1934 ermordet und dieser Mord ist bis heute nicht aufgeklärt worden. Als einziger unter den Christen in Lettland und als einziger Lette wurde er 2001 als »Heiliger Märtyrer Jānis von Riga« heiliggesprochen. Eine herausragende Persönlichkeit des Judentums weist eine wichtige Verbindung zu Lettland auf. Dank des damaligen Parlamentsmitglieds von der ultraorthodox-jüdischen Agudat-Jisra’el-Partei Mordechai Dubin gelang es 1927, den späteren Rebbe Menachem Mendel Schneerson aus der sowjetischen Gefangenschaft in Russland zu befreien und nach Lettland zu bringen. Unter Überwindung weiterer Hindernisse in den Kriegswirren konnte der Rebbe in die USA fliehen, wo er bis zu seinem Lebensende blieb. Die Schilderung des Pluralismus und der Toleranz im Lettland der zwanziger Jahre wäre unvollständig, wenn man das so vielseitige Russische Theater nicht erwähnen würde. Einen herausragenden Beitrag zur kulturellen Szene leisteten auch die seit 1919 in Riga erscheinende liberale russischsprachige Zeitung »Segodnija« (Heute). Sogar nach dem Staatsstreich von Ulmanis blieb diese Zeitung ungeschoren, und sie erschien bis zur sowjetischen Besetzung 1940. Sie verfügte über ein breites internationales Korrespondentennetz und übte außerordentlichen Einfluss auf das russische Exil in ganz Europa aus. Der europäische Modernismus erwies sich als fruchtbarer Nährboden für die kulturelle Blüte im Lettland der ersten Unabhängigkeitsperiode. Zahlreiche herausragende Künstler hielten sich zeitweilig in Paris auf. In der lettischen Malerei dieser Zeit spiegeln sich deutlich die Einflüsse der Ecôle de Paris wider. Die »Rigaer Künstlergruppe« sorgte für regelmäßige Überraschungen beim Publikum. Romans Suta, Jēkabs Kazaks, Jāzeps Grosvalds sind nur einige der vielen Modernisten, die enge Beziehungen nach Paris unterhielten oder die junge französische Kunst studierten. Dem Pariser Kubismus, Expressionismus oder Fauvismus verliehen die lettischen Künstler weichere, intimere und harmonischere Formen, die sich damit dem für die Letten so wichtigen Moment der »Stimmung« annäherten. Auch das Design, darunter vor allem das industrielle Design, erlebte eine Blüte. Weltweit bekannt sind sowohl die in Riga bei der Firma »VEF« entworfene und hergestellte Miniaturkamera »Minox« als auch die ebenfalls dort produzierten Radiogeräte. Eine besondere Erscheinung im Design der 30er Jahre waren die mit Ornamenten aus der Volkskunst oder mit mythologischen Motiven dekorierten Inneneinrichtungen und Gebrauchsgegenstände. Ein besonderer Platz im Herzen der Letten gehörte stets der Theaterkunst. Das bezieht sich sowohl auf das professionelle als auch auf das Amateurtheater. Wenn wir die Betrachtung der lettischen Theatergeschichte mit den professionellen Bühnen beginnen, dann entstammten diese Einrichtungen den ursprünglichen Gründungen aus den beiden großen Nachbarkulturen der Deutschen und der Russen. Nach dem bereits erwähnten Deutschen Theater wurde 1902 das Zweite

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Städtische Theater bzw. das Russische Theater eröffnet. 1918 wurde in dessen Gebäude die Republik Lettland ausgerufen, und ein Jahr später ließ sich dort das Lettische Nationaltheater nieder. Die Kritiker mögen über die Leistung der Theater in den vergangenen hundert Jahren unterschiedlicher Meinung sein, aber eines war immer unbestritten: Das 1901 verfasste Werk »Die Schneidertage in Silmači” des lettischen Schriftstellers, Dichters und Dramaturgen Rūdolfs Blaumanis ist bis heute das mit Abstand beliebteste und am häufigsten aufgeführte Theaterstück Lettlands. Es wurde auf verschiedenen Bühnen gespielt, doch gehört es zum Ritual, dass es im Juni eines jeden Jahres kurz vor dem Mittsommerfest mehrfach am Lettischen Nationaltheater aufgeführt wird. Das galt auch für die Sowjetzeit, als das Haus noch Drama-Theater hieß. Bei diesem Stück handelt es sich um eine am Mittsommerabend spielende Geschichte. Witzig und zugleich wehmütig wird das Zusammenleben einer Bauernsippe mit verschiedenartigen Charakteren aller Generationen gezeigt: Einer wohlhabenden Bäuerin, einer armen Magd, unglücklicher Liebe, unbotmäßigen Halbwüchsigen usw.. Alles nimmt jedoch ein gutes Ende mit gleich drei Hochzeiten an einem schönen Mittsommerabend. Das Lettische Nationaltheater war keineswegs die einzige lettische Theatertruppe. Bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahm das ursprüngliche Lettische Theater von Riga seinen Betrieb im Rigaer Letten Verein auf. Dieses Haus professionalisierte sich zusehends. Besonders hervorzuheben ist auch das im Jahre 1920 gegründete Theater Daile. Hier waltete der große lettische Regisseur Eduards Smiļģis, der sein Schaffen bis in die Sowjetzeit fortsetzte, indem er in den sechziger Jahren monumentale, expressive, vom Pathos durchdrungene heroische Stücke aufführen ließ. Er war in der internationalen klassischen Dramaturgie und in der Welt von Rainis zu Haus. Das Jahr 1927 wurde zu einem Meilenstein in der Entwicklung des lettischen Verlagswesens, als mit dem Druck des Lettischen Konversations-Lexikons begonnen wurde. Dieses Werk wurde jedoch durch die Besetzung 1940 unterbrochen und nie vollendet. Im Vor-Internetzeitalter waren die Letten sehr eifrige Leser und liebten ihre Schriftsteller und Dichter. Anfang des 20. Jahrhunderts fanden sowohl Aleksandrs Čaks, der so eindrücklich seine Stadt Riga besang, als auch der Meister der edelsten Formen Jānis Sudrabkalns und viele andere Dichter ihre Verehrer. In den dreißiger Jahre machte sich relativer Wohlstand breit, und die Mehrheit der Letten leistete keinen Widerstand gegen den von Kārlis Ulmanis 1934 durchgeführten Staatsstreich. Die Bevölkerung hatte die Streitigkeiten zwischen den Parteien satt. Sie begrüßte den Aufschwung des Nationalismus und den angestrebten Protektionismus sowie die Pflege der Kultur durch die Regierung. Die meisten Intellektuellen, Dichter und Künstler ordneten sich den Regeln des diktatorischen Regimes unter: Der Führer wurde gepriesen und in Stein gehauen. Das ländliche Leben mit seinem Arbeitsrhythmus und der Verbindung zur Natur bildeten von nun an die zentrale Achse der Staatsideologie. Das von Edvarts Virza 1933 verfasste Prosapoem »Straumēni” über einen Großbauernhof des gleichen

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Namens brachte die Quintessenz dieser Epoche auf den Punkt. Stilistisch befand sich die Kunst der dreißiger Jahre im Einklang mit ähnlichen ausländischen Strömungen, die sich in der Wiederkehr der neoklassizistischen und realistischen Formen abbildeten. Mitte der dreißiger Jahre gab es jedoch auch besondere kulturelle Ereignisse in Lettland, die das Leben der nachfolgenden Generationen maßgeblich beeinflussen sollten. Dabei verwischten sich auch die Grenzen zwischen dem eigentlich kulturellen Charakter solcher Ereignisse und ihrer gesellschaftspolitischen Wirkung. Dies trifft z.B. auf die Enthüllung des Freiheitsdenkmals 1935 und die Fertigstellung des bildhauerischen Ensembles des Soldatenfriedhofs am Großen Rigaer Friedhof zu. Für beide Werke steht der Name des Bildhauers Kārlis Zāle. Auch die Entwicklung des Kinos erfasste die gesamte Gesellschaft. Ende der dreißiger Jahren feierte das Publikum den Spielfilm «Fischersohn” nach den Motiven des gleichnamigen Romans von Vilis Lācis. Im Rückblick auf die Zeit der Diktatur seit 1934 ist insgesamt festzustellen, dass zwar jeder Diktatur uneingeschränkte Verachtung gelten sollte, dass jedoch die »Zeiten von Ulmanis« (wie diese Diktatur von den Letten bis heute häufig bezeichnet wird) im Kontrast zu dem, was nach 1940 folgte, zu einer geradezu nostalgischen Erinnerung im Zeichen eines ausgeprägten Nationalbewusstseins geführt haben, das den Letten während beider Besatzungen Rückhalt und Zuversicht vermittelt hat. Das galt sowohl für die Letten im westlichen Exil als auch für die in Sowjetlettland. Der Zweite Weltkrieg und der Einmarsch der Nationalsozialisten bedeuteten keinen unbedingten Bruch im Kulturleben der Letten. Die Oper blieb in Betrieb, es wurden Gedichtbände verlegt und Musik komponiert. Beim Einmarsch der Wehrmacht floh jedoch ein Teil der linken Intellektuellen in die Sowjetunion. Die neuen Machthaber wurden andererseits von denen begrüßt, die bereits von den Schrecken des stalinistischen Terrors und der Massendeportation vom 14. Juni 1941 betroffen worden waren. Eine der eigentümlichen Kulturwelten Lettlands ging bereits kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs unter. So verließen 1939 Zehntausende von Deutschbalten, eigentlich die gesamte deutschbaltische Bevölkerung, Lettland.1 Man kann nicht behaupten, dass die Beziehungen zwischen den Letten und Deutschbalten über die Jahrhunderte hinweg immer einfach gewesen wären, doch Lettland war die Heimat dieses großen Kulturvolkes, und gerade die Deutschbalten verkörperten gewissermaßen die abendländische Kultur in Lettland. Nicht alle bedeutenden Deutschbalten verließen Lettland erst 1939: Schon ein Jahr zuvor fand beispielsweise der herausragende Komiker, Musiker und Filmschauspieler Heinz Erhardt seinen Weg nach Deutschland. In Lettland verblieb und verstarb dagegen 1944 der angesehene Humanist, Politiker und Publizist Paul Schiemann, bei dem die junge Jüdin, spätere Filmwissenschaftlerin Valentina Freimane Zuflucht gefunden und so den Krieg überlebt hatte. 1

Vgl. dazu auch den Beitrag von B. Conrad in diesem Band, S. 50.

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Nicht nur die Flucht nach Osten oder die Massendeportationen lichteten die Reihen der lettischen Kulturschaffenden. Noch nachteiliger wirkte sich die Emigrationswelle 1944/45 in den Westen aus. Verleger und Schriftsteller, Komponisten und Sänger und viele andere besonders namhafte Vertreter ihrer Berufe kehrten ihrer Heimat den Rücken. Das kulturelle Leben der Letten verlagerte sich nach Stockholm und Münster, Toronto und Chicago und viele andere Orte auf der ganzen Welt und wurde dort von lettischen Gemeinden und Vereinen vorbildlich organisiert. Ihr Schaffen setzten der Romanist Anšlavs Eglītis, die Dichterin Veronika Strēlerte und die Maler Kārlis Neilis und Augusts Annuss in der Fremde fort, um nur einige aus der großen Zahl der Emigranten zu nennen. Noch als Kind siedelte auch die später weltberühmte Malerin Vija Celmiņa um, die nun in New York zu Hause ist. Ihr Lebenswerk wurde vom lettischen Publikum in einer umfassenden Ausstellung 2014 gefeiert, als Riga Europäische Kulturhauptstadt war. In den fünfzig Exiljahren wuchs eine neue Generation von Schriftstellern und Dichtern heran, wurden Bücher herausgegeben und Theaterstücke aufgeführt. Auch die Tradition der Sängerfeste wurde nicht unterbrochen. Die lettischen Chöre und Tanzvereine bereiteten sich auf allen Kontinenten auf das regelmäßig stattfindende große Fest irgendwo auf der Welt vor. Bis heute lebt diese Tradition auch im Ausland fort, da die alte Exilgemeinde durch die aktuelle Wirtschaftsemigration mittlerweile sogar noch gewachsen ist. Nach dem Einmarsch der Roten Armee und der Begründung der sowjetischen Herrschaft 1940 herrschte Zensur, und der Sozialistische Realismus wurde allen künstlerischen und literarischen Bereichen aufgezwungen. Das Volksleben, die Treue zur Partei und die Völkerfreundschaft wurden zu Leitbegriffen dieses Stils. Im Grunde handelte es sich um pseudo-realistischen Kitsch, der in primitiven Ausdrucksformen das herrschende System pries. Als die Wehrmacht 1944 abgezogen war und die Rote Armee zum zweiten Mal in Lettland einfiel, wiederholte sich das Sowjetisierungsszenario, diesmal aber mit weit größerem Nachdruck. Die Kulturschaffenden wurden zwangsweise in verschiedene Verbände (für Schriftsteller, Künstler, Komponisten) eingegliedert. Von diesen Organisationen mussten dann die individuellen »Arbeitspläne« der Künstler gebilligt werden. Ohne Mitgliedschaft im jeweiligen Verband war jegliches öffentliches künstlerisches Wirken untersagt. Nach außen wahrten diese Vereine einen demokratischen Anschein, doch waren Moskau, das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Lettischen SSR und der KGB diejenigen, die die Arbeit dieser Institutionen prägten. Die Zensur sichtete sämtliche Druckvorlagen von Büchern und Zeitungen und prüfte vorab jeden Ausstellungsplan. Die begabten und anerkannten Schriftsteller Vilis Lācis und Andrejs Upīts, der Dichter Jānis Sudrabkalns sowie weitere Kulturschaffende arbeiteten mit dem Besatzungsregime vom ersten Tag an zusammen. Informationen über die westlichen kulturellen Strömungen drangen nun kaum noch nach Lettland durch. Lediglich über die Samisdat-Veröffentlichungen2 oder die Sender »Voice of Ame2

«Selbstverlag”- bzw. Untergrundliteratur.

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rica«, »Radio Liberty«, »Deutsche Welle« und »Radio Luxemburg« fanden westliche Einflüsse ihren Weg nach Lettland. Diese Informationen waren sowohl auf Lettisch als auch auf Russisch verfügbar. In den Paketen der Verwandtschaft im Exil kamen bisweilen nicht nur Jeans, sondern auch die Platten von den »Beatles« und anderen Bands durch den Eisernen Vorhang. Die Unterstützung der sowjetischen Herrschaft durch einen Großteil der Kulturschaffenden war nachvollziehbar. Sie beruhte nicht zwingend auf einem Anpassungsinstinkt oder karrierebewusstem Opportunismus. Hunderte von Intellektuellen waren schon unter der Ulmanis-Diktatur links oder kommunistisch orientiert gewesen. Diese ehemaligen Linken bildeten den Kern der Kollaborateure. Nicht minder wichtig war der Einfluss der russifizierten Letten, die den stalinistischen Terror in Sowjetrussland überlebt hatten und nun zusammen mit den anderen Einwanderern eifrig dabei halfen, das besetzte Lettland in eine Sowjetrepublik umzuwandeln, in der das öffentliche Leben vollumfänglich von Moskau aus gesteuert werden sollte. Es ist noch keine gründliche Aufarbeitung des sowjetischen Kulturlebens in Lettland erfolgt; dies gilt im Grunde auch für alle anderen Aspekte der sowjetischen Besatzungszeit. Die KGB-Archive sind weiterhin unter Verschluss, und es fand keine Lustration statt. Man kann heute lediglich über einzelne Persönlichkeiten, ihr Talent oder den Umfang ihrer Kollaboration diskutieren und versuchen, wenigstens das zu beschreiben, was von der Sowjetmacht streng zurückgewiesen oder verboten wurde. Der zeitliche Abstand ist jedoch noch zu gering und die ehemalige Nomenklatura wirkt spürbar nach, was eine differenzierte Sicht auf die Vergangenheit verhindert. Das religiöse Leben erlosch in der Sowjetperiode nicht vollständig. Die übrig gebliebenen Gemeinden, die ihre Kirchen aktiv verteidigten, konnten ihren Status zumeist beibehalten und entrichteten sogar eine Abgabe an das stalinistische Regime. Zur Geschichte der Kirchen gehören aber auch Repressalien gegen einzelne Geistliche, wovon alle Konfessionen ausnahmslos betroffen waren. Ein Teil der Geistlichen wurde als Informanten der Staatssicherheit angeheuert, wobei dieses Blatt der Geschichte noch nicht ausreichend erforscht worden ist. Die Orthodoxen wurden durch die neuen Herrscher besonders erniedrigt. Eine der vier ihrer Hauptkirchen wurde in den sechziger Jahren in das »Republikanische Haus des Wissens« mit einem Planetarium und einem angegliederten Café umgewandelt. Dort befand sich jedoch auch ein kleiner Ausstellungsraum, der in den siebziger Jahren zu einer Keimzelle der jungen aufstrebenden und westlich orientierten Kunst avancierte. Das Café wurde gerne von einem ausgesprochen kreativen Publikum frequentiert, das dieses Lokal unter sich als »Gottesohr« bezeichnete. Die russisch-orthodoxe Gemeinde erhielt bereits zu Beginn der neunziger Jahre ihre Kirche zurück. Den Status als religiöse Kultstätte verlor auch der Dom zu Riga, der an die Bedürfnisse eines Konzertbetriebs angepasst wurde. Die St.-Jakobs-Kathedrale fungierte jedoch weiterhin als das Zentrum des römisch-katholischen Lebens in Lettland. Das Katholische Priesterseminar in Riga war die einzige Bildungseinrichtung dieser Art in der Sowjetunion. Seit 1966 gab es in Riga die deutsche evan-

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gelisch-lutherische Jesus-Kirche, die vom Pfarrer und späteren Bischof Haralds Kalniņš geleitet wurde, der maßgeblich zur Begründung weiterer deutscher Gemeinden in der gesamten Sowjetunion beigetragen hat3. Die Synagogen verschwanden während der Nazibesatzung buchstäblich vollständig. Während der Sowjetzeit blieb lediglich die Synagoge in der Peitavas iela in der Altstadt von Riga durchgehend intakt. Zur Praxis der sowjetischen Zensur gehörte auch die Bildung sogenannter Sonderfonds. So wurden in der Staatlichen Vilis-Lācis-Bibliothek viele Bücher ebenso wie im Kunstmuseum viele Kunstwerke als schädlich für die sowjetische Gesellschaft eingestuft und für fünf Jahrzehnte vor der Öffentlichkeit verborgen. In diesen »Giftschränken« lagerten auch die aus dem Westen erworbenen Bücher, die nur von einzelnen Experten mit KGB-Genehmigung eingesehen werden durften. Ein weiteres Merkmal der sowjetischen Periode war die umfangreiche Russifizierung im Kulturbereich, wobei hier den Leitern der jeweiligen Kultureinrichtungen eine besondere Rolle zufiel. Während die Stellenbeschreibungen im Kunstmuseum auch auf Russisch verfasst wurden, bestand die Leitung der Vilis-Lācis-Bibliothek streng auf der lettischen Sprache als Hauptverständigungssprache. Repressalien gegen die Kulturschaffenden waren sehr verschiedenartig und komplex, sie nahmen aber nach dem Tod Stalins 1953 ab und verloren schrittweise ihren brutal gewaltsamen Charakter. Noch 1951 wurden mehrere Künstler, Dichter und Übersetzer – Kurts Fridrihsons, Elza Stērste, Maija Silmale und andere – wegen angeblicher Opposition, die in Wirklichkeit eine tiefe Liebe zur französischen Kultur und Kunst war, nach Sibirien verschleppt. Sie hatten sich gegenüber dem Regime nichts zu Schulden kommen lassen, sondern trafen sich lediglich einmal in der Woche, um sich über französische Literatur und Kultur auszutauschen. Ein solches Verhalten wurde in den sechziger Jahren nicht mehr unter Strafe gestellt. Zu Beginn der sechziger Jahre gründeten sechs junge Künstler – Imants Lancmanis, Ieva Šmite (später Lancmane), Bruno Vasiļevskis, Maija Tabaka, Jānis Krievs und Juris Pudāns – eine neue informelle »Französische Gruppe«, ohne sich jedoch so zu bezeichnen. Sie interessierten sich für das Kultur- und Kunsterbe, französische Filme und Chansons, die auch in der Sowjetunion verfügbar waren. Im Verlauf der Jahre avancierte Imants Lancmanis zu einem Kunsthistoriker europäischen Formats und leitete ab 1964 das Museum Schloss Rundāle (Ruhenthal), das unter seiner Führung mittlerweile vollständig restauriert worden ist. Eine weitere beeindruckende Facette seiner Tätigkeit ist seine postmoderne und historisierende Malerei. Auch der Maler Bruno Vasiļevskis hielt stets einen weiten Abstand zu den offiziellen Hierarchieordnungen und entwickelte seine einzigartige, in einem metaphysischen Realismus wurzelnde theoretisch begründete künstlerische Handschrift. Sein Werk »Mein Pass« gab Anlass zu zahlreichen intellektuellen Spekulationen. Der Vorwurf, er habe sich dem Regime angepasst, ist jedoch unbegründet, da er das malte, was sein priva3

Vgl. dazu auch den Beitrag von D. Bleiere in diesem Band, S. 104.

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tes Umfeld betraf, und dieses private Umfeld war frei von jeglichen Einflüssen des sowjetischen Regimes. Die Übernahme der Parteiführung durch Nikita Chruschtschow hatte keine »frühlingshaften« Auswirkungen auf die lettische Kunst. Die junge »Französische Gruppe« wurde nur unter der Voraussetzung geduldet, dass sie sich nicht für französische Avantgarde interessierte. Jeden, der ein solches Interesse öffentlich gezeigt hätte, hätte eine harte Strafe getroffen. Trotz der hoffnungsvollen Veränderungen in den sechziger Jahren wurden mehrere Literaten wegen ihrer Verstöße gegen die vorgeschriebenen Normen schwer bestraft. Noch 1962 wurde der außergewöhnlich talentierte Dichter Knuts Skujenieks zur Lagerhaft in Sibirien verurteilt. Ende der sechziger Jahre und Anfang der siebziger Jahre erhielt die Dichterin Vizma Belševica ein Veröffentlichungsverbot, was sowohl mit ihren Gedichten als auch mit ihrem gesellschaftlichen Engagement begründet wurde. Nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit wurde sie mehrfach für den Literatur-Nobel-Preis nominiert. Der Gedichtband »Jahresringe« (1969) von Vizma Belševica löste ein Beben aus, da die Zensoren erkannten, dass im Gedicht »Die Notizen von Heinrich von Lettland am Rande der Livländischen Chronik« anstelle des päpstlichen Rom das (sowjetische) Moskau karikiert wurde. Die Dichterin beschreibt dort Rom als »eine eifersüchtige Ehefrau«, die Treue und Unterwerfung verlangt. Bei den Lesern kam die Regimekritik natürlich sofort an. Dieses Gedicht steht beispielhaft für die versteckten Ausdrucksformen, die den einzigen Weg für die Werke eigenständig denkender Künstler in die Öffentlichkeit darstellten. Alle begabteren Dichter (Uldis Bērziņš, Leons Briedis, Imants Ziedonis, Ojārs Vācietis) bedienten sich der äsopischen Sprache und spielten ihr Katz-und-Maus-Spiel mit den sowjetischen Zensoren. Sowohl in der Literatur als auch in der Regie »schrieb« man »zwischen den Zeilen«, wobei man sich zahlreicher verschlüsselter Texte und Metaphern bediente. Der größte Teil der Bevölkerung entschlüsselte sie. Die Gedichte wurden in riesigen, heute unvorstellbaren Auflagen gedruckt, die Menschen verlangten schlicht nach Poesie. Der Massencharakter war aber auch ein gewisser Eigenzweck des sowjetischen Kulturbetriebs. Klassische Werke der Weltliteratur wurden massenweise verlegt, die Bücher waren preiswert und sie wurden gelesen. Viele Letten lasen auch auf Russisch, was ihnen den Zugang zu westlichen literarischen Werken und zur russischen Klassik eröffnete. In den alten oder neu errichteten Kulturhäusern wurde auch die Amateurkunst unterstützt (was auch Film und Photographie umfasste) sowie die Volkskunst gepflegt. Der Chorgesang schaffte es gerade wegen der Unterstützung durch das Regime, sich dessen Kontrolle zu entziehen, und entwickelte sich in ein Bollwerk zur Verteidigung der lettischen Identität. Wegen seines Massencharakters entzog sich der Kulturbetrieb auch sonst sehr häufig der angestrebten Kontrolle. In der Zeit zwischen den siebziger Jahren und der von Gorbatschow eingeleiteten Perestroika kam man an Theaterkarten nur dann, wenn man sich lange genug, teilweise auch nachts, angestellt hatte. Das Theater war gerade auch wegen der Verwendung der lettischen Sprache so beliebt. Überdies wurden dort Dramen mit allgemeinmenschlichen Themen gespielt, die wenig in

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die offizielle Doktrin passten. Unterstützung durch das Sowjetregime erfuhr auch das Filmstudio von Riga, das jährlich mindestens sieben neue Spielfilme produzierte. Viele davon waren von hohem künstlerischen Wert. So können sich die beiden dramatischen Film-Werke von Gunārs Piesis »Wehe, Windchen!« und »Im Schatten des Todes« gewiss mit vielen Werken der weltweiten Filmklassik messen. Bereits seit den siebziger Jahren entwickelte sich die poetische Schule des lettischen Dokumentarfilms und feierte ihre ersten internationalen Erfolge. Ihre bedeutendsten Vertreter sind Hercs Franks und Juris Podnieks. Das sowjetische Regime sorgte auch für die Erhaltung der rund 150 spezialisierten Kunst- und Musikschulen im ganzen Land. Dazu zählte auch die Choreographieschule. (Hier muss erwähnt werden, dass auch das unabhängige Lettland heute diese kulturellen Aktivitäten massiv unterstützt. Die Ausgaben für diese Bildungsstätten machen fast ein Drittel der gesamten staatlichen Ausgaben für Kultur aus). Da lassen sich auch interessante Parallelen zwischen dem Ende und dem Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts ziehen. Die großen Talente, die eine ausgezeichnete Ausbildung in Lettland während der Sowjetzeit genossen hatten, verließen Lettland bald entweder in Richtung Russland oder in den Westen, um dort internationalen Ruhm zu erlangen. Hier sind beispielsweise der Geiger Gidon Kremer, der Balletttänzer Michail Baryschnikow und der Cellist Mischa Maisky zu nennen, die in den Westen ausgewandert sind. Der Balletttänzer Māris Liepa und der Dirigent Mariss Jansons gingen nach Russland. Jansons erhielt zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhundert in Anerkennung seiner Verdienste um Lettland die Bürgerrechte. Das Engagement einzelner war ausschlaggebend dafür, dass auch über den Eisernen Vorhang hinweg Austausch auf höchstem künstlerischem Niveau möglich wurde. Beispielhaft dafür ist der Westberliner Kulturmanager Valdis Āboliņš, der 1939 in Liepāja geboren wurde. 1964 war er einer der Veranstalter des legendären Festivals «Fluxus” in Aachen, das zahlreiche international renommierte Künstler (darunter auch Joseph Beuys) zusammenführte. In den siebziger Jahren leitete er die Westberliner «Neue Gesellschaft für bildende Kunst” und vermittelte ein DAAD-Stipendium für die Malerin Maija Tabaka, die sich so 1977-1978 in Westberlin aufhalten und dort wirken konnte. Die von Valdis Āboliņš begründeten Kontakte führten zu so bedeutsamen Kunstereignissen wie der in Westberlin, Kiel und Bremen 1988 und 1989 gezeigten umfangreichen Ausstellung »Riga – die lettische Avantgarde«, in der Künstler mehrerer Generationen vertreten waren: Auseklis Baušķenieks, Ilmārs Blumbergs, Miervaldis Polis, Ieva Iltnere, Ojārs Pētersons, Aija Zariņa, Oļegs Tillbergs, Kristaps Ģelzis und andere. Zur größten Ausstellung aller Zeiten in Riga, die mehrere Ausstellungsräume und den öffentlichen Raum der Stadt umfasste, kam es 1991 mit der Präsentation «Interferenzen. Kunst aus Westberlin 1960 – 1990”. Für das künstlerische Wirken unentbehrlich ist die gegen Ende der neunziger Jahre in Form eines Staatlichen Kulturfonds institutionalisierte Finanzierung der Kunst. Diese Finanzierung wird mittlerweile durch private Gönner wie Dina und Jānis Zuzāns ergänzt, die bereits zehn Jahre lang den renommierten Purvītis-Preis

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unterstützen, der zu einer Eigenevaluierung und –reflexion der zeitgenössischen Kunst beiträgt. Zu den wichtigen Mäzenen gehören auch Boris und Ināra Teterevs, die mit ihrem Programm »Kunst im öffentlichen Raum Rigas« in für ganz Osteuropa einzigartiger Weise die Kultur im städtischen Raum fördern. Sie spendeten außerdem eine Million US-Dollar für die Restaurierung des Schlosses Rundāle. Raimonds Pauls ist seit Mitte der sechziger Jahre der mit Abstand beliebteste Komponist des Landes, und das wird sich bis zum hundertjährigen Jubiläum der Republik gewiss nicht ändern. Er arbeitet hauptsächlich im sogenannten leichten Genre, der populären Musik, dennoch gehören auch Jazz, Chorlieder, Theater- sowie Filmmusik zu seinem Repertoire. 1990 wurde er zum ersten Minister für Kultur des wieder unabhängigen Staates ernannt und traf in diesem Amt viele grundlegende Entscheidungen, noch bevor Lettland wieder international anerkannt war. So löste er die geheimen Sonderfonds auf und begann mit der Sanierung der Lettischen Nationaloper. Der weltweit bekannteste Vertreter der zeitgenössischen akademischen Musik aus Lettland ist der Komponist Pēteris Vasks. Seine so einfühlsamen und geradezu philosophischen Werke umfassen das ganze Spektrum der Musik – von Sinfonien über Konzerte bis zu Chorliedern. Gegen Ende der achtziger Jahre übernahmen die lettischen Kulturschaffenden eine Führungsrolle im Kampf gegen die Russifizierung und für die Autonomie (später auch für die Unabhängigkeit) Lettlands. Im Plenum der Verbände von Kulturschaffenden des Jahres 1988 wurden zum ersten Mal überhaupt öffentliche Vorträge gehalten, die ausführlich sowohl den Zustand des Volkes und des Landes als auch deren Entwicklungsperspektiven diskutierten. Ausgerechnet aus diesen ursprünglich als Zwangsinstrumente konzipierten Organisationen, dem Künstlerverband und dem Schriftstellerverband, entwickelte sich die Volksfrontbewegung. Die populären Künstler, Dichter und Schriftsteller der Sowjetperiode sicherten sich mit diesem Einsatz für die Freiheit während der Wendezeit auch die volle Anerkennung im wieder unabhängigen Lettland. Hohes moralisches Ansehen in der Gesellschaft genossen auch die drei damals noch sehr jungen lutherischen Pfarrer Juris Rubenis, Jānis Vanags und Modris Plāte, die sich durch ihr mutiges Auftreten in der Öffentlichkeit, ihre klare Sprache und ihre hohen Ideale auszeichneten. Die späteren Beschlüsse zum Verbot der Ordination von Frauen als Pfarrerinnen unter der Führung von Jānis Vanags als Bischof der evangelisch-lutherischen Kirche Lettlands sind eher weniger rühmlich. Da es sich hier jedoch um die demokratische Entscheidung einer autonomen Synode handelt, gebührt dieser Entscheidung Respekt. Das wieder unabhängige Lettland war kulturpolitisch immer national orientiert. Auf der Suche nach den kulturellen Idealen der Gesellschaft wandte man sich stets der Vergangenheit zu. Ein moderner dynamischer Staat, wie es das Lettland des 21. Jahrhunderts ist oder zumindest sein sollte, verdankt seine kulturellen Errungenschaften meist dem langen Weg geradezu übermenschlicher Kraftanstrengungen einzelner Talente. Das zeitgenössische, auch in den neuen Technologien begründete künstlerische Wirken steht in einer harten Konkurrenz

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zur Leistung der Vorgänger einerseits und der Amerikanisierung der Kultur mit ihren Filmen und dem freien Spiel des Marktes andererseits. Ein solcher Kampf gehört zum Alltag des Leiters von Rigas Neuem Theater, dem Regisseur Alvis Hermanis, der dieses Theater zu überraschenden und außergewöhnlichen internationalen Erfolgen führte. Seinen wohlverdienten dauerhaften Platz in den Repertoires der europäischen Theater und Opernhäuser hat er sicher; dagegen gelang es ihm nur mit großen Schwierigkeiten, sein eigenes Theater vor den Folgen der globalen Wirtschaftskrise zu schützen. Eine weitere außergewöhnliche Leistung der lettischen Kultur (und Kulturbildung) ist die Reihe der Opernsolisten von Weltrang, die die internationalen Bühnen des 21. Jahrhunderts bevölkern. Zu ihren Wirkungsstätten gehören La Scala in Mailand, die Metropolitan Opera in New York, alle drei Berliner Opernhäuser, das Royal Opera House in London, die Wiener Staatsoper, die Opéra national de Paris und das Liceu Opera Barcelona. Namen wie Elīna Garanča, Maija Kovaļevska, Kristīne Opolais, Marina Rebeka, Liene Kinča, Egils Siliņš und Aleksejs Antoņenko erfüllen jeden Musikliebhaber in Lettland unabhängig von seiner ethnischen Zugehörigkeit mit großem Stolz. Treten diese Künstler in Lettland auf, sind sämtliche Eintrittskarten sofort vergriffen. Andris Nelsons ist ein weiterer internationaler Star der Musikszene – er leitete sowohl das City of Birmingham Symphony Orchestra als auch das Boston Symphony Orchestra. Mit der Wiedergewinnung der Unabhängigkeit blühte das kulturelle Leben in Lettland in beeindruckender Weise auf und öffnete sich der Welt. Orchester von Weltrang wie die Berliner Philharmoniker oder das Royal Concertgebouworchestra, um nur zwei zu nennen, sind in Lettland bereits zu Gast gewesen. In allen musikalischen Genres gibt es spezielle alljährliche Festspiele. Ein weltweites Renommee genießt der professionelle »Akademische Chor Latvija« mit dem Dirigenten Māris Sirmais an der Spitze sowie der Chor des Lettischen Rundfunks unter der Leitung von Sigvards Kļava und Kaspars Putniņš. Ein weiteres wichtiges Zentrum des kulturellen Lebens bilden die Lettische Nationaloper und das Nationalballett, die jedes Jahr ein Sommerfestival der Opernmusik veranstalten und regelmäßig Gastspiele in Europa und Asien absolvieren. Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts fanden drei große internationale Kulturfestivals statt: »Etonnante Lettonie« in Frankreich (2005), »Der französische Frühling« in Lettland (2007), »Oh, Deutschland!« in Lettland (2008) und das Festival der lettischen Kultur in Russland (2007-2008) sowie das Festival der russischen Kultur in Lettland (2008). Die bildende Kunst kann seit 2016 im neuen Glanz präsentiert werden, nachdem das Lettische Nationale Kunstmuseum nach der Rundumsanierung wieder eröffnet und 2011 ein neues Kunstmuseum »Rigaer Börse« begründet wurde. 2011 folgten zwölf lettische Schriftsteller dem Aufruf ihrer Kollegin Gundega Repše, gemeinsam an einer Romanserie zum Thema »Wir. Das XX. Jahrhundert« zu arbeiten. Jeder der Schriftsteller arbeitet an einem Roman (einige sind bereits veröffentlicht), der jeweils einem Abschnitt der lettischen Geschichte gewidmet ist. Diese Initiative hat großen Widerhall unter den lettischen Lesern gefunden,

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die Auflagen von Büchern steigen. Die junge lettische Literatur wird, was nicht weniger wichtig ist, auch in die großen Sprachen Europas übersetzt, wie z.B. der Roman »Die Muttermilch« von Nora Ikstena. Auf den Vorschlag dieser Schriftstellerin hin wurde 2006 das Internationale Schriftsteller- und Übersetzerhaus in Ventspils (Windau) eingerichtet, das heute vom Staat getragen wird. Hier sind seitdem zahlreiche Werke internationaler Schriftsteller und Dichter entstanden. Die 1993 begründete Kulturzeitschrift »Rīgas Laiks” (Rigas Zeit), die bis heute von den Philosophen und Journalisten Uldis Tīrons und Arnis Rītums herausgegeben wird, ist seit Jahren ein stiller Begleiter der Intellektuellen des Landes und hat immerhin einen Leserkreis von rund 30 000 Menschen, darunter auch viele Angehörige der jüngeren Generation. In Vorbereitung der Hundertjahrfeier der Republik Lettland hat das Ministerium für Kultur ein Programm für den Zeitraum von 2017 bis 2021 erarbeitet, das von der Regierung verabschiedet wurde. Seinen Kern bilden Patriotismus, hochwertige Kunst und Massenveranstaltungen. Seine Jahrhundertfeier begeht Lettland in unsicherer Zeit. Die Letten müssen sich wieder Sorgen um ihre Sicherheit und Identität machen. Die Angst der Letten vor dem östlichen Nachbar ist begründet, und sie sind auch nicht bereit, neue Religionen, primär den Islam, in ihrem Land aufzunehmen. Ein Lette wird – wie so oft im vergangenen Jahrhundert – zunächst skeptisch grübeln, leise auf die aktuelle Regierung schimpfen und dann im entscheidenden Moment doch durchhalten, überleben und kreativ tätig sein – gestützt auf die Tradition und mit dem Blick auf die Zukunft.

VI. Anhang

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Zeittafel zur Geschichte der Republik Lettland 1918–2018 18. November 1918 1918-1920 17. Dezember 1918 28. September 1919 1919 1. Mai 1920 11. August 1920 15. September 1920 26. Januar 1921 22. September 1921 15. Februar 1922 7./8. Oktober 1922 1922 – 1927 1922 1. November 1923 1925 Sommer 1929 1929-1932 5. Februar 1932 15./16. Mai 1934 12. September 1934 18. November 1935 1935 Oktober 1936 1938/1939 August 1938 23. Dezember 1938 7. Juni 1939 23. August 1939

Proklamation der »unabhängigen demokratischen Republik Lettland«. Einsetzung einer Provisorischen Regierung unter Kārlis Ulmanis Unabhängigkeitskriege Proklamation der Sozialistischen Sowjetrepublik Lettland unter Pēteris Stučka in Riga, Livland und Lettgallen Gründung der Universität Lettlands Gründung der Nationaloper Lettlands Eröffnung der Verfassunggebenden Versammlung Friedensvertrag von Riga zwischen Lettland und Sowjetrussland Verabschiedung einer umfassenden Agrarreform Anerkennung der Unabhängigkeit Lettlands durch den Obersten Rat der Alliierten Aufnahme Lettlands in den Völkerbund Verabschiedung der Verfassung Wahlen zur 1. Saeima (Parlament) Jānis Čakste erster Staatspräsident Einführung des Lats als neuer Währung der Republik Militärbündnis zwischen Estland und Lettland Gründung des lettischen Rundfunks Der schwedische König Gustav V. besucht Lettland Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf Lettland Nichtangriffspakt zwischen Lettland und der UdSSR Staatsstreich des amtierenden Ministerpräsidenten Kārlis Ulmanis, Suspendierung des Parlaments und aller Parteien Vertrag über »Freundschaft und Zusammenarbeit« zwischen Lettland, Estland und Litauen (»Baltische Entente«) Einweihung des Freiheitsdenkmals in Riga Lettland gewinnt die erste Europameisterschaft im Basketball Wahl Lettlands als nichtständiges Mitglied in den Rat des Völkerbunds VEF-Produkt Kleinbildkamera »Minox« kommt auf den Markt Gesetz über die gesellschaftliche Ordnung, das das bis dahin geltende Kriegsrecht ablöst und das autoritäre Regime dauerhaft befestigt Gründung der landwirtschaftlichen Akademie in Jelgava (Mitau) Nichtangriffspakt zwischen Lettland und dem Deutschen Reich Hitler-Stalin-Pakt, dessen Geheimprotokoll Lettland der Einflusssphäre der UdSSR zuschlägt

260 1939-1941 5. Oktober 1939 17. Juni 1940 14./15. Juli 1940 21. Juli 1940 5. August 1940 März 1941 14. Juni 1941 17. Juli 1941 1941-1944/45 3. August 1941 30.November /8. Dezember 1941 10. Februar 1943 1944 13. August 1943 1944/45 1945-1991 1945-1956 14. Februar 1946 25. März 1949 1955 1./8. Juli 1959 1973 1986 Juli 1986 14. Juni 1987

ZEITTAFEL

Umsiedlung Tausender Deutschbalten von Lettland in den Warthegau »Pakt über die gegenseitige Hilfe zwischen der UdSSR und der Republik Lettland«, der die Stationierung sowjetischer Truppen in Lettland erlaubt Die Rote Armee besetzt ganz Lettland Scheinwahlen zum »Volks-Saeima«, 97,6% für die einzige Liste »Volks-Saeima« erklärt Lettland verfassungswidrig zur Sozialistischen Sowjetrepublik und ersucht um Aufnahme Lettlands in die UdSSR Oberster Sowjet der UdSSR bestätigt Annexion Lettlands Landeswährung Lats wird durch den sowjetischen Rubel ersetzt Massendeportation von 15.424 Einwohnern, überwiegend der Oberschicht angehörenden Personen und ihrer Familien nach Sibirien und Kasachstan Deutsche Truppen erobern Riga Deutsche Besatzung Lettlands Aufstellung der ersten lettischen Division der Roten Armee Massenerschießung von 27.000 Juden im Wald von Rumbula; zweitgrößte Massenerschießung nach Babi Yar überhaupt Hitler befiehlt die Aufstellung einer lettischen (15.) SS-Division Eine weitere lettische (19.) SS-Division wird aufgestellt Gründung der Widerstandsorganisation Lettischer Zentralrat unter Konstantīns Čakste Die Rote Armee erobert Lettland. Etwa 150.000 Bewohner verlassen das Land und gehen in die Emigration Sozialistische Sowjetrepublik Lettland als Teilrepublik der UdSSR Bewaffneter Widerstand lettischer Partisanen (»Waldbrüder«) gegen die Sowjetherrschaft Gründung der Akademie der Wissenschaften Lettlands Massendeportation von 42.125 Personen nach Sibirien, überwiegend bäuerliche Familien, die sich gegen die Kollektivierung wehren Gründung des »Verbands der Letten in der freien Welt« in Washington Das ZK der KP Lettlands verurteilt den sog. Nationalen Flügel der KP, was zu einer umfassenden Säuberungsaktion führt Einrichtung des »Freiheitsfonds« des »Verbands der Letten in der freien Welt« Gorbatschow verkündet Perestroika und Glasnost‘ in der UdSSR Gründung der Menschenrechtsgruppe »Helsinki-86« in Liepāja (Libau) Erste antisowjetische Demonstration, organisiert von »Helsinki-86«, in Riga: Niederlegung von Blumen am Freiheitsdenkmal in Erinnerung an die Massendeportation von 1941

ZEITTAFEL

9. Oktober 1988 23. August 1989 Februar 1990 18. März 1990 4. Mai 1990 Januar 1991 3. März 1991 21. August 1991 22. August 1991 6. September 1991 10. September 1991 17. September 1991 März 1993 5./6. Juni 1993 7. Juli 1993 Juli 1994 6. August 1994 12. Juni 1995 1995 Februar 1999 1999-2007 August 2001 23. Januar 2002 2003 20. September 2003 2003/2004 2. April 2004 1. Mai 2004 28./29. November 2006 27. März 2007 31. Dezember 2007 Herbst 2008

261

Gründung der Volksfront Lettlands, die zur treibenden Kraft in Richtung Unabhängigkeit wird Menschenkette von Tallinn über Riga nach Vilnius zur Erinnerung an den 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Pakts und seiner Folgen Wiedereinführung der nationalen Flagge, der Hymne und des Staatswappens Wahlen zum Obersten Sowjet (Parlament). Volksfront gewinnt zwei Drittel der Stimmen Das Parlament leitet die Übergangsperiode zur vollständigen Unabhängigkeit Lettlands ein Die Regierung der UdSSR versucht, die Unabhängigkeit zu verhindern. Barrikaden in Riga 74% der Bevölkerung Lettlands stimmen für die Unabhängigkeit Unabhängigkeitserklärung des Obersten Sowjets (Parlament) Island erkennt als erster Staat die Unabhängigkeit der baltischen Staaten an Anerkennung der Unabhängigkeit Lettlands durch die UdSSR Aufnahme Lettlands in die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Kollektive Aufnahme der Baltischen Staaten in die UNO Wiedereinführung des Lats als nationale lettische Währung Mit den Wahlen zur 5. Saeima nimmt das demokratisch gewählte Parlament seine Tätigkeit wieder auf Die Saeima wählt Guntis Ulmanis zum Präsidenten des wieder unabhängigen Lettlands (im Amt bis 1999) Besuch des amerikanischen Präsidenten Bill Clinton in Lettland Abzug aller russischen Truppen aus Lettland Assoziierungsvertrag Lettlands mit der EU Die Bankenkrise erzeugt wirtschaftliche Instabilität Aufnahme Lettlands in die Welthandelsorganisation (WTO) Vaira Viķe-Freiberga ist die erste Frau im Präsidentenamt Lettlands 800-Jahr-Feierlichkeiten der Stadt Riga Lettland gewinnt den Eurovision Song Contest Lettland nimmt an der UN-Friedensmission in Afghanistan teil In einer Volksabstimmung sprechen sich 67% für den EU-Beitritt Lettlands aus Die lettische Fußballnationalmannschaft qualifiziert sich für die Endrunde der Europameisterschaft in Portugal Aufnahme Lettlands in die NATO Aufnahme Lettlands in die Europäische Union NATO-Gipfel in Riga Ratifizierung des russisch-lettischen Grenzvertrags Das Schengen-Abkommen tritt auch in Lettland in Kraft Zusammenbruch der größten einheimischen Bank »Parex« leitet eine länger andauernde Wirtschaftskrise ein. Die Regierung entschließt sich, die Bank mit Steuergeldern zu retten.

262 Juni 2009 18. Februar 2012 2. Juni 2016 1. Januar 2014 Jan.-Dez. 2014 November 2014 Jan.-Juni 2015 Juni 2017 18. November 2018

ZEITTAFEL

Die prorussische Partei »Harmonie« gewinnt die Wahlen zum Stadtparlament Rigas. Nils Ušakovs wird als erster Russe Bürgermeister Abstimmung über Russisch als zweite Landessprache. 74,8% Gegenstimmen. Lettland wird Mitglied der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) Beitritt Lettlands zur EURO-Zone Riga Kulturhauptstadt Europas Ex-Ministerpräsident Valdis Dombrowskis wird zum Vizepräsidenten der Europäischen Kommission gewählt Lettland übernimmt die Präsidentschaft im Rat der EU Jeļena Ostapenko gewinnt als erste lettische Tennisspielerin ein Grand Slam-Turnier (French Open) 100 Jahre Republik Lettland

Lettland in der Zeit zwischen den Weltkriegen. Nach 1945 trennte die UdSSR im Nordosten einen Gebietsstreifen von 1.400 qkm, das Gebiet von Abrene (russ. Pytalova) zugunsten Russlands ab, auf den Lettland im Grenzvertrag mit Russland vom 27. März 2007 unter internationalem Druck auch formell verzichten musste. Igaunija = Estland, Krievija = Russland, Polija = Polen, Lietuva= Litauen, Baltijas jura = Ostsee, Rigas juras licis = Rigaer Meerbusen. (Quelle: Kartenabteilung der Nationalbibliothek Lettlands)

Karte von Lettland

Autorenverzeichnis Dr. Māris Andžāns, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Lettischen Institut für Internationale Angelegenheiten und Assistenzprofessor an der Stradiņš-Universität Riga Dr. Una Bergmane, Baltic Sea Fellow at Foreign Policy Research Institute in Philadelphia (USA) Dr. Daina Bleiere, Senior Researcher am Institut für lettische Geschichte der Universität Lettlands in Riga und Professorin an der Fakultät für Europäische Studien der Stradiņš-Universität Riga Dr. Benjamin Conrad, Wissenschaftliches Mitarbeiter am Institut der Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin Helēna Demakova, Kunstwissenschaftlerin und Kuratorin, leitet das Programm »Kunst im öffentliche Raum« der Boris und Ināra Teterev Stiftung und lehrt »Kunstgeschichte nach 1945« an der Akademie der Künste Lettlands. Sie war von 2004 bis 2009 Kultusministerin Lettlands Dr. Marija Golubeva, Education Policy Analyst, Riga Dr. Morten Hansen, Direktor der Wirtschaftsabteilung der Stockholm School of Economics in Riga Dr. Ivars Ījabs, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Lettlands in Riga Dr. Gatis Krūmiņš, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für soziale, ökonomische und geisteswissenschaftliche Forschungen der Vidzeme Universität für angewandte Wissenschaften in Valmiera Dr. Jan Kusber, Professor für Osteuropäische Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Dr. Ilgvars Misāns, Professor für mittelalterliche Geschichte an der Universität Lettlands in Riga Dr. Valters Nollendorfs, Professor Emeritus für Germanistik, University of WisconsinMadison, Vorsitzender des Vereins des Lettischen Okkupationsmuseums Dr. Dr.h.c. Erwin Oberländer, Professor Emeritus für Osteuropäische Geschichte, Johannes Gutenberg-Universität Mainz Dr. Tilman Plath, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte der Universität Greifswald Dr. Juris Rozenvalds, Professor für Politische Theorie an der Universität Lettlands in Riga Dr. Andris Sprūds, Direktor des Lettischen Instituts für Internationale Angelegenheiten und Professor an der Stradiņš-Universität Riga Dr. Aivars Stranga, Professor für Geschichte Lettlands an der Universität Lettlands in Riga Dr. Kristine Wohlfart, Historikerin, Riga/Mainz Dr. Kaspars Zellis, Senior Researcher am Institut für Philosophie und Soziologie der Universität Lettlands in Riga

Abbildungsnachweis Freiheitsdenkmal, Alberta iela, Festung Daugavpils, Sängerfest, Altstadt Riga, Nationalbibliothek: Fotos Reinis Hofmanis – Parlament, Gedenktafel: Fotos Benjamin Conrad – Čakste: Saeima der Republik Lettland – Zemgals, Munters: Public Domain – Ulmanis: Latvijas Vēstnesis, 20. Juni 1921 – Meierovics: Gemeinde Tukums – Rainis: C. Ruf Cīrihē. RTMM 66083 – Purvītis: Verlagsarchiv – Vasks: Foto P. Vasks

Personenregister Āboliņš, Valdis 244 Alexander II. 138 Alexander III. 21 Ambainis, Andris 226 Angrick, Andrej 78 Annuss, Augusts 240 Antoņenko, Aleksejs 246 Arājs, Viktors 81, 83 Artmane, Vija 110 Auseklis (Krogzemis, Miķelis)235 Azpazija (Pliekšāne, Elza) 233 Baker, James 133 Baryschnikow, Michail 244 Baušķenieks, Auseklis 244 Behrens, Peter 182 Beissinger, Mark 132, 134 Belševica, Vizma 243 Berģis, Pēteris 53 Bergmann, Alexander 80 Berija, Lawrenti 200 Berklavs, Eduards 95, 96 Berlin, Isaiah 236 Bermont-Awalow, Pavel 28, 188 Bērziņš, Uldis 243 Bērziņš, Alfreds 38 Bērziņš, Eduards 187 Bīlmanis, Alfrēds 69 Birkerts, Gunnar 231 Blaumanis, Rūdolfs 238 Blumbergs, Ilmārs 244 Brasche, Gustav Sigmund 15 Bräutigam, Otto 77 Briedis, Leons 243 Buševics, Ansis 53 Bush, George 133 Bush, George W. 172 Čaks, Aleksandrs 238 Čakste, Jānis 27, 30, 32, 44, 138, 259 Čakste, Konstantīns 84 Celmiņa, Vija 240 Celmiņš, Hugo 32 Chaniecki, Jakow 53

Chruschtschow, Nikita 94, 95, 243 Cielēns, Felikss 57 Clinton, Bill 168, 172 Clinton, Hillary 164 Cole, Felix 36 Coleman, Frederick 34 Cukurs, Herberts 87 Dankers, Oskars 82 Derewjanski, Wladimir 70 Dombrowskis, Valdis 262 Drechsler, Otto 77, 82, Dubin, Mordechai 237 Eglītis, Anšlavs 240 Eisenstein, Michael 229/30 Eisenstein, Sergei 230, 236 Erdmanis, Roberts 187 Erhardt, Heinz 239 Felder, Björn W. 86  Feldmanis, Inesis 39 Fircks, Wilhelm von 47, 49 Fradkow, Michail 173 Franks, Hercs 110, 244 Frauenstein, Alfred 55 Freimane, Valentina 239 Fridrihsons, Kurts 242 Garanča, Elīna 246 Ģelzis, Kristaps 244 Ģērmanis, Uldis 23 Goltz, Rüdiger von der 28 Gorbatschow, Michail 129, 130, 133, 134, 260 Göring, Hermann 78 Grauds, Fricis 191 Grosvalds, Jāzeps 237 Gustav V. von Schweden 259 Hawking, Stephen 226 Herder, Johann Gottfried 14 Hermanis, Alvis 246 Hilberg, Raul 80

270

PERSONENREGISTER

Himmler, Heinrich 78 Hitler, Adolf 41, 60, 62, 76, 77, 82, 192 Hoover, Herbert 52 Ījabs, Ivars 15, 20 Ikstena, Nora 247 Iltnere, Ieva 244 Intelmann, Alfred 49 Irbe, Kārlis 45 Irbīte, Ādolfs 188 Irbīte, Kārlis 188 Īvāns, Dainis 129 Jansons, Mariss 244 Jaunsudrabiņš, Jānis 107 Jeckeln, Friedrich 78 Jegorow, Alexander 60 Jelzin, Boris 134, 168 Joffe, Adolf 53 Kalnbērziņš, Jānis 95 Kalniņš, Eduards 53 Kalniņš, Haralds 104, 242 Kalpiņš, Voldemārs 108 Kalvītis, Aigars 173 Karskij, Michail 59  Katharina II. 48 Katz, Josef 80 Kaufmann, Max 80 Kazaks, Jēkabs 237 Kinča, Liene 246 Kirhenšteins, Augusts 40, 62, 68, 70, Kļava, Sigvards 246 Kļaviņš, Pauls 100 Klein, Peter 78 Kleist, Peter 77 Klucis, Gustavs 236 Kociņš, Fricis 61 Kononow, Wassilij 87 Kotkin, Stephen 130 Kovaļevska, Maija 246 Kremer, Gidon 244 Krievs, Jānis 242 Kroeger, Erhard 49 Kronvalds, Atis 220 Krupņikovs, Pēteris 74 Kugler, Anita 87

Kurelis, Jānis 84 Ķuze, Vilhelms 185 Lācis, Vilis 95, 239, 240 Lancmanis, Imants 231, 242 Lazda, Mara 130 Lenin, Wladimir 233 Lesiņš, Vilis 115 Liepa, Māris 244 Lieven, Anatol 129 Lipke, Jānis 80 Litwinow, Maxim 58 Lohse, Hinrich 77 Lozoraitis, Stasys 59 Maisky, Mischa 244 Marnitz, Harry 87 Masaryk, Tomáš Garrigue 32 Medwedew, Dmitri 173 Meierovics, Zigfrids Anna 27, 52 Michelson, Frida 80 Molotow, Wjatscheslaw 61, 68, Munters, Vilhelms 40, 59, 60, 61 Neiburgs, Uldis 84 Neilis, Kārlis 240 Nelsons, Andris 246 Niedra, Andrievs 28, 44, 51 Niedre, Jānis 108 Noviks, Alfons 74 Opolais, Kristīne 246 Ostapenko, Jeļena 262 Osten-Sacken, Familie 184 Päts, Konstantin 36 Pauls, Raimonds 110, 245 Pauļuks, Kārlis 53 Pelše, Arvīds 90, 95 Peter I., der Große 61 Pētersons, Ojārs 244 Piesis, Gunārs 243 Piłsudski, Jozef 36 Plāte, Modris 245 Podnieks, Juris 110, 244 Poelchau, Peter Harald 45 Polis, Miervaldis 244 Pommers, Jānis 237

PERSONENREGISTER

Press, Bernhard 80 Pudāns, Juris 242 Purvītis, Vilhelms 107, 235 Putin, Wladimir 173 Putniņš, Kaspars 246

Strēlerte, Veronika 240 Stresemann, Gustav 57 Stučka, Pēteris 28, 51 Sudrabkalns, Jānis 238, 240 Suta, Romans 237

Rainis (Pliekšāns, Jānis) 233, 234 Rebeka, Marina 246 Reichelt, Katrin 78 Repše, Gundega 246 Rjazanov, Vasilij 93  Ribbentrop, Joachim von 60 Rītums, Arnis 247 Rivošs, Elmārs 80 Rosenberg, Alfred 77, 78, 83 Rothko, Mark 236 Rubenis, Juris 245

Tabaka, Maija 242, 244 Tallent, Stephen 54 Tentelis, Augusts 39 Teterevs, Boris 244 Teterevs, Ināra 244 Tillbergs, Oļegs 244 Tīrons, Uldis 247 Transehe-Roseneck, Astaf v. 186 Trump, Donald 164

Šac-Anin, Maks 97 Sauckel, Fritz 78 Schatalin, Nikolaj 93 Schdanow, Andrej 107 Scherwitz, Fritz 87 Schewardnadze, Eduard 133 Schiemann, Paul 45, 46, 47, 49, 239 Schneerson, Menachem 237 Schneider, Gertrude 80 Schoeler, Lothar 49 Schustin, Semyon 74 Seskis, Jānis 25 Siliņš, Egils 246 Silmale, Maija 242 Silova, Iveta 224 Simpson, James Young 55 Sirmais, Māris 246 Skalbe, Kārlis 107 Skujenieks, Knuts 128, 243 Sloskāns, Boļeslavs 236 Smetona, Antanas 36 Smiļģis, Eduards 238 Šmite, Ieva 242 Snyder, Tymothy 76, 81, 128 Soros, George 224 Speer, Albert 78 Stahlecker, Walter 78, 81, Stalin, Josef 41, 61, 62, 66, 67, 93. 94, 98, 99, 107, 108, 132, 192, 200, 220, 242 Stērste, Elza 242

271

Ulmanis, Guntis 261 Ulmanis, Kārlis 25, 27, 28, 32, 35-41, 44,45, 46, 49, 51, 57, 61, 62, 65, 67, 69, 73, 75, 138, 139, 190, 220, 230, 238, 259 Upīts, Andrejs 240 Ušakovs, Nils 262 Vācietis, Ojārs 243 Valdemārs, Krišjānis 220 Valdmanis, Alfrēds 82 Valters, Miķelis 23 Vanags, Jānis 245 Vasiļevskis, Bruno 242 Vasks, Pēteris 245 Veiss, Voldemārs 83 Vestmanis, Jānis 53 Vīķe-Freiberga, Vaira 148, 173, 261 Virza, Edvarts 238 Vītols, Jāzeps 107, 235 Vītols, Teodors 187 Voss, Augusts 90 Wachtsmuth, Wolfgang 47 Wagner, Richard 235 Walter, Johann 235 Wezel, Katja 87 Wilson, Woodrow 52 Wittrock, Hugo 77 Wolff, Barone 184 Wyschinski, Andrej 62, 68 Zāle, Kārlis 234, 239

272 Zaļkalns, Teodors 234 Zapp, Walter 187 Zariņa, Aija 244 Zariņš, Kārlis 69 Zatlers, Valdis 173 Żeligowski, Lucjan 55

PERSONENREGISTER

Zemgals, Gustavs 32 Ziedonis, Imants 243 Žīgure, Anna 129 Zuzāns, Dina 244 Zuzāns, Jānis 244