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German Pages 534 [536] Year 2011
Berlins 19. Jahrhundert
Roland Berbig, Iwan-M. D’Aprile, Helmut Peitsch und Erhard Schütz (Hg.)
Berlins 19. Jahrhundert Ein Metropolen-Kompendium
Akademie Verlag
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ISBN 978-3-05-005083-6 eISBN 978-3-05-005084-3
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1
I. Berlin in Europa GÜNTHER LOTTES
Metropole und Revolution. Zu den historischen Voraussetzungen einer europäischen politischen Metapher
11
AGNIESZKA PUFELSKA
Zwischen Ablehnung und Anerkennung. Das polnische Berlin im widerspruchsvollen 19. Jahrhundert
29
GÜNTER OESTERLE
Entstehung eines Berlinromans im Vormärz. Willibald Alexis’ Cabanis (1831) aus der Perspektive von städtischer Menge und Hugenottenminorität
49
ANNA-DOROTHEA LUDEWIG
Eine preußisch-jüdische Symbiose? Karl Emil Franzos in Berlin
63
ASTRID KÖHLER
Johanna Schopenhauer in London, Paris und Weimar
75
RÜDIGER GÖRNER
Das Andere ist das Verwandteste. George Eliot in Berlin
87
GERTRUD LEHNERT
Mode und Orientalismus
95
HUBERTUS FISCHER
„Berlin steht hier im sehr schlechten Ruf“. Revolutionsbriefe aus Hinterpommern 1848
107
II. Öffentlichkeitsformen IWAN-MICHELANGELO D’APRILE
Friedrich Buchholz und die Konstellation politischer Öffentlichkeit im frühen 19. Jahrhundert
121
VI
INHALTSVERZEICHNIS
ANNE BAILLOT
Intellektuelle Öffentlichkeit. Friedrich von Raumers Weg zwischen Politik und Wissenschaft
135
ANNA BUSCH
Julius Eduard Hitzig und Das gelehrte Berlin
147
REINHARD BLÄNKNER
„Geselligkeit“ und „Gesellschaft“. Zur Theorie des Salons bei Eduard Gans
161
ASTRID KÖHLER
Bettina von Arnim: Romantik und Revolution
179
JOST HERMAND
Die unmusikalische Revolution. Berlin, 1848/49
189
ROLAND BERBIG
Das königlich-kaiserliche Berlin des Rütlionen Theodor Fontane
203
BERND SÖSEMANN
Berlin im Kaiserreich. Stadt großer Zeitungen und Verleger
215
GILBERT CARR
Satirische Zeitspiegelungen in Maximilian Hardens Die Zukunft
229
ANDREAS KÖSTLER
Hauptstadt-Architekturen. Die polyphonen Angebote der Museumsinsel für das kaiserzeitliche Berlin
245
HEINZ REIF
Das Tiergartenviertel. Geselligkeit und Gesellschaft in Berlins ,Neuem Westen‘ um 1900
259
RÜDIGER ZILL
Vom Platz F zum nationalen Symbol. Der Bau der ersten Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche
285
HARALD BODENSCHATZ
Auf dem Weg zur Mietkasernenstadt?
297
WALTER FÄHNDERS
Hinter der Weltstadt. Die ‚Friedrichshagener‘ und Berlin
309
III. Wahrnehmungsformen ROLAND BERBIG
Phantasien auf dem Alexanderplatze während der Abreise der D’lle Sontag. Berliner und Berlin-Literatur im ‚Tunnel über der Spree‘ (1827–1837)
323
INHALTSVERZEICHNIS
VII
WOLFGANG RASCH
Nachrichten aus der Provinz. Berlin-Korrespondenzen des jungen Gutzkow für das Morgenblatt und andere süddeutsche Journale
337
ROLAND BERBIG
Franz Kuglers Berliner Briefe 1848. Ästhetisch-politische Spaziergänge vom Vor- in den Nachmärz
349
ANDREAS KÖSTLER
Berlin als imaginierter Raum der Revolution – nicht zuletzt am Beispiel Adolph Menzels
361
HUGH RIDLEY
Anthropologische Ansätze in der Berlin-Literatur Max Rings
375
HELMUT PEITSCH
Julius Rodenbergs Berliner Spaziergänge
381
OLAF BRIESE
Die Verdichtung Berlins. Stadträume in Romanen Max Kretzers
391
INGO STÖCKMANN
Die Textur der Fülle. Wilhelm Bölsches Roman Die Mittagsgöttin
407
ERHARD SCHÜTZ
Heinrich Manns Im Schlaraffenland und Georg Simmel
421
IV. Umbau durch Erinnerung OLAF BRIESE
Moment-Architektur. Die Kunst der Barrikade und die Kunst ihrer medialen Mythisierung
433
ERHARD SCHÜTZ
Barrikade, Gartenwand und Hafen. Friedrich Spielhagens Gründerzeitroman Sturmflut
449
HARTWIG SUHRBIER
‚Weit hinten in Mecklenburg …‘. Revolutions-Reflexe in Fritz Reuters Roman Ut mine Stromtid
461
MANUELA BÖHM
Kollektives Gedächtnis und Erinnerungsorte der Berliner Hugenotten
473
KURT WINKLER
‚Alt-Berlin‘ im Märkischen Museum. Musealisierung als Strategie der Modernisierung
491
Autorenverzeichnis
507
Personenverzeichnis
517
Einleitung
I. Berlin in Europa „Wie konnte bloß jemand auf die Idee kommen, mitten in all dem Sand eine Stadt zu gründen!“, schrieb der napoleonische Soldat Stendhal 1806 aus Berlin.1 Nach einem Besuch bei Alexander von Humboldt greift ein anderer französischer Romancier, Balzac, im Jahr 1843 den Topos auf. Zugleich deutet sich ein Wandel der Wahrnehmung von Berlins politischer Bedeutung an: „Stellen Sie sich ein Genf vor, das in einer Sandwüste verloren ist, und Sie haben eine Idee von Berlin. Es wird vielleicht einmal die Hauptstadt von Deutschland werden, aber immer wird es die Hauptstadt der Langeweile sein.“2 Ganz anders, nämlich als „die neueste Stadt, die mir je vorgekommen ist“, beschreibt keine fünfzig Jahre später der US-amerikanische Erzähler Mark Twain die Stadt im Jahr 1891: „Sogar Chicago würde altersgrau dagegen aussehen.“3 Besonders bewundert er die Litfaßsäulen: „Ja, es gibt in Berlin eine Menge, was wert wäre, importiert zu werden.“4 Wir nähern uns der Geschichte Berlins im 19. Jahrhundert in diesem Band in vier Kapiteln. Nachdem es im ersten Teil um Berlins Rolle in Europa geht, werden anschließend Öffentlichkeitsformen (Teil 2), Stadtwahrnehmungen (Teil 3) und schließlich Rückblicke auf Berlins 19. Jahrhundert aus späterer Perspektive (Teil 4) untersucht. Die Konstellation, in der Berlin während des ganzen Jahrhunderts wahrgenommen wurde, umfasste mit London, Paris, Wien und Petersburg stets dieselben fünf europäischen Städte. Dennoch veränderte sich die Position der Stadt im Metropolenvergleich mit dem Funktionswandel als preußische Hauptstadt. Dabei bedingen sich die Konkurrenzen zwischen Zentren und Peripherien im horizontalen europäischen und im vertikalen nationalen Verhältnis wechselseitig. Diese werden propagandistisch reduziert in der oft zitierten Formel Heinrich von Treitschkes: so wie Preußen durch die ‚Macht des Geistes‘ Deutschland geworden sei, so wurde die neue Hauptstadt des Zweiten Kaiserreichs zur ‚Weltstadt‘. 1 2 3 4
Karl Voß: Reiseführer für Literaturfreunde Berlin. Vom Alex bis zum Kudamm, Frankfurt a. M., Berlin 1986, S. 122. Ebd., S. 120/121. Ebd., S. 228. Ebd., S. 118.
2
EINLEITUNG
Allerdings fand keine der seit 1851 veranstalteten Weltausstellungen, auf denen Europa seine technische, ökonomische und militärisch-politische Überlegenheit feierte, in Berlin statt. Erst spät, nämlich im Jahr 1896 richtete Berlin eine Kolonialausstellung aus. Mit der geringeren Bedeutung der Kolonien für Berlin begründet Jürgen Osterhammel dessen geringere „Geschichtsfülle“ und „Zentralität im nationalen Städtesystem“: letztlich „erlangte Berlin nicht das kulturelle Übergewicht einer dominierenden Nationalmetropole von der Art von London, Wien oder Paris“.5 Dies wäre bei einer noch zu schreibenden komparativen „historischen Geographie Europas im 19. Jahrhundert“ zu beachten.6 Auf den ‚mental maps‘ der nach- und nebeneinander existierenden Europas wechselte Berlins politischer Ort von der ‚Conföderation der großen Völker‘ napoleonischer Weltherrschaft, der christlich-romantischen Heiligen Allianz seit dem Wiener Kongress bis zum ‚Brüderbund‘ der liberalen, demokratischen und sozialistischen Bewegungen und den damit verbundenen zugleich internationalen und nationalen Solidaritätsaktionen (vom Philhellenismus über die ‚Polenbegeisterung‘ bis zum ‚Völkerfrühling‘).7 In der 1848er Revolution wurde die Stadt schließlich zum „Projektionsraum der Volkssouveränität“ (Günther Lottes). Migranten vernetzten Berlin politisch, kulturell und wirtschaftlich mit den preußischen Provinzen wie mit den europäischen Zentren. Anziehungskraft übte Berlin z. B. auf polnische Studenten aus, die hier gesellige Orte und Vereine von liberalen Polenfreunden vorfanden. Auf der anderen Seite sahen sie sich an der Universität mit einem u. a. von Hegel vertretenen geschichtsphilosophischen Ausschluss Polens aus Europa wegen dessen vermeintlichem „Zusammenhang mit Asien“ (Agnieszka Pufelska) konfrontiert. Als aufstrebende Industriestadt wuchs Berlin – vergleichbar mit Manchester, Birmingham oder Liverpool – im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts schneller als London (Millionenstadt seit 1800) und Paris (seit 1850). Die Hälfte der Einwohner war zugewandert, von denen 53 Prozent aus den preußischen Provinzen stammten.8 So wie die neuen Zuwanderer vor allem kamen, weil „Berlin als Industriezentrum bereits vor Mitteldeutschland und dem Ruhrgebiet eine Sogwirkung ausübte“, so waren die seit dem späten 17. Jahrhundert in Berlin lebenden Minderheiten der Böhmen, Hugenotten und Juden zur „Beforderung Handels und Wandels“, wie es im Schutzbrief Friedrich Wilhelms I. von 1671 heißt, zugelassen worden.9 Als 1890 bei der Volkszählung zum ersten Mal nach der Muttersprache gefragt wurde, wurde Polnisch (mit Masurisch und Kaschubisch) von
5 6 7 8 9
Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 393. Ebd., S. 166. Ute Frevert: Eurovisionen. Ansichten guter Europäer im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2003, S. 47. Steffi Jersch-Wenzel, Barbara John (Hrsg.): Von Zuwanderern zu Einheimischen. Hugenotten, Juden, Böhmen, Polen in Berlin, Berlin 1990, S. 614. Ebd., S. 630 und 158.
EINLEITUNG
3
53,1 % derjenigen Berliner genannt, die nicht Deutsch angaben, aber in der überwältigenden Mehrheit preußische Staatsbürger waren.10 Die auf der ökonomischen Entwicklung beruhenden sozialen Auseinandersetzungen widerlegten auch in Berlin die „These von der kulturell geformten Nation, die nur noch eine staatliche Form [ge]such[t]“ hätte.11 Vielmehr trat hier ein neuer Rassismus zu Tage: außenpolitisch in der Abkehr vom europäischen Konzert der Mächte zugunsten eines „Großmächtedarwinismus in einem imperialen Rahmen“12 und innenpolitisch in der Diskriminierung von Minderheiten. Antislawismus und Antisemitismus fungierten nicht nur als innere Diskriminierungen gegenüber Minderheiten, sondern auch als Abgrenzungen nach Außen: vom Osten als Orient oder Asien. Dies wurde verbunden mit dem Inklusionsversprechen des Nationalen. So eröffnete Heinrich von Treitschke den Berliner Antisemitismusstreit mit dem Verweis auf die imperiale englische und französische „Energie des Nationalstolzes“: „Unsere Gesittung ist jung; uns fehlt noch in unserem ganzen Sein der nationale Stil, der instinctive Stolz, die durchgebildete Eigenart, darum waren wir so lange wehrlos gegen fremdes Wesen.“13 Durch die Universitätsgründung und zahlreiche wissenschaftliche Netzwerke, nicht nur der Brüder Humboldt, wurde Berlin schon in den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts als europäische Kulturmetropole wahrgenommen. So sah Madame de Stael die Stadt im Jahr 1804 „auf dem besten Wege“, die „wahre Hauptstadt des neuen, aufgeklärten Deutschlands“ zu werden.14 Reisebeschreibungen ausländischer Autoren – von Nikolai Michailowitsch Karamsins Briefen eines russischen Reisenden (1799–1801) bis Jules Legras‘ SpreeAthen. Berliner Skizzen von einem Böotier (1892) – können als das Gegenstück zu den Berichten Berliner Weltreisender gelesen werden. Auf Alexander von Humboldt in Mittelund Südamerika folgen noch vor der Wende zur Kolonialpolitik Otto von Kotzebue und Adelbert von Chamisso in Nordamerika, Ostasien und im Pazifik, Hinrich Lichtenstein in Südafrika und Heinrich Brugsch in Persien, alle zum einen mit Berliner wissenschaftlichen Institutionen verbunden, zum anderen mit den europäischen Kolonialmächten Spanien, Russland und Großbritannien, in deren Diensten sie reisten.
II. Öffentlichkeitsformen Der Tahrir-Platz in Kairo ist nur das jüngste Symbol für die Zusammenhänge zwischen städtischem Raum und Volkssouveränität, oder in Richard Sennetts Worten zwischen dem 10 11 12 13
Ebd., S. 618. Frevert: Eurovisionen (wie Anm. 7), S. 69. Osterhammel: Verwandlung (wie Anm. 5), S. 146. Heinrich von Treitschke: Unsere Aussichten, in: Walter Boehlich (Hrsg.): Der Berliner Antisemitismusstreit. Frankfurt/ M. 1988 [zuerst: 1965], S. 7–14, hier S. 13. 14 Vgl. Etienne François: Berlin im 18. Jahrhundert. Die Geburt einer Hauptstadt. In: Iwan D’Aprile u. a. (Hrsg.): Tableau de Berlin. Beiträge zur „Berliner Klassik“ (1786–1815), Hannover-Laatzen 2005, S. 7–18, hier S. 13.
4
EINLEITUNG
Körper der Stadt und dem Körper der Stadtbewohner/innen beziehungsweise dem politischen Körper.15 Als Agora und Forum, Marktplatz und Basar ist der Platz seit jeher „wichtigster Ort im öffentlichen Raum“ der Stadt.16 In ihm kulminieren die Merkmale der Kulturverdichtung und des Kulturaustausches, die der Metropole seit den Anfängen der Stadtsoziologie von Christian Garve im späten 18. Jahrhundert bis zu Georg Simmel und Max Weber immer wieder zugeschrieben wurden.17 Im urbanen Öffentlichkeitsraum verbinden sich soziale, funktionale, materielle, symbolische und normative Aspekte.18 Mit der Gestaltung des städtischen Raums geht die Herausbildung des Ideals bürgerlicher Öffentlichkeit als Partizipation und Machtkontrolle einher. „ ‚Öffentlich‘ nennen wir Veranstaltungen, wenn sie […] allen zugänglich sind“, bringt Jürgen Habermas diese Zusammenhänge in seiner Untersuchung zum Strukturwandel der Öffentlichkeit, die bis heute den Ausgangspunkt jeder Beschäftigung mit urbaner Öffentlichkeit darstellt, lakonisch auf den Punkt.19 Der Stadtraum war einmal gedacht als das Gegenteil von no-go-areas und gated communities. In Abgrenzung zur höfisch-repräsentativen Öffentlichkeit zählt Habermas zu den spezifisch urbanen Öffentlichkeitsformen, die um 1800 eine neue Qualität gewinnen, u. a. Kaffeehäuser, Salons, literarische und geheime Gesellschaften, Lesezirkel, kunst- und literaturkritische Journale, eine politisch raisonnierende Publizistik sowie ein vom Hof unabhängiges Theaterwesen. Der Wandel des Berliner Öffentlichkeitsraums des 19. Jahrhunderts lässt sich auch daran ablesen, dass er von den Zeitgenossen selbst immer wieder zum Thema gemacht wurde: von den seit 1800 erscheinenden Berlin-Lexika20 über Eduard Gans’ Reflexionen zur städtischen Geselligkeit, die seit den 1840er Jahren florierenden Berlin-Bücher bis hin zum Berlin-Roman und Großstadtfeuilleton. In ihnen wird die Stadt selbst in den Mittelpunkt des Interesses gerückt und zum eigentlichen Subjekt erklärt. Dies gilt für Robert Springers Ber15 Vgl. Richard Sennett: Fleisch und Stein, Berlin 1995. 16 Burkhard Müller: Ein guter Platz ist wie ein Druckkochtopf. Sinn und Form eines jähen architektonischen Großmuts: Zur Geschichte des wichtigsten Ortes im öffentlichen Raum, in: Süddeutsche Zeitung, 8. 2. 2011. 17 Vgl. Hartmut Häußermann, Anne Haila: The European City: A Conceptual Framework and Normative Project, in: Yuri Kazepov (Hrsg.): Cities of Europe. Changing Contexts, Local Arrangements, and the Challenge to Urban Cohesion, Malden, MA 2004, S. 43–63; Christian Garve: Ueber die Maxime Rochefaucaults: das bürgerliche Air verliehrt sich zuweilen bey der Armee, niemahls am Hofe, in: ders.: Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Litteratur und dem gesellschaftlichen Leben, Breslau 1792, S. 295–452, S. 308–310. 18 Walter Siebel: Einleitung: Die europäische Stadt, in: ders. (Hrsg.): Die europäische Stadt. Frankfurt/ M. 2004, S. 11–48. 19 Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt/M. 1990 [zuerst: 1962], S. 54 20 Vgl. z. B.: Johann Christian Gädicke: Lexicon von Berlin und der umliegenden Gegend, Berlin 1806. In Auszügen neu aufgelegt unter dem Titel: Berlin 1806. Hrsg. v. Michael Bienert, Berlin 2006. Eine virtuelle Topographie Berlins um 1800 findet man auf der Internetseite der „Berliner Klassik“ an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften unter http://www.berlinerklassik.de/bk_stadtplan/gui/index.html, sowie als gedruckte Publikation: Matthias Hahn: Schauplatz der Moderne. Berlin um 1800 – ein topographischer Wegweiser, Hannover-Laatzen 2009.
EINLEITUNG
5
lins Straßen, Kneipen und Clubs im Jahre 1848 (Berlin 1850) ebenso wie für die Sozialtopographien der Berliner Wirtshäuser, Schenken, Konditoreien und Cafés in Friedrich Saß‘ Berlin in seiner neuesten Zeit und Entwicklung (1846) und Ernst Dronkes Berlin-Buch aus dem gleichen Jahr mit den ersten beiden Kapiteln „Auf den Straßen“ und „Öffentliches Leben“.21 Obwohl das Kapitel zu den Berliner Öffentlichkeitsformen des 19. Jahrhundert das umfangreichste dieses Bandes ist, wird Vollständigkeit nicht einmal annäherungsweise angestrebt. Wohl aber Exemplarisches. Das ‚steingewordene Bewusstsein‘ städtischer Architektur wird in Beiträgen zu unterschiedlichen städtischen oder vorstädtischen Quartieren wie dem Tiergartenviertel (Heinz Reif) oder der Künstler- und Literatenkolonie Friedrichshagen (Walter Fähnders) untersucht. Der städtische Raum als Ort der Gedächtnispolitik wird dabei ebenso thematisiert (Rüdiger Zill) wie der zur Wende zum 20. Jahrhundert aufkommende Topos Berlins als „Mietkasernenstadt“. Ausgehend von den architektonischen Debatten der Zeit zeigt Harald Bodenschatz unterschiedliche städtebauliche Wege in die Moderne auf, die sich schon um 1900 abzeichneten: einen – eher angloamerikanischen – Weg der „Suburbanisierung des Bürgertums“ (Beispiel London) im Unterschied zu einem eher – französisch kontinentalen – der „Urbanisierung des Bürgertums“ (Beispiel Paris). Die Öffentlichkeit der Revolutionszeit wird in den unterschiedlichen Darstellungsformen aufgesucht: in Bettina von Arnims Expeditionen in die Armenviertel des Berliner Vogtlandes (Astrid Köhler), in der pro- oder antirevolutionären Ikonographie (Andreas Köstler) oder im Sound der Stadt, dem Jost Hermand vom Volkslied bis zur Oper um 1848 nachspürt. Städtische Geselligkeitsformen und Netzwerke werden ebenso rekonstruiert (Anna Busch, Roland Berbig) wie die prekäre Stellung der Intellektuellen in der vermeintlichen „Stadt der Intelligenz“ zwischen gesuchter Nähe zum Machtzentrum und kritischer Öffentlichkeit. Eingeleitet und abgeschlossen wird die Sektion durch Studien zur Hauptstadtpresse von den Anfängen um 1800 (Iwan D’Aprile) bis zum bis heute nicht wieder erreichten Höhepunkt der „Zeitungsstadt Berlin“ um 1900 (Bernd Sösemann).
III. Wahrnehmungsformen Wie sich die sich verändernde urbane Öffentlichkeit in der jeweiligen Wahrnehmung der historischen Akteure reflektiert und in unterschiedlichsten Medien und Formen manifestiert, ist Gegenstand des dritten Kapitels dieses Bandes. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts vollzog sich ein Wahrnehmungswandel, dessen Facettenreichtum nur den nicht verblüfft, der sich – in guter Manier Simmels – nicht verblüffen lassen will. Das Licht, das die europäischen Weltstädte ausstrahlten, blendete, und es wurde grell, wenn man von dort den Kegel 21
Robert Springer: Berlins Straßen, Kneipen und Clubs im Jahre 1848. Reprint der Originalausgabe Berlin 1850, Leipzig 1985. Friedrich Saß: Berlin in seiner neuesten Zeit und Entwicklung, Leipzig 1846, Neuauflage hrsg. v. Detlef Heikamp, Berlin 1983; Ernst Dronke: Berlin. Neudruck der Erstausgabe von 1846, Berlin 1987.
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EINLEITUNG
direkt auf die preußische Hauptstadt richtete. Ihr, der über lange Jahrzehnte ein Schattendasein attestierte wurde, blieb bewusst, dass sie aus der Konstellation des Vergleichs und des Verglichenwerdens nicht entkommen konnte – es sei denn durch tiefgreifenden Wandel. Dass sich aus dieser Konstellation heraus beinahe unter der Hand, aber nachhaltig eine Stadt entwickelte, die selbst Maß sein und Maßstäbe setzen wollte, gehört zu den Realitäten jenes Jahrhunderts. Berlin wahrzunehmen, hieß immer auch, den eigenen Standort zu bestimmen – dieses Wissen begann sich außerhalb der preußischen Grenzen Geltung zu verschaffen. Dass es sich auch innerhalb dieses politisch wie topographisch so schwer abzusteckenden Raumes durchsetzte und ganz eigene Formen annahm, findet vielleicht wenig Widerspruch. Indes: Eine bündige und differenzierte Beweisführung steht zu nicht geringen Teilen noch aus. Der vorliegende Band dokumentiert, mit welchen Erträgen einstweilen zu rechnen ist. Generell zeichnet sich eine Einsicht ab: Ergiebiger als die immer wieder bemühte Suche nach Wahrheiten über Berlin ist das feinmaschige Taxieren von Gegebenheiten, Berlin als Begriff und Realität im 19. Jahrhundert wahrzunehmen – zwischen Potsdam und Paris, zwischen Lübbenau und London. Der topographische und architektonische Wandel bewirkte einen poetischen wie einen künstlerischen. Die Künste kamen nicht mehr ohne einander aus. Dabei kamen Aneignungsverfahren aller Art auf den Probestand, zu Tradiertem trat Innovatives. Eher als eine Abfolge ist die Gleichzeitigkeit des in Einsatz Gebrachten zu beobachten – ein erstaunliches Phänomen. Die historisch noch junge Gestalt des Flaneurs, Lieblings-, aber doch eher Wunschfigur der Literaturwissenschaft seit Walter Benjamin, musste sich – wie die Beiträge über Franz Kugler, Max Ring oder Julius Rodenberg zeigen – auch weiterhin die Gesellschaft des Spaziergängers und Wanderers gefallen lassen. Ihnen gemeinsam war nicht nur der Wunsch, die immer rascheren Tapetenwechsel in dem größer werdenden Haus Berlin festzuhalten, sie warfen auch ihren Blick auf den Raum und die Landschaft, in der diese Stadt gesehen wurde. Weder Dämonisierung noch Idealisierung gaben den Takt vor, sondern die Absicht, Schauplätze und Kreuzwege neuer Erfahrungen auszukundschaften. Der nationalen, wenn nicht nationalistischen Besinnung auf ein Berlin im hellen Tageslicht eines fortschrittlich empfundenen Jahrhunderts standen Nacht-Bilder gegenüber, für die in Malerei, Baukunst und Literatur erstaunlich erfindungsreiche Wahrnehmungstechniken gefunden wurden. Das Klischee vom Dichter als Seismograph verliert seinen floskelhaften Charakter, verfolgt man etwa die Berufswege so unterschiedlicher Schriftsteller wie Karl Gutzkow oder Max Ring. Flache Parolen über Berlin wurden abgelöst von Beobachtungen, die ihre Tiefenschärfe durch die eingenommene Wahrnehmungsposition gewannen. Die Berlin-Korrespondenten der Großstadtfeuilletons entwickelten ein frappierendes und selbstbewusstes Interesse am Detail. In die Wahrnehmung schrieben sich Visionen ein – man sah auch, was man sehen wollte oder zu sehen fürchtete. Da konnte der Bericht über eine neugebaute Eisenbahnstrecke zwischen Potsdam und Berlin Vereinnahmungsszenarien heraufbeschwören, die je nach Standpunkt bei den Lesern die preußische Seele entweder erhoben oder schlichtes Grauen erweckten. Wer um die Marginalisierung Potsdams fürchtete, für den bestand das Größerwerden Berlins vor allem in wachsendem Größenwahn.
EINLEITUNG
7
IV. Umbau durch Erinnerung „Wenn die verfügbaren Daten unvollständig oder die Konstellationen ungewohnt sind, so haben unsere kognitiven Systeme die Eigenart, zu extrapolieren und Gegebenheiten anzunehmen, deren Vorhandensein dann einfache Erklärungen für die jeweiligen Konstellationen erlaubt”,22 erklärte der Hirnforscher Wolf Singer auf dem deutschen Historikertag im Jahr 2000. Bei jedem Vorgang des Erinnerns finden Aktualisierungen statt, die nicht selten Selbsterlebtes mit Erzählungen aus zweiter Hand verbinden und Altes durch Neues überund umschreiben. Wahrnehmungen und Erinnerungen sind mithin, so Singers Pointe, „datengestützte Erfindungen“. Die Integration jeweiliger Vergangenheiten in jeweilige Gegenwarten der Stadt kann als Fortschritt, Krise oder Bruch gedacht werden. Gerade das Berlin des 19. Jahrhunderts hatte einiges an erinnernden Um- und Einbauten zum Zweck einer integrierten und integrierenden Gegenwart zu leisten. Dies betraf die Umakzentuierung des Freiheitsbegehrens – gegen die Napoleonische Besetzung und dann für Demokratie – ebenso wie die des Einheitswunsches – gegen kleinstaatliche Zerrissenheit und für die Nation im Reich. Entsprechend der Vielzahl der im kulturellen Gedächtnis wirksamen, zwischen Begriffskodifizierungen, Kunstwerken, Denkmälern und Institutionen angesiedelten Formen sind auch die Erscheinungs- und Reichweiten der Erinnerungsum- und -ausbauten unterschiedlich. Denn auch Erzählungen über vermeintliche oder reale Brüche und Umbrüche müssen Vergangenheit einbauen – und werden sie zu dem Zweck ebenso umbauen wie sie die Gegenwart sortieren. Ein besonders instruktives Beispiel der umdeutenden diskursiven und topischen Kodifizierung ist für Berlin der Umgang der hugenottischen Nachfahren mit ihren Vorfahren und ihrer eigenen mustergültigen Integrationsgeschichte. Denn geradezu paradoxal erscheinend, wird hier im Höhepunkt der Integration an der Herausstellung eines Sonderstatus in verschiedensten Formen der Erinnerungskultur gearbeitet, indem das sichtbare Unsichtbarwerden von einer Versicherung der nicht bloß besonderen, sondern superioren Herkunft begleitet wird. Ein eigenes zentrales Moment der retrospektiven Selbstvergewisserung ist das der Barrikaden. Dieses radikal ephemere Element in der Stadtkontur, das zudem, wie Olaf Briese pointiert, „auf Niederlage programmiert“ ist, wurde nach 1848 in den literarischen Erinnerungen und bildnerischen Darstellungen immer wichtiger und dauerhafter. Das Kunststück dabei war nun aber spätestens mit der Reichsgründung, die Spaltung an den Barrikaden – wie auch die Vereinigung dahinter – zu erinnern und zugleich zu überwinden. Bei Friedrich Spielhagen, der sie zunächst noch literarisch emphatisiert hatte, wurde die Barrikade nach 1871 zur ständisch abgrenzenden Gartenwand geschrumpft, um schließlich einer neuen, symbolischen Form Platz zu machen – dem Deich gleichermaßen gegen die Sturmflut des Finanzkapitals wie des Industrieproletariats. Und Fritz Reuter, der nicht nur bei den Berli22
Wolf Singer: Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen [2000]. In: Wolf Singer: Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Gehirnforschung, Frankfurt a. M. 2002, S. 86
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EINLEITUNG
ner Lesern Sympathien für die aufgrund der besonders rabiaten Junkerherrschaft bürgerlich zurückgebliebenen Mecklenburger wecken konnte, stimmte zugleich in den vaterländischen Stolz des von Berlin aus regierten Reichs ein, ohne darüber seine demokratische Reputation zu verlieren. Dauerhafter als die bildnerischen oder literarischen Adaptionen der Vergangenheit an die Gegenwart erwiesen sich die einschlägigen städtischen Gebäude und Institutionen. Mehr als nur eine Anekdote ist der Kampf um die Gerichtslaube, die endlich der Verkehrserweiterung weichen musste, dafür aber gleich dreifaltig wiederauftauchte: als temporäre Rekonstruktion im Rahmen der Gewerbeausstellung von 1896, als Wiedererrichtung 1872 im Schloss Babelsberg und schließlich als Nachschöpfung des Innenraumes im Märkischen Museum, das mit seiner „inszenatorischen Versöhnung von Geschichte und Gegenwart“ (Kurt Winkler) selbst zum genuinen Teil der Stadtmodernisierung wurde. Hier wäre schließlich über das 19. Jahrhundert hinaus-, zugleich auf es zurückblickend, an die nostalgisch veränderte mentale Topographie in den Erinnerungen jüdischer Berliner zu denken: an die Romane Georg Hermanns, vor allem an Jettchen Gebert (1906) und Henriette Jacoby (1908) wie an die zahlreichen erinnerten jüdischen Kindheiten um 1900, von Arthur Eloesser über Ernst Lissauer bis Ludwig Lewisohn, von Walter Benjamin über Gabriele Tergit bis Lotte Eisner.23
23 Vgl. Erhard Schütz: Berlin. Jüdische Heimat um Neunzehnhundert? In: Zeitschrift für Germanistik NF 7 (1997) Heft 1, S. 74–90.
I. Berlin in Europa
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GÜNTHER LOTTES
METROPOLE UND REVOLUTION
11
GÜNTHER LOTTES
Metropole und Revolution Zu den historischen Voraussetzungen einer europäischen politischen Metapher
Dieser Beitrag verfolgt zwei Ziele: Zum einen will er den sozial-, kultur- und politikgeschichtlichen Hintergrund ausleuchten, vor dem die in diesem Band behandelten Themen zu betrachten sind und dabei ein paar begriffliche Vorüberlegungen anstellen, die notwendig sind, wenn wir den Begriff der Metropole nicht einfach nur ganz locker im Sinne von großer und bedeutender Stadt, sondern sozialgeschichtlich präziser fassen wollen. Zum anderen gilt es, den Zusammenhang von Metropole und Revolution als Theorem und Metapher im politischen Denken des 19. und 20. Jahrhunderts herauszuarbeiten, in deren Unebenheiten sich der Übergang zur politischen Moderne niederschlägt. Ich will dies in drei Schritten tun: Zunächst will ich einen zugegebenermaßen sehr kursorischen Blick auf die Stadtqualität der Metropolen werfen und dabei auch ihren Ort im System der kulturellen Marktgesellschaft und des Lesepublikums zu bestimmen suchen. Dann geht es um die Metropole als politische Bühne der durch die Französische Revolution auf den Weg gebrachten politischen Massengesellschaft und schließlich um die politiktheoretische Verarbeitung dieses Gründungsgeschehens der politischen Moderne.
Die Metropole als urbaner und kultureller Verdichtungsraum Wenn wir heute von Metropolen sprechen, dann haben wir Megastädte wie Mexiko City, Shanghai, Moskau oder London im Auge. Berlin spielt hier, obwohl es mit 3,5 Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt in der EU ist, nur am unteren Ende der Tabelle mit. Die Größenverhältnisse spielten auch an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert eine Rolle, auch wenn die Einwohner- und Flächenzahlen der Städte weit unter denen lagen, mit denen wir es heute zu tun haben.1 Das ist im Übrigen nicht weiter verwunderlich. Erstens handelte 1
Vgl. zur Begrifflichkeit und Einführung in die Problematik Heinz Reif: Metropolen. Geschichte, Begriffe, Methoden, CMS (Centre for Metropolitan Studies) Working Paper 01, 2006. Reifs Bestandsaufnahme macht deutlich, dass der Schwerpunkt der Metropolenforschung im späten 19. und
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GÜNTHER LOTTES
es sich bei den Metropolen dieser Zeit immer noch um die Metropolen von Agrargesellschaften, bestenfalls von Agrargesellschaften mit einem starken protoindustriell-kommerziellen Sektor wie im Falle Britanniens oder der Niederlande. Die Industrialisierung und die damit einhergehende Urbanisierung dürfen weder zu früh angesetzt noch überschätzt werden.2 In England haben wir es mit einem Prozess zu tun, der sich über mehrere Jahrzehnte erstreckte und in vielfacher Weise gebrochen war. In Frankreich und Deutschland kamen die entsprechenden Entwicklungen ohnehin erst um die Jahrhundertmitte in Gang. Darüber hinaus bestand zunächst kein direkter Zusammenhang zwischen Metropolenbildung und Industrialisierung. Zumindest in England schuf sich die neue Produktionsweise ihre eigenen neuen Großstädte in den Midlands, während die älteren Großstädte einschließlich der Metropolen sozialgeschichtlich eher auf der älteren handwerklich-kommerziellen Produktionsweise aufruhten.3 Zweitens hatte die große demographische Revolution des 19. Jahrhunderts, welche die Bevölkerungszahlen innerhalb weniger Generationen vervierfachen sollte, um 1800 gerade erst begonnen. Zwischen diesen beiden Entwicklungen, die das 19. Jahrhundert in ganz Europa prägen sollten, bestand – daran sei noch erinnert – eine fatale Zeitverschiebung. Für ein knappes halbes Jahrhundert reichten die Lebens- und Arbeitschancen, welche die europäischen Agrargesellschaften zu bieten hatten, nicht aus, um die immer schneller wachsende Bevölkerung ins Brot zu setzen. Das Ergebnis war eine Massenarmut, welche die Metropolen und die Elendsquartiere in ihnen umso stärker wachsen ließ. Sehen wir uns die Liste der wichtigen europäischen Städte etwas genauer an:4
2
3 4
1800 1850
London 900.000 2.500.000
Paris 547.000 1.000.000
Neapel 350.000 480.000
St. Petersburg 300.000 485.000
Moskau 250.000 373.000
1800 1850
Wien 247.000 444.000
Amsterdam 180.000 224.000
Berlin 172.000 419.000
Rom 163.000 175.000
Hamburg 130.000 132.000
vor allem im 20. Jahrhundert liegt. Die vorausgegangen Jahrzehnte, geschweige denn die frühneuzeitliche Stadtwelt, kommen dagegen kaum in den Blick. Peter Mathias: The First Industrial Nation. 3. Aufl., London 2001; Günther Lottes: Der industrielle Aufbruch und die gesellschaftliche Integration der Arbeiterschaft in Deutschland und England im viktorianischen Zeitalter, in: Adolf M. Birke, Kurt Kluxen (Hrsg.): Viktorianisches England in deutscher Perspektive. Victorian England from a German Perspective, München 1983, S. 61–78. Vgl. die plastische Charakterisierung der unterschiedlichen Stadttypen bei Lewis Mumford: Die Stadt. Geschichte und Ausblick (1961), München 1979, bes. S. 546–548. Bevölkerungs-Ploetz. Raum und Bevölkerung in der Weltgeschichte. Bd. 2: Vom Mittelalter zur Neuzeit, Würzburg 1955; Carlo Cipolla, Knut Borchardt: Bevölkerungsgeschichte Europas, München 1971, S. 128–139; vgl. auch Heinz Schilling: Die Stadt in der Frühen Neuzeit, München 2004.
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Die meisten europäischen Metropolen der Zeit um 1800 waren also nach heutigen Kriterien bestenfalls mittlere Großstädte, die sich einerseits deutlich von den kleinen Großstädten des frühneuzeitlichen Europa absetzten, aber ebenso klar von den Großstädten zu unterscheiden sind, die im Laufe des 19. Jahrhunderts entstanden. Nur London, Paris und Neapel waren deutlich volkreicher. London war mit knapp 1 Million Einwohnern eine Megacity, in der immerhin fast ein Zehntel der englischen Bevölkerung lebte. Bis zur Mitte des Jahrhunderts, also innerhalb von zwei Generationen, war die Einwohnerzahl auf 2,5 Millionen, also um 150 %, gestiegen. Dieses Wachstum war vor allem ein Wachstum aus Zuwanderung, da die Sterblichkeit in der Stadt angesichts des Massenelends hoch war. Aus dem ganzen britischen Archipel suchten Menschen, für die auf dem Land kein Platz mehr war, wenn schon nicht mehr ihr Glück, so doch wenigstens eine Lebenschance in London. Die Folge war ein unkontrolliertes, ja chaotisches Wachstum in der Fläche und nach innen in die übervölkerten Elendsquartiere.5 Indes war London eine Ausnahme. Keine andere Stadt reichte an die englische Metropole heran. Nicht einmal Paris, das um 1800 etwa 540.000 Einwohner hatte und bis 1851 um 100% auf etwas mehr als eine Million Einwohner wuchs. Es folgte Neapel mit 350.000 Einwohnern um 1800 und 480.000 um 1850. Schon diese Beispiele zeigen, dass es keine direkte Beziehung zwischen der Einwohnerzahl einer Metropole und der Volkszahl des Landes gab, in der sie lag. Die zeitgenössische Megacity London lag in einem Land mit nur 10 Millionen Einwohnern, während das fast um die Hälfte kleinere Paris die Metropole eines Landes war, in dem doppelt so viele Menschen lebten wie in Britannien. Die für Größe und Profil einer jeden Metropole maßgeblichen Faktoren waren von Fall zu Fall verschieden. So schlug im Fall London sicherlich zu Buche, dass es um 1800 nicht nur das seit römischen Zeiten unangefochtene politische Zentrum des gesamten britischen Archipels, sondern auch die Drehscheibe eines weltumspannenden Handelsnetzes war, während die bescheidenere Größe des urbanen Konkurrenten Amsterdam oder auch die von Seehandelszentren wie Genua und Venedig darauf zurückzuführen ist, dass die ökonomischen Impulse sich hier nicht auf einen Ort konzentrierten, sondern in die Breite der niederländischen bzw. oberitalienischen Städtelandschaft wirksam wurden. Die Metropolen der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert hatten damit nichts mehr mit den Face-to-Face-Gesellschaften gemein, welche selbst die größeren frühneuzeitlichen Städte noch gekennzeichnet und die städtischen Kommunikationsformen geprägt hatten. Sie waren im Begriff, räumlich und gesellschaftlich unüberschaubar zu werden, zumal es von den Wasseradern abgesehen noch keine Ansätze für ein öffentliches Verkehrsnetz gab. Unter diesen Umständen war es entscheidend, ob und wie viele Treff- und Identifikationspunkte, an denen sich die Einwohner begegnen konnten, die Stadt strukturierten und markierten. In den kontinentaleuropäischen Metropolen hatte der Einfluss des Fürsten besonders seit dem 17. Jahrhundert für eine solche Strukturierung des städtischen Raumes gesorgt, die es nahe 5
Vgl. Mary Dorothy George: London Life in the Eighteenth Century (1925), Reprint Harmondsworth 1965.
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legte, auch künftig durch die Anlage von Plätzen, Straßen und Parks, durch Bauvorschriften und Bausubventionen, durch Bauwerke und Denkmäler die Raumherrschaft über die Stadt zu suchen. In der Megametropole London kann hiervon nur für einen Teil des Zentrums die Rede sein. Die Außenbezirke wucherten dagegen unkontrolliert ins Umland, metropolitanes Niemandsland, das auch administrativ sich selbst überlassen blieb.6 Diese unterschiedliche Räumlichkeit der Metropolen sollte sich als politisch folgenreich erweisen. Die großen Journées der Französischen Revolution oder der im 19. Jahrhundert aufkommende Revolutionsmythos des Straßenkampfs um die Hauptstadt, der aus den Erfahrungen von 1789 und den folgenden Revolutionen die politiktheoretische Lehre zieht, sind nur in einer kontinentaleuropäischen Stadt denkbar. In London wären dergleichen Aktionen wohl verpufft und der Unübersichtlichkeit der urbanen Agglomeration zum Opfer gefallen. Denn Londons Wachstum war, von den vergleichsweise bescheidenen urbanistischen Eingriffen nach dem Großen Feuer von 1666 abgesehen, obrigkeitlich nicht kontrolliert worden. Ich kann hier nicht ins urbanistische Detail gehen, sondern will mich auf die These beschränken, dass zumindest die kontinentaleuropäischen Metropolen um 1800 noch eine gleichsam körperliche, sinnliche Qualität hatten, die sie dazu prädestinierte, eine Treuhänderrolle für den neuen Volkssouverän zu spielen, den die Französische Revolution erst neben und dann an die Stelle des Fürstensouveräns setzte. Der Revolutionsreisende Joachim Heinrich Campe protokollierte 1789 in seinen Briefen aus Paris dieses Zusammenspiel von Mensch und Stadt eher nebenbei: Ich habe mich aus dem wogenden Menschenstrom, der hier jetzt mehr als jemals, durch alle Straßen hin, den öffentlichen Plätzen zuwallt, herausgearbeitet und sitze nun am Ufer, d.i. in meiner Schreibstube […]. Umsonst! Das Rauschen des Menschenstroms dringt durch Fenster, Türen und Wände bis in mein abgelegenes Kämmerlein; und die hohle heisere Baßstimme der Neuigkeitsausrufer mit ihrem ewigen, in jeder Stunde, wer weiß wie oft, von neuem ertönenden: Voilà du nouveau et du curieux! ruft meine Aufmerksamkeit von der Auseinandersetzung der eingesammelten Ideen- und Empfindungsmasse unaufhörlich ab, um das Chaos noch chaotischer zu machen. Wie soll ich es anfangen, die äußeren Sinne zu verstopfen, um den inneren Zeit und Raum zu verschaffen […]?7 Aus dem wogenden Menschenstrom wurde, je stärker die Revolution von innen und außen unter Druck geriet, die Volksbewegung der Pariser Sansculotten, die ihre politische Kraft nicht zuletzt daraus bezog, dass sie über die Sektionen in die Stadtgeographie eingeschrieben blieb und insofern die älteren Kommunikationsstrukturen der spätmittelalterlichfrühneuzeitlichen Face-to-Face-Gesellschaft konservierte. Man kannte sich in den Sektionen und den Volksgesellschaften, stand zueinander in einem nachbarschaftlichen Verhältnis. 6 7
George Rudé: Hanoverian London 1714–1808, London 1971. Zitiert nach Heiner Boehncke, Harro Zimmermann (Hrsg.): Reiseziel Revolution. Berichte deutscher Reisender aus Paris 1789–1805, Reinbek 1988, S. 27.
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Gerüchte machten schnell die Runde, Angst und Euphorie, wenn die Sturmglocke läutete, verbreiteten sich schnell. Wenn die Sektionen zum Rathaus oder zu den Tuilerien marschierten, konnte sich jeder in der Masse als Teil eines großen Ganzen fühlen. Es ist bezeichnend, dass das Eingreifen der Pariser Sansculotten in das Revolutionsgeschehen immer auch chiliastische Züge trug und soziale Motive früherer Volksaufstände zur Geltung brachte.8 Die Volksbewegung schrieb sich gleichwohl die Rolle einer Treuhänderin für die Revolution zu und trat, besonders seit sie in der revolutionären Stadtverwaltung der Commune institutionelle Gestalt bekommen hatte, mit den Körperschaften des Wahlsouveräns in Konkurrenz. In den Massenaufmärschen der Revolution beginnt die Geschichte des Substitutionsverhältnisses von Masse und Volk, das die politische Kultur der Moderne bis in die jüngste Zeit geprägt hat. Das revolutionäre Paris sah sich als revolutionäre Kraft sui generis, die die Vertreter des Wahlsouveräns, wenn nötig mit Gewalt, zu den von ihnen gewünschten Entscheidungen zwingen konnte. Darin steckte eine Usurpation eigener Art, die in Frankreich und ganz Europa auch als solche wahrgenommen wurde.9 Neben die sich auf die Zentralität der Metropole gründenden Stellvertretungsansprüche des Fürsten und der hauptstädtischen Volksbewegung, die institutionell und intellektuell noch im Ancien Régime wurzelten, trat darüber hinaus ein sehr viel modernerer, der in den mediengeschichtlichen Rahmenbedingungen angelegt war, in denen die Aufklärung die neue politische Kultur hervorgebracht hatte. Die Metropole stellte in dieser Entwicklungslinie einen herausgehobenen Kommunikationsraum dar: sowohl für die literarischpublizistische Intelligenz, die sich eben dort sammelte, wo die besten Profilierungs- und mittelfristig Lebenschancen bestanden, als auch für die kritische Leserschaft, weil die Vielzahl der in der Hauptstadt angesiedelten Funktionen für eine hohe Nachfrage nach gebildeten und intellektuell wachen Zeitgenossen sorgte. Natürlich war die Anwesenheit in der Metropole keine Voraussetzung des Erfolges auf dem literarisch-publizistischen Markt. Niemand hat dies eindrucksvoller bewiesen als Voltaire, der seinen Ruf als Roi des Philosophes von der Peripherie ausbaute und ein Leben lang verteidigte. Ebenso wenig garantierte die Anwesenheit in der Metropole Erfolg oder auch nur Beachtung durch das Publikum. Alle Metropolen der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert waren voll von gescheiterten Autoren, Pamphletisten, Skandaljournalisten, Übersetzern, Korrektoren, Registermachern, Illustratoren und anderen Randfiguren der literarisch-publizistischen Szene, die auf ihren Durchbruch warteten und sich bis dahin mit literarischen Gelegenheitsarbeiten über Wasser hielten.10 8 George Rudé: The Crowd in the French Revolution, Oxford 1959; ders.: Die Volksmassen in der Geschichte. England und Frankreich 1730–1848, Frankfurt/M. 1977. 9 Vgl. hierzu mit grundsätzlicher Bedeutung für die Geschichte der Wahrnehmung und theoretischen Verarbeitung der Französischen Revolution Erich Pelzer: Die Wiederkehr der girondistischen Helden. Deutsche Intellektuelle als kulturelle Mittler zwischen Deutschland und Frankreich während der Französischen Revolution, Bonn 1998, bes. S. 170–181. 10 Günther Lottes: Politische Aufklärung und plebejisches Publikum. Zu Theorie und Praxis des englischen Radikalismus im späten 18. Jahrhundert, München 1979; Gudrun Gersmann: Im Schatten der
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Als der Lese- und Urteilssouverän des 18. Jahrhunderts, der entscheidend zur Vereinigung der Nation im Raum des gesamten Königreiches beigetragen hatte, 1789 als Volkssouverän an die Stelle des bisherigen Fürstensouveräns trat und von nun an als Wahlsouverän seine eigene Emanzipationsgeschichte durchlaufen sollte, stärkte dies die Rolle der Metropole. Denn die neue politische Kultur, die sich auf der Grundlage des Prinzips der Repräsentation entfaltete, musste sich institutionell selbstverständlich auf die Metropole als den Zentralort des Königreichs berufen und wurde dadurch noch mehr als bisher schon zu einem herausgehobenen Kommunikationsraum der sich nunmehr herausbildenden landesweiten politischen Öffentlichkeit, der politische und intellektuelle Abenteurer anzog wie das Licht die Motten. Ja, die der Arkanpolitik des Ancien Régime gezielt gegenübergestellte und grundrechtlich geschützte öffentliche Streitkultur, die den Einfluss der nunmehr dominierenden Printmedien vervielfacht hatte, bot auf Dauer größere Lebens- und Karrierechancen als der literarisch-publizistische Markt von ehedem. Die Metropole war als der Ort, an dem sich die Nation institutionelle Gestalt gab, auch der ideale Ort für die Institutionen einer nationalen Kultur. Wo anders hätte man ein Nationaltheater, eine Nationalgalerie oder die Monumente einer Nationalarchitektur platzieren können als in der Metropole, die den ausgedehntesten unmittelbaren Resonanzraum für alle darstellte, die an die Öffentlichkeit drängten? Wo anders konnte für Autoren, Maler, Bildhauer, Musiker und Schauspieler der nach ersten Testauftritten in der Provinz entscheidende Schritt auf den nationalen Markt erfolgen? Wir dürfen die Vorstellung von der Metropole als eines kulturellen Verdichtungsraums mit einem gleichsam medial oder mediengeschichtlich begründeten Stellvertretungsanspruch, der 1789 neben die bereits genannten Stellvertretungsansprüche tritt, indes nicht überstrapazieren. Was für Paris und London zutrifft, gilt nur noch bedingt für Deutschland, wo die Nationalkultur im Sinne einer durch die deutsche Sprache definierten Kultur sich erstens zwischen zwei Metropolen, nämlich Wien und Berlin, aufspannen musste und zweitens eine Vielfalt kleinerer kultureller Zentralorte bestand, deren berühmtester zweifellos Weimar war. Kann man davon sprechen, dass es in Deutschland ein antimetropolitanes kulturelles Profil gab, in dem sich Kulturmetropolen in dem oben skizzierten Vollsinn des Wortes, wenn überhaupt, dann nur schwer durchsetzten? Spielte es eine Rolle, dass die beiden deutschen Metropolen, Wien und Berlin, für Groß- oder Vormächte in einer ausgesprochenen Randlage zum Kernsiedlungs- und Kommunikationsraum der Nation lagen? Was Weimar anlangt, so wird man darin sicherlich einen Beleg für die kulturelle Leistungsfähigkeit einer Hofkultur sehen müssen, die sich den Herausforderungen des 18. JahrBastille. Die Welt der Schriftsteller, Kolporteure und Buchhändler am Vorabend der Französischen Revolution, Stuttgart 1993; Robert Darnton: Literaten im Untergrund. Lesen, Schreiben und Publizieren im vorrevolutionären Frankreich, Frankfurt/M. 1988 mit Wiederabdrucken zahlreicher einschlägiger Aufsätze; Hans H. Gerth: Bürgerliche Intelligenz um 1800. Zur Soziologie des deutschen Frühliberalismus, Göttingen 1976; Leslie Bodi: Tauwetter in Wien. Zur Prosa der österreichischen Aufklärung 1781–1795, Frankfurt/M. 1977, bes. S. 67–116; Peter Uwe Hohendahl: Literarische Kultur im Zeitalter des Liberalismus 1830-1870, München 1985.
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hunderts erfolgreich angepasst hatte.11 Diese Form des fürstlichen Mäzenatentums war jedoch auf dem Gipfel des Ruhms im Begriff, zum Auslaufmodell zu werden. Jedenfalls treffen wir solche Formen der Literatur- und Kulturförderung im 19. Jahrhundert nur noch ausnahmsweise – etwa bei Ludwig II. und Wagner in Bayreuth – an. Mag sein, dass der Prozess der Formierung von Kulturmetropolen gleichsam als räumlicher Objektivierung der neu entstandenen und entstehenden Nationalkulturen auch die fortgeschrittenen Formen des fürstlichen Mäzenatentums obsolet gemacht und diesen Prozess sogar beschleunigt hat. In diesem Fall wäre nach den Gründen zu fragen, welche die Literaturhistoriker des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu der nostalgischen Mythisierung Weimars veranlasst hat. Was war so attraktiv an der Vorstellung, dass die Geburt der deutschen Klassik in einem machtund politikfernen Kleinfürstentum stattgefunden hatte? Hinter diesen Überlegungen eröffnet sich ein breites Spektrum von Fragen von der Kanonbildung über das Rezensions- und Zeitschriftenwesen und die Vertriebsnetze bis zur Literaturgeschichte, die literaturgeographisch und mit Blick auf die scheinbar anders gelagerten Erfahrungen in anderen europäischen Ländern vergleichend literaturgeographisch aufzuarbeiten wären. Ich kann diese Thematik hier nicht weiter verfolgen und muss mich mit dem Hinweis begnügen, dass die deutsche Nationalliteratur vielleicht stärker als die anderen europäischen Nationalliteraturen nach einem Stufen- oder Schichtenmodell aufgebaut ist, das sich nach einer Ebene der nationalen Geltung regional ausdifferenziert und sensibel auf die zeitgleichen politischen Entwicklungen – etwa den Sieg der kleindeutschen über die großdeutsche Option – reagierte.
Die Metropole als Ort der Macht Politikgeschichtlich waren die Metropolen des 18./19. Jahrhunderts ein Produkt der politischen Verdichtungsprozesse, die überall in Europa im 17. Jahrhundert eingesetzt hatten. Zum einen profitierten historisch gewachsene oder wie etwa im Falle Madrids neu gewählte Herrschaftsmittelpunkte von den inneren Staatsbildungsprozessen, welche die neuen Monarchien in Gang gesetzt hatten. Die Durchsetzung des Monopols der öffentlichen Gewalt in der Hand des Fürsten erforderte komplexere Behörden und Entscheidungsstrukturen, die immer mehr Personal benötigten. Zum anderen entstand im Gefolge dieser Konzentrationsprozesse im Laufe des 17. Jahrhunderts ein gesamteuropäisches Mächtesystem, in dem die Staaten diplomatisch, militärisch und auf der Ebene der symbolischen Politik in einer Dauerkonkurrenz standen. Den Metropolen kam hierbei ganz so wie den Höfen eine wichtige Aufgabe zu. Dabei waren die meisten größeren europäischen Staaten, die im 18. Jahrhundert als Akteure auf der Ebene des Mächtesystems in Erscheinung traten – Spanien, Britannien, Niederlande, Preußen, Österreich –, aus Zusammenfügungen historisch älterer Staaten und Provinzen hervorgegangen, die durch die Person bzw. die Dynastie des
11 Vgl. hierzu Günther Lottes: Court Culture in Transition., in: Niall Ó’Ciosáin (Hrsg.): Explaining Change in Cultural History, Dublin 2002, S. 98–119.
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Herrschers zusammengehalten wurden.12 Die historische Forschung spricht hier von composite monarchies bzw. composite states, die in Personalunion miteinander verbunden waren.13 In der Regel ging die politische Initiative dabei von dem stärksten Teilstaat als Kernland aus. Das wird in Britannien besonders deutlich. Dort fügte die Sukzession der Stuarts auf dem englischen Thron die selbstständigen Königreiche England und Schottland unter einer schottischen Dynastie zusammen, die fortan von London aus regierte. Hierzu trat das Vizekönigreich Irland in halbkolonialer Abhängigkeit. In Spanien, das durch die Verbindung der Königreiche Kastilien und Aragon entstanden war, übernahm Kastilien die Führungsrolle. In den Niederlanden war dies Holland mit seiner überlegenen Wirtschafts- und Finanzkraft. Die angegliederten Teilstaaten behielten zwar ein großes Maß an Selbständigkeit, in Schottland das eigene Rechtssystem und die presbyterianische Kirk, in Aragon die durch die fueros garantierte ständische Libertät, in den Niederlanden die Vertretung in den Generalstaaten. Auch die Habsburgermonarchie und das preußische Königreich blieben Staatsgebilde dieses Typs mit einer notgedrungen großen Autonomie der Teile. In der inneren Entwicklung dieser Territorialverbünde zeichnete sich indes ab, dass alle den Gesamtstaat betreffenden Herrschaftsmaterien, insbesondere die finanz- und militärpolitisch bedeutsamen Angelegenheiten, zusammen mit dem Monarchen im (neuen) Zentrum des Staatsverbands lokalisiert wurden, das diesen darüber hinaus nach außen repräsentierte. In der Sprache des Mächtesystems stand London für den britischen Gesamtstaat, Wien für die Habsburgermonarchie und Berlin für Preußen. Edinburgh, Budapest oder Königsberg fanden hier nur noch dann Erwähnung, wenn sie ganz konkret betroffen waren. Die Hauptstädte der Teilstaaten der zusammengesetzten Monarchien verloren gegenüber den Metropolen als den Hauptstädten der Gesamtstaaten tendenziell an Bedeutung und Zukunftsfähigkeit. Im Spanien fiel Barcelona trotz seiner ökonomischen Bedeutung hinter Madrid und sogar Sevilla, das den Atlantikhandel kontrollierte, zurück. In der Habsburgermonarchie erfuhren Prag und Budapest immer nur kurzfristig und nur in dem Maße eine politische Aufwertung, in dem politisches Gewicht innerhalb des Verbandes von Wien an die Peripherie der Macht transferiert wurde. Keine andere niederländische Stadt überflügelte Amsterdam, obwohl dieses durch die Einbettung in das niederländische Städtesystem in seiner Entwicklungsfreiheit beschnitten wurde. Auf zwei Ausnahmen ist allerdings hinzuweisen, nämlich zum einen auf St. Petersburg und zum anderen auf Neapel. Russland leistete sich mit der Zarengründung an der Newa eine zweite Metropole, die symbolträchtig Russlands Öffnung nach Westen und zugleich seinen Eintritt in das gesamteuropäische Mächtesystem anzeigte. Neapel, die Hauptstadt des ehemaligen spanischen Vizekönigreichs, das unter einer Bourbonendynastie selbständig geworden war, passt wegen seiner vormaligen Einbindung in den spanischen Gesamtstaat nicht in unser Muster und fällt darüber hinaus wegen seiner unerwarteten 12
Günther Lottes: Gradations of Sovereignty in European State Building and International Relations. A German Historiographical Perspective, in: James Amelang, Siegfried Beer (Hrsg.): Public Power in Europe. Studies in Historical Transformation, Pisa 2006, S. 57–68. 13 John Elliott: A Europe of Composite Monarchies, in: Past and Present, 1992, S. 48–71.
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Größe aus dem Rahmen. Es ist gewissermaßen die unerwartete Metropole des 18. Jahrhunderts, die diesen urbanistisch begründbaren Anspruch politisch und kulturell nur ansatzweise einzulösen vermochte.14 Der politische Zeichenwert der Metropolen war eine Mischung aus der Stärke des Gesamtstaats, den sie repräsentierten, ihrer Volkszahl und Ausdehnung, ihrer baulichen Gestalt und ihres Erhaltungszustands sowie des symbolischen Kapitals der Geschichte, auf das sie Anspruch erheben konnten. Diese Kapitalarten waren miteinander verrechenbar. Die großen italienischen Kommunen, Venedig, Genua, Florenz und natürlich vor allen anderen Rom, die sowohl politisch als auch ökonomisch seit dem 16. Jahrhundert gleichsam vom Netz gegangen waren, lebten vom Kapital ihrer großen Vergangenheit, das den zeitgenössischen Kulturtourismus magisch anzog. Die Wirkungen, die von Roms tatsächlichen und erdachten Ruinen und von der Romerinnerung ausgingen, standen denjenigen, die wir Rom als Machtfaktor in der europäischen Geschichte zuschreiben können, jedenfalls nicht nach.15 Natürlich darf im Falle Roms nicht vergessen werden, dass die Ewige Stadt das Zentrum einer Kirche mit einem weltumspannenden Anspruch war. Dieser Faktor darf jedoch gerade für unseren Zeitraum nicht überschätzt werden. Zum einen ist auf die Rolle der seit dem 16. Jahrhundert erstarkenden katholischen Nationalkirchen, zum anderen auf die Wirkung der Aufklärung hinzuweisen. Dass Napoleon glaubte, mit dem Katholizismus als Staatsreligion seinen Frieden gleichsam ohne den Papst machen zu können, darf als Indiz für den Zeitgeist gewertet werden. Diese Betonung des politischen Zeichenwerts der Metropolen in der symbolischen Machtkonkurrenz im europäischen Mächtesystem mag insofern überraschen, als diese Argumentation üblicherweise – übrigens auch von mir selbst – mit dem Blick auf die Residenzen und Höfe vorgetragen wird.16 Der Gegensatz von Hof und Stadt, von Residenz und Metropole verweist indes auf eine Strukturproblematik der absolutistischen Monarchie, die aus der Außenperspektive so gar nicht wahr- oder zumindest nicht wichtig genommen wurde, zumal der Herrscher sich ja aus seiner Hauptstadt gar nicht vollständig zurückzog. Die Entrückung der Monarchie nach Versailles und ihre Inszenierung auf dieser fernen Bühne, die den Adel gezwungen hatte, aus seinen mächtigen Hotels in der Stadt in die eleganten, aber im Haus des Königs gelegenen Apartments von Versailles zu ziehen, hatte in dieser
14 Besonders anregend in diesem Zusammenhang Alexander Broadie: The Case for the Enligthtenment: Scotland and Naples 1680–1760, Cambridge 2005. 15 Gunter E. Grimm: Von der Kunst zum Leben. Zum Paradigmenwandel in der deutschen Italienwahrnehmung des 18. Jahrhunderts. Lessing. Herder. Heinse. Seume, in: Goethezeitportal, URL: http:// www.goethezeitportal.de/fileadmin/PDF/wissen/projekte-pool/italien/grimm_dt_italienreisen.pdf. 16 Günther Lottes: Im Banne Frankreichs. Zur Entstehung der französischen Kulturhegemonie und ihren Auswirkungen auf Preußen im 18. Jahrhundert, in: Iwan D’Aprile u.a. (Hrsg.): Tableau de Berlin. Beiträge zur „Berliner Klassik“ 1785–1815, Hannover-Laatzen 2005, S. 35–49; Günther Lottes: Potsdam und Versailles, in: ders., Iwan-Michelangelo D’Aprile (Hrsg.): Hofkultur und Öffentlichkeit. Potsdam im 18. Jahrhundert im europäischen Kontext, Berlin 2006, S. 13–28.
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krassen Form weder in Berlin noch in Wien stattgefunden.17 Weder lässt sich das Verhältnis des preußischen Königs oder des Kaisers in Wien zu dem Adel ihrer Umgebung mit dem des französischen Königs zu dem seinen vergleichen. Noch hatten das Stadtschloss in Berlin oder die Hofburg in Wien einen Funktionsverlust hinnehmen müssen wie der Louvre oder die Tuilerien. Gerade die preußischen Herrscher hatten in der Stadt weitergebaut, sie als Repräsentationsraum des Herrschers entdeckt und damit ganz entscheidend zu dem Profil beigetragen, das sich mit der Außendarstellung als Kulturmetropole verbinden sollte. Die Französische Revolution definierte das Verhältnis von Monarchie und Stadt dann aber schon wenige Tage nach dem Bastillesturm neu. Als Ludwig XVI. am 18. Juli Paris besuchte und ihm von dem Pariser Bürgermeister, dem Astronomen Bailly, die Trikolorenkokarde ans Revers geheftet wurde, warfen die Oktoberereignisse und die Demütigung des 10. August 1791 ihre Schatten schon voraus. Bailly war sich der symbolischen Bedeutung des Augenblicks sehr wohl bewusst. Als er dem König die Schlüssel der Stadt überreichte, formulierte er: „Sire, Heinrich IV. hat sein Volk zurückerobert, heute aber hat sich das Volk seinen König zurückerobert“.18 Nur wenige Wochen später wurden der Niedergang der Fürstensouveränität noch greifbarer. Am 3. Oktober 1789 traf in Paris die Nachricht ein, der König habe zugesehen, wie die Kokarde bei einem Diner des Garderegiments mit Füßen getreten worden sei. Daraufhin formierte sich ein Zug vor allem von Frauen aus dem Faubourg St. Antoine und dem Bezirk Les Halles, die nach Versailles ziehen und den König zwingen wollten, in die Hauptstadt zurückzukehren. Der König musste sich schließlich fügen. Noch herrschte Festtagsstimmung. Die Menschen, die den Einzug der königlichen Familie am Straßenrand verfolgten, jubelten dem König mit der Parole zu ‚Wir bringen den Bäcker, die Bäckersfrau und den Bäckerjungen zurück‘. Auf den Piken der Nationalgardisten, die den König begleiteten, steckten Brotlaibe.19 In Wahrheit freilich hatten sich das Volk des Königs und die revolutionäre Metropole der Monarchie endgültig bemächtigt. Für den scharfsichtigen Royalisten Rivarol war das Schicksal der Monarchie damit – mag sein aus der Retrospektive – besiegelt. Die Demontage der alten Monarchie nahm freilich noch ein paar Monate mehr in Anspruch. Der Souveränitätskompromiss der Verfassung von 1791 drängte den König bereits in die Defensive des Vetos. Nach der gescheiterten Flucht nach Varennes hatte Ludwig XVI. dann endgültig ausgespielt. Als er in das Gefängnis seiner Hauptstadt zurückkehrte, um 17 Norbert Elias entwickelt sein Modell des Hofes als Instrument der Disziplinierung des Adels am französischen Beispiel und thematisiert dessen Übertragbarkeit auf die anderen europäischen Staaten nicht. Vgl. Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, Darmstadt 1975. Die Hofforschung greift auf dieses Grundlagenwerk entsprechend selektiv zurück, vgl. etwa Volker Bauer: Hofökonomie. Der Diskurs über den Fürstenhof in Zeremonialwissenschaft, Hausväterliteratur und Kameralismus, Wien 1987. 18 Antoine de Rivarol: Politisches Journal eines Royalisten. 5. Mai bis 5. Oktober 1789. Nach der Ausgabe der Mémoires de Rivarol. Ed. Berville, Paris 1924. Hrsg. v. Johannes Willms, Frankfurt/M. 1989, S. 58. 19 Ebd., S. 196/197.
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schließlich Prozess und Hinrichtung auf sich zu nehmen, herrschte verbittertes Schweigen. Am 20. Juni wurde er als ‚dicker Ludwig‘ im Tuilerienschloss verspottet und muss es sich gefallen lassen, dass ihm die stundenlang vorbeiziehende Menge die Jakobinermütze aufsetzte. Am 10. August erzwang die Menge den Absetzungsbeschluss. Es folgten ein Prozess, eine Abstimmung im Konvent und am 21. Januar 1793 eine Hinrichtung. Ohne viel Federlesens hatte sich der neue Souverän, der Volkssouverän, seines angeschlagenen Konkurrenten, des Fürstensouveräns, entledigt, wobei das Volk der Metropole stellvertretend für die Nation die Gangart bestimmt hatte. Die Liquidation des Königtums hat die politische Position der Metropole in Frankreich nicht nur nicht vermindert, sondern im Gegenteil sogar gestärkt. Das lag nicht nur daran, dass sie der natürliche Versammlungsort für den auf der Grundlage des Repräsentativsystems operierenden Wahlsouverän war, sondern mehr noch daran, dass die Vertretungskörperschaften der Revolution immer wieder unter den Druck der Pariser Volksbewegung gerieten, die sich als Sachwalter der Revolution gerierte und durch den Krieg seit 1792 in Angst und Schrecken versetzt wurde. Wenn das große Strafgericht für die unerhörte Provokation des monarchischen Europa über Frankreich hereinbrach, dann würde es die Pariser sicherlich besonders hart treffen. Seit der Hinrichtung des Königs gab es dann keinen Weg mehr zurück. Paris war auf Gedeih und Verderb mit der Revolution verbunden. Der Höhepunkt dieser Konfrontation zwischen dem ja nach gleichem und allgemeinem Wahlrecht gewählten Konvent und der Volksbewegung war am 2. Juni 1793 erreicht, als bewaffnete Bürger den Sitzungssaal umstellten und die Verhaftung der führenden girondistischen Abgeordneten erzwangen. Nach dieser Säuberung verfolgte die Bergpartei, die nun die Macht im Konvent innehatte, einen streng zentralistischen Kurs, weil sie fürchtete, dass die Rücksichtnahme auf die gegen diese Usurpation auftretenden Departements die Revolution einem regionalen Zerfallsprozess ausliefern würde. Der jakobinische bzw. linke Zentralismus sollte zu einer Schlüsselposition in der französischen politischen Kultur des 19. Jahrhunderts werden, die schließlich aus diesem turbulenten Gründungsgeschehen hervorging. In den Jahren 1792 bis 1795 wurde die Metropole Paris zur exklusiven politischen Bühne Frankreichs. Was hier geschah, betraf mehr noch als zu Zeiten des Ancien Régime das ganze Land.20 Die Ereignisse veränderten das Verhältnis von Monarchie und Bevölkerung nicht nur in Frankreich von Grund auf. Sie waren der Höhepunkt einer Herrschaftsrevolution, die an die Stelle des Verständnisses von Herrschaft als Besitz von Herrschaftsbesitzern die Vorstellung von Herrschaft als Mandat freier Bürger setzte – freier Bürger, die einen Anspruch darauf hatten, dass die öffentliche Gewalt als ein Amt versehen und zu ihrem Nutzen ausge20 Günther Lottes: Demokratische Revolution und politische Kultur des Volkes. Zu den Wandlungen des Politischen in der Volkskultur an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: Heiner Timmermann (Hrsg.): Die Französische Revolution und Europa. 1789–1799, Saarbrüchen 1989, S. 623–544; Günther Lottes: Sansculotten und Demokraten. Zur Gründungsgeschichte kleinbürgerlicher Protestbewegungen, in: Ernst Wangermann u.a. (Hrsg.): Die schwierige Geburt der Freiheit. Wiener Symposion zur Französischen Revolution, Wien 1991, S. 33–56.
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übt wurde. Das französische Schauspiel und die Lehren, die daraus zu ziehen waren, alarmierten Fürsten und Herrschaftsbesitzer in ganz Europa und veränderten auf lange Sicht sowohl das Selbstverständnis als auch die Selbstdarstellung der Monarchie. Der Abschöpfungsstaat und die Adels- und Privilegiengesellschaft des Ancien Régime wandelten sich zum Dienstleistungsstaat und zur Eigentümergesellschaft. Ich kann diesen Umbruch hier natürlich nicht vertieft darstellen, sondern muss mich auf eine knappe Skizze der Folgen beschränken, die er für die Metropolen hatte. Waren die Metropolen bisher gleichsam in Ergänzung zu den Residenzen Projektionsräume fürstlicher Selbstdarstellung gewesen, die in der Symbolkonkurrenz des Mächtesystems Rang und Stärke signalisierten, so wurden sie nun zu Projektionsräumen der Volkssouveräne, die an die Stelle der Fürstensouveräne getreten waren. Damit ging eine Veränderung der Richtung einher, in der die Signale symbolischer Politik abgegeben wurden. Waren diese Signale bisher vor allem nach außen in die Öffentlichkeit der Souveräne gerichtet, so schob sich als Adressat der Symbolpolitik nunmehr das zur politischen Nation transformierte Publikum im eigenen Land in den Vordergrund. Der Staat demonstrierte seine neue Zweckbestimmung in öffentlichen Bauten, in spektakulären Umnutzungen, die auch die von der Dynastie selbst genutzten Gebäude nicht ausschlossen, und in einer Denkmalpolitik, welche die Erinnerung an Gemeinschaftsleistungen der Nation, sei es im Kampf mit Napoleon für die gloire der Grande Nation oder gegen Napoleon für die Freiheit der Nation, in den Vordergrund stellte. Dies lässt sich ganz kurz mit drei Beispielen aus drei unterschiedlichen Metropolen belegen: Londons 1829 begonnener Trafalgar Square, der Englands unermüdlichen Kampf gegen die hegemoniale Bedrohung durch Napoleon und die Verteidigung der englischen Freiheit(en) feierte, mit der National Gallery, für die 1824 der Grundstein mit dem Erwerb der Sammlung Angerstein gelegt wurde; das Scheitern der Bemühungen Karls X., seinem Bruder Ludwig XVI., in Paris ein Denkmal zu errichten – als der Sockel 1830 gesetzt war, brach die Juli-Revolution aus –; die Umnutzung des Prinz-Heinrich-Palais in Berlin als Universitätsgebäude, das einem neuen Bildungsideal verpflichtet sein sollte.
Die Metropole als Theorem und Metapher Die Französische Revolution hat als Gründungsakt der politischen Moderne auf Frankreich, auf Europa und schließlich auf die ganze Welt eine kaum zu unterschätzende Wirkung ausgeübt – zum einen realgeschichtlich durch die politische Kultur der Partizipation und der Grundrechte, die sie geschaffen hat, zum anderen durch ihren nachhaltigen Einfluss auf das politische Denken. Dabei ist es für die politische Praxis des 19. und 20. Jahrhunderts besonders wichtig geworden, dass diese Ortsbestimmungen der Revolution nicht auf die ‚graue‘, mehr oder weniger akademische Theorie beschränkt blieben, sondern sich bildreich in der politischen Phantasie aller Lager verankerten. Das lässt sich sowohl für die Konservativen als auch für die Linke im weitesten Sinne zeigen. Für die Ersteren war die Revolution ein Inversionsritual, das nachgerade apokalyptische Dimensionen anzunehmen und in einer Orgie der Gewalt, der Entrechtung und Vertreibung zu münden drohte. Von Edmund
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Burkes Reflections on the Revolution in France über Bismarcks cauchemar des revolutions bis zu Ernst Noltes eigenwillig-selbstreflexiver These vom Präventivkrieg der deutschen Rechten gegen die linke Revolution paaren sich hier analytischer Scharfsinn und hysterische Verunsicherung.21 Für die Letzteren war die Revolution die Parusie der irdischen Gerechtigkeit in einer Welt, aus der die wissenschaftliche Revolution des 17. Jahrhunderts Gott vertrieben hatte. Diese Heilserwartung klingt in den Worten der Internationale nach: „Völker hört die Signale, auf zum letzten Gefecht! [...] Es rettet uns kein höh‘res Wesen, kein Gott, kein Kaiser noch Tribun“. In einer an das frühe Christentum erinnernden Weise hatten die Sozialisten mit dem Problem der Parusieverzögerung zu kämpfen und sahen sich wie die Revisionisten am Ende des Jahrhunderts immer wieder von der historischen Entwicklung überholt. Wir wollen diese Interpretationslinie hier jedoch nicht weiter verfolgen und uns statt dessen einem anderen Aspekt der Verarbeitung der Revolutionserfahrung zuwenden, der für unser Thema, den Zusammenhang von Metropole und Revolution als politisches Theorem und als politische Metapher, in einem engeren Sinn relevant ist. Er führt uns aus dem Revolutionsgeschehen des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts in das Jahr der Juli-Revolution von 1830. Karl X., dem zweiten Bruder Ludwigs XVI., der 1826 den Thron bestiegen hatte, fehlte das politische Augenmaß Ludwigs XVIII. Seine Verschärfung der Restaurationspolitik führte in Verbindung mit einem wirtschaftlichen Abschwung in eine Krise, in welcher der monarchische Staatsstreich schließlich der einzige Ausweg schien. Karl X. verschärfte die Pressezensur, löste die Kammer auf und erhöhte den Wahlzensus. Daraufhin brach in Paris ein Aufstand aus, der das Regime hinwegfegte. In den Straßen der Metropole wurde wieder gekämpft. Ein breites Spektrum der Bevölkerung solidarisierte sich gegen die Regierung, auch wenn nicht alle später gleichermaßen von ihrem Engagement profitierten. Überall in der Stadt wurden Barrikaden errichtet, die es dem Militär unmöglich machen sollten, die Stadt zu kontrollieren. Nach drei Tagen, die später als die ‚Trois Glorieuses‘ bezeichnet werden, gab der König auf und räumte den Thron für Louis-Philippe aus dem Hause Orléans. Die konstitutionelle Monarchie und das parlamentarisches System waren damit gerettet. Die gesellschaftliche Basis des Regimes verschob sich von der Aristokratie und den Großgrundbesitzern nunmehr zum juste milieu des Renten- und Erwerbsbürgertums hin. Aber das ist nicht alles. Die eigentliche Bedeutung der Juli-Revolution liegt in den Schlüssen für die politische Praxis, die sich daraus ziehen ließen. Der Sommer 1830 lehrte nämlich, dass ein Systemwechsel durch einen Aufstand wie 1789 weiterhin möglich war. Die Revolution von 1789 musste also kein einmaliges Geschehen bleiben, sondern war wiederholbar. Sie wurde damit vom Weltgericht am Zeitenende zu einem politischen Mittel, das im Kampf um die Macht pragmatisch zum Einsatz gebracht werden konnte. Die 21 Edmund Burke: Reflections on the Revolution in France (1790), Harmondsworth o. J.; Ernst Nolte: Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945. Nationalsozialismus und Bolschewismus. 5. Aufl., München 1997.
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Juli-Revolution lehrte zweitens, dass die Revolution machbar war – ja nicht bloß machbar, sondern – und das war aus der Sicht des Besitzbürgertums noch wichtiger – auch beherrschbar. Wer die Revolution betrieb, der begab sich nicht notwendigerweise auf eine Höllenfahrt. Das machte die Revolution im wahrsten Sinne des Wortes salonfähiger. Sie blieb als politisches Instrument nicht den jakobinischen Radikalen und auch nicht den potentiell immer auf ihre Stunde wartenden sansculottischen Massen überlassen, sondern stellte auch für das bürgerliche Lager eine freilich mit aller Vorsicht zu handhabende politische Option dar. Das bedeutete freilich auch drittens, dass die Revolution durch geeignete Gegenmaßnahmen verhindert werden konnte. Die von bewaffneten Bürgern besetzte Barrikade und der Aufmarsch des Militärs wurden zu den Symbolen von Machbarkeit und Besiegbarkeit der Revolution, welche die Druckgraphik der Zeit in abertausenden Exemplaren verbreitete. Sie blieben in der politischen Ikonographie des 19. Jahrhunderts und in den Köpfen der Zeitgenossen fest verankert. Allerdings schälten sich in diesem Punkt schon bald nicht unerhebliche Meinungsunterschiede darüber hinaus, wie weit der Begriff der Machbarkeit zu fassen sei. Wer wie Marx die Revolution auch als eine geschichtsphilosophische Kategorie begriff, der musste zu dem Schuss kommen, dass diese nur dann Aussicht auf Erfolg haben könne, wenn die historisch notwendigen gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen erfüllt seien. Dagegen hielten aktionistische Vertreter der Linken wie Buonarotti, ein ehemaliger Parteigänger Babeufs und Geheimbündler seit der Marginalisierung des jakobinischen Lagers, und Auguste Blanqui, dass die Revolution von einer kleinen Avantgarde von einschlägig geschulten Berufsrevolutionären durchgeführt werden könne. Zwar mussten auch diese zum richtigen Zeitpunkt zuschlagen, der indes nicht geschichtsphilosophisch, sondern eher taktisch bestimmt war. Es bestand Einigkeit, dass die Revolution in ihrem Verlauf der Rückendeckung durch die Massen bedürfe. Wie spontan und wie massiv diese Unterstützung auszufallen habe, blieb indes umstritten. Im Lager der Linken wurde über diese Punkte über Jahrzehnte hinweg heftig gestritten. So wurde gegen die Machtergreifungsstrategie der Bolschewiki der Jakobinismusvorwurf erhoben; 1917 wies Lenin in einem berühmt gewordenen Artikel über Marxismus und Aufstand den Blanquismusverdacht von sich. Auf der politischen Rechten blieben diese Flügelkämpfe nicht unbeobachtet. Genüsslich reduzierte der faschistische Renegat Curzio Malaparte in seinem Essay Tecnica del copo di stato die Oktoberrevolution und besonders die Rolle Trotzkis auf das Niveau des Staatsstreichs.22 Aber auch im Lager der Linken blieb nicht unbemerkt, welche Gefahren für die Ideale der sozialen Bewegung von der Fixierung auf den Kampf um die Staatsgewalt ausgingen, die nach der Revolution von 1830 einsetzte. Joseph Proudhon legte den Finger in seinen Confessions d‘un révolutionnaire in die Wunde: „So zehrte sich die Demokratie selbst ab durch ihr Trachten nach der Gewalt des Staats, deren Vernichtung durch ihre Verteilung gerade der Zweck der Demokratie ist.“23 Konsequent setzte er der Idee der Revolution von oben die Vorstellung einer sich von 22 Curzio Malaparte: Technik des Staatsstreichs, Berlin 1988, S. 25 23 Pierre Joseph Proudhon: Bekenntnisse eines Revolutionärs, um zur Geschichtsschreibung der Februarrevolution beizutragen. Hrsg. v. Günther Hillmann, Hamburg 1969, S. 91.
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unten aufbauenden Vereinnahmung der Produktionsmittel und der exekutiven Funktionen entgegen, die im Anarchosyndikalismus weiter wirkte. Das Revolutionsgeschehen wurde in den folgenden Jahrzehnten mit dem Blick auf weitere Aufstandserfahrungen in Frankreich und anderswo in Europa zu einer bei den verschiedenen Akteuren unterschiedlich scharf konturierten politischen Denkfigur verarbeitet. Der Vorgang lässt sich mit der Transformation der antiken Politikerfahrungen in die moderne Verfassungslehre in der Frühen Neuzeit vergleichen. Zugespitzt formuliert, wurde die Revolution von 1789 damit gleichsam zur Antike der Moderne. Und das ist sie in der Tat, solange die aus dem 19. Jahrhundert überkommenen politischen Lager noch existierten, auch geblieben. Die Revolution von 1848 wurde europaweit vor diesem Hintergrund erlebt und interpretiert und trug wiederum durch ihre eigene Praxis zur theoretischen und metaphorischen Verdichtung der Revolutionsvorstellung bei. Hören wir den Revolutionstheoretiker Auguste Blanqui zu diesem Prozess. In seinen Instruktionen für den Aufstand aus dem Jahre 1868/71 stellt er rückblickend fest: Ein Pariser Aufstand nach den alten Praktiken hat heute keine Aussicht auf Erfolg mehr. 1830 reichte die bloße Volksbegeisterung aus, eine Macht niederzuwerfen, die vom bewaffneten Aufstand überrascht und in Panik versetzt wurde: ein unerhörtes Ereignis, das alle Voraussagen bei weitem übertraf. Das ging einmal gut. Die Regierung, die – obwohl sie aus einer Revolution hervorgegangen – monarchisch und konterrevolutionär geblieben ist, hat aus dieser Lektion gelernt. Sie begann, den Straßenkampf zu studieren, und bald hat sich die natürliche Überlegenheit von Erfahrung und Disziplin durchgesetzt. Trotzdem wird man sagen: das Volk hat 48 mit der Methode von 1830 gewonnen. Nun gut! Aber keine Illusionen! Der Februar-Sieg ist ein Glücksfall. – Wenn Louis Philippe sich ernsthaft verteidigt hätte, dann hätten die Uniformierten auch die Macht behalten. Der Beweis dafür sind die Juni-Tage. Da konnte man sehen, wie unheilvoll die Taktik oder vielmehr das Fehlen einer Taktik des Aufstands ist [...].24 Im Zentrum dieser Beschäftigung mit der Revolution standen die Schauplätze des Aufstands, die Handlungsmuster der Aufständischen und der Einsatz der Ordnungsmacht. Zunächst ist festzuhalten: Die Revolution des 19. Jahrhunderts ist eine städtische, genauer gesagt eine metropolitane Affäre. Die Erfahrung seit 1789 lehrte, dass der Machtapparat von seinem Kopf her ausgehebelt werden konnte und musste. Wer die Hauptstadt kontrollierte, der kontrollierte den Staat. Was Deutschland anging, so führte diese Einsicht in ein fatales Dilemma. Denn hier sahen sich die Revolutionäre gezwungen, die alte Obrigkeit dezentral, in den Einzelstaaten, niederzuringen, ihre nationale Alternative aber zentral zu formulieren. Aber die dezentralen Revolutionen ließen sich nicht zusammenführen, während dem revolutionären Zentrum in Frankfurt das Gegenüber fehlte, dem es die Legitimität hätte streitig machen können. 24 Louis-Auguste Blanqui: Instruktionen für den Aufstand, in: ders.: Schriften zur Revolution, Nationalökonomie und Sozialkritik. Hrsg. v. Arno Münster, Hamburg 1971, S. 156.
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Innerhalb der Stadt konzentrierte sich der Kampf auf bestimmte strategisch bedeutsame Punkte, deren erfolgreiche Verteidigung bzw. Vereinnahmung Sieg oder Niederlage bedeuteten. Das sind auf der Seite der Staatsmacht die Regierungsgebäude, allen voran das königliche Schloss, aber auch das Rathaus als Sitz der Stadtregierung, dann Kasernen und Zeughäuser, soweit diese überhaupt noch innerhalb der Stadt gelegen waren, schließlich die freien Plätze, welche die Obrigkeit oftmals durch Denkmäler oder Paraden für sich reklamiert. Am Ende des Jahrhunderts, als sich das Stadtleben auf einem höheren technologischen Niveau entfaltet, sollte der Zugriff auf die Infrastruktureinrichtungen, Elektrizitätswerke, Wasserwerke, Telegraphenämter und Bahnhöfe hinzukommen. Aber soweit war es vorerst noch nicht. Bis in die Zeiten der Commune von 1871 ging es vorderhand um die Raumherrschaft in der Stadt. Dies lässt sich am Beispiel der Ereignisse vor und im Berliner Stadtschloss am 17. März 1848 illustrieren, welche die Märzrevolution auslösten. Gegen Mittag versammeln sich auf dem Schlossplatz die so genannten Schutzbürger Berlins, die nach den Vorstellungen der Behörden bei Unruhen als Friedensstifter auftreten sollen. Um sie sammelt sich schnell eine große Menschenmenge, so dass der Platz schwarz von Menschen ist. Als der Berliner Stadtmagistrat bekannt gibt, dass der König ein freizügiges Pressefreiheitsgesetz unterzeichnet hat, bricht lauter Jubel aus; die Menge will dem König danken, ihn in ihre Mitte aufnehmen. Gegen zwei Uhr erscheint Friedrich Wilhelm IV. dann auf dem Balkon des Schlosses, kann sich aber nicht verständlich machen. Der Minister von Bodelschwingh dringt nur zu den vorderen Reihen durch und verkündet, der König habe ein freysinniges Preßgesetz erlassen und den Landtag berufen. Wieder frenetischer Jubel. Der König verneigt sich – eine unter diesen Umständen etwas steife Geste. Auf dem Platz gelangt nun ein Extrablatt der Allgemeinen Preußischen Staatszeitung zur Verteilung und Verlesung, das die Einzelheiten des neuen Gesetzes bekannt machen soll. Der Auflauf ist mittlerweile so groß, dass die Menschen in die Schlossportale gedrängt werden und die dort vorsichtshalber stationierten einsatzbereiten Soldaten bemerken. Es nützt nun nichts mehr, dass sich von Bodelschwingh und andere unter die Menge mischen und diese zum Abzug zu bewegen versuchen. Der Jubel ist in Angst umgeschlagen, die sich in der Forderung ‚Militär zurück‘ Luft macht. Im Schloss macht sich nun Panik breit. Der König löst schließlich den beliebten Stadtkommandanten von Pfuel von seinem Kommando ab und befiehlt dem Generalleutnant von Prittwitz, den Schlossplatz zu säubern. Das Manöver ist, wie der König befohlen hat, von einer zurückhaltenden Deutlichkeit geprägt. Die Schusswaffen werden nicht in Bereitschaft gehalten. Dennoch lösen sich, als der Platz sich schon leert, zwei Schüsse aus der Waffe eines Soldaten. Nun rettet sich, wer kann. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich der Ruf ‚Verrat, Verrat. Man schießt auf das Volk‘. Das Vertrauen, das der König durch seine Zugeständnisse eben noch gewonnen hat, ist mit einem Schlag verspielt.25
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Die Darstellung nach Adolf Streckfuß: 1848. Die Märzrevolution in Berlin. Ein Augenzeuge erzählt. Hrsg. v. Horst Denkler in Zusammenarbeit mit Ingrid Denkler, Köln 1983, S. 48–53.
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Es geht bei dieser Konfrontation nicht so sehr um Inhalte, sondern um die symbolische Konstellation. Das Volk ist ja mit den Zugeständnissen des Königs zufrieden, die dieser zwar nicht freiwillig, aber auch nicht unter Druck, sondern als Teil einer längerfristigen Kompromissstrategie gemacht hat. Was der König wirklich fürchtet, das ist die physische Nähe des Volkssouveräns, der unausgesprochen mit ihm konkurriert. Er kann es nicht zulassen, dass der Volkssouverän als Menschenmenge auf seinem Platz Gestalt annimmt. Umgekehrt will die Volksmenge den König durch ihren Jubel vereinnahmen, ihn in die Mitte nehmen – ganz so wie die Pariser einst Ludwig XVI. aus Versailles in die Hauptstadt zurückgeholt haben. Nicht zuletzt deshalb reagiert die Menge so hysterisch auf die Präsenz des Militärs, das den König abschottet und eine Gegnerschaft zum Ausdruck bringt, die man in dieser Stunde des Jubels überwunden glaubt. Der Schlüssel zum Verständnis der Revolution liegt denn auch darin, dass der Volkssouverän in ihr Gestalt annimmt und damit den einzigen Feldvorteil, den sein Konkurrent, der Fürstensouverän, für sich in Anspruch nehmen kann, nämlich die physische Präsenz, zunichte macht. Das ganze Revolutionsgeschehen war von diesen Objektivierungen oder besser Subjektivierungen des Volkes durchzogen. Hier liegt der Sinn der ubiquitären Versammlungen und Aufmärsche, denen zugleich die Funktion zukam, die revolutionäre Stimmung anzufachen und aufrechtzuerhalten. In der revolutionären Erregung konnte sich der Volkssouverän sinnlich erfahren. Und hier liegt auch der Sinn der Barrikaden, mit denen das Volk vom öffentlichen Raum der Straßen und Plätze Besitz ergriff. Ihr Zweck war nicht so sehr ein militärischer. Einen solchen versuchten ihnen Berufsrevolutionäre vom Schlage eines Blanqui erst zu geben, wenn sie über Verbesserungsvorschläge beim Bau, bei der Besetzung und bei der Verteidigung der Barrikaden nachdachten.26 1830, 1848 und auch noch später, ja sogar 1968, spielte dieser Aspekt jedoch keine wirklich tragende Rolle. Die Barrikade war vielmehr ein politisches Zeichen im Souveränitätskonflikt der Revolution. Der Anspruch der Barrikade ließ sich ohne weiteres auf Flugblättern und in Flugschriften in Worte fassen, stellte die revolutionäre Bildpropaganda aber vor beträchtliche Schwierigkeiten, weil die Defensivausrichtung der Barrikade im Widerspruch zu der Bewegungsrichtung des historischen Fortschritts stand. Die Barrikadenkämpfer wurden deshalb gerne in dem Augenblick festgehalten, in dem sie, wie auf Delacroix‘ berühmtem Bild, die Barrikade aufgaben und zum Gegenangriff ansetzten, zumindest aber in dem Augenblick, in dem sie in Siegespose auf der Barrikade die erfolgreiche Abwehr eines Angriffs bejubelten. Barrikaden entstanden in den Anfangsphasen einer Revolution in der Regel spontan und unkoordiniert. Der Volkswille, den sie zum Ausdruck brachten, war ortsgebunden und daher fragmentiert. Für Blanqui gehörte es zu den entscheidenden Defiziten der Volksaufstände, die er 1868 im Rückblick analysierte, dass die Barrikadenbauer auf ihre Barrikade fixiert blieben und der Nachbarbarrikade nicht einmal dann zur Hilfe eilten, wenn sie angegriffen wurde. So würde, prophezeite er, das Militär wie 1848 in Paris immer wieder leichtes Spiel haben. Blanqui zog daraus den Schluss, dass die Revolution als politische Strategie nur dann erfolgreich sein 26
Blanqui: Instruktionen (wie Anm. 24), S. 164–166.
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könne, wenn es gelang, den Aufstand zu koordinieren und zu einem militärischen Unternehmen zu machen, selbst wenn die Spontaneität der Erhebung dabei auf der Strecke bliebe. Blanquis Kritik war berechtigt. Effizienz und Spontaneität gingen in den Revolutionen des 19. Jahrhunderts selten Hand in Hand. Victor Hugo hat diese Sachverhalte in seinem großen Roman Les Misérables mit feinem politischen Gespür in eine literarische Szene umgesetzt. Der Konflikt zwischen Javert und Jean Valjean erreicht 1832, also bei einem Folgeaufstand, im Schatten einer Barrikade einen neuen Höhepunkt. Keiner von beiden ist an den politischen Auseinandersetzungen um sie herum interessiert. Javert verfolgt nur Valjean, scheitert aber daran, dass die öffentliche Gewalt ihren Zugriff auf die Stadt verloren hat. Ein Fortkommen ist überhaupt nur über die Pariser Kloakenkanäle, die Unterwelt des Sergeanten Tavernier, möglich. Zugleich verschafft der Volksaufstand, der den Zugriff der Staatsgewalt blockiert, Jean Valjean die Möglichkeit, sich dem Zugriff Javerts erneut zu entziehen. Die Rede, die der Barrikadenkämpfer Enjolras auf der Barrikade als Kulisse dieses menschlichen Dramas hält, kommentiert Hugo mit sanfter Ironie schon in der Kapitelüberschrift „Quel horizon on voit du haut de la barricade“.27 Die Staatsmacht beantwortete die Herausforderung der Revolution durch den Einsatz des Militärs. ‚Jedoch zum Abschied die Wahrheit‘, schrieb König Friedrich Wilhelm IV. an den preußischen Gesandten in London, ‚Gegen Demokraten helfen nur Soldaten‘. So martialisch dies klingt, Friedrich Wilhelm bewies am Ende Augenmaß und ließ es zunächst nicht zum Äußersten kommen. Er war durchaus klug, blutige Zusammenstöße zu vermeiden und solange zu warten, bis die Truppenpräsenz eine Stärke erreicht hatte, die den Revolutionären keine andere Wahl ließ als zu kapitulieren. Das Hauptproblem lag ohnehin in der Loyalität der Verbände. Schon 1789 hatte die Solidarisierung der Gardes-Françaises mit dem Volk polizeiliche Maßnahmen gegen die Revolution erschwert. In Preußen stellte sich die Loyalitätsfrage vor allem in Bezug auf die Landwehrregimenter, die seit der Heeresreform zu Beginn des Jahrhunderts das Wehrpflichtelement in der preußischen Armee darstellten und die Stimmung in der Bevölkerung in die Armee hineintrugen. 1813 war dies erwünscht gewesen, 1848 sahen der König und seine Berater darin ein unkalkulierbares Risiko. Diese Befürchtungen stellten sich 1849 als nicht ganz unberechtigt heraus. Der Schlag gegen die Revolution musste von den Linientruppen geführt werden, die allerdings für diese Aufgabe noch nicht speziell bewaffnet und ausgebildet waren. Am 10. November 1848 marschierte der zum Oberbefehlshaber der Marken ernannte General von Wrangel, Chef des 3. Ostpreußischen Kürassierregiments, auf Berlin. Die Berliner Bürgerwehr ergab sich kampflos, die Preußische Nationalversammlung wurde aufgelöst. Aber auch die Stimmung in der Bevölkerung schlug nach der langen Anspannung nun um, was sich an den Anekdoten ablesen lässt, die über das Gespräch zwischen dem Kommandanten der Berliner Bürgerwehr und Wrangel kursierten: „Ich weiche nur der Gewalt“, soll der Major Rimpler gesagt und Wrangel geantwortet haben: „Dann sollten Se jetzt weichen, Herr Major, die Jewalt is’ da!“ 27 Victor Hugo: Les Misérables. 3 Bde., Paris 1967, Bd. 3, S. 215.
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Zwischen Ablehnung und Anerkennung Das polnische Berlin im widerspruchsvollen 19. Jahrhundert
Die polnischen Gönner und Mäzene Vom 18. bis 24. September 1828 fand in Berlin eine Versammlung der deutschen Naturforscher und Ärzte statt. Dieser siebente Kongress der deutschen Naturwissenschaftler, den Alexander von Humboldt und Hinrich Lichtenstein leiteten, bedeutete eine Wende in der Entwicklung der Wissenschaften, verwirklichte er doch die Trennung zwischen Naturwissenschaften und Philosophie, wie sie Humboldt gefordert hatte. Auch in politischer und gesellschaftlicher Hinsicht war die Berliner Naturforscherversammlung ein bedeutsames Ereignis. Fast zwei Wochen lang gastierten 450 Gelehrte aus ganz Europa in der preußischen Hauptstadt.1 In seiner Eröffnungsrede im Saal der Berliner Singakademie begrüßte Humboldt in Anwesenheit des preußischen Kronprinzen die Gäste aus dem Ausland im Geiste eines gesamteuropäischen belebenden wissenschaftlichen Austausches, indem er sagte: Mögen die trefflichen Männer, welche durch keine Beschwerden von Land- und Seereisen abgehalten wurden, aus Schweden, Norwegen, Dänemark, Holland, England und Polen unserem Verein zuzueilen, anderen Fremden, für kommende Jahre, die Bahn bezeichnen, damit wechselweise jeder Theil des deutschen Vaterlandes den belebenden Einfluss wissenschaftlicher Mitteilungen aus den verschiedensten Ländern Europas genieße.2 Polen 1828 ein europäisches Land zu nennen, zeugt von einer großmütigen und polenfreundlichen Haltung Humboldts. Seit 1795 bezeichnete das Wort ‚Polen‘ lediglich eine kulturelle und sprachliche Gemeinschaft; das Land selbst war unter den Nachbarn Preußen, Russland und Österreich aufgeteilt und von der politischen Landkarte Europas verschwun1 2
Johann Jakob Sachs: Die Versammlung der deutschen Naturforscher und Aerzte in Berlin i. J. 1828, kritisch beleuchtet, Leipzig 1828, S. 3. Alexander von Humboldt: Rede, gehalten bei der Eröffnung der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Berlin am 18. September 1828, Berlin 1828, S. 5.
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den. Der von der polnischen Bevölkerung in der Hoffnung auf Wiedererlangung ihrer Unabhängigkeit unterstützte Siegeszug Napoleons führte 1807 zur Gründung eines Pufferstaates und französischen Protektorats, des ‚Herzogtums Warschau‘. Obwohl sie von dem neuen Staatsgebilde enttäuscht waren, verteidigten es die Polen – allerdings erfolglos – gegen die Russen. 1815 entschied der Wiener Kongress für mehr als 100 Jahre über die Zukunft des Landes. Das napoleonische Konstrukt wurde weiter zerstückelt: Ein Teil fiel an Preußen und wurde zum ‚Großherzogtum Posen‘, den Rest annektierte Russland als ‚Königreich Polen‘ (Kongresspolen). Österreich regierte weiter in Galizien, das es sich bereits früher einverleibt hatte. Ungeachtet der fehlenden staatlichen Souveränität beteiligten sich die polnischen Intellektuellen aktiv an der allgemeinen Kultur- und Wissenschaftsentwicklung in Europa. Das wissenschaftliche Leben konzentrierte sich vorwiegend in den akademischen Zentren wie Krakau, Warschau und Wilna. Von dortigen Universitäten kamen auch etliche Naturforscher, die dem Berliner Kongress beiwohnten.3 Zu den Prominentesten unter ihnen gehörte sicherlich Feliks Paweł Jarocki, in den Jahren 1819 bis 1831 ordentlicher Professor und Leiter des Lehrstuhls für Zoologie sowie Begründer und Direktor eines umfangreichen und bekannten zoologischen Museums an der Königlichen Alexandrinischen Universität zu Warschau.4 Zur Berliner Versammlung der Naturforscher reiste Jarocki allerdings nicht allein. Begleitet wurde er von einem 18-jährigen Pianisten, dem der zweiwöchige BerlinAufenthalt die Möglichkeit gewähren sollte, mehr zu hören und zu lernen, als ihm in Warschau geboten werden konnte. Dieser junge musikbegeisterte Teilnehmer der Naturforscherversammlung war niemand Geringerer als Fryderyk Chopin. Bei seinem ersten BerlinAufenthalt wurden seine musikalischen Erwartungen mehr als erfüllt. In den Briefen aus Berlin schildert Chopin seine zahlreichen Opern- und Konzertbesuche.5 Für den Kongress selbst und seine berühmten Teilnehmer, die er abwechselnd mal als ‚Affen‘ und mal als ‚Karikaturen‘ bezeichnete, fand der angehende Komponist dagegen keine anerkennenden Worte. Er verfolgte diese Zusammenkunft der gelehrten Männer aus der Perspektive des Satirikers und sah darin mehr ein dionysisches Fest als eine den wissenschaftlichen Austausch fördernde Begegnung. Doch ausgerechnet dieser verspotteten Geselligkeit der Naturforscher verdankte Chopin seine gesellschaftlichen Erfolge in Berlin. Bei den feierlichen Empfängen anlässlich des Kongresses machte er Bekanntschaft mit Alexander von Humboldt, Gaspare Spontini, Carl Friedrich Zelter oder Felix Mendelssohn.
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Sachs: Versammlung der deutschen Naturforscher (wie Anm. 1), S. 19/20. Diese bedeutende naturwissenschaftliche Einrichtung baute Jarocki nach dem Vorbild des zoologischen Museums der Berliner Universität auf, wo er bereits während seines zweijährigen Studienaufenthalts Bekanntschaft mit dem dortigen Museumsdirektor Hinrich Lichtenstein gemacht hatte. Die in der historischen Arbeitsstelle des Berliner Museums für Naturkunde aufbewahrten Briefe Jarockis an Lichtenstein zeugen von einer anhaltenden und intensiven Zusammenarbeit der beiden Institutionen und ihrer Leiter. Vgl. Historische Arbeitsstelle des Naturkundemuseums in Berlin, RM/B II. Vgl. Adam Zamoyski: Chopin: powścia˛gliwy romantyk, Kraków 2002, S. 43.
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Dank der Naturforscherversammlung begegnete Chopin schließlich dem einflussreichen und in Berlin allbekannten Fürsten und Kunstmäzen Anton Radziwiłł. Dieser polnische Magnat stammte aus einem mächtigen Adelsgeschlecht, dessen Reichtum und Einfluss auf die europäischen Königshäuser weit über die Grenzen Polens hinaus bekannt waren.6 Der Vater des Fürsten verstand es schnell, die Rollen in der Familie politisch ausgewogen, jeweils nach der Gunst der Stunde zu verteilen. Gleich nach der Dritten Teilung Polens sollte daher sein Sohn die Brücke nach Berlin schlagen: Er heiratete 1795 Prinzessin Luise von Preußen, Tochter des Prinzen Ferdinand von Preußen und Schwester des legendären, bei Saalfeld gefallenen Prinzen Louis Ferdinand. Über die schlichte Hochzeit in Berlin soll die Familie des Bräutigams empört gewesen sein und von den preußischen Geizkragen gesprochen haben.7 Gleichwohl verschaffte sich Anton Radziwiłł durch diese Heirat eine enge Beziehung zum Berliner Hof und konnte von nun an auf die größere Gunst der preußischen Regierung für seine Familie hoffen. Seine Erwartungen wurden auch schnell erfüllt. Auf dem Wiener Kongress bestellte ihn Friedrich Wilhelm III. zum Statthalter im Großherzogtum Posen, eine neben dem Amt des preußischen Oberpräsidenten eher repräsentative Pfründe. Kurt Jagow charakterisiert Radziwiłł als einen „schönen, eleganten Mann von liebeswürdigem, gewinnendem Wesen und erlesener Kultur“, als einen Mann, „der als Musiker, Sänger, Zeichner ebenso sehr hervorragte wie durch seine glänzenden gesellschaftliche Talente“.8 Als Komponist ist der polnische Fürst vor allem durch seine Musik zu Goethes Faust bekannt geworden, dessen erste öffentliche Aufführung unter Teilnahme des Hofes am 20. Mai 1819 im Schloss Monbijou in Berlin stattfand. Nach der Amtsübernahme wohnte die mittlerweile zehnköpfige Familie Radziwiłłs im alten Schloss zu Posen (dem ehemaligen Jesuitischen Kollegium) und kehrte alljährlich erst zu Beginn des Winters in die preußische Hauptstadt zurück. Hier wohnte sie in dem – für Radziwiłłs Verhältnisse eher bescheidenen – Palais in der Wilhelmstraße 77, das früher der Geliebten des Königs, dem Fräulein von Dönhoff, gehörte und später Reichskanzlei wurde. In diesem stattlichen, von einem großen Park umgebenen Haus im Zentrum Berlins, das fortan ‚Hôtel de Radziwill‘ hieß, versammelte der geistreiche Fürst einen Musenhof, von dessen Glanz einiges auf die nüchterne preußische Hofhaltung abfiel. Hier konnten so berühmte Gäste wie Chopin und Zelter, Niebuhr und Herzog Karl von Mecklenburg-Strelitz, Stein, Gneisenau, Clausewitz, die Brüder Humboldt – von den Angehörigen des regierenden Herrscherhauses ganz zu schweigen – Revue passieren.9
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Tadeusz Nowakowski: Die Radziwills. Die Geschichte einer großen Familie, München 1966, S. 254. Ebd., S. 262. Kurt Jagow: Wilhelm und Elisa. Die Jugendliebe des alten Kaisers, Leipzig 1930, S. 12/13. Vgl. ebd., S. 12/13.
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Abb. 1: Henryk Siemiradzkis 1887 angefertigtes großes Gemälde von Chopin im Salon des Fürsten Anton Radziwiłł 1829
Der Salon des Fürsten Radziwiłł wurde von dem polnischen Vertreter des akademischen Naturalismus Henryk Siemiradzki auf dem 1887 angefertigten großen Gemälde Chopin im Salon des Fürsten Anton Radziwiłł 1829 verewigt.10 Das Bild, das höchstwahrscheinlich nicht mehr existiert, stellt eine künstlerische Vision Siemiradzkis dar. Unter zahlreichen Zuhörern des Klaviervirtuosen ist der behaglich auf einem Lehnstuhl sitzende Fürst der Mittelpunkt der Komposition. Mehr im Vordergrund sitzen u.a. seine Gattin und der in Nachdenken versunkene Dauergast der Familie Alexander von Humboldt. Abgebildet sind auch zwei von den vier Töchtern der Radziwiłłs. Gleich neben dem Vater steht die ältere Elise, den Kopf ein wenig geneigt, in einem weißen Kleid und mit einer Rose in der Hand. Feinfühlig wird sie von dem Triolen zaubernden Pianisten angeschaut, als ob sie allein die Adressatin seiner seelenergreifenden Polonaisen und Mazurkas in b-Moll wäre. Es scheint, als ob der junge Chopin bereits von dem Unglück erfahren hat, welches über das Haus seines Gönners hereingebrochen ist und welches monatelang das Klatsch- und Tratschthema der Berliner Hofgesellschaft war: Prinzessin Elise, Tochter des polnischen Fürsten Radziwiłł, wurde 1826 von ihrem langjährigen Verlobten, Prinz Wilhelm, des preußischen Königs zweitem Sohn und später Deutschlands erstem Kaiser, verlassen.
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Zur Kontroverse über das auf dem Bild sichtbare Datum 1829 und über Berlin als Ort des Konzertes vgl. Krzysztof Zielenica: Polonica bei Alexander von Humboldt, Berlin 2004, S. 286–289.
ZWISCHEN ABLEHNUNG UND ANERKENNUNG
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Diese fast neun Jahre lang dauernde Liebesbeziehung, von der sogar im dritten Teil von Treitschkes Deutscher Geschichte des 19. Jahrhunderts berichtet wird,11 war mehr als eine unglückliche deutsch-polnische Romanze, wie sie Geschichte und Literatur zur Genüge kennen. Sie war vor allem Opfer der preußischen Staatsräson. Denn an dem Scheitern dieser preußisch-polnischen Annäherung waren nicht die Herzensschwankungen des künftigen Kaisers schuld, sondern das Berliner Kabinett, der preußische König und die russische Regierung. Für das Hausministerium stand die Familie Radziwiłł dem kleinsten altfürstlich regierten Hause in Deutschland nicht gleich, da ihr eine Aussicht auf die Krone Polens entfiel. Der Petersburger Hof dagegen drängte auf eine Heirat mit Prinzessin Augusta von Sachsen-Weimar-Eisenach, Großenkelin Katharinas der Großen. Die Ebenbürtigkeitsfrage und die ängstliche Rücksichtnahme auf die Winke aus Peterburg bestimmten nun Friedrich Wilhelm III., die preußisch-polnische Ehe zu versagen. Der Preußenkönig hatte indessen nicht ganz unwillig das Glück seines Sohnes dem, was er der Dynastie schuldig zu sein glaubte, untergeordnet. Seit Jahren war sein Verhältnis zu dem Fürsten Anton Radziwiłł angespannt. Unter dem 5. Juni 1820 notierte Varnhagen von Ense, dass der König die Einladungen ins Haus Radziwiłł ablehne, weil dort Alexander von Humboldt gastiere, dem der Herrscher seine „mehreren Artikel in auswärtigen Blättern“ übel genommen habe.12 Der Hauptgrund der distanzierten Einstellung Friedrich Wilhelms zu seinem polnischen Untertan war jedoch Radziwiłłs Vorstellung zugunsten seiner Landsleute, die dem König von Mal zu Mal lästiger wurde. Es wäre indessen aber eine Übertreibung, in Radziwiłł einen Kämpfer um polnische Unabhängigkeit zu sehen. Viel mehr strebte er den Wiederaufbau Polens unter Preußens Ägide an. Eine ähnliche Vorstellung von Polens Zukunft vertrat Radziwiłłs eingeheirateter Verwandte, der bedeutende Berliner Kunstsammler Graf Atanasy Raczyński, in Deutschland unter dem Namen Athanasius von Raczyński bekannt. 1788 in Posen geboren, gehörte er mit seinem zwei Jahre älterem Bruder Eduard der zwölften Generation dieses mächtigen polnischen Magnatengeschlechts an. Seit 1795, als Preußen ihre Heimat Großpolen annahm, wurden sie zu Untertanen des preußischen Königs, von dem ihr Großvater für seine Loyalität den preußischen Titel eines Grafen erhielt. Beide Brüder wurden in den strengen Formen einer konservativen, monarchistischen, treu der Legalität verschworenen Gesinnung erzogen, der die Französische Revolution und ihre Folgen ein Schrecken waren. Nach den zerronnenen Hoffnungen, auf der Seite von Napoleon die Unabhängigkeit Polens zu erringen, fasste Athanasius den Entschluss, sich um die Aufnahme in den diplomatischen Dienst des Königs von Preußen zu bewerben. Seiner nicht gerade bescheidenen Ansicht nach erfüllte er dafür alle Bedingungen: Ich bilde mir ein, dass ich an Bedeutung gewinne, dass man beginnt zu erkennen, was ich wert bin, dass man beginnt, meinen Charakter zu schätzen, meine Mittel, meine 11
Vgl. Heinrich von Treitschke: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Teil 3, Leipzig 1885, S. 393. 12 Karl August Varnhagen von Ense: Blätter aus der preußischen Geschichte. Bd. 1, Leipzig 1868, S. 145.
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Vorhaben. Immerhin täte man gut daran, mich anzustellen, denn ich bin nicht mittellos, und der König kann sich auf mich verlassen. Ich will nichts mit Polen zu tun haben: es ist eine Frage, die man nicht berühren kann, ohne sich noch unglücklicher zu machen. Wenn man mich abweist, werde ich fern von der Welt leben, allerdings immer in Preußen.13 In der Erwartung auf Bestätigung in preußischen Diensten weilte Athanasius Raczyński von 1826 bis Anfang 1830 erstmalig für längere Zeit in Berlin. In diesen Jahren intensivierte er die Beziehung zu Karl Friedrich Schinkel, den er sehr verehrte und der dem angehenden Kunstsammler half, die Bilder auszuwählen. Denn bereits in den 1820er Jahren hatte Athanasius Raczyński für seine Heimatstadt Posen ein Galeriegebäude geplant. In der Posener Galerie wollte er hauptsächlich seine Sammlung der italienischen Meister des 15. und 16. Jahrhunderts präsentieren, die zu diesem Zeitpunkt den Schwerpunkt seiner Ankäufe bildeten, darunter so bedeutende Werke wie Botticellis Maria mit singenden Engeln und Lilien. In das fertiggestellte Galeriegebäude zog die Gemäldesammlung der Bauherren jedoch niemals ein. Die Beweggründe waren höchstwahrscheinlich politischer Natur. Nach elf Jahren vergeblicher Bemühungen wurde Athanasius Raczyński 1830 schließlich zum preußischen Gesandten ernannt – ein Posten von eher geringerer Bedeutung – und in Kopenhagen akkreditiert. Hier erlebte er auch die Ereignisse des turbulenten Jahres 1830: die JuliRevolution in Frankreich und den November-Aufstand gegen die Russen in Warschau. Vor allem der revolutionäre Charakter des polnischen Aufstandes führte den konservativen und polnische Unabhängigkeitskämpfe verachtenden Grafen zum Entschluss, seine Gemäldesammlung und seinen Wohnsitz nach Berlin zu verlegen. Hier erwarb er von dem Ehepaar Lutter (Weinhandlung Lutter und Wegener) das stattliche, mit einer aufwendigen klassizistischen Fassade versehene Haus Unter den Linden 21. Mit dem Umzug der Sammlung Raczyńskis nach Berlin verschob sich zugleich deren inhaltlicher Schwerpunkt: weg von den alten Italienern und hin zum Ankauf zeitgenössischer deutscher Malerei. Die Eröffnung der neu konzipierten Galerie fand 1836 am Geburtstag des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. statt – eine Geste, mit der Raczyński seine Sammlung in den Dienst der preußischen Krone stellte. Auch die Hängung der Bilder sollte seine ästhetische und politische Überzeugung ausdrücken. Die Präsentation begann mit den alten Meistern und ging dann über zur deutschen zeitgenössischen Kunst, die die größte Wandfläche des Raumes einnahm. Kunsthistorisch gesehen, ging Raczyński von der Position aus, dass die deutschen Künstler die unmittelbaren Nachfolger der italienischen Meister der Spätrenaissance seien. Den bedeutsamsten Anziehungspunkt der Galerie, die später kostenlos besichtigt werden konnte, bildete der Karton zu Wilhelm von Kaul13 Tagebuch, Eintrag vom 19. Mai 1837, zitiert nach Elise F. Grauer: Tradition als Konstrukt. Graf Athanasius Raczynskis Galerien in Polen und Preußen, in: Robert Born u. a. (Hrsg.): Visuelle Erinnerungskulturen und Geschichtskonstruktionen in Deutschland und Polen 1800 bis 1939, Warszawa 2002, S. 144.
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bachs Hunnenschlacht von 1837.14 Bei den deutschen Künstlern bevorzugte Raczyński Werke von Overbeck und den Nazarenern Schadow, Cornelius, Schwind bis hin zu Menzel. Der 20-jährige Menzel war es dann auch, der 1835 von Athanasius Raczyński beauftragt wurde, ein Titelblatt für den dritten Band seiner Geschichte der neuen deutschen Kunst zu entwerfen.15 Die drei 1836–1841 erschienen Bände von Raczyńskis Kunstgeschichte waren das erste Werk, das sich der zeitgenössischen deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts widmete. Der Aufwand, mit dem er seine Bücher auf eigene Kosten herstellen ließ, in großem Format, auf starkem Papier, sollte den Geschmack und das Stilempfinden des Autors unterstützen. Mit dieser Prachtausgabe, die allerdings sehr teuer war und dadurch nur relativ geringe Verbreitung erfuhr, sowie mit seiner Galerie wollte der polnische Sammler zum Weg-Ebner und Advokaten der deutschen Kunst aufsteigen. Gleichzeitig konnte er sich in Preußen als vorbildlicher Staatsbürger und Mäzen präsentieren. Seine Mitgliedschaft im wissenschaftlichen Kunstverein in Berlin und die Gründung, gemeinsam mit Schinkel, Rauch und Waagen, eines Vereins zur Förderung des Gusses der Amazonengruppe von August Kiß bestätigten lediglich dieses Bild. Das Wohnhaus ‚Unter den Linden‘ entwickelte sich schnell zu einem wichtigen Begegnungsort auf der gesellschaftlichen Karte Berlins und brachte Athanasius Raczyński soziale Kontakte über seinen eigenen Kreis von Adligen, Kunstgelehrten und Künstlern hinaus. Die erste Etage hatte er der englischen Gesandtschaft vermietet, unter dem Dach wohnte 1834-1844 die verwitwete Bettina von Arnim mit ihren Kindern. Bei ihr traf der konservative Raczyński auf das breite Spektrum der Berliner Intellektuellen, vom Juristen Friedrich Carl von Savigny und dem Historiker Friedrich Förster bis hin zu dem Junghegelianer Bruno Bauer.16 Als 1841 Raczyński die Mitteilung erhielt, er solle demnächst die preußische Gesandtschaft in Lissabon übernehmen, entschloss er sich jedoch kurzerhand, sein Palais zu verkaufen. Bei der Suche nach einem Grundstück für den Bau eines neuen Hauses, das günstigere Möglichkeiten zur Unterbringung seiner Kunstschätze bot, fand er sogar die Unterstützung Friedrich Wilhelm IV., der in einer Kabinettsorder seine Bereitschaft kundtat, das Areal direkt neben dem Brandenburger Tor dem Grafen „abzutreten“.17 Dieser nahm das lukrative Angebot an und ließ nach Plänen des Architekten Johann Heinrich Strack am Exerzierplatz, dem späteren Königsplatz, ein neues Gebäude für seine Galerie
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Für Kaulbach war diese Auftragsarbeit sehr folgenreich, wurde ihm doch letztlich durch den Erfolg dieses Bildes in der Raczyn´ ski-Galerie später der Auftrag zu den Wandmalereien im Neuen Museum zuteil. Siehe dazu Angelika Wesenberg: Raczyn´ ski in Berlin, in: Konstanty Kalinowski, Christoph Heilmann (Hrsg.): Sammlung Graf Raczynski. Malerei der Spätromantik aus dem Nationalmuseum Poznan. Katalog der Ausstellung, München 1992, S. 75. 15 Die Auftragsvergabe an Menzel bedeutete indirekt den Durchbruch für dessen Karriere, da in Folge Franz Kugler – überzeugt von dem Ergebnis – dem Verleger Weber Menzel für die 400 Abbildungen seiner Geschichte Friedrich des Großen vorschlug und auch durchsetzte. 16 Wesenberg: Raczyn´ ski in Berlin (wie Anm. 14), S. 77. 17 Michael S. Cullen: Das Palais Raczyn´ ski, in: Kalinowsky, Heilmann: Sammlung Graf Raczynski (wie Anm. 14), S. 61.
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errichten. Strack entwarf einen dreiteiligen Gebäudekomplex in der Tradition der Schinkelschule, in dem allein der erhöhte Mittelbau Raczyński gehörte. Die Seitengebäude unterstanden dem preußischen Kultusministerium und dienten Malern und Künstlern als Ateliergebäude. Trotz der Abwesenheit des Besitzers wurde das ‚Palais Raczynski‘, wie der ganze Komplex von Anbeginn genannt wurde, innerhalb von drei Jahren fertiggestellt. Am 28. März 1847 in Berlin eingetroffen, konnte der Diplomat noch am gleichen frühen Abend sein neues Palais in Augenschein nehmen.
Abb. 2: Königsplatz mit Palais Raczynski um 1880, kurz vor seinem Abriss
Doch nicht die Hausübergabe war der Hauptgrund von Raczyńskis Ankunft in Berlin. Als neues erbliches Mitglied der Herren-Curie sollte er „am widerwärtigen Vereinigten Landtag“ teilnehmen, wie er – von jedem parlamentarischen Gedanken angewidert – die Versammlung der Provinzialstände vom April 1847 charakterisierte.18 Folgerichtig verließ Raczyński das revolutionäre Berlin ohne Unmut, um die Gesandtschaft in Madrid zu übernehmen. Unter Spaniens Himmel konnte er auch mit Genugtuung beobachten, wie der Posener Aufstand gegen Preußen niedergeworfen wurde und „die unheilvolle Revolution des Jahres 1848, die dieser tief durchdachten, zeitgemäß und unverwüstlich sein sollenden liberalen Neugestaltung Preußens ein Ende machte“, endgültig scheiterte.19 Es mag dieser kon-
18 Athanasius Raczyn´ ski: Geschichtliche Forschungen. Bd. 1, Berlin 1860, S. 475. 19 Ebd., S. 475.
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servativen Haltung zuzurechnen sein, dass er auch seinen guten Kontakt zu den Künstlern immer mehr verlor. Seit 1852 durchgehend in Berlin, erwarb er ununterbrochen Kunst, jedoch keine spektakulären Werke mehr. Seine Galerie, die einst eine der bedeutendsten Kunstsammlungen Preußens beherbergte, geriet langsam in Vergessenheit. Im Jahr der Reichsgründung 1871 begannen zudem die schweren Sorgen Raczyńskis um den Bestand seines Palais und seine Sammlung, da die Baukommission ausgerechnet diesen Standort für ein Reichstagsgebäude favorisiert hatte. Der überzeugte Monarchist, der „den modernen Konstitutionalismus immer als eine widerwärtige und schädliche Komödie“ betrachtet hatte,20 war nicht bereit, sein Haus aufzugeben; und er hatte das Recht auf seiner Seite. Erst nach seinem Tod 1874 und langwierigen Verhandlungen wurde das Lebenswerk Raczyńskis durch seinen Sohn dem deutschen Staat verkauft. 1884 wurde das Palais abgerissen und an seiner Stelle der Grundstein für das Reichstagsgebäude gelegt. Die darin befindliche Kunstsammlung wurde der preußischen Regierung unterstellt und 1903 als für das Kunstleben der Hauptstadt nicht mehr angemessen einem Museum „in der bis jetzt an Kunstschätzen armen Stadt Posen“ eingegliedert.21 Lediglich das wohl wertvollste Bild, Botticellis Madonna mit singenden Engeln, blieb als Dauerleihgabe in Berlin und wurde nach dem Zweiten Weltkrieg und mehreren Prozessen durch Bund und Länder von der Familie Raczyński für Berlin erworben. Es ist noch heute eines der Hauptwerke der Alten Nationalgalerie am Kulturforum und gleichzeitig neben einem kleinen Gedenkstein die einzige Spur von dem polnisch-preußischen Mäzen Athanasius Raczyński in der Hauptstadt. Den polnischen Diplomaten in preußischen Diensten wie Radziwiłł oder Raczyński waren die polnischen Unabhängigkeitsbestrebungen immer wieder ein Dorn im Auge, denn sie warfen einen Schatten auf ihre politische Aktivität und ließen Zweifel an ihrer Loyalität zu Preußen aufkommen. Anlass für eine solche Skepsis lieferten allen voran die polnischen Studenten an der Berliner Universität, die in ihren geheimen Statuten bekundeten, stets dahin zu wirken, dass Polen „wieder selbstständig würde und einen eigenen Herrscher erhalte“.22 Im Gegensatz zu dem russischen und österreichischen Teilungsgebiet befand sich auf dem von Preußen annektierten polnischen Territorium keine Universität. Wollten die Polen aus dem Großherzogtum Posen studieren, dann waren sie per Dekret auf die Universitäten in Breslau, Halle und Berlin angewiesen (bis 1810 auch auf die Universität in Frankfurt an der Oder).23 Aussicht auf ein preußisches Staatsamt sowie relativ niedrige Lebenskosten lockten daher die polnische Jugend in die preußische Metropole. Mehrere hundert Polen sollen im Laufe des 19. Jahrhunderts in Berlin studiert haben.24 Viele unter ihnen ließen sich von der liberalen Stimmung in der Hauptstadt mitreißen und versuchten nach dem Beispiel
20 Ebd., S. 475. 21 Zitiert nach Wesenberg: Raczyn´ ski in Berlin (wie Anm. 14), S. 82. 22 Vgl. Manfred Laubert: Die ersten polnischen Studentenverbindungen in Berlin und ihre Beziehungen zur deutschen Burschenschaft, in: Zeitschrift für osteuropäische Geschichte 4, 1914, S. 539. 23 Vgl. Jan Kazimierczak (Hrsg.): Polacy w Berlinie, Inowrocław 1937, S. 10. 24 Ebd., S. 10.
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ihrer deutschen Kommilitonen – oder auch mit ihnen zusammen – ihre politische Tätigkeit in geheimen Vereinen zu entwickeln. Im Hauptbericht der Berliner Immediat-Untersuchungs-Komission von 1821 heißt es auch: So finden sich in unseren Akten Notizen, dass im Sommer 1819 auf der Universität Warschau eine ‚Burschenschaft’ eröffnet wurde, dass auch von den in Berlin und Breslau studierenden Polen das von den deutschen Burschenschaften gegebene Beispiel nicht unbeachtet blieb, und dass endlich in den letzten Monaten des Jahres 1819 selbst von Warschau aus nach Berlin eine geheime Verbindung verpflanzt wurde.25 Diese Worte sind der polnischen Burschenschaft ‚Polonia‘ und dem Freundesbund ‚Panta Koina‘ gewidmet. Während ‚Panta Koina‘ in Warschau 1817 entstand und nach ihrer Übersiedlung nach Berlin 1821 aufgelöst wurde, war ‚Polonia‘ an der Berliner Universität 1818 neu gegründet worden und entwickelte sich in kürzerer Zeit zu einem der mächtigen studentischen Vereine.26 Für den bekanntesten Vertreter der polnischen Burschenschafter und späteren Posener Wohltäter Karol Marcinkowski sollte sich jeder Pole in Berlin so ausbilden, dass „er als solcher Ehre einlege, damit die Nation selbst nie untergehe“.27 Man könnte also die These riskieren, dass Berlin – oder zumindest die Studienzeit in Berlin – sich produktiv auf die Entfaltung und Festigung des nationalen Selbstverständnisses mehrerer polnischer Studenten ausgewirkt hat. Anders gewendet: Die Berliner Universität bildete nicht nur polnische Beamte für den preußischen Staat aus, sondern auch glühende polnische Patrioten. In der polnischen Geschichtsschreibung gilt immer noch die Universität Wilna als größte Wiege der studentischen Geheimbünde, was nicht zuletzt damit zusammenhängt, dass aus den antizaristischen Reihen der Wilnaer ‚Gesellschaft der Philomathen und Philareten‘ der Nationaldichter Adam Mickiewicz hervorging. Die starken litauisch-polnischen Studentenverbindungen (die in der Geschichtspropaganda nach 1945 zu den ersten russisch-polnischen Revolutionszirkeln erklärt wurden) können nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Prozess der polnischen Nationalisierung auch an der Berliner Universität stattfand und dass die Studienzeit in Berlin für viele polnische Unabhängigkeitskämpfer eine politisch prägende Erfahrung gewesen ist. Das beste Beispiel hierfür liefert der ehemalige Berliner Student Karol Libelt, der später als begabter Philosoph und Politiker hervorgetreten ist und als Anführer des gescheiterten Posener Aufstands von 1846 in preußische Gefangenschaft geriet. Unter dem Einfluss der
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Zitiert nach Maria Wawrykowa: Die „Panta Koina” in Warschau und Berlin, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität Jena 5, 1966, S. 247. 26 Maria Wawrykowa: Polskie zwia˛zki studenckie na uniwersytetach niemieckich w latach 1817–1824, in: Przegla˛d Historyczny LX, 1969, S. 328. In dem Streit zwischen der Landmannschaft und Burschenschaft schloss sich ‚Polonia‘ der ‚Arminia‘ an, und bei der Verfolgung der ‚Arminia‘ von 1822 wurden fast 30 ihrer polnischen Mitglieder in die Stadtvogtei abgeführt und zu großem Teil zu mehrmonatiger Festungshaft verurteilt. Vgl. ebd., S. 328. 27 Laubert: Die ersten polnischen Studentenverbindungen (wie Anm. 22), S. 540.
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bürgerlich-demokratischen Bestrebungen in Mitteleuropa seit den 1830er Jahren kam es im geteilten Polen zur intensiven Vorbereitung eines grenzübergreifenden Aufstandes, die jedoch ganz schnell von preußischen und russischen Agenten aufgedeckt wurde. Folge davon waren Massenverhaftungen und Verfolgungen der polnischen Verschwörer. Aus der Posener Provinz wurden über 250 Polen mit Karol Libelt und Ludwik Mierosławski an der Spitze nach Berlin überführt und wegen Hoch- und Landesverrats im Hochsommer des Jahres 1847 vor Gericht gestellt. Es war einer der ersten öffentlichen Prozesse in Berlin und weckte dadurch viel Interesse in der Berliner Öffentlichkeit. Seinen Höhepunkt stellte dabei die Verteidigungsrede von Ludwik Mierosławski dar, in der er leidenschaftlich um Verständnis für den Kampf eines unterdrückten Volkes und von fremden Staaten okkupierten Landes warb. Zugleich behauptete er, der geplante Aufstand sei ursächlich gegen die russische Teilungsmacht gerichtet gewesen sein und das Großherzogtum Posen sei lediglich als Aufmarschgebiet gegen die Moskauer Macht vorgesehen gewesen. Er ging sogar von der Neutralität Preußens im polnischen Widerstand gegen das zaristische Russland aus und spielte dabei bewusst auf die beliebte Idee des gemeinsamen Freiheitskampfes an. Diese geschickte politische Rhetorik machte Mierosławski sehr populär, vor allem „Berlins vornehme Damenwelt“, wie eine Zeitung vermerkte, „schwärmte für den dort vor den Schranken des Hochgerichts stehenden Polen“.28 Genau auf deren Hilfe setzte auch Mierosławskis Schwester, als ihr durch die preußischen Behörden verboten wurde, den Bruder zu sehen. Zuerst bat sie die französische Autorin George Sand um Vermittlung, diese, gerade von Chopin getrennt, lehnte jede Hilfestellung jedoch ab. Sodann nahm sich Raczyńskis frühere Nachbarin Bettina von Arnim ihrer an und schrieb an den König: Welche Beschämung vor aller Welt, den Preußischen Staat gefährdet zu sehen durch den Besuch einer jungen Schwester durch den auf den Tod gefangenen Bruder, der dem Leben entsagt und die Hinrichtung achtete als den Heldentod, der ihn befreie von der Einkerkerung!29 Mit ihrer Intervention erreichte sie jedoch nichts. In einem Antwortschreiben gab Friedrich Wilhelm IV. ihr den Rat, sich in die politischen Angelegenheiten besser nicht einzumischen.
28 Zitiert nach Daniela Fuchs: Der große Polenprozess von 1847 in Berlin, Berlin 1998, S. 44. 29 Bettina von Arnim: Die Sehnsucht hat allemal Recht, Berlin 1984, S. 271.
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Abb. 3: Polenprozess in Berlin 1847
Nach einem viermonatigen Marathon endete der Polenprozess. Das Urteil, das verhältnismäßig milde ausfiel, wurde am 2. Dezember 1847 verkündet. 117 Personen wurden zu Haftstrafen verurteilt, acht, darunter Mierosławski, erhielten die Todesstrafe, 134 wurden wieder auf freien Fuß gesetzt.30 Nach der Urteilsverkündung blieben die Polen im Moabiter Gefängnis, wo sich für sie bereits in den Tagen der Revolution im März 1848 die Tore der Freiheit öffneten. Konkret: Am 19. März erschien eine Gruppe Polen im Schloss, um die Petition für die Befreiung der polnischen Gefangenen zu übergeben. Die Nachricht von der Übergabeaktion verbreitete sich blitzartig in ganz Berlin und bereits am Morgen des 20. März versammelten sich vor dem Schloss Menschenmassen, an deren Spitze die Rechtsanwälte August Wöniger und Vinzenz Deycks, Verteidiger während des Polenprozesses, standen. Gefordert wurde eine sofortige Amnestie. Unter dem starken Druck der Massen gab Friedrich Wilhelm IV. der verlangten Forderung nach. Gegen 13 Uhr empfing eine Menschenmenge vor dem Gefängnis die Polen mit großem Jubel und lauten Rufen: „Es lebe Polen!“, „Es lebe die Freiheit!“, „Es lebe Deutschland!“. Ludwik Mierosławski und Karol Libelt bestiegen einen zum Triumphwagen umgebauten Fiaker, an dem eine schwarz-rotgoldene und eine polnische Fahne befestigt waren. Von etwa 100.000 Menschen begleitet, 30 Vgl. Fuchs: Der große Polenprozess (wie Anm. 28), S. 51.
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begab sich der deutsch-polnische Zug zum Schlossplatz, wo ihn Friedrich Wilhelm IV. zusammen mit seinen Ministern von Arnim-Boitzenburg und von Schwerin vom Balkon des Schlosses aus begrüßte. In einer improvisierten Ansprache stellte Schwerin die Freilassung der Polen als einen großherzigen Akt königlicher Verzeihung dar.31 Die deutsch-polnische Verbrüderung verfloss jedoch ganz schnell. Sowohl in der Paulskirche als auch in der Preußischen Nationalversammlung sprach sich die Mehrheit der Abgeordneten gegen die Loslösung Polens von Preußen aus. Die geforderten Autonomierechte für das Herzogtum Posen wurden entschieden abgelehnt. Zu den prodeutschen Argumenten gesellte sich bald antipolnische Gesinnung: „Mich soll wahrlich keiner beschuldigen, dass ich über das Unglück der Polen jemals gespottet oder gehohnlächelt habe. Ich habe sogar mehr als einmal für ihre Wiederherstellung gestritten“, gestand der Herold der deutschen Freiheitsbewegung Ernst Moritz Arndt. Aber von nun an gäbe es nur noch drei Arten von Polenfreunden: „die Unwissenden, die Narren und die Schelme“.32
Die Berliner Polenfreunde Entgegen Arndts Diskriminierungen fanden sich im Berlin des 19. Jahrhunderts immer wieder Polenfreunde, die mit den nationalen Bestrebungen ihrer Nachbarn sympathisierten oder diese zumindest mit großem Interesse verfolgten. Bereits im berühmt-berüchtigten Varnhagenschen Hause fand die ‚polnische Frage‘ stets Interesse und Anteilnahme. In Varnhagens Tagebuch, das die Zeit vom November 1819 bis zum Dezember 1823 umfasst, werden häufig polnische Themen angesprochen wie z. B. die Ankunft der polnischen Gesandten oder eben die Entdeckung, Verhaftung und Verhöre der polnischen Studenten.33 Nicht minder sorgfältig notierte Varnhagen all jene Treffen, auf denen er mit Polen persönlich bekannt wurde. Bei der Fürstin Clary und der Herzogin von Cumberland sollen seiner Ansicht nach die Polen „durch ihre zusammenhaltende Weise etwas dominieren“ und zuweilen sogar „vorherrschen“.34 Auch der Salon Elise von Hohenhausens galt als ausgesprochen polenfreundlich. Neben den Salons waren es vorwiegend die Kaffee- und Weinhäuser, wo sich die Berliner Polenfreunde trafen. In der ‚Roten Stube‘ von Stehely am Schauspielhaus oder in der Weinstube Lutter und Wegener am Gendarmenmarkt kamen allabendlich polonophile Intellektuelle zusammen wie der bereits zitierte Karl August Varnhagen von Ense mit seiner Frau Rahel, Eduard Gans, Ludwig Devrient, E.T.A. Hoffmann, Christian Dietrich Grabbe, Karl Köchy oder Friedrich von Uechtritz.35 Hinzu kam „das Martinetzische und Lüderwal-
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Vgl. ebd., S. 56. Ernst Moritz Arndt: Polenlärm und Polenbegeisterung (1848), in: August Leffson, Wilhelm Steffens (Hrsg.): Arndts Werke. Kleine Schriften, Berlin 1912, S. 128. 33 Varnhagen von Ense: Blätter aus der preußischen Geschichte (wie Anm. 12), Bd. 2, S. 35, 47. 34 Ebd., S. 193 und 200. 35 Anneliese Gerecke: Das Echo auf die polnische Erhebung von 1830, Wiesbaden 1964, S. 125.
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dische Kaffeehaus, wo vorzugsweise das Volk Israel sein Wesen“ trieb, wie Adolph von Schaden in Berlins Licht und Schattendasein von 1822 nicht ohne judenfeindliche Ressentiments bemerkte.36 Zu den profiliertesten Polenfreunden, die alle diese Orte frequentierten, gehörte neben Adelbert von Chamisso, Baron August von Maltitz oder Friedrich Wilhelm von Gubitz der junge Dichter und Student der Jurisprudenz Heinrich Heine. In seinen Briefen aus Berlin thematisiert er mehrmals die polnischen Themen,37 allen voran die Verfolgung der polnischen Studenten. Ihren nationalen Bestrebungen brachte er viel mehr Sympathie entgegen als der Deutschtümelei der Burschenschafter: Kurländer sind weniger hier. Desto mehr Polen, über 70, die sich meistens burschikose tragen […]. Man sieht diesen Gesichtern gleich an, dass keine Schneiderseele unterm Flausche sitzt. Viele dieser Sarmaten könnten den Söhnen Hermanns und Thusneldas als Muster von Liebenswürdigkeit und edlem Betragen dienen. Es ist wahr. Wenn man so viele Herrlichkeiten bei Fremden sieht, gehört wirklich eine ungeheure Dosis Patriotismus dazu, sich noch immer einzubilden: das Vortrefflichste und Köstlichste, was die Erde trägt, sei ein – Deutscher!38 Der wichtigste Grund für Heines Interesse an Polen wird wohl die kurze, aber innige Freundschaft mit Eugeniusz Bereza (zu Deutsch: Eugen von Bereza) gewesen sein, den er vermutlich in Hegels Kolleg über Ästhetik im Wintersemester 1821/22 kennengelernt hatte. Nach Heines Schilderung war dieser polnische Graf der einzige Mensch in Berlin, in dessen Gesellschaft er sich nicht langweilte und dessen originelle Witze ihn zur Lebenslustigkeit aufzuheitern vermochten.39 Bereza scheint noch weniger als Heine in Berlin studiert zu haben. Als er die leidenschaftliche Gunst der Herzogin Friederike von Cumberland auf sich zog und sich obendrein in der ‚Polonia‘ betätigte, entzog er sich der drohenden Verhaftung, indem er im März 1822 Berlin fluchtartig verließ. Er zog sich auf das Gut seines Vaters in der Nähe von Gnesen zurück, wo ihn Heine in den Herbstferien des gleichen Jahres besuchte. Es war der erste Abschnitt seiner fast sechswöchigen Polenreise. Die in Polen empfangenen Eindrücke verarbeitete er dann in seinem bekannten Aufsatz Über Polen, der im Januar 1823 im Berliner Gesellschafter zum ersten Mal erschien.
36 Adolph von Schaden: Berlins Licht und Schattendasein, Dessau 1822, S. 151. 37 Heinrich Heine: Briefe aus Berlin, Berlin 1983, S. 49. 38 Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hrsg. v. Manfred Windfuhr. Bd. 6, Düsseldorf 1973, S. 13. Zu diesem Motiv kommt bei Heine noch das Engagement für die polnischen Juden, das vor allem durch seinen Beitritt zum ‚Verein für Kultur und Wissenschaft der Juden‘ mobilisiert wurde. In diesem Kreise begegnete er zahlreichen Juden polnischer Abstammung: dem jüdischen Reformprediger und Lehrer Carl Siegfried Günzburg, dem Begründer einer privaten jüdischen Elementarschule Joel Abraham List oder dem Pädagogen Joseph Perl. In der Vereinsschule unterrichtete Heine arme polnische Judenknaben in Geographie und Geschichte mehrere Stunden in der Woche. Vgl. Hanns G. Reissner: Eduard Gans. Ein Leben im Vormärz, Tübingen 1965, S. 32, 53 und 81. 39 Heine: Gesamtausgabe (wie Anm. 38), S. 21.
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Heines Berliner Freund Graf Bereza war gewiss nicht der einzige Pole, dem man in Hegels Seminaren begegnen konnte. Der Philosophieprofessor an der Jagiellonen-Universität in Krakau Józef Kremer schrieb in seinen Erinnerungen an die Berliner Studienzeit, dass Hegel wie ein Halbgott verehrt wurde und dass die Polen fast die Hälfte seiner Studentenschaft ausmachten.40 Der preußische Staatsphilosoph hat seine staatenlose polnische Hörerschaft dennoch nicht geschont. Er stellte kategorisch fest, dass die Polen selbst und nicht die fremden Mächte die Hauptverantwortung für den Untergang ihres Staates tragen. Aber es kam noch härter: In seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte behauptete er, Polen bilde den Zusammenhang mit Asien.41 Er erwähnte zwar, dass die Polen das belagerte Wien 1683 von den Türken befreit hatten, womit ein Teil der Slawen „der westlichen Vernunft erobert“ worden sei. Dennoch blieben die Polen aus seinen Betrachtungen ausgeschlossen, weil sie „bisher nicht als ein selbständiges Moment in der Reihe der Gestaltungen der Vernunft in der Welt aufgetreten“ wären.42 Mit einem Schlag stellte somit Hegel den seit Jahrhunderten gepflegten Mythos von Polen als Vormauer des Christentums (antemurale christianitatis) infrage und erklärte die bisherige historische Entwicklung Polens für ‚unvernünftig‘. Seine polnischen Anhänger unter den Studenten nahmen ihm dieses pejorative Urteil aber gar nicht übel. Im Gegenteil: Sie argumentierten mit Hegel gegen Hegels Kritik. Die von ihrem geistigen Meister postulierte Ahistorizität der Polen interpretierten sie als eine nationale Besonderheit im universellen und vernünftigen historischen Prozess. Für sie bedeutete die selbstverschuldete Auflösung des polnischen Staates eine historisch notwendige Erfahrung, die gemacht werden musste, damit die Polen im Bewusstsein der Freiheit fortschreiten und vom ‚Außer-sich-Sein‘ ins besondere ‚Für-sich-Sein‘ übergehen konnten. Polen sollten sich ihrer Besonderheit bewusst werden, behaupteten die polnischen Studenten Hegels, allen voran der bereits mehrmals erwähnte Philosophiestudent, spätere Unabhängigkeitskämpfer und schließlich Abgeordnete im preußischen Landtag Karol Libelt.43 In Anlehnung an Hegelsche Geschichtsphilosophie zogen er und andere Anhänger des preußischen Philosophen die Schlussfolgerung, dass das polnische Volk eine besondere geschichtliche Mission zu erfüllen habe und somit auch höher als andere Völker gestellt werden müsse.44 Diese Reduktion von Hegels Weltgeist auf den polnischen Volksgeist war eine
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Vgl. Zbigniew Sudolski (Hrsg.): Krynica wiadomos´ci. Korespondencja Józefa Kremera z lat 1834– 1875, Kraków 2007. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: Eduard Gans (Hrsg.): Hegels Werke. Bd. 9, Berlin 1840, S. 127. Ebd., S. 425. Vier Jahre studierte Libelt in Berlin und gehörte angeblich zu den Lieblingsschülern Hegels. Unter seiner Anleitung entstand auch Libelts Dissertation De pantheismo in philosophia, die Hegel sehr positiv begutachtete. Vgl. Jan Stoin´ ski: Pochodzenie, dziecin´ stwo i młodos´c´ , in: Zdzisław Grot (Hrsg.): Karol Libelt 1807–1875, Warszawa 1976, S. 19. Als einer der bekanntesten Vertreter dieser so genannten ‚Polnischen Philosophie der Tat‘ gilt August Cieszkowski, der in Berlin die Vorlesungen des Hegelschülers Michelet gehört hat und später zu den
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politische Philosophie und diente in erster Linie dazu, im Prozess der Nationalisierung des 19. Jahrhunderts das staatliche Unglück im Mythos von der polnischen Nation einzufangen. Mit dem Sieg der Nationalbewegung und der Nationalstaatsgründung von 1871 verlor der Nationalismus seine internationalistische Ausrichtung und wurde nun immer mehr zu einer „Macht des Bestehenden“.45 Nationalliteratur und Nationalkulturen spielten bei dieser Entwicklung eine zentrale Rolle, da mittels Kunst und Kultur die Verknüpfung der Menschen mit der Besonderheit eines national bestimmten Raumes und die Formung einer nationalen Identität am sinnfälligsten zu erreichen waren. Im Zuge dieses gesamteuropäischen Prozesses verstärkte sich auch das organisierte gesellschaftliche Leben der Berliner Polen. Mehrere Vereine und Organisationen wurden gegründet, die sich um die Aufrechterhaltung der nationalen Kultur und Pflege der polnischen Sprache unter den kulturell differenzierten Einwanderern bemühten.46 Von 1889 an existierte in Berlin auch eine polnischsprachige Presse. Zunächst begann man mit der Herausgabe der von der SPD finanziell subventionierten Arbeiterzeitung, des Organs der polnischen Sozialisten. In den 90er Jahren erschienen dann zwei weitere polnische Zeitungen, von denen die Berliner Rundschau kontinuierlich bis zum September 1939 verlegt wurde. Gleichwohl war das Interesse der Berliner Gesellschaft an der polnischen Kultur sehr gering. Das gegenseitige Verhältnis im Kaiserreich war von dem Zusammenstoß zweier kräftiger Nationalismen, des deutschen und des polnischen bestimmt. Die Polen wollten die nationale Selbstbestimmung, die Wiedererrichtung ihres Staates. Die Deutschen wollten keinen Teil ihres Staates verlieren. Sie wollten die ethnische Homogenität des Nationalstaates, die Herrschaft über eine Minderheit und, weil das eine wirkliche Autonomie nicht zuließ, letzten Endes ihre Eindeutschung. Folgerichtig gab es nur noch wenige Kreise in der Berliner Gesellschaft, die bereit waren, den polnischen Intellektuellen und Künstlern den Aufenthalt in der Stadt zu ermöglichen oder zu erleichtern. Zu diesen zählte beispielsweise der polnische Slawist Alexander Brückner, der 1881 an die Berliner Universität berufen wurde und dort bis zu seinem Tod 1939 lehrte. Der polnische Schriftsteller und Provokateur Stanisław Przybyszewski fand im Kreis der Dichter, Maler und Künstler des Expressionismus, die sich um die Jahrhundertwende in der Berliner Szene-Kneipe ‚Zum schwarzen Ferkel‘ trafen, eine breite Unterstützung und begeisterte Anhängerschaft. Ferner sind die
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wichtigsten Hegelinterpreten avancierte. Vgl. Wiesława Sajdek: Poste˛p bez rozboju. Podstawy teorii dynamizmu społecznego w filozofii Augusta Cieszkowskiego, Lublin 2008. Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866–1918. Bd. 2: Machtstaat vor der Demokratie. 3. durchges. Aufl., München 1995, S. 255. Die Vielfalt der Initiativen ist beachtlich. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts existierten in Berlin folgende polnische Initiativen: 31 akademische Vereinigungen, 20 Verbände von Kaufleuten, Handwerkern und Gewerbebetreibenden, 8 politische Organisationen plus 3 Arbeitervereine, 2 Gewerkschaften, 18 Frauen- und 25 Gesangs- und 28 Sportvereine, 6 Schul- und Bildungsvereine, 13 Spar-, Leih- oder Lotterieverbände, 24 Kirchengemeindekomitees sowie eine Reihe anderer Vertretungen. Vgl. Basil Kerski: Polski Berlin, in: Dorota Danielewicz-Kerski, Maciej Górny (Hrsg.): Berlin. Polnische Perspektiven. 19.–21. Jahrhundert, Berlin 2008, S. 23.
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beiden polnischen Maler Julian Fałat und Wojciech Kossak zu erwähnen, die während ihrer Berliner Zeit zahlreiche Gemälde im Auftrag Wilhelms II. schufen. Schließlich bot das kaiserliche Berlin mit dem preußischen Landtag und dem Reichstag den polnischen Abgeordneten Plattformen, um die Interessen der Polen zu vertreten.
Die ‚Ostflucht‘ nach Berlin Der Erklärungsgrund für das schwindende Interesse der deutschsprachigen Berliner an der polnischen Minderheit liegt sicherlich nicht allein an den nationalen Differenzen zwischen den beiden Gruppen, sondern auch an dem sich vollziehenden Strukturwandel der polnischen Einwanderer. Waren es zu Beginn des 19. Jahrhunderts vorwiegend Intellektuelle, die aus politischem, wissenschaftlichem oder gesellschaftlichem Antrieb Berlin aufsuchten, so entwickelte sich die Hauptstadt des Kaiserreichs in der zweiten Hälfte zu einem wichtigen ‚Arbeitgeber‘ für die verarmten Polen aus den industriell wenig erschlossenen östlichen Provinzen. Die rasche Entwicklung der Stadt im Zuge der Industrialisierung und der mit Berlin verbundenen Vororte erforderte einen ständigen Zuwachs an neuen Arbeitskräften. Die meisten der nach Berlin gekommenen Polen waren ungelernte Arbeiter und Tagelöhner vom Lande, die zur Erledigung schwerer Bau-, Sanierungs-, Lade- und Transportarbeiten oder in Fabriken angestellt wurden. Anfangs fand die Mehrzahl von ihnen nur eine zeitweilige Anstellung, und viele kehrten nach längerer Zeit mit dem gesparten Geld in die Heimat zurück. Innerhalb dieser schwankenden, für die Statistik schwer zu erfassenden Gruppe polnischer Einwanderer vom Lande, die nach Schätzungen über 80 % aller in Berlin lebenden Polen ausmachten, waren etwa die Hälfte Frauen, die in der Leichtindustrie und vielfach als Hausangestellte Arbeit gefunden hatten. Die übrigen 20 % entfielen auf qualifizierte Arbeiter, kleine Handwerker, Verkäufer, Händler und Kaufleute. Insgesamt betrug die Zahl der im Gebiet des späteren Groß-Berlin lebenden Polen um 1888 über 60.000 und überschritt 1910 100.000.47 Nach dem Ruhrgebiet war die deutsche Hauptstadt das zweitgrößte Zentrum der polnischen Migration; sie repräsentierte etwa die Hälfte aller hiesigen Einwanderer. Die in Petersburg erscheinende polnische Zeitung Kraj bezeichnete Berlin im Jahr 1894 als größte polnische Stadt Preußens, in der die Polen keine geschlossenen Siedlungsformen hätten, sondern verstreut unter den deutschen Arbeitern in den für dieses Milieu typischen Stadtvierteln wie Wedding, Moabit oder Friedrichshain wohnen würden.48 Diese Zerstreuung innerhalb des Stadtgebiets beschleunigte auch ihre Assimilation, die dann zusätzlich durch häufig geschlossene Mischehen, das Fehlen eines polnischen Schulwesens oder mangelnde polnischsprachige Priester in den katholischen Kirchen gefördert wurde. Mit dem 47 Vgl. Stefan Liman: Polen in Berlin und ihr Milieu, in: Zeitschrift für Slawistik 32, 1987, S. 553/554. 48 Zitiert nach Gottfried Hartmann: Polen in Berlin, in: Stefi Jersch-Wenzel, Barbara John (Hrsg.): Von Zuwanderern zu Einheimischen. Hugenotten, Juden, Böhmen, Polen in Berlin, Berlin 1990, S. 678/ 679.
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Ende des Kaiserreichs verblassten jedenfalls die Spuren der Polen in Berlin und viele unter den polnischen Mitbürgern wurden zu echten Wahlberlinern. Nicht viel anders sah die Situation unter den polnischen Juden aus, seit Beginn des 20. Jahrhunderts auch ‚Ostjuden‘ genannt, die neben den ethnischen Polen einen Großteil der Migration aus dem Osten nach Berlin ausmachten. Armut und Not in Galizien, Pogrome und Verfolgungen in Russland lösten seit 1880 eine Einwanderungswelle polnischer Juden nach Deutschland aus, jedoch war die Zahl jener Juden, die auf Dauer blieben, sehr begrenzt und keinen großen Schwankungen unterworfen. Bis 1910 lebten in Berlin nicht mehr als 18.000 Juden aus Osteuropa. Eine Masseneinwanderung oder ein regelrechtes ‚Judenviertel‘ wie in New York oder London hat es in Berlin nie gegeben. Insgesamt war der Anteil der polnischen Juden an der Berliner Bevölkerung im Verlauf des 19. Jahrhunderts minimal.49 Im kaiserlichen Deutschland stützte sich die Polemik der Antisemiten dennoch auf die an den Horizont gemalte Schreckensvision einer massenhaften Einwanderung von Juden aus dem Osten. Die Antisemitismuswelle der 80er Jahre rechtfertigte Treitschke mit seinem bekannten Satz über die „Schar strebsamer hosenverkaufender Jünglinge“, die Jahr für Jahr „aus der unerschöpflichen polnischen Wiege über unsere Ostgrenze“ hereindringe, um künftig „Deutschlands Börsen und Zeitungen“ zu beherrschen.50 Das imaginäre Bild von der Überflutung durch Juden aus dem Osten wird zum Topos vom Berliner Antisemitismusstreit, vergleichbar mit dem Satz: „Die Juden sind unser Unglück“. Auch für den Berliner Hof- und Domprediger Adolf Stoecker machte die christliche Nächstenliebe vor den ‚Ostjuden‘ halt, denen er 1881 vorwarf, die assimilierten Juden in Berlin aufgewiegelt zu haben: Vor der Emanzipation waren die Berliner Juden im ganzen und großen königstreu, bescheiden, gebildet, voll Achtung für Christentum und Deutschtum. Seitdem die jüdischen Barbaren aus Posen und Oberschlesien, ja aus Russland und Galizien unser Vaterland und unsere Hauptstadt überschwemmt haben, ist das Judentum im ganzen und großen ein anderes geworden: demokratisch, anmaßend, roh, schamlos in seiner Presse, frech gegen Thron und Altar. Nathan der Weise hat Shylock Platz gemacht.51 Die unmittelbare Folge dieser erstarkenden antisemitischen Bewegung war die Ausweisung osteuropäischer Juden aus Berlin und den preußischen Ostprovinzen, wo sich die aus Russland flüchtenden Juden zunächst sammelten. Die Berliner Exekutive veranlasste zwischen dem 13. April und 1. Oktober 1884 zwei große Ausweisungen. In diesen knapp sechs Monaten wurden 677 Ausweisungsbefehle ausgestellt, die überwiegend Handwerker und Studenten betrafen.52 49 Vgl. Klara Eschelbacher: Die ostjüdische Einwanderungsbevölkerung der Stadt Berlin, in: Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden 1–6, 1920, S. 4. 50 Heinrich von Treitschke: Unsere Aussichten (1879), in: Walter Boehlich (Hrsg.): Der Berliner Antisemitismusstreit, Frankfurt/M. 1988, S. 9. 51 Adolf Stoecker: Christlich-Sozial. Reden und Aufsätze, Berlin 1890, S. 481. 52 Berliner Tageblatt vom 1. August 1884.
ZWISCHEN ABLEHNUNG UND ANERKENNUNG
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Allerdings nicht allein die Juden russischer Staatsangehörigkeit wurden durch diese Ausweisungswelle getroffen, sondern auch die nichtjüdischen Polen. Im preußischen Landtag vom Januar 1886 bekräftigte Bismarck seine Entscheidung, mehrere hundert Polen aus Berlin und den preußischen Ostprovinzen auszuweisen, mit dem Argument: „Wir wollen die fremden Polen los sein, weil wir an unseren eigenen genug haben“.53 Diese ausgrenzende Aufforderung war ein fester Bestandteil seines ‚Kulturkampfs‘ sowie der kulturnationalistischen Polemik solcher politischer Gruppierungen wie des aggressiven und mächtigen Ostmarkenvereins. Unter den Begriffen ‚der Osten als Problem für das Kaiserreich‘, ‚Polenpolitik‘, ‚Ostflucht‘, ‚innere Kolonisation‘, ‚der slawische Vormarsch‘, aber auch ‚der landwirtschaftliche Großbetrieb im östlichen Deutschland‘ als ‚unser größter Polonisator‘ waren sie bemüht, die deutsche Repressions- und Präventivpolitik gegenüber der polnischen Minderheit zu mobilisieren und zu legitimieren. Auf diese Weise hat sich ein neues Koordinatensystem etabliert: der Antislawismus. Der national-rassische Antislawismus gründete sich auf der Überzeugung von der kulturellen und biologistischen Überlegenheit der Deutschen und bediente sich der längst tradierten Stereotype vom asiatischen oder halbasiatischen, barbarischen Osten. Unter den zahlreichen Verfechtern des Antislawismus ragte der im Kaiserreich populäre und mittlerweile vergessene ‚Philosoph des Unbewussten‘ Eduard von Hartmann hervor. In der Berliner Wochenschrift Die Gegenwart vom Januar 1885 veröffentlichte er einen Aufsatz unter dem einschlägigen Titel Der Rückgang des Deutschtums, in dem er vor dem Verlust der deutschen Vorherrschaft in den „von der Geschichte“ den Deutschen „angewiesenen Gebieten“ warnte. Seinen Mahnruf schloss er mit dem Satz ab: Wir müssen das deutsche Reichsgebiet germanisieren, wir müssen wenigstens in unserem eigenen Hause die unbedingte Herrschaft des Deutschtums sicherstellen, wenn wir es nicht hindern können, dass die deutsche Art in den Nachbarhäusern ausgerottet wird […]. Wenn die Slawen das Deutschtum in ihren Grenzen ausrotten, so müssen wir Repressalien üben, d.h. das Slawentum in unseren Grenzen ausrotten, wenn nicht der Einfluss des Deutschtums in der Geschichte der Naturvölker beträchtlich sinken soll.54 Der womöglich unbewusste Gebrauch des Begriffs „ausrotten“ ist 1939 zu einer bewusst eingesetzten Handlungsmaxime geworden. Doch dieses schwierige Thema der deutschpolnischen Beziehungen gehört schon zu einem anderen Kapitel der Berliner Geschichte.
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Zitiert nach Martin Broszat: Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik, Frankfurt/M. 1972, S. 147. Eduard von Hartmann: Der Rückgang des Deutschtums (1885), abgedruckt in: ders.: Moderne Probleme, Leipzig 1886, S. 109.
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Entstehung eines Berlinromans im Vormärz Willibald Alexis’ Cabanis (1831) aus der Perspektive von städtischer Menge und Hugenottenminorität
Es gibt ihn, den komplexen, vielschichtigen, eigenständigen Berlin-Roman des Vormärz. Zweifelsfrei kann ein solcher Roman nicht auf einen eigenen elaborierten Stadtdiskurs zurückgreifen, wie er in Paris spätestens seit Sebastien Merciers Tableaux de Paris ausgearbeitet wurde.1 Aber es wäre naiv zu glauben dieses ‚know how‘ würde gleichsam an Paris kleben und sei nicht produktiv auf andere Städte transferierbar. In gewisser Weise ist man sogar berechtigt zu behaupten, die Schwäche Berlins,2 über einen erst sich nach 1800 allmählich herausbildenden eigenständigen publizistischen Stadtdiskurs zu verfügen,3 ist seine potenzielle Stärke. Die erzähltechnische und poetologische Virtuosität dieses ersten bedeutenden Berlinromans gilt es im Folgenden zu belegen. Faktum freilich ist, dass sein Autor ein erfahrungsgesättigter und vielseitiger Berlinkenner war. Er ist juristisch geschult, Schüler von Savigny, bis 1820 Kammergerichtsreferendar in Berlin; er war nicht nur jahrzehntelang Buchhändler, Journalist, Redakteur in Berlin, Mitherausgeber des Neuen Pitaval. Nicht weniger wichtig ist, dass er auch Grundstücksmakler in Berlin war. Der von ihm 1838 im Brockhausschen Conversations = Lexikon der Gegenwart publizierte zehnseitige Artikel mit dem Titel Berlin in seiner neuen Gestaltung4 belegt nicht nur, dass er die Entstehung des Stadtbildes unter Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. im 18. Jahrhundert genau kannte und dabei nicht nur die damals wenigen Prachtbauten zu benennen weiß, wie Schlüters
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Karlheinz Stierle: Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewußtsein der Stadt, München 1993; Ingrid Oesterle: Paris. Das moderne Rom?, in: Conrad Wiedemann, (Hrsg.): Rom, Paris, London. Erfahrung und Selbsterfahrung in den fremden Metropolen, Stuttgart 1988, S. 375–419. Vgl. Etienne François: Berlin im 18. Jahrhundert. Die Geburt einer Hauptstadt, in: Iwan D’Aprile u. a. (Hrsg.): Tableau de Berlin. Beiträge zur „Berliner Klassik“ (1786–1815), Berlin 2005, S. 7–18; Helga Schultz: Berlin 1650–1800. Sozialgeschichte einer Residenz, Berlin 1987. Günter Oesterle: „Laß Rom Rom seyn... Singe Berlin!“ Stadtpoesie und Prosa. Ludwig Tieck, Ludwig Robert, Heinrich Heine, in: D’Aprile u. a. (Hrsg.): Tableau de Berlin (wie Anm. 2), S. 289–306. [Willibald Alexis, Ps. Georg Wilhelm Heinrich Häring:] Artikel „Berlin, in seiner neuen Gestaltung“, in: Conversations = Lexikon der Gegenwart. In vier Bänden, Leipzig 1838, hier Bd. 1, S. 453–463.
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Zeughaus und Schloss Charlottenburg oder Knobelsdorffs Opernhaus – nein, er wusste auch bestimmte Details zu erwähnen, Friedrich Wilhelms I. Einrichtung des Glockenspiels in der Parochialkirche und Friedrichs eigenen Entwurf zur katholischen Kirche. Als Mann des Vormärz und Kenner der Gegenwart Berlins erweist er sich dadurch, dass er nicht nur die jüngst neu angelegten Straßen, die nach Potsdam führende Chaussee sowie die Bellevuestraße oder die lange Tiergartenstraße, wo „jetzt eine Kette geschmackvoller, mit Phantasie ausgeschmückter Villen“5 steht, sondern auch die verarmten Vorstädte, die Industrieansiedlungen genau kennt und mit scharfer Kritik die Verhässlichung der Stadt anprangert. Berlin wird zudem mit anderen großen Städten Europas kritisch verglichen, mit Paris (z. B. dem Friedhof vor dem Halleschen Tor nach dem Vorbild des Père Lachaise) oder mit Wien, das im Vergleich zu Berlin über „öffentliche Latrinen“6 verfüge und damit auf die Möglichkeiten einer Stadtverschönerung verweise. Der Schlusssatz dieses Artikels demonstriert die appellative Zukunftsorientierung auf Berlin, wie es sein sollte: Actienvereine gibt es so wenig zur Förderung der städtischen Wohlfahrt und Behaglichkeit, als im Privatverkehr zur Hebung der Industrie. Man ist gewöhnt worden, das Gute als ein Geschenk zu erwarten; aber das Bedürfnis, selbst dafür zu arbeiten und die Kräf7 te zusammen zu thun, wird immer deutlicher und läßt sich nicht mehr zurückweisen. Der Schreiber dieses Berlinartikels im Brockhausschen Conservations = Lexikon war zu diesem Zeitpunkt schon ein erfolgreicher Verfasser von historischen Romanen, Reisebeschreibungen und Novellen.8 Er war hugenottischer Abstammung. Sein bürgerlicher Name lautete Georg Wilhelm Heinrich Häring. Als Autor trat er unter dem Pseudonym Willibald Alexis auf. Er hat in acht Romanen die Entfaltung der großen Stadt Berlin seit dem 14. Jahrhundert erzählt. Unsere Aufmerksamkeit gilt nun einem dieser Stadtromane: Cabanis. Vaterländischer Roman. Ernst Barlach hat diesen Vormärzroman, der sich auf dem Schnittpunkt zwischen historischem Roman und Zeitroman verorten lässt, als den besten der acht einschlägigen Romane ausgewählt.9 Theodor Fontane hat hingegen dem zwanzig Jahre später erschienenen Nachmärzroman Ruhe ist die erste Bürgerpflicht den Vorzug gegeben.10 Der 1832 publizierte Roman Cabanis ist unter dem Eindruck der Julirevolution geschrieben und beschreibt einen markanten historischen und städtegeschichtlichen Wende5 Ebd., S. 460. 6 Ebd., S. 463. 7 Ebd., S. 463. 8 Vgl. Wolfgang Beutin: Willibald Alexis, in: Gunter E. Grimm, Frank Max Rainer (Hrsg.): Deutsche Dichter. Leben und Werk deutschsprachiger Autoren. Bd. 5: Romantik, Biedermeier und Vormärz, Stuttgart 1989, S. 427–435, hier S. 434/435. 9 Ernst Barlach: Brief vom 4.7.1888, in: ders.: Die Briefe I. 1888–1924. Hrsg. v. Friedrich Droß, München 1968, S. 23. 10 Vgl. Theodor Fontane: Willibald Alexis, in: ders.: Aufsätze zur Literatur. Hrsg. v. Kurt Schreinert. Erster Teil, München 1963, S. 154–213.
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punkt Berlins. Man könnte es das ‚Stadtwerden Berlins in Folge des siebenjährigen Krieges‘ nennen. Cabanis ist eben nicht nur ein historischer Roman, der die Vergangenheit Mitte des 18. Jahrhunderts zu rekonstruieren trachtet, er ist zugleich aktuell, da er die bis in den Vormärz nachwirkende Genese der großen Stadt Berlin in den Blick zu nehmen versucht. Die damals schon toposartig klingende Klage, es fehle Deutschland eine nennenswerte große Stadt, lässt der Romancier Alexis gar nicht erst aufkommen. Vertraut mit dem ‚know how‘ moderner Stadtbeschreibung, den ‚tableaux‘ und den Physiologien,11 der wahrnehmungsartistischen Perspektivführung und atmosphärischen Verdichtung stellt sich Alexis einer spezifischen Berlinischen Herausforderungslage: 1740 eine ‚Unstadt‘ mit den modernsten ästhetisch-urbanistischen Mitteln darzustellen – und damit eine Leerstelle des internationalen Stadtdiskurses zu besetzen. Statt der Klage einer fehlenden großen Stadt wird die Entstehung einer Stadt aus einem ‚tabula rasa‘-Zustand vorgeführt. Dazu nutzt Alexis die damals verfügbaren avantgardistischen Mittel der Stadtsemiotik: das ‚Nebeneinander der Handlungen‘, die Simultaneität der Blickführung, das Gegenspiel städtischer Typen (einer Ausschankwirtin und eines Advokaten), die kontrastreiche Konfrontation verschiedener städtischer Schichten und Formationen (z. B. Kleinbürgertum, Honoratioren, königlicher ‚Riesengarde‘), den Habitus von Immigranten hier besonders markant der ‚französischen Kolonie‘, schließlich besonders herausgehoben die Rolle und wachsende Bedeutung der städtischen Menge. Spielort des Romananfangs ist eine Straße von Berlin12 („Ecke der Jägerstraße“, 7), die zum Zeitpunkt des dargestellten Geschehens – 1740 – noch „neu“, sprich „kaum vollendet“ (4) war. Aus zwanzigjährigem Abstand berichtet der Erzähler: „Es war eine der Straßen von Berlin, die erst von dem vorigen Regenten“ – Friedrich Wilhelm, dem Vater Friedrichs II. also – in Sichtweite seines Schlosses „aufgebaut“ worden war. Der Erzähler versäumt keineswegs das Nicht-Urbane Berlins um 1740 eigens hervorzuheben: „die Zahl der Müßiggänger“ war – anno 1740 – „noch sehr gering in Berlin“ (6), „öffentliche Lustbarkeiten, Volksaufläufe, Singen und Lachen auf der Straße gehörten zu den Seltenheiten“ (7); „die Straßen waren still, die Fenster mit Jalousien geschlossen“ (7). Verständlicherweise haben die Franzosen damals Berlin als „Palmyra der Sandwüste“ verhöhnt, wie es der von Alexis anonym verfasste Berlinartikel im Brockhausschen Conversations = Lexikon eigens vermerkt. „Umso auffallender“ (7) – so der Einsatz des Romans – musste nun plötzlich ein „Menschenauflauf“ an der Ecke der Jägerstraße erscheinen. Alexis nutzt die moderne narrative Technik der Darstellung eines Nebeneinander gleichzeitiger Ereignisse,13 um zu Beginn 11
Vgl. Hans-Rüdiger von Biesbrock: Die literarische Mode der Physiologien in Frankreich (1840–1842), Frankfurt/M. 1978; Christoph Strosetzki: Balzacs Rhetorik und die Literatur der Physiologien, Wiesbaden, Stuttgart 1985. 12 Vgl. Wulf Wülfing: Die telegraphischen Depeschen als „Chronik des Jahrhunderts“. Karl Gutzkows „Ahnungen“ von einem Medium der Moderne, in: Roger Jones, Martina Lauster (Hrsg.): Karl Gutzkow 1811–1878. Liberalismus, Europäertum, Modernität, Bielefeld 2000, S. 85–106. Nachweise der Zitate aus Willibald Alexis: Cabanis, Berlin 1832, erfolgen im Weiteren mit Angabe der Seitenzahl im Text. 13 Lynne Tatlock: Berlin, Walter Scott and the „Roman des Nebeneinander“. Three Novels by Willibald Alexis, in: Michigan Germanic Studies 12, 1986, Heft 1, S. 52–70; Eberhard Scheiffele: Brandenburgi-
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seines Romans eine ungewöhnliche Blickführung nach oben in die Lüfte und nach unten auf die Pflastersteine der Straße inszenieren zu können. Beide Male geht es um ein staunenswertes Ereignis, um „keine geringe Sensation“ (7), die bewirkte, dass die Menschen ihre gewohnte Tätigkeit und Blickhaltung aufgaben und sich zur gaffenden Menge gruppierten. In der Luft wurde nämlich ein seltener Revierkampf zwischen einem Steinadler und anderen Raubvögeln sichtbar – ein Anlass, der dazu führte, dass die „Stillen und Fleißigen, die selten ihre Blicke von der Arbeit und der Erde aufrichteten, mit emporgereckten Hälsen in den Horizont“ (9) gafften, zumal „Geier, Habicht, Falke und Adler […] ihnen den Gefallen“ taten, „ungefähr auf das Fleckchen Horizont über unserer Straße ihre kreisenden Flüge zu beschränken“ (9). Die zahlreichen emotionsgeladenen Kurzkommentare der Beobachter dieses „ästhetischen Schauspiels“ signalisieren die Mischung aus Sentimentalität und Gewaltbereitschaft der städtischen Menge. Wie sehr Alexis die neuesten wahrnehmungsästhetischen Möglichkeiten einer derartigen Sensationsdarstellung ausreizt (etwa in der Manier des damals vielbewunderten Stadtschreibers Jouy)14 wird daran ersichtlich, auf welche Weise er viel sagend, pittoresk und allegorisch zugleich, diese Szenerie in ein bestimmtes städtisches Lichtfluidum eintaucht. Der Kampf der Vögel ereignete sich nämlich gegen Abend bei fallendem Sonnenlicht, so dass die „Strahlen“ der Sonne abgeschnitten von scharfen Dächern nur noch den oberen Teil des Horizontes glänzend durchleuchteten. Man konnte ordentlich die Schicht zwischen Schatten und Licht in der Luft wahrnehmen und der erhellte Teil glühte ganz ungewöhnlich für einen nordischen Himmel […]. (8) Die zweifache Ungewöhnlichkeit, ein gejagter Adler in den Lüften Berlins über einem in Licht und Schatten scharf geteilten „Fürstenhause“, dergestalt, „daß aus den oberen Scheiben Goldfeuer und Scharlachflammen […] die untere dunkelschwarz blieben“ (8), deutet auf einen sich vollziehenden Regierungswechsel hin, auf das Sterben des „alternden“, die Stadt mit seinem Kontrollblick lähmenden preußischen Königs Friedrich Wilhelm (6) und den Beginn einer neuen Ära, der Regierung Friedrich des Großen. Die Szene endet mit dem vielsagenden im Roman leitmotivisch aufgegriffenen Hinweis auf einen konkreten und doch zugleich emblematisch zu verstehenden Adler: „Andere haben das seltene Phänomen [einen Steinadler] nachher auf den Zinnen des Schlosses sitzen gesehen, wo er, vom letzten Strahl der untergehenden Sonne beschienen, seine Flügel lüftete und sorglos die Geier ihn umkreisen ließ“ (10).15 Die hochartistische, durch Perspektiv- und Lichtführung inszenierte Sensasches Welttheater. Zu den Vaterländischen Romanen von Willibald Alexis, in: DVjs 61, 1987, S. 484; Anni Carlsson: Willibald Alexis. Ein Bahnbrecher des deutschen Romans, ZfdPh 102, 1983, S. 541– 583. 14 Vgl. Angelika Corbineau-Hoffmann: Brennpunkt der Welt. C’est l’abrégé de l’univers. Großstadterfahrung und Wissensdiskurs in der pragmatischen Parisliteratur 1780–1830, Bielefeld 1991, S. 229/230. 15 Man könnte versucht sein das Frontispiz des dritten Buches der Geschichte Friedrichs des Großen, geschrieben von Franz Kugler, gezeichnet von Adolf Menzel (Leipzig 1842) S. 292 – einen Kampf dreier Adler darstellend – als eine Anregung zu begreifen, die Adolph Menzel aus dem Roman Cabanis von
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tionsdarstellung wird abgerundet durch eine erinnerungstheoretisch einschlägige sich medialer Mittel bedienende Beglaubigung der Zeugenschaft des Erzählers. Dieser wird nämlich als ein damals vor 20 Jahren staunender Knabe eingeführt, dessen präzise Erinnerung an diesen Vorfall vielleicht – so der Erzählerkommentar – auch dadurch gestützt wurde, dass er – „ein zufälliger Umstand“ (11) – in dieser gaffenden Position von einem holländischen Genremaler auf die Schnelle abkonterfeit wurde. Dieser sensationelle Kampf über den Dächern Berlins sollte freilich nur die eine der Geschichten des ‚Nebeneinanders‘ darstellen. Während freilich die im Himmel sich zutragende Geschichte als ‚Geschichtszeichen‘ von weltgeschichtlicher Bedeutung lesbar war, schien im Vergleich zu dieser die andere Geschichte ein „unbedeutendes Ereignis“ (3) – gleichwohl war sie von höchster Bedeutung für den Erzähler, in seinen Worten war sie „der erste Quell zu der seltsamen Wendung meiner Lebensund Erziehungsgeschichte“ (3). Das wundersame Geschehen am Himmel hatte nämlich nicht nur die Arbeit und den gewöhnlichen Gang der Erwachsenen vor Ort unterbrochen, sondern auch das Murmelspiel der Kinder auf der Straße. Nach dem Ende des Kampfes der Vögel sollte es nun fortgesetzt werden. Es schien dem an der Reihe sich befindenden – damals noch jungen Erzähler „großen Gewinn“ zu versprechen, denn der Wurf mit der Murmel war gut gelungen – allein er wurde „im entscheidenden Moment“ durch „einen große[n] männliche[n] Fuß in einem ungeheuren Schnallenschuh“ (12) erneut unterbrochen. Die brutale Unterbrechung eines Kinderspiels durch einen sadistischen, als „Schleicher“, „Angeber“ und „Aufpasser“ sich betätigenden Advokaten weitete sich zu einem „Straßenskandal“ (18) aus, als der „Troß der Kinder“ (21) der erlittenen Schmach wegen, also aus Kompensationsgründen sich entschloss, einer stadtbekannten Ladenbesitzerin und Mundschenkin einen ‚Streich‘ zu spielen. Dieser Plan geschah just zu einem Zeitpunkt, an dem – wie aus den aufgeschnappten Wortfetzen der Erwachsenen hervorging – eine Veränderung im Königtum vor sich gegangen war und infolgedessen ungewöhnlicherweise „ein buntes Gewoge in der Stadt“ beobachtet werden konnte: „an den Ecken standen die Leute und steckten die Köpfe zusammen, der Abend kam und die Laden wurden nicht geschlossen, die Bürger gingen nicht nach Hause. Feldjäger und Läufer sprengten durch die Straßen“ (21). Zum ersten Mal war Berlin als Stadt aufgewacht. Es ist bemerkenswert, wie in diesem Roman die großgeschichtliche Begebenheit eines sich anbahnenden Regierungswechsels von Friedrich Wilhelm zu Friedrich II. nicht explizit erzählt wird, sondern allein aus der Sicht eines achtjährigen Knaben zur Darstellung kommt und daher nur atmosphärisch16 angedeu-
Alexis bezogen hat. Vgl. Günter Oesterle: Dialogizität und Paragone zwischen verschrifteter und bebilderter Geschichtsdarstellung. Franz Kugler, Adolph Menzel: Geschichte Friedrich des Großen, in: Kay Kirchmann u.a. (Hrsg.): Die Medien der Geschichte. Historizität und Medialität in interdisziplinärer Perspektive, Konstanz 2004, S. 263–295. 16 In der Konkurrenz zwischen Geschichtsschreibung und historischem Roman behauptet sich letzterer (nach Ansicht von Alexis) durch die Aufmerksamkeit auf das „Kleine“ und „Atmosphärische“. Vgl. Alexis’ Vorrede zu Ruhe ist die erste Bürgerpflicht (1852), in: Willibald Alexis (W. Häring): Gesammelte
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tet wird. Die Kulturgeschichte der Stadt tritt an die Stelle einer Hofgeschichte. Der Perspektivwechsel von der hohen Politik zu den Aktionen eines „Troßes“ (21) von „Straßenjungen“, die „wo etwas zu sehen war […] gaßaufgaßab“ (21) liefen und auf diese Weise den städtischen Raum erschließen (so wie auf seine Weise der beschriebene Advokat durch seine sich über die Stadt verzweigenden Rechtsstreitigkeiten sich die gesamte Stadt erschloss), gibt den Blick frei auf die Mentalität einer städtischen Menge, ihre latente Gewalttätigkeit und Lust an Brutalität, denn, so der Kommentar: „ein Apell an den Demos verfehlt in einer großen Stadt selten seine Wirkung“ (31). Ein harmloser Kinderstreich, bei dem der jugendliche Erzähler erwischt wird, löst eine „exemplarische Exekution“ (30) aus, die – massenpsychologisch interessant – nicht nur den schnellen Verfall einer Straßenjungengruppe demonstriert, sondern weitreichender „den Blutdurst“ kleinbürgerlicher „Demagogen“ offenlegt.17 Dabei stellt sich als die Stimmung eskalierendes Element heraus, dass nicht nur die Angst der kleinbürgerlichen Zuschauer vor einem potenziellen „Regiment“ der „Straßenjungen“ (25) eine Rolle spielte, sondern viel mehr noch die Tatsache, dass der damals als Rädelsführer ausfindig gemachte Erzähler „vornehmer Leute Kind“ (30) war. Er stammte nämlich aus der ‚französischen Kolonie‘. Diese Immigranten legten großen Wert auf Distinktion zu ihren deutschen Gastgebern und zwar auf eine demonstrative Weise, dass von den ‚Einheimischen‘ über sie mit wütendem Ausdruck gesagt werden konnte: „Die von der Kolonie denken Wunder, was sie besser sind als wir“ (32). Der Autor mit dem eigentlichen Namen Häring war selbst hugenottischer Abkunft. Es gelingt ihm als Erzähler, hautnah die Angst eines ‚Honorationen‘-Kindes aus der ‚französischen Kolonie‘ durch übel riechendes Einseifen geschändet zu werden darzustellen und dabei zugleich den Distinktionswillen der ‚französischen Kolonie‘ vorzuführen (vgl. 33/34).18 Diese Distinktionshaltung der ‚französischen Kolonie‘ in Berlin wird ebenfalls ein Leitmotiv des Romans werden. Alexis gelang es, eine Besonderheit Berlins, die zur bürgerlichen Oberschicht zählende stadtprägende hugenottische Kolonie mit ihren um 1800 auftretenden Identitätskonflikten im werdenden preußischen Patriotismus, erzählerisch einzuholen.19 Ungefähr gleichzeitig mit der meisterhaften Darstellung einer Massenhysterie durch Heine aus Anlass einer ausbrechenden Cholera in Paris20 und der virtuosen Darstellung der städtischen Massen durch Victor Hugo in seinem Werke. 18 Bde., Berlin 1861–1866, Bd. 4/1, S. VIII; vgl. Scheiffele: Brandenburgisches Welttheater (wie Anm. 13), S. 499/500. 17 Zu den ‚Berliner Straßenjungen‘ vgl. Rolf Lindner: Straße, Straßenjunge, Straßenbande. Ein zivilisationstheoretischer Streifzug, in: Zeitschrift für Volkskunde 2, 1983, S. 192–208. 18 Vgl. Gottfried Bregulla (Hrsg.): Hugenotten in Berlin, Berlin 1988; Werner Gahrig: Hugenotten in Berlin und Brandenburg. Historische Spaziergänge, Berlin 2005. 19 Vgl. Jürgen Wilke: Französische Kolonie in Berlin, in: Schultz: Berlin 1650–1800 (wie Anm. 2); Stefi Jersch-Wenzel, Eckart Birnstiel (Hrsg.): Von Zuwanderern zu Einheimischen. Hugenotten, Juden, Böhmen, Polen in Berlin, Berlin 1990; Sabine Beneke: Zuwanderungsland Deutschland: Die Hugenotten, Wolfratshausen 2005. 20 Vgl. Heinrich Heine: Französische Zustände, in: ders.: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hrsg. v. Manfred Windfuhr. Bd. 12/1: Französische Maler; Französische Zustände; Über die französische Bühne. Text. Bearb. v. Jean-René Derré, Christian Giesen, Hamburg 1980, S. 63–295.
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historischen Roman Notre Dame de Paris21 hat Alexis das historisch bezeugte Auftreten Berliner Straßenjungen zu einem eigenen Berliner Idiom ausgestaltet. Aus guten Gründen hat man immer wieder die Anfänge der Romane untersucht.22 Man findet nämlich dort zumeist das Erzählmuster des Romans angelegt. So auch hier. Um die Genese des preußischen Patriotismus im Siebenjährigen Krieg zeigen zu können, wurde im Roman Cabanis gezielt ein Mitglied der ‚französischen Kolonie‘ in Berlin als Testperson ausgewählt. Auf der Reflexionsfolie eines um 1830 sich toleranter und urbaner gebenden Lebensverhaltens wird ein knapp hundert Jahre früherer Stadtzustand aus der Perspektive eines neunjährigen Knaben erzählt – mit der drastischen Explikation autoritärer, von dogmatischer Gerechtigkeit angetriebener Brutalität im Innern des Hauses fast noch mehr als auf der Straße im öffentlichen Raum! Der Handlungsverlauf des Romans ist in Kürze folgender: Der geschilderten ‚öffentlichen Exekution‘ auf der Straße folgt die noch gewalttätigere im Innern des Elternhauses; sie wird von der Gesamtfamilie an dem Bruder des Erzählers ausgeführt und exekutiert. Der Bruder Gottlieb wird aus der Familie hinaus zum Militärdienst geprügelt. Diese schwarze Pädagogik führt dazu, dass der junge Protagonist des Romans, Stephan Etienne, aus Angst ausreißt und Berlin verlässt, um dann als Erwachsener unter Maria Theresia zum Militär zu gehen. Erst im Verlauf des Siebenjährigen Krieges rettet Stephan Etienne seiner preußischen Herkunft eingedenk den preußischen König Friedrich II. aus einer lebensgefährlichen Situation. Sein Frontwechsel zu den Preußen wird aber trotz einer Anzahl außerordentlicher Leistungen vom preußischen König nicht honoriert. Er bleibt Leutnant und wird nicht befördert. Der mit dem Makel des ‚Changierens‘ gezeichnete Etienne hat am Ende gerade noch Glück, dass er aus Nebengründen und eher aus einer persönlichen Laune Friedrichs dann doch noch symbolisches Kapital erhält, nämlich den Orden ‚pour le merite‘ und die Position eines königlichen Kammerherrn. Dieses knapp noch erfüllte und mit Blick auf das Schema und Ziel des Entwicklungsromans angekratzte ‚happy-end‘-Image lässt den proponierten preußischen Patriotismus in einem scharfen Gegenlicht erscheinen. Der Leser nach 1832 wird mit der auch aktuellen Frage konfrontiert, ob nicht die Leistungsträger dieses Patriotismus leer ausgehen. Der Roman Cabanis beschreibt nicht eine Entwicklung oder Bildung eines Helden,23 sondern eine Problemlage: das Suspektwerden dessen, der die Fronten wechselt. Zugleich spitzt der Erzähler damit die Anforderungen und die Bewährungsprobe für den Patriotismus zu: gerade unhonoriert gilt es Patriot zu bleiben. Die Schilderung der Biographie eines aus der ‚französischen Kolonie‘ in Berlin stammenden Jünglings, der aus Angst das Elternhaus verlässt, bietet die Möglich21
Vgl. Volker Klotz: Stadtschau und Schaustadt. Victor Hugos Notre-Dame de Paris (1831), in: ders.: Die erzählte Stadt. Ein Sujet als Herausforderung des Romans von Lesage bis Döblin, München 1969, S. 92–123. 22 Vgl. Norbert Miller (Hrsg.): Romananfänge. Versuch zu einer Poetik des Romans, Berlin 1965. 23 Gustav Frank hat zurecht die im Roman Cabanis vorgetragene „Problematisierung“ der Kontingenz von Geschichte hervorgehoben. Vgl. Gustav Frank: Chancen und Gefahren eines Literatursystems im Wandel. Willibald Alexis’ literarische Optionen 1830-1840, in: Wolfgang Beutin, Peter Stein (Hrsg.): Willibald Alexis (1798–1871). Ein Autor des Vor- und Nachmärz, Bielefeld 2000, S. 29–54.
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keit – das Muster des verlorenen Sohnes aufgreifend – die komplizierte Rückkehr eines Dissidenten in seine radikal veränderte Heimatstadt Berlin zu schildern. Die komplexe Genese der großen Stadt Berlin und die nicht weniger komplizierte Genese des preußischen Patriotismus werden auf diese Weise enggeführt. Der Protagonist des Romans Stephan Etienne erfährt Berlin dreimal in unterschiedlichen Zeiten, Abständen, Zuständen und Konstellationen und zwar immer aus zwei Perspektiven: von der Straße aus und vom Interieur, vom Berliner ‚Innenleben‘ aus. Als Knabe – 1740 – erlebt er nicht nur den Familienterror zu Hause, sondern auch die Menge der großen Stadt, wie sie den Einzelnen zur Profilierung anstachelt, um ihn dann aber im entscheidenden Moment im Stiche zu lassen. Neunzehn Jahre später – 1760 – das zweite Mal erlebt der verkleidete in preußischen Diensten gesandte Soldat die Übernahme der Stadt Berlin durch die gegnerischen Kräfte der Österreicher und Russen, erfährt den Verlust seiner Eltern, seiner ihm ursprünglich zugedachten Braut, erschrickt über die ihm zwischenzeitlich fremdgewordene Stadt, um zugleich die Erfahrung zu machen, dass das durch die Stadt sich ergießende drängende Gewühl der Menge ihm Schutz und Unterschlupf bietet.24 Am Ende des Siebenjährigen Krieges zum dritten Mal in Berlin spaziert er mit seiner Braut durch das dieser noch unbekannte Berlin und genießt nun in der städtischen Menge die Einheit von kollektivem Friedensjubel und privatem Glück. Alexis wurde zunächst als Imitator historischer Romane in der Manier Walter Scotts bekannt.25 Der Standardumfang von Scotts historischen Romanen betrug 360 Seiten pro Band. Der 1832 in Berlin erschienene Roman Cabanis wird aber extraordinär als Sechsspänner aufgelegt mit etwa 212 Seiten pro Band und insgesamt 1.271 Seiten. Diese Verdoppelung der Bände von drei auf sechs weist darauf hin, dass es sich nicht mehr um einen traditionellen historischen Roman handelt, sondern um einen modernen ‚Roman des Nebeneinander‘. Ein Roman-Strang ist Berlin gewidmet. In drei Büchern wird Berlin zum Zentrum der Darstellung. In der Knabenzeit des Helden (1. Buch), dann nach 20 Jahren bei seiner Wiederkehr in die ‚Vaterstadt‘ (4. Buch) und schließlich im letzten 6. Buch mit der Überschrift Der Friede. Die Tatsache, dass nur die Hälfte des Romans thematologisch Berlin behandelt, birgt die Chance, die rapiden Veränderungen einer Stadt mit immer neuem Überraschungsblick von außen wahrnehmen zu lassen. Das geschieht besonders eindrücklich im 4. Buch des Romans. Als 1760 der Protagonist des Romans Stephan Etienne inzwischen preußischer Leutnant den gefahrvollen Auftrag vom preußischen König erhält, eine Botschaft in die von Russen und Österreichern belagerte Hauptstadt Berlin zu schmuggeln – erfährt der Leser mit ihm die spannungsvolle landschaftliche und identitäre Annäherung an seine Heimatstadt, die er als Jugendlicher vor neunzehn Jahren verlassen 24 25
Vgl. Michael Gamper: Masse lesen, Masse schreiben. Eine Diskurs- und Imaginationsgeschichte der Menschenmenge 1765–1930, München 2007. Vgl. Hartmut Steinecke: „Die Geschichte ist die größte Dichtung“. Willibald Alexis’ Scott Rezeption der 1820er Jahre, in: Norbert Otto Eke, Hartmut Steinecke (Hrsg.): Geschichten aus (der) Geschichte. Zum Stand des historischen Erzählers in Deutschland der frühen Restaurationszeit, München 1994, S. 59–74.
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hatte. Nach einem mühevollen Ritt durch die menschenleere, von Sand und Kiefern dominierte Landschaft signalisiert der Wechsel der Begrünung zu Birkenwald und Rasenteppich die Nähe Berlins, denn „durch diesen Birkenwald führt der meilenlange Weg bis Berlin“ (II, 44). Als der Protagonist aus Tarnungsgründen sein „Ehrenkleid“, die preußische Uniform, austauscht gegen einen „schlichten Pachterrock“, war ihm zumute, als werde er erst jetzt „wieder Bürger seines Vaterlandes“ (II, 43). Lange war es nur „eine Fata Morgana“, „wenn das Bild von Berlin, mit seinen hohen Dächern, seinem stolzen Kuppeln und Türmen […] aus den Seen tauchte, an deren Strande sein Weg ihn vorbeiführte“ (II, 43), dann war es aber endlich doch so weit, dass er in der Maske eines Kohortenführers gegnerischer Kräfte so weit vordrang, dass er „von den Höhen von Streganz, vom Kolberg […] die weiten Seen Blossin [ansichtig wurde] und in der Ferne die ersten Hügel, die dem Kinde Gebirge dünkten – die Müggelberge“ (II, 44). Freilich sein langgehegter Wunsch, „im stolzen ritterlichen Trabe“ „durch die Tore seiner Vaterstadt“ einziehen zu können, ging genauso zu Bruch wie die Hoffnung, wenigstens seine militärische Hausaufgabe, die königliche Botschaft zur Rettung bzw. zur Entsetzung der Stadt rechtzeitig zu überbringen. Er wurde von den Feinden abgefangen, aufgehalten. Sein Glück, die Stadt zu erreichen und durch Zufall just durch das Stadttor Berlin wiederzubetreten, aus dem er „einst davongegangen“ (II, 71), bedeutet zugleich sein Pech. Seine ‚fromme‘ Wunschvorstellung, an einem Sonntag und im Frieden wieder in Berlin „einzukehren“ (II, 71), hatte sich ins Gegenteil verkehrt. Die „schöne Königsstadt“ war in ein Kriegs-„Lager“ (II, 76/77) verwandelt. Feindliche Österreicher und Russen hatten sie gerade eingenommen. Außer den Soldaten war die gaffende, plündernde oder fliehende, schreiende, staubaufwirbelnde Menschenmenge Hauptakteur der Straße geworden. Etienne, der in dieser Situation seine Vaterstadt betritt, ist ein doppelt Geschlagener – ein zweifacher Verlierer: Er war zu spät gekommen, er hatte sein Ziel, eine Botschaft der preußischen Heeresleitung vor der Ankunft der Feinde in Berlin zu übergeben, nicht erreicht – „er kam nicht als Siegesbote, [sondern] als ein verspäteter; die Träume auf Ehrenlohn waren dahin“ (II, 172). Nicht weniger schwerwiegend für ihn war ein privater Schmerz. Er erfährt, dass seine Mutter gestorben ist, sein Vater ihm gegenüber kalt und gleichgültig sich verhält. Mit diesem doppelten Schmerz behaftet – beruflich gescheitert und privat-‚heimatlos‘ – erfährt er nun die aufgewühlte Menschenmenge – wie es ausdrücklich heißt – „nicht als Mann, sondern als nervöser Phantast“. Diese Entblößung von dem Schutzund Immunschirm der Männlichkeit ist die physiologische Voraussetzung für eine neuartige Erfahrung der Massen. Etienne, aus der ‚französischen Kolonie‘ stammend, auf der Suche nach seiner preußischen Identität, als Soldat gewechselt von österreichischen in preußische Dienste, wird in einem Zustand schmerzgeplagter „nervöser“ Phantasterei26 auf zwei unterschiedliche Arten die Menschenmasse der Stadt erfahren: als traumatisierter und als kühler Beobachter. Zunächst durchläuft er die ganze Stadt in traumatisierter Erinnerung – „in jeder Straße, auf jedem Platz war er gewesen, jedes Haus hatte er angestarrt“, so war er in 26
Vgl. Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München 1998.
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einem Taumel umhergereist – „kein befreundetes Gesicht hatte ihm zugenickt“ (II, 84). „Das Berlin war nicht mehr sein Berlin“ (II, 80), „die Häuser waren anders, Palläste wo Hütten gestanden und doch alles tot, wüst, verlassen“ (II, 80). Dann allmählich wurde er „unempfindlich für die verwundeten Eindrücke“, untätig von Straße zu Straße von Platz zu Platz „schleichend“, voll „Stolz, Mißbehagen und Wißbegier“ verwandelt er sich zunehmend in einen kühlen Beobachter und einen passiven Zuschauer, der sich „zu den Haufen der Gaffer“ stellt – „von keinem anderen Antrieb gedrängt, als dem alltäglicher Neugier“ (II, 153). Zwischen kühlem und spionierendem Beobachter changierend (vgl. II, 168), nimmt er alle bedeutenden Ereignisse der feindlichen Übernahme von Berlin wahr, die Zerstörung Charlottenburgs, die Vorbereitungen zur Sprengung des Zeughauses, den gewaltsamen Abtransport der jungen Kadetten (vgl. II, 153), die Kämpfe und Auseinandersetzungen der österreichischen und russischen Soldaten um die Schlüsselstellungen in der Stadt, die karnevaleske rituelle Bestrafung der schon in seiner Knabenzeit bei den Berliner Gassenjungen verschrienen „Hexe“ Kurzinne, schließlich die Plünderungen. All dies sieht Etienne aus der Perspektive der Menge, die ihn im „trägen Strom verbirgt“ und zugleich mitreißt und mitdrängt „aus einem Stadtviertel ins andere“ (II, 95). Der junge Stephan Etienne, der einst „in dem weichen hochgetürmten Bette seines väterlichen Hauses“ eingeschlafen war, nächtigte nun in einen Kosakenmantel gehüllt „auf dem Steinpflaster Berlins“ (II, 80) und träumte eine Mixtur aus Kindheitsreminiszenzen (die Erlebnisse mit den Straßenjungen und das Ereignis mit dem Steinadler betreffend) und gerade erfahrenen Zerstörungen der großen, schönen Stadt. Und doch zeichnet sich mitten in der grotesken Zerstörung und im wütenden „Schmerz der Erinnerung“ im Gespräch mit dem von Friedrich II. ebenfalls verkannten Dichter Ramler die Zukunftsaussicht auf ein urbaneres, weniger gewaltbereites Berlin und Preußen ab – freilich zugleich untermischt und begleitet von der Sorge und Skepsis, was in der Nachkriegszeit geschehen würde, mit einem durch und durch kriegssozialisierten immer mehr zum Monologischen neigenden ‚großen‘ Preußenkönig (II, 63/64, 204).27 Nach dem mithilfe raffinierter Licht- und Perspektivführung inszenierten Beginn des Romans Cabanis, nach den gekonnt dargestellten Massenszenen mitten im eroberten, geplünderten und der Anarchie preisgegebenen Berlin im 4. Buch war es nicht leicht dem Ende des Romans noch eine neue Variante abzugewinnen. Denn ein ‚happy-end‘ sollte es am Ende doch werden: der Siebenjährige Krieg kam zu einem siegreichen Ende, d. h. ein vielfältiges alle Schichten miteinbeziehendes Friedensfest stand in der Hauptstadt an. Der lange Zeit glück- und karrierelose Protagonist des Romans, der ewig Leutnant gebliebene Stephan Etienne, sollte endlich wenigstens symbolisch Anerkennung finden, den ‚pour le merite‘-Orden bekommen und persönlicher Kammerherr des preußischen Königs werden. Das lange getrennte und scheinbar ungleiche Paar Etienne und Eugenie sollten sich auch in finanzieller Hinsicht auf Augenhöhe wiedersehen können, selbst der skurrile Vater von 27 Vgl. Jost Hermand: „Empor, empor! Zur Sonne, mein Adler!“ Zur „fritzischen“ Gesinnung im Cabanis-Roman von Willibald Alexis, in: Beutin, Stein (Hrsg.): Willibald Alexis (wie Anm. 23), S. 159–176.
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Stephan Etienne, der katholisch gewordene Marquis von Cabanis sollte seine Satisfaktion erhalten. Die Gefahr, am Ende des Romans in einen Repräsentationsgestus, in Idyllik und Sentimentalität abzugleiten, ließ sich nur durch das probate Mittel der Polyphonie der Tonlagen in Schach halten. Und in der Tat, bei der Darstellung all der unvermeidlichen Festivitäten, dem Empfang beim König, der Oper und Hochzeit spart Alexis nicht mit Burleske, schwarzem Humor und Satire. Allein diese bleiben traditionelle Mittel. Anders beim ‚Adventus‘ – beim Einzug des Protagonisten in seine Geburtsstadt Berlin und beim Treffen mit seiner Braut vor den Toren inmitten des einfachen Stadtvolks gelingt eine originelle Variante durch die Darstellung einer zweifachen Grenzüberschreitung eines schichtenübergreifenden harmonischen Friedensfestes – nämlich einerseits durch den Hochadel, andererseits durch die ‚Populace‘. Für den Vater von Eugenie, den Grafen, war der Wunsch seiner Tochter mitten unter dem barfüßigen Volk ihren Bräutigam in aller Öffentlichkeit zu empfangen unstandesgemäß. Aus der Perspektive seines Distinktionsvorbehalts war ein „populäres Friedensfest ein sehr peinliches Fest“ (II, 330). Auf der anderen Seite schien das so auf Distanz gesehene Jubelvolk, insbesondere aber diese Berliner jugendliche „höllische Straßeneskorte“ (II, 331) diese Erwartungen durch „tolle Ausgelassenheit“ (II, 330) und Respektlosigkeit zu erfüllen, indem sie zum Beispiel wagten, das Pathos des Wiedersehens des „schlanken Leutnants“ und seiner „schönen Braut“ simulierend nachzuspielen. Etienne gelang es aber, seiner Braut die ihr ungewohnte Erscheinung der kecken Berliner Gassenjungen zu erklären, eine städtische „Puissance, die Friedrich selbst anerkannte“ (II, 335). Schließlich konnte er sich nicht ohne Grund ganz der Freude und dem Genuss an deren Ausgelassenheit überlassen: Für Etienne war „das Geschrei der Buben […] Musik, es war ein Festlied, ein Brautgesang, der seine Seligkeit statt zu stören, erhöhte“ (II, 331). Begreiflicherweise. Denn dieses Geschrei weckte seine Erinnerung an vergleichbare Jugendstreiche mit dieser Straßenjugend. Mit dem Stichwort Erinnerung hat der Roman die Möglichkeit eines großstädtisch angemessenen urbanen Endes gefunden. Es war nämlich „das erste Mal, daß Eugenie sich in einer großen Stadt allein, am Arm eines Mannes, in solchem Volksgewühl befand“ (II, 336). Durch den unadeligen Entschluss, die Stadt ihrer Zukunft zu Fuß zu betreten, schaffte es Eugenie die aus Erzählungen ihres Bräutigams und der Lektüre seines „Tagebuchs“ (II, 336) imaginativ präsenten städtischen Orte sich sinnlich konkret zu vergegenwärtigen. „Sie war nicht müde, sie wollte sehen, alles sehen und hören, was sich sehen und hören ließ. Sie forderte den Freund auf, sie auf dem weitesten Umweg in das Hotel zu führen“ (II, 336/337). Auf diese Weise schritt sie alle die bedeutungsvollen Orte der Kindheit ihres Bräutigams ab: den Ort des Murmelspiels und des jugendlichen Staunens über den Vogelkampf, die Schenke mit der Wirtin Kurzinne freilich ergänzt durch den neuen Erinnerungsort, den Friedhof mit dem Grabstein der jüngst verstorbenen Mutter von Etienne. Durch diese Begehung von Erinnerungsorten leistet Eugenie ein doppeltes: Sie schreitet in den Lebensraum ihres zukünftigen Ehemanns und beginnt ein spezifisches urbanes Leben.28 28 Vgl. Horst Matzerath (Hrsg.): Städtewachstum und innerstädtische Strukturänderungen. Probleme des Urbanisierungsprozesses im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1984.
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Ausblick: Die Darstellung des Endes einer von Hugenotten in Berlin geschaffenen Tradition in Wilhelm Raabes Die Akten des Vogelsang (1896) Wir haben in Willibald Alexis’ 1832 im Horizont der Julirevolution geschriebenen Roman Cabanis einen Berlinroman zu entdecken versucht, der zentrale Figurationen städtischer Menge auf berlinisch originelle Weise darzustellen weiß. Die Originalität der Perspektive auf die Berliner hat nicht wenig mit der Rolle der ‚französischen Kolonie‘ zu tun. Es ist nicht von ungefähr, dass am Ende des Jahrhunderts diesem Berlinaspekt in einem bedeutenden Spätwerk, nämlich Wilhelm Raabes Die Akten des Vogelsang (1896)29 wiederum Relevanz zukommt. Während freilich in dem Vormärzroman Cabanis das Interieur in Berliner Wohnhäusern nur episodischen Charakter erhält, das Hauptgewicht also auf der städtischen Menge liegt, wird nun am Ende des Jahrhunderts die Darstellung des Interieurs zentral. Nicht die Straße, sondern einer der berühmten Hinterhöfe Berlins30 ist ein wichtiger Spielort und nicht die städtische Menge, sondern ein „stiller Märchenwinkel“, ein „Hausheiligtum“ (850), ein „französische[s] Altväter- und Kinderzauberreich“, kurz das „innerste Inner[e]“, was nichts anderes als eine Übersetzung von Interieurs zu verstehen ist, als eine Enklave hugenottischer Tradition also, ein „Familienzaubertum“ oder ein „Zaubererinnerungsraum“ (856). Zweierlei ist im Vergleichsblick zum Vormärzroman Cabanis an diesem Spätwerk Raabes über diese Gewichtsverlagerung und Umbuchung von der Straße zum Interieur hinaus bemerkenswert und wichtig. Beide Romane sind zweigeteilt: die Spielorte in Berlin und außerhalb von Berlin sind gleichgewichtig verteilt. Während aber im Roman Cabanis die Stadt Berlin Ausgangs- und Endpunkt darstellt, sind am Jahrhundertende in den Akten des Vogelsang die Gewichte umgekehrt verteilt: Die Vorstadtidylle einer kleinen Residenzstadt stellt die zentrale Sozialisationsinstanz, die ‚Kinderstube‘ der Protagonisten des Romans dar, die dann erst im Studium als Pendant und Parallele die Enklave einer altfranzösischen Welt mitten in der „Weltstadt“ (845) Berlins kennenlernen. Wilhelm Raabes Akten des Vogelsang ist am Ende des 19. Jahrhunderts – auch wenn es bislang nicht bemerkt wurde – ein deutsch-französisches Buch, ein Gedächtnisbuch, das, so die Fiktion der titelgebenden Akten nüchtern, traurig aber zunehmend auch ‚gespenstisch‘ den Untergang einer zweihundertjährigen französischen hugenottischen Kultur in Deutschland beschreibt. Es ist ein Buch freilich mehrerer Untergänge und Abschiede – nämlich nicht nur von dem Märchenreich französischer Literatur, sondern auch vom Phantasiereich einer romantischen Jugend. Im Zuge dieses Abschieds von zwei Märchenreichen ist es auch ein Buch des Zynismus angesichts der präzis diagnostizierten Modernisierungsschäden und Umerziehungsaktionen. Die Spielorte der beiden Märchenreiche sind einmal der Vorort einer Residenz29
Wilhelm Raabe: Die Akten des Vogelsang, in: ders.: Späte Romane, Darmstadt 1962. Quellenangaben hieraus erfolgen im Weiteren mit Angabe der Seitenzahl direkt im Text. 30 Vgl. Thomas Friedrich, Michael Haddenhorst: Berliner (Hinter-)Höfe. Kultur, Geschichte und Gegenwart, Berlin 2000.
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stadt mit dem Namen ‚Vogelsang‘, ein durchgrüntes fast familiäres Nachbarschaftsmilieu und Eldorado eines Abenteuerspielplatzes für Kinder und Jugendliche, der andere Spielort ist die „Dorotheenstraße in Berlin“, wo eine „alte Hugenottenfamilie zum letzten Male ihre Lebensandenken zusammengehäuft hatte“ (193) – wie es anspielungsreich heißt. Diese beiden idyllischen Lebenswelten sind symmetrisch aufeinander bezogen: ihre Lebensqualität zeichnet sich beide Male durch eine hohe emotionale Dichte und gesellig-intime Kohäsion d.h. „Genossenschaft“ (95/96) aus – ein Kennzeichen für den Gegenortcharakter zu den üblichen gesellschaftlichen Gegebenheiten (vgl. 89). Doch unterscheidet sich die Ausdrucksform dieser beiden Lebens-„Genossenschaft[en]“ deutlich. Während mit dem „Vogelsang“ die „deutsche Kinderstube“ (91/174) gezeigt wird – eine Gartenlandschaft voll Streiche und Abenteuer der Jugend – wird das „romantische Zauberstübchen“ des hugenottischen „Zaubererinnerungsraumes“ in der großen Stadt Berlin von Anfang an als gefährdetes Refugium eines nach innen gekehrten durch Lied (vgl. 82, 88) und Lektüre geprägten „Hausheiligtums“ (87), eine typische Emigrantenkulturinsel also dargestellt. Der Untergang der beiden Reiche, des poetischen Traum- und des Abenteuerreiches erfolgt selbstredend auf unterschiedliche Weise. Das hugenottische „historische Wunder“ mitten in der Großstadt Berlin war seit dem „schrecklichen Krieg mit Frankreich“ (89) – 1871 – bedroht, es war dadurch nicht nur noch mehr in Isolation geraten, sondern wenn es mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit in Kontakt geriet, ständig in Gefahr, auf schwerste Weise gekränkt und diffamiert zu werden. Die Folgen waren abzusehen. Nachdem die durch eine angesehene Schneiderwerkstatt begüterte Familie le Beaux, aus französisch-hugenottischer Abstammung und ursprünglich aus dem Languedoc stammend (vgl. 191), in der Gründerzeit zu einem der „bedeutenderen Bankiers und Kapitalisten“-Häusern (191) der Reichstadt aufgestiegen und der junge Leon de Beaux ‚Kommerzienrat‘ geworden war, schritt die Assimilation an die preußischen Lebens- und Sprachverhältnisse derart schnell voran,31 dass selbst die heranwachsenden Kinder deutsch-patriotische Rufnamen erhielten, der Junge ‚Friedrich‘ und das Mädchen ‚Viktoria‘ gerufen wurden: […] die traditionellen altfranzösischen Familientaufnamen der de Beaux aus dem Languedoc figurieren nur noch in den Taufscheinen der Kinder. Die jetzige Madame de Beaux weiß nichts mehr von dem Familien-Wunderwinkel in der Dorotheenstraße, wo Leonie und Leon de Beaux ihr, ihres Vaters und ihrer Väter Eigentum in Angestammtem und Zuerworbenem festhielten und ihren Lebensstolz darauf gründeten […]. (191) Fritz und Vicky […] wissen nur von Sedan, Gravelotte, der dritten Einnahme von Paris und von Kaiser Wilhelm und seinen ‚Paladinen‘, von den Paladinen der „Tante Leonie“ aber wenig mehr. Sie sind eben eine geraume Zeit nach Sedan, Metz und der dritten Einnahme von Paris in die deutsche Welt hineingekommen, und das Eigentum ihrer Vorfahren väterlicher Seite hat kaum noch viel Bedeutung für sie. Was in der Doro31
Vgl. Manuela Böhm: Sprachenwechsel. Akkulturation und Mehrsprachigkeit der Brandenburger Hugenotten vom 17. bis 19. Jahrhundert, Berlin 2010.
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theenstraße noch pietätvoll zusammengetragen worden war, das dient in der jetzigen Villa des Beaux in den Gemächern nur noch hie und da zur Zier […]. (192) Mit dieser Reduktion einer in die Emigration mitgenommenen lange gepflegten französischen Kulturwelt auf die bloße Fiktion von „Zier“ ist diese (wie ich meine) einzigartige Zwischenstellung beendet, die Leons Vater in Raabes Roman auf eine einzigartige Unterbrechungsformulierung sprachlich zu konzentrieren in der Lage ist. Leons Vater, der noch der Chef einer angesehenen Schneiderwerkstatt war und noch nicht Bankier wie sein Sohn, meinte einmal sich innerhalb eines Wortes korrigierend: „was von eu- unserm deutschen Blut in das im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte hereingekommen ist“. Als der Erzähler und Gedächtnisprotokollant dieser Geschichte noch einmal in Berlin die Stätten seiner glücklichen Studentenzeit besuchte – es war nur „wenige Jahre her“ (195), war auch architektonisch von dem ehemaligen hugenottischen Zauberlande nichts mehr vorhanden. Einzig und allein, als er die Treppen hinaufstieg, war ein Vers aus einem französischen Volkslied noch präsent und er fragte sich, „wie kam es, daß […] dieser Vers, daß die süße Stimme, die das Lied uns in dem vornehmen Salon des Vorderhauses so oft gesungen hatte, mir plötzlich in den Sinn kam?“ Das „alte welsche Lied, schön wie irgendein deutsches“, kam ihm zu seiner Verwunderung schon früher nicht aus dem Sinn (vgl. 112). Es avanciert deshalb zu einem von zwei leitmotivisch gebrauchten Versen: Baissez-vous, montagnes. Haussez-vous, vallons! M’empêchez de voir Ma mi’ Madelon – Erhebt euch, ihr Täler, Sinkt nieder, ihr Höhn; Ihr hindert mich ja, Meine Liebste zu sehn; – Von der interkulturellen Enklave bleibt also doch nur ein Lied vom Lande und nicht von der Stadt.
ANNA-DOROTHEA LUDEWIG
Eine preußisch-jüdische Symbiose? Karl Emil Franzos in Berlin
Karl Emil Franzos, der österreichisch-deutsch-jüdische Literat, in Galizien geboren, aufgewachsen in Czernowitz, zum Juristen ausgebildet in Graz und Wien und heimisch zwischen Wien und Berlin, markiert mit seiner individuellen Biographie einerseits die Eckpunkte der europäisch-jüdischen Beziehungs- und Emanzipationsgeschichte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und kann damit durchaus als Pars pro Toto derselben betrachtet werden. Andererseits ist eben dieser Karl Emil Franzos auch ein deutscher Europäer oder ein europäischer Deutscher, der sein ‚Jüdischsein‘ als schicksalhaften Zufall ansah und dessen Bedeutung zwar nicht nivellierte, aber doch der selbst gewählten Zugehörigkeit zur deutschen „Kulturnation“1 eindeutig unterordnete: Ich aber meine: es [die Zugehörigkeit zum Judentum] ist ein Schicksal; ob es ein Glück oder Unglück ist, sein Schicksal trägt man, und wendet es nur in soweit, als es die Selbstachtung gestattet. […] Der jüdische Glaube hat noch keinen daran gehindert, sich als Deutscher zu fühlen – wer es anders sagt, kennt diesen Glauben nicht oder spricht mit Absicht unwahr.2 Franzos lässt an seiner persönlichen Wertehierarchie also keinen Zweifel, er war zuerst Deutscher und dann Jude, und seine Verehrung der deutschen Kultur grenzt oftmals an religiöse Hingabe. Dabei spielt das „Kulturdeutschtum“3 nicht nur für Franzos eine besondere Rolle, sondern für das deutsche Judentum generell, denn die Kulturnation muss in diesem Zu1
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Der Begriff ‚Kulturnation‘ wird hier im Sinne von M. Rainer Lepsius verwendet: „Die ‚Kulturnation’ konstituiert sich über die kulturelle Gleichheit von Menschen. Sie hat in der deutschen Geschichte eine wiederholt auftretende Bedeutung, und zwar in einem Substitutions- wie in einem Komplementaritätsverhältnis zur politischen ‚Staatsnation’. Angesichts der Realerfahrung der politischen Fragmentierung der durch die deutsche Sprache gestifteten Kulturgemeinschaft entwickelte sich die Vorstellung von einer deutschen ‚Kulturnation’ […].“ M. Rainer Lepsius: Interessen, Ideen und Institutionen, Wiesbaden 2009, S. 238. Karl Emil Franzos: Familien-Geschichten, in: Im deutschen Reich 1, 1895, S. 7–12, hier S. 11/12. Jacob Toury: Soziale und politische Geschichte der Juden in Deutschland 1847–1871, Düsseldorf 1977, S. 178.
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sammenhang als Heimatkonstruktion betrachtet werden, als Versuch des ‚Ankommens‘, wobei es hier sehr viel weniger um eine räumliche als um eine geistige Verortung gehen kann. Die Täuschung und gleichzeitige Tragik dieser Heimatkonstruktion hat Gershom Scholem in den 1960er Jahren in seinen Ausführungen zum deutsch-jüdischen Gespräch analysiert: Die Liebesaffäre der Juden mit den Deutschen blieb, aufs Große gesehen, einseitig, unerwidert und weckte im besten Fall etwas wie Rührung (wie z. B. bei Theodor Fontane um nur ein sehr berühmtes, wenn auch keineswegs eindeutiges Beispiel zu nennen) oder Dankbarkeit. Dankbarkeit haben die Juden nicht selten gefunden, die Liebe, die sie gesucht haben, so gut wie nie.4 Die Hinwendung zum ‚Deutschen‘, das Streben nach einer deutschen Identität setzte mit der Haskala, der jüdischen Aufklärung, ein, deren räumlicher Ausgangspunkt Berlin war. Geradezu symbolisch für diesen Prozess ist Moses Mendelssohns Übertragung des Pentateuch ins Deutsche (ab 1774), wobei die Verwendung der deutschen Sprache in hebräischen Lettern das aufklärerische „Doppelziel der Modernisierung der jüdischen Religion und Kultur sowie die Integration der Juden in die Mehrheitskultur“5 widerspiegelt. Mendelssohns Versuch, vielleicht keine Symbiose, aber doch eine Synthese mit der deutschen Mehrheitsgesellschaft zu finden, markiert den Ausgangspunkt der Emanzipationsgeschichte, die sich fortan im Spannungsfeld zwischen Integration und Identitätsverlust bewegt. Die 100 Jahre nach Moses Mendelssohns Reformwerk haben das ‚westeuropäische‘ und insbesondere das deutsche Judentum mit Einschnitten und Veränderungen konfrontiert, die nicht zuletzt zu einer Nivellierung der jüdischen Kultur geführt haben. Denn bis zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren [die Juden] als Nation klar erkennbar, besaßen eine unverwechselbare Identität und eine eigene Geschichte […]. Sie hatten ein scharf ausgeprägtes Bewusstsein ihrer selbst und lebten unter einer Religionsverfassung, die ihr Leben und ihre Kultur auf überaus intensive Weise in allen Poren ihres Daseins durchdrang.6 Die großen politisch-geistesgeschichtlichen Bewegungen dieser Zeit, die Französische Revolution und die (deutsche) Aufklärung, setzten eben jenen Emanzipationsprozess in Gang, der zu einer Vereinigung mit der Mehrheitsgesellschaft führen sollte – unter zumindest teilweiser Aufgabe der eigenen Identität, denn „[w]as an jüdischer Substanz ausfiel, versuchte man durch Aneignung deutschen Kulturgutes zu ersetzen“.7 Aber die „bürgerliche
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Gershom Scholem: Juden und Deutsche, in: ders.: Judaica 2, S. 20–46, hier S. 39. Britta L. Behm: Moses Mendelssohn und die Transformation der jüdischen Erziehung in Berlin. Eine bildungsgeschichtliche Analyse zur jüdischen Aufklärung im 18. Jahrhundert, Münster 2002, S. 163. Scholem: Juden und Deutsche (wie Anm. 4), S. 23. Toury: Soziale und politische Geschichte (wie Anm. 3), S. 178.
EINE PREUßISCH-JÜDISCHE SYMBIOSE?
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Verbesserung der Juden“8 war keineswegs ein rein innerjüdischer Prozess, sondern wurde stark von außen befördert, relevant ist in diesem Zusammenhang der besondere Umgang mit der jüdischen Minderheit in Deutschland, denn [d]as Projekt Emanzipation ist […] von den deutschen Aufklärern wie von den in ihre Fußstapfen tretenden Liberalen – anders als etwa in Frankreich oder Holland – nicht primär als politische Aufgabe, sondern als eine im weitesten Sinne kulturelle Herausforderung begriffen worden.9 Diese „kulturelle Herausforderung“ ist kennzeichnend für die Biographie10 von Karl Emil Franzos, galt doch sein ganzes Streben, seine ganze Sehnsucht einer aktiven Partizipation an der deutschen Kulturnation, diesem Ziel hatte er sein Leben verschrieben – was hier durchaus im doppelten Wortsinn verstanden werden darf. Und dieser deutsche Kontext gewinnt vor dem Hintergrund seiner individuellen Geschichte noch an Bedeutung, denn Karl Emil Franzos wurde im galizischen Czortkow geboren, und bereits bei der Angabe seines Geburtsjahres beginnt sein persönlicher deutsch-jüdischer Weg, denn alle Dokumente, wie beispielsweise Reisepass und Maturazeugnis, geben den 25. Juli 1847 an, während er selbst seine Geburt auf den 28. Oktober 1848 datiert. Auch wenn andere Erklärungen durchaus möglich sind, ist festzuhalten, dass die Verknüpfung seines Lebens mit dem Revolutionsjahr 1848 in Franzos‘ Selbstbild passte und in diesem Zusammenhang durchaus ihre Wirkung entfaltet hat; so ist in der Sekundärliteratur der bedeutungsschwere Satz zu lesen: „Karl Emil was born as a true son of revolutionary circumstances“11 – eine Deutung, die Franzos sicher gefreut hätte, auf die er vielleicht sogar spekuliert hatte. Jedenfalls wurde Karl Emil Franzos in Galizien geboren, von einer deutschen oder preußischen Herkunft kann also nicht die Rede sein, auch wenn er selbst zeitlebens bemüht war, sich in jeder Hinsicht vom so genannten Ostjudentum, und damit insbesondere vom Shtetl-Leben, abzugrenzen. Vielmehr verweist er in seinen wenigen autobiographischen Texten immer wieder auf die Verankerung seiner Familie in der deutschen Kultur: So beschreibt Franzos bereits seinen Großvater, einen galizischen Kerzenfabrikanten, als „ungestüme[n] Aufklärer“12 und damit natürlich als Verehrer von Lessing und Mendelssohn; und seinen Vater, den Arzt Dr. Heinrich Franzos, bemüht er immer wieder als Sinn- und Vor-
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1781 veröffentlichte Christian Wilhelm Dohm seine Schrift Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, in der die rechtliche und soziale Diskriminierung der Juden thematisiert und kritisiert wurde. Simone Lässig: Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert, Göttingen 2004, S. 74. Zur Biographie von Karl Emil Franzos vgl. auch Anna-Dorothea Ludewig: Zwischen Czernowitz und Berlin. Deutsch-jüdische Identitätskonstruktionen im Leben und Werk von Karl Emil Franzos, Hildesheim u. a. 2008, insbes. Kapitel II u. III. Carl Steiner: Karl Emil Franzos, 1848-1904. Emancipator and Assimilationist, New York u. a. 1990, S. 10. Karl Emil Franzos: Mein Erstlingswerk: Die Juden von Barnow, in: ders. (Hrsg.): Die Geschichte des Erstlingswerks. Selbstbiographische Aufsätze, Stuttgart, Berlin 1894, S. 213–240, hier S. 216.
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bild einer gelungenen Akkulturationsgeschichte im Sinne von Aufklärung und Haskala. Der Vater, der an deutschen Universitäten studiert hatte, sei auch als aktives Mitglied einer Burschenschaft in Erscheinung getreten und war angeblich „einer der ersten jüdischen Studenten, die das schwarz-rot-goldene Band getragen“.13 Seinem jüngsten Sohn Karl Emil gibt Heinrich Franzos diese Liebe zur deutschen Sprache und Kultur weiter, die väterlichen Worte „Du bist deiner Nationalität nach kein Pole, kein Ruthene, du bist Deutscher. Deinem Glauben nach bist du ein Jude“,14 und „[…] auch du bist eines Deutschen Sohn und wirst einst in Deutschland leben“15 werden zu den Leitsätzen des Sohnes, der sich zeitlebens darum bemüht, diesen Maximen zu entsprechen. Der Vater starb früh und der Sohn legte, seinem Wunsch entsprechend, am deutschsprachigen Gymnasium in Czernowitz die Matura ab und studierte anschließend in Wien und Graz Jura. Seinen Neigungen entsprechend entschied er sich aber gegen eine Tätigkeit als Rechtsanwalt und lebte ab 1871/72 als Journalist und freier Schriftsteller in Wien. Natürlich stellt sich die Frage, warum Franzos nicht bereits zum Studium oder wenigstens nach Abschluss seiner Ausbildung Österreich verlassen und sich in Preußen niedergelassen hatte. Nicht zuletzt standen dem wohl finanzielle Gründe im Wege, da die Familie nach dem Tod des Vaters ein geringes Einkommen hatte und der einzige Sohn, sein älterer Bruder war bereits 1857 verstorben, für die Mutter und die beiden unverheirateten Schwestern in Czernowitz zu sorgen hatte. Und Wien bot dem jungen Literaten mehr Anknüpfungspunkte für seine zunächst überwiegend journalistischen Tätigkeiten. Auch war die österreichische Hauptstadt als Ausgangspunkt seiner zahlreichen Reisen nach Osteuropa geographisch und strategisch geeigneter als die preußische Metropole. Die auf diesen Fahrten entstandenen Reisefeuilletons und Ghettogeschichten, ab 1876 erschienen erstere unter dem Titel Kulturbilder aus Halb-Asien und letztere sind als Juden von Barnow bekannt geworden, bildeten über Jahre hinweg die Haupteinnahmequelle von Karl Emil Franzos. Dennoch verlor Franzos sein Ziel, eines Tages in Deutschland zu leben, nicht aus den Augen. So schrieb er 1894 rückblickend, dass ihm Czernowitz immer wie der „Vorhof zum Paradies Deutschland“16 erschienen sei, und machte damit nicht nur deutlich, wie emotional seine Bindungen, sondern auch, wie hoch seine Erwartungen an Deutschland waren. Der Verbundenheit mit Deutschland gab er in Österreich immer wieder Ausdruck, nicht nur durch seine Ghettonovellen, in denen er den heilbringenden Einfluss deutscher Kultur pries, sondern durchaus auch politisch: So engagierte er sich ebenfalls in deutschnationalen Studentenverbindungen und verfasste im Sommer 1870, noch als Student, anlässlich des deutsch-französischen Krieges eine Solidaritätsadresse für eine Grazer Zeitung, aus der der folgende Abschnitt entnommen ist:
13 Ebd., S. 219. 14 Karl Emil Franzos: Der Pojaz. Eine Geschichte aus dem Osten [Vorwort]. Hamburg 2002 [Erstausgabe posthum 1905]. 15 Franzos: Erstlingswerk (wie Anm. 12), S. 222. 16 Ebd., S. 228.
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Als im Jahre 1866 die siegreichen preußischen Waffen einen starken deutschen Staat erkämpften und Oesterreich sich selber zurückgaben, da konnten viele deutsche Männer diesen Wendepunkt in der deutschen Geschichte nicht in seiner vollen Bedeutung erfassen. […] Die deutsche akademische Jugend Oesterreichs stimmt begeistert ein in die heldenhafte Erregung, die ganz Deutschland durchbraust von den Gehängen der Alpen bis zu den Gestaden des Meeres. Nur Ein Schmerz erfüllt ihre Seele, der Schmerz, daß sie nicht kämpfen und siegen darf mit Euch, Commilitonen!17 Diese öffentliche Solidaritätsbekundung blieb im neutralen Österreich nicht ohne Folgen, denn die strenge Ahndung separatistischer Tendenzen war ein wichtiges politisches Mittel, um das ohnehin fragile Gleichgewicht innerhalb des komplexen multiethnischen und multireligiösen Habsburgerreiches zu wahren – und deutschnationale Agitation war ebenso unerwünscht wie andere binnennationale Abgrenzungen. Franzos selbst erklärt in einem Schreiben von 1890, dass auf die Solidaritätsadresse eine Anklage auf Hochverrat folgte, die dann aber auf Ruhestörung gemildert wurde, und schließlich sei er mit einer Geldbuße davongekommen.18 Da anzunehmen ist, dass der angehende Jurist die Folgen seiner Handlung durchaus absehen konnte, muss er das Risiko wohl bewusst eingegangen sein, und das sicher nicht, ohne auf Beifall aus Deutschland zu spekulieren. Tatsächlich sind Briefe der Hochschulrektoren aus Leipzig und Rostock erhalten, die Franzos Respekt zollen und ihrer Hoffnung auf eine ‚Großdeutsche Lösung‘ Ausdruck verleihen; so heißt es aus Rostock: Ich kann Ihnen versichern, daß uns dieser Ausdruck Ihrer Gesinnungen herzlich erfreut hat, er ist uns eine Bürgschaft, daß die auf Deutschen Universitäten concipierte Idee der Deutschen Einheit, welche von eben diesen Universitäten Jahrzehnte lang den dynastischen Interessen zum Trotz standhaft festgehalten worden ist, auch bei Ihnen lebendig fortwirkt und dereinst ihre Früchte für das gesamte Deutsche Land tragen wird. Vom Kanzler unserer Universität, dem Großherzoge, bis zum jüngsten Fuchs sind wir alle gleich begeistert, für Deutschlands Ehre einzutreten, jetzt, wo dieselbe angegriffen worden ist – lassen Sie uns diese Gesinnungen bewahren, wenn der Frieden wieder eingekehrt ist, und die Deutschen Hochschulen zugleich Pflanzstätten deutscher Wissenschaft und Vororte Deutscher Geister!19 Und auch der Leipziger Universitätsrektor unterstreicht diese politischen Einheitsbestrebungen: Empfangen Sie aber von mir den Ausdruck der vollen Hochachtung für die großen und richtigen Gesichtspunkte, unter die Sie ihre Ansichten gestellt haben. Wenn einst die
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Solidaritätsadresse „An die Studenten der deutschen Hochschulen“, in: Freiheit 3, 4. 8. 1870, S. 537. Karl Emil Franzos: Brief an einen Unbekannten, Kopierbuch seiner Briefe vom 30. September 1890 bis 3. November 1891, 25. Oktober 1890, Wienbibliothek im Rathaus, H.I.N. 55.756. 19 Hermann Aubert: Brief an Karl Emil Franzos, 2. August 1870, Wienbibliothek im Rathaus H.I.N. 126.661.
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gleiche Auffassung, die Sie beseelt, in Österreich ganz allgemein zum Durchbruche gekommen sein wird, dann werden beide Völker, die Deutschen und die Österreicher, in gegenseitigem Bunde, ihre Angelegenheiten für sich ordnend, aber sich gegenseitig fördernd und hebend, die Stellung in Europa erringen, die ihnen gebührt.20 Die Illusion von einem geeinten Deutschland unter Einbeziehung Österreichs zerschlug sich jedoch spätestens 1871 mit der Gründung des Deutschen Reiches, wobei diese politische Entscheidung keinerlei Einfluss auf die kulturelle Verortung Österreichs hatte. Vielmehr wurden in den 1870er und 1880er Jahren diffuse Ängste vor einer ‚Slawisierung‘ oder ‚Überfremdung‘, um es mit einem modernen Begriff zu sagen, geschürt, die wiederum zu einer Manifestierung der deutsch-österreichischen Identität beitrugen. Franzos selbst bekannte sich mit der Herausgabe des Deutschen Dichterbuchs aus Österreich von 1882/83 noch einmal klar zu seiner kulturellen und damit auch nationalen Verwurzelung: Deutsch-Oesterreich war ehemals politisch eine deutsche Provinz, geistig aber ein selbständiges Nachbarreich mit nahe verwandten Elementen; heute nimmt es politisch diese letztere Stellung ein, während es, was sein geistiges Leben betrifft, als Provinz dem großen Reiche des deutschen Geistes eingefügt erscheint, und zwar als eine Provinz, deren sich das Reich wahrlich nicht zu schämen braucht.21 Franzos war in Österreich Teil dieser weit verzweigten und einflussreichen Gruppe deutschösterreichischer Schriftsteller und Intellektueller. Vor diesem Hintergrund ist es nicht weiter erstaunlich, dass er in Österreich sehr viel mehr als deutschnationaler denn als jüdischer Schriftsteller rezipiert wurde – er galt als prominenter Vertreter des „deutschen Wesens in Österreich“22 und genoss als solcher volle Anerkennung. Nicht zuletzt auch durch die Kaiserfamilie selbst, so ist ein Briefwechsel mit Kronprinz Rudolf erhalten, der von Franzos bei der Zusammenstellung der Enzyklopädie Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild23 beraten wurde. Franzos‘ Weg nach Deutschland und seine Ankunft in der Hauptstadt Berlin kann nur vor dem Hintergrund dieser komplexen deutsch-österreichischen Identität verstanden werden, die bis Mitte der 1880er Jahre für Franzos’ Leben und Werk sinn- und motivgebend war. Den geistig-kulturellen Schritt nach Deutschland hatte also bereits der Schüler, vielleicht sogar das Kind Karl Emil Franzos vollzogen, der geographische Schritt folgte hingegen sehr viel später: Erst 1887 ließ sich Franzos in Berlin nieder, eine Entscheidung, die eng 20 Friedrich Zarncke: Brief an Karl Emil Franzos, 29. Juli 1870, Wienbibliothek im Rathaus, H.I.N. 126.669. 21 Karl Emil Franzos (Hrsg.): Deutsches Dichterbuch aus Oesterreich [Vorwort], Leipzig, Wien 1883 [1882], S. VIII. 22 Ebd., S. VI. 23 Prinz Rudolf begann 1883 mit der Arbeit am so genannten Kronprinzenwerk, das dann in 24 Bänden zwischen 1885 und 1902 erschien.
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verbunden war mit der lang ersehnten Gründung einer eigenen literarischen Zeitschrift, der Deutschen Dichtung. Diese Zeitschrift sollte nun, gemeinsam mit dem Ortswechsel von Wien nach Berlin, die Grundlage für jene preußisch-jüdische Symbiose bilden, die Franzos sein Leben lang angestrebt hatte. Und diese Zeitschrift kann als Sinnbild für Franzos‘ Sehnsucht nach und für sein Verständnis von Deutschland verstanden werden, denn sie wurde getragen von dem tiefen Wunsch, einen Beitrag zur deutschen Literatur zu leisten und sich erneut zur deutschen Kulturnation zu bekennen. Und auch wenn es nahe liegend ist, dass dieser Beitrag literarischer Natur sein musste, ist doch bemerkenswert, dass es sich nicht um ein schriftstellerisches, sondern um ein editorisches Werk handelt. Franzos war sich, soviel Spekulation sei erlaubt, seiner beschränkten dichterischen Fähigkeiten durchaus bewusst; Schreiben war sein Brotberuf, den er zwar mit Leidenschaft und beachtlichem wirtschaftlichen Erfolg betrieb, aber er bewunderte mit Gustav Freytag, Theodor Storm und Theodor Fontane die großen Romanciers des deutschen Realismus und schätzte Franz Grillparzer und Friedrich Hebbel als Dramatiker seiner Jugend. Auch Heinrich Heine und Georg Büchner gehörten zu seinem persönlichen Pantheon der deutschen Literatur, und Friedrich Schiller verehrte Franzos, ebenso wie viele andere deutsche Juden, als den „Sprecher des reinen Menschentums“.24 Aber diese Verehrung wurde nicht zum Maßstab für das eigene Werk, obwohl er sich selbst in diese Traditionslinie gestellt wissen wollte: „Die Wahrheit ist, dass diese Sympathie [für die oben genannten Autoren] meinem innersten Wesen entsprach, dass ich – so viel darf ich selbst sagen, weil damit die Talentfrage in keiner Weise entschieden ist – selbst ein romantischer Realist war“.25 Vor diesem Hintergrund gewinnt die Deutsche Dichtung als Zeitschrift mit anthologischem Charakter an Bedeutung, denn mit diesem Projekt konnte Franzos seine persönliche Literaturgeschichte entwerfen und sich gleichzeitig einschreiben in die deutsche „Kulturnation“: Trotz der großen Zahl gut, ja vortrefflich redigierter Zeitschriften in Deutschland ist dennoch ein sehr ansehnlicher Theil unserer dichterischen Production heimatlos und nur auf das Erscheinen in Buchform angewiesen. Verschiedene Rücksichten versperren ihm die Spalten der bestehenden Organe: die Familienblätter müssen auf die Bedürfnisse eines großen Publikums Bedacht nehmen und dabei bezüglich der ‚Moralität‘ dessen, was sie bringen, die Schranken weit enger ziehen, als sie die echte, gereifte Sittlichkeit steckt; andere Zeitschriften wieder verfolgen eine bestimmte politische oder sociale Tendenz; alle aber schließen ganze Gattungen der Dichtung aus, weil sie denselben nicht Zugkraft genug für das große Publikum zutrauen, so die größere epische Dichtung und das Drama. Die ‚Deutsche Dichtung‘ nun hat es mit Erfolg versucht, nicht bloß der dichterischen Produktion in Vers und Prosa eine neue Heimstätte zu schaffen, welche die oben erwähnten Bedenken nicht berücksichtigt, sondern dabei auch die Dichtung in metri24 Scholem: Juden und Deutsche (wie Anm. 4), S. 30. 25 Karl Emil Franzos: Über Georg Büchner, in: Deutsche Dichtung 29, 1900/01, S. 289–300, hier S. 289. Vgl. auch Ludewig: Franzos (wie Anm. 10), S. 127/128.
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schen Formen zu pflegen. Ihr war und wird das Schöne in jedem Genre willkommen sein, sie will und wird auch ferner nur nach dem künstlerischen Werte fragen.26 Und so sind Franzos‘ Berliner Jahre, die von 1887 bis zu seinem Tod im Januar 1904 dauern, geprägt von der Arbeit an seiner Zeitschrift, deren Redaktion er im Wesentlichen allein besorgt, denn die Deutsche Dichtung erweist sich, wie das Konzept des ‚künstlerischen Wertes‘ schon vermuten lässt, als wirtschaftlich unrentabel. Aber Franzos hat sich damit einen Ort geschaffen, der zu einer Sammelstelle seiner „literarischen Reliquien“27 wird: eben jenen literarischen Texten, die seine persönliche deutsch-jüdische Identität ausmachen. Vor dem Hintergrund seiner gesellschaftlichen Situation in Berlin entwickelt sich die Arbeit an seiner Zeitschrift schließlich zum wesentlichen Lebensinhalt und wird vielleicht zu Franzos‘ deutscher Heimat, zu einer ‚Metaheimat‘, die das reale Preußen nicht sein kann. Denn das Berlin der 1880er Jahre, die ‚Hauptstadt der Nation‘, war weder nachhaltig geprägt vom Geiste Mendelssohns und Lessings, noch verfügte es über die viel zitierten Salons, die Hannah Arendt so treffend als „soziale[n] Raum außerhalb der Gesellschaft“ und „das immer wieder erträumte Idyll einer gemischten Geselligkeit“ beschreibt und schließlich festhält, dass diese „Vermischung“ von Juden und Christen, von Schauspielern und Adeligen lediglich „das Produkt der zufälligen Konstellation einer gesellschaftlichen Übergangsepoche“, nämlich des ausgehenden 18. Jahrhunderts, gewesen sei.28 Und der Liberalismus, dessen kurze Blütezeit in den 1860er Jahren vielen Juden Anlass zu Hoffnungen auf eine nicht nur gesetzliche, sondern eben auch gesellschaftliche Anerkennung geben hatte, konnte sich nicht langfristig durchsetzen. Aber auf diesen Bildern, vielleicht sogar Mythen, beruhte Franzos’ Bild von Preußen, von Berlin, und so war die erhoffte ‚Ankunft im Paradies‘ von Enttäuschungen geprägt. In Berlin29 wurde Franzos mit einer Situation konfrontiert, die er in dieser Form aus Wien nicht kannte. Keinesfalls sollen dabei der in allen österreichischen Gesellschaftsschichten mindestens latent existierende Antijudaismus und die verstärkte antisemitische Entwicklung ab den 1880er Jahren in Abrede gestellt werden, aber dennoch muss festgehalten werden, dass die jeweilige Religionszugehörigkeit in der multiethnischen und multikonfessionellen Donaumonarchie doch eine vergleichsweise untergeordnete Rolle spielte. Auch der Antisemitismus zeigte sich in Österreich in anderer Form als in Deutschland. Während der Antisemitismusstreit im Reich eine aggressive antijüdische Entwicklung ausgelöst hatte, die schließlich zu einer aktiven gesellschaftlichen Ausgrenzung der Juden führte, wurde der Antisemitismus in Wien mehr „als eine bewahrende, modernisierungsfeindliche Kraft“
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Beispielsweise Deutsche Dichtung [Abonnementseinladung auf dem Umschlagbogen] 7, 1889/90. Hervorhebungen im Original. 27 Beispielsweise Deutsche Dichtung [Umschlagbogen] 18, 1895. 28 Hannah Arendt: Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik, München 2006, S. 71. 29 Zu den folgenden Ausführungen vgl. auch Ludewig: Franzos (wie Anm. 10), Kapitel IX.
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verstanden und gelebt, welche „den persönlichen Umgang von Juden und Nichtjuden […] nicht immer zu beeinträchtigen, wenn auch zweifelsohne zu erschweren“30 schien. Diese Situation führte dazu, dass Franzos, der in Wien immer als Deutschnationaler wahrgenommen worden war, in Berlin nun in erster Linie als Jude gesehen wurde. Seit seiner Kindheit in Czortkow war Franzos nicht mehr mit einer so deutlichen Trennung zwischen jüdischem und nichtjüdischem Leben konfrontiert worden. Auch wenn die Grenzen in Deutschland, in Berlin natürlich subtiler und weniger sichtbar verliefen als in Galizien, waren diese doch genauso unüberwindbar. Vor diesem Hintergrund war Franzos’ literarisch-editorisches Schaffen in Deutschland deutlich eingeschränkt; seine Hoffnungen auf eine berufliche und private Weiterentwicklung haben sich sicher nicht erfüllt. Die nichtjüdischen Kontakte, die er bereits von Wien aus geknüpft hatte, blieben zwar bestehen, aber es kamen kaum neue hinzu. Dafür vertieften und vermehrten sich die Beziehungen zu jüdischen Berlinern, die den Neuankömmling aus Wien freundlich aufnahmen und bei der Eingewöhnung in Preußen behilflich waren. Zu nennen sind hier Moritz Lazarus, Gustav Karpeles und natürlich Ludwig Geiger. Mit dem Sohn des bekannten Rabbiners Abraham Geiger verband Franzos eine besonders enge Beziehung, die sich auch auf die beiden Ehefrauen erstreckte. Und aus Max Liebermanns Erinnerungen geht hervor, dass Franzos im Salon des Ehepaars Bernstein verkehrte:31 Carl und Felicie Bernstein waren die ersten Berliner, die gezielt französische Impressionisten sammelten und damit beispielsweise Max Liebermann selbst und Hugo von Tschudi inspirierten, denn ihre Wohnung war einer der wichtigsten Treffpunkte des künstlerischen und politischen Berlin. Trotz dieser gesellschaftlichen Kontakte musste Franzos, um als Schriftsteller weiterhin tätig sein zu können, immer mehr auf jüdische Strukturen und Publikationsorgane zurückgreifen. So schrieb er nun beispielsweise für die Allgemeine Zeitung des Judenthums und für die Zeitschrift Im Deutschen Reich, die vom ‚Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens‘ herausgegeben wurde, und er bewegte sich im sozialen und kulturellen Umfeld der Berliner jüdischen Gemeinde. Auch seine Mitgliedschaft in verschiedenen jüdischen Vereinen, wie eben dem Centralverein, der ‚Gesellschaft der Freunde‘ und dem ‚Deutschen Central-Komitee für die russischen Juden‘, dokumentiert diese Entwicklung. Seine Vortragsreihen zu Themen wie Über osteuropäische Literatur, Gogol und Turgenjew oder Die deutsche Ghettonovelle wurden gut honoriert, aber er stellte sich als Redner oft für wohltätige Zwecke zur Verfügung; in diesem Zusammenhang trat er u.a. bei der jährlichen Veranstaltung des ‚Vereins Berliner Presse‘ auf, der einen großen Sozialfonds unterhielt. Auch das Kuratorium der ‚Hochschule für die Wissenschaft des Judentums‘ wurde von Franzos bei den alljährlichen Sammlungen für unbemittelte Studenten unterstützt. Der
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Klaus Hödl: Wiener Juden – jüdische Wiener. Identität, Gedächtnis und Performanz im 19. Jahrhundert, Innsbruck u. a. 2006, S. 22. 31 Max Liebermann: Gesammelte Schriften (Meine Erinnerungen an die Familie Bernstein, 1908), Berlin 1922, S. 127.
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‚Jüdische Vortrags-Vereinsverband‘ führte ihn als Redner ebenso wie der ‚Deutsche Verband von Vereinen für öffentliche Vorträge‘ und der ‚Verein für jüdische Geschichte und Kultur‘. Besonders intensiv engagierte sich Franzos aber im ‚Deutschen Central-Komitee für die Russischen Juden‘, dessen Schriftführer er ab 1891 war. Aber trotz seiner eigenen, durchaus bitteren Erfahrungen und der zunehmenden Konfrontation mit dem Antisemitismus, empfahl Franzos seinen russischen Glaubensbrüdern eine kompromisslose Akkulturation: Die maßvolle Auswanderung ist also zu billigen und zu unterstützen, aber nur als Neben-, als Hilfsmittel, die Frage grundsätzlich zu lösen, nicht als Radikal-Mittel. Das Radikal-Mittel ist: die russischen Juden müssen in derselben Art, wie auch ihre Glaubensgenossen im Westen, Engländer, Franzosen, Deutsche jüdischen Glaubens geworden sind, Russen jüdischen Glaubens werden und wie jene treue Söhne ihres Vaterlandes. Nur damit ist ihnen, Rußland und der Cultur dauernd genützt.32 Und auch sich selbst sprach er, durchaus in Abgrenzung gegen die zunehmenden zionistischen Strömungen, diese Empfehlung immer wieder aus; noch 1891 schrieb er an den Präsidenten der ‚Berthold-Auerbach-Loge‘: Was wir brauchen, ist ein Bund, der einerseits auf dem Boden des Judentums steht und sich andererseits rastlos intellektuell, wie moralisch weiter bildet. Nur so kann dem deutschen Judentum genutzt sein, nur so können wir Juden bleiben und Deutsche werden […].33 Dass Franzos an seinem Akkulturationskonzept trotz der schmerzvollen Berliner Erfahrungen festhielt, scheint zunächst unverständlich, aber für ihn war dieser Lebensentwurf alternativlos. Dennoch berühren die Überlegungen Hannah Arendts zu Rahel Varnhagens Versuch eines deutsch-jüdischen Lebensweges auch Franzos‘ Scheitern: Es gibt keine Assimilation, wenn man nur seine eigene Vergangenheit aufgibt, aber die fremde ignoriert. In einer im großen und ganzen judenfeindlichen Gesellschaft – und das waren bis in unser [20.] Jahrhundert hinein alle Länder, in denen Juden lebten – kann man sich nur assimilieren, wenn man sich an den Antisemitismus assimiliert. Will man ein normaler Mensch werden, akkurat so wie alle anderen, so bleibt kaum etwas andres übrig als alte Vorurteile mit neuen zu vertauschen. Tut man dies nicht, so wird man unversehens ein Rebell […] und bleibt ein Jude. Assimiliert man sich aber wirklich
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Karl Emil Franzos: Die Juden in Russland. Nach Zeugnissen christl. Russen. Handschriftlicher Entwurf, ohne Datum, Wienbibliothek im Rathaus, H.I.N. 114.472, S. 1/2. Hervorhebungen im Original. 33 Zitiert nach Margarita Pazi: Karl Emil Franzos’ Assimilationsvorstellung und Assimilationserfahrung, in: Hans Otto Horch (Hrsg.): Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. 2. Teil, Tübingen 1989, S. 218–233, hier S. 232.
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mit allen Konsequenzen der Verleugnung des eigenen Ursprungs, des Solidaritätsbruchs mit denen, die es nicht oder noch nicht geschafft haben, so wird man ein Lump.34 Franzos war weder ein Rebell noch ein Lump, und das ist vielleicht seine persönliche Tragik: Er konnte sich nicht von seinen jüdischen Wurzeln lösen, sondern wollte diese mit dem ‚Kulturdeutschtum‘ versöhnen und diese beiden für ihn sinnstiftenden Elemente zu einer preußisch-jüdischen Symbiose oder wenigstens Synthese zusammenführen. Aber dieses Konzept war nicht realisierbar, denn die Synthese entwickelte sich zu einer Antithese, die letztendlich nicht zu einer individuellen Lebensgestaltung, sondern zu einem Verlust der jüdischen und der deutschen Identität führte.
34 Arendt: Varnhagen (wie Anm. 28), S. 234.
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ASTRID KÖHLER
Johanna Schopenhauer in London, Paris und Weimar
‚Der alte Fritz ist tot! Endlich! Endlich!‘ ging es eines Tages wie ein Lauffeuer durch die Stadt, und die Leute freuten sich und riefen beinahe jubelnd die längst erwartete Nachricht einander entgegen, als wäre durch den Tod des großen Königs alles Leid von ihnen genommen.1 Mit diesen Worten eröffnet Johanna Schopenhauer das 31. Kapitel ihrer Memoiren. Die Stadt, von der hier die Rede ist, war Danzig, eine Freie Reichsstadt, die aber mit der ersten und zweiten Teilung Polens (1772 und 1793) zunächst das für ihren Wohlstand maßgebliche Umland mit Hafen und später auch ihre politische Eigenständigkeit an Preußen verloren hatte. Gerade 1782, nur vier Jahre vor dem öffentlichen Jubel um seinen Tod, hatte ‚der alte Fritz’ mittels Blockade versucht, die Stadt zum Anschluss an Preußen zu zwingen.2 Johanna Schopenhauer, geborene Trosiener, entstammte dem wohlhabenden Danziger Bürgertum. Sowohl ihr Vater Christian Heinrich Trosiener, als auch ihr späterer Ehemann Heinrich Floris Schopenhauer standen großen Handelshäusern vor, gehörten zu den Ratsherren der Stadt und waren – qua Situation – antipreußisch eingestellt. Ihr Mann, so schreibt Johanna später, habe mit dem Preußenkönig sogar persönlich Bekanntschaft geschlossen, dessen dringende Einladung aber, sich als Handelsmann in Preußen niederzulassen, entschieden abgelehnt.3 Nach 1793, als Danzig schließlich doch dem Preußen unter Friedrich Wilhelm II. zufiel, zog das Ehepaar Schopenhauer unter signifikanten materiellen Einbußen in die Freie Hansestadt Hamburg um. Noch im Elternhaus hatte Johanna Trosiener eine weltoffene, aufgeklärte Erziehung genossen und wurde von frühester Kindheit an, jeweils von Muttersprachlern, Polnisch, Englisch und Französisch gelehrt. (Später lernte sie dann noch Italienisch dazu.) Ungewöhnlich für ihre Zeit und Umstände war die frühe Vertrautheit nicht nur mit englischer und französischer Literatur und mit Weltgeschichte, sondern auch mit aktuellen politischen Ereignissen wie dem amerikanischen Befreiungskampf und mit den geistigen Diskursen der 1 2 3
Johanna Schopenhauer: Ihr glücklichen Augen. Jugenderinnerungen, Tagebücher, Briefe. Hrsg. v. Rolf Weber. Berlin 1986, S. 201. Ebd., S. 173–175. Ebd., S. 202/203.
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Zeit. (So hat sie z. B. bereits in der frühen Jugend Lavaters Physiognomische Fragmente gelesen.) Die für ihr geistiges und soziales Umfeld typische, anfängliche Begeisterung für die Französische Revolution schlug – wiederum typisch – spätestens mit der Hinrichtung des Königspaares und der Jakobinerherrschaft in Abscheu um. Mit einer Republik des ‚Pöbels‘ hatte man im Danziger Bürgertum trotz der ansonsten gern propagierten republikanischen Ansichten nichts gemein. Der für ihre Zeit und Verhältnisse sehr fortschrittlichen Bildung und Erziehung im Elternhaus folgte das Leben als Vorsteherin des gastfreien, weltoffenen Handelshauses Schopenhauer und die glückliche Gelegenheit, ihren Mann auf seinen europäischen Geschäftsreisen zu begleiten. So hat Johanna Schopenhauer das Leben in Holland, Frankreich, England, Schottland, der Schweiz, Österreich zum Teil mehrfach und sehr ausführlich erleben können und war für ihre Zeit und Verhältnisse durchaus als Kosmopolitin zu bezeichnen. Berlin hatte folglich bei ihr in mehrfacher Hinsicht schlechte Karten: politisch als Hauptstadt des verhassten Preußen und gesellschaftlich-kulturell als eine Stadt, die an weit größeren europäischen Metropolen gemessen wurde. Dazu kam die unglückliche private Konstellation, dass ihr Sohn Arthur, mit dem sie sich im Streit entzweit hatte, zeitweise in Berlin lebte. Und so verwundert es nicht, dass beispielsweise ihre Aufzeichnungen über ihre erste Reise nach Berlin entsprechend trübe ausfallen: Langweiliger als diese Reise kann ich mir nichts denken als etwa eine Beschreibung derselben; Schritt vor Schritt zogen vier abgelebte Postpferde uns durch tiefen Sand, durch armselige Städte und noch armseligere Dörfer, wie ungleich denen auf dem Danziger Gebiet! Legten wir in anderthalb Stunden eine Meile zurück, so war der Postillon sehr zu loben, brachte er zwei Stunden damit zu, hatten wir kein Recht, uns über ihn zu beklagen […] so unwirtbar öde, so hauslos, möchte ich sagen, war das Land meilenweit umher.4 Auch nach der Ankunft in der Stadt wird solch trauriger Eindruck nicht etwa relativiert, sondern eher verstärkt: Der Anblick der wie nagelneu aussehenden Stadt war mir zwar auffallend, aber die unabsehbar langen und breiten Straßen kamen eben wegen ihrer Länge und Breite mir öde und menschenleer vor, ebenso auch die alle wie nach einem Modell erbauten, einander durchaus ähnlichen Häuser, von denen damals einige gar keine Häuser, sondern bloß eine Fassade waren […]. Wider mein Wollen mußte ich in Berlin immer an Theaterdekorationen denken.5 Die Uniformität von Berlins Architektur hatte auch Madame de Staël auf ihrer legendären Deutschlandreise beschäftigt. Sie verband und verdammte damit neben der von Schopen-
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Ebd., S. 206. Ebd., S. 208.
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hauer diagnostizierten Leblosigkeit vor allem Geschichtslosigkeit.6 Dass Schopenhauer De l’Allemagne kannte, steht außer Frage. Sehr viel mehr als obige Kritik mit intertextuellem Anklang liest man dann auch bei ihr nicht über Berlin; zwei schmale Abschnitte widmet sie der Stadt (weniger noch als de Staël), Potsdam erhält gerade eine Seite, Schloss und Park Sanssouci nur etwas mehr und dabei immer noch weniger als das Grab Friedrichs II. und seiner Hunde. Solcherlei quantitative Vergleiche mit Schopenhauers Beschreibungen von Orten wie London oder Paris anzustellen, ginge schon insofern nicht an, als denen jeweils mehrere Kapitel in ihren Reisebüchern gewidmet sind. Sehen wir uns aber an, wie sie an gegebener Stelle ihre erste Ankunft in London schildert: Von welcher Seite man auch immer diese Stadt betreten mag, immer glaubt man schon lange in ihrer Mitte zu sein, ehe man noch ihre Grenzen erreichte. Keine der größten Städte Europas, nicht Wien, nicht Berlin, selbst nicht Paris, kündigt sich aus der Ferne so imposant an. Häuser reihen sich an Häuser, durch fast unbemerkbare Zwischenräume in verschiedene Flecken, Städtchen und Dörfer abgeteilt, alle scheinen zu einem Ganzen vereint, alle vergrößern ins Ungeheure die Stadt [...]. Schöne breite Heerstraßen führen von allen Seiten hinein. [...] Ein ewiges Gewühl von Wagen und Reitern verkündigt dem Fremden schon von ferne, daß er dem Wohnorte von fast einer Millionen Menschen sich nähert.7 Immer wieder preist sie an London das Gewimmel und zugleich die Komfortabiliät des Lebens, so die (ganz im Gegensatz zu Paris) sehr gut begehbaren Fußwege, den Glanz, die Größe, die Vielfalt. Ihre Aufmerksamkeit richtet sich dabei sowohl auf die Architektur, die Einrichtung der öffentlichen Plätze und Parks und die Infrastruktur der Stadt, als auch auf das gesellschaftliche und private Leben der Londoner. Noch heute fasziniert diese Beschreibung durch ihre Vitalität und ihren exquisiten Sinn fürs Detail. Und da Paris bereits erwähnt worden ist, sei auch dies zum Vergleich angeführt: Noch nie hatte uns etwas seltsamer überrascht als die Einfahrt in Paris, doch wahrlich nicht durch ihre Pracht. Auf einer sehr schlecht gehaltenen Kunststraße fuhren wir [...] an mehreren, aus lauter armseligen Lehmhütten bestehenden Dörfern vorbei. Keine prächtigen Villas [sic], von weitläufigen Garten [sic] umgeben, keine hübschen Land-
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„Ich für meinen Teil würde mir in Amerika neue Städte und neue Gesetze wünschen; dort sprechen Natur und Freiheit laut genug zur Seele, um die Erinnerungen entbehrlich zu machen; aber auf unserem alten europäischen Boden müssen wir auf Spuren der Vergangenheit stoßen.“ Madame de Staël: Über Deutschland. Vollständige Ausgabe nach der deutschen Erstübertragung von 1814. Hrsg. v. Monika Bosse, Frankfurt/M. 1985, S. 107. Johanna Schopenhauer: Reise nach England. Hrsg. v. Konrad Paul. Berlin 1973, S. 79.
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häuser, in welchen der arbeitsmüde Städter Erholung sucht, verkündeten uns hier, wie meilenweit vor London und Amsterdam, die Nähe der großen Hauptstadt.8 Und auch nachdem der Schlagbaum passiert war, wollte der erwartete Glanz sich noch nicht zeigen: „Verwundert sahen wir im Wagen einander an. Sind wir denn wirklich in Paris? fragten wir uns, ist dieses la Capitale du monde?“9 Auch wenn sich das dann sehr schnell ändert, und sowohl die Pracht als auch die Lebendigkeit der Stadt gepriesen werden, gilt sie der Reisenden doch als „eine der hässlichsten und schönsten [Städte] zugleich, die man sich denken kann“.10 Berlin, freilich, kann mit beiden Beschreibungen nicht mithalten und ist im Gegenteil der aufgeblasenen Bedeutungslosigkeit anheimgegeben. Wollte man eine Schopenhauersche Hierarchie der europäischen Hauptstädte um 1800 aufstellen, stünde an der Spitze zweifellos London – gefolgt von Paris, Amsterdam und Wien: Berlin folgt unter ‚ferner liefen‘. Indessen ist ihr die kulturelle Signifikanz Berlins – zumindest für den deutschsprachigen Raum – durchaus, und früh, bewusst gewesen. So schreibt sie etwa von ihrem ersten Besuch der Berliner Museen und Galerien: „Vor den Erzeugnissen bildender Kunst, die ich noch nie in so zahlreicher Zusammenstellung erblickt hatte, stand ich verstummend, furchtsam, verlegen; ich wusste eigentlich nicht, wie mir geschehen, denn ich hatte noch nicht sehen gelernt“.11 Und das schreibt immerhin eine, die inzwischen nicht nur diverse Artikel, sondern ein ganzes Buch der Besprechung von bildender Kunst gewidmet hatte. Das gleiche Bild des Erst-Sehen-Lernen-Müssens verwendet sie interessanterweise auch im Bericht über ihren ersten Aufenthalt in Paris.12 Somit wird Berlin – und sei es unbewusst und nur auf diesem Gebiet – eine doch beträchtliche Bedeutung zugewiesen. Und dass in Preußens Hauptstadt einige sehr wichtige Köpfe des Kunst- und Geisteslebens saßen, war natürlich auch den gebildeten Bürgern von Danzig nicht entgangen.13 Was die bildende Kunst anbelangt, verweist Johanna auf ihre frühe Bewunderung für den aus Danzig stammenden und in Berlin ansässigen Maler und Illustrator Daniel Chodowiecki. Seinen Besuch in ihrer ersten Danziger Schule, die von Chodowieckis Mutter geleitet wurde, erinnert sie in ihren Memoiren in aller Ausführlichkeit und gesteht, dass es ihr Mädchentraum gewesen sei, bei Chodowiecki in Berlin in die Malerschule zu gehen und eine zweite Angelika Kauffmann zu werden. Sie wurde jedoch nicht zu ihm geschickt, sondern der Konvention gemäß verheiratet. An der Seite ihres Mannes lernt sie später freilich
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Johanna Schopenhauer: Promenaden unter südlicher Sonne. Die Reise durch Frankreich 1804. Hrsg. v. Gabriele Habinger, Wien 1993, S. 3. Ebd., S. 4. Ebd., S. 6. Schopenhauer: Jugenderinnerungen (wie Anm. 1), S. 190. „Wie neugeborne Kinder das Sehen durch Übung erst lernen müssen, so will auch das Sehen auf Reisen erst erlernt werden.“ Ebd., S. 207. Heinrich Floris Schopenhauer war z.B. ein großer Verehrer Voltaires.
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u. a. mit Friedrich Nicolai und Johann Erich Biester weitere wichtige Vertreter des Berliner Kunst- und Geisteslebens kennen und schätzen. Trotzdem: Als sie nach dem Tod ihres Mannes im Jahre 1805 beschließt, die Welt des Handels zu verlassen und sich in der Welt der Kunst und der Künstler niederzulassen, fällt die Wahl auf einen ganz anderen Ort – Weimar. Ein Leben unter Künstlern und Gelehrten zu führen, war ein lang gehegter Wunsch, den die Schopenhauer sich erst im Stande der Witwenschaft erfüllen konnte; und sie hat dies mit aller Entschiedenheit und kluger Kalkulation in Angriff genommen. Weimar mag ein kleines, im Thüringischen gelegenes Residenzstädtchen gewesen sein, hatte aber in den Jahren um 1800 einen ausgezeichneten Ruf als geistige und künstlerische Hochburg im deutschen Raum erworben.14 Die kluge Kulturund Bildungspolitik der vom Braunschweiger Hof gekommenen Herzogin Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach sowie deren Fortführung und Ergänzung durch politische und ökonomische Reformen von Seiten ihres Sohnes Karl August hatten neben der Errichtung und Erneuerung wichtiger kultureller Institutionen eine bemerkenswerte Zahl an Künstlern und Gelehrten nach Jena und Weimar geholt.15 Das gefeierte Quartett Wieland, Herder, Goethe und Schiller setzte dem lediglich die Krone auf.16 In der Geschichtsschreibung des späten 19. Jahrhunderts ist diese Konstellation gern als „Musenhof“17 gefeiert worden, ein seit einigen Jahren bestehendes Großforschungsprojekt spricht vom „Ereignis Weimar-Jena“ um 1800, und im Katalog zu einer damit verbundenen Ausstellung wird sogar von Weimar als „kultureller Großmacht“18 gesprochen. Jede dieser Bezeichnungen ist auf ihre Art unangemessen, verweist aber – auch auf ihre Art – auf ein nicht zu leugnendes und schwer zu fassendes soziokulturelles Phänomen: das Provinznest mit Weltgeltung. Weimar hatte um 1800 ganze 800 Häuser und 7.000 Einwohner mit einem auffällig hohen Anteil an Hofbeamten und einem gegen Null gehenden Anteil an (Groß-)Bourgeoisie. Berlin hatte immerhin 200.000 Einwohner, was es zur neuntgrößten Stadt Europas
14 „Der weimarische Staat erntete jetzt die politischen Früchte der kulturellen und wissenschaftlichen Blüte, die er hervorgebracht hatte, und wurde europaweit als geistiger Mittelpunkt Deutschlands wahrgenommen.“ Ereignis Weimar. Anna Amalia, Karl August und das Entstehen der Klassik 1757–1807. Katalog zur Ausstellung im Schlossmuseum Weimar. Herausgegeben von der Klassik Stiftung Weimar und dem Sonderforschungsbereich 482 „Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800“ der Friedrich Schiller Universität Jena 2007, S. 273. 15 Christoph Martin Wielands Berufung zum Erzieher des Kronprinzen, verbunden mit einer lebenslänglichen, jedoch an Weimar gebundenen Pension für die Zeit nach Karl Augusts Regierungsübernahme, wird allgemein als Amalias entscheidender Schritt in Richtung einer Kultivierung des Weimarer Hofes angesehen. Indem sie die Aufgabe der Fürstenerziehung in die Hände des Künstlers und Gelehrten legt, folgt sie außerdem einem bevorzugten Muster der Aufklärung. 16 Man denke nur an das Wirken der Kunsthistoriker Karl August Böttiger und Karl Ludwig Fernow oder an die Liste der unter Karl Augusts Rektorat berufenen Jenaer Professoren. 17 Nach meinen Recherchen taucht der Terminus ‚Musenhof‘ zum ersten Mal in einer Publikation von 1860 auf: Johann August Diezmann: Weimar-Album. Blätter der Erinnerung an Carl August und seinen Musenhof, Leipzig 1860. 18 Ereignis Weimar (wie Anm. 14), S. 273.
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machte. Außer etwas Textilmanufaktur gab es in Weimar keine produktiven Bereiche von Relevanz, und die Infrastruktur der ganzen Umgegend war selbst für die zeitgenössischen deutschen Verhältnisse stark zurückgeblieben. Auch Berlins größter Industriezweig war noch die Textilindustrie, gefolgt jedoch vom Baugewerbe (dem all diese auffällig neuen Fassaden zu verdanken waren), im Gefolge dessen sich Manufaktur- und Industriezweige wie Kutschenbau, Möbelherstellung, Inneneinrichtung, Lederverarbeitung, Porzellanherstellung etc. ausbildeten. Dazu kam die rasante Entwicklung des Verlagswesens in Preußen sowie einer kulturellen Infrastruktur, die sich neben der Errichtung der Akademie der Künste oder des Neuen Königlichen Schauspielhauses auch im Gedeihen literarischer Salons manifestierte.19 Somit entstanden im Berlin dieser Zeit eben die Voraussetzungen dafür, dass es sich einst zur europäischen Metropole entwickeln könnte: eine urbane Infrastruktur und großstädtische Öffentlichkeitsformen. All das traf auf Weimer dezidiert nicht zu.20 Von Germaine de Staël, deren Blick auf Berlin wir bereits kennen, wurde Weimar so gesehen: Der Aufenthalt in kleinen Städten ist mir von jeher über alle Maßen langweilig vorgekommen. Er engt den Geist der Männer ein und macht das Herz der Frauen zu Eis, man lebt einander so nahe, daß man voneinander gedrängt und gedrückt wird. [...] Diesen peinlichen Zwang gab es in Weimar nicht. Weimar war keine kleine Stadt; es war ein großes Schloß, wo eine ausgesuchte Gesellschaft sich interessiert über jedes neue Kunstprodukt unterhielt. Liebenswürdige Schülerinnen einiger höherer Köpfe beschäftigten sich mit literarischen Arbeiten, als wären es die wichtigsten Neuigkeiten der Zeit gewesen, [und] zogen durch Lesen und Studieren die Welt zu sich heran.21 Idealisierender geht es kaum. Dass sich die weltgewandte und an großstädtisches Flair gewöhnte Witwe Schopenhauer ausgerechnet dort niederlassen will, um, wie sie sagt, „mit wenig Mühe und noch weniger Kosten [...], wenigstens einmahl in der Woche die ersten Köpfe in Weimar, und vielleicht in Deutschland, um [ihren] Theetisch zu versammeln und im Ganzen ein sehr angenehmes Leben zu führen“,22 verwundert mithin nur auf den ersten Blick. Es ist dies eine Entscheidung nicht schlechthin für das kleine Exklusive, sondern für 19
Für Weimar vgl. u. a. Gitta Günther, Lothar Wallraf (Hrsg.): Geschichte der Stadt Weimar, Weimar 1976. Für Berlin vgl. u. a. Julius Schoeps: Berlin. Geschichte einer Stadt, Berlin 2001. Zur Geschichte der Berliner Salons vgl. u. a. Petra Wilhelmy: Der Berliner Salon im 19. Jahrhundert (1780–1914), Berlin 1989. 20 Gleichwohl gibt es einige auffallende Ähnlichkeiten zwischen beiden Städten, die nicht nur damit zu tun haben, dass Anna Amalia schließlich aus preußischem Hause kam. Beide existierten eigentlich nicht individuell, sondern als Zwillingsstädte. Preußens militärische Zentrale befand sich nicht in Berlin, sondern im benachbarten Potsdam, Sachsen-Weimars Universität nicht in Weimar, sondern im benachbarten Jena. 21 De Staël: Über Deutschland (wie Anm. 6), S. 98. 22 Johanna an Arthur Schopenhauer, Weimar, 26. Mai 1806, in: Ludger Lütkehaus (Hrsg.): Die Schopenhauers. Der Familien-Briefwechsel von Adele, Arthur, Hinrich Floris und Johanna Schopenhauer, Zürich 1991, S. 70.
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die Konkurrenz zur sich entwickelnden Kulturmetropole Berlin im Allgemeinen und – im Speziellen – zu ihren bekannten geselligen Institutionen. Aus dem Briefwechsel mit ihrem Sohn geht hervor, dass sie Berlin als möglichen Wohnort bedacht – und ausgeschlossen – hat. Am Tag vor der Schlacht, als sich die preußisch-französischen Kriegshandlungen deutlich auf Weimar zu bewegen, schreibt sie an Arthur: „[N]iemand hier macht Anstalt zum Fortgehen, und wo die andern bleiben, bleibe ich auch [...] und mir bleibt dann immer noch die Flucht nach Berlin offen“.23 Und nicht von ungefähr vergleicht sie sich im Vorwort zu ihren Memoiren mit gleich zwei herausragenden Frauenfiguren der Berliner Kulturszene: Weder, sagt sie, sei sie eine „mit philosophischem Blick und männlichem Mut in alle Verhältnisse des [...] Lebens [...] eindringende Rahel“, noch ein „exzentrisch poetisierendes Kind“,24 als das Bettina Brentano (spätere von Arnim) bekanntlich gegolten hatte. Stattdessen bilde sie sich etwas darauf ein, dass man ihr „im geselligen Umgange die Schriftstellerin gar nicht anmerk[e]“.25 Das klingt nach höchst selbstbewusstem Einsatz des Bescheidenheitstopos. Kurt Schleuchers Schopenhauer-Biographie zufolge „stachelte sie [...] der Ehrgeiz, jene berühmten Salons zu übertrumpfen durch einen Salon im geistigen Zentrum Deutschlands mit dem berühmtesten Gast, der je einen Salon ausgezeichnet hat: [...] Goethe. Nicht über ihn reden, mit ihm reden!“26 Wie wir wissen, haben sowohl Rahel Levin-Varnhagen und Henriette Herz als auch Bettina von Arnim in ihren Salontagen jeweils ihre Art von Goethekult betrieben, und Johanna Schopenhauer sollte sie in diesem Punkt klar ausstechen: Goethe wurde ihr Stammund Stargast. Aber nicht nur in der Hinsicht kam Weimar ihren Plänen stärker entgegen als Berlin. Die fast vollständige Abwesenheit von Großbürgertum in diesem Städtchen brachte ihr nicht nur den Status des Besonderen ein, sondern erlaubte es ihr vor allem, sich dort, wie sie sagt, „mit wenig Mühe und noch weniger Kosten“ einen Lebensstandard zu leisten, der sie in Berlin weit teurer zu stehen gekommen wäre. Und natürlich wäre es schwieriger gewesen, sich in einem bereits besetzten Feld, etwa zwischen Rahels Dachstube am einen und den großbürgerlichen Räumen von Henriette Herz am anderen Ende des Spektrums neu zu etablieren. (Schopenhauers anti-preußische Einstellung kann als Grund für diese Wahl ausgeschlossen werden: Die Herzogin Mutter Anna Amalia war eine Nichte Friedrichs II. und Sachsen-Weimar-Eisenach gehörte zu Preußens Alliierten, was ihm u. a. die noch zu erwähnende Schlacht bei Jena und Auerstedt einbrachte.)
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Johanna an Arthur Schopenhauer, Weimar, 6. Oktober 1806, in: Lütkehaus: Die Schopenhauers (wie Anm. 22), S. 76. 24 Schopenhauer: Jugenderinnerungen (wie Anm. 1), S. 30. Mit beiden Frauen wurde sie während ihrer Weimarer Zeit persönlich bekannt. 25 Ebd., S. 31. 26 Kurt Schleucher: Das Leben der Amalie Schoppe und Johanna Schopenhauer, Darmstadt 1978, S. 53.
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In Weimar gab es bis dato keine Salons. Die dortige Geselligkeit war fast ausschließlich höfisch geprägt. Sie gliederte sich wesentlich um die (später so genannten) ‚Tafelrunden‘27 Anna Amalias (1775–1806) und die Freundschaftstage ihrer ersten Hofdame Luise von Göchhausen (1790–1807) sowie um die sommerlichen Treffen in Anna Amalias Landschlösschen Tiefurt. Höfische Etikette unterschiedlich frei interpretierend, verband sie jeweils adlige Vertreter vom einheimischen28 und von benachbarten Kleinfürstenhöfen29 mit meist in höfischen Diensten stehenden bürgerlichen Intellektuellen: mit Christoph Martin Wieland, Johann Gottlieb Herder und später dessen Sohn,30 mit Karl Ludwig Fernow,31 dem Maler Heinrich Meyer,32 dem Verleger und höfischen Schatullenverwalter Friedrich Justin Bertuch,33 dem Gymnasialdirektor Karl August Böttiger34 usw. usw. – und natürlich mit Goethe.35 An ein solches, höfisches Muster kann Johanna Schopenhauer freilich ebenso wenig anknüpfen wie an die großstädtisch geprägten Salons in Berlin. Die Geselligkeit in ihrem Weimarer Haus wird sich zu einer Gratwanderung zwischen den Welten entwickeln, bei der, zumindest für eine geraume Zeit, die Verhältnisse in der höfisch geprägten Kleinstadt und die ganz anders geprägte, großstädtische Lebenserfahrung der Schopenhauer eine interessante Konstellation eingehen. Es ist nichts weniger als die Quadratur des Kreises. Und in der Tat bedarf es einer ‚außerordentlichen Begebenheit‘, um einen Salon wie den ihren in Weimar überhaupt zu initiieren: Gemeint ist die Schlacht bei Jena und Auerstedt, bei der am 14. Oktober 1806 französische Truppen Preußen und seine Alliierten besiegten. Mit 27
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Anklänge an König Artus’ Hof mögen von den Historikern des späten 19. Jahrhunderts beabsichtigt gewesen sein, wohl aber auch ein Hinweis auf Anna Amalias berühmten Onkel: Friedrich II. lud seine Akademiker zu ‚Tafelrunden‘ ein. Zur Gruppe der höfischen Stammgäste gehörten u.a. Friedrich Hildebrand von Einsiedel, Karl Siegmund von Seckendorff und Henriette von Wolfskehl. Ilse-Marie Barth nennt hier vor allem den Fürsten Leopold Friedrich Franz von Dessau, den Herzog Georg Friedrich Karl von Sachsen-Meiningen und den Prinzen August von Sachsen-Gotha. Vgl. IlseMarie Barth: Literarisches Weimar. Kultur, Literatur, Sozialstruktur im 16.–20. Jahrhundert, Stuttgart 1971, S. 50. Dr. Gottfried von Herder, Hofmedikus. Kunsthistoriker, Herausgeber von Winckelmanns nachgelassenen Schriften und ab 1804 Privatbibliothekar Anna Amalias. Schweizer Maler und Kunstschriftsteller, ab 1795 Lehrer an der Weimarer Zeichenschule, ab 1807 deren Direktor. Lange war er der einzige Industrielle Weimars, Verleger, Herausgeber diverser Zeitschriften und Schriftsteller. Archäologe, Direktor des Weimarer Gymnasiums 1791–1804, Mitherausgeber des Journals des Luxus und der Moden und anderer Zeitschriften Bertuchs, verließ Weimar 1804, ausgelöst durch einen Konflikt mit Goethe. Unser heutiges Wissen von diesen Zusammenkünften ist übrigens noch immer stark von einem bestimmten Bild geprägt, einem 1795 entstandenen Aquarell von Georg Melchior Kraus, das Anna Amalia und ihre Gäste locker um einen Tisch gruppiert zeigt. Das Bild besticht u.a. durch eine geschickte Nutzung von Perspektive, die es ermöglicht die Kombination aus egalitärem und hierarchischem Charakter dieser Runde zu inszenieren.
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dieser Schlacht nämlich drohte Weimar sein Selbstverständnis als den Künsten geweihte und aus dem restlichen Deutschland herausragende Insel zu verlieren. Angst und Verwirrung im Vorfeld – der Hof ist fast vollständig geflohen – Belagerung durch die französischen Truppen, Übergriffe, Plünderungen und Notstand danach. Und ausgerechnet in den Räumen der Schopenhauer fanden die zutiefst verunsicherten und meist beraubten Intellektuellen von Weimar Zuspruch, Speise und Trank und eine Rückzugsmöglichkeit aus den chaotischen Zuständen in der Stadt. Die vor kaum zwei Wochen erst zugezogene Gastgeberin nämlich war der Situation weit besser gewachsen als die Einheimischen. Ihre französischen Bedienten hatten es vermocht, die marodierenden Soldaten im Erdgeschoss des Hauses regelrecht abzufüttern und von den anderen Räumen fernzuhalten; die Schopenhauer selbst verhandelte sofort mit französischen Offizieren, erhielt eine Hauswache und somit ihr gesamtes Eigentum. Ihre Räume waren die einzigen in der Stadt, in denen französische Offiziere und Weimarer Hofbeamte informell zusammenkamen und sich – natürlich – über Kunst und Literatur unterhielten. Es hatte der Erfahrung der Weltbürgerin und Großstädterin bedurft, um Weimars genius loci rettend über alle politischen Feindschaften zu erheben. Berlin war vom Ausgang dieser Schlacht zwar nicht so akut, aber nachhaltiger betroffen. An eine Vermittlung der gegnerischen Positionen im Geiste der Kunst war da wohl zunächst nicht zu denken. Rahel Levins Dachstuben-Geselligkeit fand 1806 ihr Ende, da viele ihrer Habitués unter den neuen Bedingungen neue Wege gingen.36 Henriette Herz’ Salon war schon kurz zuvor mit dem Tod ihres Mannes zu Ende gegangen. So war ironischerweise dem, was als Konkurrenzunternehmen geplant gewesen war, zumindest zeitweise die Konkurrenz genommen. Andererseits war das seit dem Tod Friedrichs II. bereits deutlich angewachsene bürgerliche Selbstbewusstsein in der Stadt durch die französische Besatzung keineswegs beeinträchtigt, sondern es sah sich im Gegenteil in der Lage, eine dem Hof selbstsicher gegenübertretende Zivilgesellschaft zu formieren. In Weimar indessen konnte von einer solchen Entwicklung nicht die Rede sein. Trotzdem hatte der über die chaotische Initiationssituation hinaus anhaltende Erfolg des Salonprojekts einiges mit der dezidierten Nicht-Provinzialität seiner Betreiberin zu tun. Bekanntlich hat Goethe seine langjährige Geliebte Christiane Vulpius in den Tagen nach der Schlacht geheiratet, was in den vornehmen Kreisen von Weimar gelinde gesagt auf Ablehnung stieß. Um Christiane unter solchen Umständen doch in die Gesellschaft einführen zu können, macht er sich Johannas Salon zunutze.
36 „Humboldt tritt in den Staatsdienst, wird erst Gesandter in Rom und dann in Berlin eine Art Bildungsminister; Ludwig Tieck findet in Ziebingen bei Burgsdorff Asyl, sein Bruder Friedrich, der Bildhauer, irrt in Europa umher; Gentz und Friedrich Schlegel gehen nach Wien; Brinckmann wird nach London versetzt und kehrt dann nach Schweden zurück [. . .] Gualtieri findet in Spanien durch Krankheit, Prinz Louis Ferdinand bei Saalfeld durch Säbelhiebe den Tod“. Günter de Bruyn: Versuch einer Rekonstruktion, in: ders.: Rahels erste Liebe. Rahel Levin und Karl Graf von Finkenstein in ihren Briefen, Berlin 1998, S. 7–55, hier: S. 51.
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Ich empfing sie als ob ich nicht wüsste wer sie vorher gewesen wäre, ich dencke wenn Göthe ihr seinen Namen giebt können wir ihr wohl eine Tasse Thee geben [.. .] es waren noch einige Damen bei mir, die erst formell u steif waren und hernach meinem Beyspiel folgten, Göthe blieb fast 2 Stunden u war so gesprächig und freundlich wie man ihn seit Jahren nicht gesehen hat. Er hat sie zu niemand als zu mir in Person geführt, als Fremde u als Großstädterin traut er mir zu daß ich die Frau so nehmen werde als sie genommen werden muß [...] in meiner Lage [...] kann ich ihr das gesellschaftliche Leben sehr erleichtern.37 Was sie übrigens auch für länger tat. Ein anderes Beispiel ihres für Weimarer Verhältnisse unkonventionellen und also umstrittenen gesellschaftlichen Verhaltens ist die Aufnahme und Pflege des kranken Kunsthistorikers Karl Ludwig Fernow in ihrem Haus, was zu einschlägigen Gerüchten führte. Insgesamt kann Johanna Schopenhauers Salon als (bildungs-)bürgerlich dominiert bezeichnet werden, und vergleichbar mit den Berliner Salons fand sich darin ein Spektrum aus Adel, verbeamteten und weniger gut gestellten Intellektuellen und Künstlern zusammen. Freilich war der Anteil der Hofbeamten in Weimar größer. Dem etwa bei Rahel ein und aus gehenden Prinzen Louis Ferdinand entspricht der weimarische Erbprinz Karl Friedrich, den Berliner Herren von Burgsdorff, von Finckenstein etc. die weimarischen Minister und Hofleute Knebel, Fritsch, Einsiedel, Ludecus, den Berliner Künstlern und Intellektuellen Gentz, Humboldt, Schlegel, Tieck oder Schleiermacher etwa Fernow, Kügelgen, Reinbeck oder Gries, Wieland und Goethe; den weniger bekannten Berliner Schriftstellern etwa Johannes Daniel Falk, Zacharias Werner oder Stephan Schütze. Manche dieser Namen lassen sich für die Salons in beiden Städten nennen. Die geselligen Tätigkeiten reichten von Konzerten über Lesungen, Textbesprechungen und gemeinsamem Schauspiel bis zur Handarbeit. Immer wieder zehrt die Gastgeberin von ihrem Hintergrund, lässt diverse der Geselligkeit förderliche Utensilien wie Zeichenmaterialien, Bücher, Tee direkt aus England kommen und unterhält ihre Gäste mit Erzählungen von ihren ausgedehnten Europareisen. Die soziale Übersichtlichkeit der Stadt sowie ihre kulturelle Goethezentriertheit erwiesen sich dabei sowohl als Erfolgsrezept als auch als Crux des Unternehmens. Viele kamen zu ihr, um Goethe zu treffen, und für Besucher von auswärts entwickelte sich der Schopenhauersche Salon zu einer Art Vorzimmer zum Haus am Frauenplan. Besucher wie Wilhelm von Humboldt oder Bettina Brentano-Arnim kommentieren die Treffen bei der Schopenhauer und die Dame selbst nicht eben schmeichelhaft (Bettina verdreht ihren Namen zu ‚Hopfenschauer‘), müssen jedoch ihre Position im kulturellen Gefüge der Stadt anerkennen. Gleichzeitig werden die Abende mehr und mehr von ihrem Stargast geprägt und verlängern sich externe weimarische Machtverhältnisse auch in die Räume des Salons hinein. So verliert die Gastgeberin zunehmend die Kontrolle über ihr eigenes Unternehmen, und selbiges seinen ursprünglichen Saloncharakter.
37 Brief an Arthur vom 24. Oktober 1806, in: Lütkehaus: Die Schopenhauers (wie Anm. 22), S. 107/108
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Später wird ihr Lebensstil als Salondame durch einen großen Vermögensverlust erschwert, nachhaltiger jedoch durch den im Gefolge des Wiener Kongresses wieder vermehrten Adelsstolz und die wieder zunehmende höfische Etikette in Weimar, was vor allem dem Einfluss der vom russischen Zarenhof stammenden Erbprinzessin Maria Pawlowna38 geschuldet war. Die Schopenhauer mochte Weltbürgerin gewesen sein, aber eben Bürgerin und – wie gezeigt – nie ganz integraler Teil der engen weimarischen Ordnung. So überrascht es nicht, in ihrer Korrespondenz in diesen, nämlich den 1820er Jahren, neben engen Kontakten etwa nach Dresden, Leipzig oder Frankfurt auch eine allmähliche Hinwendung zum einst verschmähten Berlin vorzufinden. Das hat gewiss auch damit zu tun, dass es mittlerweile viele persönliche Kontakte gab und dass ihr von Berlin aus einige Beachtung als Schriftstellerin zuteil geworden war. So war sie schon 1816 von Konrad Levetzow zur Mitarbeit an einem dramaturgischen Wochenblatt eingeladen worden und mit ihrem Romandebüt von 1819 festigte sich ihr literarischer Ruf zusehends.39 In ihrem Salon und auf Reisen hatte sie zudem nähere Bekanntschaft mit Männern wie Ludwig Tieck, Karl Friedrich Zelter, Gottfried Schadow oder Friedrich Schleiermacher geschlossen und lässt in einem Brief an Karl von Holtei etwa „auch Varnhagens [...] herzlich [.. .] grüßen“.40 Es reflektiert dieser Sinneswandel aber zugleich die dortige, von der Schopenhauer sehr genau wahrgenommene gesellschaftliche Entwicklung. Bereits im Januar 1818 findet sich in einem Brief des mit ihr befreundeten Kunstsammlers Johann Gottlob von Quandt ein Bericht über das gesellige und gesellschaftliche Leben in Berlin, den sie von ihm eingefordert hatte.41 Und an den gerade von einer Berlin-Reise nach Dresden zurückgekehrten Karl August Böttiger schreibt sie im Juni 1821: „Sie werden sich in Berlin an all dem herrlichen erfreut haben, was alte Kunst und neues Streben Ihnen bot“.42 Auf das „neue Streben“ aber kommt es an. In der Tat hatte sich Berlin mittlerweile ereignet, was ihr bis dahin – freilich in Variation – aus Städten wie London und Paris bekannt war: die Ablösung (bzw. dort bereits vollzogene Trennung) des urbanen vom höfischen Gesellschaftsleben. Mit der Niederlage Preußens und seiner Alliierten gegen Napoleon und der – zumindest zeitweiligen – Schwächung der betroffenen deutschen Höfe, war eine solche Ablösung potenziell nicht nur in Berlin, sondern auch etwa in Weimar möglich. Aber nur in ersterem hat sich dies zu einem nachhaltigen Prozess entwickelt. In Weimar ist der Prozess in den Anfängen stecken geblieben und später gründlich revidiert worden. Der Mythos vom ‚Musenhof‘ ist nicht von ungefähr gerade dann kultiviert worden, als es ihn nicht mehr gab. Als der Schriftsteller Karl von Holtei 1828 in der Hoffnung auf eine Anstellung am dortigen Theater von Berlin nach Weimar ziehen will, warnt ihn die Schopenhauer:
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Schwester des russischen Zaren Alexander. Vgl. Heinrich Hubert Houben: Damals in Weimar!, Leipzig 1929, S. 250/251 und 266. Ebd., S. 363. Ebd., S. 271–273. Ebd., S. 295.
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Aber, mein Freund, sie opfern einen bedeutenden Theil Ihrer Freiheit auf [...] Sie verlassen Berlin, das dortige heitere, freie, unbeschränkte Leben, an das Sie einmal gewöhnt sind, um in einer kleinen Residenz sich niederzulassen, die trotz ihrem Vornehmthun doch ziemlich kleinstädtisch ist; wenigstens gegen Berlin gehalten.43 Aus Holteis Umzug wird übrigens nichts. Kein Jahr später zieht auch Johanna Schopenhauer aus Weimar weg, wo mit dem Tod des Herzogs Karl August ohnehin die vielgerühmte Ära des Provinzhofes mit Weltgeltung zu ihrem Ende kam. Auch der Salon hatte seine Attraktivität für die Weimarer Gesellschaft verloren, und Johannas Finanzlage tat das übrige. Dass es sie zu dieser Zeit nicht nach Berlin, sondern – Ironie der Geschichte – nach Bonn verschlägt, ist weniger ihrer Entscheidung geschuldet, als der der Tochter Adele, von der sie mittlerweile ökonomisch vollständig abhängig war.44 Ihre einstige Entscheidung gegen Berlin war im Einklang mit einem damals vorherrschenden deutschen Diskurs erfolgt (den de Staël auf ihrer Reise sensibel erfasst und in De L’Allemagne propagiert hat). Dass sich der ‚Musenhort’ Weimar als das genaue Gegenteil dessen erweisen sollte, was sie bisher gelebt und geschätzt hatte, mag die Schopenhauer gewusst und klug in ihr Kalkül einbezogen haben. Der anfängliche Erfolg sprach für die Richtigkeit des Kalküls. Lediglich spekulieren lässt sich darüber, ob sie auch den dafür zu zahlenden Preis hätte im Voraus ahnen können: dass nämlich die Weltgeltung eines Ortes nicht unbedingt mit dessen Weltläufigkeit einhergehen muss. Ihr eigenes Lebensprojekt bedurfte jedoch des Urbanen, Heterogenen, Bewegten, wie sie es in den europäischen Metropolen kennen gelernt hatte. Mit der politischen Restauration hatten sich jegliche Öffnungstendenzen in der Weimarer Gesellschaft erledigt. Dass die Geschichten Weimars und Berlins in vieler Hinsicht eng verflochten sind, ist schwer zu leugnen. In der Periode nach 1806 mögen sie als Beispiele für die verschiedenen, durch das Ergebnis der Schlacht ausgelösten Entwicklungsrichtungen in Deutschland gelten. Man mag soweit gehen zu sagen, dass die Entwicklungen ihrer jeweiligen Zivilgesellschaften zu der Zeit im Umkehrschluss aufeinander verweisen: als alternative Reaktionen auf eine historische Situation. „Ist es einem ordentlichen Menschen möglich, Berlin als Pflaster sich für die Welt ausgeben zu lassen?“, fragt Rahel Levin in einem Brief von 1793.45 15 bis 20 Jahre später, scheint es, konnte man beginnen, dies mit ‚ja‘ zu beantworten.
43 Ebd., S. 371/372. 44 Außerdem ist Arthur zu der Zeit gerade wieder in Berlin ansässig. 45 Rahel Levin an David Veit, Brief vom 2. April 1793. Zitiert aus: de Bruyn: Rahels erste Liebe (wie Anm. 36), S. 60.
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Das Andere ist das Verwandteste George Eliot in Berlin
Der literarische Realismus, der sich bei Bedarf poetisierte oder sozialisierte, fragte nach den gesellschaftlichen Komponenten in der Konstituierung von Persönlichkeit und Wirklichkeit, nach dem antagonistischen Wechselspiel zwischen Urbanität und Provinz, nach Kulturgefälle und sozialer Gemengelage. Er fragte zudem nach dem Wechselverhältnis von narrativer Abbildung und Konstruktion im Verhältnis zur Lebenswirklichkeit und pendelte sich ein zwischen Natur- und Sozialgeschichte, dem Erinnerung aus Wahrnehmungen bildenden Individuum sowie Gedanken in der Feuer- und Wasserprobe des praktischen Lebensvollzuges. Charakteristisch für dieses realistische Erzählkonzept – man hat oft genug darauf verwiesen – war eine theoretisch-philosophische, beziehungsweise naturwissenschaftliche Grundierung dieser literarischen Konstituierung von Wirklichkeitsbildern. Unter den frühviktorianischen Schriftstellern bemühte sich darum vor allem George Eliot. Und diese Bemühung ergab sich in erster Linie aus ihrer Beschäftigung mit deutschem Denken, die während ihres ersten längeren Berlin-Besuchs (1854/55) nachweisbar ist. In ihrem Aufsatz The Future of German Philosophy (1855) behauptete Eliot, dass alles reflektierte Schreiben zur Metapher dränge. Die Metapher sei der Knotenpunkt sinnlichintellektueller Vermittlung, sei damit auch Anknüpfungspunkt für weitere Deutungen.1 Nur eine Vertreterin des viktorianischen Realismus drang beim Studium dieser Voraussetzungen dieses Schreibens bis Berlin vor, eben die besagte George Eliot. Dreimal hielt sich die Autorin in Berlin auf, am längsten 1854/55, dann im Kriegsjahr 1870 und noch einmal als inzwischen berühmte Schriftstellerin, im Jahre 1878, als sie vom Kronprinzenpaar empfangen wurde. Ihr Partner, der Goethe-Biograph Henry Lewes, hatte bereits im Jahre 1838 vorsondiert und wichtige Bekanntschaften geschlossen, insbesondere mit Varnhagen von Ense und Otto Friedrich Gruppe.
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George Eliot: The Future of German Philosophy, in: dies: Selected Critical Writings. Hrsg. v. Rosemary Ashton, Oxford, New York 1992, S. 136. Quellenangaben hieraus erfolgen im Weiteren mit Angabe der Seitenzahl direkt im Text.
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Erzählungen über Begegnungen, die nicht stattgefunden haben, sind vergleichsweise selten, wenngleich sie durchaus Reizvolles aufweisen. So ließe sich die Welt auch, aber anders, vermessen, wenn man etwa jener versäumten Begegnung zwischen George Eliot und Alexander von Humboldt nachsinnte. Sie verfügte über ein Empfehlungsschreiben, hatte Varnhagen, Humboldts Freund, den er gerne als seinen Biographen gesehen hätte, kennen und schätzen gelernt2 und wohnte in der Dorotheenstraße, die nicht weit von Humboldts Haus in der Oranienburger Straße entfernt lag.3 Was hätte die philosophisch ambitionierte Schriftstellerin wohl aus einer Begegnung mit Humboldt gemacht? Man darf, man sollte auf novellistische Art darüber spekulieren. Ihr genuines Interesse an Humboldt spiegelt sich in einer umfänglichen, betont kritischen Rezension von Charles Kingsleys Roman Westward Ho! (1855). Sie kritisiert Kingsley dafür, dass er in seiner Kritik an Humboldts Anthropologie diesem „patriarch of scientific investigators“ (118) nicht gerecht werde. Sie sieht Humboldt als überragenden Empiriker, der sein Wissen zu strukturieren und zu beschreiben verstand. In ihren Augen stellte er eine Verbindung dar zum Wissenschaftsprinzip der Goethezeit und dieses wiederum hatte Auswirkungen auf die Entwicklung ihres Erzählverfahrens. Erzählen ist Beobachten im sprachlichen Aggregatzustand; erzählend versetzt der Autor sein Beobachten in ein Versuchsstadium, das – ganz im Sinne des bekannten Goetheschen wissenschaftstheoretischen Aufsatzes – zwischen Subjekt und Objekt vermittelt, dabei aber neue – fiktive – Fakten schafft. Noch Virginia Woolf sollte im Wesentlichen diesem Verfahren folgen; so geschehen in ihrem Essay Three Guineas, einer am Faktischen orientierten, sozialgeschichtlich ausgerichteten Unterfütterung ihres Romans The Years in Gestalt eines Antikriegs-Essays. Ähnlich verfuhr George Eliot, jedoch zu Beginn ihrer schriftstellerischen Karriere, als sie im März 1855 in Dover ihre Recollections of Berlin niederschreibt.4 Sie versichert sich darin qua Erinnerung einer Gegenwelt zu jener, die sie schon bald danach in den Scenes of Clerical Life (1858) sowie den Romanen Adam Bede (1859) und The Mill on the Floss (1860) entwerfen wird, die ihren Ruf als führende Autorin der viktorianischen Zeit begründen. Einem Berliner Kontakt verdankt sich dann auch die rasche Übersetzung dieser Romane – und später auch des Silas Marner – durch Julius Frese, der auch George Henry Lewes’ Life of Goethe auf Deutsch vorlegte.5
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In der Reihe der zahlreichen Kontakte Varnhagens zu britischen Literaten folgte Mary Ann Evans in dessen Haus Richard Monckton Milnes (1809–1885), der im Herbst 1849 auch Bettine von Arnim bei Varnhagen kennengelernt hatte. Vgl. Gerlinde Röder-Bolton: George Eliot in Germany, 1854–55. ‚Cherished Memories‘, Aldershot 2006, S. 145. Diese Reminiszenzen sind nur in der Ausgabe ihrer Tagebücher greifbar: Margaret Harris, Judith Johnston (Hrsg.): The Journals of George Eliot, Cambridge 1998. Vgl. William Baker: George Eliot, George Henry Lewes and Otto Friedrich Gruppe, in: Ludwig Bernays (Hrsg.): Otto Friedrich Gruppe 1804–1876. Philosoph, Dichter, Philologe, Freiburg 2004, S. 115–125, hier S. 123.
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Zu bedenken ist, dass George Eliot in Berlin noch Mary Ann Evans war (sie unterzeichnet ihre Briefe mit ‚Marian Evans‘), die David Friedrich Strauß’ Monumentalwerk Das Leben Jesu übersetzt hatte (1846) und in London mehr oder weniger im Verborgenen John Chapmans Westminster Review redigierte. Es scheint, dass sie am umfassendsten und intensivsten las, wenn sie sich im Ausland aufhielt; so geschehen nach dem Tod ihres Vaters 1849, als sie für sechs Monate in Genf lebte, um sich Büchern zu widmen. Sie befasste sich mit mythologischen Studien, übersetzend mit Spinozas Ethik und – augenscheinlich nach einem lohnenden Stoff suchend – mit dem Leben der Madame de Sablé. Berlin war, wie zuvor auf jener ersten Reise in die deutschen Staaten Wien und Weimar, Teil ihrer Selbstorientierung als Intellektuelle – freilich noch weitgehend im Schatten ihres Begleiters, George Henry Lewes. Dass Mary Ann Evans als George Eliot zur Schriftstellerin werden würde, kristallisierte sich während dieser Phase erst heraus. Insbesondere ihre Zeit in Weimar und vor allem Berlin erwiesen sich in diesem Prozess offenbar als Katalysatoren. Das wesentlichste Medium dabei war ihr Tagebuch. Auffallend ist jedoch, dass sie als Intellektuelle wahrnimmt. Das Atmosphärische wirkt eher als Beiwerk. Gedanken und ihre Träger beschäftigen sie; nebenbei auch die aufgeweichten Straßen Berlins, der schmutzige Schnee, die Eiseskälte im Januar und die überheizten und, was sie als sehr deutsch klassifiziert, gegen Zugluft abgedichteten Räume. Wichtiger sind knappe Charakterstudien, etwa von Varnhagen, selbst Verfasser biographischer Texte von zum Teil höchster Qualität, und Otto Friedrich Gruppe; wesentlich sind auch ihre Eindrücke der letzten Salons als mehr oder weniger eleganten Brutstätten diskursiven Denkens. Und die Tagebuchaufzeichnungen zusammen mit Briefen werden ihrerseits zum Material für die Recollections of Berlin; man könnte sie als erste schriftstellerische Fingerübungen der Schriftstellerin Ann Mary Evans auf ihrem Wege zu George Eliot nennen. Nicht genug betont werden kann, dass sie den Abstand zu Berlin für diese Reflexionen über die preußische Metropole brauchte. Dover, dieser mythologisch gewordene Grenzhafen und Ort des permanenten Übergangs von Fremdem und Eigenem, dem Matthew Arnold zu jener Zeit, als Mary Ann Evans dort ihre Erinnerungen an Berlin niederschreibt, ein poetisches Denkmal gesetzt hat (Dover Beach), dieser Ort erweist sich somit auch für diese Intellektuelle als Ort des Durchgangs – hin zu ihrem eigenen Schreiben. In Dover, so Matthew Arnold, fühle man nicht nur Liebe füreinander im personalen Sinne, sondern auch Liebe zwischen den Völkern, die sich dort begegnen. Es entspricht damit ganz der kritisch-sympathetischen Germanophilie von Mary Ann Evans und George Henry Lewes, an diesem Ort die Berlin-Erfahrungen zu überdenken. Überhaupt lässt sich sagen, dass die für Mary Ann Evans essayistisch ungemein fruchtbaren Jahre 1854–56, in deren Mittelpunkt der Umgang mit Berliner Intellektuellen stand, ihr novellistisches Schreiben vorbereitet haben. Die Geburt der novellistischen Impression und des Romans aus dem Geist des Essays war Ausgangspunkt ihres Schaffens. Nach einem längeren Aufenthalt in Weimar, das sie im August 1854 nach einer zehnstündigen Bahnreise von Frankfurt aus erreicht hatte, wo sie und George Henry Lewes bis Anfang November blieben und alle namhaften Weimaraner kennen gelernt hatten, war es
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Marian Evans darum zu tun, Vergleiche anzustellen. Kaum in Berlin angekommen, ergeht sie sich in einem Brief in Beobachtungen wie diesen: I think them [the Germans, R.G.] immensely inferior to us in creative intellect and in the possession of the means of life, but they know better how to use the means they have for the end of enjoyment. One sees everywhere in Germany what is the rarest of all things in England – thorough bien-être, freedom from gnawing cares and ambitions, contentment in inexpensive pleasures with no suspicion that happiness is a vice which we must not only not indulge in ourselves but as far as possible restrain others from giving way to.6 Unter den Negativposten vermerkt sie: „they [the Germans] consider a room furnished when it has a looking glass and an escritoire in it. They put their knives in their mouths, write un-sit-out-able comedies and unreadable books; but they are decidedly happy animals“.7 Trotz ihrer unausstehlichen Komödien hält Marian Evans die Deutschen und ihre Berliner für ein glückliches Völkchen, zum zweiten Mal biedermeierhaft versunken, nach dem Revolutionsjahr 1848/49, von dem bereits 1854 für sie nichts mehr zu spüren war. Oder fast nichts. Varnhagen von Ense, Kronzeuge der Revolution, der ihr mit Orden und goldgriffigem Spazierstock begegnete, attestiert sie immerhin einen „theoretischen Demokratismus“.8 Evans liest viel Lessing in jener Zeit, Nathan der Weise, später Emilia Galotti und studiert den Laokoon. Sie hört Fidelio und bemerkt, dass keine Aufführung, und sei sie noch so unzureichend, die Idee des Komponisten zerstören könne. Die Berliner Oper bietet ihr desgleichen Glucks Orpheus und Eurydike; den Orpheus singt die Nichte des LohengrinKomponisten, Johanna Jachmann-Wagner. Schillers Räuber und die Geschichte des Abfalls der Niederlande studiert sie; desgleichen Adolf Wilhelm Theodor Stahrs, des Winckelmanns der Restauration, soeben erschienene Studie Torso: Kunst, Künstler und Kunstwerke der Alten (1855). Wichtiger noch: Sie schreibt über das, was sie liest; seltener über das, was sie hört, oft über das, was sie an Bildkunst sieht, etwa den Moses von Christian Daniel Rauch, den sie in seinem Atelier aufsucht, und von Kaulbach, dessen Werke sie im Neuen Museum in Augenschein nimmt nebst Abgüssen der Parthenon-Skulpturen, die sie zu dem Vorhaben veranlassen, sich bei der nächsten Gelegenheit die Originale in London anzuschauen. Von Rauchs Kunst zeigte sie sich besonders beeindruckt; in seinem Atelier fällt ihr auch der Kopf Friedrichs des Großen auf, von dem sie schreibt: „One can’t help fancying that the head is thinking and that the eyes are seeing“.9 Sie glaubt sich in Gesellschaft von Skulpturen, übrigens auch noch drei Jahre später in Nürnberg, als sie Rauchs Dürer-Standbild bewundert.10 6 Gordon S. Haight (Hrsg.): The George Eliot Letters in six volumes, London, New Haven 1954. Vol. II: 1852–1858, S. 185 (Brief vom 12. November 1854). 7 Ebd., S. 185/186. 8 Ebd., S. 185. 9 Harris, Johnston (Hrsg.): The Journals of George Eliot (wie Anm. 4), S. 249. 10 Ebd., S. 309 (14. April 1858).
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Kunstwerke nimmt George Eliot in Form ihrer Wertigkeit als Erinnerungsformen wahr, wie sich gerade auch durch ihre Berlin-Erfahrung das Reflexionsmuster der ‚reminiscences‘ oder ‚recollections‘ herausbildet, das sie in der Folgezeit auf in- und ausländische Erfahrungen überträgt. Ohnehin lässt sich behaupten, dass sie ihre Novellistik aus dem Geist der ‚recollections‘ entstehen ließ, wobei das englische Wort das Moment des rückwärtigen Sammelns von Eindrücken, Momenten und Erlebnissen in sich birgt, wogegen das ‚Erinnern‘ den Verinnerlichungsvorgang der Vergegenwärtigung des Vergangenen betont. Wirkliches Interesse zeigt sie für Otto Friedrich Gruppe, „a German Professor of very moderate income“, wie sie notiert, und seine um dreißig Jahre jüngere Frau.11 In Gruppe erkennt Marian Evans den Typus des deutschen Gelehrten: „He has written books on everything“.12 Und tatsächlich umfassen seine Veröffentlichungen ein ganzes philosophischpoetisches Arsenal, darunter Ariadne: Die tragische Kunst der Griechen (1834), Die kosmischen Systeme der Griechen (1851), Kaiser Karl: Eine epische Trilogie (1852), Gegenwart und Zukunft der Philosophie in Deutschland (1855). Hinzu kamen seine Leidenschaft für Wildschweinjagden im Brandenburger Umland, die er denn sogleich in Jagdgedichte umzumünzen verstand, und ein sieben Bücher umfassendes Epos über den persischen Dichter Firdusi, das er in der Zeit der Begegnung mit Evans abgeschlossen hatte. Gruppe ist der Gelehrtentypus, wie er uns in Eliots Middlemarch in Casaubon wieder begegnen wird. Es bietet sich ihr das Bild eines Intellektuellen, der sie zu Hause in einem abgetragenen, zum Schlafrock umfunktionierten Mantel empfängt, wo er sich eine Eigenwelt geschaffen und sich in sie vergraben hat. Diese Eigenwelt reicht bis in die Produktion eines besonderen marmorierten Papiers für seine Druckwerke, wie Marian Evans in ihren Recollections of Berlin vermerkt.13 Wichtiger aber als Schlafrock, frugales Mahl in des Professors Wohnung am Leipziger Platz nebst Wildschweinjagdgedichten eines klassischen Gelehrten ist der intellektuelle Eindruck, den Marian Evans von Otto Friedrich Gruppe, insbesondere von seinem Werk Gegenwart und Zukunft der Philosophie in Deutschland, gewonnen hat. So sehr sie und Lewes unter den langen Rezitationen aus seinen Werken litten, mit denen Gruppe seine Gäste zu traktieren pflegte, so sehr auch dessen Konservatismus und von Evans registrierter Antisemitismus im Gegensatz zu Varnhagens liberalen Kreisen stand,14 diesen Gelehrten fand Evans buchenswert. Ihr Versuch über The Future of German Philosophy legt davon beredtes Zeugnis ab. Hierbei zeigt sich der Betrachtungsmodus der angehenden Schriftstellerin besonders auffällig. Sie nimmt das Intérieur wahr, ob bei Gruppe oder Rauch; die Stadt selbst, die Auslagen der Geschäfte, Modefragen interessieren Mary Ann Evans nicht. Der Gedanke, die Skulptur – sie sind ihre Haupterlebnisse; ein beiläufig gesagtes Wort in Gruppes Wohnung fällt bei ihr auf fruchtbaren Boden, mehr jedenfalls als Eindrücke beim regelmäßigen Spa11 12 13 14
Ebd., S. 189. Ebd., S. 192 (Brief vom 9. Januar 1855). Harris, Johnston (Hrsg.): The Journals of George Eliot (wie Anm. 4), S. 245–247. Vgl. Röder-Bolton: George Eliot in Germany (wie Anm. 3), S. 143.
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ziergang. Diese Ideenverliebtheit ist für englische Schriftsteller alles andere als üblich. Man könnte darin vielmehr Evans’ Versuch sehen, sich auf das intellektuell einzustellen, was ihr offenbar als besonders ‚deutsch’ im intellektuellen Sinne vorkam. Was die werdende Schriftstellerin an diesem Universalgelehrten besonders beschäftigt, ist sein verändertes Verständnis von Logik.15 Über Kant hinaus gehend habe sich Gruppe in seinem philosophischen Werk dem eigentlichen Prozess der Urteilsbildung verschrieben. Sie findet Gruppes Ansatz plausibel, bei jeder Urteilsbildung die Präliminarien zu prüfen und die Art der urteilenden Sprache, bzw. die Auswirkung dieses Urteilens auf unser Sprechen zu berücksichtigen. Evans begrüßt, dass Gruppe jegliche metaphysische Spekulation verwirft. Statt dessen nennt sie bedeutsamerweise die Psychologie als die Disziplin, die am ehesten geeignet sei, diese urteilsbildenden Prozesse zu untersuchen; ihr sei die Ästhetik untergeordnet.16 Statt Metaphysik plädiert Evans mit Gruppe für umfassende Gelehrsamkeit, die ausdrücklich auch die poetische Arbeit mit einschließen solle. Evans begrüßt, dass Gruppe in seinen Überlegungen von der sinnlichen Wahrnehmung ausgehe, an der sich auch die Sprachbildung orientiere. In Gruppe begegnet sie einem Denker in nach-metaphysischer Zeit,17 der nichts weniger versuchte, als durch Sprachkritik Hegels Systemphilosophieren zu entkräften. Unklar ist, ob Marian Evans diesen AntiHegelianismus Gruppes erfassen konnte; doch fällt auf, dass sie sich in ihrem Besprechungsessay The Future of German Philosophy jene Stichworte zu eigen machte, die Gruppe – gerade auch gesprächsweise – gegen den Hegelianismus vorgebracht haben dürfte und die auf seine frühe Schrift Antäus: Ein Briefwechsel über speculative Philosophie in ihrem Conflict mit Wissenschaft und Sprache (erschienen im Todesjahr Hegels 1831) verweisen. Die Bedeutung dieses epistolarischen Großessays für die Sprachphilosophie der Jahrhundertwende hat vor allem Fritz Mauthner bezeugt. Er hat nicht nur wiederholt ausführlich auf Gruppe aufmerksam gemacht, sondern auch dessen Jugendschrift Antäus 1914 neu ediert.18 Dass, wie gesehen, Evans den Sinn der Metapher als Wesenselement der Sprache hervorhob, belegt, dass sie sich ein zentrales sprachphilosophisches Anliegen Gruppes zu eigen gemacht hatte; richtete sich doch seine Kritik an Hegel auch an dessen Versuch, die Metapher aus dem philosophischen Sprechen zu entfernen.19 Stattdessen sah Gruppe – mit Wilhelm von Humboldt – in der Sprache, gerade auch im metaphorischen Sprechen, eine Form des Denkens. 15 16 17 18
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Dazu ausführlich: Volker Peckhaus: Otto Friedrich Gruppe und die Logische Frage, in: Bernays (Hrsg.): Otto Friedrich Gruppe (wie Anm. 5), S. 49–72. Eliot: Selected Writings (wie Anm. 1), S. 133–137. Vgl. dazu vor allem Olaf Briese: Otto Friedrich Gruppe. Philosoph im nachmetaphysischen Aufbruch, in: Bernays (Hrsg.): Otto Friedrich Gruppe (wie Anm. 5), S. 31–48. Vgl. Fritz Mauthner: ‚Einleitung‘ zu Otto Friedrich Gruppe: Philosophische Werke I. Antäus, München 1914, S. V-XXXV; ders.: Otto Friedrich Gruppe, in: Die Zukunft. Hrsg. v. Maximilian Harden 22, 1913, S. 314-325; desgleichen Hermann-Josef Cloeren: O. F. Gruppe und die sprachanalytische Philosophie. Diss. Münster 1967; und neuerdings der wichtige Aufsatz von Katherine Arens: Antäus and the Critique of Language: Fritz Mauthner’s Gruppe, in: Bernays (Hrsg.), Otto Friedrich Gruppe (wie Anm. 5), S. 73–94. Vgl. Arens: Antäus and the Critique of Language (wie Anm. 18), S. 83.
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Das nach-hegelianische Geistesleben in Berlin, auf das Marian Evans gerade in der Zeit der zweiten Restauration nach 1849 traf, war nach wie vor vom Prinzip der Abstraktion geprägt, als dessen Kritiker sie Gruppe kennen lernte. Dieser erkannte jedoch schon 1834, dass diese Abstrakta durch die Pragmatik der empirischen Wissenschaften herausgefordert werden. Er weiß aber auch, dass selbst die Wissenschaftssprache nicht ohne Abstrakta auskommt: [...] die Begriffe gehen von einzelnen Körpern aus, wie auch Salz und Säure, sie werden durch Übertragungen abstrakter und allgemeiner, bis sie endlich allen Halt verlieren; dann setzt die Sprache sie wieder fest, aber nicht mehr für Individuen, sondern für Begriffe, für gedachte Zusammenhänge, denen sie dann ganz entsprechen, ohne Übertragung. Dies ist dann das eigentliche Abstraktum; die Abstrakta der Sprachen stehen auf verschiedenen Stufen dahin, immer neue wachsen nach, welche die vorrückenden ersetzen.20 Gruppe verwirft nicht die Bildlichkeit in der Sprache, weil sie angesichts wissenschaftlicher Erkenntnis verfehlt ist, etwa den Ausdruck ‚Die Sonne geht unter‘, was bekanntlich nichts mit astronomischer Einsicht zu tun hat; vielmehr fordert er das Wissen über den Unterschied von metaphorischer Bildlichkeit und empirischer Erkenntnis und mithin das Bewusstsein über qualitativ verschiedene Formen der Wissensübermittlung und überkommenen Sprachbildung. Noch ein Jahr nach ihrer Berliner Begegnung mit dem Hegel-Kritiker Gruppe sollte die zur George Eliot mutierende Marian Evans in ihrem großen Aufsatz über Heinrich Heine vor allem auf dessen Hegel-Parodien verweisen. Abgesehen von ihren Recollections of Berlin spiegeln ihre Abschnitte über Heines Berliner Zeit am unmittelbarsten ihre eigene intellektuelle Berlin-Erfahrung. Heines satirische Hegel-Kritik scheint sie als Entsprechung zu Gruppes früher Komödie Die Winde (1832) gelesen zu haben; denn in beiden Fällen sind es Beispiele von Nicht-Verstehen, akute Sprachprobleme, verursacht durch Hegels Liebe zu Abstrakta, die situationskomisch genutzt werden. Eliot verweist auf Heines zuletzt veröffentlichten Text Geständnisse und befindet, er habe über Hegels profunden Einfluss auf ihn etwas geworfen, was sie „the blue light of demoniacal wit“ nennt.21 Daran ist zweierlei bemerkenswert: Zum einen erkennt Eliot das Profunde an Hegels Wirkung auf Heine; zum anderen befleißigt sie sich – ganz im Sinne Gruppes – der Bildung von Metaphern: die ‚dämonische Gewitztheit’ bezeichnet sie als ‚blaues Licht‘. Des Weiteren zitiert sie in extenso Heines Hegel-Parodien, aber auch die gewagtesten seiner Vergleiche, etwa seine Analogiebildung zu Heinrichs IV. Wort ‚Paris vaut bien une messe‘ in Berlin vaut bien une prêche sowie Heines Bemerkung, dass er sich nur in Berlin niederlassen konnte, weil er zum aufgeklärten Christentum übergetreten sei, dessen Kirchen in Berlin jedoch voll Aberglaubens gewesen seien und vollkommen frei vom göttlichen Christus, ganz so wie „Schildkrötensup20 Gruppe: Philosophische Werke. Antäus (wie Anm. 18), S. 305. 21 Eliot: Selected Writings (wie Anm. 1), S. 207.
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pe ohne Schildkröte“.22 Sie spricht von Heines „most bewildering double-edged sarcasms“, die sie erinnert haben werden an den Ton, dessen auch Gruppe fähig war. So sehr Eliot die scharfsinnige und scharfzüngige Zuspitzung von Argumenten schätzte, zumal berlinerisch durchsetzt, sie konnte sie sich nicht zu eigen machen. Als George Eliot mit George Henry Lewes nach Berlin zurückkehrt, man schreibt Frühjahr 1870, hat sich Preußens Metropolis völlig verändert: „Luxury in all forms“, bemerkt George Eliot über die aus allen Nähten platzende Stadt.23 Man trifft Mommsen, Bunsen, Du Bois-Reymond und hört Bismarck im preußischen Abgeordnetenhaus; man ist wer, geht in die Oper, sitzt in der Loge und hört, wie anno 1855 Gluck und Mozart, abermals Tannhäuser. George Henry Lewes sucht Karl Friedrich Westphal in der Charité auf und studiert mit ihm eingehend psychiatrische Fälle; für Eliot eine „hideous branch of practice“.24 Nichts Menschliches ist ihr fremd, aber zum Psychopathischen hält sie denn doch sehr bewusst Abstand. Beide fühlen sich wohl in diesem Berlin. Hegel ist vergessen und Gruppe scheinen sie nicht mehr aufgesucht zu haben. Als später in jenem Jahr der Krieg mit Frankreich ausbricht, steht Eliot auf preußisch-deutscher Seite, weil sie Frankreich in Selbstgefälligkeit erstarrt sah. Nur als Paris zu fallen droht, wird ihr unheimlich. Sie sieht in diesem Krieg zwei verschiedene Arten von Zivilisation aufeinander treffen, aber was auch immer geschehen sollte, Paris musste unversehrt bleiben um der menschlichen Kultur willen, ein Argument, wie es zu jener Zeit brieflich aus einem fränkischen Lazarett der junge Friedrich Nietzsche fast identisch entwickelt. George Eliot in Berlin anno 1854/55: eine Station auf dem Weg zum großen Roman, zur Einsicht in die Verwandtschaft des scheinbar und tatsächlich so Anderen. Die Recollections of Berlin wurden ihr auch wie die späteren Reisetexte zu einer Möglichkeit, eigene Vorurteile und jene ihres gesellschaftlichen Umfelds zu überprüfen und zu korrigieren, ja, sich mit dem Phänomen ‚Vorurteil’ an sich auseinanderzusetzen. „Every one tells you [Berlin] is an uninteresting modern city, with broad monotonous streets, and when you see it you cannot for the life of you get up an emotion of surprise or make a remark about the place which you have not heard before“.25 So begannen ihre Recollections. Sie enden mit dem Ausdruck einer Sehnsucht, dieses Land wiederzusehen, diese seltsamen Deutschen wieder zu erleben, die trotz ihrer nur bedingt salonfähigen Manieren, bedenklich unbequemen Bettstellen und Messern im Mund weniger ‚bigotry and exclusiveness‘, sprich: soziales Klassenbewusstsein zu haben scheinen als ihre ‚more refined cousins‘ in England. Eines eben ist Künstlern vorbehalten: Sie können sich ihre Verwandtschaft nicht nur aussuchen, sondern auch bilden, Rauch seine Skulpturen und George Eliot ihren Adam Bede, der übrigens in der Hauptsache in München geschrieben wurde. Aber das ist dann schon eine andere wahlverwandt deutsche Beziehung und Geschichte. 22 23 24 25
Ebd., S. 207 Haight (Hrsg.): The George Eliot Letters (wie Anm. 6), Bd. V, S. 87 (Brief vom 3. April 1870). Ebd., S. 86. Harris, Johnston (Hrsg.): The Journals of George Eliot (wie Anm. 4), S. 243.
GERTRUD LEHNERT
Mode und Orientalismus
Ich werde im Folgenden vornehmlich am Beispiel des Berliner Modenspiegels skizzieren, wie Modejournale in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit Mode umgingen und wie der Transfer zwischen den Metropolen (Paris – Berlin) vonstattenging. Mein Fokus liegt auf orientalisierenden modischen Elementen. Denn neben dem Historismus spielt der Orientalismus in der europäischen Kultur des 19. Jahrhunderts eine zentrale Rolle, und die Mode bildet hier keine Ausnahme. Ein Seitenblick gilt dem Umgang mit der Revolution im Modeblatt.
Modemetropole und Provinz Berlin sei in modischen Dingen zwar minder Gesetzgeberin als Paris, minder reich an neuen Erfindungen als London, aber: es „ist doch bekannt dafür, dass es nicht nur die fremden Produkte alle führt, sondern auch nachahmt, auf eine Weise, dass seine Nachahmungen an Güte, Dauer und Billigkeit die ursprünglichen Produkte bei Weitem übertreffen.“ So verkündet 1832 der Berliner Modenspiegel. Eine Zeitschrift für die elegante Welt.1 Ich möchte behaupten, dass damit etwas durchaus Essentielles über Berliner Mode, ja über deutsche Mode ausgesagt wird, was bis weit ins 20. Jahrhundert hinein Gültigkeit besaß und teilweise immer noch besitzt. Obwohl Philosophen wie Georg Simmel und Walter Benjamin sich schon früh mit Mode auseinandergesetzt haben, ja noch früher Christian Garve und Friedrich Theodor Vischer,2 besitzt Deutschland bis heute keine wirkliche modische Kultur. In der akademischen Welt fristet die Mode ohnehin bis heute ein wenig ernst genommenes Nebendasein. Und was für Deutschland gilt, gilt in verstärktem Maße für Berlin, auch wenn es sich derzeit zur ‚jungen‘ Modestadt zu mausern versucht und vielleicht erstmals in seiner Geschichte die Chance hat, das auch zu schaffen. Mitte des 19. Jahrhunderts hatte Berlin diesen Ehrgeiz noch lange nicht. Die Imitation der tonangebenden Moden vor allem aus Paris war damals vollkommen normal und mit1 2
Berliner Modenspiegel. Eine Zeitschrift für die elegante Welt, redigiert von W. von Kesteloott, ab 7. Januar 1832, hier am 22. Juni 1832 (22. Nummer), vorgeschalteter Werbeeinleger. Christian Garve: Über die Moden (1792), Frankfurt/M. 1987; Friedrich Theodor Vischer: Mode und Zynismus (1878), Berlin 2006; Georg Simmel: Die Mode, in: ders.: Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne. Gesammelte Essais, Berlin 1983, S. 26–51.
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nichten anrüchig. Das galt schon im 18. Jahrhundert, wie das ab 1786 von F. J. Bertuch in Weimar herausgegebene Journal des Luxus und der Moden belegt, das über die Vermittlung französischer Moden nach Deutschland durchaus zu einem Medium des Kulturtransfers wurde.3 Der Status von Paris als Hauptstadt der Mode wurde zuweilen von London angegriffen, freilich nie wirklich in Frage gestellt. Der Import der fremden Moden barg Gefahren, die diskutiert wurden, d. h. vor allem ökonomische; die Nachahmung selbst freilich stellte gar kein Problem dar. Höchstens wurde vor den modischen Exzessen der Pariserinnen gewarnt – tatsächlich aber ist das im Modenspiegel schon kein echtes Thema mehr, anders als noch im Journal des Luxus und der Moden Ende des 18. Jahrhunderts. Paris war konkurrenzlos und unangefochten das nachahmenswürdige Vorbild und zelebrierte sich traditionell auch selbst so. So heißt es im Moniteur de la Mode vom 2. Juni 1848: „L’Inde nous enverra toujours ses riches cachemires, l’Angleterre et la Belgique leurs féeriques dentelles, la Russie et le Brésil leurs pierreries étincelantes, mais les Parisiennes seules diront le secret de les porter, de les chiffoner et d’en faire des bijoux admirables.“ (S. 38) Die modische Hierarchie mit Paris an der Spitze wird im Europa des 19. Jahrhunderts nicht in Frage gestellt, und so ist klar, dass Berlin durch eine Äußerung wie die eingangs zitierte zwar indirekt, aber deutlich und letztlich in aller Selbstverständlichkeit zur Provinz erklärt wird. Denn nur die Provinz kann sich derart stolz darauf berufen, dass sie so gut nachmacht, was die Tonangebenden vormachen.
Mode und Orientalismus Kaum ein Aspekt der Kulturgeschichte scheint mir so geeignet wie die Mode, die im buchstäblichen Sinne phantastischen Möglichkeiten des europäischen Orientalismus zu veranschaulichen.4 1. Mode5 betrachte ich als Spielraum des Möglichen, als äußerst effiziente Ästhetisierung der eigenen Person und des Lebens, als Medium des Versprechens des ‚ganz Anderen‘, als Traum, als imaginäre Wunscherfüllung ohne politische oder andere praktische Konsequenzen. Mode sucht immer das Neue, das Unerwartete, das Unbekannte, oft auch das 3
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Gertrud Lehnert: Mode als Medium des Kulturtransfers im 18. Jahrhundert, in: Margarete Zimmermann, Gesa Stedmann (Hrsg.): Höfe. Salons. Akademien. Kulturtransfer und Gender im Europa der Frühen Neuzeit, Hildesheim u. a. 2006, S. 309–340. Vgl. zum Folgenden u. a. meinen Aufsatz: Des „robes à la turque“ et autres orientalismes à la mode, in: Anja Bandau u. a. (Hrsg.): Paris Croisé, ou comment le monde extra-européen est venu dans la capitale française (1760–1800), Paris 2010 (im Druck). Zu Mode und Orientalismus allgemein u. a. Harold Koda, Richard Martin: Orientalism. Visions of the East in Western Dress, New York 1994; Annie Perez: Touches d’Exotisme. XIVe–XXe siècles, Paris 1998; Françoise Tétart-Vittu: Exotisme et fantaisie dans la mode. Les années 1690–1715, Tübingen 2004. Vgl. u. a. Gertrud Lehnert: Die Kunst der Mode. Zur Einführung, in: dies. (Hrsg.): Die Kunst der Mode, Oldenburg 2006, S. 10–25; dies.: Mode und Moderne, in: Gabriele Mentges (Hrsg.): Kulturanthropologie des Textilen, Berlin 2005, S. 251–263.
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Bizarre. Das ‚Orientalische‘ bietet sich aufgrund der Zuschreibungen von Märchenhaftigkeit, Reichtum, Luxus, Schönheit und Sinnlichkeit dafür an. Freilich steht im Zentrum der Imaginationen im 18. und 19. Jahrhundert die banale erotische Haremsphantasie, die nicht nur in der Malerei, sondern auch in der Mode eine zentrale Rolle spielt und vermutlich bei allen orientalisierenden Damenmoden seit dem 18. Jahrhundert immer mitschwingt. 2. Als orientalisch gelten in der Mode seit der Frühen Neuzeit im Wesentlichen Indien, Persien und die Türkei; China und Japan werden meist gesondert benannt, russische Einflüsse können identifiziert und ggfls. ebenfalls als orientalisch klassifiziert werden, ohne unbedingt in ihrer Zeit so benannt zu werden. Ich verwende den Begriff im umfassenden geographischen Sinne des 18. Jahrhunderts. Die Encyclopédie definiert „Oriental“ als Bezeichnung für alle Länder, die ‚von uns aus‘ gesehen östlich liegen; gewöhnlich werde der Begriff verwendet, um die weitest entfernten zu bezeichnen, wie China, Japan, Indien, Arabien, Persien.6 In der Modesprache der Zeit jedoch, wenn sie überhaupt den Begriff verwendet, trifft die weitere Definition zu, nämlich es wird unterschiedslos alles Östliche dem Orientalischen subsumiert, so dass ‚orientalisch‘ oft ein Synonym für ‚exotisch‘ ist. 3. Eingeschrieben in diese Phantasieproduktion sind zwangsläufig die sozialen und ökonomischen Kontexte, in denen Mode zustande kommt. Das gilt um so mehr für orientalisierende Moden, in die zweifellos immer, auch wenn sie als zweckfreies Märchen aus 1001 Nacht erscheinen mögen, die tatsächlichen Machtverhältnisse eingeschrieben sind, die ja immer auch die von Kolonisierer und Kolonisiertem sind. (Nota bene: Ich spreche vom 18. und 19. Jahrhundert. In der globalisierten Gegenwart haben sich die Dinge hochgradig verkompliziert; es haben sich ganz andere Praktiken entwickelt, die man mit David Howes als Cross-Cultural Consumption7 bezeichnen kann.) 4. Mode als Medium des Kulturtransfers funktioniert fast nie als echte Begegnung mit dem Fremden. Vielmehr handelt es sich um die Einverleibung fremder Elemente exotischen Charakters, um sich durch die Konstruktion des Fremden auch umgekehrt als Eigenes überhaupt erst zu konstituieren – und um den Reiz des immer Neuen zu erhöhen. Mode und Kleidung machen das Fremde am eigenen Leibe sinnlich erfahrbar. Damit ist Mode zumindest bis ins 19. Jahrhundert hinein in hohem Maße exemplarisch für das, was von Edward Said8 als europäischer Orientalismus analysiert worden ist. Als Fabrikation der westlichen Welt hat der Orientalismus seine realen Ursachen in Handel und Eroberungen, aber er verschleiert seine Herkunft, um als Traumbild funktionieren zu können. Auch die Mode verschleiert ihre kommerziellen Ursprünge, um zum Traumbild und zur Wunschproduktion zu werden.9 6 7 8
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Denis Diderot, Jean Le Rond d‘Alembert (Hrsg.): L’Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers [. . .], 2. Aufl., Genf 1778, hier Bd. 24. David Howes: Cross-Cultural Consumption. Global Markets, Local Realities, London 1996. Edward Said: Orientalism (1978), New York 1994. Die Debatte um Said und die postkoloniale Weiterentwicklung seiner Thesen kann hier nicht diskutiert werden; in Bezug auf die Mode des 19. Jahrhunderts, also der kolonialen Zeit, kann man seine Kategorien durchaus anwenden. Die Handelsbeziehungen und Vermarktungsaspekte stehen im Mittelpunkt u.a. bei Maxine Berg: Luxury and Pleasure in Eighteenth-Century Britain, Oxford 2005; dies., Helen Clifford (Hrsg.): Con-
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5. In der Mode findet folglich keine echte Begegnung mit Alterität im Sinne einer Auseinandersetzung statt. Die Mode nutzt das Fremde vielmehr als Teil der Phantasieproduktion und des Spiels. So ist es kein Zufall, dass es nie komplette orientalische Moden gab, keine kompletten Kostüme etwa (außer in der theatralen Maskerade oder der „EthnoMaskerade“),10 sondern dass immer nur einzelne Elemente herausgelöst und übernommen wurden: vor allem die Materialien (Seiden, Baumwollen); bestimmte Produktionstechniken, ganz wichtig: die Muster, dann bestimmte Kleidungsformen: Turbane wurden zur Grundlage vieler Kopfbedeckungen; Kaschmirschals mit dem berühmten Paisleymuster avancierten um 1800 zum unentbehrlichen Kleidungsstück modischer Damen. Ende des 19. Jahrhunderts wurden Kimonos modern; Herren trugen seit dem 18. Jahrhundert einen ‚bunyan‘, einen von orientalischen Kleidungsformen herkommenden Hausrock, und so weiter.
Abb. 1: Abbildung aus einer Modezeitschrift mit Abb. 2: Berliner Modenspiegel: Türke und ‚Neger‘ Kaschmirschal, Kunstbibliothek, Staatliche Mu- als Accessoires, Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin seen zu Berlin
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sumers and Luxury in Europe 1650-1850, Manchester 1999; Maxine Berg, Elizabeth Eger (Hrsg.): Luxury in the Eighteenth Century. Debates, Desires and Delectable Goods, Palgrave 2002; Giorgio Riello, Tirthankar Roy (Hrsg.): How India Clothed the World. The World of South Asian Textiles, 1500-1850, Leiden 2009; Giorgio Riello, Prasannan Parthasarathi (Hrsg.): The Spinning World. A Global History of Cotton Textiles. 1200-1850, Oxford 2009; Ina Baghdiantz McCabe: Orientalism in Early Modern France. Eurasian Trade, Exoticism, and the Ancien Régime, Oxford 2008; Stefanie Wolter: Die Vermarktung des Fremden. Exotismus und die Anfänge des Massenkonsums, Frankfurt/M., New York 2005. Kader Konuk: Ethnomasquerade in Ottoman-European Encounters. Reenacting Lady Mary Wortley Montagu, in: Criticism 46, 2004, Heft 3, S. 393-414.
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6. Fazit: Der Umgang mit dem Orientalismus kann durchaus analog zum Prinzip des Umgangs mit allen künstlerischen Avantgarden gesehen werden: Sie werden über kurz oder lang vom Mainstream vereinnahmt und damit harmlos gemacht.11 Im wirtschaftlichen und Machtkontext ist Vereinnahmung natürlich noch weniger harmlos, da es hier um klare Hierarchien, um mentalitätsprägende Bilder und um konkrete Herrschaft geht. Als Beispiel dafür sei nur ein kurioses und zugleich abstoßendes Beispiel aus dem Jahr 183212 angeführt, keine Mode im engeren Sinne, aber Teil des eleganten Lebensstils, also des ‚Life Styles‘, der ja untrennbar mit der Kleidermode verbunden ist: Der sitzende Türke, der sich als Behälter für Nähzeug entpuppt, und der ‚Neger‘, der eine Streichholzschachtel ist. Mehr noch: Dem Türken muss man den Kopf aufklappen, um an das Nähzeug zu kommen, dem Schwarzen nimmt man ein Streichholz vom Ohr und steckt es ihm zum Anzünden in den Mund. Auch wenn man die Form der Nippes nicht wörtlich nehmen muss – es fällt auf, welch skurrile Körperpraktiken hier suggeriert werden und sich mit den ‚Exoten‘ als ‚Dienern‘ verbinden. Obgleich Mode durch den Drang nach immer Neuen charakterisiert ist, so muss hier doch wieder an das eingangs aufgestellte Thema ‚Nachahmung‘ erinnert werden. Auch Nachahmung gehört ganz wesentlich zur Mode – und zum Orientalismus. Dessen europäische Wirksamkeit hängt nicht unwesentlich von der Nachahmung der fremden Produkte in Europa ab, so dass man fremde und eigene Produkte manchmal, wenn die Qualität gut genug war, gar nicht mehr unterscheiden konnte.13 Aber der orientalische Markt selbst produzierte ohnehin spätestens seit dem 18. Jahrhundert speziell für den europäischen Markt, orientierte sich am europäischen Geschmack – und imitierte sich gewissermaßen selbst. Nachahmung ist also in die Mode, zumal die orientalisierende, von Anfang an eingeschrieben. In der deutschen Provinz haben wir es also mit Nachahmung zweiter oder dritter Ordnung (mindestens) zu tun.
Der Berliner Modenspiegel 1. Die Zeitschrift Im Eröffnungsartikel von 1832 heißt es, alles, was zur Mode gehört, solle behandelt werden: hier (d.h. in Berlin), in Paris, „der Modegesetzgeberin“, in London, in Wien und „anderen bedeutenden Orten der Erde“ (S. 1). Die Mitteilungen basieren auf „directen Mittheilungen aus den Hauptsitzen der Mode“, und man rühmt sich der Geschwindigkeit, mit der Nachrichten aus den europäischen Metropolen vom Modenspiegel „mit künstlerischem Gefühl“ und „gewissenhafter Treue“ kolportiert werden, nämlich spätestens 14 Tage nach dem dortigen Erscheinen in Paris und Wien. Zu Beginn spielen Paris und London die Hauptrolle, 11
Vgl. hierzu u.a. Hiroshi Narumi: Fashion Orientalism and the Limits of Counter Culture, in: Postcolonial Studies 3, 2000, Heft 3, S. 311–329. 12 Berliner Modenspiegel (wie Anm. 1), Nr. 15 vom 14. April 1832, nach S. 120. 13 Z. B. originale und französische Kaschmirschals, vgl. Monique Lévi-Strauss: Cachemires parisiens 1810–1880 à l’école de l’Asie, Paris 1998.
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Mitte des Jahrhunderts scheint London weitgehend verschwunden, dafür spielt Wien erstaunlicherweise eine größere Rolle, was im Rückblick auf die Modegeschichte eher erstaunlich ist, da in ihr Wien selten vorkommt. Zu Beginn werden die Modekupfer offenbar nach den Vorbildern gestochen; später dann übernimmt man die Kupfer unverändert aus den französischen Vorbildern, dem Moniteur de la Mode, dem Petit Courrier des dames etc. Die Zeitschrift erscheint jeden Sonnabend und enthält, wie sämtliche Vorbilder seit dem Cabinet des modes (ab 1786), auch Fortsetzungsromane sowie Berichte aus dem allgemeinen kulturellen Leben, im Falle des Modenspiegels bevorzugt aus dem Theaterleben. 2. Präsentation von Mode a) Herrenmoden Es werden durchaus neben den deutlich überwiegenden Damenmoden auch noch relativ häufig Herrenmoden gezeigt. Zwar wird der Begriff ‚Mode‘ mittlerweile fast gleichbedeutend mit Damenmode verwendet, aber es ist offensichtlich, dass der „große männliche Verzicht“ (!), von dem der Psychologe Flügel Anfang des 20. Jahrhunderts sprach, noch nicht endgültig ist.14
Abb. 3: Modenspiegel des Jahres 1846, Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin 14
J. C. Flügel: Psychology of Clothes (1930), London 1960. Flügel zufolge verzichten Männer mit dem Aufkommen des schlichten Anzugs als Standardkleidung seit Beginn des 19. Jahrhunderts auf ihr Schmuckbedürfnis. Demgegenüber erklärt schon Thorstein Veblen 1899 in Theory of the Leisure Class, dass im Bürgertum Männer prächtige Kleidung nicht mehr nötig hätten, da sie genug ‚sind‘; sie übertragen ihren Frauen die Pflicht, Wohlstand u. a. mithilfe von demonstrativem Konsum zu demonstrieren (‚conspicuous consumption‘).
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Besonders beliebt sind in jenen Jahren stark taillierte Herrenmäntel in etwas, was ich als russischen Stil bezeichnen würde (was dort nicht so genannt wird): mit Posamenterien und Schnürverschlüssen und evtl. Pelzbesätzen. b) Damenmoden Die Damenmoden werden in der Fachterminologie beschrieben, die seit dem 18. Jahrhundert selbstverständlich war und schon damals nicht übersetzt werden musste. Mäntel sind aus ‚drap d’orient‘ oder ‚Gros des Indes‘ gefertigt; Mäntel haben türkische Muster, Négligés haben Pagodenärmel (Heft 7, 1832); Damen in Paris tragen „Turbane nach dem neuesten Geschmack“ (ebd.); oft „von glattem Flor, von klein geripptem Sammet und von gold- und silbergesticktem Damast“. Wichtig sei, sie aus dem Gesicht zu tragen, weil das jünger mache (Heft 10, 1848, S. 96).
Abb. 4: 1841: Zwei Damen mit Papagei, eine trägt eine Art Turban und einen Kaschmirschal, Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin
Wenn man ins Theater geht, hüllt man sich in einen Überwurf aus indischem Kaschmir, in Lahore gefertigt (Heft 6, 1848). Daneben finden sich immer wieder begeisterte Hinweise auf eine Pariser Frisur, auf Moden mit historisierenden Namen, dergleichen Frisuren à la Gabrielle d’Estrées, à la Königin Margot etc. (Heft 1, 1848), à la Clarissa Harlowe (Heft 2, 1848); Maria Stuart Hüte, Sévignéfrisuren und Burgfrauenkleider ohne Mieder (Heft 11, 11. März 1848). Es gibt ‚castilianische Mäntel‘, ‚Balltoiletten à la grècque‘, circassische Jäckchen und ‚Casawecks‘, russisch inspirierte Westen, die auch Ärmel haben können. Oft sind es nur die Namen und nicht konkrete formale Anspielungen, die auf etwas Exotisches verweisen, wenn diese Ten-
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denz auch nicht mehr so ausgeprägt ist wie in der Mode und in den Modejournalen des 18. Jahrhunderts.
Abb. 5: 1848: Dame im ‚Casaweck‘ mit begleitendem Herrn (Neuestes Pariser Modenjournal für Herren und Damen, Ulm 1848), Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin
Kurz: Die Mode ist in aller Selbstverständlichkeit von orientalischen Elementen durchsetzt, die ‚Mode‘ signalisieren, aber nicht als besonders fremd hervorgehoben werden – es sind recycelte, längst traditionell modische, wenn auch immer wieder variierte Elemente: neu, reizvoll, schön, phantasieanregend wie andere Elemente auch, wie bestimmte Spitzen, echte Schottenkaros. Diese Elemente, die ja nichts als Fragmente orientalischer Kostüme darstellen, als solche sind bekannt, müssen weder geographisch noch kulturell irgendwie verortet werden, denn ihre ursprüngliche Herkunft interessiert niemanden mehr (außer zuweilen als Echtheitsausweis, wenn ein Kaschmirschal ausnahmsweise aus Indien kommt). Kurz, sie sind als modische Aspekte u.a. vereinnahmt und unterliegen demselben Neuigkeits- und Abnutzungswert wie alle anderen und sind als exotische kaum mehr reizvoller als alle anderen.
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Abb. 6: Dame im Kleid mit Paisley-Muster (Berliner Modenspiegel Nr. 6, 11. 2. 1832), Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin
Interessant ist freilich, dass die Modeberichterstattung gleichsam strategisch geschickt durch Erzählungen und gelegentliche Berichte aus der Fremde ergänzt wird. Eine lange, angeblich aus dem Dänischen übersetzte Fortsetzungserzählung im Jahr 1848 (ab Heft 12) von einer Gräfin von W. heißt Bernhard und Agathe, oder die Fahrt nach Ostindien und schildert die wechselhafte Liebes-, Ehe- und Leidensgeschichte des Dänen Bernhard, der sich auf der Überfahrt nach Ostindien unsterblich in die schöne Einheimische Agathe verliebt, sie gegen den Widerstand ihres Vaters zu gewinnen vermag, heiratet – und dann beginnt seine Leidensgeschichte. Die Frau ist launisch, egoistisch, flatterhaft, sinnlich, sie beginnt Affären, verlässt irgendwann ihren Mann und führt ein absolut verwerfliches, d.h. an ihren erotischen und sonstigen Interessen orientiertes Leben, statt familienorientiert zu sein, wie das die Geschlechternorm des 19. Jahrhunderts vorsieht, ganz gleich wie elegant und orientalisch chic eine Dame ist. Konsequent geht auch die Familie zugrunde, Bernhard verliert beide Kinder und stirbt selbst elend. Offensichtlich wird hier mit einem abschreckenden Klischeebilde von der sinnlichen, grausamen Orientalin gespielt – als Komplement oder vielleicht auch als Gegenbild zu der orientalischen Hauptphantasie seit dem 18. Jahrhundert: der Haremsphantasie, die auch in den kleinsten Accessoires vermutlich noch ein schwaches Echo hinterlässt. Sichtbar wird an diesem Punkt die Ambivalenz der Orient-Images, die stets zwischen dem begehrten Anderen und dem gefürchteten Anderen oszillieren. Gerade das macht ihren andauernden Reiz aus.
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1848 Dieser Roman steht im zeitlichen Kontext der revolutionären Ereignisse. Diese kommen in der Modezeitschrift nur sehr am Rande und stets bezogen auf die Konsequenzen für die Modeberichterstattung vor. Für die französischen Zeitschriften gilt das Gleiche; freilich sind sie etwas expliziter und thematisieren die Umwälzungen häufiger. In diesem Punkt schwächt die deutsche Nachahmung also ab, behält aber grosso modo den Tenor der Vorbilder bei, für die Mode keine oberflächliche Nebensache ist, sondern konstitutives Element von Kultiviertheit und letztlich auch Geist (esprit). Das konnte man schon im 18. Jahrhundert in den französischen Zeitschriften lesen, während Justin Bertuch in seinem Journal des Luxus und der Moden Ende des 18. Jahrhunderts noch die deutsche Biederkeit positiv der französischen Exaltiertheit entgegenstellte und seine Moden entsprechend veränderte, um eine spezifisch deutsche Variante zu kreieren. Das ist Mitte des 19. Jahrhunderts kein Thema mehr: Vielmehr möchte man dem französischen Schick so nahe wie möglich kommen, was sich ja auch in der unmittelbaren Übernahme der französischen Modekupfer zeigt (Bertuch hatte sie noch nacharbeiten und, wenn auch ganz leicht, verändern und dem ‚deutschen Geschmack‘ anpassen lassen). Am 11. März 1848 heißt es im Berliner Modenspiegel im Bericht aus Paris: „Die Ereignisse der letzten Tage, haben alle Gemüther so ausschließlich beschäftigt, dass den Berichterstattern der Mode, nicht Zeit, nicht Gelegenheit ward, Beobachtungen im Bereiche der Eleganz und des Luxus anzustellen.“ Darum müsse man sich auf die Beschreibung einfacher Toiletten beschränken (S. 105). Und dann folgen die erwähnten Sévignéfrisuren, Burgfrauenkleider aus Wien, Maria-StuartHüte und Kinderkleidung… denkbar harmlos also. Am 18. März wird erneut beklagt, alle Modewerkstätten stünden still, und es folgt ein feuriges Plädoyer für Ordnung und auch für Luxuskonsum, denn die Reichen unterstützen durch ihre Käufe die Armen und deren Arbeit, und Arbeit sei Grundlage aller Ordnung. Ein altes Argument, das hier den Zeitumständen entsprechend variiert vorgebracht wird und das sich schon Mitte des 18. Jahrhunderts in der Encyclopédie findet oder in den französischen und deutschen Modezeitschriften seit Ende des 18. Jahrhunderts. Am 25. März 1848 (Heft 13) heißt es, zur Zeit herrsche in Paris die Sitte, sich so einfach wie möglich zu kleiden, und das falle unglücklicherweise noch mit dem Jahreszeitenübergang zusammen, also sei die ‚Ausbeute‘ (der modischen Streifzüge durch Paris derjenigen, die wir heute als Trend Scouts bezeichnen würden) denkbar gering. In Heft 15 vom 8. April heißt es, in Paris herrsche immer noch Aufregung, die sich hoffentlich bald beruhige; bis zu den Rennen in Longchamps, dem jährlichen Highlight der Mode, das dieses Jahr verspätet stattfinde, seien die Ansprüche der arbeitenden Klassen „wo nicht befriedigt, wenigstens beruhigt“ (S. 141); und die vornehme Welt kehre hoffentlich zu ihrer gewohnten Lebensweise zurück. Es ist offensichtlich: Der Modenspiegel argumentiert nicht offen politisch, sondern schiebt alles in Nebenbemerkungen beiseite und deklariert es als Vorfälle, die im fernen Frankreich geschehen. Indirekt jedoch positioniert er sich sehr wohl politisch, indem er
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außerordentlich konservative Ansichten propagiert, die sich aus der Zielgruppe ergeben: den ‚gehobenen‘, d. h. finanzkräftigen Schichten, deren Interesse am Erhalt des Status quo das größte ist. Es gibt keinen einzigen Hinweis auf die tatsächlichen Ereignisse in Deutschland; nur unter Vermischtes findet sich zuweilen eine kleine Bemerkung wie die, dass die Elberfelder Frauen beschlossen hätten, zur Unterstützung der Arbeiter nur noch inländische Produkte zu tragen (Heft 16, 1848, S. 149), oder in Heft 15: Kleine Revolutionen seien Mode geworden, es herrschten überall, auch in Berlin, barbarische Sitten, das müsse aufhören. Ob diese Vorsicht Methode hat oder Vorsicht wegen der Zensur signalisiert oder ganz einfach Desinteresse bekundet, lässt sich schwer beurteilen. Es mag sich um eine Mischung aus verschiedenen Gründen handeln. Nur zum Vergleich: Im Neuesten Pariser Modenjournal für Herren und Damen (seit 1842 in Ulm erschienen) habe ich gar keine Hinweise auf die revolutionären Ereignisse gefunden, darin berichtet man unverdrossen über die neuesten Moden und gibt technische Anleitungen zum Herstellen von Kleidung. Das Journal enthält außerdem im Jahr 1848, das ich durchgesehen habe, so gut wie keine Orientalismen. Viele Orientalismen enthält hingegen der Der Putztisch. Eine Zeitung für Damenschneider, Modehandlungen, Stickerinnen und Putzmacherinnen (ab 1842). Er bietet 1848 eine auffallende Zahl von ‚orientalischen‘ Elementen an, deren Vorbilder man leicht in den einschlägigen Pariser Modezeitschriften (Moniteur de la Mode, Pariser Mode) finden kann, die ohne Quellenangabe ganz direkt abgekupfert sind. Hier gibt es freilich pro Heft sechs bis zehn Modekupfer, und sie sind ja als Modelle fürs Nacharbeiten gedacht. Das Heft enthält offenbar auch Schnittmuster und Strick- und Stickanleitungen (die in der Ausgabe, die ich gesehen habe, fehlten), eine Erklärung der Modekupfer und Erklärungen der Nähanleitungen. Anspielungen auf die politischen Ereignisse fehlen gänzlich. Wie verhalten sich die französischen Vorbilder? Als Beispiel sei der viel zitierte Moniteur de la Mode angeführt. Er trägt den Untertitel Journal du monde élégant. Modes, Littérature, Beaux-Arts, Théâtre und erschien seit 1842. Er erwähnt in fast jeder Nummer die zeitgenössischen Unruhen, aber nicht anders als sein Berliner Nachahmer in konservativem Tenor, denn die Revolution stört die Mode. Die eigene Notwendigkeit wird erörtert: denn am Erscheinen des Blattes hänge die Arbeit vieler Modistinnen und vieler anderer, die in der Modeproduktion beschäftigt sind; sie würden ins Elend gestürzt, müsste das Blatt sein Erscheinen einstellen. La „ruine de quelques journaux“ bedeutet nicht nur den „oubli de la mode, la malaise du commerce, de l’élégance“, sondern außerdem: „C’est accepter le découragement pour soi et le rendre contagieux chez les autres. C’est enlever une pierre utile à l’édifice; c’est vous nuire à vous-mêmes en faisant mal aux autres.“ (Heft 9, 10. April 1848, S. 2/3) Am 20. April lobt das Blatt die Symptome einer ‚convalescence morale‘, da der Handel endlich wieder eine verstärkte Aktivität erkennen lasse. Am 30. Juni heißt es, in diesen blutigen Zeiten gebe es keine Modeberichterstattung, die Frauen fertigten Scharpie für die Verwundeten statt Kleider, und alle würden zu Soldaten der Ordnung im Kampf des Guten
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gegen das Böse, statt sich der eigentlichen Arbeit zu widmen. Am 10. Juli ein erleichterter Stoßseufzer: „Le calme est revenue dans Paris et la confiance renaît [...] Paris reprend sa physiognomie animé.“ (S. 73) Am 20. November gibt es einen kurzen Bericht über die „consécration de la constitution“, die aber modisch unbefriedigend sei, da man nur Mäntel gesehen habe (S. 178).
Schluss Mit anderen Worten: Modische Konsequenzen hat die Revolution kaum. Es gibt weniger Orientalisches, aber das kann Zufall sein, und sonst ändert sich nicht viel. Es gibt nichts, was der modischen Reflexion der Ereignisse wie 1789 gleichkäme, als mit einem Mal die Nationalfarben in der Mode auftauchten, modische Elemente patriotische Namen erhielten wie ‚coiffures à la cocarde‘ und Moden die nationale Gesinnung signalisieren sollten – aber zugleich doch nichts als modischer Clou waren. Für die Modeberichterstattung und die modische Praxis ist die Revolution nichts als ein ärgerliches Hindernis, und darin zeigt sie sich in der Konsequenz als außerordentlich konservativ; die Fashion Victims der Zeit lassen sich so wenig wie die heutigen in ihrer Selbstinszenierung beirren. Das belegt meine These, dass Mode immer mehr ist als bloßer Spiegel der politischen und sozialen Verhältnisse: nämlich eine Form des imaginären und oft narzisstischen Umgangs mit dem eigenen Selbst, der seine eigenen Wege beschreitet; Form von Kommunikation, Körperpraxis und, last but not least, ästhetisches Spiel und damit möglicherweise eine anthropologische Konstante – in aller historischen Wandelbarkeit. Dass sie dabei auch immer eine Fluchtmöglichkeit vor den Realitäten bietet, hat sich mit Blick auf die Modezeitschriften auch gezeigt. Aber seine Ausführung wäre ein anderes Thema und muss einer anderen Gelegenheit vorbehalten bleiben.
HUBERTUS FISCHER
„Berlin steht hier im sehr schlechten Ruf“ Revolutionsbriefe aus Hinterpommern 1848
„Ost- und Westpreußen sowie Pommern liegen noch vernachlässigt“.1 Was Veit Valentin in seiner Geschichte der deutschen Revolution 1848–1849 vor rund achtzig Jahren schrieb, gilt immer noch. Deshalb habe ich 2009 an der Europäischen Akademie Kulice-Külz (Polen) eine Tagung Die Revolution 1848/49 in ihren Auswirkungen auf die Provinz Pommern angeregt, die diesem Mangel begegnen sollte.2 Der wissenschaftliche Ertrag war beachtlich und ist jetzt im Rahmen der Zeszyty Kulickie/Külzer Hefte als Tagungsband zugänglich.3 In Ergänzung zu den dort gehaltenen Vorträgen, aber zugleich in besonderer Verbindung mit der Metropole Berlin werden hier unveröffentlichte Privatbriefe aus Hinterpommern vorgestellt, die Einblicke in Ereignisse, Erlebnisse und Einstellungen aus dem Jahr 1848 bieten. Dass sie von einer schon betagten Dame stammen, machen sie nahezu einzigartig, da Frauenstimmen aus der Provinz, zumal solche der älteren Generation, heute so gut wie unbekannt sind.4 Wenn sie noch die ,alte‘ Gesellschaft repräsentieren, ändert das nichts an ihrem Zeug-
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Veit Valentin: Geschichte der deutschen Revolution von 1848–1849. 2 Bde., Köln, Berlin 1970, hier Bd. 2, S. 611 (zuerst Berlin 1930 u. 1931); zu Ost- und Westpreußen vgl. jetzt Hubertus Fischer: „Ein feste Burg ist unser Gott . . .“. Konservative Organisation und Agitation in der Provinz Preußen 1848/49. Mit einer „Übersicht der Verhandlungen des Congresses konservativer Vereine“ am 18. und 19. Mai 1849 in Königsberg, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte (FBPG). N.F. 14, 2004, Heft 1, S. 51–112. Vgl. Thomas Stamm-Kuhlmann: Pommern 1815 bis 1875, in: Werner Buchholz (Hrsg.): Deutsche Geschichte im Osten Europas: Pommern, Berlin 1999, S. 365–422, bes. S. 405–409; Neues für die Provinz Pommern enthält Hubertus Fischer: Konservatismus von unten. Wahlen im ländlichen Preußen 1849/52. Organisation, Agitation, Manipulation, in: Dirk Stegmann u. a. (Hrsg.): Deutscher Konservatismus im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Fritz Fischer zum 75. Geburtstag und zum 50. Doktorjubiläum, Bonn 1983, S. 69–127. Vgl. Elsbeth Vahlefeld: Die Revolution 1848/49 in ihren Auswirkungen auf die Provinz Pommern. Wissenschaftliche Tagung in der Europäischen Akademie Külz-Kulice, in: Pommern. Zeitschrift für Kultur und Geschichte 47, 2009, Heft 4, S. 41–43. Vgl. Gerlinde Hummel-Haasis (Hrsg.): Schwestern, zerreißt eure Ketten. Zeugnisse zur Geschichte der Frauen in der Revolution von 1848/49, München 1982 (= dtv Dokumente 2930).
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niswert. Dass sie aber überhaupt aus Pommern geschrieben wurden, geht direkt auf die Berliner Revolution zurück. Nach den Märzereignissen setzte eine Fluchtwelle aus Preußens Hauptstadt ein.5 In Adels-, Beamten- und Professorenkreisen verbreitete sich die Furcht vor einer weiteren Eskalation der revolutionären Unruhen, das Gespenst der „Republik“6 ging um. Die einen dachten daran, den eigenen Kopf zu retten, die anderen sorgten sich um das Wohl ihrer Familien. Gegenüber den „fanatisierten Stadtgemeinden“7 des Westens galten in konservativen Kreisen die ländlichen Regionen östlich der Elbe als weitgehend sicher. Tatsächlich war – mit Ausnahme Schlesiens – der revolutionäre Funke kaum auf das platte Land übergesprungen, am wenigsten wohl nach Pommern, das die einen als „treuste Provinz“8 des Königs lobten, die anderen als Hort der „blinden Untertanentreue“9 schmähten. Bei den oft über mehrere Provinzen verzweigten Adelsfamilien konnte man sicher sein, dass es aufnahmebereite Verwandte auf dem Lande oder in den kleineren Städten gab. Sei’s, dass der eine ein Gut bewirtschaftete, sei’s, dass der andere das Amt eines Landrats ausübte oder seinen Dienst als höherer Verwaltungsbeamter am Sitz einer Bezirksregierung versah. Nun war es nicht so, dass immer gleich ganze Familien der Hauptstadt den Rücken kehrten. Teils vertrug sich das nicht mit den amtlichen Pflichten oder der dem König gelobten Treue, teils widersprach es der Standesehre, die Stellung ‚kampflos‘ zu räumen. Das war der 5
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Vgl. Rüdiger Hachtmann: Berlin 1848. Eine Politik- und Gesellschaftsgeschichte der Revolution, Bonn 1997 (= Veröffentlichungen des Instituts für Sozialgeschichte e.V., Braunschweig, Berlin), S. 224–228; Wolfgang Schwentker: Konservative Vereine und Revolution in Preußen 1848/49. Die Konstituierung des Konservativismus als Partei, Düsseldorf 1988 (= Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 85), S. 57–59; Richard Schult: Partei wider Willen. Kalküle und Potentiale konservativer Parteigründer in Preußen zwischen Erstem Vereinigten Landtag und Nationalversammlung (1847/48), in: Stegmann u.a. (Hrsg.): Deutscher Konservatismus (wie Anm. 2), S. 33–68, hier S. 44; Berliner Revolutions-Chronik. Darstellung der Berliner Bewegungen im Jahre 1848 nach politischen, socialen und literarischen Beziehungen von Adolf Wolff. 1. Bd., Berlin 1851, 2. Bd., Berlin 1852, 3. Bd., Berlin 1854. Unveränderter Neudruck Vaduz 1979, hier Bd. 1, S. 341/342. Siehe schon den gezielten „Republik“-Alarmismus in dem in Berlin bei Julius Sittenfeld gedruckten und verbreiteten Flugblatt des alten pommerschen Gutsbesitzers und Publizisten Ernst von BülowCummerow: „An meine deutschen Mitbürger, zunächst in Preußen“ von Ende März 1848, in: Wolff: Berliner Revolutions-Chronik (wie Anm. 5), Bd. 2, S. 6/7, hier S. 7; zur Frage der ‚Republik‘ während der Berliner Revolution vgl. Hachtmann: Berlin 1848 (wie Anm. 5), S. 29, 112, 163/164 et pass. (über Reg.). „Den Hort der revolutionären Erhebungen erblickte er [Ernst Ludwig von Gerlach], dabei das französische Vorbild vor Augen, in den ,fanatisierten Stadtgemeinden‘, ein Topos, den die Konservativen in ihrer Kritik am liberalen Zeitgeist immer wieder heranzogen“; Schwentker: Konservative Vereine (wie Anm. 5), S. 60. So in einem Schreiben des Geh. Justizrats von Plötz auf Groß Weckow im Kreis Cammin vom 1. Januar 1849 an Leopold von Ledebur; alle ohne nähere Herkunftsangabe zitierten Quellen im Besitz des Verfassers. Ludwig Kalisch (Hrsg.): Der Demokrat, Nr. 17, 13. 8. 1848, S. 134; zum Bild Pommerns schon im Vormärz vgl. „Geschichten, wie man sie sich in Pommern erzählt“, in: Fliegende Blätter. Bd. 2. Nro. 25–48. München [1845], Nr. 28, S. 31; Nr. 29, S. 40; Nr. 31, S. 55.
„BERLIN STEHT HIER IM SEHR SCHLECHTEN RUF“
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Fall bei dem Direktor der Königlichen Kunstkammer zu Berlin und Hauptmann a. D. Leopold Freiherr von Ledebur10 (1799–1877) aus altem westfälischen Adelsgeschlecht, das der preußischen Krone Generäle und Majore und in direkter Linie einen Kammerpräsidenten (der Großvater) und einen Landrat (der Vater) gestellt hatte. Das Familienoberhaupt blieb mit Frau und zwei Söhnen in Berlin, um die Stellung zu halten, genauer, um für ‚König und Vaterland‘ Stellung zu beziehen. Denn als einer der Ersten trat Ledebur für die konservative Sache ein und wirkte mit bei der Vorbereitung und Gründung des ‚Patriotischen Vereins‘, der eine Vorreiterfunktion für gleich- oder ähnlich
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Vgl. zu ihm, seiner Tätigkeit und seinen Forschungen: Hubertus Fischer: Albrecht der Bär. Eroberer oder Erbe der Mark Brandenburg? Eine Kontroverse aus den Anfängen des „Archivs für die Geschichtskunde des Preußischen Staates“, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 59, 2008, S. 137–149; ders.: „Ehrenrettung für das gesammte Deutschland“. Ein Aufsatz Leopold von Ledeburs über das Ende des Templerordens in Deutschland, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte N.F. 18, 2008, H. 2, S. 153–170; ders.: Barfuß oder Barfus. Zwischen Barnim, Beeskow und Berlin. Ein Kapitel aus Fontanes „Wanderungen“ im Lichte unbekannter Zeugnisse, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 58, 2007, S. 174–185; ders.: „Der unverkennbare Falke . . .“. Der Briefwechsel zwischen Theodor Stenzel und Leopold von Ledebur zum Frecklebener Münzfund 1860, in: Herold-Jahrbuch N.F. 11, 2006, S. 71–78; Marion Bertram: Vom „Museum Vaterländischer Alterthümer“ im Schloß Monbijou zur „Sammlung der Nordischen Alterthümer“ im Neuen Museum. Die Ära Ledebur 1829–1873, in: Das Berliner Museum für Vor- und Frühgeschichte. Festschrift zum 175-jährigen Bestehen. Acta Praehistorica et Archaeologica 36/37, 2004/05, S. 31–79; Hubertus Fischer: Lisch und von Ledebur. Aspekte einer Geschichtsfreundschaft, in: G. C. F. Lisch (1801–1883). Ein großer Gelehrter aus Mecklenburg. Beiträge zum internationalen Symposium 22.– 24. April 2001 in Schwerin, Lübstorf 2003 (= Beiträge zur Ur- und Frühgeschichte MecklenburgVorpommerns 42), S. 71–85; ders.: „Preußen ist mir jetzt, was Athen und Sparte . . .“. Unbekannte Briefe Georg Wilhelm von Raumers an Leopold von Ledebur nebst Konzepten und Abschriften des Empfängers, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 45, 1999/2000, S. 209–274; ders.: „Grenzpfahl mit Ordenskreuz“. Überlegungen anläßlich unveröffentlichter Dokumente, in: Studia Germanica Posnaniensia 24, 1999, S. 67–86; ders.: „Potsdamer Geschichts-Dilettirungen“. Unveröffentlichte Briefe Louis Schneiders und Theodor Fontanes an Leopold von Ledebur mit Antwortkonzepten des Empfängers, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 47, 1996, S. 105–130; ders.: „Mit Gott für König und Vaterland!“ Zum politischen Fontane der Jahre 1861 bis 1863, in: Fontane Blätter 58, 1994, S. 62–88 [1. Teil] und Fontane Blätter 59, 1995, S. 59–84 [2. Teil]; Günter Mangelsdorf: Leopold von Ledebur und die Anfänge der Ur- und Frühgeschichtsforschung im westlichen Brandenburg, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 41, 1990, S. 250–256; Hubertus Fischer: Der „Treubund mit Gott für König und Vaterland“. Ein Beitrag zur Reaktion in Preußen, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 24, 1975, S. 60–127; Einleitung mit biographischer Skizze in: Leopold von Ledebur: Minden-Ravensberg. Denkmäler der Geschichte, der Kunst und des Altertums. Nach der im Jahre 1825 verfaßten Handschrift „Das Fürstentum Minden und die Grafschaft Ravensberg in Beziehung auf Denkmäler der Geschichte, der Kunst und des Altertums“. Hrsg. v. Gustav Heinrich Griese, Bünde/W. 1934; Ernst Friedlaender: Leopold Karl Wilhelm August Freiherr von Ledebur, in: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 18, Leipzig 1883, S. 113/114; Bruno Reuter: Leopold Freiherr von Ledebur, in: Zeitschrift für Preußische Geschichte und Landeskunde 17, 1878, S. 55–58.
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gerichtete Vereinsgründungen übernehmen sollte.11 Die betagte Mutter hingegen und die unverheiratete Schwester, die sich der unsicheren Lage nicht ohne Not aussetzen mussten, reisten ab in die Provinz. Das war am 10. April, am selben Tag, als man in der altbürgerlichen, sich liberalen Positionen öffnenden Spenerschen Zeitung las, dass „die Furcht durchaus unbegründet ist, welche die höheren Schichten der Gesellschaft in ängstlicher Spannung erhält“.12 Die 73-jährige Wilhelmine von Ledebur (1774–1856), Witwe des Ravensberger Landrates Ernst Freiherr von Ledebur (1768–1833), bestieg mit ihrer Tochter Henriette in Berlin am Stettiner Bahnhof den Zug und reiste – ein wahres Glück in diesen Tagen – „mit lauter Damen welche wohl alle zur gebildeten Klaße gehörten“13 – zunächst nach Stettin und von dort mit der Linienpost weiter nach Köslin, wo sie um 2 Uhr nachts der Sohn Wilhelm von Ledebur (1807–1871) in Empfang nahm. Nach dreitägiger Erholung von der strapaziösen Reise setzte am 14. April die Korrespondenz der Mutter mit dem in Berlin zurückgebliebenen Sohn Leopold ein. Bei diesen Briefen, die den Zeitraum von Mitte April bis Mitte Juni 1848 umfassen, handelt es sich, wie es in der Natur der Sache liegt, um ‚Familienbriefe‘. Indem die Familie jedoch auf vielfältige Weise von den revolutionären Ereignissen betroffen ist, spiegeln sich in ihnen auch Haltungen und Urteile wider, mit denen die altpreußische Autorin auf den plötzlichen Umschwung der Dinge reagiert. Dazu tritt der Wechsel der Perspektive: In Hinterpommern nimmt sie wahr, wie die öffentlichen Blätter ein wahres Schreckensbild von Berlin verbreiten, wo angeblich „der böse Geist des Pöbels und der schlecht gesinnten voran [herrscht]“14 und dieser ,Auswurf‘ der Gesellschaft zur Alleinherrschaft drängt. Die Briefe berühren Ereignisse auf verschiedenen Ebenen: lokale und regionale (Köslin, Tychow, Pommern), überregionale (Berlin) und auch nationale (Schleswig-Holstein, Posen), die aus dem Blickwinkel der Mutter durch das Band der Familie miteinander verflochten sind. Was darüber hinausgeht, verdankt sich der Sicht einer dem Ancien Régime verhafteten ExLandrätin, deren Wiege noch in einem friderizianischen Militärhaushalt stand.15 Sohn Wilhelm, bei dem sie Unterkunft fand, war Regierungsrat in Köslin und infolge der Heirat mit Hermine von Kleist (1811–1877) mit dem alteingesessenen Land- und Landesadel verschwägert. Sein Schwiegervater Ferdinand von Kleist (1789–1856), Fünfundvierzigster der vom ‚Stammvater Georg‘ sich herleitenden Linie, lebte als Gutsherr auf Tychow im Kreis Schlawe, war Mitglied des Landes-Ökonomie-Kollegiums und nahm von 1850– 1856 Mandate als konservativer Abgeordneter der preußischen Kammern wahr. Von Tychow, das König Friedrich Wilhelm IV. wiederholt durch seinen Besuch auszeichnete (Fer11 12 13 14 15
Vgl. Hachtmann: Berlin 1848 (wie Anm. 5), S. 606/607; Schwentker: Konservative Vereine (wie Anm. 5), S. 72–86, bes. S. 75–81. Zitiert nach Wolff: Berliner Revolutions-Chronik (wie Anm. 5), Bd. 2, S. 111. Wilhelmine von Ledebur an Leopold von Ledebur, Köslin, 14. April 1848. Wilhelmine von Ledebur an Leopold von Ledebur, Tychow, 27. Mai 1848. Der Vater Friedrich Gottlieb von Schladen (1730–1806) hatte es unter Friedrich II. bis zum Oberstleutnant und am Ende noch bis zum Generalleutnant gebracht.
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dinand von Kleist bekleidete das Amt eines Erbküchenmeisters in Hinterpommern), schrieb Wilhelmine ihre letzten Briefe. Die Ruhe der abgelegenen Bezirkshauptstadt Köslin wurde zunächst von außen gestört, durch die Vorboten des deutsch-dänischen Krieges, welcher Krieg aber bereits wenig später in das Leben der Familie eingriff. „Hier sieht es sehr kriegerisch aus. Heute hat die Landwehr, Knall und Fall nach Colberg marschiren müßen weil dort dänische Schiffe herum kreuzen“, schrieb Wilhelmine am 14. April aus Köslin. Preußen mit seiner langgestreckten Küste war auf dem Seeweg besonders verwundbar, und Kolberg kam wegen seiner aus der Belagerung von 1806 bekannten Festung eine wichtige Funktion für den Schutz der Küste zu. Wilhelmine beruhigte der Gedanke, „durch den Abmarsch der Landwehr wird es wohl aber stiller werden“.16 Nach dem zweiten Brief aus Berlin war indessen die Ruhe dahin. Was fern schien, war ihr plötzlich nahegerückt und hatte mit ihrem ältesten Sohn den Nächsten getroffen. Sie musste nun mit der „schlimme[n] Nachricht“17 von der Verwundung Ferdinands leben. Nach Fontanes Urteil, der ihn im Kaiser-Franz-Regiment zum Vorgesetzten gehabt hatte, war Ferdinand von Ledebur (1798–1880) „ein schöner Mann, Gardeoffizier comme il faut“.18 Der durch die Revolution ausgelöste Krieg gegen Dänemark hatte unversehens die Familie heimgesucht. Wilhelmine ging wie selbstverständlich davon aus, dass ihre Schwiegertochter „Bertha“, „so wie ich [...] ihre Liebe zu Ferdinand kenne, [. ..] unverzüglich zu ihm eilen wird um seine Pflege zu übernehmen [...]“. In diesen Familien mit ‚militärischem Beruf‘ mutete man den Frauen einiges zu: Die Schwiegertochter hatte eine sechsjährige Tochter und einen dreijährigen Sohn zu versorgen, außerdem war sie schwanger. – Sie tat, wie von ihr erwartet. Albertine (1811–1852), so ihr Taufname, war wohl schon in diesem Geist erzogen worden. Sie kam aus dem Hause derer von Ribbeck im Havelland – ein weiterer Fontane-Anklang. Die Sorge um Ferdinand zog die Sorge um Carl nach sich: „Von Carl erwähnst Du gar nichts; steht er noch bey Nauen?, wenn er nur nicht nach Polen muß, daß ist meine immerwährende Angst“.19 Das leitet zum zweiten Brennpunkt des Geschehens in diesen Aprilund Maitagen 1848 über. Neben dem Krieg in Schleswig-Holstein nahm der Aufstand im Großherzogtum Posen die Aufmerksamkeit in Berlin und besonders in den östlichen Teilen der Monarchie in Anspruch. Wilhelmine blieb davon nicht unberührt; sie sprach von ‚Polen‘ oder ‚Pohlen‘, wenn sie Posen meinte, was doch so falsch nicht war. Denn diese Provinz, die fast ganz aus dem alten Groß-Polen im engeren Sinne bestand, kam bei der dritten Teilung Polens 1795 an Preußen, ging 1807 an das neugebildete Großherzogtum Warschau über und fiel 1814 erneut an Preußen zurück. Sie erhielt den Titel eines Großherzogtums Posen und einen Statthalter in der Person des Fürsten Radziwill. 16 Wilhelmine von Ledebur an Leopold von Ledebur, Köslin, 14. April 1848. 17 Wilhelmine von Ledebur an Leopold von Ledebur, Köslin, 28. April 1848. 18 Theodor Fontane: Von Zwanzig bis Dreißig. Autobiographisches. 5. Aufl. Mit 40 Bildern und 1 Faksimile, Berlin 1910, S. 169. 19 Wilhelmine von Ledebur an Leopold von Ledebur, Köslin, 28. April 1848.
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Die posensche Frage gehörte 1848 wie die schleswig-holsteinische, aber auch die Südtiroler und die böhmisch-mährische Frage in den Zusammenhang von „Nationsbildung und Krise der Nationalitäten“.20 Im Vormärz zählte die Wiederherstellung eines selbständigen Polen unter Demokraten und Liberalen wie selbstverständlich zum Programm einer freiheitlichen Politik gegenüber den absolutistischen Teilungsmächten Preußen, Österreich und Rußland. In den ersten Monaten nach der Revolution spaltete sich jedoch die öffentliche Meinung, bis sich dann in der Paulskirche die „nationalantagonistische Tendenz“21 durchsetzte und Preußens negative Polenpolitik ihre parlamentarische Weihe durch die Deutsche Nationalversammlung erhielt. Hier befinden wir uns noch in den Anfängen des Konflikts, der Wilhelmine jedoch heftig bewegte. Carl von Ledebur (1806–1872), ihr dritter Sohn, Hauptmann im 2. Garde-Regiment, sollte sich als „Verfasser eines Werkes von wahrhaft deutschem Fleiße“22 einen Namen machen: Tonkünstler-Lexikon Berlins von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart (Berlin 1860 u. 1861). In den Briefen verbindet sich sein Name mit ,Polenangst und Polenschrecken‘, um Ernst Moritz Arndts (1769-1860) berühmt-berüchtigtes achtundvierziger Diktum Polenlärm und Polenbegeisterung zeitgemäß zu variieren: „Jetzt ist meine tägliche Angst daß bey den großen Unruhen in Pohlen das 2te Garde Regiment dorthin geschikt wird und dann würde ich täglich in Angst und Sorgen um Carl sein, denn diese abscheuliche Bande geht ja schändlich mit den Preußen um“.23 Das spielte sich von Pommern aus gesehen in der südlichen Nachbarschaft ab. Tatsächlich aber war es so: „Wenn die Gewalttaten der Polen barbarische Ausbrüche von Unterdrückten waren, so trugen die Gegenmaßnahmen alle Züge einer brutalen Obrigkeitsgesinnung“.24 Im Großherzogtum Posen war nach der Märzrevolution ein Aufstand für die Befreiung von der preußischen Herrschaft ausgebrochen. Ende März versprach die Regierung die Bildung einer Kommission zur nationalen Reorganisation des Großherzogtums. Auf der Grundlage dieses Versprechens gelang dem klugen General von Willisen der Abschluß der Konvention von Jaroslawiec, wodurch sich die Aufständischen im Gegenzug zur Niederlegung der Waffen verpflichteten. Die Zusagen wurden jedoch nicht gehalten. Bereits am 14. April verfügte der König die Teilung des Großherzogtums Posen in einen östlichen, polnischen Teil und einen westlichen, deutschen Teil, der nicht der Reorganisation unterlag und umgehend dem Deutschen Bund einverleibt wurde. Der königliche Erlass vom 26. April schloss dann weitere Gebiete von der Reorganisation aus, woraufhin die Aufständischen erneut zu den Waffen griffen und bei Miłosław einen Sieg errangen. Doch schon am 9. Mai mussten sie der preußischen Übermacht in diesem ,asymmetrischen Krieg‘ weichen. Die Teilnehmer des Aufstands wur20 Vgl. Wolfram Siemann: Die deutsche Revolution von 1848/49, Frankfurt/M. 1985, S. 146–157. 21 Ebd., S. 149. 22 Hermann Wagener (Hrsg.): Neues Conversationslexikon. Staats- und Gesellschaftslexikon. 12. Bd., Berlin 1863, S. 91–93 s.v. Ledebur. 23 Wilhelmine von Ledebur an Leopold von Ledebur, Köslin, 6. Mai 1848. 24 Valentin: Geschichte der deutschen Revolution (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 539.
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den mit den brutalsten Mitteln verfolgt. Wilhelmine stand am 18. Mai noch unter dem Eindruck früherer Nachrichten und sah in der Insurrektion nur das Rasen einer blindwütigen Mörderbande: „[...] und diese Bestien dort meuchelmorden ja wo sich ihnen die Gelegenheit darbietet“.25 Soweit die Sorge um Carl und Ferdinand. Und Leopold? Deinen Brief vom 2ten Mey habe ich erhalten sehe aber leider daraus daß es in Berlin noch immer so unruhig ist, und daß du am Ende dabey zu Grunde gehen mußt, ich dacht du hättest mehr als deine Pflicht gethan und könntest dich immer deine schwache Gesundheit vorschützend mit Ehren zurückziehen denn was soll aus deinen Kindern werden wenn du unterliegst?26 Es waren die Tage, als Leopold sich für den ‚Patriotischen Verein‘ engagierte und dabei nolens volens exponierte. So standen die Söhne im April und Mai des Revolutionsjahres überall ,in Front‘, militärisch und politisch. Bei Wilhelm indessen nahm das leicht komische Züge an und gab zu einer häuslichen Szene Veranlassung, die selbst das Kind zum Kämpfer werden ließ: Hier ist die Bürgerwehr auch eingeführt, Wilhelm kam neulich mit einem großen Gewehr welches er kaum schleppen vermochte nach Hause, welches bey Herminen aber große Angst erregte, sie versicherte es nicht dulden zu wollen daß er sich deßen bediente, worauf der kleine frug, ob sie sich von den Feinden lieber wolle die Fenster einschlagen und ihr Geld nehmen laßen, denn wenn sie den Vater nicht herunter ließe, so könne er uns auch nicht beschützen, ich denke Wilhelm wird sein schweres Gewehr wohl mit einem Säbel vertauschen, denn da er nie ein solches in Händen gehabt hat, weiß er auch nicht [da]mit umzugehen und möchte am Ende ein Unglück anrichten.27 Der vierjährige Theodor von Ledebur fand später sein friedliches Auskommen als Rendant der Berliner Kreissynoden. Parteien bildeten sich auch in dem 8350 Einwohner zählenden Köslin heraus. „Hier herrschen wie allerorts verschiedene Meinungen, doch scheint es mir daß was ich die schlechte Meinung nenne, die überwiegende ist“, urteilte Wilhelmine bereits Ende April. Bei Meinungen blieb es nicht: Hier nennen sie die Partei zu der Wilhelm gehört die Aristokratische[.] Dazu gehören Seidlitz, Senden[,] Thermos, Bonins, Hagens und Ledeburs; Volksversamlungen und Wahlen giebt es hier auch, auch wurden hier den beliebten Ständchens gebracht, man hatte auch im Sinn den OberRegierungsRath v Senden die Fenster einzuwerfen, wel-
25 Wilhelmine von Ledebur an Leopold von Ledebur, Köslin, 18. Mai 1848. 26 Wilhelmine von Ledebur an Leopold von Ledebur, Köslin, 6. Mai 1848. 27 Wilhelmine von Ledebur an Leopold von Ledebur, Köslin, 28. April 1848.
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ches aber von den gut gesinnten und gemäßigten verhindert wurde[,] sonst ist alles ruhig.28 Der Kreis der „unsrigen“ war nach Wilhelmines Familienverständnis größer, umfasste auch die weitere Verwandtschaft, und von Brief zu Brief teilt sich der Eindruck mit, dass diese infolge der Revolution arg auseinandergesprengt ist, so dass Nachrichten immer wichtiger werden. Der im Namen der deutschen Nation geführte Krieg gegen Dänemark erscheint ihr schlicht als absurd, nur geeignet zur fortgesetzten Dezimierung der Familie, wenn nicht ihres Standes, mit unheilvollen Folgen für die Zukunft: „denn es scheint daß dieser Krieg noch lange nicht beendet sein wird, nur dazu dient daß viele der unsrigen ihr Leben laßen werden, wir nichts bezwekken, uns aber eine Unzahl von Feinde auf den Halse laden werden“.29 So ragte die Revolution mit ihren Nah- und Fernwirkungen überall in die Familie hinein. Da schien es am Ende besser, am Ort zu sein, als sich auf einem Gut in Hinterpommern trotz der „Frische des Rasens und der Schatten welche die herlichen Bäume geben“30 durch Zeitungen beunruhigen zu lassen. Zu Leopolds Geburtstag am 2. Juli wolle sie wieder in Berlin sein, schrieb Wilhelmine in ihrem letzten Brief aus Tychow. Als sie drei Monate zuvor Preußens Hauptstadt verlassen hatte, waren Freiheit und Einheit zur Losung geworden, Freiheit auch für Polen und Einheit mit den Deutschen in Schleswig und Holstein. „Die Befreiung Polens, die Erhebung Schleswig-Holsteins“, so treffend schon Valentin, „– beide Parolen hatte sich Preußen in der letzten Märzwoche angeeignet; beide nahmen Preußens staatliche Kraft aufs stärkste in Anspruch, beide waren erfüllt vom nationalen Gedanken, in dem sich der Zeitgeist am urwüchsigsten ausdrückte“.31 Als Wilhelmine Pommern verließ, war das ‚ihr‘ Preußen nicht mehr: „[...] daß ist nun das verheißene Glück von Freiheit, und Einigkeit, o möchten wir doch immer nur Preußen, und nichts als Preußen geblieben sein, jetzt sind wir eine Null im Weldall, und werden nie wieder zu der Höhe hinauf kommen, wo wir gestanden haben“.32 Revolutionsgeschichte als Familiengeschichte? Sie wäre erst noch zu schreiben, da wir wenig darüber wissen, wie die Familie als bedeutendste Gruppenform dieser Zeit in der Revolution agierte, reagierte und interagierte. Mitunter ging der Riss durch die Familien, auch im Adel, wie das Beispiel des schlesischen Gutsbesitzers Eduard Graf von Reichenbach (1812–1869) zeigt, der als führender Vertreter der Linken in der Preußischen Nationalversammlung auf dem „Zweiten Demokratenkongreß in Berlin“ vom 26. bis 30. Oktober 1848
28 Ebd. 29 Wilhelmine von Ledebur an Leopold von Ledebur, Tychow, 18. Juni 1848. 30 Wilhelmine von Ledebur an Leopold von Ledebur, Tychow, 23. Mai 1848. 31 Valentin: Geschichte der deutschen Revolution (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 459/460. 32 Wilhelmine von Ledebur an Leopold von Ledebur, Tychow, 18. Juni 1848.
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in den „Central-Ausschuß“ gewählt wurde.33 Während er am 2. Juni 1848 gemeinsam mit den schlesischen Demokraten Dr. Julius Stein (1813–1883) und Dr. Karl Friedrich Moritz Elsner (1809–1894) die Aufhebung des Jagdrechts und anderer feudaler Lasten beantragt hatte, erregte sich nach der Verabschiedung des Jagdgesetzes unter dem Ministerpräsidenten Ernst von Pfuel (1779–1866) und mit Zustimmung des liberalen Adligen Ludwig Graf York von Wartenburg (1805–1865) Eduards Onkel, der 1777 geborene Hofjägermeister Heinrich Graf von Reichenbach auf Brustawe, heftig über das ern[euerte] Jagdgesetz von dem vortreflichen? Pfuhl (der Hölle) entstanden, von dem ehrenwerthen? York und Konsorten für nöthig befunden, und ausgeführt von dem Abschaum der Menschheit; nicht nur durch Ausrottung aller edlen und nützlichen Thiere, (welche nicht im Stall erzogen wurden, aber in der ehemals so hochgeachteten, jezt verhunzten, geschändeten lieben Natur) sondern auch durch Straßenraub, Mord und Brand. Völlige Verwilderung der schon theilweise zur Bestie gewordenen Menschheit steht uns bevor, nebenbey Unglücksfälle in unzähliger Menge, wenn dieses unselige Gesetz nicht bis auf das lezte Andenken an dasselbe vertilgt wird.34 Auch so konnten Metropole und Provinz, Parlament und ländliche Herrschaft in den Repräsentanten einer herausgehobenen, diesmal schlesischen Familie35 gegeneinanderstehen. Für Hinterpommern wäre die ,Familiengeschichte der Revolution‘ zwischen dem bekannten Achtundvierziger und linken Berliner Abgeordneten Lothar Bucher (1817–1892) und seinem im konservativen Vereinswesen der Bezirkshauptstadt Köslin stark engagierten Vater, dem Gymnasiallehrer August Leopold Bucher, eine Untersuchung wert. Auf der erwähnten Külzer Tagung stellte Christian Andree den aufschlussreichen Berliner Briefwechsel Rudolf Virchows (1821–1902) im Jahr 1848 mit seinem Vater in der hinterpommerschen Kreisstadt Schivelbein vor, bei dem auch die Wechselbeziehung zwischen Hauptstadt und Provinz zur Sprache kam. Generell eignet Familienkorrespondenzen eine besondere Nähe zu den beteiligten Personen, sie geben Aufschluss über Einstellungen, Motivlagen und Haltungen, über das, worüber Behördenakten gewöhnlich schweigen. Revolutionsgeschichte als Provinzgeschichte? Sie ist in diesem Fall ein echtes Desiderat, denn von Pommern aus wird der Antagonismus zwischen Provinz und Metropole frühzeitig geschürt und auf allen Kanälen als Konfrontation zwischen dem aufrührerischen ‚Pöbel‘ der Großstadt und den braven königstreuen Leuten im Land inszeniert. Franz Mehring hat von der „hinterpommerschen Vendée“36 gesprochen. Die Metropole reagiert metonymisch33
Vgl. Helene Nathan: Aus dem Leben eines Achtundvierzigers [= Eduard Graf von Reichenbach]. Ein Beitrag zur Geschichte der preußischen Demokratie, in: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens, Bd. 48, 1914. 34 Heinrich Graf von Reichenbach-Brustawe an Leopold von Ledebur, Breslau, 29. Juli 1849. 35 Vgl. z. B. Carl Heinrich Fabian Graf von Reichenbach 1746–1828: Meine biographische Skizze. Hrsg. v. Heinrich Graf von Reichenbach, Privatdruck [Köthen] 2001. 36 Franz Mehring: Geschichte der deutschen Sozialdemokratie. 1. Teil. Von der Julirevolution bis zum preußischen Verfassungsstreite 1863, Berlin 1960 (= Franz Mehring, Gesammelte Schriften 1), S. 371.
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polemisch: „Berlin an die Aufwiegler der Provinzen. Ein wahres Wort zur Scheidung zwischen Lüge und Wahrheit“,37 oder auch metonymisch-satirisch: „Berlin ist an allem Unglück Schuld. Offenes politisches Sendschreiben von Carl Emil von Plumpsack, hinterpommerschem Landedelmann auf und zu Ochsenstall“.38 In der Provinz bleibt die inszenierte Konfrontation nicht ohne Wirkung: Die Berliner stehen hier im sehr schlechten Ruf, der Unschuldige wird mit dem Schuldigen verdamt. Wa[h]r ist es, die Pommern, lieben ihren König mehr als alle die andern Provinzen, und wünschen den Prinzen von Preußen zurük und als Gouverneur von Pommern zu haben.39 Selbst die feste Altpreußin kam dagegen nicht mehr an: [...] gewiß ist es kränkent für die redlich gesinnten Bürger daß man sie mit dem Pöbel verwechselt und ihnen zuschreibt woran ihr Herz nicht denkt, und sie in den öffentlichen Blättern verunglimpft; allein so geht es leider immer in der Weld, der Unschuldige muß mit dem Schuldigen leiden, ich habe mein möglichstes gethan, die Bürger zu rechtfertigen allein selten Glauben gefunden; so sehr ist Jedermann gegen sie eingenommen.40 Wie kam die Provinz in die Metropole? „Es währte [...] nicht lange“, schreibt ein Zeitzeuge über die Vossische Zeitung, „und sie erkannte ihren Beruf: der Cloak zur Aufnahme des gesammten Unraths zu sein, den die Provinzen ihr – gegen Insertionskosten – zuführten“.41 Den Aufbau dieser Gegenöffentlichkeit über so genannte „Eingesandts“ im meistgelesenen Hauptstadtorgan mit „13 000 Berliner und 10 000 auswärtige[n] Bezieher[n]“42 hat Leopold von Ledebur in einer Ausschnittsammlung penibel dokumentiert, aufschlussreich betitelt mit Kundgebungen im Sinne des patriotischen Vereins.43 Aber die Konstituierung eben dieser Gegenöffentlichkeit, ihrer Medien, ihrer Lenkung und Akteure, wäre ein neues Thema – ein Thema, das ebenso der Aufarbeitung bedarf. Abgesehen von ersten ‚Contrerevolutionären Stimmen aus den Provinzen‘, darunter die Aufrufe des Gutsbesitzers Heinrich von Wolden auf Wusterbarth im pommerschen Kreis Belgard,44 bildete sich bald eine systematische und organisierte Opposition in den Provinzen heraus, die „nicht müde wurde, [...] ihre gegen
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Großformatiges Flugblatt (Maueranschlag). Unterz. Beta, d. i. Heinrich Beta, eigentl. Bettziech (1813– 1876), Journalist und nationalökonomischer Schriftsteller; 1850–1861 als politischer Flüchtling in London. Großformatiges Flugblatt (Maueranschlag). Zu haben Charlottenstraße 15. Druck von E. Lauter & Comp., Klosterstraße Nr. 64. Wilhelmine von Ledebur an Leopold von Ledebur, Köslin, 18. Mai 1848. Wilhelmine von Ledebur an Leopold von Ledebur, Tychow, 27. Mai 1848. Wolff: Berliner Revolutions-Chronik (wie Anm. 5), Bd. 2, S. 10. Walther G. Oschilewski: Zeitungen in Berlin. Im Spiegel der Jahrhunderte, Berlin 1975, S. 57. Im Besitz des Verfassers. Wolff: Berliner Revolutions-Chronik (wie Anm. 5), Bd. 2, S. 32–42.
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die Hauptstadt gerichteten Beschuldigungen geltend zu machen“.45 Das Musterstück hierfür lieferte wiederum Hinterpommern, und zwar mit dem sogenannten Cösliner Manifest vom 23. Mai 1848, das ein lebhaftes mediales Echo auslöste.46 Die Wirkungen der Kampagne teilten sich auch Wilhelmine von Ledebur mit, als sie von der Verunglimpfung der Berliner Bürger in den „öffentlichen Blättern“ sprach. Was sie jedoch nicht zur Kenntnis nahm, und das zeigt, in welch eingeschränktem Kreise sie sich bewegte, war der anfangs noch spürbare Widerstand gegen diese Anti-Berlin-Kampagne in der Provinz selbst. „Zur Abwehr von Verdächtigungen“ wurden nämlich aus vielen kleinen Städten des Regierungsbezirks Köslin im Mai und Juni 1848, als auch Wilhelmine aus Köslin und aus Tychow nach Berlin schrieb, „Briefe an die Blätter und Vereine der Hauptstadt gerichtet, welche theils Versicherungen der Sympathie mit den berliner Bewegungen enthielten, theils die reactionären Umtriebe in der Provinz zu enthüllen suchten“.47 Hier meldete sich das kleinstädtische Milieu der Bürgerversammlungen und Ressourcen nicht nur Pommerns, sondern auch anderer östlicher Provinzen zu Wort, das Milieu der Handwerker, Kaufleute, Kommunalvertreter, Gerichtsassessoren, Kreisärzte etc., die sich oft in ‚constitutionellen Clubs‘ organisierten. Mit diesem Milieu hatte die alte Landrätin keine Berührung. Es hielt sich auch nicht lange, jedenfalls nicht über die Revolutionszeit hinaus, so dass das Land mit Landrat, Gutsbesitzern, Geistlichen und Lehrern alsbald wieder das politisch-ideologische Regiment in der Provinz übernahm.48 Aus dem unter diesen Bedingungen fortdauernden Antagonismus zwischen Metropole und Provinz samt seinen ideologischen Zuspitzungen und Mystifizierungen von ,kranker Stadt‘ und ,gesundem Land‘49 ist dann ein Gutteil der politischen Folgegeschichte hervorgegangen. Beim Adel sogar bis nach 1918, insoweit seine mentale Verfassung bis in die Weimarer Zeit von „Landbindung und Großstadtferne“50 geprägt blieb. „Auf einem Gebiete muß der Adel seine Stellung ganz besonders sorgfältig wahren, nämlich auf dem Lande“, schrieb der pommersche Gutsbesitzer und spätere Widerständler Ewald von Kleist-Schmenzin (1890–1945). „In einem großen Landbesitz liegen die Wurzeln seiner Kraft und werden sie immer liegen. Die Führung auf dem Lande darf nie verloren werden“.51 Das achtundvierziger Stereotyp der großstädtischen „Pöbelherrschaft“52 lebte 45 Ebd., Bd. 3, S. 186. 46 Ebd., Bd. 3, S. 188–198. 47 Ebd., Bd. 3, S. 192. 48 Zu späteren Veränderungen vgl. Ilona Buchsteiner: Pommerscher Adel im Wandel des 19. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 25, 1999, S. 343–374; dies.: Großgrundbesitz in Pommern 1871–1914. Ökonomische, soziale und politische Transformation der Großgrundbesitzer, Berlin 1992. 49 Vgl. Clemens Zimmermann, Jürgen Reulecke (Hrsg.): Die Stadt als Moloch? Das Land als Kraftquell? Wahrnehmungen und Wirkungen der Großstädte um 1900, Basel u. a. 1999. 50 Stephan Malinowski: Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat, Berlin 2000 (= Elitenwandel in der Moderne, Bd. 4), S. 59–72. 51 Ewald von Kleist-Schmenzin: Adel und Preußentum, in: Süddeutsche Monatshefte 23, 1925/26, S. 378–381, hier S. 379.
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nach der Revolution von 1918/19 in Adelskreisen wieder auf, und herrenreitermäßig sollte das „Reichsbabel“53 Berlin vom Land aus genommen werden – wenn es nach Elard von Oldenburg-Januschau (1855–1937) gegangen wäre, der dem Putschanführer Kapp zugerufen haben will: „Nehmen Sie Reitstunden! Wer Berlin in die Hand bekommen will, muß durchs Brandenburger Tor geritten kommen!“54 Im Cösliner Manifest vom 23. Mai 1848, erstunterzeichnet vom Gutsherrn von KleistWarnin und August Leopold Bucher als Prorektor des Gymnasiums, hatte es nach einer weitläufigen Suada geheißen: Sollte aber auch diese erste und letzte Kundgebung unserer Gesinnungen, unsers Willens ungehört an tauben Ohren verhallen, sollten immer und immer auf’s Neue Aufreizungen der Massen in Berlin und Störung der öffentlichen Ordnung [sowie] Hinderung der öffentlichen Gewalten in Ausübung der öffentlichen Gewalt die Hebung des gesunkenen Credits, des Wohlstandes und der Gesetzlichkeit niederhalten; nun denn! in der Gesammtheit des Volkes nach Berlin, um an Ort und Stelle endlich den Volkswillen öffentlich zu proclamiren.55 Der Obristlieutenant a. D. und Gutsherr Heinrich von Wolden auf Wusterbarth, Belgardschen Kreises, der bereits im März 1848 einen ähnlichen Aufruf erlassen hatte,56 rief am 7. Juni 1848 erneut zu „eine[r] Reise nach der Hauptstadt“ auf, etwas moderner als von Oldenburg-Januschau gut siebzig Jahre später, nämlich sich „am 18. Juni, Morgens 6 Uhr, jenem Tage, einst so gesegnet für Preußens Geschichte, auf dem Bahnhofe zu Stettin zu versammeln“.57 Der Zug kam nicht zustande; am 18. Juni schrieb Wilhelmine ihren letzten Brief aus Tychow mit dem zitierten Satz: „o möchten wir doch immer nur Preußen, und nichts als Preußen geblieben sein“. Ist es Zufall, daß sich ihr dieser Stoßseufzer an „jenem Tage, einst so gesegnet für Preußens Geschichte“ entrang? Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Es war der Tag der Schlacht bei Belle-Alliance 1815, vielhundertmal besungen, und es war der Tag der Schlacht von Fehrbellin 1675: „Derfflinger greift an, die Schweden fliehn, / Grüß Gott dich Tag von Fehrbellin. // Grüß Gott, dich Tag, du Preußen-Wiege, / Geburtstag und Ahnherr unsrer Siege, / Und Gruß dir, wo die Wiege stand, / Geliebte Heimat, Havelland!“58 Versteht sich, dass Wilhelmine gerade an diesem Tag von Deutschlands Freiheit und Einheit nichts wissen wollte. 52 Fedor von Zobeltitz; zitiert nach: Malinowski: Vom König zum Führer (wie Anm. 50), S. 71. 53 Für Berlin, in: Deutsches Adelsblatt 1900, S. 994/995; zitiert nach Malinowski: Vom König zum Führer (wie Anm. 50), S. 68. 54 Elard von Oldenburg-Januschau: Erinnerungen, Berlin 1936, S. 212; zitiert nach Malinowski: Vom König zum Führer (wie Anm. 50), S. 65. 55 Wolff: Berliner Revolutions-Chronik (wie Anm. 5), Bd. 3, S. 190. 56 Ebd., Bd. 2, S. 39/40. 57 Ebd., Bd. 3, S. 187. 58 Theodor Fontane: Havelland, in: ders.: Gedichte. 3 Bde. Hrsg. v. Joachim Krueger, Anita Golz. 2., durchges. und erw. Aufl., Berlin 1995 (= Große Brandenburger Ausgabe), Bd. 1, S. 224–226, hier S. 225/226.
II. Öffentlichkeitsformen
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FRIEDRICH BUCHHOLZ UND DIE KONSTELLATION POLITISCHER ÖFFENTLICHKEIT
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Friedrich Buchholz und die Konstellation politischer Öffentlichkeit im frühen 19. Jahrhundert
Die Genese der „Zeitungsstadt Berlin“ erreicht um 1800 einen ersten Höhepunkt.1 Ab 1780 nehmen Zeitschriftengründungen sprunghaft zu, mit dem Baseler Friedensjahrzehnt von 1795 bis 1805 ist noch einmal ein Anstieg zu verzeichnen.2 In seiner – immer noch nicht vollständigen – Bibliographie zu den Berliner Zeitungen und Zeitschriften von 1750 bis 1820 zählt Sebastian Panwitz 463 Periodika, von denen rund 80 % nach 1780 gegründet wurden.3 Darunter finden sich mit Karl Julius Langes Telegraph (1807) und Heinrich von Kleists Berliner Abendblättern (1810) auch die ersten Tageszeitungen. Erstmals entsteht neben der höfischen Verlautbarungspublizistik auch eine ‚raisonnierende‘ politische Presse. Alle zentralen Reformvorhaben der Umbruchszeit um 1800 sind so Gegenstand einer öffentlichen Diskussion, in der unterschiedliche Stimmen und politische Strömungen zum Ausdruck kommen.4 In der pressegeschichtlichen Forschung der letzten Jahre haben Historiker wie Andrea Hofmeister-Hunger, Wolfram Siemann, Wolfgang Piereth, Bernd Sösemann, Bernhard Fischer oder Eduardo Tortarolo, gezeigt, dass Staat und Markt in der ersten Hälfte des
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Peter de Mendelssohn: Zeitungsstadt Berlin. Menschen und Mächte in der Geschichte der deutschen Presse, Frankfurt/M. u. a. 1982. Axel Schumann: Berliner Presse und Französische Revolution. Das Spektrum der Meinungen unter der Preußischen Zensur 1789–1806. Diss. Berlin 2001. Mit weiteren Literaturhinweisen: Sebastian Panwitz: Berliner Zeitungen und Zeitschriften 1750–1820, in: Berliner Klassik. Eine Großstadtkultur um 1800/Online-Dokumente, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften 2001, URL: http://www.berliner-klassik.de/ berliner_klassik/ projekte/ forschung/ werkvertraege/ panwitz_zeitungen/ zeitungen.html (letzter Zugriff am 2. 1. 2011). Fritz Valjavec: Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland 1770–1815 (1951). Neu hrsg. v. Jörn Garber, Düsseldorf 1978; Ludger Herrmann: Die Herausforderung Preußens. Reformpublizistik und politische Öffentlichkeit in Napoleonischer Zeit (1789–1815), Frankfurt/M. 1998; Peter Weber: Literarische und politische Öffentlichkeit. Studien zur Berliner Aufklärung. Hrsg. v. IwanM. D’Aprile und Winfried Siebers, Berlin 2006; nur als Quellensammlung zu gebrauchen: Otto Tschirch: Geschichte der öffentlichen Meinung in Preußen im Friedensjahrzehnt vom Baseler Frieden bis zum Zusammenbruch des Staates. 2 Bde., Weimar 1933.
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19. Jahrhunderts nicht getrennt, sondern vielfältig aufeinander verwiesen sind.5 Politische Öffentlichkeit erscheint als eine komplexe Konstellation aus erweitertem literarischem Markt und restriktiver wie aktiver Pressepolitik, Zensur und Propaganda sowie unterschiedlichen Akteuren (Publikum, Verleger, Autoren und Staatsbeamte). Jürgen Habermas’ viel kritisierte und zugleich immer noch grundlegende Unterscheidung von (höfischer) repräsentativer und (städtischer) bürgerlicher Öffentlichkeit bietet dabei einen Analyserahmen, der im Hinblick auf diese Komplexität zu erweitern wäre.6 Mit dem Wandel der politischen Öffentlichkeit geht die Herausbildung des neuen Berufsbildes des Journalisten oder ‚Zeitschriftstellers‘ einher.7 Einer zunehmenden Zahl von politischen Publizisten ist es nun möglich, vom Schreiben zu leben. Großverdiener und Fürstenberater wie Friedrich Gentz oder Johannes Müller sind nur die Spitze einer ganzen Reihe von Autoren wie Karl Ludwig Woltmann, Saul Ascher, Karl Julius Lange, Adam Müller, Heinrich von Kleist und anderen, die jeweils andere Tätigkeiten – von der Professur über den Handel bis zur Offizierslaufbahn – aufgeben oder ausschlagen, um sich hauptsächlich dem politischen Journalismus widmen zu können.8 Dieses Feld verheißt nicht nur größere Einkommenschancen, sondern auch weniger Abhängigkeit. Friedrich Buchholz galt bereits den Zeitgenossen als ein besonders bemerkenswertes Beispiel dieses neuen Typus des politischen Intellektuellen und Journalisten.9 Aus einem 5
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Andrea Hofmeister-Hunger: Pressepolitik und Staatsreform. Die Institutionalisierung staatlicher Öffentlichkeitsarbeit bei Karl August von Hardenberg, Göttingen 1994; dies.: Opposition via Pressepolitik. Netzwerke bei der Arbeit, in: Bernd Sösemann: Kommunikation und Medien in Preußen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Berlin 2002, S. 303–322; Wolfgang Piereth: Propaganda im 19. Jahrhundert. Die Anfänge staatlicher Pressepolitik in Deutschland (1800–1817), in: Ute Daniel, Wolfram Siemann (Hrsg.): Propaganda, Meinungskampf, Verführung und Sinnstiftung (1789–1989), Frankfurt/M. 1994, S. 21–43; Bernhard Fischer: Von den „Europäischen Annalen“ zur Tribüne. J. F. Cottas politische Periodika. Universalhistorische Geschichtsschreibung und „Innere Staatsbildung“, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 50, 1998, S. 295–315; Eduardo Tortarolo: Zensur als Institution und Praxis im Europa der Frühen Neuzeit. Ein Überblick, in: Helmut Zedelmaier, Martin Mulsow (Hrsg.): Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit, Tübingen 2001, S. 277–294. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft (1962). Mit einem Vorwort zur Neuauflage 1990, Frankfurt/M. 1990; Aspekte der Kritik an Habermas‘ Konzept sind dargestellt bei: Peter Uwe Hohendahl (Hrsg.): Öffentlichkeit. Geschichte eines kritischen Begriffs, Stuttgart, Weimar 2000. Vgl. zu Begriff und Selbstverständnis des ‚Zeitschriftstellers‘: Inge Rippmann: „Die Zeit läuft wie ein Reh vor uns her“. Der Zeitschriftsteller als Geschichtsschreiber, in: dies.: „Freiheit ist das Schönste und Höchste in Leben & Kunst“. Ludwig Börne zwischen Literatur und Politik, Bielefeld 2002, S. 251– 283; vgl. außerdem: Jörg Requate: Journalismus als Beruf. Entstehung und Entwicklung des Journalistenberufs im 19. Jahrhundert. Deutschland im internationalen Vergleich, Göttingen 1995. Vgl. Iwan-M. D’Aprile: ‚Die letzten Aufklärer‘. Politischer Journalismus in Berlin um 1800, in: Ursula Goldenbaum, Alexander Kosenina (Hrsg.): Berliner Aufklärung. Ein kulturwissenschaftliches Jahrbuch. Bd. 4, Hannover-Laatzen 2011, S. 11–37. Als ein solcher neuer Typus steht Buchholz auch zentral in Hans H. Gerths klassischer Studie: Bürgerliche Intelligenz um 1800. Zur Soziologie des deutschen Frühliberalismus, Göttingen 1976 (Ausgabe der Dissertation Frankfurt/M. 1935). Grundlegend zu Buchholz‘ publizistischer Tätigkeit außerdem
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armen Ruppiner Landpastorenhaushalt stammend, musste er sein Theologie- und Literaturstudium in Halle aus finanziellen Gründen abbrechen und bereits als 19-jähriger eine Lehrerstelle an der Ritterakademie in Brandenburg an der Havel annehmen. Das dürftige Einkommen und Demütigungen durch die adligen Schüler förderten seinen Entschluss, im Jahr 1800 in die Hauptstadt zu gehen, um hier als freier Schriftsteller zu leben.10 Nach einigen Romanen und Achtungserfolgen mit theoretischen Abhandlungen konnte Buchholz bei Unger als Redakteur der Vossischen Zeitung die Auflage schon in den ersten acht Monaten um 1.500 Abonnenten und den Reingewinn von 335 Reichstaler (im Folgenden rt) im Jahrgang 1802/3 auf mehr als das Zehnfache, nämlich 3.881 rt, im Jahrgang 1804/05 steigern. Bei Ungers Tod und der Übernahme des Verlags durch dessen Witwe Friederike Unger fanden sich in den Verlagsbüchern ausstehende Wechsel an Buchholz in Höhe von 2.000 rt.11 Bei seinem nächsten Verleger, Johann Friedrich Cotta, weisen die Geschäftsbücher für den Zeitraum von Oktober 1804 bis Januar 1807 Zahlungen von 1.825 rt an Buchholz für politische Werke wie den Neuen Leviathan (1805) und Beiträge zu den Europäischen Annalen aus.12 Seine größten Markterfolge hat Buchholz dann aber in der Zusammenarbeit mit Johann Daniel Sander und der Skandalschrift Galerie Preußischer Charaktere (1808) erzielt, deren erste Auflage in Höhe von 6.000 Exemplaren bereits vergriffen war, als das Buch von der Zensur verboten wurde. In seinem Selbstporträt in der Galerie Preußischer Charaktere verweist Buchholz stolz darauf, dass er seit acht Jahren in der Lage sei, seine sechsköpfige Familie von nichts als von seinem „schriftstellerischen Fleiß“ zu ernähren.13 Auch anderen gilt er als Personifikation des ‚freien Schriftstellers‘: in Saul Aschers Kabinett Berlinischer Karaktere von 1808 wird Buchholz als ‚Privatperson‘ mit ‚public character‘ beschrieben, Friedrich August Wolf bezeichnet ihn in einer Denkschrift im Kontext der Universitäts-
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die bio-bibliographische Studie von: Rütger Schäfer: Friedrich Buchholz. Ein vergessener Vorläufer der Soziologie. 2 Bde., Göppingen 1972; Erhard Bahrs: Friedrich Buchholz. Ein preussischer Publizist 1768–1843, Berlin 1907. Das Einkommen der Lehrer an der Ritterakademie betrug zwischen 180 rt und 300 rt (je nach „Ancienneté“ und „Zahl der Eleven“) bei 18–20 Lectionen wöchentlich und zusätzlichen Betreuungsaufgaben wie z. B. den „Rechnungs-Etat ihrer Pflegebefohlenen verwalten“ und „nicht nur das literärgeistige, sondern auch das moralische und physische Wohl derselben treu und gewissenhaft zu berathen“. Kurze Geschichte der Ritter-Akademie zu Dom-Brandenburg in dem ersten Jahrhunderte, vom 4. August, 1704–1805. Entworfen v. J. D. Arnold, Brandenburg 1805, S. 81/82. Mark Lehmstedt: „Ich bin nun vollends zur Kaufmannsfrau verdorben“. Zur Rolle der Frau in der Geschichte des Buchwesens am Beispiel von Friederike Helene Unger (1751–1813), in: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte 6, 1996, S. 81–154, hier S. 105/106. Deutsches Literaturarchiv Marbach, Cotta Archiv [im Folgenden DLAM CA]. Für den Hinweis danke ich Bernhard Fischer. „In Berlin hatte er für seine Subsistenz keine andere Grundlage, als seinen schriftstellerischen Fleiß“. [Friedrich Buchholz:] Galerie Preußischer Charaktere. Aus der Französischen Handschrift übersetzt. Germanien 1808 (= Berlin: Sander 1808). Neu hrsg. v. Hans-Michael Bock, Frankfurt/M. 1979, S. 481–769, hier S. 754.
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gründung als ‚privatisierenden Gelehrten‘.14 Und selbst seine publizistischen Gegner wie Friedrich Gentz erkennen seine „ungeheure Popularität“15 an bzw. erklären ihn sogar, wie Adam Müller, zum „Haupt der politischen Presse in Deutschland“.16 Von 1814 bis in die späten 1830er Jahre hat Buchholz mit den von ihm herausgegebenen Zeitschriften wie dem Historischen Taschenbuch (1814–1837, 22 Bände) und dem Journal für Deutschland (1815– 1819, 15 Bände, 1820–1835 unter dem Titel Neue Monatsschrift für Deutschland, 48 Bände) die politische Presselandschaft Berlins wesentlich mitgeprägt.17 Das Kommunikationsgeflecht zwischen Zeitschriftstellern, Verlegern und der sich verändernden staatlichen Pressepolitik in der Reformzeit soll im Folgenden am Beispiel von Buchholz’ Tätigkeit im Umfeld von Hardenbergs Staatskanzlei in den Jahren nach 1810 exemplifiziert werden. Während dieser Periode wurde Buchholz direkt aus der Staatskasse finanziert. Man kann daher hier in besonderer Weise die Frage thematisieren, wie sich das Spannungsverhältnis zwischen Buchholz’ Selbstverständnis als unabhängiger und kritischer Schriftsteller, der zudem politisch mit dem Rheinbund sympathisiert, mit der gleichzeitigen Abhängigkeit von den preußischen Staatsbehörden konkret gestaltete. Um dies zu untersuchen, möchte ich drei Quellen in Beziehung setzen, in denen sich verschiedene Perspektiven manifestieren und die darüber hinaus einen unterschiedlichen Grad an Öffentlichkeit haben. Im ersten Teil wird Buchholz’ Zusammenarbeit mit Hardenberg am Beispiel von Buchholz’ Freimüthigen Betrachtungen über das Finanzedikt vom 27. Oktober 1810 skizziert, die er im Auftrag Hardenbergs verfasst und publiziert hat. Diesem Werk werden im zweiten Teil Buchholz’ Kommentare zu dem gleichen Gegenstand in den Briefen an seinen Verleger Johann Friedrich Cotta in Tübingen zur Seite gestellt, in denen Buchholz seine Sicht auf die politische Situation in Preußen schildert und Fragen und Möglichkeiten politischer Öffentlichkeit diskutiert. Schließlich wird im dritten Teil mithilfe der Akten der obersten preußischen Zensurbehörde gezeigt, welche Diskussionen Buchholz’ Schriften innerhalb des preußischen Staatsapparats ausgelöst haben. Erst die Zusammenschau dieser unterschiedlichen 14
Buchholz sah sich immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt, dass er als Unberufener – weder Staatsmann noch Beamter – über politische Angelegenheiten schrieb. Deutlich kommt die Ansicht, dass es Privatpersonen nicht erlaubt ist, öffentlich über Politik zu raisonnieren in einem Rescript Friedrichs II. von 1784 zum Ausdruck: „Eine Privatperson ist nicht berechtigt, über Handlungen, das Verfahren, die Gesetze, Maßregeln und Anordnungen der Souveräne und Höfe, ihrer Staatsbedienten, Kollegien und Gerichtshöfe öffentliche, sogar tadelnde Urteile zu fällen oder davon Nachrichten, die ihr zukommen, bekanntzumachen oder durch Druck zu verbreiten. Eine Privatperson ist auch zu deren Beurteilung gar nicht fähig, da es ihr an der vollständigen Kenntnis der Umstände und Motive fehlt.“ Zitiert nach Habermas: Strukturwandel (wie Anm. 6), S. 84. Vgl. auch Iwan-M. D‘Aprile: „Wenn der Pöbel vernünftelt“. Die Fehde zwischen Buchholz und Gentz, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 3, 2009, Heft 4, S. 33–46. 15 Brief von Friedrich Gentz an Adam Müller vom März 1808, in: Briefwechsel zwischen Friedrich Gentz und Adam Heinrich Müller 1800–1829, Stuttgart 1857, S. 129/130. 16 Adam Müller: Bei Gelegenheit der Untersuchungen über den Geburtsadel von Fr. Buchholz, in: Pallas, 1808, S. 83. 17 Angaben nach Schäfer: Buchholz (wie Anm. 9), S. 89, 91.
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Perspektiven und der damit verbundenen institutionen- und ideengeschichtlichen Fragen ermöglicht einen Einblick in die Konstellation politischer Öffentlichkeit im frühen 19. Jahrhundert.
Buchholz und die Hardenbergsche Staatskanzlei Als Buchholz in Hardenbergs Dienste berufen wurde, gehörte er mit seinen Werken wie der bereits erwähnten Galerie Preußischer Charaktere, aber auch den Untersuchungen über den Geburtsadel und der Möglichkeit seiner Fortdauer im 19. Jahrhundert (1808), in denen er die völlige Abschaffung der Adelsprivilegien fordert, zu den bekanntesten Kritikern am alten preußischen Staat. Dass Buchholz dennoch für die Staatskanzlei angeworben wurde, ist umso bemerkenswerter als Hardenberg selbst in der Galerie Preußischer Charaktere ein satirisches Porträt gewidmet ist: Er wird dort als einer der typischen Repräsentanten der altadligen, überforderten Funktionsträger dargestellt. Wie wir aus den Tagebüchern Hardenbergs wissen, hat dieser das Buch nicht nur gelesen, sondern ihm war darüber hinaus auch Buchholz als Verfasser bekannt.18 Hardenberg war also vollauf bewusst, wen er sich mit Buchholz in die Staatskanzlei holt. Darüber hinaus ist die Anstellung eines radikalen Staatskritikers wie Buchholz bei Hardenberg kein Einzelfall. Es scheint im Gegenteil geradezu eines von dessen Einstellungskriterien gewesen zu sein, seine pressepolitischen Mitarbeiter bevorzugt unter den Radikalen, den politischen Gefangenen, Ausgestoßenen und Geächteten des preußischen Ancien Régime auszuwählen. Direkt aus dem Gefängnis holt er u. a. Karl Julius Lange, Saul Ascher, Hans von Held, Friedrich von Cölln, Johann Benjamin Erhard oder Konrad Engelbert Oelsner in die Staatskanzlei. Dass sich unter ihnen besonders viele Anhänger der von Frankreich ausgehenden Gesellschaftsreformen finden, ist nicht nur als Konzession an Napoleon zu sehen, sondern eine bewusste politische Maxime: Hardenberg erhofft sich von diesen Autoren, dass sie „durch Verbreitung liberaler Ideen und guter Gesinnung am Wiederaufbau des Preußischen Staates teilnehmen“, wie er es gegenüber der Preußischen Polizeibehörde ausdrückt, als er um die Freilassung von Konrad Engelbert Oelsner bittet.19 Buchholz erhielt von Hardenberg, nachdem er bereits Ende 1810 als informeller Berater tätig gewesen war, ab März 1811 ein monatliches Gehalt von 90 Talern und wurde eine 18
„Dans les pamphlets qui paroissent sur les Évévénemens des dernières années, je ne sius point ménagé, quoique personne ne se soit permis de dire quelque chose contre mon caractère, ce qui est arrivé à bien d’autres. Je ferai des notes aux plus rémarquables de ces productions, comme die Vertrauten Briefe, die Feuerbrände, Récueil de traits caractéristiques [=Charakteristik Friedrich Wilhelms III. und der bedeutendsten Persönlichkeiten an seinem Hofe. Gesammelt und bekannt gemacht v. M.W., Paris 1808, Anm. I.D.], Gallerie de caractères prussiens – apparement de Bucholz et rempli de fiel et de méchanceté […]“ ; Karl August von Hardenberg 1750–1822. Tagebücher und autobiographische Aufzeichnungen. Hrsg. und eingeleitet von Thomas Stamm-Kuhlmann, München 2000, S. 683, Eintrag Freitag, 25. März 1808. 19 Hardenberg an Konrad Engelbert Oelsner am 18. November 1815. Vgl. Hofmeister-Hunger: Pressepolitik (wie Anm. 5), S. 323.
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Art Rheinbundbeauftragter.20 In einem Brief von Hardenberg an Buchholz vom 16. März 1811 findet sich die Dienstbeschreibung: Buchholz soll als ein „Mann, der mit historischen Kenntnißen die Einsicht des für den jetzigen Moment Wichtigen verbindet“, prüfen, welche „inneren Einrichtungen der benachbarten Staaten“ man nachahmen könne und welche nicht.21 Auf der Grundlage dieser Aufgabenbeschreibung hat Buchholz die wichtigsten Reformvorhaben vom Finanzedikt über das Emanzipationsedikt für die Juden bis hin zur Frage nach einer Nationalrepräsentation durch öffentliche Kommentierung oder auch durch vorbereitende Studien pressepolitisch begleitet. Buchholz’ erste Veröffentlichung im Auftrag Hardenbergs trägt den Titel Freimüthige Betrachtungen über die Verordnung vom 27. October in Betreff des Finanz-Wesens und ist als offener Brief an die Mitbürger ausgewiesen. Veröffentlicht wurde dieser offene Brief unmittelbar nach Verkündigung des Finanzedikts beim Verleger Matzdorff in Berlin mit persönlichem Imprimatur Hardenbergs.22 Hinter dem fiskalisch klingenden Titel ‚Finanzedikt‘ verbirgt sich bekanntlich bereits Hardenbergs gesamtes Regierungsprogramm: es stellt seine Antwort auf die scheinbar ausweglose Situation dar, den bankrotten preußischen Staat wieder liquide zu machen und gleichzeitig die Kontributionsforderungen der französischen Besatzungsmacht zu erfüllen. Dies sollte einerseits durch Steuererhöhung und Einführung neuer Abgaben gelingen, vor allem aber durch den Abbau von Privilegien, Standes- und Zunftschranken und Binnenzöllen, um so Wirtschaftstätigkeit und Handel zu erleichtern. Daneben enthält das Edikt auch das erste einer Reihe von Verfassungsversprechen, die Hardenberg dem König abgetrotzt hat. In der Vorrede seiner Betrachtungen thematisiert Buchholz zunächst seine eigene Rolle als Autor und rechtfertigt sich dafür, warum er als unabhängiger politischer Schriftsteller nun plötzlich zum Propagandisten von Staatsverordnungen wird. Er macht darauf aufmerksam, dass das Finanzedikt in der Tendenz seinen eigenen bereits seit Jahren vertretenen politischen Grundsätzen entspricht und jenen Zustand der „Gleichheit vor dem Gesetz“ 20
Am 14. Juni 1816 werden die monatlichen Zahlungen von Hardenberg in ein festes Jahresgehalt von 1.080 Taler verwandelt. Zu Buchholz’ Anstellung bei Hardenberg vgl. Bahrs: Buchholz (wie Anm. 9), S. 86–88. 21 „Bei der täglich wachsenden Nothwendigkeit, von den innern Einrichtungen der benachbarten Staaten Kenntnis zu nehmen, damit man das Heilsame nachahme, das Verderbliche vermeide, hat es mir räthlich geschienen, durch einen Mann, der mit historischen Kenntnißen die Einsicht des für den jetzigen Moment Wichtigen verbindet die zu jenem Zweck erforderlichen Ausmittelungen vornehmen zu lassen […]. Sie werden zwar in der Regel die Gegenstände der Bearbeitung aus meinem Bureau vorgezeichnet erhalten; doch auch wird es mir sehr angenehm seyn, wenn Sie selbst bei Ihrer ausgebreiteten Kenntniß mich auf die Puncte aufmerksam machen, welche eine Beleuchtung und Darlegung verdienen, und welche in fremden Staaten bereits bearbeitet und ausgeführt sind […]“; Hardenberg an Buchholz, 16. März 1811, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (im folgenden GStA PK) I. HA, Rep. 74 N III Nr. 40, Bl. 1 f. 22 Hardenberg erteilte Buchholz Freimüthigen Betrachtungen das Imprimatur eigenhändig am 24. November 1810, „da er gegen den Inhalt derselben nichts zu erinnern habe“. Vgl. Reinhold Steig: Heinrich von Kleist’s Berliner Kämpfe, Berlin 1901, S. 154.
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realisiere, den er selbst immer als einzigen Ausweg aus der Krise des Ancien Régime gesehen habe. In euphorischen Worten drückt Buchholz seine Hoffnung aus, dass sich mit dem Edikt eine „neue Aera“ für Preußen eröffnet. Daher habe er als Patriot das Bedürfnis empfunden, sich mit seinen Mitbürgern, die ja das Subjekt der neuen Nation seien, über die Bedeutung der neuen Verordnung auszutauschen. Offenkundig geht Buchholz davon aus, dass die Leserinnen und Leser den offiziellen Hintergrund seiner Veröffentlichung durchschauen, und er verspricht, trotz dieser sehr propagandistisch klingenden Einleitung nichts zu schreiben, was mit seinen bekannten früheren politischen Ansichten in Widerspruch stehe, sondern den Gegenstand „mit der gleichen Freimüthigkeit abzuhandeln“, die ihm immer eigen war.23 Tatsächlich argumentiert Buchholz im Folgenden ganz entsprechend der sozioökonomischen Herangehensweise seiner anderen Werke und zeigt, wie die ‚einzelnen Classen der Gesellschaft‘ durch den Übergang von der ‚Productenwirtschaft‘ zur ‚Geldwirtschaft‘ und durch den damit verbundenen Privilegien- und Bürokratieabbau gewinnen werden: Die Bauern durch neugewonnene Freiheit, die Bürger durch Zeitgewinn. Vor allem aber würde die Klasse gewinnen, die sich am lautesten über die Reformen beklagt, nämlich die Adligen, die sich durch die neuen Gesetze aus mittelalterlichen Feudaladligen in moderne Agrarunternehmer verwandeln würden. Während solche wirtschaftsliberalen Nutzenkalkulationen vielleicht noch kompatibel mit der offiziellen Argumentationslinie für das Finanzedikt sind, macht besonders der Schluss von Buchholz’ Werk deutlich, dass er seinem Anspruch, mit seiner Abhandlung nicht bloße Regierungspropaganda zu betreiben, dennoch durchaus gerecht wird. Er zieht nämlich hier das überraschende Fazit, dass das Hardenbergsche Finanzedikt den ersten Schritt zur Übernahme der Verfassung Frankreichs in Preußen darstelle und damit die Voraussetzung für eine dauerhafte Friedensordnung in Europa schaffe. Buchholz geht sogar noch weiter und unterstellt in einem hintersinnigen Fürstenlob Friedrich Wilhelm III., dass diese Entwicklung schon immer dessen geheimsten Wünschen entsprochen habe, dass er sich aber gegen die Beharrungskräfte und Privilegienträger nicht habe durchsetzen können, bis ‚durch einen Stoß von außen‘ der Alte Staat in Preußen abgeschafft und damit jene ‚Gleichheit vor dem Gesetz‘ ermöglicht worden wäre, die Buchholz in der Vorrede als seine eigene politische Hauptforderung ausgewiesen hatte. Dass diese Deutung der Hardenbergschen Finanzreform in einer immerhin im offiziellen Auftrag veröffentlichten Abhandlung vollkommen konsistent mit Buchholz’ auch sonst geäußerten politischen Ansichten ist, kann man der Korrespondenz mit seinem Verleger Johann Friedrich Cotta ablesen. Anschließend wird am Beispiel der Berichte des Preußischen Zensors Johann Heinrich Renfner an seinen Vorgesetzten Hardenberg die weniger eindeutig zu beantwortende Frage untersucht, wie Buchholz’ Thesen in den preußischen Behörden aufgenommen wurden.
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Friedrich Buchholz: Freimüthige Betrachtungen über die Verordnung vom 27. October in Betreff des Finanz-Wesens, Berlin 1810, S. 13.
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Buchholz’ Briefe an seinen Verleger Johann Friedrich Cotta Buchholz’ Briefe an Cotta, der seit 1805 sein Hauptverleger war, gehen über ein geschäftliches Autor-Verleger-Verhältnis weit hinaus. Das umfangreiche Korpus von 93 Briefen befindet sich im Cotta-Archiv in Marbach und wird demnächst publiziert.24 Neben den üblichen Diskussionen über Honorare, zu liefernde Werke und mögliche Autoren für Cottas zahlreiche Journale finden sich hier über einen Zeitraum von 1805 bis 1833 ausführliche Schilderungen und Analysen der aktuellen Lage in Preußen. Wie Buchholz ist auch Cotta eine Figur zwischen den gemeinhin angenommenen Fronten: Er ist einerseits der wichtigste Verleger im Rheinbund mit einem internationalen Korrespondenten- und Beteiligungsnetz und wird von Buchholz deshalb auch als „Napoleon unter den Buchhändlern“ (5. Januar 1807) bezeichnet. Zugleich befindet er sich in ständiger spannungsreicher Auseinandersetzung mit den französischen Zensurbehörden, die mit seiner erklärten Neutralitätspolitik nicht einverstanden sind und ihm des Öfteren die Druckerlaubnis entziehen. Schließlich arbeitet auch Cotta wie Buchholz eng mit Hardenberg zusammen – und zwar schon seit dessen Zeit in Ansbach-Bayreuth, dann verstärkt wieder im Zusammenhang mit der Gründung des Deutschen Bundes. Auch seine spätere Nobilitierung verdankt Cotta Hardenberg.25 Für Buchholz ist Cotta, den er immer wieder als „meinen lieben Freund“ anspricht, eine Art Verbindungsmann und Verheißung eines anderen Deutschlands jenseits von Preußen – tatsächlich ist Buchholz zeitlebens nie aus Preußen herausgekommen. Von Anfang an äußert Buchholz in seinen Briefen die Hoffnung, dass Preußen im neuen Rheinbund aufgehen möge, den er als Keimzelle eines neuen deutschen Nationalstaats deutet. Die Reformfähigkeit des alten preußischen Staats sieht er dagegen bis ins Jahr 1810 durchgehend skeptisch bis pessimistisch, weil dieser viel zu sehr mit der alten HohenzollernMonarchie verwoben sei, als dass aus ihm etwas Neues entstehen könne. Einen Eindruck über die Verbindung von Alltagsschilderung, Reflexion der eigenen Position und PreußenKritik in Buchholz‘ Briefen an Cotta vermittelt etwa ein Brief vom 19. Januar 1810: […] im Vertrauen muß ich Ihnen sagen, daß es in jeder Hinsicht sehr schlecht um uns steht. Wir kämpfen mit unserem Bankerot so gut wir können. Ob er ausbleiben wird, steht dahin. Schwer ist es, ein gleichgültiger Zuschauer von allen den Albernheiten zu bleiben, von welchen die eine die andere jagt; aber ich habe mir fest vorgenommen, mich in Beziehung auf mein Vaterland zu indifferenziren, bis ich sehe, daß der Weltgeist wirklich über uns komt. Die Nacht von Barbaren in welcher wir liegen, wird kaum durch einige Vernunftstralen aufgehellt. Wir plumpen immer wieder in die Feudalität zurück, aus welcher wir uns erheben wollen; u. alle unsere öffentlichen Maasregeln sind von solcher Beschaffenheit, daß der Herrschaft des Feudal-Geistes kein Ende gemacht werden kann. Weil die Liberalität nicht im Gemüthe ist, so ist sie auch nicht im Geiste.26 24 Die Publikation wird vom Verfasser in Kooperation mit dem Literaturarchiv Marbach vorgenommen. 25 Vgl. Fischer: Von den „Europäischen Annalen“ (wie Anm. 5), S. 300–302. 26 DLAM CA Cotta Br. Buchholz No. 64, Buchholz an Cotta, Berlin, den 19. Januar 1810.
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Vor dem Hintergrund dieser Schwerfälligkeit und Reformunfähigkeit Preußens spielt Buchholz immer wieder mit dem Gedanken, selbst in einen der Rheinbundstaaten zu wechseln. Noch Hardenbergs Dienstantritt als Staatskanzler im Sommer 1810 wird von Buchholz ganz im Zeichen einer Kontinuität der alten Herrschaftseliten gedeutet. Wie schon in der Galerie Preußischer Charaktere erscheint Hardenberg hier als ein greiser und orientierungsloser Politiker, der an der Aufgabe, die Staatsfinanzen in Ordnung zu bringen, nur scheitern könne, weil er als Angehöriger der alten Eliten nicht die dazu nötigen Veränderungen des Gesellschaftszustandes durchsetzen werde. Am 8. Juni 1810 schreibt Buchholz: Hier haben wir eine der allerseltsamsten Revolutionen erlebt. Der Baron von Hardenberg, von welchem das französische Gouvernement im Jahre 1806 sagte: er habe sich auf das Vollständigste entehrt, der warlich einen dummen Streich über den anderen hat ausgehen lassen, der gegenwärtig ein Alter von 63 Jahren hat u. halbtaub ist − dieser Herr von Hardenberg ist jetzt, mit Genehmigung des französischen Kaisers – vielleicht sogar auf dessen Antrieb – unser Premier-Minister mit dem Titel eines StaatsKanzlers geworden. Sein Hauptgeschäft wird darin bestehen, unsere Finanzen in Ordnung zu bringen; u. in dieser Hinsicht erwartet man hier zu Lande Wunderdinge von ihm! Nur ich nicht. Ich betrachte diese Revolution als einen mächtigen Vorschritt zu einer vollendeten Auflösung des ganzen Staats u. zu einer gänzlichen Vernichtung der Idee: Preußen. Nach einem halben Jahre wird von dem Herrn von Hardenberg kaum noch die Rede sein. Seine ersten Finanzoperationen werden entscheiden; u. da er, als AltAdeliger nicht das Herz haben wird, mit dem gesellschaftlichen Zustande diejenigen Veränderungen vorzunehmen, durch welche allein nur Verbesserung der Finanzen möglich ist, so sehe ich auch vorher, daß ein Misgriff auf den anderen folgen wird, bis er sich entfernt oder entfernt wird. Die Neunaugen müssen sich im Salze todt laufen, ehe sie eingemacht werden. Die meisten europäischen Regierungen werden dasselbe Schicksal in ihren versalzenen Finanzen haben […].27 Wird Hardenberg im Juni 1810 von Buchholz also noch mit einer Fischart aus der Familie des Aals verglichen, der in den versalzenen Staatsfinanzen eingemacht werden wird, so beginnt sich seine Einschätzung des Staatskanzlers erst ab Oktober 1810 allmählich zu verändern. Nun berichtet Buchholz an Cotta, dass er auf „eine sehr unverhofte Weise zu der Ehre gelangt“ sei, seine Meinung über den Zustand der Finanzen abzugeben und sich „aus der Affäre gezogen habe“, indem er geantwortet habe, dass man die Finanzen eines Staats nur dadurch verbessern kann, wenn man auch den gesellschaftlichen Zustand verbessere.28 Im Januar 1811 berichtet er dann euphorisch, dass der plumpe und schwerfällige Preußische Staat nun mit „Riesenschritten“ umgebaut und Veränderungen umgesetzt würden, die man zuvor nicht für möglich gehalten habe. Das Tempo werde dabei nicht von den Entscheidungen der Politiker vorgegeben, sondern durch „die Notwendigkeit der Verhältnisse“: 27 DLAM CA Cotta Br. Buchholz No. 70, Buchholz an Cotta, Berlin, den 8. Juni 1810. 28 DLAM CA Cotta Br. Buchholz No. 71, Buchholz an Cotta, Berlin, den 1. Oktober 1810.
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Ich möchte behaupten, daß es mit der Verbeßerung der gesellschaftlichen Zustände in Deutschland weit schneller gehen wird, als die Deutschen in diesem Augenblick glauben. Riesenschritte sind seit einigen Jahren gemacht worden. Riesenschritte werden in den nächsten Jahren gemacht werden. Nicht was die Machthaber wollen, sondern was die Notwendigkeit mit sich bringt, geschieht. Das Königreich Westphalen ist ein wahrer Gährungsstoff, der seine Kraft nicht eher verlieren kann, als bis alle übrigen deutschen Königsreiche dieselben Gesetze (organische und bürgerliche) angenommen haben. Hier ist man in voller Arbeit zu diesem Zweck. Alle Privilegien sind aufgehoben; die individuelle Kraft ihrer natürlichen Wirksamkeit zurückgegeben. Die Leute schreien in diesem Augenblick darüber, aber das Geschrei wird sich legen, sowie einer anfängt, die Vortheile der neuen Gesetzgebung anzusehen. Schon vor Jahren sagte ich: das preußische Landrecht sei zu früh erschienen, indem es einen Gesellschaftszustand fixiert habe, der gar nicht hätte fixiert werden sollen. Jetzt, nachdem durch die Erscheinung eines einzigen Finanz-Gesetzes das ganze Landrecht als verwitterte Trümmer dasteht, wundern sich die Menschen darüber, daß so etwas möglich sey, u. glauben, der alte Zustand der Dinge daure noch an.29 Bei aller Euphorie sieht man deutlich, dass sich an den zentralen politischen Forderungen von Buchholz auch hier nichts ändert. Wie in seinem offenen Brief über das Finanzedikt stehen auch hier die Aufhebung der Adelsprivilegien und die Gleichheit vor dem Gesetz sowie der Umbau des Staates zum Verfassungsstaat nach rheinbündischem Modell (Westphalen als „Gährungsstoff“) zentral. Während es in der nationalborussischen Sekundärliteratur oft so dargestellt wurde, als hätten sich die vormals freien Schriftsteller wie Buchholz durch ihr Engagement bei Hardenberg kompromittiert und seien im Dienst der Obrigkeit zahm geworden, sprechen die Quellen augenscheinlich eine andere Sprache. Weder hat Buchholz seine Tätigkeit für die Staatskanzlei „mit dem Verlust seiner Freiheit im Denken und im Handeln bezahlen müssen“, wie Erhard Bahrs in seiner BuchholzBiographie von 1904 feststellt,30 noch lässt sich erkennen, dass Hardenberg Buchholz „durch ein Jahresgehalt unschädlich“ gemacht hat, wie Otto Tschirch in seiner Geschichte der Öffentlichen Meinung in Preußen von 1933 schreibt.31
Buchholz in den Akten der Preußischen Zensurbehörde Dass Buchholz’ Schriften tatsächlich eher für Verbiegungen in der preußischen Verwaltung als bei ihm selbst gesorgt haben, lässt sich anhand der Berichte des für die gesamte politische Zensur zuständigen Beamten Johann Heinrich Renfner an Hardenberg demonstrieren.32 Renfner war ein altgedienter Beamter, der im Jahr 1810 seit 40 Jahren im Staatsdienst war 29 30 31 32
DLAM CA Cotta Br. Buchholz No. 75, Buchholz an Cotta, Berlin, den 18. Januar 1811. Bahrs: Buchholz (wie Anm. 9), S. 87. Tschirch: Geschichte (wie Anm. 4), Bd. 2, S. 458. GStA PK, III. HA: Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten, I, Nr. 8942: Acta Renfner.
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und schon unter Johann Christoph Wöllner in der Zensurbehörde gearbeitet hat. Formal war er direkt dem Staatskanzler unterstellt und erstellte für diesen jährliche Zensurberichte. Diese Berichte und die entsprechenden Begleitbriefe Renfners zeigen, welche Herausforderungen Buchholz’ Schriften für den Zensor darstellten – und zwar ironischerweise besonders gerade dann, wenn sie vordergründig der Unterstützung von Hardenbergs Reformen dienten. So muss Renfner gegenüber seinem Vorgesetzten Hardenberg gewunden rechtfertigen, dass er eine Eloge von Buchholz auf den Staatskanzler streichen musste, weil Buchholz dort seine eigenen, sehr radikalen Gedanken zur Abschaffung der Adelsprivilegien Hardenberg untergeschoben habe. Zwar sei die Abschaffung der Adelsprivilegien „das Lieblingsthema des Herrn Buchholz“, aber seines Wissens nicht die Politik des Staatskanzlers und deshalb sei er sich dessen Zustimmung sicher gewesen, als er auf diese falsche Behauptung seine „Hand gelegt habe“: Un autre champion, un peu difficile à combattre, étaiet le professeur Buchholtz, et cependant mes corrections dans son Journal de poche était d’une nécessité absolue. Il a cru m’embarrasser par ma radiation côtée f, le passage en question impliquant en même temps une éloge de Votre Exc. Mais á quel prix? Il La prônait de ce qu’en Se mettant au dessus des préjuges de Sa caste, Elle avait aboli dès le commencement de Son administration tous les privilèges de la Noblesse. C’est là le thême favori de Sieur Buchholtz, mais Votre Excellence n’abondant pas, que je sache, dans le même sens, j’étais sûr de ne pas Lui déplaire en faisant main basse sur une assertion qui est fausse.33 Dass gerade Buchholz’ lobende Artikel über Hardenberg vom Zensor besonders misstrauisch beäugt wurden, zeigt sich auch ein Jahr später, als Renfner in Buchholz Historischem Taschenbuch für das Jahr 1814 eine Passage streicht, in der dieser Hardenbergs erste Dienstanordnungen beim Amtsantritt als Staatskanzler öffentlich machen wollte.34 Einmal jubelt Renfner, als er einen neuen Band von Buchholz’ Europäischer Staatengeschichte auf den Tisch bekommt. Er stellt fest, dass Buchholz sich gewandelt habe und nun endlich – nach Renfners Verständnis − vernünftig geworden sei. In seinem Bericht notiert er: In diesem 2. Bande hat sich der Prof. Buchholtz keine einzige seiner alten Unarten zu Schulden kommen lassen. Nichts mehr von Volksfreiheit und Vorrechten – kein Streit mehr über Klassen und Stände – keine Vorschläge mehr über Regierungsveränderungen – keine Neuerungssucht mehr. – Bloss historische Darstellung mit Ernst, Würde und Scharfsinn. [. . .] Ich habe in dem ganzen, mehr als 300 Seiten starken Buch kaum zwanzig Zeilen zu streichen oder zu ändern gefunden.35
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Johann Heinrich Renfner: Begleitschreiben zum Verzeichnis der im Monat November 1813 censirten Schriften, Berlin, le 30. Novembre 1813, GStA PK, I. HA Rep. 74 JX, Nr. 5 adh, Bl. 3. 34 Ebd., Bl. 80. 35 Ebd., Bl. 82.
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Doch schon in seinem nächsten Begleitschreiben vom 1. November 1814 muss Renfner eingestehen, dass er sich zu früh gefreut hat. Entgegen seiner Einschätzung sei Buchholz mit seinem neuen Werk, einer Verteidigungsschrift der Freimaurer, doch wieder in seine alten Grundsätze zurückgefallen. Die Schrift sei ein wahrer jakobinischer Skandal und er könne daher diese in jeder Hinsicht sträfliche Schrift nicht zum Druck zulassen.36 Offenkundig bleibt Buchholz bis zum Ende seiner Tätigkeit bei Hardenberg undomestizierbar. Besonders aufschlussreich für die Beziehungen zwischen dem reformfreudigen Staatskanzler, dem radikalen Zeitschriftsteller und dem peniblen Zensor sind dabei die Vermerke und Randnotizen an den Zensurakten: Immer wieder finden sich hier Hinweise, nach denen sowohl Buchholz als auch Hardenberg versuchen, den Zensor zu umgehen und die Druckerlaubnis auf dem kurzen Dienstweg zu regeln: das persönliche Imprimatur Hardenbergs für Buchholz’ Freimüthige Betrachtungen über das Finanzedikt ist hierfür nur ein Beispiel von vielen.
Beschluss Buchholz’ Zusammenarbeit mit Hardenberg erscheint weniger als opportunistische Konzession an die Machthaber, sondern umgekehrt als Versuch, seine Forderungen nach freier Presse, Aufhebung der Standesunterschiede oder auch der Einführung von Konstitution und Nationalversammlung durch unmittelbare Mitarbeit in der Nähe der Entscheidungsträger umzusetzen. Diese Hoffnung teilte Buchholz mit vielen weiteren frühliberalen Publizisten. Besonders aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist eine Denkschrift Karl August Varnhagen von Enses an Hardenberg vom 9. März 1815. Unter dem Titel Denkschrift über die Notwendigkeit, in Preußen die öffentliche Meinung nicht ohne Mitwirkung der Stimme der Regierung zu lassen, greift Varnhagen von Ense hier auf das Kantische Vokabular aus dessen Beantwortung der Frage Was ist Aufklärung? zurück und stellt fest, dass der Ausgang der Öffentlichkeit aus der Unmündigkeit inzwischen ein Faktum geworden sei, dass es aber zugleich darauf ankomme, die öffentliche Meinung als „das größte Gut des Staats“ weiterhin „würdig zu beachten“. Nur scheinbar paradox garantiert für Varnhagen ausgerechnet die Gründung einer (liberalen) Staatszeitung die weitere Emanzipation aus der „vormundschaftlichen Leitung der Regierenden“: Daß die öffentliche Stimme in Deutschland der vormundschaftlichen Leitung der Regierenden größtenteils entwachsen und zum Bewußtsein selbständiger Kraft gekommen sind, haben die letzten Jahre, wie mich dünkt, bewiesen […] Sie leise und ununterbrochen zu leiten, verständig aufzuhalten und würdig zu beachten, ist das einzige Mittel,
36 GStA PK, III. HA, Nr. 8942, Bl. 53.
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welches die Regierung anwenden kann, um das größte Gut des Staats, die öffentliche Meinung, nicht zu dessen größtem Übel werden zu lassen.37 Zu Recht nennt Andrea Hofmeister-Hunger Varnhagens Gutachten „ein zentrales Dokument […] für das Verhältnis von Staat und Publizistik um 1815 schlechthin“.38 Allerdings erfüllten sich Varnhagens oder Buchholz’ Hoffnungen nicht und die Ambivalenzen, Spannungen und Widersprüche zwischen frühliberaler Öffentlichkeit und staatlicher Pressepolitik traten mit der Entmachtung Hardenbergs und der folgenden Restaurationsepoche schnell wieder deutlicher hervor. Sofort mit Hardenbergs Ausscheiden geriet Buchholz in verschärfte Zensurkonflikte.39 In mehreren Briefen zwischen Januar 1821 und April 1823 drohte der Preußische Innenminister und Leiter der im Zuge der Karlsbader Beschlüsse gegründeten Königlichen Immediat-Untersuchungskommission zur Ermittlung hochverräterischer Verbindungen und staatsgefährlicher Umtriebe Friedrich von Schuckmann Buchholz mit dem Verbot der Neuen Monatsschrift und damit der Vernichtung seiner Existenzgrundlage – es ist nicht ohne Ironie, dass die Begründung dafür u. a. lautet, dass Buchholz einige preußische Staatseinrichtungen als „veraltet“ bezeichnet habe.40
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Karl August Varnhagen von Ense: Denkschrift über die Notwendigkeit, in Preußen die öffentliche Meinung nicht ohne Mitwirkung der Stimme der Regierung zu lassen, 9. März 1815, zitiert nach Hofmeiser-Hunger: Pressepolitik (wie Anm. 5), S. 295. 38 Ebd., S. 295. 39 Vgl. Bahrs: Buchholz (wie Anm. 9), S. 91. 40 GStA PK, III: HA I Nr. 9262: Acta betr. die Buchholzsche Monatsschrift.
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Intellektuelle Öffentlichkeit Friedrich von Raumers Weg zwischen Politik und Wissenschaft
Mit einem außergewöhnlich langen Leben (1781–1873), einem umfangreichen Werk und einem strategischen Wirken im preußischen Staatsdienst scheinen in der Biographie Friedrich von Raumers alle Bedingungen zu einer intensiven Rezeption versammelt zu sein. Dennoch wollte es die Geschichte anders, und weder mit dem Werk noch mit dem Menschen setzt sich die heutige Forschung grundlegend auseinander. Seit Raumers Tod ist die Sekundärliteratur zu seinem Wirken und Schreiben eher spärlich.1 Dabei bieten sein veröffentlichter und sein unveröffentlichter Nachlass einen vielschichtigen Einblick in die Intellektuellennetzwerke des 19. Jahrhunderts. Genauer gesagt: Friedrich von Raumer gehört zu den Persönlichkeiten, bei denen der Begriff des Intellektuellen – an der Schnittstelle zwischen wissenschaftlicher und politischer Tätigkeit – besonders zutreffend ist. Ein Hinweis auf die essenzielle Doppelspurigkeit seines Lebenswegs wurde bereits von Werner Friedrich in seiner Dissertation Friedrich von Raumer als Historiker und Politiker programmatisch vorangestellt. So beschränkt sich die Einleitung der bislang einzigen Raumer-Mongraphie auf folgende Sätze: Eine Würdigung Friedrich von Raumers, die nur seine wissenschaftlich-gelehrte Tätigkeit berücksichtigt, trifft nicht das Ganze, Wesentliche seiner Persönlichkeit. Raumer wollte mehr sein als ein Gelehrter und ist es auch gewesen. Er war Historiker, Staatslehrer, Politiker und Weltreisender. Es entsprach seiner Auffassung vom Wesen eines echten Historikers sowie seiner vielseitigen, beweglichen Natur, wenn er allen diesen Gebieten sein Interesse zuwandte. Insbesondere ist für Raumer charakteristisch die enge Verbindung von historisch-gelehrter und praktisch-politischer Arbeit. Gerade die le-
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Zu Leben und Werk Friedrich von Raumers ist immer noch auf die Dissertation Werner Friedrichs hinzuweisen: Friedrich von Raumer als Historiker und Politiker, Leipzig 1929. Doch sowohl W. Friedrich als auch der Historiograph Herman von Raumer in: Die Geschichte der Familie von Raumer, Neustadt/A. 1975, basieren hauptsächlich auf Raumers eigenen Aussagen aus seinen Lebenserinnerungen und Briefwechsel (2 Bde., Leipzig 1861) bzw. aus seinem Literarischen Nachlaß (2 Bde., Berlin 1869).
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bendige Wechselwirkung, in der beide Tätigkeiten bei ihm stehen, machen die Eigentümlichkeit seines Lebenswerkes aus. Eine Darstellung, die seiner Persönlichkeit gerecht werden will, muß besonders diesen Punkt berücksichtigen.2 Diese empathische Schilderung weist bei aller subjektiven Zuspitzung auf ein zentrales Element hin. So geht es auch in den folgenden Seiten darum, die Wechselbeziehungen zwischen gelehrten und politischen Ansprüchen in Raumers Lebensweg zu beleuchten. Der 1781 Geborene kann eine ungewöhnliche Karriere vorweisen. Zwar kam er nicht als Unbekannter um 1800 nach Berlin, denn die Raumers waren bereits im höheren Staatsdienst aktiv und darüber hinaus mit der ebenfalls gut positionierten Familie von Gerlach verwandt. Dennoch verdankte er es bei Weitem nicht nur seinen adligen Vorfahren und verwandten Beamten, dass ihn Hardenberg 1810 zu seinem engsten Mitarbeiter machte.3 In dieser Funktion hatte er als kaum Dreißigjähriger einen aktiven Anteil am großen politischen Reformwerk Preußens, von den schlesischen Agrarreformen bis hin zu dem Streit um die Berliner Abendblätter, wo er eine entscheidende Rolle spielte.4 1811 verabschiedete er sich aus der Politik und wandte sich einer akademischen Laufbahn zu. Er erhielt zunächst einen Ruf als Staatswissenschaftler nach Breslau, wo er jedoch nach kurzer Zeit schon sein bevorzugtes Fach lehren konnte: die Geschichtswissenschaft. 1819 bekam er einen Ruf nach Berlin, wo er bis in seine hohen Jahre hinein Vorlesungen über die Historie hielt. Im Laufe seiner Berliner Jahre wurde er auch Mitglied der preußischen Akademie der Wissenschaften. Seine bekanntesten Werke sind die Geschichte der Hohenstaufen5 und das Historische Taschenbuch.6 Darüber hinaus veröffentlichte er zahlreiche andere Schriften, die einen mehr historisch-politischer, die anderen philologischer7 oder gar belletristischer Natur.8 Die Be-
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Friedrich: Friedrich von Raumer (wie Anm. 1), S. 9. Daraufhin werden allerdings beide Aspekte getrennt untersucht: Kap. 1 Bildung, Kap. 2 Zeit bei Hardenberg, Kap. 3 und 4 wissenschaftliche Tätigkeit, Kap. 5 politische Tätigkeit, Kap. 6 „geistesgeschichtliche Stellung“. Zu Hardenbergs Motiven ebd., S. 15 und Raumer: Geschichte der Familie (wie Anm. 1), S. 102. Dazu vgl. Lebenserinnerungen (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 227–237; Friedrich: Friedrich von Raumer (wie Anm. 1), S. 15–17. Der Streit um die Abendblätter besiegelt für Werner Friedrich den Bruch mit den romantischen Jugendfreunden: „Als Raumer […] unter Hardenberg arbeitete und Müller und Arnim sich der Opposition gegen den Staatskanzler anschlossen, wurden die Freunde zu politischen Feinden. Raumer hat dann beim Niederschreiben seiner Biographie diese Jugendfreundschaft zu verschweigen gesucht.“ (S. 12) W. Friedrich hat bestimmt solche Passagen wie Lebenserinnerungen (wie Anm. 1), S. 260 im Blick. Geschichte der Hohenstaufen und ihrer Zeit. 6 Bde., 1823–25 bei Brockhaus in Leipzig veröffentlicht. Das Historische Taschenbuch gab Raumer zwischen 1830 und 1867 heraus. Die Antiquarischen Briefe, 1851 bei Brockhaus in Leipzig erschienen, zeugen von seinem Dialog mit seinem Kollegen August Boeckh. Vgl. dazu auch eine Bemerkung aus dem Brief von George Grote, S. 59 des Korrespondenzkastens des Nachlasses Raumer aus der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz (PK). Die beiden Erzählungen Wilhelmine (im Lesegarten 1855 erschienen) und Marie (im Literarischen Nachlass 1869 erschienen).
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richte, die er zu seinen zahlreichen Reisen9 verfasste, trugen zu seinem nationalen und internationalen Ruhm bei. In den folgenden Abschnitten möchte ich kurz drei entscheidende Episoden aus dem Leben Friedrich von Raumers vorstellen, in denen sich das Gleichgewicht zwischen gelehrtem Beruf und politischen Überzeugungen schwer zu halten erwies: die Anpassung an das akademische Milieu als Professor in Breslau (1), das Amt am Oberzensurkollegium, das er gegen seine Überzeugung bezog und aufgrund seiner Überzeugung verließ (2), und schließlich das Amt als Akademie-Mitglied, das er ebenfalls nicht zufällig aufgeben musste (3). Diese Etappen aus seiner langen Laufbahn werden anhand von z. T. noch unedierten Briefen10 beleuchtet.
Vom „kleinen Staatskanzler“11 zum Breslauer Professor Selbst für die damalige gelehrte Welt gehört Raumers Abwendung von der Politik 1811 zu den prägnantesten Merkmalen seiner Persönlichkeit. Noch bei der Aufnahme Raumers in die Akademie der Wissenschaften 1827, lange Zeit nachdem seine schließlich doch kurze politische Karriere ein Ende genommen hatte, kam Schleiermacher in seiner Begrüßungsrede emphatisch darauf zurück: Ihre Leistungen liegen der Welt und uns vor Augen, und eine sichrere Bürgschaft dafür, daß ein Mann sein Leben ausschließend der Wissenschaft widmen wolle, giebt es nicht, als welche Sie geleistet haben, indem Sie eine politische Laufbahn voll der glänzendsten Aussichten verließen, aber in einem solchen Sinne und unter solchen Maaßnehmungen, welche einen lange überlegten und wohlgeordneten Entschluß zu Gunsten der Wissenschaft deutlich aussprachen.12 Der Übergang zwischen politischer und akademischer Karriere erfolgte in der Tat nicht in Form eines eklatanten Bruches: Weder kam es zu gravierenden Zwistigkeiten mit der Regierung,13 noch gab Raumer seine politischen Ansprüche von einem Tag auf den anderen auf. Besonders an der Breslauer Universität, wo sowohl unter den Studenten als auch unter dem akademischen Personal das politische Bewusstsein besonders ausgeprägt war, fand er Raum 9
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So reiste er 1816 durch die Schweiz und Italien, 1830 nach Frankreich, 1835 nach England, 1839 nach Italien, 1843 in die USA. Zur Schilderung seiner späteren Reisen, vgl. Literarischer Nachlaß (wie Anm. 1), S. 3. Dabei geht es um einzelne Briefe an ihn, die im Nachlass Raumer der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz zu finden sind. Weitere ungedruckte Briefe befinden sich sowohl in Krakau in der Jagellionischen Bibliothek als auch im Geheimen Staatsarchiv (Berlin). S. Friedrich: Friedrich von Raumer (wie Anm. 1), S. 15: „Hardenberg, der eben zum Staatskanzler ernannt worden war, rief ihn an seine Seite, ja, er nahm ihn in sein Haus auf. So kam es, daß er nunmehr einen hervorragenden Anteil an dem preußischen Reformwerk nahm. Der Volksmund nannte ihn den ‚kleinen Staatskanzler‘.“ Friedrich Schleiermacher: Literarischer Nachlaß. Zur Philosophie, Berlin 1835, Bd. 1, S. 174. Vgl. Friedrich: Friedrich von Raumer (wie Anm. 1), S. 16.
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zur Verbreitung selbstbewusster politischer Stellungnahmen, die er zum Teil auch in der Öffentlichkeit vertrat.14 Ganz unproblematisch war das für einen Universitätsprofessor natürlich nicht. So erfahren wir durch einen unveröffentlichten Brief seines Jugendfreundes Karl Wilhelm Ferdinand Solger15 vom 26. April 1812, dass Raumer von diesem nur mit äußerstem Nachdruck davon abgehalten werden konnte, ein wütendes Pamphlet gegen Fichte zu veröffentlichen. Solgers Argumente zeigen die Schwierigkeiten Raumers auf, sich in sein neues Amt als Professor einzufügen. Ehe näher darauf eingegangen wird, sei der Kontext kurz geschildert, in dem der Brief entstand. Infolge von mehreren Disziplinproblemen an der Berliner Universität kam es zu Beginn des Jahres 1812 zu starken Uneinigkeiten zwischen dem Rektor Fichte und dem Senat derselben. Indem er sich schließlich direkt an das Ministerium wandte, ohne den Senat zu konsultieren, verursachte Fichte eine regelrechte Institutionskrise innerhalb der ohnehin noch nicht sehr stabilen Universität.16 Dadurch zog er sich den Unmut beinahe aller Professoren zu, selbst derjenigen, die ihm, wie etwa Solger, sein einziger Kollege im philosophischen Fach, im Vorfeld nicht unbedingt abgeneigt waren. Auf einen besonders vehementen Brief Solgers (vom 22. März 1812)17 reagierte Raumer mit dem Verfassen einer FichteKritik, die er zu drucken beabsichtigte. Doch ehe er den Text in den Druck gab, schickte er ihn an Solger. Zügig antwortete ihm dieser auf die Sendung. Solger, aus dessen Brief sich Raumers Wutanfall genährt hatte, konnte dem Inhalt der Kritik nur zustimmen.18 Dennoch machte Solger, der über etwas mehr Erfahrung im akademischen Betrieb verfügte, seinem Freund deutlich, dass nicht jede Wahrheit eine – sei es explizit oder anonym – mit dem Namen eines Professoren versehene Veröffentlichung wert ist. Sein erstes Argument betrifft die bereits prekäre Balance in der kleinen akademischen Welt Preußens, die es zu schonen gelte: „[so] sieht es aus, wie ein Antagonismus der Universitäten Breslau und Berlin, und
14 Vgl. Lebenserinnerungen (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 250. 15 Karl Wilhelm Ferdinand Solger (1780–1819), Philosoph und Philologe, studierte zu gleicher Zeit wie Friedrich von Raumer in Halle Jura und klassische Philologie. Beide traten der sogenannten FreitagGesellschaft bei. Dieser Freundeskreis wurde zum Zeitpunkt des Hallenser Studiums gegründet und versammelte sich bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts, vgl. Lebenserinnerungen (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 106. 1809 bekam Solger einen Ruf nach Frankfurt/Oder. 1811 wurde er dann mithilfe Raumers Unterstützung nach Berlin berufen, wo er bis zu seinem plötzlichen Tod 1819 an der Universität Philologie und Philosophie lehrte. 16 Dazu vgl. Max Lenz: Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Halle 1910, Bd. 1, S. 412–430. 17 Dieser Brief ist abgedruckt und kommentiert in: Anne Baillot: Wie rehabilitiert man einen Schriftsteller und wozu? Das Beispiel unerschlossener Briefwechsel aus dem Umkreis des Dichters Ludwig Tieck, des Philosophen Karl Solger und des Historikers Friedrich von Raumer, in: F. Lartillot, A. Gellhaus (Hrsg.): Dokument/Monument. Textvarianz in den verschiedenen Disziplinen der europäischen Germanistik. Akten des 38. Kongresses des französischen Hochschulgermanistikverbandes, Bern 2008, S. 103–126. 18 Vgl. Brief Solgers an Raumer vom 26. April 1812, NL Raumer, Korrespondenzkasten, S. 130 sqq.
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daß sich ein solcher nicht bilde, besonders auf eine leidenschaftliche Art, muß gewiß möglichst vermieden werden.“ Auch auf der Ebene der Beziehungen unter Professoren legt Solger auf die Vermittlung eines positiven Bildes gegenüber der breiteren Öffentlichkeit Wert: Lassen Sie uns ja beitragen, eine würdige Begegnung unter Gelehrten aufrecht zu halten, und auch die Würde der Universitäten selbst und ihrer Häupter zu schützen, die jetzt so vielem Abbruch ausgesetzt ist. Einen Rector einer fremden Universität sollte man fast wie einen fremden Hof behandeln. Solger wird wohl dabei die Vervielfachung der Gelehrtenstreitigkeiten seit dem Ende des 18. Jahrhunderts und der damit zusammenhängenden Veröffentlichungstätigkeit im Blick gehabt haben, wodurch sich der eine oder andere in der Tat stark diskreditierte. Doch an seinem letzten Satz lässt sich ablesen, dass er seinem Freund vermitteln möchte, dass dieser in seiner neuen Funktion noch einiges dazu zu lernen hätte. Sein letzter und „wichtigster“ Grund bringt dies explizit zum Ausdruck: Legen Sie ja nicht einen zu großen Werth auf den Beifall, den Ihnen die Studenten bezeigt haben. […] Man verlangt nachher, daß Sie einen solchen Ton halten sollen, was gewiß nicht Ihre Sache sein wird. Ganz anders wird es den Studenten vorkommen, wenn Sie nun mit Strenge und Ernst Ihre Wissenschaften vortragen, ohne zu ihrer Trägheit herabzulassen, und ihnen vorzukauen. […] Nur der Beifall ist hier eigentlich werth, der früchtet, und dieser wird nur sehr nach und nach, und durch treues, sorgfältiges Lehren erworben. […] Sehn Sie auf Bredows Beispiel.19 Dieser hatte in Frankfurt einen großen Zulauf und Beifall, und hat sich diesen größtentheils durch gewisse Tiraden und Abschweifungen verschafft, welche die Leidenschaft der jungen Leute erregten. Die wahre und einzige Leidenschaft aber, die wir erregen sollen, ist die für Wahrheit und das Rechte, und die kann nur die Wissenschaft selbst und ihre reine Darstellung hervorbringen. In letzterem Punkt werden wohl Solger und Raumer bei aller Freundschaft nie einer Ansicht gewesen sein: Denn für Raumer war eine Trennung von Wissenschaft und Politik schlicht unmöglich. Und auch wenn seine Gegenbriefe nicht erhalten sind und seine Antwort auf Solgers Ermahnungen nicht ermittelt werden kann, beweisen der Ton und die Geschwindigkeit von Solgers Reaktion, dass zumindest in diesem Fall Raumer eine Grenze überschritten hatte. Dies ist der einzige mir bekannte Fall einer so gravierenden Uneinigkeit zwischen beiden Männern im Laufe ihrer lebenslangen Freundschaft. An der Entwicklung von Universitätsstatuten, welche Alleingänge wie diejenigen Fichtes vermeiden sollten, arbeiteten beide Männer für die Universitäten von Berlin bzw. Breslau in den Folgejahren gemein-
19 Gottfried Gabriel Bredow (1773–1814), klassischer Philologe und überzeugter Patriot.
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sam.20 Und nicht zuletzt um Solger geographisch näher zu sein,21 freute sich Raumer über seine Berufung nach Berlin 1819.22 Leider verstarb der noch junge Philosoph ausgerechnet zum Zeitpunkt, an dem Raumer in Berlin eintraf. Ob seine Berliner Karriere eine andere gewesen wäre, wenn ihm Solger beigestanden hätte?23 Sicherlich hätte Solger bei weiteren Reden und Schriften Raumers provokante Passagen streichen wollen. Von solchen Äußerungen und ihren Folgen möchte ich nun zwei Beispiele geben: das erste im Kontext des Oberzensurkollegiums, das zweite im Kontext der Akademie der Wissenschaften.
Zensor wider Willen Das Oberzensurkollegium24 wurde 1819 infolge der Karlsbader Beschlüsse gegründet. Obwohl es ursprünglich zum Schutz der Pressefreiheit konzipiert war,25 entwickelte es sich rasch zu einem expliziten Zensurorgan,26 das zusätzlich zu den bereits vorhandenen Zensureinrichtungen das Ziel hatte, die politische Presse zu zügeln, seine Aufmerksamkeit aber auch gelegentlich Büchern widmete.27 Ohne klar definierte Aufgaben, vor allen Dingen ohne Mittel und den drei Ministern des Innern, der geistlichen und der äußeren Angelegenheiten unterworfen,28 hatte das Oberzensurkollegium nur einen begrenzten Spielraum. So erlahmte auch dessen Aktivität nach wenigen Jahren. Der erste Vorsitzende war Raumers Onkel, der Wirkliche Geheime Legationsrat Karl Georg von Raumer, neben ihm wurden im Gründungsjahr elf Mitglieder bestimmt.29
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Vgl. z. B. Briefe von Solger an Raumer vom 28. Januar 1814 (z. T. in Solgers Nachgelassenen Schriften und Briefwechsel, Leipzig 1826, S. 607–614), NL Raumer, Korrespondenzkasten, S. 169 sqq und vom 6. Dezember 1818, NL Raumer, Korrespondenzkasten, S. 176 sqq. Was 1811 misslungen war: vgl. Lebenserinnerungen (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 241. Vgl. ebd. S. 258. Zu Solgers Anteil an Raumers Berufung nach Berlin, vgl. Brief Solgers an Raumer vom 6. Dezember 1818 (wie Anm. 20). Schleiermacher kommt in seiner Rede zur Aufnahme Raumers in die Akademie relativ detailliert auf Solgers Laufbahn zu sprechen. Anlass dieser Erwähnung ist für Schleiermacher die damals noch frische Herausgabe von Solgers Nachgelassenen Schriften und Briefwechsel durch Ludwig Tieck und Friedrich von Raumer, die von der Intensität dieser Freundschaft zeugt. Zum Oberzensurkollegium vgl. Friedrich Kapp: Die preußische Preßgesetzgebung unter Friedrich Wilhelm III. (1815–1840). Nach den Akten im Königl. Preußischen Geh. Staatsarchiv, in: Archiv für Geschichte des Deutschen Buchhandels 6, 1881. Insbesondere solange Hagemeister lebte, vgl. ebd., S. 195–197. Vgl. ebd., S. 205. Vgl. die Bemerkungen Friedrich Kapps zu der an Tiecks Novellen durchgeführten Zensur 1822, ebd., S. 220. Vgl. ebd., S. 206 Vgl. ebd., S. 205/206. Doch fleißig waren bei Weitem nicht alle, und Personalwechsel kamen relativ oft vor; vgl. ebd., S. 225–228.
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Obwohl er sich es nicht gewünscht hatte, gehörte Friedrich von Raumer zu diesen elf.30 Dass ein ausgeprägtes Zensurwesen prinzipiell seinen eigenen Überzeugungen nicht entsprach, lässt sich seinem Kündigungsschreiben aus dem Jahr 1831 entnehmen. Auslöser seines Abgangs war die Verstümmelung der Druckfassung seiner Festrede als Rektor der Universität 1822 – durch das Oberzensurkollegium selbst.31 Das Verfahren war für Raumer umso ärgerlicher, als der König selbst die Rede gebilligt hatte. Über diesen Zwischenfall hinaus kritisierte Raumer in seinem Kündigungsschreiben an seinen Onkel den Sinn der Einrichtung: Anstatt nämlich die schreibende und lesende Welt für größere, echte Freiheit zu erziehen und, ich möchte sagen der literarischen Großjährigkeit immer näher zu bringen, hat vielmehr die Strenge und Aengstlichkeit der Aufsicht allmählich zugenommen, sodaß Preußen (einst in dieser Beziehung der freigesinnteste und der Treue, sowie dem Verstande seiner Untertanen am meisten vertrauende Staat) jetzt fast hinter allen anderen zurücksteht. Die Zahl der Verbote von Büchern und Zeitschriften wächst, obgleich dieser geistige Cordon das etwaige Böse noch weniger abhalten oder vernichten kann, als der jetzt aufgegebene, medicinisch-militärische bei Cholera.32 Dieses seinem Onkel als Leiter des Oberzensurkollegiums bestimmte Schreiben wurde ohne Raumers Wissen und Zustimmung in der Presse bekannt gemacht.33 Damit zog er sich den Argwohn des Königs zu, der ihm am 21. Juli 1833 schrieb: Ich habe keine Bedenken gefunden, Sie nach Ihrem Wunsche als Mitglied des OberCensur-Kollegiums zu entlassen und Sie fernerhin von den Arbeiten desselben um so mehr zu entbinden, als Sie sich ihnen früher schon auf eine ungehörige Weise entzogen haben, kann jedoch nicht umhin, Ihnen meine ernstliche Mißbilligung der verunglimpfenden Fassung Ihres Entlassungsgesuches vom 30. Oktober 1831 und dessen Verbreitung durch Mittheilung an andere Personen, die den Mißbrauch einer öffentlichen Be-
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Friedrich Kapp unterstreicht, dass Raumer in den ersten Jahren seine Pflichten als Mitglied des OZK wahrnahm, ebd., S. 229. 31 Zu diesem Vorfall vgl. Lebenserinnerungen (wie Anm. 1), S. 99–117, und Kapp: Die preußische Preßgesetzgebung (wie Anm. 24), S. 229–232. 32 Lebenserinnerungen (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 357. Kapp erklärt, dass K. von Raumer sich ursprünglich weigerte, das Schreiben den Ministern zu zeigen, sein Neffe ihn aber dazu zwang, Kapp: Die preußische Preßgesetzgebung (wie Anm. 24), S. 230–231. 33 Raumer fügte seine Verteidigungsakte den Lebenserinnerungen bei (Bd. 2, S. 356–360). Daraus wird klar, dass Brockhaus’ Gehilfe, Schönrock, seinem ehemaligen Meister, Erhart, in Stuttgart eine Kopie des Schreibens hat zukommen lassen. „Letzerer aber druckte sie in der von ihm verlegten Stuttgarter Allgemeinen Zeitung ab, von wo das Schriftstück zunächst seinen Weg in die Allgemeine Augsburger, Speyerer, Casseler, Bremer Zeitung und den Nürnberger Korrespondenten fand. Raumer möchte sich entschuldigen, soviel er wollte, und den Sachverhalt erklären, es half nichts, und er wurde sogar polizeilich vernommen.“ Kapp: Die preußische Preßgesetzgebung (wie Anm. 24), S. 231.
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kanntmachung zur Folge gehabt hat, zu erkennen zu geben […]. Ich erwarte, daß Sie zu solchen Vorwürfen fernerhin keine Veranlassung mehr geben werden.34 Dennoch drehte sich der Vorfall zu Raumers Gunsten – nämlich in liberaleren Kreisen sowie im Ausland. So liest man in einem Brief vom französischen Publizisten Saint-MarcGirardin: Ce ne sont pas seulement vos livres, Monsieur, qu’il faut admirer; ce sont vos actions. Votre demission des fonctions de censeur vous fait en France un renom populaire. Vous etes plus heureux que beaucoup de nos hommes d’etat. Vous reunissez la popularite et la gloire. Dans notre pays elles sont trop souvent separees l’une de l’autre.35 Hiermit wird auf eine mehrspurige Rezeption hingewiesen. Zuerst eine innenpolitische, preußische, in der Raumer eine Persönlichkeit in einer Konstellation zahlreicher Staatsdiener ist, die entweder in der Politik und Verwaltung oder in einer akademischen Institution versuchten, sich einen Weg zu Machtpositionen zu bahnen. Darüber hinaus aber verfügte Friedrich von Raumer über ein Prestige, das auf seinen Schriften und Taten beruhte und ihn zum intellektuellen Weltbürger machte. So verhalf ihm seine Politik nach außen zu einer etablierten Funktion als Mittler in einem weltweiten Netzwerk, wovon seine erhaltene An-Korrespondenz zeugt. Dies lässt sich am Beispiel seiner Tätigkeit an der Akademie der Wissenschaften deutlicher noch belegen.
Vom Akademie-Mitglied zum ‚Marquis Posa‘ Neben seiner langjährigen Tätigkeit an der Berliner Universität, wo er zu der ersten Generation der Historiker vom Fach gehörte, wurde Friedrich von Raumer 1827 AkademieMitglied und bis 1847 ständiger Sekretär der historisch-philologischen Klasse. In seiner bereits erwähnten Rede zu Raumers Aufnahme in die Akademie hebt Friedrich Schleiermacher die intellektuellen Grundzüge des neuen Mitgliedes hervor: Sie, mein Herr, haben schon während Sie noch Staatsmann waren als politischer Schriftsteller in Ihren Dialogen Ueber Krieg und Handel,36 in Ihrem brittischen Besteuerungssystem,37 gezeigt, wie derjenige die Gegenwart betrachtet, welchem die Entwikklung der menschlichen Dinge in ihren allgemeinen Grundzügen wie in den eigenthümlichen Formen verschiedener Zeiten und Zonen lebendig vorschwebt. Seitdem
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Zitiert von Kapp, ebd., S. 232–234. NL Raumer, Korrespondenzkasten, Brief von Saint-Marc-Girardin, S. 105. Sechs Dialoge über Krieg und Handel, 1806 in Berlin unter der Herausgabe von Johannes von Müller erschienen. Das Brittische Besteuerungs-System: insbesondere die Einkommensteuer, dargestellt, mit Hinsicht auf die in der Preussischen Monarchie zu treffenden Einrichtungen, Berlin 1810.
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haben Sie sich keinem von den verschiedenen Zweigen, welche diese Klasse der Akademie in sich vereinigt, fremd gezeigt.38 Mit dem Begriff des „politischen Schriftstellers“ trifft Schleiermacher genau, was Raumers Wirkungssphäre definiert.39 Eine enge Verbindung von akademischer Statur und politischem Denken wird ebenfalls in François Pierre Guillaume Guizots Dankschreiben an Raumer zu seiner Ernennung zum auswärtigen Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften ermittelt.40 In dieser Angelegenheit hatte Raumer als Sekretär der historischphilologischen Klasse den französischen Staatsmann angeschrieben. Bezeichnenderweise knüpft Guizot an eine Passage in Raumers Brief an, die weniger mit der akademischen Tätigkeit als mit der politischen Praxis zu tun hat: Je ne vous remercie pas moins, Monsieur, des vœux que vous m’exprimez pour le succès de la politique de paix et de bonne intelligence Européenne que je m’efforce de faire prévaloir de nos jours, dans l’état actuel de la civilisation et de l’esprit humain, la guerre sans nécessité absolue et sans justice évidente seroit une monstruosité. Croyez, Monsieur, que cela est compris et senti en France aussi bien qu’en Allemagne; et ne laissez pas reparoître parmi vous des préventions, des minorités nationales qui rendroient la tâche des amis de la paix bien plus difficile et leur succès plus incertain.41 Auch ohne Kenntnis von Raumers Originalbrief, zeigt sich an diesem Schreiben, wie er seine höchsten akademischen Ämter mit einer politisch-diplomatischen Funktion verband und unter diesem doppelten Gesicht in der Weltpolitik hervortrat. Doch auch hier hatte die Politisierung des akademischen Diskurses ihre Grenzen. Diese überschritt Raumer mit der Rede auf Friedrich II. vom Januar 1847, die er als ständiger Sekretär der historisch-philologischen Klasse zu halten hatte. In dieser Rede würdigte Raumer Friedrichs Toleranzpolitik und kritisierte damit indirekt die romantisch-konservativen
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Friedrich Schleiermacher: Rede zur Aufnahme Raumers an der Akademie der Wissenschaften, 3. Juli 1827. 39 Die Rezeption von Raumers Veröffentlichungstätigkeit als Produkt eines Intellektuellen mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit ging sogar über die Grenzen Preußens hinaus. So schrieb ihm der französische Publizist Saint-Marc Girardin – auch hier als Lob (bzw. Selbstlob!) zu verstehen: „Votre developpement historique de l’idee de droit, de l’etat et de la politique est sous la forme d’articles separés que vous lui avez laissée une histoire complete de la science politique ou de la civilisation. Tel est l’avantage de tout ce qu’écrivent les hommes de notre trempe, Monsieur. Ils generalisent tout. dans les plus petits details, ils embrassent beaucoup. Comme les grands peintres de paysage et de marine, ils enferment dans un cadre etroit une grande et admirable perspective.“ NL Raumer, Korrespondenzkasten, Brief von SaintMarc-Girardin an Raumer, undatiert, S. 104–105. 40 Vgl. Brief von Guizot an Raumer vom 12. Dezember 1840, NL Raumer, Staatsbibliothek zu Berlin – PK, Korrespondenzkasten, S. 60: „J’ai été vivement touché de l’honneur que vient de me faire l’Académie des Sciences de Berlin en me conférant le titre de Membre étranger.“ 41 Brief von Guizot an Raumer vom 12. Dezember 1840, NL Raumer, Staatsbibliothek zu Berlin – PK, Korrespondenzkasten, S. 60.
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Kreise der gegenwärtigen preußischen Regierung in Anwesenheit des Thronfolgers.42 Der Historiograph der Raumer-Familie hebt bei der Schilderung des anschließenden Vorfalls, beinahe 150 Jahre später, die gleichen Einwände heraus, die Solger seinem Freund 1812 gemacht hatte: Daß der Redner nun auch seinerseits scharf wurde, wird ihm niemand verargen; aber der Ton seiner Polemik war nicht der akademische […]. Viel bedenklicher aber war es, daß er auch in der Sache die Grenze nicht einhielt und sich nach einer ausgezeichneten Vertheidigung jenes friedericianischen Worts in Ausführungen erging, die im Sinne einer Warnung für den Monarchen, der die Rede anhörte, verstanden werden mußten.43 In der Vormärzstimmung, die in der preußischen Hauptstadt herrschte, bewirkten die Rede und der darauffolgende Abgang Raumers aus der Akademie44 jedoch alles andere als eine Verurteilung in der öffentlichen Meinung. Im Gegenteil: Seine Geste verhalf ihm in Preußen und Europa als neuer „Marquis Posa“ zum Ruhm.45 Kurz darauf wird er Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung. Dennoch war damit seine Rückkehr in die Politik nicht endgültig vollzogen. Er erwies sich dort als erstaunlich wirkungslos und gab nach der ersten Legislaturperiode diesen Versuch auf.46 Nach dieser zweiten, erfolglosen politischen Erfahrung ging Raumer erneut auf Reisen.47 Denn als Vertreter Preußens im Ausland war er in der Tat alles andere als wirkungslos. Strategische Gesten verhalfen ihm dazu: So ließ er etwa ausgewählten ausländischen Politikern und Gelehrten seine Werke zukommen. Einige kannte er von seinen Reisen,48 mit
42 Vgl. Friedrich: Friedrich von Raumer (wie Anm. 1), S. 37. 43 Raumer: Geschichte (wie Anm. 1), S. 107/108. 44 Zunächst beabsichtigte er nur, als Sekretär abzutreten; nachdem der Entschuldigungsbrief der Akademie aber in die Presse kam, tritt er komplett von der Akademie ab. 45 Vgl. Friedrich: Friedrich von Raumer (wie Anm. 1), S. 37: „Die Angelegenheit bekam dadurch noch ein unangenehmes Nachspiel, daß der Minister Eichhorn es für nötig erachtete, das Schreiben der Akademie in der Presse zu veröffentlichen. Das nur für den König bestimmte, fast servile Entschuldigungsschreiben brachte der Akademie in der Öffentlichkeit Spott und Haß ein. Raumer […], der ‚allein Männerstolz vor Königsthronen bewährt‘ hatte, erreicht jetzt den Höhepunkt seiner Popularität. Überall wurde er als Marquis Posa gefeiert, in den Zeitungen fand die Angelegenheit stärksten Widerhall“. 46 Er berichtet selber in seinem Literarischen Nachlaß (wie Anm. 1) nüchtern darüber, vgl. ebd. Bd. 1, S. 1: „Mein Austritt aus der Berliner Akademie (1847, worüber ich vor der Hand noch schweige) machte mich, gegen die Erwartung Vieler, so bekannt und beliebt, daß ich zum Stadtverordneten erwählt wurde. Ich habe die mir dadurch auferlegten Pflichten mit freudiger und eifriger Theilnahme zu erfüllen gesucht […]. Ueber meinen Aufenthalt und meine, meist fruchtlose, Thätigkeit als Reichstagsabgeordneter in Frankfurt am Main und in Paris, geben meine gedruckten Briefe umständliche Auskunft“; sowie schlussstrichziehend auf S. 3 ebd.: „Hiermit nahm meine politische Thätigkeit ein Ende, und ich hatte Gründe genug eine Erneuerung nicht zu wünschen. Ich habe durch dieselbe viel gelernt, aber keinen bekehrt, und nichts bewirkt“. Seinen geringen Einfluss begründet Raumer u.a. damit, dass er sich keiner Partei anschloss. 47 Vgl. ebd., S. 3. 48 Vgl. ebd., S. 3.
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anderen verband ihn eine akademische Beziehung.49 Auf diese Weise wurde er international wahrgenommen. Aus dem Nachlass lassen sich überzeugende Belege dafür aus den USA, England und vor allem Frankreich50 hinzufügen. Mit dem ihm üblichen Schwung nahm der französische Publizist Saint-Marc-Girardin zu Raumers Untergang Polens wie folgt Stellung: „C’est rendre service a la France que de lui faire connaitre des ouvrages aussi remarquables que les sont les votres“.51 Seine englischen und nord-amerikanischen Briefpartner ihrerseits wiesen noch expliziter auf den Nutzen hin, den sie von Raumers Schriften haben. So schrieb ihm der amerikanische Historiker William Hickling Prescott im April 1846: It has been a pleasant thing to your friends on this side of the water to read the fruits of your travels and scientific investigations in the valuable work which has come from your pen.52 It is impossible to read the speculation of an enlightened foreigner on our domestic institutions, without getting valuable hints, the more valuable as not likely to present themselves to the mind of a native, familiarized from the cradle to the operation of these institutions. […] All the intelligent of my countrymen, whom I have conversed with on the subject, accord high merit to your work on the score of extensive information & very sagacious reflection, even where they differ from you as to the conclusions.53 In dieser Konstellation wusste sich Raumer optimal zu positionieren. Der vermeintliche Mangel an Tiefe, die lose Struktur, die fehlerhafte Wissenschaftlichkeit, die ihm im deutschsprachigen Raum vorgeworfen wurden,54 werden international ganz anders wahrgenommen. Hier wird ihm nicht nur eine gute Kenntnis der Sachlage zugebilligt, sondern darüber hinaus noch seinen Stil gelobt.55 So schreibt Prescott, besonders angenehm sei seine „calm and dispassionate“ Manier.56 Trotz seiner im Wesentlichen viel kritischeren Einstellung als der Prescotts lässt sich der Brief des Grafen von Stanhope vom 10. August 1841 im Ansatz ähnlich interpretieren. Stanhope inszeniert sich und Raumer als die jeweiligen Vertreter von zwei Nationen, zwei Interessen und daher zwei politischen Einstellungen, die zwar auseinandergehen, aber im Gespräch miteinander bleiben.57 Dennoch ist es nicht Stanhope, sondern Prescott, der 49 Vgl. Brief vom Institut de France vom 20. Oktober 1866, NL Raumer, Korrespondenzkasten, S. 102. 50 Zur Intensität der französischen Raumer-Rezeption, vgl. u. a. Literarischer Nachlaß (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 3, Liste der französischen Ansprechpartner (vgl. mit Liste der Engländer, Amerikaner, etc., auf S. 4). 51 Brief von Saint-Marc-Girardin, NL Raumer, Korrespondenzkasten, S. 104. 52 Die Vereinigten Staaten von Amerika, 1845. 53 Brief von William Hickling Prescott vom 30. April 1846, NL Raumer, Korrespondenzkasten, S. 82. 54 Vgl. Raumer: Geschichte der Familie (wie Anm. 1), S. 104/105. 55 Ähnliches lässt sich den Briefen des englischen Historikers George Grote aus dem handschriftlichen Nachlass entnehmen. 56 Brief von William Hickling Prescott vom 30. April 1846, NL Raumer, Korrespondenzkasten, S. 83. 57 „Es ist mir nicht möglich Ihre Ansichten zu theilen; indeß erkenne ich gern mit wie viel Aufrichtigkeit und Treusinn diese Ansichten von Ihnen behaubtet sind. Ganz unpartheiisch sind wir vielleicht beide
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Raumer explizit zum humanistischen Weltbürger krönt: „The broad and generous views which you take of all the great features of our public policy commend themselves to every true lover not only of this country, but of the human race. For your views are those of a citizen of the world“.58 Dieses Idealbild Raumers als Weltbürger weist an erster Stelle auf seine Mittlerfunktion hin, die in der Tat aus ihm in der Gelehrtenrepublik einen preußischen Diplomaten ersten Ranges machte. Dass sein langes Leben zu dieser Stellung beigetragen hatte, wusste er selbst. 1861 eröffnete er seine Lebenserinnerungen und Briefwechsel mit einer Selbststilisierung, welche Politisches, Akademisches und Persönliches aufs Engste verbunden inszeniert: 1861. Den 14. Mai bin ich volle 80 Jahre alt. Den 9. September bin ich 50 Jahre Professor. Den 5. October bin ich 50 Jahre Doctor. Den 20. Oktober bin ich 50 Jahre verheiratet. Den 8. December bin ich 60 Jahre in königlichem Dienste. Den 20. Dezember bin ich 60 Jahre Mitglied der Singakademie.59 Eben dieses Bild eines wackeren, beinah unzerstörbaren Intellektuellenlebens fasste sein Briefpartner George Grote zusammen, indem er ihn einen „Isokrates“60 nannte. Auch wenn Raumers Bedeutung der des Sokrates nicht standhält – sicher ist, dass seine Schriften und seine Taten die Komplexität der Beziehungen zwischen Politik und Wissenschaft im Berlin des 19. Jahrhunderts besser auffassen helfen.
nicht. – Es ist möglich daß mir das Wohlseyn meines Vater’s Pächter und mein eigenes GeldSackes etwas zu nahe am Herzen liegt; an Ihrer Seite haben Sie vielleicht – als ein guter Preusse und Patriot – nicht vergessen wie viel der Land-Bauer in Posen und der Handelsmann in Dantzig an einen offenen Korn-Handel mit England zu gewinnen hätten.“ Brief von Philip Henry Earl of Stanhope vom 10. August 1841, NL Raumer, Korrespondenzkasten, S. 190. 58 Brief von William Hickling Prescott vom 30. April 1846, NL Raumer, Korrespondenzkasten, S. 82/83. 59 Vgl. Lebenserinnerungen (wie Anm. 1), unnummerierte Frontseite. 60 Vgl. Brief von George Grote an Raumer vom 11. Februar 1862, NL Raumer, Korrespondenzkasten, S. 56: „It is interesting for me to learn from your preface that you have already passed your eightieth year. I trust that your career of literary activity, long as it has already been, may be yet farther prolonged, together with such reasonable measure of bodily health as is indispensable to the exertion of mental power. Isokrates was 82 years of age when he composed the Oration περι Aντιδοσεως – & 94 when he wrote his last or Panathenaic Oration –“.
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Julius Eduard Hitzig und Das gelehrte Berlin
Im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin und im Archiv des Stadtmuseums Berlin finden sich insgesamt vier Lithographien aus der Gründungsphase und den ersten drei Jahrzehnten der Berliner Universität. Sie gehören zu einem Lithographiezyklus, der den Titel Das gelehrte Berlin trägt (Abb. 1–4).1 Die Künstler der vier Blätter sind jeweils verschiedene – die erste Lithographie stammt von Julius Schoppe, die zweite von Loeillot de Mars und die beiden folgenden von Wilhelm Devrient –, das Thema ist jeweils identisch. Dargestellt sind pro Blatt sechs oder sieben Berliner Gelehrte in Einzelporträts im Brustbild, die zu einem Oval angeordnet sind. Die Lithographien entsprechen dem gängigen Typus des Künstler- bzw. Gelehrtenporträts der Berliner Biedermeiermalerei, bei dem Einzelstudien versatzstückartig in einen größeren Zusammenhang, in diesem Fall den des ‚gelehrten Berlin‘, eingeordnet werden. Die Dargestellten sind jeweils durch eine Nummer gekennzeichnet, die ihnen im unteren Teil des Bildes ihren Namen zuordnet. Bei den Dargestellten auf dem ersten Blatt handelt es sich um die bekannten Gründungsmitglieder und Professoren der Anfangsjahre der Berliner Universität Wilhelm von Humboldt, Christoph Wilhelm Hufeland, Alexander von Humboldt, Carl Georg Ritter, Johann August Wilhelm Neander, Friedrich Schleiermacher und Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Auch die Namen der auf dem zweiten Blatt Dargestellten sind nicht weniger illuster: Karl Friedrich Savigny, Friedrich Ludwig Georg von Raumer, Martin Hinrich Carl Lichtenstein, Heinrich Friedrich Link, Christian Samuel Weiss, Paul Erman und Philipp Konrad Marheinecke. Wenn vielleicht auch heute nicht mehr ganz so bekannt, so doch für das gelehrte Berlin der zwanziger und dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts integral, sind die Abgebildeten der dritten und vierten Lithographie: Ernst Horn, Friedrich Theodor Poselger, Ernst Ludwig Heim, Carl Ferdinand von Graefe, Philipp August Boeckh, Julius Eduard Hitzig, Eilhard Mitscherlich, Johann Nepomuk Rust, Johannes Müller, Ludwig Ernst Könen, Johann Christian Jüngken, Dietrich Wilhelm Heinrich Busch und Johann Friedrich Dieffenbach. Ihnen allen war die Zugehörigkeit zur neugegründeten bzw. jungen Berliner Universität gemein, und ein Groß1
Drei der vier Blätter sind abgebildet bei Angelika Keune: Gelehrtenbildnisse der Humboldt-Universität zu Berlin. Denkmäler, Büsten, Reliefs, Gedenktafeln, Gemälde, Zeichnungen, Graphiken, Medaillen, Berlin 2000, S. 199–203.
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teil von ihnen war Mitglied in der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften. Mit zwei Ausnahmen: dem 1822 zum Ehrenbürger Berlins ernannten, äußerst populären Arzt Ernst Ludwig Heim und Julius Eduard Hitzig. Dass Heim, der der behandelnde Arzt der Königin Luise gewesen und dem die besondere Verehrung der gesamten Berliner Bevölkerung dank seiner oft auch unentgeltlich geleisteten ärztlichen Behandlungen sicher war, in den Kreis des ‚gelehrten Berlin‘ aufgenommen wurde, verwundert kaum, hatte er doch bereits die Rufe an die Universitäten von Frankfurt an der Oder und Halle, die seinen Gelehrtenstatus bekundeten, abgelehnt. Julius Eduard Hitzig waren solche Auszeichnungen nicht zuteil geworden. Weder war er an eine, geschweige denn an die Berliner Universität berufen, noch in den Kreis der Mitglieder der Preußischen Akademie der Wissenschaften aufgenommen worden. Warum also die Gleichstellung mit den so angesehenen Honoratioren der Berliner Gelehrtenwelt und die Aufnahme in das so prominent besetzte ‚gelehrte Berlin‘? Man könnte über die persönliche Bekanntschaft zwischen dem Lithographen und Hitzig spekulieren. Eduard Devrient, der Bruder des Lithographen, war schließlich Mitglied der von Hitzig geleiteten Literarischen Mittwochsgesellschaft. Die Tatsache, dass der gesamte Zyklus von unterschiedlichen Lithographen gefertigt wurde und geschlossen im Verlag George Gropius erschien, spricht allerdings dafür, dass es sich hier um ein Verlagsprojekt handelte, bei welchem der Lithograph nur Ausführungsgehilfe war, sprich keinen Einfluss auf die Auswahl der Dargestellten hatte. Der Auftraggeber wird in diesem Fall wohl der Verlag gewesen sein. Unter Gropiusʼ Leitung erschienen schließlich ähnlich konzipierte Lithographiereihen wie die Berliner Künstler, Berliner Komponisten und Preussens Helden. Zu erklären ist die Auszeichnung, die Hitzig hier zuteil wurde, daher allein mit seiner Sonderstellung im Berlin des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts, die ihn den angesehenen Professoren der Berliner Universität gleichstellte. Als konvertierter Jude mit umfassender aufklärerischer Schul- und rechtswissenschaftlicher Universitätsausbildung hatte er sich nach zweijährigem juristischen Referendariatsdienst in Warschau und Berlin und dreijähriger Anstellung als Regierungsassessor in Warschau innerhalb kürzester Zeit nach seiner Rückkehr nach Berlin im Jahr 1807 als Buchhändler und Verleger einen Namen gemacht. Es gelang ihm, der romantischen Bewegung in seinem neuen, rasch aufblühenden Verlag eine neue Heimat zu geben und zahlreiche Neuentdeckungen zu veröffentlichen. Zu seinen stärksten Zugpferden zählten dabei August Wilhelm Schlegels Spanisches Theater, Friedrich Schlegels Gesammelte Werke, Fichtes Wissenschaftslehre, allein 19 Texte von Fouqué, u. a. die Undine, die in Berlin in Hoffmanns Vertonung für Aufregung sorgte, Kleists Abendblätter, Kotzebues Russisch-Deutsches Volksblatt, das Nibelungenlied in seinen unterschiedlichen Lesarten, unterschiedliche Übersetzungen von Schillers Lied an die Freude, ShakespeareÜbersetzungen von Schlegel und – für das damalige Berlin wohl am wichtigsten – Madame de Staëls De l’Allemagne, das von Hitzig zum Teil selbst übersetzt worden war. Die weitreichenden Kontakte und vor allem die literarischen Beziehungen, die Hitzig im geistig regen Berlin geknüpft hatte, verdankte er in erster Linie dem Verkehr in geselligen Salons, darunter dem Salon seiner Tante Sara Levy sowie den Salons der Sophie Sander, der Elisabeth von Staegemann, der Philippine Cohen und der Rahel Varn-
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hagen.2 Auch sein eigenes Haus hatte sich in Folge seiner Verlegertätigkeit zu einem geselligen Mittelpunkt im Berlin des frühen neunzehnten Jahrhunderts entwickelt und versammelte in erster Linie Dichter und Verleger, aber auch Juristen, Staatsmänner und Gelehrte. „Das beste unter allem, was […] gut und theuer war in Berlin, fand sich bei ihm ein; keine Regel ohne Ausnahme, doch wird die Zahl der Ausnahmen verhältnißmäßig gering ausgefallen sein“,3 erinnerte sich der Sohn Helmina von Chézys, einer engen Freundin Hitzigs, in seinen Lebensbeschreibungen. Neben den Nordsternbrüdern Neumann, Varnhagen und Chamisso waren die Serapionsbrüder Fouqué, E. T. A. Hoffmann und Contessa regelmäßig zu Gast. Ernst Moritz Arndt zu Ehren veranstaltete Hitzig einen „deutschen Männerkreis“ und versammelte „Jahn, Zeune, Sieveking usw.“.4 In den literarischen Kreisen um Ludwig Robert, Reimer, Streckfuß und Raupach verkehrte Hitzig ebenso wie in den gelehrten Zirkeln um Humboldt, Fichte, Schleiermacher, Savigny, Niebuhr und Nicolovius.5 Er fand sich damit, trotz der Vorbehalte, die ihm, dem getauften Juden, aus den Kreisen der christlich-deutschen Tischgesellschaft entgegenschlugen,6 vollständig in ein die Berliner Stadtkultur prägendes soziales Gefüge integriert. Er verstand sich sowohl als Vermittler als auch als Organisator einer (literaturbezogenen) Geselligkeit, in der das Programm der Aufklärung in den moderaten Fortschritt des gesunden Menschenverstandes kanalisiert werden konnte. Die Verknüpfung seiner offenkundig toleranten, konservativen Bürgerlichkeit mit den Erfahrungen seiner jüdischen Herkunft, mit der Konversion, den spezifischen Bedingungen einer Juristensozialisation um und nach 1800 und der Karriere am Kammergericht, die er im Jahr 1814 wieder aufgenommen hatte, trugen zu seinem feinsinnigen Verständnis für Zeitfragen und -anliegen bei. Eindeutig Position bezog er zu Fragen der freien Meinungsäußerung, zu Urheber- und Autorrechten und zur Stellung des Schriftstellers in der Gesellschaft. Juristisch wie publizistisch beschäftigte er sich mit Fragen der Berufsschriftstellerei und des Pressewesens und versuchte die gesellschaftliche Funktion und Relevanz von Literatur, die er durchaus durch die Bestrebungen des Jungen Deutschland gefährdet sah, zu sichern. Dabei galt es, Literatur so weit als möglich von staatlicher Einmischung freizuhalten und eine Weltoffenheit zu propagieren, die die geistig Strebenden aneinanderzubinden suchte – durchaus mit Goethes Segen.
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Vgl. Petra Wilhelmy: Der Berliner Salon im 19. Jahrhundert (1780–1914), Berlin, New York 2000. Wilhelm Chézy: Erinnerungen aus meinem Leben. Bd. 1: Helmina und ihre Söhne, Schaffhausen 1863, S. 254. Brief Hitzigs an Fanny Tarnow vom 26. 4. 1815, zitiert nach Nikolaus Dorsch, Julius Eduard Hitzig: Literarisches Patriarchat und bürgerliche Karriere. Eine dokumentarische Biographie zwischen Literatur, Buchhandel und Gericht der Jahre 1780–1815, Frankfurt/M. 1994, S. 288. Vgl. ebd., S. 288: „Ich habe mich versuchen lassen, eine Einladung anzunehmen, um die Frau des Ministers Humboldt wiederzusehn, u[nd] nächst ihr Schleiermacher, Savigny, Niebuhr, Nicolovius, u[nd] eine Unzahl ähnlicher Geister, u[nd] noch dazu alle mir befreundete Männer, gefunden, u[nd] mich doch zu Tode gelangweilt.“ Vgl. zum Verhältnis der Tischgesellschaft zu Hitzig: Stefan Niehaus: Geschichte der deutschen Tischgesellschaft, Tübingen 2003, S. 363–365.
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Ungezählte literarische Berliner Projekte trugen Hitzigs Handschrift. Er hatte an Chamissos und Varnhagens Musenalmanachen mitgearbeitet, Übersetzungen und eigene Dichtungen geliefert, den Roman des Freiherrn von Vieren7 angeregt, die Biographien seiner Freunde E. T. A. Hoffmann, Zacharias Werner und Adelbert von Chamisso verfasst und im Anschluss an die Gründung der Berliner Universität den Berliner Universitätskalender mit einer Chronik der Berliner Universität ins Leben gerufen. Er gab unterschiedliche Zeitschriften heraus8 und war eifriger Beiträger in fast allen einschlägigen literarischen wie juristischen Zeitschriften der Zeit. Im Rahmen seiner Tätigkeit als Kriminalrat und im Anschluss daran als Direktor des Inquisitoriats sowie als Mitglied des Kriminal-Senats am Kammergericht in Berlin entwarf er darüber hinaus das Bild einer zunehmend selbstbewusst werdenden, auf Unabhängigkeit vom Staat dringenden Richterschaft. Die Verquickung seiner beiden Interessen, der Rechtswissenschaft und der Literatur, machten ihn dabei zu einer der Zentralfiguren des kulturell-gesellschaftlichen Umbruchs am Anfang des 19. Jahrhunderts, indem er einerseits noch ganz dem aufklärerischen Bildungsideal verpflichtet war und Werte und Traditionen der Gelehrsamkeit, die alle Wissenschaftsbereiche umfasst, aufrechtzuerhalten versuchte, und andererseits noch zu Lebzeiten erfuhr, dass in Deutschland, insbesondere in Berlin, ein ‚neuer junger Geist‘ wehte, der mit seiner Vorstellung vom ‚Universalgelehrten‘ kaum noch zu vereinbaren war. Der Begriff des Berliner Gelehrten war, wie die Auswahl der Dargestellten in den vier Lithographien zeigt, aufs Engste mit der Gründung der Universität verbunden. Aus der Berliner Sondersituation von Regierungssitz und Universitätsstandort, die Humboldt bereits 1809 in seinem Antrag zur Gründung der Universität in Berlin als eine zentrale Grundvoraussetzung für den „gegenseitigen Beistand“ und die „Mitwirkung vieler schätzbarer Männer“ zur Beförderung „höher[er] Wissenschaft und Kunst“ gefordert hatte,9 bezogen die Berliner Gelehrten ihr Selbstverständnis, das Berlin schließlich den prestigeträchtigen Namen „Stadt der Intelligenz“10 einbrachte. Die für den Aufstieg Berlins zu einer Kulturmetropole ersten Ranges so charakteristische Konzentration von Bildungs-, Kunst-, Wissenschaftsund Regierungsinstitutionen, begründete damit recht eigentlich den Hauptstadtcharakter. Die Teilnahme von Gelehrten bzw. Professoren der Universität am öffentlichen Hauptstadtleben ermöglichte gleichermaßen einen Kultur- wie einen Wissenstransfer, der sich eben gerade aus der speziellen Situation Berlins als gleichzeitigem Ort der Residenz und der Universität, als Zentrum von wissenschaftlichen und kulturellen Einrichtungen ergab. Dabei 7 Karl Wilhelm Salice-Contessa u.a.: Der Roman des Freiherrn von Vieren, Berlin 1808. 8 Als Herausgeber fünf eigenständiger Zeitschriften zeichnet Julius Eduard Hitzig im Laufe seines Lebens offiziell verantwortlich: der Zeitschrift für die Criminal-Rechts-Pflege in den Preußischen Staaten mit Ausschluß der Rheinprovinzen, der Annalen der deutschen und ausländischen Criminalrechtspflege, der Allgemeinen Justiz-, Cameral- und Polizey-Fama, der Allgemeinen Press-Zeitung und des Neuen Pitaval. Inoffiziell war er darüber hinaus Herausgeber der romantischen Zeitschriften Die Musen und Die Jahreszeiten, für die offiziell Fouqué und Neumann als Herausgeber fungierten. 9 Vgl. Wilhelm von Humboldt: Gesammelte Werke. Bd. 1, Berlin 1988, S. 327. 10 Vgl. Eduard Schmidt-Weißenfels: Die Stadt der Intelligenz. Geschichten aus Berlin’s Vor- und Nachmärz, Berlin 1865.
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suggerierte die Gemeinschaft, in der die 27 Berliner Gelehrten in den Lithographien abgebildet waren, durchaus eine soziale Einheit der Gebildeten, die der Humboldtschen Universitätsidee von Einsamkeit und Freiheit des akademischen Lebens entgegenstand.11 Der typische Gelehrte, der allein in Isolation zu wissenschaftlichen Erkenntnissen gelangte, konnte sich den Anforderungen, die an den modernen Wissenschaftler gestellt wurden, nicht erwehren. Gerade die Ansiedlung der Universität in der Residenzstadt Berlin, die sich durch ein so lebhaftes gesellschaftliches Leben in Form von Salons, Vereinen, Theatern, Museen etc. auszeichnet, stand diesem Humboldtschen Bildungsideal entgegen.12 Vielmehr war auch der Gelehrte in das Berliner Netz von Geselligkeit integriert und nahm mehr oder weniger regelmäßig daran teil. Die auf die Berliner geselligen Zusammenkünfte verteilte Gelehrtenwelt nach der Universitätsgründung war somit eine neue Errungenschaft des Berliner Kulturbetriebs und festigte Berlins Ruf als „Hauptstadt des Wissens“.13 Es waren eben die stadttypischen Bedingungen, die einen wechselseitigen Ideentransfer ermöglichten und Berlin und seine Universität zu seiner wissenschaftlichen Blüte führten. Hitzig, der diese einzigartige Konstellation schon früh erkannt hatte, wusste genau diese berlintypischen Gegebenheiten für den Erfolg seines eigenen Verlag zu nutzen und sicherte sich die Unterstützung und Mitarbeit des gelehrten Berlins: Bot mir ein Autor ein Manuskript an, so wußte ich entweder selbst etwas von dem Fache in welches es einschlug, oder nicht. Im ersteren Fall bildete ich mir ein Urtheil darüber, so gut ich es vermochte; im anderen suchte ich mir, was mir bei den Verhältnißen meines Wohnorts nicht schwer wurde, denjenigen Gelehrten auf, von dem ich am meisten die Kenntniß erwarten durfte, die mir fehlte, trug ihm die Sache vor und begehrte sein Gutachten und hatte mich des besten Erfolgs dieser einfachen Maßnahmen zu erfreuen […].14 Die enge Bindung des Hitzigschen Verlags an die Universität und die Ausrichtung auf ein in erster Linie wissenschaftliches Sortimentsgeschäft erwies sich zudem als ausgezeichnete Geschäftsidee. Mit der Herausgabe des ersten Berliner Vorlesungsverzeichnisses15 und der Einrichtung eines Lesezimmers für die Universität in der Charlottenstraße im Oktober 1810 11
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Vgl. Helmut Schelsky: Einsamkeit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen Universität und ihrer Reformen, Düsseldorf 1971, S. 10. Schelsky fasst Humboldts Universitätsidee unter der Formel ‚Einsamkeit und Freiheit‘ zusammen. Die Idee einer metropolitanen Gelehrsamkeit im Gegensatz zu den Humboldtschen Bildungsidealen entwickelt Sven Haase in seinem Aufsatz: Metropolitane Gelehrsamkeit statt „Einsamkeit und Freiheit“. Die Diskussion um den Universitätsstandort Berlin um 1800, in: Iwan-Michelangelo D’Aprile u. a. (Hrsg.): Tableau de Berlin. Beiträge zur Berliner Klassik, Hannover-Laatzen 2005, S. 113–128. Karlheinz Stierle: Die Hauptstädte des Wissens. Paris und Berlin, in: Otto Pöggeler, Annemarie Gethmann-Siefert (Hrsg.): Kunsterfahrung und Kulturpolitik im Berlin Hegels, Bonn 1983, S. 83– 114, hier S. 84. Julius Eduard Hitzig: Handschriftliches Manuskript als Antwort auf einen Artikel in Nr. 48 der Süddeutschen Buchhändler-Zeitung 1843, Hitzig Nachlass, Stadtmuseum Berlin, XV 658. Julius Eduard Hitzig (Hrsg.): Berliner Universitäts-Kalender auf das Schaltjahr 1812, Berlin 1812.
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hatte er sowohl die Studenten als auch die Unterrichtenden an sich als Verleger und Buchhändler gebunden. Das Lesezimmer, das er mit unterschiedlichen Büchern aus seinem eigenen Programm, aber auch mit anderen Werken von wissenschaftlichem Interesse bestückte, wurde rege frequentiert und hatte innerhalb kürzester Zeit über 150 Mitglieder. „Jeder Student [könne hier] mehrere Zeitungen u. Journale unentgeltlich lesen“,16 darüber hinaus seien „sämmtliche Compendien, über welche bey der hiesigen höheren Lehranstalt gelesen“17 würde, sowie „alle in Deutschland erscheinenden wissenschaftlichen Neuigkeiten“18 einsehbar und zum „Excerpiren“19 zu benutzen. Daneben fanden sich die neuesten Bücherverzeichnisse und Ankündigungen, „kurz Alles, was erforderlich ist, um den Gang der neusten wissenschaftlichen Literatur beständig verfolgen zu können“,20 wie Hitzig mitteilte. Durch die Aktualität der einsehbaren Werke war das Hitzigsche Lesezimmer zu Beginn durchaus ein ernstzunehmender Konkurrent der Königlichen Bibliothek, die von den Studenten als Universitätsbibliothek genutzt wurde, es hatte ihr in mancherlei Hinsicht den Rang abgelaufen.21 Die Berliner Universität und die Akademie der Wissenschaft trugen entscheidend zur Neuorganisation wissenschaftlichen Arbeitens und zum Austausch neuerworbenen Wissens bei. Als Zentren für wissenschaftlichen Austausch boten sie die Möglichkeit, Kommunikationsnetzwerke, die zuvor allein durch Briefverkehr oder Besuchsreisen privatim gepflegt 16 17 18 19 20 21
Die Briefe Johann Daniel Sanders an Carl August Böttiger. Hrsg. v. Bernd Maurach. 4. Bd., Bern 1993, S. 203. Friedrich Gubitz: Korrespondenznachrichten, Berlin 8. Mai 1811, in: Morgenblatt für gebildete Stände, Nr. 130, Freitag, 31. Mai 1811, S. 520. Ebd. Ebd. Julius Eduard Hitzig: Kurze Nachricht von der neuen Einrichtung des Lesezimmers für die Universität, zweite Auflage 1811, in: Hitzig: Berliner Universitäts-Kalender (wie Anm. 15), S. 26–29. Vgl. hierzu Anna Busch: Wissensorganisation und -vermittlung in der Gründungsphase der Berliner Universität. Julius Eduard Hitzigs ,Lesezimmer für die Universität‘ als erste Berliner Universitätsbibliothek, in: Anne Baillot (Hrsg.): Netzwerke des Wissens. Das intellektuelle Berlin um 1800, Berlin 2011. Ganz allein stand Hitzig mit seiner Idee zur Einrichtung eines Lesezimmers für die Universität nicht da. Das Weckermeistersche ‚Museum‘ verfolgte ein ähnliches Konzept, richtete seinen Bestand allerdings in erster Linie auf die aktuellen deutschen und französischen Journale aus („7 theologische, 7 juristische, 16 für Medizin, Chirurgie, Pharmacie, Geburtshilfe, Physik und Chemie, 17 für Naturgeschichte, Oekonomie, Haushaltungs- und Gartenkunst, Technologie und Handlungswissenschaft, 10 für Länder- und Völkerkunde, 5 für Pädagogik, 8 kritische Zeitschriften, 17 für Geschichte und Politik, 22 politische Zeitungen, 46 Zeitschriften vermischten, größtenteils schönwissenschaftlichen Inhalts, 17 französische, literarische und politische Zeitschriften, und englische, in Frankreich erscheinende Journale.“ Spenersche Zeitung, Nr. 116 vom 27. September 1810). An einem ähnlichen Geschäftsmodell versuchte sich Ende 1811 Perthes, der, wohl Hitzigs Beispiel folgend, ein ‚Lesecabinett für französische Jurisprudenz und die Administration‘ in Hamburg einrichtete, das in erster Linie Lehrbücher zur französischen Verwaltung und Rechtswissenschaft bereitstellte und sich durch die Mitgliedsbeiträge tragen sollte. Perthes’ Lesecabinett musste bereits ein Jahr später wieder aufgelöst werden, da es sich nicht des nötigen Zuspruchs erfreuen durfte. Vgl. hierzu Dirk Moldenhauer: Geschichte als Ware. Der Verleger Friedrich Christoph Perthes (1772–1843) als Wegbereiter der modernen Geschichtsschreibung, Köln 2008, S. 107.
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worden waren, in institutionellem Rahmen zu etablieren und eine Basis für das gelehrte Gespräch in semi-öffentlichen Zusammenhängen herzustellen. Fachöffentliche Kommunikation in Form von Zeitschriften und Rezensionen manifestierte darüber hinaus den Ruf des Gelehrten. Die einzige Möglichkeit Hitzigs, dem weder Universität noch Akademie offen standen, an einem wissenschaftlichen Gespräch teilzunehmen, waren die von ihm herausgegebenen rechtswissenschaftlichen Organe Zeitschrift für die Criminal-Rechts-Pflege in den Preußischen Staaten mit Ausschluß der Rheinprovinzen22 und Annalen der deutschen und ausländischen Criminal-Rechts-Pflege.23 Das Fachgespräch, welches er in diesen zwei äußerst erfolgreichen, viele Jahre bestehenden Zeitschriften zu initiieren versuchte, erstreckte sich zu Beginn in erster Linie auf die bereits seit längerem in Rechtskreisen schwelende Frage, ob Preußen einer Neufassung seiner Strafgesetze, die bis dato im Preußischen Allgemeine Landrecht geregelt waren, bedürfe. Die Zeitschriften fungierten gleichsam als Diskussionsforum für Sachkundige des In- und Auslandes, die an einem Gespräch über die angestrebten strafrechtlichen Neuregelungen teilnahmen. Trotz der Bindung des von Hitzig initiierten, wissenschaftlichen Diskurses an den speziellen Kommunikationsraum der Fachliteratur bzw. der Fachzeitschriften konnte er die Zuordnung seiner Person zum Gelehrtenstand für sich selber nicht in Anspruch nehmen. Das Lob, das ihm sein Fachkollege Julius Abegg 1827 für die bis dato erschienenen fünf Bände seiner Zeitschrift für die Criminal-Rechts-Pflege in den Preußischen Staaten mit Ausschluß der Rheinprovinzen spendete, konnte Hitzig kaum akzeptieren: Wer den besten seiner Zeit genug gethan / Der hat gelebt für alle Zeiten, sagt Göthe, und so kann ja wohl einem nicht zum Autor berufenen Geschäftsmanne nichts Erfreulicheres begegnen, als den Beifall eines solchen Gelehrten zu erhalten, wie ich ihn in Euer Wohlgeborn aufrichtig verehre.24 Sich selber im Gegensatz zu Abegg, dem verehrten Gelehrten, als ‚nicht zum Autor berufenen Geschäftsmann‘ darstellend, wies Hitzig die ihm von außen angetragene Wertschätzung für seine wissenschaftliche Leistung entschieden zurück. Die ihm von der juristischen Fakultät der Universität Tübingen im Jahr 1832 zugesprochene Ehrendoktorwürde mitsamt der Anerkennung als „Beförderer der Rechtswissenschaft und als praktischen Rechtsgelehrte[r]“25 war in seinen Augen gleichermaßen kaum 22
Zeitschrift für die Criminal-Rechts-Pflege in den Preußischen Staaten mit Ausschluß der Rheinprovinzen. Mit Genehmigung und Unterstützung des Königl. Justizministerii aus amtlichen Quellen Hrsg. v. J. E. H., Königl. Preußischem Criminal-Rath im Criminalsenate des Kammer-Gerichts zu Berlin usw., Berlin 1825–1833. 23 Annalen der deutschen und ausländischen Criminal-Rechts-Pflege. Hrsg. v. dem Criminal-Director Hitzig in Berlin, Berlin 1828–1837 (fortgesetzt durch Demme und Klunge bis 1845, durch Schletter fortgesetzt bis 1855). 24 Julius Eduard Hitzig an Julius Friedrich Heinrich Abegg vom 20. Juli 1827, Staatsbibliothek Berlin, Handschriftenabteilung, Nachl. 283 (J. F. H. Abegg) Hitzig. 25 Dr. Ch. Wächter (Dekan der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen) an Julius Eduard Hitzig, 14. Januar 1832, Geheimes Preußisches Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, HA I, Rep. 92, Nachlass J. E. Hitzig Nr. 1, Bl. 37.
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anzunehmen. Seine Verdienste um die Theorie und Praxis des Kriminalrechts sowie die ausgezeichneten Kenntnisse, der Scharfsinn und die rastlose Tätigkeit, mit welcher er für die Interessen der Wissenschaft wirke, seien so sehr anerkannt, dass die Fakultät bei seiner Aufnahme in die Reihe der Doktoren des Rechts sich als Organ einer allgemeinen Stimme betrachten zu dürfen glaubte, ließ ihn der Dekan der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen in seinem Zuerkennungsschreiben wissen.26 Hitzigs Antwort war über Koketterie hinaus in erster Linie eine bescheidene Analyse seiner eigenen fachlichen Qualitäten: Denn niemand fühlt es ja mehr, als ich, daß ich noch durchaus nichts für die Wissenschaft geleistet, was deren höchste Ehre verdiente, es ist also, wie es mir scheint, richtigerweise die mir gewordene Auszeichnung anzusehen, als eine, nur zu reichliche Belohnung des Strebens, worauf mein literarisches, wie amtliches Wirken fortwährend gerichtet ist, − die vaterländische Rechtsprechung immer freier zu machen von einem todten Formalismus, und sie mehr und mehr der lebendigen Quelle der Doctrin zuzuführen.27 Auch von Seiten eines seiner stärksten Widersacher, Eduard Meyen, wurden die von Hitzig eingeräumten Schwächen gesehen und in öffentlichen Blättern vorgeführt: Herr Hitzig ist zwar Jurist, aber mit der Rechtsphilosophie hat er nichts gemein, obgleich man es verlangen könnte, da diese Wissenschaft, wie die ganze Philosophie schon seit Kant existiert. – Er ist ein Realist, gut, auch solche Leute sind zu brauchen, was drängt er sich dann aber in die Sphäre des Gedankens, wo er nicht hingehört?28 Und tatsächlich stand Hitzig, der durchaus ein sich auf praktische Verhältnisse einlassender Publizist war, dessen Ziel es war, öffentlich Einfluss zu nehmen, dem Wissenschaftler, der sich allein in seinen Gegenstand versenkte, um ihn mit Fachkollegen zu besprechen, nicht ganz unskeptisch gegenüber. Die Professionalisierungsprozesse, deren Zeuge Hitzig vor allem in den Rechtswissenschaften wurde, nötigten ihm zwar selber eine akademische Spezialisierung auf, der er versuchte, mit Hilfe der von ihm herausgegebenen Zeitschriften gerecht zu werden. Die Reaktion auf diese neuen Differenzierungserfahrungen blieb aber gespalten. Dabei war es gerade das auf Bildung fußende, von Hitzig propagierte, erstarkende bürgerliche Selbstbewusstsein, das zu diesem fundamentalen Wandel im Wissenschaftsgebaren beitrug. Gelehrte Bildung wurde schließlich vom Bürgertum als entscheidende Aufstiegschance begriffen und beeinflusste nachhaltig seine Selbstdefinition, womit auch die Affinität der Gelehrsamkeit zum bürgerlichen Kulturkanon zu erklären wäre. Neben dem Geburts- oder Geldadel etablierte sich eine neue Geistesaristokratie. Der (spezialisierte) 26 27
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Ebd. Julius Eduard Hitzig an die hochlöbliche Juristen = Facultät zu Tübingen, 30. Januar 1832, Geheimes Preußisches Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, HA I, Rep. 92, Nachlass J. E. Hitzig Nr. 1, Bl. 44– 45. E. Meyen: Hitzig betreffliches, in: Baltische Blätter vom 21. Juni 1838, Nr. 99, S. 395.
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Gelehrte wurde zum Vehikel eines allgemeinen, bürgerlichen Bildungsauftrags und fand sich damit im 19. Jahrhundert an der Spitze der Gebildeten wieder. Die Nutzung des Gelehrtenstatus ermöglichte dann – ganz im Hitzigschen Sinne − aktive Einflussnahme auf ‚Öffentlichkeit‘, zumindest auf veröffentlichte Meinung. Durch die allgemeinverständliche und publikumswirksame Verbreitung wissenschaftlichen Wissens in einem publizistischen Medium wurde gleichsam die Grundlage für einen Rezeptionsprozess durch die Öffentlichkeit geschaffen, der auf der einen Seite der Verfachlichung entgegen wirken sollte und Popularisierung von Wissenschaft voranzutreiben suchte,29 andererseits aber Multiplikation und Diffusion von Wissenschaft beförderte − und damit letztendlich Berlins Status als „Mittelpunkt allen geistigen Lebens“30 auf Dauer entgegenwirken musste. Wissenschaftliche Forschung gehörte eben nicht mehr nur einer kleinen elitären Schicht und einem bestimmten Ort an, sondern konnte durch ein größeres Publikum relativ ortsunabhängig rezipiert werden. Der Differenzierungsprozess, den das gelehrte Berlin in Gang gesetzt hatte, wirkte dem weiteren Bestehen eines ausschließlichen geistigen Zentrums entgegen. Bereits 1865 war dieser Zusammenhang in der Rückschau auf die ‚Stadt der Intelligenz‘ der ersten drei oder vier Jahrzehnte des Jahrhunderts erkannt worden: Die preußische Hauptstadt hat immer gewaltigere Fortschritte in intellectueller Hinsicht gemacht; aber sie ist gleichwohl nicht mehr wie in den ersten Dezennien dieses Jahrhunderts der Mittelpunkt alles geistigen Lebens in Deutschland. Die Staaten trachten nach der Centralisation, die Intelligenz decentralisiert sich und wird Gemeingut. So giebt es überhaupt keine eigentlichen Metropolen der deutschen Literatur mehr, eben weil eine Art Selfgovernment in intellectueller Beziehung Platz gegriffen und das geistige Leben seinen erfreulichen Aufschwung durch Verallgemeinerung und Verbreitung in den Massen gefunden hat. Es bedarf dasselbe keiner Pflege mehr in eng geschlossenen Räumen wie früher, als es aristokratisch, exklusiv und noch in einer Schonzeit war. Ganz Deutschland hat heut ein frisch blühendes Geistes- und Literaturleben. Während sonst Weimar und dann Berlin die Mekkastädte bildeten, zu denen man pilgern mußte, wer zur Republik der Schriftsteller und der Gebildeten überhaupt sich rechnete, haben beide heute diesen Nimbus verloren. Die einzelnen Sonnen sind ausgelöscht, denn es ist überall Licht.31 Deutlich wird an dieser hier wiedergegebenen Analyse des Schriftstellers SchmidtWeißenfels, dass Berlin auch in der Wahrnehmung der Zeitgenossen seine Zentralrolle für den kulturellen Fortschritt und die wissenschaftliche Forschung im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts ausfüllte. Interessant ist allerdings die hier deutlich werdende Engführung
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Vgl. dazu Anna Busch: Julius Eduard Hitzig und die öffentlichkeitswirksame Popularisierung des Rechts, in: Claude Conter (Hrsg.): Literatur und Recht im Vormärz, Jahrbuch des Forum Vormärz Forschung 2009, Bielefeld 2010, S. 123–136, hier S. 135. 30 Vgl. Schmidt-Weißenfels: Die Stadt der Intelligenz (wie Anm. 10), S. 22. 31 Ebd., S. 22/23.
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des literarischen und des gelehrten Lebens, die sich in ihrer gegenseitigen Befruchtung zur Geburt einer kulturellen Blüte Berlins zu bedingen schienen. Bestes Beispiel dafür war – und hier taucht der Titel ein zweites Mal, wenn auch in anderer Verwendung, auf – das von Hitzig im Jahr 1826 herausgegebene Gelehrte Berlin: ein Verzeichnis von in Berlin lebenden Schriftstellern und ihren Werken.32 Der Begriff des Gelehrten wird hier nicht von dem des Schriftstellers per se geschieden und macht deutlich, wie die Vorstellung von der Einheit des kulturellen Wissens als ‚Gemeinwissen der Gebildeten‘ − die bereits in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts nicht mehr unumstritten ist – weiterhin aufrecht gehalten werden soll. Dazu trägt auch das ‚gelehrte Herkommen‘ der meisten Schriftsteller dieses Zeitraums bei, die größtenteils studiert hatten. Die geradezu magische Anziehungskraft, die die preußische Hauptstadt auf junge Schriftsteller ausübte, ließ sich an einer immer größer werdenden Gruppe junger Männer ablesen, die versuchte, ohne amtliche Stellung oder einen bestimmten Beruf nur für und von der Schriftstellerei zu leben. In Scharen zog es sie in die Berliner Salons und die geselligen Zirkel, in die Weinhäuser und eben auch in die gelehrte Welt Berlins, in die Vorlesungen der über Preußens Grenzen hinaus bekannten Professoren und an die Berliner Universität. Hitzigs Ziel bei der Veröffentlichung des Gelehrten Berlin war folglich, einen Überblick über diese verstreute, schreibende Zunft zu geben, denn seiner „traurigen Erfahrung“ nach lerne kein „Freund der Poesie“ den anderen „in unserer weitläufigen Stadt“ kennen, „wenn sie nicht der Zufall zusammenführt“.33 Wenig überraschend fiel die Arbeit an dem Schriftstellerlexikon Gelehrtes Berlin zeitlich dann auch mit einer anderen Hitzgischen Unternehmung zusammen, die sich eben jener literarischen Kontakt- und Netzwerkpflege verschrieben hatte: der Gründungsphase der Literarischen Mittwochsgesellschaft. Der Titel Gelehrtes Berlin und Hitzig Aufforderung zur Mitarbeit daran, die er Anfang Dezember 1824 in den Berliner Zeitungen geschaltet hatte, stieß überraschenderweise auf wenig Gegenliebe. Dabei handelte es sich um ein zu diesem Zeitpunkt durchaus nicht ungewöhnliches Vorhaben, gab es doch bereits Das gelehrte Teutschland von G.Ch. Hamberger und J.G. Meusel, Das gelehrte England von J. D. Reuss, Das gelehrte Frankreich von J. S. Ersch, Das gelehrte Preussen von G.P. Schultz und sogar das Neueste gelehrte Berlin von V. H. Schmidt und D. G. C. Mehring aus dem Jahr 1795, welches Hitzig als Vorbild diente und das in zwei Bänden ebenfalls umfangreich die Berliner Schriftsteller und ihre Werke verzeichnet hatte.34 Dreißig Jahre später schien der Öffentlichkeit die Begriffsüberschneidung 32
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Anonym [d. i. Julius Eduard Hitzig]: Gelehrtes Berlin im Jahr 1825. Verzeichnis im Jahre 1825 in Berlin lebender Schriftsteller und ihrer Werke. Aus den von ihnen selbst entworfenen oder revidierten Artikeln zusammengestellt und zu einem milden Zweck herausgegeben, Berlin 1826. Julius Eduard Hitzig: Ein Vorschlag, in: Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen (Spenersche Zeitung), Nr. 242 vom 14. 10. 1824. Vgl. auch Gelehrtes Fürstenthum Baireut von G.W. Fikenscher, Gelehrtes Pommerland von J. D. Jaencke, Das gelehrte Ostfriesland von E. J. H. Tiaden, Das gelehrte Oesterreich von I. de Luca, Jetztlebendes gelehrtes Mecklenburg von J. C. Koppe, Neuestes gelehrte Dresden von J. G. A. Kläbe, Das gelehrte Sachsen von Fr. A. Weiz und Das gelehrte Schwaben von J. J. Gradmann.
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von Schriftsteller und Gelehrtem, wie sie der Titel des Hitzigschen Schriftstellerverzeichnisses voraussetzt, allerdings nicht mehr zwingend: „Man weiss auch wohl, dass hier unter Gelehrten eigentlich Schriftsteller verstanden werden, und dass es leider! viele Schriftsteller und Büchermacher giebt, die keine Gelehrte sind“.35 In einem anonymen Brief, der sich in Hitzigs Nachlass findet, wurde er als Herausgeber entsprechend deutlich nach den Aufnahmekriterien in die Reihen des Gelehrten Berlin befragt. Wodurch zeichne der „Gelehrte“ sich aus und wer sei denn nun ein Dichter oder ein Schriftsteller, das sei ja wohl die „bedeutende Frage“.36 Überhaupt müsse sichergestellt werden, dass das Gelehrte Berlin nicht zu einem „Skribenten-Register“ verkomme, wo „ohne Unterschied und Berücksichtigung ob es ein eigentlich schriftstellerisches Werk“37 sei, alles aufgenommen wäre, was „gekritzelt und gesudelt“38 würde. Dabei, so wollte der anonyme Kritiker beachtet wissen, „müßte freylich wol[!] eine Auswahl in Aufnahme der Skribenten, getrofen[!] werden – damit ja noch jedermann das Vergnügen habe sich darin zu finden, und seiner Familie die Wichtigkeit seiner Person durch eine Autorität nachweisen zu können“.39 Und auch das Journal für Literatur, Kunst, Luxus und Mode machte sich über Hitzigs Ansinnen, ein Verzeichnis der Berliner Gelehrten, sprich der Berliner Schriftsteller aufstellen zu wollen, lustig: Criminalrath Hitzig will ein Verzeichniß der jetzt lebenden Berliner Gelehrten herausgeben, und wer darin aufgenommen seyn will, soll sich in der Verlagshandlung (Dümmler) ein Schema dazu abholen und es ausfüllen. Wer wird sich aber gerade für einen Gelehrten halten wollen? Hätte er gesagt: Schriftsteller, − so wäre es etwas anderes. Auch ist es nicht jedermanns Sache, in die Hände eines Criminalisten zu fallen. Uebrigens findet sich in alten Berliner Addreßkalendern schon etwas Aehnliches: dort stehen die Schriftsteller, mit Nachweisung der Wohnungen, in alphabetischer Reihenfolge, gerade zwischen den Schneidern und Schustern.40 Hitzig, der die Frage nach einer genauen Definition des ‚Gelehrten‘ in seinem Vorwort zum Gelehrten Berlin stillschweigend überging, entschied, zur Aufnahme in das von ihm veranstaltete Gelehrte Berlin bedürfe es allein eines immerwährenden, festen Berliner Wohnsitzes und zumindest eines selbständigen, durch den Buchhandel verbreiteten Werkes. Nicht aufgenommen wurden Verfasser von Dissertationen, einzelner Predigten, einzelner Journalaufsätze oder von Gelegenheitsgedichten, ebenso wie Verfasser, die ihre Werke selbst ver35 36 37 38 39 40
D. Klement Alois Baader: Das gelehrte Baiern oder Lexikon aller Schriftsteller, welche Baiern im achtzehnten Jahrhundert erzeugte oder ernährte, Nürnberg, Sulzbach 1804, S. V. Vgl. die anonym an Dümmler oder Hitzig gerichteten Bemerkungen vom 7. 12. 1824, die sich in Hitzigs Nachlass, Stadtmuseum Berlin, XV 655 finden. Ebd. Ebd. Ebd. M. [Verfasser unbekannt]: Correspondenz, in: Journal für Literatur, Kunst, Luxus und Mode, Nr. 130 vom Dezember 1824, S. 1038.
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trieben. Das Gelehrte Berlin umfasste folglich neben den Verfassern von gelehrten und wissenschaftlichen Werken die Verfasser von Romanen und belletristischen Arbeiten, Übersetzungen und populärwissenschaftlichen Schriften für ein großes Publikum. Der Übergang zwischen dem Begriff des Gelehrten und dem des Schriftstellers war folglich fließend. Trotz der gewissen Einschränkungen fanden sich doch circa 400 in Berlin wohnhafte Schriftsteller,41 die den Hitzigschen Aufnahmekriterien in ein Gelehrtes Berlin entsprachen. Mit der Veröffentlichung des Gelehrten Berlin wurde das schreibende Berlin der gepflegten Privatheit und Exklusivität der Salons, Gesellschaften und Vereine entzogen und der Öffentlichkeit übergeben. Eine Aufnahme in den Kreis der Verzeichneten schien daher auch nicht jedem ‚Gelehrten‘ erstrebenswert. Hegel ließ ausrichten, das Hitzigsche Unternehmen interessiere ihn nicht im Geringsten.42 Und Schleiermacher, der zwar gegen die Aufnahme nichts einzuwenden gehabt hatte, sah sich – wenn auch posthum − als Verfasser der Briefe über Lucinde bloßgestellt. Hitzig hatte schließlich verlauten lassen, Schleiermacher habe sich ihm angesichts der Zusammenstellung des Gelehrten Berlin als der Verfasser bekannt. Schleiermachers Autorschaft war in den gebildeten Kreisen Berlins durchaus ein offenes Geheimnis, gedruckt wollte man sie aber wohl nicht sehen. Hitzigs Bestrebung per Zeitungsanzeige Schadensbegrenzung zu betreiben, scheiterten und das Faktum der Schleiermacherschen Autorschaft ging in die Literaturgeschichtsschreibung ein.43
41 Bei einer Einwohnerzahl Berlins von 220.277 im Dezember 1825 machten die von Hitzig in seinem Buch aufgeführten Schriftsteller einen nicht zu unterschätzenden Anteil an der Gesamtbevölkerung aus. Vgl. Ergebnis einer Volkszählung unter der ortsanwesenden Bevölkerung am 1. Dezember 1825, in: Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, Berlin 1920, S. 3/4. 42 Vgl. die sich in Hitzigs Nachlass im Stadtmuseum Berlin, XV 959 befindliche Notiz auf der Rückseite der gedruckten, an Hegel gerichtete Aufforderung zur Teilnahme am Gelehrten Berlin. Ähnlich reagierte auch Carl David Bouché, der mitteilte, er könne von dem gemachten Anerbieten durchaus keinen Gebrauch machen (Hitzig Nachlass, Stadtmuseum Berlin, XV 959), woraufhin er im Gegensatz zu Hegel nicht in das Gelehrte Berlin aufgenommen wurde. 43 Vgl. den kleinen Artikel, den Hitzig in die Haude-Spenersche Zeitung aufnehmen ließ: „Ich erinnere mich, vor einiger Zeit in einer literarischen Gesellschaft, bei der Frage nach dem Verfasser der ‚Briefe über die Lucinde‘, geäußert zu haben, daß Schleiermacher sich mir, bei Gelegenheit der Herausgabe des ‚Gelehrten Berlins‘, als solcher bekannt habe, und finde nun zu meinem großen Schrecken dies als eine Thatsache in Nr. 235 der ‚Blätter für litterarische Unterhaltung‘, S. 948, wiedererzählt. Zu meinem Schrecken, sage ich, denn ein Blick auf den Artikel ‚Schleiermacher‘ in meinem genannten Buche, S. 238 folg., belehrt mich, daß ich mich eines Gedächtnisfehlers schuldig gemacht. Nicht die ‚Briefe über die Lucinde‘ waren es, deren Autorschaft Schleiermacher auf sich nahm, vielmehr zählt er sie unter seinen Schriften n i c h t auf; es war die 1823 erschienene Schrift: ‚Ueber das liturgische Recht evangelischer Fürsten. Von Pacificus Sincerus‘, die die öffentliche Meinung ihm beilegte, weil kein Anderer sie geschrieben haben konnte und von welcher Niemand glaubte, daß er sich unter den damalig kritischen Umständen freiwillig dazu bekennen werde, wozu freilich sein Muth und seine Ehrlichkeit gehörten. Zu dieser Berichtigung habe ich mich durch mein litterarisches Gewissen gedrungen gefühlt, damit nicht durch meine Schuld ein unrichtiges Factum sich in die Litteraturgeschichte einschwärze.“ Julius Eduard Hitzig: Berichtigung, in: Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen (HaudeSpenersche Zeitung), Nr. 273 vom 22. November 1842.
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Dass gerade Berlin als „litterarischer Centralpunkt“44 einer solchen Zusammenstellung der in der Hauptstadt wohnhaften und tätigen Schriftsteller mit ihren Biographien und Werkverzeichnissen bedürfe, stand für Hitzig außer Frage.45 Er hatte Berlins Bedeutsamkeit eben genau darin erkannt, Zentralstadt der Kultur und somit Kulminationspunkt für Kulturschaffende aller Bereiche zu sein. Dabei entsprang Berlins Einzigartigkeit, im Gegensatz zu der Weimars, für ihn einer inneren Notwendigkeit. Während in Weimar eine Anzahl ausgezeichneter Männer durch eine ‚Laune des Zufalls‘, wie er es einem Berliner Korrespondenten 1838 in der Rückschau gegenüber formulierte, versammelt worden waren, hatte Berlin mit Lessing, Fichte und Hegel durch ein Jahrhundert hindurch gleichsam eine Garantie für eine reiche kulturelle Zukunft geschaffen. Scharfer Verstand paarte sich mit einer historischen Weltanschauung, Philosophie mit Geschichte. Aus diesen Verbindungen entsprangen ein Reichtum und eine Tiefe der Empfindung, die die Grundlage für poetische Anschauung und die Poesie selbst legten, die Berlin um 1800 und in der Folgezeit zu seiner kulturellen Blüte verhalfen. Die reiche Weltanschauung, welche der kühne Weltwanderer, der Fürst PücklerMuscau uns enthüllt hat, das persönliche Leben der Geschichte, das Varnhagen von Ense aus der nächsten Vergangenheit uns mit so vollendeter Meisterschaft vorführt, die Tiefe des Gemüths, welche in den weiblichen Anschauungen Rahel’s, Bettina’s und Charlotte Stieglitz’s uns entgegentritt, sowie endlich das kühne Streben der modernen Literatur, die Idee der Freiheit in dem socialen Leben darzustellen, diese Erscheinungen gehören alle Berlin an, und es vollenden sich damit in wenig Umrissen die Züge der gegenwärtigen Literaturepoche.46 Eine aus solch reichen Einflüssen sich konstituierende Gemengelage, wie sie Berlin kennzeichnete, bedurfte in Hitzigs Augen eben einer Erschließungsmöglichkeit, um sich ihr zu nähern. Genau das sollte das Gelehrte Berlin der Öffentlichkeit bieten. Während in dem Hitzigschen Gelehrten Berlin in erster Linie nach dem Wie, Wo, Was der Tätigkeit des jeweiligen Schriftstellers gefragt wird, transportiert die Lithographiereihe Das gelehrte Berlin ein verändertes, nicht allein auf Äußerlichkeiten reduziertes Gelehrtenbild. Der Gelehrte wird nicht mehr nur – wie es in der Frühen Neuzeit noch gang und gäbe 44
Anonym [d. i. Julius Eduard Hitzig]: Die litterarisch-artistischen Sachverständigenvereine für die preußischen Staaten, in: Außerordentliche Beilage zur Allgemeinen Zeitung, Nr. 332 und 333, vom 25. Juni 1838, S. 1327. 45 Das süddeutsche Morgenblatt für gebildete Stände sprach Berlin und seinem nordischen Kulturzentrismus ein einflussreiches Gelehrten- wie Schriftstellertum allerdings vollständig ab: „Das gelehrte Berlin ist nun erschienen. Das Unternehmen scheint weder an der Zeit zu seyn, noch ist es durch irgend ein Bedürfniß hervorgerufen worden. Vor 50 Jahren hatte Berlin eine hervorragende Stellung, in Beziehung auf das Angeben des Tons, und das gelehrte Berlin von damals hatte eine, wenn auch nur schwache, Bedeutung. Jezt könnte man eben so gut das gelehrte Wolfenbüttel, die gelehrte Kronenstraße, die gelehrte Razengasse usw. herausgeben.“ Anonym: Korrespondenz-Nachrichten, in: Morgenblatt für gebildete Stände, vom 24. Januar 1826, Nr. 47, S. 188. 46 E. Meyen: Correspondenz, in: Baltische Blätter vom 3. Januar 1838, Nr. 2, S. 8.
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war − auf die Kennzeichen des Standes, der Funktion oder Rolle hin dargestellt, sondern das Interesse an seiner Person, das Interesse an dem Wer erfährt eine Aufwertung. Deutlich wird in der Gegenüberstellung ebenfalls die Unsicherheit in der Anwendung von Zuschreibungen und Begrifflichkeiten während des Übergangs vom Gelehrten des 18. Jahrhunderts zum modernen Wissenschaftler. Wie gezeigt, differieren zudem die Selbst- und Fremdwahrnehmung hinsichtlich des Gelehrtenstatus entscheidend. Dabei ist die Zurechnung zum Gelehrtenstand durch die Öffentlichkeit, unabhängig von der Zugehörigkeit zu Universität oder Akademie, zwar eine inoffizielle, für die Wahrnehmung durch die Zeitgenossen aber die entscheidende, wie die Aufnahme Hitzigs in die Lithographiereihe Das gelehrte Berlin zeigt. Zusammenfassend lässt sich Folgendes sagen: Hitzig füllte einen spezifischen Platz in der Wissenschafts- und Kulturlandschaft Berlins aus und war zugleich in das dichte Netz der Berliner Geselligkeit, das er zum Teil selbst geschaffen hatte, als einer der Hauptakteure integriert. Die von ihm gepflegten personellen Netzwerke erwiesen sich dabei in zweifacher Hinsicht als entscheidend: zum einen für die Überlebenssicherung von Ideen, zum anderen für die Durchsetzung und Erhaltung von persönlicher Reputation. Seine Mittlerfunktion hinsichtlich literarischer Projekte und Pläne sicherte ihm das gesellschaftliche Ansehen. Die Anerkennung durch die Fachkollegen war ihm dank seines unermüdlichen Wirkens für die praktischen und theoretischen Dimensionen der Rechtswissenschaft − unabhängig von einer engen Bindung an eine Institution wie Universität oder Akademie − gewiss. Das Überraschende ist, dass es einem von der Herkunft her jüdischen, 1799 konvertierten Juristen, Buchhändler und Verleger, der weder Mitglied der Universität noch der Akademie der Wissenschaften war, gelang, sich in Berlin zum Zentrum kulturell wirksamer Kreise zu machen und gleichzeitig durch die Öffentlichkeit als Gelehrter wahrgenommen zu werden. Das von ihm herausgegebene Schriftstellerverzeichnis Gelehrtes Berlin trug dazu bei, die Lithographiereihe Das gelehrte Berlin bildete es ab: Hitzig (an)erkannte das gelehrte Berlin, und das gelehrte Berlin (an)erkannte Hitzig. Eine Wechselbeziehung, die durchaus für beide Seiten fruchtbar sein sollte.
REINHARD BLÄNKNER
„Geselligkeit“ und „Gesellschaft“ Zur Theorie des Salons bei Eduard Gans Alexander von Brünneck zum 70. Geburtstag
„Der jetzt bei weitem beste Kopf in Deutschland“: Gans und die Kulturmetropole Berlin Um 1800 vollzieht sich Berlins Aufstieg von der Residenz und einer der drei Königsstädte des alten Preußen zu einer europäischen Metropole. Auslöser hierfür war zunächst das rapide Bevölkerungswachstum, das Berlin mit 170.000 Einwohnern nach der mit 230.000 Einwohnern nach wie vor an erster Stelle rangierenden kaiserlichen Hauptstadt Wien an die zweite Stelle der großen Städte innerhalb des Alten Reiches brachte, sowie der mit der demografischen Entwicklung verbundene Aufstieg zur Handels- und Gewerbestadt.1 Entscheidend kam schließlich die ausgangs des 18. Jahrhunderts sich beschleunigende Ausbreitung und Differenzierung der – nicht im sozial-strukturellen Sinn auf das „Bürgertum“ als Stand missverständlich zu beziehenden – „bürgerlichen Kultur“2 hinzu , die sich in den folgenden Jahrzehnten zu einem in Deutschland einzigartigen Gefüge kultureller Institutionen und Lebensformen verdichtete und Berlin in den Rang einer europäischen Kulturmetropole erhob. Der Blick auf Berlin und deren Rekonstruktion als Kulturmetropole um 1800 ist maßgeblich durch die jüngsten Forschungen zur „Berliner Klassik“ freigelegt worden.3 Um die 1
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S. hierzu Felix Escher: Die brandenburgisch-preußische Residenz und Hauptstadt Berlin im 17. und 18. Jahrhundert, in: Wolfgang Ribbe (Hrsg.), Geschichte Berlins, 2., durchges. Auflage, München 1988, Bd. 1, S. 343–403; Helga Schultz, Berlin 1650-1800. Sozialgeschichte einer Residenz. Mit einem Beitrag v. Jürgen Wilke, 2., durchges. Aufl., Berlin 1992. Zum Berliner Wirtschaftsbürgertum s. Nadja Stulz-Herrnstadt: Berliner Bürgertum im 18. und 19. Jahrhundert, Berlin 2002. S. a. Etienne François, Berlin im 18. Jahrhundert. Die Geburt einer Hauptstadt, in: Iwan-Michelangelo d’Aprile u. a. (Hrsg.): Tableau de Berlin. Beiträge zur „Berliner Klassik“ (1786–1815), Hannover 2005, S. 7– 17. Friedrich Tenbruck: Bürgerliche Kultur, in: Friedhelm Neidhardt u. a. (Hrsg.): Kultur und Gesellschaft, Opladen 1986 (KZfSS Sh. 27), S. 263–285. S. hierzu D’Aprile (Hrsg.): Tableau de Berlin (wie Anm. 1); Claudia Sedlarz: Die Königsstadt. Stadtraum und Wohnräume in Berlin um 1800, Hannover 2008. S. ferner Theodore Ziolkowski, Berlin:
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Besonderheit Berlins als Metropole um 1800 schärfer zu konturieren und der fragwürdigen pauschalen Stilisierung als „Großstadt im modernen Sinn“4 zu entgehen, bedarf es jedoch eines synchronen Vergleichs mit anderen europäischen Metropolen wie London, Paris oder Wien um 18005 ebenso wie eines kontrastiven diachronen Vergleichs mit Metropolen um 1900 oder global cities der Gegenwart. Für das Verständnis der Prozesse „kultureller Vergesellschaftung“ (F. Tenbruck) ist es darüber hinaus unerlässlich, den synchron-vergleichenden und zentristischen urbanen Blick durch die Einbeziehung der sozialen und funktionalen Verflechtungen zwischen der um 1800 sich formierenden Strukturbeziehung von Metropole und Provinz zu erweitern.6 Hiermit ist zum einen die Ausdifferenzierung der brandenburgisch-preußischen Städtelandschaft seit der Mitte des 18. Jahrhunderts gemeint,7 vor allem aber die enge Verflechtung der städtischen Geselligkeitskulturen Berlins mit den adeligländlichen in der Mark Brandenburg.8 Die enge personelle und funktionale Verflechtung zwischen den Berliner „Salons“ und den märkischen „Musenhöfen“ eröffnet zugleich den Blick auf einen diskursiven Raum, der die ausgehenden Dekaden des späten 18. Jahrhunderts und die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts umfasst und deren Zusammenhänge für die Formierung Berlins als Kulturmetropole bisher noch kaum systematisch ausgeleuchtet wurden. Entgegen der lange
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Aufstieg einer Kulturmetropole um 1810, Stuttgart 2002; Weiteres auf der Internetseite www.berlinerklassik.de; Sonja Günther: Wir winden dir den Jungfernkranz. Eine kleine Chronik Berlins um 1800, München-Berlin 2001; Günter de Bruyn: Als Poesie gut. Schicksale aus Berlin Kunstepoche 1786 bis 1807, Frankfurt a. M. 2006; ders.: Die Zeit der schweren Not: Schicksale aus dem Kulturleben Berlins 1807 bis 1815, Frankfurt a. M. 2010. Iwan-Michelangelo d’Aprile, Martin Disselkamp, Claudia Sedlarz: Vorwort, in: dies.: Tableau de Berlin (wie Anm. 1), S. 2. S. hierzu Karlheinz Stierle: Zwei Hauptstädte des Wissens: Paris und Berlin, in: Otto Pöggeler, Annemarie Gethmann-Siefert (Hrsg.): Kunsterfahrung und Kulturpolitik im Berlin Hegels, Bonn 1983, S. 83–111; Marc Schalenberg, Rüdiger vom Bruch: London, Paris, Berlin. Drei wissenschaftliche Zentren des frühen 19. Jahrhunderts im Vergleich, in: Richard van Dülmen, Sina Rauschenbach (Hrsg.): Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft, Köln 2004, S. 681–699. Zum horizontalen Metropolenvergleich um 1800 s. a. Conrad Wiedemann (Hrsg.): Rom-Paris-London. Erfahrung und Selbsterfahrung deutscher Schriftsteller und Künstler in den fremden Metropolen. Stuttgart 1988. S. hierzu Dieter Burdorf, Stefan Matuschek (Hrsg.): Provinz und Metropole. Zum Verhältnis von Regionalismus und Urbanität in der Literatur, Heidelberg 2008; Mark und Metropole. BerlinBrandenburg 1871 bis heute. Hrsg. v. Andreas Bernhard, Hans Wilderotter im Auftrag des Hauses der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte, Potsdam 2008; Hans Herzfeld (Hrsg.): Berlin und die Provinz Brandenburg im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 1968. S. hierzu Rolf Straubel: Frankfurt (Oder) und Potsdam am Ende des Alten Reiches. Studien zur städtischen Wirtschafts- und Sozialstruktur, Berlin 1995; Brigitte Meier: Das brandenburgische Stadtbürgertum als Mitgestalter der Moderne. Die kommunale Selbstverwaltung und die politische Kultur des Gemeindeliberalismus, Berlin 2001; Wolfgang Neugebauer: Zentralprovinz im Absolutismus. Brandenburg im 17. und 18. Jahrhundert, Berlin 2001. S. hierzu Reinhard Blänkner, Wolfgang de Bruyn (Hrsg.): Salons und Musenhöfe. Neuständische Geselligkeit in Berlin und in der Mark Brandenburg um 1800, Hannover 2009.
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vorherrschenden Neigung, mit dem militärisch-politischen Zusammenbruch des alten Preußen i. J. 1806 auch das Ende der „Blütezeit“ der Berliner Salons zu datieren, hat Barbara Hahn zurecht darauf hingewiesen, bei den Forschungen über die Berliner Salons auch die beiden Jahrzehnte nach dem Wiener Kongreß miteinzubeziehen.9 Auf diese Kontinuitäten hatte bereits Rahel Levin-Varnhagen, die bedeutendste der Berliner Salonièren, selbst hingewiesen. In einem Brief vom 30. November 1819 an den schwedischen Diplomaten Gustav Brinckmann, einen der prominentesten Habitués aus der Zeit der frühen Salons, schreibt sie: Die ganze Konstellation von Schönheit, Grazie, Koketterie, Neigung, Liebschaft, Witz, Eleganz, Kordialität, Drang die Ideen zu entwickeln, redlichem Ernst, unbefangenem Aufsuchen und Zusammentreffen, launigem Scherz, ist zerstiebt. Alle Rez-de Chaussée’s sind Laden, alle Zusammenkünfte Dinés oder Assembléen, alle Diskussion ist beinah – Sie sehen am Ausstreichen meine Verlegenheit um ein Wort: ich meine un rendez-vous für eine ächtere künftige, und eine fade Begriffsverwirrung. Jeder ist klug; er hat sich alles dazu bei einem Anführer einer Meinung gekauft. Es sind noch einige gescheidte 10 Leute hier: und ein Rest von Geselligkeit, die in Deutschland einzig ist. Dieser „Rest an Geselligkeit“ füllte sich wenig später durch neue, zumal jüngere „gescheidte Leute“ auf, infolge dessen es zu einer zweiten Phase der Berliner Salongeselligkeit kam, die erst mit Rahels Tod (1833) einen Einbruch erlitt, vor allem aber durch den sozialen Wandel und das Aufkommen neuer (politischer) Geselligkeitsstrukturen seit den 1840er Jahren überformt wurde. Alexander von Sternberg (1806–1868), ein zur Mitte des 19. Jahrhunderts populärer Schriftsteller, hat rückblickend in seinen Erinnerungsblättern aus der Biedermeierzeit (1855–1860) diese Epoche des „galanten geistreichen Berlin“ beschrieben, die „mit dem Prinzen Ferdinand begann und mit dem dicken Professor Gans schloss“.11 Während jüngere Zeitgenossen wie von Sternberg noch unter dem Nachhall dieses diskursiven Raums des ausgehenden 18. und des frühen 19. Jahrhunderts standen, ist in späteren Generationen vor allem des 20. Jahrhunderts die Kenntnis über den Zusammenhang dieser kulturhistorisch bedeutenden Periode durch fragwürdige politisch motivierte Epochengrenzziehungen zerrissen worden und verloren gegangen. Dies gilt zumal für den in von Sternbergs Erinnerungsblättern besonders hervorgehobenen, i. J. 1839 im Alter von 42 Jahren früh verstorbenen Eduard Gans, über den Karl Varnhagen von Ense wenige Jahre zuvor 9
Barbara Hahn: Berliner „Salons“ in der Zeit der Restauration, in: Die Musikveranstaltungen bei den Mendelssohns – Ein musikalischer Salon? Hrsg. im Auftrag des Mendelssohn-Hauses Leipzig v. HansGünter Klein, Leipzig 2006, S. 16. S. a. Hannah Lotte Lund: „Sie schenkte mir drei Tassen Spruch . . .“ Wilhelm von Humboldt und die Anfänge der deutsch-jüdischen Geselligkeit in den Briefen der Berliner Salongesellschaft, in: ZRGG 62 (2010), S. 227–247. 10 Rahel Varnhagen. Gesammelte Werke. Hrsg. v. Konrad Feilchenfeldt, Rahel E. Steiner, Uwe Schweikert, München 1983, Bd. 3, S. 22, zit. n. Hahn, Berliner „Salons“ in der Zeit der Restauration (wie Anm. 9), S. 11. 11 Alexander von Sternberg: Erinnerungsblätter aus der Biedermeierzeit, zit. n. Berliner Leben 1806– 1847. Erinnerungen und Berichte, hrsg. v. Ruth Köhler, Wolfgang Richter, Berlin 1954, S. 176.
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in einem Brief an Gustav Schlesier urteilte, er sei „der jetzt bei weitem beste Kopf ... in Deutschland!“12 Hohe Wertschätzung als deutscher bzw. preußisch-jüdischer Intellektueller von europäischem Format genoß Gans nicht nur in Berlin, sondern darüber hinaus auch in den Metropolen anderer Länder, insbesondere in Paris. Aus der dichten Memoirenliteratur, die die herausragende Bedeutung von Gans belegt, sei lediglich auf Eugène Lerminier, einen der Mitbegründer einer philosophisch orientierten vergleichenden Rechtsgeschichte in Frankreich, hingewiesen, der wenige Wochen nach Gans’ Tod in seinem Artikel „Geschichtliche Gegensätze unserer Zeit“ schrieb: Wir können indeß nicht von Deutschland und seinen Beziehungen zu Frankreich sprechen, ohne des schmerzhaften Verlustes zu gedenken, den beide Länder kürzlich erlitten haben. Eduard Gans ist der Wissenschaft entrissen worden, bald nachdem er sein vierzigstes Jahr überschritten hatte. Vor elf Jahren gaben wir für Frankreich eine Analyse seines Erbrechts und bemerkten, auf welch glanzvolle Weise er die Hegelsche Philosophie auf die Jurisprudenz übertragen habe. Später wurde uns das Glück zu Theil, den beredten Schriftsteller persönlich kennen zu lernen und in Berlin, Wien und Paris Zeuge seiner glänzenden und geistreichen Unterhaltungsgabe zu seyn. Gans war ebenso groß als Redner wie als Schriftsteller, und er entfaltete in der Unterhaltung eine leidenschaftliche Lebendigkeit und eine nie versiegende Redefülle. [...] In ihm war etwas von Diderot’s Geist. Sein Vortrag war höchst beredt, sein Ausdruck treffend und voller Wärme. Wir haben ihn gehört und gesehen, welchen Zauber er durch die Macht des Wortes übte. Der Aufenthalt in Paris war ihm besonders werth, und er kannte fast Alles, was die Literatur und Gesellschaft hier Berühmtes und Bedeutendes hatte. Selbst in Berlin, wo die 13 Intelligenz so viel Repräsentanten hat, wird es schwer seyn, ihn zu ersetzen. Vor diesem Hintergrund zeitgenössischer Anerkennung ist die gegenwärtige erinnerungspolitische Abwesenheit dieses Intellektuellen und politischen Professors, der das öffentliche Berlin der 1820er und 1830er Jahre in seinen Bann zog und zu den prägenden Persönlichkeiten seiner Zeit zählte, in hohem Maße irritierend. Berlin ist dichtbevölkert mit Erinnerungsstücken seiner Zeitgenossen, nicht wenige von geringerer Bedeutung als er. Gans hingegen hat im kulturellen Gedächtnis dieser Stadt bis heute keinen Ort. Kein Denkmal, kein Straßenname, keine Gedächtnistafel findet sich, und selbst seine Grabstätte auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof, auf die nicht mal ein Hinweisschild aufmerksam macht, befindet sich in einem beschämenden Zustand. Auch dies steht in bemerkenswertem Kontrast zu der Aufmerksamkeit, die sein Begräbniszug fand und diesen zu einem öffentlichen Ereignis machte, das Max Ring rückblickend in seinen Erinnerungen beschrieb: 12 Karl August Varnhagen von Ense an Gustav Schlesier, Berlin, 18. April 1834, in: Karl August Varnhagen von Ense: Schriften und Briefe. Hrsg. von Werner Fuld, Stuttgart 1991, S. 288. 13 Eugène Lerminier: Geschichtliche Gegensätze unserer Zeit, in: Magazin für die Literatur des Auslandes, Berlin, Nr. 74, Freitag den 21. Juni 1839.
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Das ganze gebildete und freisinnige Berlin begleitete zu Fuß die Leiche in unabsehbarem Zuge nach dem Kirchhofe vor dem Oranienburger Tor, wo Gans in der Nähe seines berühmten Lehrers Hegel ruht. Unter den Leidtragenden erblickte man alle Notabilitäten der Residenz, ohne Unterschied der Parteien, an ihrer Spitze den siebzigjährigen Kultusminister von Altenstein und den greisen Kammergerichtspräsident Grolmann, obgleich Gans in den hohen und höchsten Kreisen wegen seines entschiedenen Liberalismus mißliebig war. Zufällig fuhr der König Friedrich Wilhelm III. gerade in dem Augenblick, als der Leichenzug sich Unter den Linden langsam fortbewegte, nach dem Königlichen Palais. Würdevoll grüßte der alte König den Toten und wartete geduldig so lange, bis das ganze endlose Trauergefolge an ihm vorbeigekommen war, so unwillkürlich den Verstorbenen ehrend.14 Dem Zustand seiner Grabstätte entspricht in mancher Hinsicht sein Jahrzehnte währendes Schattendasein in der Forschung, die sich Gans’ Leben und Werk erst in jüngerer Zeit verstärkt zugewandt hat.15 Neben seiner rechtshistorischen Kontroverse mit Friedrich Karl von Savigny steht dabei zurecht Gans’ Position innerhalb des Hegelianismus im Mittelpunkt, im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit der Hegelschen Geschichts- und Rechtsphilosophie, deren zweite, lange maßgebliche Auflage bekanntlich Gans mit eigenen Zusätzen besorgte (1837), ebenso wie auf die Formierung des ohne das Wirken von Gans kaum zu denkenden Hegelianismus als einflußreiche intellektuelle Strömung in den beiden Jahrzehnten vor der Revolution von 1848. Ironisch, wenngleich nicht unzutreffend, hat Heinrich Heine, den mit Gans eine schwierige Freundschaft verband, diesen gelegentlich als „Oberhegelianer“ bezeichnet.16 Bei der intensiveren Beschäftigung mit Gans’ Werk und Persönlichkeit wird allerdings zunehmend deutlich, daß sich dessen Denken und Einfluß nicht auf die Popularisierung und Liberalisierung der Hegelschen Philosophie reduzieren lassen. Tatsächlich führen sie weit darüber hinaus, und anders bliebe auch Varnhagens erwähntes Urteil unverständlich. Gans war ein Diagnostiker und Denker der Zeitenschwelle, und insofern ist er schwieriger zu fassen als sozialtheoretische Systematiker wie Hegel, sein Lehrer, dessen Student er jedoch nie war, oder wie Karl Marx, sein später berühmt gewordener Schüler. Als Denker an der Zeitenschwelle zur fabrik-industriellen Klassengesellschaft erweist Gans sich auch bei einem 14 Max Ring: Erinnerungen, Berlin 1898, Bd. 1, S. 127. 15 S. Hanns Günther Reissner: Eduard Gans. Ein Leben im Vormärz, Tübingen 1965; Eduard Gans: Naturrecht und Universalrechtsgeschichte. Hrsg. v. Manfred Riedel, Stuttgart 1981; Norbert Waszek (Hrsg.): Eduard Gans (1797–1938): Hegelianer – Jude – Europäer. Texte und Dokumente, Frankfurt/M. 1991; Johann Braun: Judentum, Jurisprudenz und Philosophie. Bilder aus dem Leben des Juristen Eduard Gans, Baden-Baden 1997; Reinhard Blänkner u. a. (Hrsg.): Eduard Gans. Politischer Professor zwischen Restauration und Vormärz, Leipzig 2002; Corrado Bertani: Eduard Gans e la cultura del suo tempo, Neapel 2004. 16 Vgl. Heinrich Heine: Säkularausgabe: Werke, Briefwechsel, Lebenszeugnisse. Hrsg. von der Stiftung Weimarer Klassik und dem Centre National de la Recherche Scientifique, Bd. 20: Briefe 1815–1831, Berlin, Paris 1970, S. 273.
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Thema, das dies zunächst kaum vermuten lässt – dem Salon. Dieser Aspekt ist in der GansForschung bislang unberücksichtigt geblieben, in deren Mittelpunkt der Rechtsgelehrte und politische Professor standen und dessen Denken sich vor allem über die hierauf fokussierten Orte der Wissensproduktion wie die Akademie und Universität bzw. über die traditionellen Orte der gelehrten Wissenspräsentation wie Bücher, Aufsätze und Rezensionen als schriftliche Medien sowie das Katheder als rhetorisches Medium erschließt. In dieses Bild fügt sich der Salon bestenfalls marginal als Ort vergnüglicher Zerstreuung ein. Tatsächlich, so die hier vertretene These, führt die Spur auf Gans’ Wegen durch die Salons in Berlin und anderen europäischen Metropolen ins sozialräumliche Zentrum seiner Wissensproduktion. Der Salon als Scharnier zwischen „Wissenschaft und Leben“ ist gleichsam der privilegierte Ort der Gansschen „Theorieproduktion“. Dabei indiziert die soziale Semantik von „Geselligkeit“ und „Gesellschaft“ Aufstieg und Transformation des Salons als systemischem Ort neuständisch-kultureller Vergesellschaftung. Eduard Gans steht historisch genau an dieser Schwelle und sein Werk reflektiert diesen Übergang von der neuständischen „freien Geselligkeit“ (Fr. Schleiermacher) zur „Gesellschaft“ des Fabrik-Industrialismus, in dem der Salon den Charakter einer privaten Veranstaltung annimmt. Im Folgenden soll diese These näher erläutern werden. Dazu gehe ich zunächst auf den Salon als Ort neuständisch-kultureller Vergesellschaftung, sodann auf „Gans und die Salons“ ein, um mit einem Abschnitt über die Transformation der ,Gesellschaft‘ und das Ende des neuständischen Salons zu schließen.
Der Salon als Ort neuständisch-kultureller Vergesellschaftung Der Salon als Ort frauenzentrierter Geselligkeit ist keine Besonderheit der Zeit um 1800. Aus kultursoziologischer Sicht können Typen dieser Geselligkeitsform in Europa bis zu den Hofkulturen der Renaissance in Italien und des Ancien Régime in Frankreich zurückverfolgt werden. Allerdings fügen diese sich nicht umstandslos zu einer linearen Geschichte der europäischen Salons. Neben den jeweils besonderen institutionellen Mechanismen ihrer sozial-kulturellen In- und Exklusion sind sie vor allem im Hinblick auf die jeweils historische Figuration, die den Ort des Salons im Verhältnis zur Stadt und insbesondere zur höfischen Residenz markiert, zu unterscheiden. Eingebunden in den Dynamisierungsschub innerhalb der ständischen Gesellschaft formieren sich in Deutschland – zumal jüdische – Salons vor allem in Wien und Berlin um 1800, die seit zwei Jahrzehnten steigendes Interesse in der Forschung gefunden haben.17 Dabei hat vor allem Barbara Hahn mit ihren Arbeiten 17
S. hierzu Rudolf Vierhaus: Jüdische Salons in Berlin und Wien zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Etienne François (Hrsg.): Geselligkeit, Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Frankreich, Deutschland und der Schweiz, 1750–1850, Göttingen 1987, S. 95–103; Konrad Feilchenfeld: Die Berliner Salons der Romantik, in: Barbara Hahn, Ursula Isselstein (Hrsg.): Rahel Levin Varnhagen. Die Wiederentdeckung einer Schriftstellerin, Göttingen 1987, S. 152–163; Petra Wilhelmy: Der Berliner Salon im 19. Jahrhundert (1780–1914), Berlin 1989; Peter Gradenwitz: Literatur und Musik im geselligen Kreise. Geschmacksbildung, Gesprächsstoff und musikalische Unterhaltung in der bürgerlichen
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maßgeblich zur Destruierung des Mythos vom Salon beigetragen und zugleich nachdrücklich auf die doppelschichtige Problematik der sozial-kulturellen Emanzipation und Integration jüdischer Frauen in die (christlich-)bürgerliche Gesellschaft hingewiesen.18 Was hier für Rahel Levin-Varnhagen plausibel hervorgehoben wird, ist freilich nur die Sicht der geschlechtergeschichtlichen bzw. feministischen Literaturwissenschaft. Für Eduard Gans, Freund der beiden Varnhagens und einen der prominentesten Habitués in Rahels zweitem Salon, wird man diese Sicht differenzieren und die Akzente etwas anders setzen müssen. Zwar war für beide, Rahel und Gans, als Juden die Eintrittsproblematik in die bürgerliche Gesellschaft grundsätzlich ähnlich. Doch eröffneten sich für Gans als männlichen Juden hierzu Wege, die Rahel als Frau verschlossen blieben. In einem für die Kulturgeschichte der sich formierenden Wissensmetropole Berlin um 1800 wichtigen Essay hat Barbara Hahn darüber hinaus darauf aufmerksam gemacht, daß mit der Gründung der Berliner Universität der Salon als stände- und geschlechterübergreifender Ort des Wissens zugunsten der Universität als einer männlich geprägten Institution der Wissenschaft an Bedeutung verloren habe.19 Diese Beobachtung trifft jedoch nicht nur auf die Unterscheidung zwischen jüdischen Salonières – wie Rahel und Henriette Herz – und christlichen Habitués – wie Friedrich Schleiermacher, die Brüder Humboldt, Friedrich Gentz u. a. – zu, sondern sie gilt ebenso für jüdische Frauen und jüdische Männer. Heinrich Heine hat gelegentlich den Taufzettel als „Entréebillet zur europäischen Kultur“20 bezeichnet, und mit Blick auf berufliche Karrieren ist dieses Diktum nicht unzutreffend. Jedenfalls wurde Gans die Möglichkeit für eine rechtswissenschaftliche Professur an der Berliner Universität erst mit seiner Taufe im Jahr 1825 eröffnet.21 Jüdischen Frauen wie Rahel dagegen blieb der Zugang zur Universität, und sei es nur als Studierende, trotz Taufe ebenso wie Frauen generell verwehrt. Der Eintritt des Judentums in die bürgerliche Gesellschaft sollte nach den Vorstellungen der jungen jüdischen Gelehrten und Intellektuellen, die
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Salongesellschaft, Stuttgart 1991; Deborah Hertz: Die jüdischen Salons im alten Berlin, Frankfurt/M. 1991; Peter Seibert: Der literarische Salon. Literatur und Gesellschaft zwischen Aufklärung und Vormärz, Stuttgart, Weimar 1993; Horst Möller: Fürstenstaat und Bürgernation. Deutschland 1763– 1815, Berlin 1994, S. 467–494; Hartwig Schultz (Hrsg.): Salons der Romantik. Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zu Theorie und Geschichte des Salons, Berlin, New York 1997; Detlef Gaus: Geselligkeit und Gesellige. Bildung, Bürgertum und bildungsbürgerliche Kultur um 1800, Stuttgart 1998; Roberto Simanowski u. a. (Hrsg.): Europa – ein Salon? Beiträge zur Internationalität des literarischen Salons, Göttingen 1999; Hannah Lund: „Die ganze Welt auf ihrem Sopha“. Frauen in europäischen Salons, Berlin 2004; Rita Unfer Lukoschik (Hrsg.): Der Salon als kommunikations- und transfergenerierender Kulturraum, München 2008. Vgl. Barbara Hahn: Der Mythos vom Salon. „Rahels Dachstube“ als historische Fiktion, in: Schultz (Hrsg.): Salons der Romantik (wie Anm. 17), S. 213–234. Barbara Hahn: Orte des Wissens. Salons. Universitäten, in: Merkur 54 (2000), S. 686–698. Heinrich Heine: Sämtliche Schriften. Hrsg. v. Klaus Briegleb, Bd. 6/I, 2. Aufl., München 1985, S. 618. S. hierzu Johann Braun: Die „Lex Gans“ – ein Kapitel aus der Geschichte der Judenemanzipation in Preußen, in: ders.: Judentum, Jurisprudenz und Philosophie (wie Anm. 15), S. 46–74 (zuerst 1985); Reinhard Blänkner: Berlin – Paris. Wissenschaft und intellektuelle Milieus des l’homme politique Eduard Gans, in: ders. u. a. (Hrsg.): Eduard Gans (wie Anm. 15), S. 367–408, insbes. 369–375.
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sich im Berliner „Verein für Kultur und Wissenschaft der Juden“ (1819–1824) versammelten und dem Gans als Präsident von 1822 bis zu seinem Ende vorstand,22 über die Wissenschaft, und damit über die Universität erfolgen. Dennoch blieb, gerade auch für Gans, der Salon ein wichtiger Ort ständeübergreifender kultureller Vergesellschaftung, im Vergleich zu Rahel allerdings mit einer besonderen geschlechterspezifischen Differenz. Dies weist zunächst darauf hin, daß eine geschlechtergeschichtlich fixierte Unterscheidung von Salon und Universität als Orte spezifisch weiblicher oder männlicher Wissensproduktion zu kurz griffe. Darüber hinaus erscheint es als problematisch, bei aller Berechtigung einer Fokussierung auf die Salonières, Salonforschung einseitig aus feministischer bzw. feministisch-jüdischer Perspektive zu betreiben. Denn wenngleich die Struktur der Salons frauenzentriert war, so sind diese als sozial-kulturelle Orte nur zu verstehen als Teil einer umfassenderen neuen Kommunikationskultur der „gebildeten Stände“, die ich als „neuständische“ kulturelle Vergesellschaftung bezeichne.23 Diese historisch besondere Form der kulturellen Vergesellschaftung, die durch die Geselligkeitsforschung zum 18. und frühen 19. Jahrhundert gut erschlossen ist,24 ist wiederum Teil der „neuständischen Gesellschaft“, die sich als eigenständige Figuration, welche durch spezifische institutionelle Mechanismen zusammengehalten wird, in Deutschland in Abgrenzung zur altständischen Sozialordnung seit der Mitte des 18. Jahrhunderts formiert und erst mit dem Aufkommen der fabrikindustriellen Klassengesellschaft seit den 1830er/1840er Jahren ihre Integrationskapazität verliert.
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S. hierzu Reissner: Eduard Gans (wie Anm. 15), S. 59–83; Johann Braun: Eduard Gans und der Verein für Kultur und Wissenschaft der Juden, in: ders.: Judentum, Jurisprudenz und Philosophie (wie Anm. 15), S. 9–45; Norbert Waszek: „Wissenschaft und die Liebe zu den Seinen“ – Eduard Gans und die hegelianischen Ursprünge der ‚Wissenschaft des Judentums‘, in: Blänkner u. a. (Hrsg.): Eduard Gans (wie Anm. 15), S. 71–103. Gans’ drei Präsidialreden wiederabgedruckt bei: Waszek (Hrsg.): Eduard Gans (wie Anm. 15), S. 55–85. 23 Zu den u. a. durch die verzerrenden Forschungen zum deutschen „Bildungsbürgertum“ um 1800 ausgeblendeten und bislang nicht systematisch untersuchten „gebildeten Ständen“ s. bis auf weiteres Hans Erich Bödeker: Die „gebildeten Stände“ im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Zugehörigkeit und Abgrenzungen. Mentalitäten und Handlungspotentiale, in: Jürgen Kocka (Hrsg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil IV: Politischer Einfluß und gesellschaftliche Formation, Stuttgart 1989, S. 21–52. 24 S. hierzu François (Hrsg.): Geselligkeit, Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft (wie Anm. 17); Barbara Stollberg-Rilinger: Europa im Jahrhundert der Aufklärung, Stuttgart 2000, S. 114–145; Timothy C. W. Blanning: Das Alte Europa 1660–1789. Kultur der Macht und Macht der Kultur, Darmstadt 2006, S. 105–174. Aus regionalgeschichtlicher Sicht s. Peter Albrecht u. a. (Hrsg.): Formen der Geselligkeit in Nordwestdeutschland 1750–1820, Tübingen 2003; Heike Düselder (Hrsg.): Adel auf dem Lande. Kultur und Herrschaft des Adels zwischen Weser und Ems 16. bis 18. Jahrhundert, Cloppenburg 2004; Blänkner, de Bruyn (Hrsg.): Salons und Musenhöfe (wie Anm. 8); Heike Düselder u. a. (Hrsg.): Adel und Umwelt. Horizonte adeliger Existenz in der Frühen Neuzeit, Köln 2008.
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Dieses Forschungsprogramm der Neuständischen Gesellschaft ist hier nicht näher darzulegen.25 Für den vorliegenden Zusammenhang ist lediglich auf den im ausgehenden 18. Jahrhundert einsetzenden Dynamisierungsschub innerhalb der neuständischen Gesellschaft hinzuweisen, der sich nicht zuletzt in der Umordnung der Geschlechterbeziehungen niederschlägt26 und damit auch den besonderen Ort des Salons um 1800 markiert. Anders als Niklas Luhmann gemeint hat, befindet sich der Salon keineswegs an der „Randlage der geselligen Interaktion“, die darum „keinen Formtypus sozialer Rationalität“ hervorgebracht habe.27 Und ebenso wenig ist die im Anschluß hieran von Jürgen Fohrmann vertretene These aufrecht zu erhalten, daß es sich bei den Geselligkeitsentwürfen um 1800 um kommunikative Entdifferenzierungsmodelle „symmetrischer Geselligkeit“ als Antwort auf die „beginnende funktionale Differenzierung der Gesellschaft“ gehandelt habe, die „ohne Erfolgschance“ gewesen und darum im Verlauf des 19. Jahrhunderts in andere Formen der Geselligkeit transformiert worden seien.28 Vielmehr stehen die Salons im Rahmen des weiter gespannten Geselligkeitsgefüges im Zentrum der neuständischen Gesellschaft und ihre Analyse eröffnet den Zugang zum Verständnis der kulturellen Vergesellschaftung dieser eigenen Logiken folgenden sozialhistorischen Figuration zwischen altständischer Ordnung und fabrik-industrieller Klassengesellschaft, die jedoch in Luhmanns zwar hoch anregender, in ihrer zwischen stratifikatorischen und funktional differenzierten sozialen Systemen zu grobschlächtig unterscheidenden Systemtheorie verborgen bleibt. Plausibler als diese Geselligkeitsentwürfe um 1800 als „scheiternde[s] Konzept“29 zu interpretieren, ist es daher, sie im Kontext einer durch den Dynami-
25 S. hierzu Reinhard Blänkner, Ina Ulrike Paul: Neuständische Gesellschaft – Europäische Gesellschaft im globalen Kontext (1750–1830/40), in: Ungleichheiten. 47. Deutscher Historikertag, 30. 9 bis 3. 10. 2008, TU Dresden, S. 75; Reinhard Blänkner: Integration durch Verfassung? Die „Verfassung“ in den institutionellen Symbolordnungen des 19. Jahrhunderts in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Hans Vorländer (Hrsg.): Der Vorrang der Verfassung, Wiesbaden 2002, S. 213–236; ders.: Tugend, Verfassung, Zivilreligion. Normative Integration im aufgeklärten Liberalismus, in: Hubertus Buchstein, Rainer Schmalz-Bruns (Hrsg.), Politik der Integration. Symbole, Repräsentation, Institution. FS für Gerhard Göhler zum 65. Geburtstag, Baden-Baden 2006, S. 339–367, insbes. S. 345–348; ders.: Salons und Musenhöfe. Neuständische Geselligkeit in Berlin und in der Mark Brandenburg um 1800. Ein Forschungsumriß, in: ders./de Bruyn (Hrsg.), Salons und Musenhöfe (wie Anm. 8), S. 11–34, insbes. S. 22–24. 26 Zur Geschlechterordnung um 1800 s. Anne-Charlott Trepp: Sanfte Männlichkeit und selbständige Weiblichkeit. Frauen und Männer im Hamburger Bürgertum zwischen 1770 und 1840, Göttingen 1996; Ulrike Weckel u. a. (Hrsg.): Ordnung, Politik und Geselligkeit der Geschlechter im 18. Jahrhundert, Göttingen 1998; Katharina Rennhak, Virgina Richter (Hrsg.): Revolution und Emanzipation. Geschlechterordnungen in Europa um 1800, Köln 2004. 27 Vgl. Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 1, Frankfurt/M. 1980, S. 161. 28 Vgl. Jürgen Fohrmann: Gesellige Kommunikation um 1800. Skizze einer Form, in: Soziale Systeme 3 (1997), S. 351–360, insbes. S. 351 f. und 358. 29 Ebd., S. 351.
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sierungsschub ausgelösten gesteigerten sozialtheoretischen Beobachtung des Ausdifferenzierungsprozesses der neuständischen Gesellschaft zu lesen. Aus der Vielzahl dieser sozialtheoretischen Reflexionen ist hier lediglich auf jene zweier – wohl nicht ganz zufällig – Wahl-Berliner hinzuweisen. Im Anschluß an den aufgeklärten Geselligkeitsdiskurs und vor dem Hintergrund der sich funktional ausdifferenzierenden Ständeordnung beschrieb Friedrich Schleiermacher in seinem „Versuch einer Theorie des geselligen Betragens“ den neu entstehenden dritten Raum zwischen – bzw. besser: jenseits – der Sphäre des „Hauses“ und der – im alteuropäischen Sinn – „bürgerlichen Gesellschaft“ als „freie Geselligkeit“.30 Es ist nicht abwegig, diese „freie Geselligkeit“ als utopischen Entwurf zu interpretieren.31 Dabei ist jedoch bislang zumeist übersehen worden, daß Schleiermachers Theorieversuch die Absicht zugrunde liegt, den Differenzierungsschub der ständischen Ordnung sozialtheoretisch zu verarbeiten. Schleiermachers „Versuch“, der nach seiner anonymen Veröffentlichung im Berlinischen Archiv der Zeit und ihres Geschmacks im Jahre 1799 rasch in Vergessenheit geriet und erst ein Jahrhundert später von Hermann Nohl wiederentdeckt wurde,32 um in der jüngeren Salonforschung zum beinahe kanonischen Text erhoben werden, ist daher vor allem als zeitdiagnostischer Text und als eine der originellsten, wenngleich Fragment gebliebenen Abhandlungen und selbstreflexiven Beobachtungen zur neuständischen kulturellen Vergesellschaftung zu verstehen.33 Diesen neuen sozialen Raum sozialtheoretisch zu erfassen und seinen Ort systematisch zu beschreiben, war auch das Anliegen Georg Wilhelm Friedrich Hegels. Allerdings unterschied Hegel sich von Schleiermacher nicht nur darin, daß er hierbei das traditionelle sozialtheoretische Kategoriensystem und deren Semantik umbaute, sondern auch darin, daß ihn an diesem neuen dritten Raum anderes interessierte als Schleiermacher. In seiner Rechtsphilosophie beschrieb Hegel diese Sphäre als „Bürgerliche Gesellschaft“ und grenzte sie bekanntlich begrifflich gegen die „Familie“ – in der alteuropäischen Semantik durch das „Haus“ bezeichnet – und gegen den „Staat“ – in der alteuropäischen Semantik durch „bürgerliche Gesellschaft“ bezeichnet – ab. Die neue „bürgerliche Gesellschaft“ definiert Hegel 30
Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799), in: Eckart Pankoke (Hrsg.): Gesellschaftslehre, Frankfurt/M. 1991, S. 244–271 u. 1017–1027. 31 S. hierzu Norbert Altenhofer: Geselligkeit als Utopie. Rahel und Schleiermacher, in: Berlin zwischen 1789 und 1848. Facetten einer Epoche. Ausstellung der Akademie der Künste v. 30. August bis 1. November 1981, Berlin 1981, S. 37–42; Gaus: Geselligkeit und Gesellige (wie Anm. 17), S. 103–105; Conrad Wiedemann: Ideale Geselligkeit und ideale Akademie. Schleiermachers Geselligkeits-Utopie 1799 und heute, in: Wilhelm Voßkamp (Hrsg.): Ideale Akademie. Vergangene Zukunft oder konkrete Utopie?, Berlin 2002, S. 61–80. 32 Vgl. Hermann Nohl: Vorbemerkung zur Herausgabe des „Versuchs einer Theorie des geselligen Betragens“, in: Friedrich Schleiermacher: Werke. Auswahl in vier Bänden, hrsg. v. Otto Braun, Johannes Bauer, Bd. 2, Leipzig 1927, S. XXIII–XXX. Der Schleiermacher-Text S. 3–31. 33 Zum zeitgeschichtlichen Bezug des Schleiermacherschen „Versuchs“ s. Seibert: Der literarische Salon (wie Anm. 17), S. 310–346; Andreas Arndt: Geselligkeit und Gesellschaft. Die Geburt der Dialektik aus dem Geist der Konversation in Schleiermachers „Versuch einer Theorie des geselligen Betragens“, in: Schultz (Hrsg.): Salons der Romantik (wie Anm. 17), S. 45–61.
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als das sog. „System der Bedürfnisse“, ein Begriff, den er aus der schottischen Moralphilosophie bzw. Politischen Ökonomie übernahm.34 Als „decencies“, Annehmlichkeiten also im Sinne von Alltagsbedürfnissen, wurde hier im Unterschied zu den Luxusgütern des frühneuzeitlichen Adels die Warenwelt der vorindustriellen global-arbeitsteiligen consumer society der neuen middle classes beschrieben. Hegels „System der Bedürfnisse“ ist daher nichts anderes als die verallgemeinerte sozialtheoretische Beschreibung der Konsumgesellschaft der „gebildeten Stände“, der Elite der neuständischen Gesellschaft.35 Während Hegel also diesen neuen dritten Raum rechtsphilosophisch und unter dem Aspekt der – noch vor-industriellen – politischen Ökonomie behandelte, lag Schleiermachers Interesse darin, dessen kulturelle Bedingungen und institutionelle Mechanismen als „freie Geselligkeit“ darzulegen. Unter diesen Aspekten wäre eine eingehendere, auf einander bezogene Relektüre beider lohnenswert,36 und dabei würde deutlicher werden als hier nur zu skizzieren war, daß beide, Schleiermacher und Hegel, keineswegs pauschal als „Denker der Moderne“ gelten können, sondern im Vergleich zur altständischen Ordnung „moderne Denker“ waren, die elementare Bausteine für eine Sozialtheorie der neuständischen Gesellschaft geliefert haben.
Gans und die Salons Eduard Gans orientierte sich zunächst noch weitgehend im Denkhorizont dieser beiden Pole Schleiermacher und Hegel. Für seine Beziehung zu Hegel bedarf dies vor dem Hintergrund der einschlägigen Forschung keiner näheren Erläuterung. Es gilt aber auch im Hinblick auf Schleiermacher, dem Gans in seinem Denkansatz wohl näher stand als bislang vermutet, wenngleich dies auf den ersten Blick überraschend erscheinen mag, denn dessen spekulativer Theologie stand Gans durchaus fern und als Protagonist der Hegelschen Schule gehörte Gans universitätspolitisch zum Lager der Schleiermacher-Gegner.37 Seine Nähe zu 34 S. hierzu Norbert Waszek: The Scottish Enlightenment and Hegel’s Account of ‚civil society‘, Dordrecht–Boston 1988. 35 Neil McKendrick u. a. (Hrsg.): The Birth of a Consumer Society. The Commercialization of 18thcentury England, Bloomington 1982; John Brewer, Roy Porter (Hrsg.): Consumption and the World of Goods, London 1994; Istvan Hont: Jealousy of Trade. International Competition and the NationState in Historical Perspective, Cambridge, MA, London 2005; Maxine Berg: Luxury and Pleasure in eighteenth-century Britain, Oxford 2007; Michael North (Hrsg.): Genuss und Glück des Lebens. Kulturkonsum im Zeitalter der Aufklärung, Köln 2003. 36 S. hierzu Gunther Scholtz: Ethik als Theorie der modernen Kultur. Mit vergleichendem Blick auf Hegel, in: ders.: Ethik und Hermeneutik. Schleiermachers Grundlegung der Geisteswissenschaften, Frankfurt/M. 1995, S. 35–64. 37 S. hierzu Rüdiger Scholz: Die Philosophie und die Wissenschaften in der Akademie. Schleiermacher und Hegel, in: ders.: Ethik und Hermeneutik (wie Anm. 36),S. 147–169. S. auch Eduard Gans: Die Stiftung der Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik, in: ders.: Rückblicke auf Personen und Zustände (1836). Neudruck. Hrsg., kommentiert und mit einer Einleitung versehen v. Norbert Waszek, Stuttgart-Bad Cannstadt 1995, S. 215–256, insbes. S. 251.
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Schleiermacher, und damit umgekehrt eine gewisse Distanz zu Hegel, zeigt sich vor allem im Postulat einer gleichsam „freien“, d. h. vom Staat und seiner Bildungsbürokratie unabhängigen Wissenschaft. Dies ist bei der Idee des „Vereins für Kultur und Wissenschaft der Juden“ ebenso erkennbar wie bei der Gründung der Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik, die maßgeblich durch die Initiative von Gans zustande kam.38 Für den hier interessierenden Zusammenhang ist besonders hervorzuheben, daß Gans sich lebensweltlich bevorzugt in jenem sozial-kulturellen Raum bewegte, den Schleiermacher in seinem „Versuch einer Theorie des geselligen Betragens“ normativ beschrieben hatte. Ob Gans diesen anonym und bald in Vergessenheit geratenen Aufsatz kannte, ist nicht überliefert. Als Theoretiker der „freien Geselligkeit“ war ihm Schleiermacher jedoch stets, wenngleich, von gelegentlichen Begegnungen abgesehen, nicht persönlich, sondern in Form der von Christian Daniel Rauch angefertigten Büste präsent, die in Rahels zweitem Salon neben jener des Prinzen Louis Ferdinand aufgestellt war und damit die Idee des Salons als kommunikativem Raum geselliger Vernunft symbolisch unterlegte. An der Seite einer Salonière einen eigenen Salon zu führen, blieb Gans, der zeitlebens unvermählt blieb, versagt, wie Karl Gutzkow rückblickend bedauernd bemerkte. Gans „wohnte an der Ecke Behrenstraße [...] Seine Vorhänge, elegante Möbel konnte man schon von der Straße aus im Parterre des Garçons unterscheiden. Hätte Gans eine Hausfrau gehabt, er würde den ,Salon‘ in Berlin eingeführt haben nach dem Zuschnitt des neuen Paris. Denn der ,Salon‘ bei den Mendelssohns, bei Frau Beer, bei Fräulein Solmar, beim alten Hitzig, das war noch ein Begriff aus dem Zeitalter der Récamier.“39 Gans war Habitué zahlreicher Salons, in Berlin etwa in den von Gutzkow erwähnten der Amalie Beer, der Mendelssohns oder vor allem des Rahelschen,40 und in Paris, wohin Gans enge Verbindungen hatte, des damals bedeutendsten der Juliette de Récamier.41 Aus den zahlreichen Schilderungen in der Memoirenliteratur über Gans und die Salons, in denen er verkehrte, sollen hier lediglich zwei erwähnt werden, die für Gans als Habitué und als Theoretiker des Salons aufschlußreich sind. Als Habitué von besonderer Präsenz wird Gans in dem Aufsatz „Der Salon der Frau von Varnhagen. Berlin, im März 1830“ dargestellt, der im Jahr 1859 unter der Autorschaft von Ignaz Kuranda in Karl Varnhagens Ausgewählten Schriften erschien. Wie Barbara Hahn plausibel dargelegt hat, ist Kurandas Autorschaft allerdings durchaus zweifelhaft. Textvergleiche sowie manche Schilderungen und Anspielungen in diesem Aufsatz lassen eher darauf schließen, daß Varnhagen selbst der Autor die38
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S. hierzu Gans: Die Stiftung der Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik (wie Anm. 37); Christoph Jamme (Hrsg.): Die ,Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik‘. Hegels Berliner Gegenakademie, Stuttgart-Bad Cannstadt 1994. Karl Gutzkow: Berliner Erinnerungen und Erlebnisse, hrsg. v. Paul Friedländer, Berlin o. J., S. 297, zit. n. Günther: Wir winden dir den Jungfernkranz (wie Anm. 3), S. 54. S. hierzu die detaillierte Auflistung bei Petra Wilhelmy: Der Berliner Salon im 19. Jahrhundert (1780– 1914), Berlin 1989, S. 605–609, 674–680, 687–691, 848–860, 865–873, 908. S. hierzu Albert Kaltenthaler: Die Pariser Salons als europäisches Kulturzentrum unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Besucher während der Zeit von 1815–1848, Diss. Nürnberg 1960.
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ses Textes ist.42 Offenbar handelt es sich hierbei um einen fiktiven Text, der allerdings deswegen nichts an Realitätsgehalt einbüßt und in hochverdichteter literarischer Form eine Salongeselligkeit in bewußter oder unbewußter Anlehnung an Schleiermachers normativen „Versuch einer Theorie des geselligen Betragens“ schildert. Gans wird hier als der gleichsam ideale Habitué dargestellt, der über alle Eigenschaften verfügt, die zur Mitgliedschaft an „freier Geselligkeit“ qualifizieren, insbesondere „Schicklichkeit“, „Gewandtheit“ und die Fähigkeit der – nicht zuletzt französischen – Konversation, die Saint-Marc-Girardin in seinem Nachruf auf Gans so hoch gerühmt hatte.43 Schicklichkeit als Teil des unkodifizierten Salonreglements korrespondiert mit dem Talent zu individueller Darstellung, die hier vor allem auf Gans als politischen Professor abzielt, denn, so Varnhagen alias Kuranda, „Gans konnte nicht lange reden, ohne wieder auf die Politik zu geraten“.44 In einem eindrücklichen und anschaulichen Passus des Textes wird Gans’ Auftreten in folgenden Worten geschildert: Gans hatte sich heftig zum Streite gedrängt, aber als dieser entzündet und er des Kampfes sicher war, da wurde er wunderbar ruhig, und führte mit Gelassenheit die kühnsten und doch bedachtvollsten Streiche, geschickt die ihm brauchbaren Thatsachen einflechtend, folgerecht die trifftigsten Gründe und bündigsten Schlüsse darlegend, immer bereit den Gegner zu hören, ihn immer ausreden lassend, aber dann, mit größter Beherrschung des Stoffes und mit scharfsinnigster Benutzung aller gegebenen Blößen, seine Argumentation fortsetzend, und sie endlich in klares, einleuchtendes Ergebnis abschließend. Dies alles geschah in fließendem, schwungvollem Französisch, mit größter Präzision, mit heller, freimüthiger Stimme, so daß es ein Vergnügen war, den wackeren 45 Redner anzuhören. Auch siegte er vollkommen [...]. Folgt man der plausiblen These, daß Varnhagen selbst der Autor dieser fiktiven Salonschilderung ist, wird man den hier nicht näher zu behandelnden Text zunächst gleichsam als „Aufsatz des Andenkens“ an die „wunderbare Zauberfrau“ Rahel, diese, wie Varnhagen an anderer Stelle dieses Aufsatzes schreibt, „Dienerin der Geselligkeit“ und „zugleich [...] Meisterin der Gesellschaft“46 lesen dürfen. Er ist darüber hinaus aber auch ein Denkmal für seinen Freund Gans und zugleich eine bereits in der Formulierung des Titels angedeutete späte Antwort auf dessen Aufsatz „Der Salon der Madame Recamier“, um Rahel literarisch zur Ebenbürtigkeit mit der bedeutendsten Salonière im Paris der Restaurationszeit und der JuliMonarchie zu erheben.
42 Vgl. Barbara Hahn: Der Mythos vom Salon (wie Anm. 18), S. 226. 43 Saint-Marc-Girardin: Erinnerungen an Eduard Gans, in: Waszek (Hrsg.): Eduard Gans (wie Anm. 15), S. 161–176 (zuerst in: Zeitung für die elegante Welt, 20. Januar 1840). 44 (Ignaz Kuranda): Der Salon der Frau von Varnhagen, Berlin, im März 1830, in: Karl August Varnhagen von Ense: Ausgewählte Schriften, Bd. 19, Leipzig 1876, S. 183–210, hier: S. 205. 45 Ebd., S. 196 f. 46 Ebd., S. 210.
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Gans hat den genannten Aufsatz nach seinem Paris-Besuch im Jahr 1835 geschrieben und, nach der umgehenden ersten Publikation in der Revue de Paris, in seine im darauf folgenden Jahr erschienenen Rückblicke auf Personen und Zustände47 aufgenommen. Ein nach seinen vorangegangenen wissenschaftlich-gelehrten Schriften bemerkenswertes Buch, das in Gans’ Gesamtœuvre einen erratischen Platz einzunehmen scheint, denn Gans tritt uns hier nicht als Professor der Gelehrtenwelt der Universität, sondern als Mensch der Welt der europäischen Salons entgegen. Tatsächlich handelt es sich bei diesem in elegantem Stil geschriebenen Buch um ein bedeutendes Werk aus der Memoirenliteratur jener Zeit, in welchem Gans sich im Vorwort in bemerkenswerter und grundsätzlicher Weise zu der seinerzeit in Deutschland noch wenig gebräuchlichen Form der Memoiren als Literaturgattung äußert. Ein für deutsche Verhältnisse damals beinahe avantgardistisches Buch und zugleich ein Dokument für Gans’ eigenen Denkweg über den Horizont von Hegel und Schleiermacher hinaus.48 Der erwähnte Aufsatz über den „Salon der Madame Recamier“ ist nicht nur interessant wegen der Charakterbeschreibung der Madame Récamier und der illustren Personen der gebildeten Welt jener Zeit wie François-René Chateaubriand, Pierre Simon Ballanche, Eugène Lerminier, Alexis de Tocqueville, Sainte-Beuve, Iwan Turgenew und anderer, denen Gans in diesem berühmtem Salon begegnet, der sich in der Rue de Sèvres befand, nur einen guten Steinwurf entfernt von dort, wo heute der Boulevard Raspail verläuft, an dem die Ecole des Hautes Etudes und die Maison des Sciences de l’Homme ihr Domizil haben. Ein Ort der Intelligenz, an dem auch Gans Gefallen gefunden haben würde. Für den vorliegenden Zusammenhang interessiert Gans’ Schilderung vor allem wegen der theoretischen Reflexionen, die er hier über den Salon formuliert und in deren Mittelpunkt Frankreich steht. Bei keinem Volke der Erde ist wie bei den Franzosen das Wesen derselben die Gleichheit derer, die sich sehen. Die Unterschiede des Standes, der zufälligen Prärogativen, der Geburt, des Reichthums, sind in jedem Salon von vornherein ausgelöscht; bei den Ministern, wie bei den Privaten, bewegt man sich mit jener Leichtigkeit, die durch das Gefühl erzeugt wird, daß man ein Mensch sey, und daß diese Qualität durch nichts, was noch dazutritt, aufgewogen werden dürfe. In keiner Gesellschaft herrscht ein übermäßiger Respekt vor der Stellung eines Anwesenden; man hat sich selbst durch Verstand, Geist und Wendungsfähigkeit eine bleibende Achtung zu sichern. Ist aber Gleichheit das Funda49 mentalgesetz der Gesellschaft, so bedarf diese, um zu bestehen, auch nur ihrer selbst. Gans geht auch den historischen und kulturellen Bedingungen nach, die dazu geführt haben, daß diese Form der Salon-Geselligkeit in anderen europäischen Ländern – England, Italien, Deutschland – weniger einflußreich und bedeutend geworden sei als bei den Franzo-
47 S. oben Anm. 37. 48 S. hierzu auch Eduard Gans: Autobiographische Notiz (1834), in: Waszek (Hrsg.): Eduard Gans (wie Anm. 15), S. 53–55. 49 Eduard Gans: Der Salon der Madame Recamier (1835), in: ders.: Rückblicke auf Personen und Zustände (wie Anm. 37), S. 151–163, hier: S. 161 f.
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sen, deren „öffentliches Leben [...] sich ganz in den Salons“ abspiegele.“50 Resümierend schreibt er: „Die Geselligkeit, welche die reine Geselligkeit, die Gesellschaft, welche die reine Gesellschaft ist, bleibt somit lediglich in Frankreich zu Haus. Hier ist sie mit sich selber eins, gleich, leicht sich findend, wendend und wiederfindend, ohne Ansprüche und Drangsaal, ohne Kosten und Verderben“.51
Die Transformation der „Gesellschaft“ und das Ende des neuständischen Salons Bei der Lektüre dieses Textes, den der frankophile Gans unter dem Eindruck seines Besuchs im Salon der Récamier niedergeschrieben hat, sollte man sich nicht dazu verleiten lassen, ihn als isolierte Analyse der französischen Gesellschaft zu verstehen. Denn die analytischen Begriffe, mit denen Gans hier operiert, gehören zum generellen Grundbestand des Arsenals neuständischer Vergesellschaftung, auch wenn diese in Europa regional und national unterschiedlich ausgeprägt war. Noch einmal werden die Grundideen des Salons hier präzise benannt: Die Entstehung der Gesellschaft, der „freien Geselligkeit“, durch Auslöschung der Standesunterschiede und damit zugleich die Entstehung eines sozial-kulturellen Raumes, der durch die „Gleichheit“ derer gekennzeichnet ist, die sich in ihm bewegen. Diese Gleichheit ist jedoch eine Gleichheit nur im Hinblick auf die – wie Gans ausdrücklich schreibt – „zufälligen Prärogativen“ und die „Geburt“. Dies zielt rückblickend noch einmal kritisch auf die Überwindung der altständischen Ungleichheiten des Privilegiensystems des Ancien Régimes. Wenn Gans schreibt, daß „Gleichheit das Fundamentalgesetz der Gesellschaft“ sei, so ist damit keineswegs eine allgemeine soziale Gleichheit gemeint. Es ist vielmehr die Gleichheit der in der Französischen Revolution politisch zum Durchbruch gekommenen neuständischen Gesellschaft. Deren Erwartungshorizont wurde jedoch durch den neuen Erfahrungsraum der aufkommenden Klassengesellschaft zunehmend prekär. Der Chartismus in England, die Aufstände der Seidenweber in Lyon, der Saint-Simonismus, erste neue soziale Bewegungen auch in Deutschland, die gemeineuropäischen Verfassungskrisen der 1830er Jahre – all dies indiziert einen Integrationsschwund der neuständischen Gesellschaft bzw. die Entstehung der fabrik-industriellen Klassen-Gesellschaft jenseits der neuständischen Gesellschaft. Gans hat diesen sozialen Umbruchprozeß sehr frühzeitig wahrgenommen, nicht zuletzt durch seine Auseinandersetzung mit dem Saint-Simonismus, mit dem er bei seinen ParisBesuchen im Jahre 1825 und später im Sommer nach der Juli-Revolution 1830 konfrontiert wurde.52 Gans vor allem war es auch, der die „soziale Frage“ in die Diskussionen des Rahelschen Salons brachte und sie als einer der ersten unter den deutschen Professoren in seinen Vorlesungen, etwa in den Aufsehen erregenden über Naturrecht und Universalrechtsgeschichte 50 Gans: Rückblicke auf Personen und Zustände (wie Anm. 37), Vorwort, S. VII. 51 Gans: Der Salon der Madame Recamier (wie Anm. 49), S. 163. 52 S. Gans: Rückblicke auf Personen und Zustände (wie Anm. 37), passim.
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im Wintersemester 1832/33, behandelte.53 Unter dem Eindruck der neuen sozialen Bewegungen schrieb er im Jahre 1830: „Ob diese Zustände lange dauern können, ob nicht die Arbeiter einen Anhaltspunkt in der Gesellschaft suchen müssen, ist eben die Frage, die mehr als jemals die heutige Zeit zu beschäftigen hat.“54 Er selbst gab eine Antwort hierauf mit dem, was er „freie Corporation“ und „Vergesellschaftung“ nannte.55 „Freie Corporation“ und „Vergesellschaftung“: damit überschritt Gans den neuständischen Denk- und Erfahrungshorizont der „freien Geselligkeit“ bei Schleiermacher oder der „bürgerlichen Gesellschaft“ bei Hegel und öffnete den Weg hin zu Sozialtheorien der Klassengesellschaft. Er ist zu früh verstorben, um eigene Positionen in dieser Hinsicht weiter formulieren zu können, und nachträgliche Überlegungen, in welche Richtung er sich möglicherweise bewegt hätte, müssen hypothetisch bleiben. Marx’ Weg, der ohne Gans schwerlich denkbar ist, wäre er, ebenso wie Heinrich Heine, wohl kaum gefolgt. Sehr wahrscheinlich hätte er eine starke eigene Position auf der Seite der bürgerlichen Sozialreform eingenommen, theoretisch in der Nähe von Lorenz von Stein oder Robert von Mohl, die den sozialen Umbruch seit Beginn des zweiten Drittels des 19. Jahrhunderts unter dem neuen Stichwort der „Gesellschafts-Wissenschaften“ begrifflich reflektierten.56 Dieser neue sozialtheoretische Begriff indiziert seismographisch die Erosion des neuständischen Erfahrungsraums,57 der sich in seiner Formierungsphase in der emanzipatorischen Aufwertung des Begriffs der „Gesellschaft“ gegenüber dem der „Gemeinschaft“ und seiner semantischen Verknüpfung mit dem Begriff der „Geselligkeit“ niedergeschlagen hatte und von Schleiermacher ausdrücklich hervorgehoben worden war.58 Noch in den 1850er 53
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Vgl. Gans: Naturrecht und Universalrechtsgeschichte (wie Anm. 15); Myriam Bienenstock: Die „soziale Frage“ im deutsch-französischen Kulturaustausch: Gans, Marx und die deutsche Saint-SimonRezeption, in: Blänkner u. a. (Hrsg.): Eduard Gans (wie Anm. 15), S. 153–175; Warren Breckman: Marx, the Young Hegelians, and the Origins of Radical Social Theory, Cambridge 1999, S. 164–176; ders.: Eduard Gans and the Crisis of Hegelianism, in: Journal of the History of Ideas 62 (2001), S. 543–564; Hans-Christoph Schmidt am Busch u. a. (Hrsg.): Hegelianismus und Saint-Simonismus, Paderborn 2007. Eduard Gans: Paris im Jahre 1830, in: ders.: Rückblicke auf Personen und Zustände (wie Anm. 37), S. 48–106, hier: S. 101. Ebd. S. hierzu Eckart Pankoke: Sociale Bewegung, sociale Frage, sociale Politik. Grundfragen der deutschen ,Socialwissenschaft‘ im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1970. S. hierzu Lothar Gall: Von der ständischen zu bürgerlichen Gesellschaft, München 1993. Mit Blick auf den deutschen Liberalismus s. ders.: Liberalismus und „bürgerliche Gesellschaft“. Zu Charakter und Entwicklung der liberalen Bewegung in Deutschland, in: HZ 220 (1975), S. 324–356; Dieter Langewiesche: Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988, S. 12–38; Blänkner: Tugend, Verfassung, Zivilreligion (wie Anm. 25). Vgl. Schleiermacher: Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (wie Anm. 30), S. 249, Anm. Diesen neuständisch-emanzipatorischen Neuansatz verkennt Wolfram Mauser in seinem Aufsatz: Geselligkeit. Zu Chance und Scheitern einer sozialethischen Utopie um 1750, in: Karl Eibl (Hrsg.): Entwicklungsschwellen im 18. Jahrhundert, Hamburg 1989 (Aufklärung. Interdisziplinäre Halbjahresschrift zur Erforschung der deutschen Aufklärung und ihrer Wirkungsgeschichte 4/1), S. 5–36.
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Jahren fand diese Geselligkeits-Gesellschafts-Semantik in den einschlägigen Lexikaartikeln rückblickenden Nachhall,59 bevor sie, ausgelöst durch den sozialstrukturellen Umbruch zur fabrik-industriellen Klassengesellschaft, aufgebrochen und der nun verselbständigte Gesellschaftsbegriff zum Allgemeinbegriff der Soziologie erhoben wurde. Von hier ausgehend kam Ferdinand Tönnies zu seiner Unterscheidung von „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ (1887), in der die Schleiermachersche Semantik der beiden Begriffe jedoch umgekehrt wurde.60 Tönnies nahm diese systematische Umkehrung allerdings ohne Bezugnahme auf Schleiermachers Theorie-Versuch vor, der ihm unbekannt war. Dies gilt ebenso für Georg Simmels „Soziologie der Geselligkeit“ (1911),61 einem heute zum klassischen Referenztext der Kultursoziologie avancierten Text, der mit Schleiermachers grundsätzlicher Problemstellung einer „geselligen Ethik“62 zwar korrespondiert, dessen neuständischen Horizont jedoch bereits überschritten hatte, der Simmel, wie auch der aktuellen Kultursoziologie, historisch nicht mehr präsent war.63 Gans markiert in seinem Habitus und mit seinen Schriften die historische Schwellensituation der Transformation von der neuständischen zur fabrik-industriellen Klassengesellschaft. Seine Auffassungen, daß die „Gleichheit“ im Salon durch freie Geselligkeit „Gesellschaft“ herstelle und sein Verständnis des Salons als „Werkstatt der Gesellschafter“64 verlieren durch die soziale Umordnung ihre Plausibilität. Die Parallelsemantik von „Gesellschaft“ als „freie Geselligkeit“ und „Vergesellschaftung“ der Arbeiter hält diese Umordnung noch in der Schwebe und bleibt unaufgelöst. Die Kluft zwischen der neuständischen Gesell-
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Kenntnisreich wird hier der innovative Geselligkeitsdiskurs in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts seit Christian Thomasius herausgearbeitet, dessen neuständische Transformation wird jedoch nur unter dem negativen Aspekt des Verfalls beschrieben. Generell zu den frühneuzeitlichen Geselligkeitsdiskursen vor ihrer neuständischen Neukonzeptualisierung: Wolfgang Adam (Hrsg.): Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter, 2 Bde, Wiesbaden 1997. S. etwa die beiden aufschlussreichen, von Karl Hermann Scheidler verfassten Artikel „Geselligkeit und Gesellschaft“ sowie „Gesellschaft (bürgerliche)“, in: Johann Samuel Ersch, Johann Gottlieb Gruber (Hrsg.): Allgemeine Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste. Teil 63, Erste Sektion A–G, Leipzig 1856, S. 434–441 u. 441–445. Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen, Leipzig 1887. Seit der 2. Aufl. (1912) mit dem neuen Untertitel: Grundbegriffe der reinen Soziologie. Bezug auf Schleiermacher erst im Vorwort der 6. u. 7. Aufl. 1925, S. XVI. Georg Simmel: Soziologie der Geselligkeit, in: Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages v. 19.–22. Oktober in Frankfurt a. M. 1910, Tübingen 1911, S. 1–6. Ebd., S. 12. Aufschlußreich hierzu auch der Kontrast zwischen der Salongeselligkeit um 1800 und um 1900, etwa im Hause Georg Simmels, s. hierzu eindrücklich Hahn: Orte des Wissens (wie Anm. 19), S. 696–698. Als Dokument für die Abwesenheit des (neu-)ständischen Geselligkeits-Gesellschaftsdiskurses in der gegenwärtigen Kultursoziologie s. etwa Klaus Lichtblau: Von der „Gesellschaft“ zur „Vergesellschaftung“. Zur deutschen Tradition des Gesellschaftsbegriffs, in: Bettina Heintz u. a. (Hrsg.): Weltgesellschaft. Theoretische Zugänge und empirische Problemlagen, Stuttgart 2005 (Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft), S. 68–88. Gans: Der Salon der Madame Recamier (wie Anm. 49), S. 149.
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schaft und der entstehenden fabrikindustriellen Klassen-Gesellschaft, die sich seit den 1830er Jahren auftat, war jedoch nicht mehr zu schließen und den „gebildeten Ständen“ wurde durch das Aufkommen des Vierten Standes, den „Proletairs“, zunehmend der Boden entzogen. Den politischen Integrationsschwund der neuständischen Verfassungen hatte Karl Varnhagen im Jahre 1836 mit der Diagnose beschrieben, daß nunmehr die „frühere liberalkonstitutionelle Zeit geschlossen“65 sei. Ähnliches gilt auch für den Salon als Ort neuständischer kultureller Vergesellschaftung. Gans’ einschlägige Schriften hierzu sind Reflexionen im Moment seines historischen Verblassens.
65 Karl August Varnhagen von Ense: Brief an Karl von Rotteck v. 7. 5. 1836, in: Hermann Rotteck (Hrsg.): Karl von Rotteck. Gesammelte und nachgelassene Schriften, Bd. 5, Pforzheim 1843, S. 149.
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Bettina von Arnim: Romantik und Revolution
„Wär ich auf dem Thron, so wollt ich die Welt mit lachendem Mund umwälzen.“ Bettina von Arnim: Die Günderode „[J]eder Buchstabe Ihrer Bücher gehört mir“, schreibt die Gattin des preußischen Generals Willisen an Bettina von Arnim, „und ich schließe mich je länger je inniger an. Ich rede da von [.. .] der Günderode – das Spätere ist nicht so ganz Sie selbst, sondern durch Nebenzwecke und Veranlassungen gefärbt. Man sagt, Sie seien Communistin“.1 Man schreibt das Jahr 1848. Die These freilich, dass sich zwischen mehr und weniger ‚bettinischen’ Büchern unterscheiden lasse, und mithin zwischen – geglückter – romantischer Poesie auf der einen Seite (Goethes Briefwechsel mit einem Kinde, Die Günderode, Clemens Brentanos Frühlingskranz) und – verunglückter – politischer Literatur auf der anderen (Königsbuch, Ilius Pamphilius und Gespräche mit Dämonen), wurde lange und hartnäckig gepflegt. Nach ihrem Tod haben sowohl die Familie als auch die Literaturkritik – und beide vereinigt im Schwiegersohn Herman Grimm – ihr Bestes getan, um Bettina als essentiell unpolitische und von einer Art Herzensromantik geleitete Autorin darzustellen. Dieses Bild hat sich erst sehr langsam abgebaut, und, wie Ulrike Landfester feststellt, über den Umweg erneuter bzw. wieder aufgewärmter Missverständnisse.2 Eines davon ist das vom aus den Fugen geratenen, chaotischen, ästhetisch minderwertigen Schreiben in den späten Jahren. So spricht selbst Ingeborg Drewitz in ihrer seinerzeit bahnbrechenden und immer noch großartigen Bettina-Biographie davon, dass Bettina zwar versucht habe, ihre der Romantik verpflichtete Herkunft und Bildung mit der politischen Realität des Vormärz zu verbinden, dass diese Vereinigung aber
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Karl-Heinz Hahn: Bettina von Arnim in ihrem Verhältnis zu Staat und Politik. Mit einem Anhang ungedruckter Briefe, Weimar 1959, S. 9. Vgl. Ulrike Landfester: Selbstsorge als Staatskunst. Bettine von Arnims politisches Werk, Würzburg 2000.
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nicht gelungen sei. Es sei Bettinas Dilemma gewesen, so Drewitz, dass sie zwischen die Zeiten geraten sei.3 Ich möchte nun hier fast die entgegengesetzte These vertreten: nicht Dilemma, sondern Chance. Nicht nur, so scheint mir, ist die Unterscheidung zwischen frühen und späten, mehr und weniger bettinischen, mehr und weniger geglückten Texten gegenstandslos, sondern es lässt sich zeigen, wie intensiv die Texte miteinander verbunden sind bzw. wie notwendig sie auseinander hervorgehen. Ich beschränke mich dabei hier auf wenige, um 1848 herum publizierte literarische Texte. Die von Frau von Willisen besonders geschätzte Günderode ist 1840 erschienen und wie bereits das vorangegangene Buch Goethes Briefwechsel mit einem Kinde (1835) als literarische Extrapolation eines tatsächlichen Briefwechsels entstanden: diesmal zwischen der jungen Bettina Brentano und der Dichterin Karoline von Günderode, datiert auf die Jahre 1804 bis 1806. Es ist Darstellung einer Frauenfreundschaft und Doppelbiographie in einem, weithin verstanden als Bettinas späte Überwindung des Schocks ob Günderodes Selbstmord 1806. Es ist die erste große Bekanntmachung der nach ihrem Tod rasch vergessenen romantischen Dichterin Karoline von Günderode und zugleich Darlegung von Bettina von Arnims ganz eigener romantischer Ästhetik und Lebensphilosophie. Aber bereits dieses Buch enthält eine politische Widmung, „[d]en Studenten“ nämlich, den „Irrenden, Suchenden“,4 wie sie sie nennt, und zwar denen, die die mittlerweile nicht mehr so junge Frau von Arnim in ihrem Berliner Salon besuchen und deren Diskussionen getragen sind vom Willen zur Veränderung der preußischen Gesellschaft.5 Im Schlussbrief des Buches tauchen nicht von ungefähr wieder Studenten auf. Denn mit den Rosen, die dort an sie verteilt werden sollen, wird ihnen zugleich der Geist des (‚alten’) Briefwechsels als Inspiration und Denkansatz mitgegeben für die aktuelle Kritik der sie umgebenden gesellschaftlichen Zustände. Insofern war auch dieses Buch nicht ganz frei von „Nebenzwecke[n] und Veranlassungen“, wie Frau von Willisen sagt, und lassen sich Sätze wie: „Und [...] ich mein immer, ich müsse die ganze Welt umwenden“,6 eminent politisch lesen. Die in der Rahmung des Günderode-Buches steckende Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, hier zwischen 1806 und 1840, mithin der Versuch, aus dem Zeitenvergleich Zukunft zu konstruieren, begegnet uns fast immer in Bettinas Werk. Es sei dies hier etwas ausführlicher am Beispiel der direkt auf die Günderode folgenden und umstrittensten Publikation Bettinas gezeigt: Dies Buch gehört dem König von 1843. Spätestens seit 1840 war Bettina von Arnim nicht mehr nur berühmte Autorin, sondern eine der wichtigen Figuren des öffentlichen Lebens in Berlin. Ihr Salon wurde bereits erwähnt, der übrigens politisch ‚aufmüpfiger’ war als der im selben Haus situierte Salon der älteren Töchter und der ab 1842 aktiv bespitzelt wurde. (Anlass dafür waren Bruno Bauers 3 4 5 6
Vgl. Ingeborg Drewitz: Bettine von Arnim. Romantik, Revolution, Utopie, Düsseldorf, Köln 1969. Bettina von Arnim: Die Günderode. Werke 2, Berlin 1989, S. 7. Wie wir wissen, haben sie ihr diese Widmung mit einem eigens für sie veranstalteten Fackelzug gedankt. Arnim: Günderode (wie Anm. 4), S. 60.
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Besuche, auf die später zurückzukommen sein wird.) Mit vielen anderen teilte Bettina zunächst den Glauben an den liberalen Geist und Reformwillen des neu gekrönten Friedrich Wilhelm IV. und hatte anfangs auch allen Grund dazu. Immerhin hatten ihre Bemühungen bei ihm, Jacob und Wilhelm Grimm nach deren Entlassung aus Göttingen nach Berlin zu holen, Erfolg. Bald nach seiner Inthronisierung berief er die beiden an die Berliner Universität. Auch hatte sie bereits einigen Einfluss auf die Ausrichtung seiner öffentlichen Krönungsfeier genommen, wobei es ihr darum gegangen war, ein „thurmartiges Gerüst, auf welchem die 40 Ahnen des Königlichen Hauses [...] transparent gemalt werden sollten“,7 zu verhindern. Erneuerung und Zukunft wollte sie im Krönungszug symbolisiert sehen, nicht autoritäre Tradition. Bereits in diesen beiden Initialakten sind die Grundfesten erkennbar, die ihr politisches und literarisches Vorgehen in den 1840er Jahren bestimmen: das ist in erster Linie der Glaube an die Möglichkeit der Liberalisierung der Monarchie und an das, was sie ‚Volkskönigstum‘ nennt. Damit verbunden ist der Glaube an die Wirksamkeit von Herrschererziehung und an die eigene Berufung, daran teilzunehmen. Mit diesem Glauben, so Rüdiger Görner, bewegte sie sich „in der Tradition der Fürstenspiegel und Bildungsschriften für (werdende) Herrscher, wobei ihr Beitrag der wohl letzte und komplexeste seiner Art gewesen sein dürfte“.8 Trotz zunehmender Desillusionierung über die Reformbereitschaft Friedrich Wilhelms IV., etwa durch das ergebnislose Warten auf die Verfassung oder seine Ignoranz gegenüber Verarmungserscheinungen in der Bevölkerung, verstand sie sich als Sprecherin des Volkes, dessen Stimme, so meinte sie, erst noch zu ihm durchdringen müsse, da sie durch seine Minister mit Macht von ihm ferngehalten werde. Wenn die Verbindung zwischen (Stimme des) Volk(es) und (Ohr des) König(s) gelänge, so hoffte sie, würde er doch noch die richtigen Entscheidungen fällen. Dies ist bereits in der Anlage ihres Königsbuchs offenbar. Schon 1841, als sich erste deutliche Zweifel in die Hoffnungen auf seine Reformbereitschaft gemischt hatten, erbittet sie in einem Brief an Friedrich Wilhelm IV. das Recht, ihm ihr nächstes Buch widmen zu dürfen – ohne ihn freilich wissen zu lassen, worum es darin gehen sollte. Er hat trotzdem zugestimmt und, so berichtet Bettina, gemeint, „[e]s werde ihn freuen, aber ich sollte meiner Phantasie nicht die Zügel schießen lassen, sonst werde er öffentlich gegen mich zu Felde ziehen“.9 Mit dieser wie auch immer eingeschränkten Genehmigung war bereits vorweg ein Problem angepackt, nämlich das der drohenden Zensur. Auch hoffte sich Bettina damit seine Lektüre gesichert zu haben. Das Buch gliedert sich in drei Teile: 1. Der Erinnerung abgelauschte Gespräche und Erzählungen von 1807 und 2. die Socratie der Frau Rath (Goethe) sowie die Erfahrungen eines 7 8
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Siehe Konstanze Bäumer, Hartwig Schultz: Bettina von Arnim, Stuttgart 1995 (= Sammlung Metzler, Realien zur Literatur), S. 86. Rüdiger Görner: Dämonenpolitik. Ein Nachwort für Erich Kleinschmidt, in: Bettine von Arnim: Gespräche mit Dämonen. Hrsg. u. kommentiert v. Rüdiger Görner, Berlin 2010, S. 241–261, hier S. 242. Zitiert bei Bäumer, Schultz: Bettina von Arnim (wie Anm. 7), S. 95.
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jungen Schweizers im Vogtlande (Als Beilage zur Socratie der Frau Rath).10 Allem vorangesetzt ist eine Parabel über die Notwendigkeit, die Früchte vom Baum der Erkenntnis nicht verkommen zu lassen. Ausgangssituation für den ersten Teil des Buches ist eine tatsächliche – und in einem tatsächlichen Brief festgehaltene11 – Begebenheit aus dem Jahre 1803, nämlich die an Goethes Mutter ergangene Einladung, das sich in einem Bade unweit von Frankfurt aufhaltende preußische Königpaar (Friedrich Wilhelm und Luise) dort zu besuchen. Zu Beginn der Gespräche und Erzählungen nun teilt die „Frau Rath“ Goethe weise-geschwätzig und im schönsten Frankfurter Dialekt eben diese Begegnung mit. Allmählich erst eröffnet sich uns die Erzählsituation, der gemäß sich unter den Zuhörern die ihr zu Füßen sitzende junge Bettine befindet. Der biographische Hintergrund dieser Erzählsituation, nämlich die Freundschaft zwischen der alten und der jungen Frau, ist den Lesern bereits durch Bettinas Erstling Goethes Briefwechsel mit einem Kinde vertraut. Die in die Erzählung des Vergangenen (1803) eingewobenen Beobachtungen und Kommentare der Frau Rath, so sehr sie auch darin verankert sind, klingen auffällig auch nach der Gegenwart von 1843 und mithin der Regentschaft des Sohnes jenes Königspaars, Friedrich Wilhelms IV. Wenn sie sich beispielsweise in langen Tiraden gegen die Dummheit und Arroganz der anwesenden Hofchargen ergeht, dann meint das genau jene ‚Kammerilla‘, gegen die Bettina unablässig ankämpft (da jene, wie bereits ausgeführt, die Stimme des Volkes nicht ans Ohr des Königs lässt). An anderer Stelle erklärt die Frau Rat: Und ein Landesherr stirbt, und es kommt ein anderer, und der fragt, wie hats mein Papa gemacht, und der hats wie der Großpapa gemacht, und der wie der Urgroßpapa, und wann stößt man da endlich auf einen, ders aus eignem Gutdünken gemacht hat, und ein solcher war allemal ein großer Mann!12 Deutlicher kann der Vorwurf an Friedrich Wilhelm IV. ob der verpassten Chance zur Erneuerung des preußischen Staatswesens kaum ausgesprochen werden! In der Tat scheinen das Alter der Frau Rat, ihre betonte Geschwätzigkeit, ihr etwas loses Mundwerk und ihre Neigung, „vom Hundertsten ins Tausendste [zu] kommen“,13 dazu zu dienen, eine ganze Liste hochaktueller und von der preußischen Zensur niedergehaltener Querelen anzubringen. In verschiedensten narrativen Gewändern – Traum, Märchen, Prophetie, Bibelauslegung etc. – werden sukzessive neben den bereits benannten Punkten die Frage der preußischen Annexionspolitik, die Judenfrage, die Armenfrage, das Strafrecht, der Einfluss der Kirche im Staat und anderes mehr angesprochen. Und immer wieder wird über die Möglichkeit eines idealen Verhältnisses zwischen Fürst und Volk reflektiert, und immer wieder 10
Bettine von Arnim: Dies Buch gehört dem König. Hrsg. v. Wolfgang Bunzel, München 2008. Die Ortsbezeichnung „Vogtland“ meint die vor dem Hamburger Tor in Berlin gelegene Armengegend. 11 Vgl. Waldemar Oehlke: Einführung zum Königsbuch, in: Bettina von Arnim: Sämtliche Werke. Bd. 6, Berlin 1920, S. 12. 12 Arnim: Königsbuch (wie Anm. 11), S. 50. 13 Ebd., S. 83.
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wird implizit der König aufgefordert, sich doch noch als der zu erweisen, der er als Kronprinz zu werden versprach: ein Reformer auf dem Thron. In gewisser Weise suggeriert die Anlage der Erzählung, dass auch er selbst – zeitverschoben – zu den die Frau Rath umgebenden Zuhörern gehört. Dass es in der Tat nicht ganz ungefährlich war, all diese Themen so anzusprechen, wird auch im Fortgang der eigentlichen Handlung reflektiert. Bei ihrer abendlichen Rückkunft von der Begegnung erfährt die Frau Rath, dass ihre Verwandten und Bekannten in Frankfurt gebangt hatten, sie sei von den Preußen „arretiert“ worden.14 Eine Frau Rat Goethe aber hält man freilich nicht fest; und ebenso wenig ein exzentrisches Kind. Es kommt also nicht von ungefähr, dass es sich hier, wie mehrfach argumentiert wurde, um eine Art Stimmenüberblendung zwischen Goethes Mutter aus den Jahren der Freundschaft mit der jungen Bettina Brentano und der nunmehr gealterten Bettina von Arnim handelt.15 Oder anders: Bettina gleitet hier bewusst zwischen der in den bisherigen Büchern eingenommenen Rolle des exzentrischen Kindes und der Rolle der gealterten Prophetin hin und her. Wie zur Bestätigung dessen erfahren wir beim Weiterlesen, dass die Figur der jungen Bettine im Buch sowohl die Erzählung der Frau Rath als auch die darauf folgenden Gespräche komplett aus der Erinnerung aufgeschrieben habe. „Nun“, sagt die Frau Rath dazu, „du wirst mir manchen Placken da hineingeflickt haben, der nicht von meinem Zeug ist. – Der Sokrates hat sich das auch müssen vom Plato gefallen lassen“.16 Und am Ende des zweiten Teils des Buches findet sich zu allem Überfluss noch folgende Notiz: „Hier kann der Herr Klein seinen Korrekturzepter niederlegen, denn jetzt schreib ich gleich die Dedikation an den König, wo er mir nichts dran ausstreichen darf. – Geschrieben am 23. Mai 1843“.17 Dieses – auch politische – Prinzip der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen im Buch, mithin die vielfache Überblendung erzählter und referenzieller Zeiten strahlt gewissermaßen über sich selbst hinaus und wird begleitet von anderen, ebenso auffälligen Überblendungen und Überlagerungen. So wurde die Vielfalt der literarischen Subgattungen innerhalb der Erzählung der Frau Rat bereits angetippt. Die verstärkt sich noch bei einem Blick auf den Rest des Buches. Den ersten Teil des Buches beenden zwei in Dialogform aufgeschriebene Dispute der Frau Rath, und diese Form setzt sich im zweiten Teil, der so genannten Socratie der Frau Rath fort. Eingewoben in ihre Gesprächsanteile sind wiederum verschiedene Genres. Der dritte Teil nun, die Erfahrungen eines jungen Schweizers im Vogtlande, werden von einem kurzen Prosatext eingeleitet, der seltsam zwischen Märchenton, sozialkritischem Zeitungsbericht und Beschwörungsformeln changiert: Der Vater webet zu Bett und Hemden und Hosen und Jacke das Zeug und wirkt Strümpfe, doch hat er selber kein Hemd. Barfuß geht er und in Lumpen gehüllt! Die Kinder gehen nackt, sie wärmen sich einer am andern auf dem Lager von Stroh und zit14 Ebd., S. 134. 15 Vgl. dazu Bäumer, Schultz: Bettina von Arnim (wie Anm. 7), S. 102. 16 Arnim: Königsbuch (wie Anm. 11), S. 257. 17 Ebd., S. 452.
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tern vor Frost. Die Mutter weift Spulen vom frühesten Tag zur sinkenden Nacht. Öl und Docht verzehret ihr Fleiß und erwirbt nicht so viel, daß sie die Kinder kann sättigen. [. ..] Kreuzweis’ wird durch die Stube ein Seil gespannt, in jeder Ecke haust eine Familie, wo die Seile sich kreuzen steht ein Bett für den noch Ärmeren, den sie gemeinschaftlich pflegen.18 Die nach diesem Text folgenden, zunächst noch sehr lebhaften Beschreibungen der Begegnungen des jungen Schweizers mit den Armen werden immer knapper und enden als fast stichpunktartige Auflistung von Armenschicksalen. Wir wissen, dass letztere Liste nicht von Bettina selbst, sondern von einem durch sie beauftragten, tatsächlich Schweizer Studenten verfasst wurde. Aber auch dieses Ende ist nicht so abrupt oder unzusammenhängend mit dem Rest des Buches, wie oft behauptet wird. Denn lange vorher schon hatte die Frau Rath gesagt, „eine Ungerechtigkeit im Feenmärchen erzürnt mich ebenso, als wenn sie für gewiß in der Zeitung ständ“.19 Und nach eben diesem Prinzip wird hier gearbeitet. Das danach begonnene und nie publizierte Armenbuchprojekt besteht aus genau solchen, auf Bettinas öffentliche Anfrage hin von verschiedenen Korrespondenten zugesandten Listen. Jedoch nicht ausschließlich: Werner Vordtriede hat das Material aufgearbeitet und gezeigt, dass sich u.a. auch ein großer Prosatext, der vermutlich als Nachwort dienen sollte, und die Mitschrift einer so genannten Bettinischen Bergpredigt darin befinden. Vordtriede stellt überzeugend dar, inwiefern diese als Vorarbeiten zum 1852 veröffentlichten zweiten Band des Königsbuches, den Gesprächen mit Dämonen angesehen werden können.20 Alle hier für das Königsbuch aufgeführten literarischen Techniken sind darin wieder zu finden, verbunden wie immer über die Form des literarischen Gesprächs. Wie Ingeborg Drewitz zeigt, erhöht sich die Anzahl der Gesprächsteilnehmer in Bettina von Arnims Büchern nachhaltig: vom reinen Dialog in Goethes Briefwechsel mit einem Kinde und der Günderode, aber auch im Frühlingskranz und im Ilius Pamphilius, zum Polylog im Königsbuch und den Gesprächen mit Dämonen.21 Im Dämonenbuch wird dann selbst der preußische Zensor explizit mit ins Gespräch einbezogen, indem sich darin acht lange Absätze mit Leerzeichen befinden, die als „Lücke[n] eigener Zensur“ bereits stattgefundene Selbstzensur anzeigen sollen.22 Und so, wie sich in Bettinas Büchern die Anzahl der literarischen Gesprächspartner, die Anzahl der literarischen Genres und der ineinander geschobenen Zeit- und Realitätsebenen erhöht, so wird in der Öffentlichkeit ihre Doppelinszenierung als politische Person und literarische Figur immer schillernder. (Die wechselnde Namensnutzung Bettina – Bettine in ihren Büchern, Briefen und anderen Verlautbarungen wäre wohl eine eigene Untersuchung wert.) Zu Recht werden ihre Selbstinszenierungen von der Forschung mittlerweile als Be18 19 20 21 22
Ebd., S. 453. Ebd., S. 144. Werner Vordtriede (Hrsg): Bettina von Arnims Armenbuch, Frankfurt/M. 1969. Vgl. Drewitz: Bettine von Arnim (wie Anm. 3), S. 195–197. Vgl. Arnim: Dämonen (wie Anm. 8), S. 57, 61, 69, 93, 98, 113, 153, 154.
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standteil ihrer politischen Strategien angesehen.23 Die Inszenierung als exzentrisches Kind, oft mit Goethes Mignonfigur in Verbindung gebracht, hatte ihr zunächst sowohl in sozialer als auch in literarischer Hinsicht einiges an Freiheit ermöglicht. Die Anrede ihrer literarischen und realen Korrespondenzpartner mit ‚Du‘ beispielsweise muss nicht notwendig kindliches Gebaren implizieren, sondern enthält auch einen Anspruch auf Gleichwertigkeit – oder, wenn man so will, das eine unter der Maske des anderen. (Das ist besonders im Goethebuch von Bedeutung, aber auch in den Briefen Bettinas an Friedrich Wilhelm IV.) Zunehmend drohte sich solche Freiheit jedoch als Narrenfreiheit zu entpuppen. „Frau von Arnim repräsentiert für die höheren Kreise in Berlin die Opposition, das Genie ist an die Stelle des Hofnarren getreten“, zitiert Drewitz eine zeitgenössische Stimme.24 Friedrich Wilhelms Antwort auf die Widmungsanfrage, sie möge ihrer „Phantasie nicht die Zügel schießen lassen“, deutet genau auf diese Ambivalenz von Freiheit und Narrenfreiheit hin. Und in seinem Antwortbrief auf das von ihm übrigens zunächst nur angeblätterte Buch lässt er Ähnliches durchscheinen. Dort heißt es: Meine liebe, gnädige RebenGeländerEntsprossene, SonnenstrahlenGetaufte Gebieterin von Bärwalde [...] da ich Ihnen schreibe u. nicht mit Ihnen rede so mach’ ich’s kurz. Ich habe Ihr Buch empfangen. – Ich danke Ihnen für Ihr Buch. – Ich fühle mich durch Ihr Buch geehrt; warum? das kann ich Ihnen nicht recht begreiflich machen weil ich schreibe und nicht spreche u. weil Ihr Gemüth zu kindlich u. Ihre Feder zu stolz ist.25 Diese Zuschreibung vom kindlichen Gemüt und der stolzen Feder hat sie lange verfolgt. Und auch in der Forschung hat sich das daraus resultierende wohlwollende NichtErnstnehmen lange gehalten. Übrigens scheint der König das Buch später doch noch gelesen und sich in Hofkreisen erwartungsgemäß verdammend dazu geäußert zu haben. Öffentlich ist er jedoch nicht gegen sie ‚zu Felde‘ gezogen. Eben dieser herabwürdigenden Verniedlichung scheinen die im Königsbuch stattfindende Rollenverdoppelung und -verschiebung vom „romantischen Schoßkind Goethes in seine Mutter, eine alte weise Frau“26 entgegen wirken zu sollen. Wir finden diese bewusste Janusköpfigkeit mithin in allen nachfolgenden Büchern vor. Bäumer und Schultz zeigen, dass Bettina sich mit beiden Identifikationsbildern, der Mignon und der Sybille, dem göttlichen Kind und der weissagenden Erdmutter, lebenslang beschäftigt hat.27 In der Einleitungsgeschichte der Gespräche mit Dämonen wird darüber hinaus die Entwicklung vom Kind über die Weise hin zum vernünftigen Dämon angedeutet. 23 24 25 26 27
Vgl. Landfester: Selbstsorge als Staatskunst (wie Anm. 2), S. 35. Drewitz: Bettine von Arnim (wie Anm. 3), S. 198. Bäumer, Schultz: Bettina von Arnim (wie Anm. 7), S. 97. Ebd., S. 102. Ebd., S. 102.
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Alle hier aufgeführten ästhetischen Strategien Bettina von Arnims, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in mehreren Facetten, das schillernde Spektrum literarischer Textsorten, die schillernden Selbstinszenierungen usw., sind durchaus aus frühromantischen Ästhetikkonzepten gespeist und als deren Weiterentwicklung verstehbar. Gisela Dischner meint sogar, dass Bettina „das Programm der Frühromantik in gewisser Weise radikaler realisiert hat als die Programmatiker selbst“.28 Ihre Bücher seien ein hervorragendes Beispiel für die literarische Methode des Romantisierens. Indem sie das aber tut, ergänzt Ulrike Landfester, strebt Bettina in ihren Zeitumständen nach einer „Vernetzung sämtlicher Möglichkeiten gesellschaftlicher Kommunikation“.29 Die Rezeption des Königsbuches über den Hauptadressaten hinaus ist dementsprechend aufgeladen. Johann Jacoby schrieb: „Dem Volke hätte sie das Buch widmen müssen, dem König gehört es nicht. [...] Er würde die Verfasserin verfolgen, wenn er die Bedeutsamkeit und Gefährlichkeit des Buches für seine Zwecke zu ahnen im Stande wäre.“30 Die Zensur war sich der potentiellen Explosionskraft des Buches durchaus bewusst, konnte aber nicht direkt dagegen einschreiten, da es ja vom König selbst genehmigt worden war. Ein Trost bestand freilich darin, dass es dick und also teuer war, und, so der Zensor, „in unverständlicher, poetischer, visionärer Sprache geschrieben“.31 Die Zeitungsrezensenten wie auch die betroffenen Politiker haben jene Sprache allerdings verstanden. Der preußische Innenminister Adolf Graf von Arnim-Boitzenburg schlussfolgerte beispielsweise, dass das Buch den Schlesischen Weberaufstand wenn nicht ausgelöst, so doch befördert habe. Seine Autorin habe „die Leute gehetzt, ihnen Hoffnungen geweckt durch ihre Reden und Briefe […] schon durch ihr Königsbuch! – Auch stand schon in der Spenerschen Zeitung ein Artikel in diesem Sinne“.32 Das Armenbuch, dessen Publikation für den Sommer 1844 geplant war, konnte unter diesen Umständen nicht erscheinen. Alexander von Humboldt hatte ihr dringend davon abgeraten, denn Zensur und Strafrecht wären unweigerlich in Aktion getreten. Bereits Adolf Stahrs Versuch, das Königsbuch in einer schmalen Broschüre von 56 Seiten noch breitenwirksamer zu machen, war vereitelt worden. Die Schrift wurde beschlagnahmt und verboten. Im selben Jahr erschien ein Heft mit dem Titel: Ruchlosigkeit der Schrift: Dies Buch gehört dem König. Ein untertäniger Fingerzeig, gewagt von Leberecht Fromm.33 Es ist dies eine Camouflage, die unter der Maske des empörten Kritikers eine intelligente Einführung in das Königsbuch gibt. Besondere Beachtung verdient zudem der letzte Satz: „So steht der Teufel denn entlarvt vor uns in seiner ganzen Scheußlichkeit, und der Name dieses finster 28 Gisela Dischner: Bettina von Arnim. Eine Biographie aus dem 19. Jahrhundert, Berlin 1977, S. 42. 29 Landfester: Selbstsorge als Staatskunst (wie Anm. 2), S. 58. 30 Gertrud Meyer-Hepner: Der Magistratsprozess der Bettina von Arnim, Weimar 1960, S. 4. (MeyerHepner zitiert aus Heinrich Hubert Houben: Verbotene Literatur von der klassischen Zeit bis zur Gegenwart. Ein kritisch-historisches Lexikon über verbotene Bücher, Zeitschriften und Theaterstücke, Schriftsteller und Verleger, Bremen 1924.) 31 Meyer-Hepner: Magistratsprozess (wie Anm. 30), S. 4. 32 Drewitz: Bettine von Arnim (wie Anm. 3), S. 203. 33 Es handelt sich hierbei um ein Pseudonym; der eigentliche Autor war vermutlich Wilhelm Marr.
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drohenden Gespenstes ist: Kommunismus!“34 Das vier Jahre später erschienene Manifest der kommunistischen Partei arbeitet bekanntlich in seinem Eröffnungssatz mit eben diesem Bild.35 Nun war der Kommunismus vor Marxens Definition freilich tatsächlich ein Gespenst, das sich jedem einigermaßen liberal Gesonnenen anhängen ließ. So ist es nicht verwunderlich, dass nicht nur Bettinas Literatur, sondern auch ihre anderen Tätigkeiten, und vor allem ihr Berliner Salon als kommunistisch oder auch sozialistisch galten und, wie bereits erwähnt, aufs heftigste bespitzelt wurden.36 Die Gespräche mit Dämonen. Des Königsbuches zweiter Teil galten zur Erscheinungszeit nicht nur als das schwächere der beiden Königsbücher, sondern auch als politisch überholt und wirkungslos. Nach den 1848er Ereignissen erschien der erneute Versuch, vernünftig auf den preußischen König einzuwirken, ja Monarchie und Revolution miteinander verbinden zu wollen, hoffnungslos veraltet. Auch konnte man mit der Form des Buches überhaupt nichts anfangen, so dass Varnhagen von Enses Verdikt, „schöne Gedankenblitze, aber leider kein Gedankengang“,37 noch zu den freundlicheren gehörte. 1919 aber ist es in rotem Einband und mit dem Untertitel Aufruf zur Revolution und zum Völkerbunde erneut erschienen. Und in der Tat ging es ihr in diesem Buch längst nicht nur um Preußen, und die darin versammelten Stimmen könnten glatt ein Europaparlament bevölkern. Somit war es, wenn überhaupt (und mal wieder), seiner Zeit hinterher und voraus zugleich. Denn so geschichtsfern, wie oft behauptet wird, sind Bettinas Arbeiten nicht. Die Tatsache etwa, dass ihre Darstellung der Verarmung breiter Bevölkerungsteile ohne die Erwähnung von technischer Revolution und wirtschaftlicher Entwicklung auskommt, bedeutet nicht, dass sie davon nichts weiß oder wissen will. (Ursula Püschel hat das vor einigen Jahren ausführlich bewiesen.) Stattdessen ist es von Bedeutung, dass im selben Buch, an dessen Ende die Armen vor den Toren Berlins auftauchen, eine Frau Rath Goethe von der Geschichte der Stadt Frankfurt erzählt hat und davon, wie die Stadt in der Vergangenheit mit sozialen Umbrüchen fertig geworden ist. Oder ebenso, dass bei der Nacherzählung einer biblischen Szene vom ‚Webstuhl der Geschichte’ die Rede ist. Wie gezeigt, geht es ihr darum, Zeitebenen und Denkweisen, Politik und Ästhetik gegeneinander transparent zu machen und aus dem Vergleich Zukunft zu entwickeln. Ihre „unzeitgemäßen Betrachtungen“ sind demnach, so Rüdiger Görner, zugleich von „eigenartiger Brisanz“.38 Wenn Ulrike Landfester mit Blick auf Bettina von Arnims Wirkung feststellt, dass „ihre ästhetischen Strategien [...] vom Gefüge des [...] literarischen ebenso wie von den Gepflogenheiten des politischen Diskurses ihrer Zeit abstechen“,39 dann ist dem unbedingt zuzu34 Meyer-Hepner: Magistratsprozess (Anm. 30), S. 5. 35 „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus.“ 36 Bruno Bauer und seine Brüder waren Gäste im Salon. Bauer hat sie vermutlich mit Marx bekannt gemacht, den sie 1842 auf einer Reise in Bad Kreuznach traf. Marxistisches bzw. protomarxistisches Denken war jedoch nicht ihres. 37 Bäumer, Schultz: Bettina von Arnim (wie Anm. 7), S. 128. 38 Görner: Dämonenpolitik (wie Anm. 8), S. 246. 39 Landfester: Selbstsorge als Staatskunst (wie Anm. 2), S. 35.
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stimmen. Ihr Gesamtwerk konstituiert sich mithin als „permanente Grenzüberschreitung“,40 nicht nur zwischen Romantik und Revolution. Genau das ist es, was es heute noch schwer macht sie zu fassen und einzuordnen. Und das ist es auch, was ihre andauernde Faszination erzeugt und sie immer zur Identifikationsfigur werden lässt: Dieser Abend, Bettina, es ist Alles beim Alten. Immer Sind wir allein, wenn wir den Königen schreiben Denen des Herzens und jenen Des Staats. Und doch Erschrickt unser Herz Wenn auf der anderen Seite des Hauses Ein Wagen zu hören ist.41
40 Ebd., S. 35. 41 Sarah Kirsch: Wiepersdorf (9), in: dies.: Rückenwind. Gedichte. Berlin 1976.
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Die unmusikalische Revolution. Berlin, 1848/49
Während in siegreichen Revolutionen meist eine Fülle neuer musikalischer Werke entstanden, in denen entweder die Jubeltöne über die vollbrachten Heldentaten oder die Klagen über die dabei geopferten Menschenleben vorherrschten, haben gescheiterte Revolutionen nur in Ausnahmefällen bedeutsame Kompositionen hinterlassen. Dafür spricht u.a. ein Vergleich der Französischen Revolution von 1789 mit den verschiedenen europäischen Revolutionen von 1848/49. In den ersten fünf Jahren der Neunundachtziger Revolution, als alles noch auf einen günstigen Ausgang der allgemeinen Volkserhebung hinzudeuten schien, gab es unter den 100 Komponisten, die damals in Paris lebten, wohl kaum einen, „der nicht unter anderem auch Lieder, Hymnen und Märsche für die Massen geschrieben hätte“, wie es bei Georg Knepler heißt.1 Demzufolge entstanden in diesen Jahren etwa 2.500 bis 3.000 neue Liedertexte, denen man – neben Neukompositionen – häufig die Melodien bekannter Volkslieder, religiöser Hymnen, Tanzweisen oder Opernmelodien unterlegte. Außerdem wurde eine dem ‚glücklichen Fortgang‘ der Revolution dienliche Musikschule gegründet und ein Staatsverlag für Musik eingerichtet, der in regelmäßig erscheinenden Heften die Noten zu revolutionären Liedern, Hymnen, Tänzen, Märschen, Ouvertüren und Symphonien veröffentlichte. Und so erklang bei den großen Feiern auf dem Pariser Marsfeld, den festlichen Umzügen und in der Assemblée nationale bald nur noch jene Musik, die zur Solidarisierung der Massen aufrief oder die hohen Ideen von ‚Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit‘ verkündete. Ja, sogar im Bereich der Oper herrschten plötzlich jene „fanfarenartigen Motive“, „Jubelstürme“ und „marschartigen Rhythmen“ vor, die auch in vielen Liedern und Hymnen dieser Jahre den Ton angaben.2 Kurzum: Überall ertönten mit einem Mal Klänge, die sich nicht mehr an die rituell festgelegten höfischen oder klerikalen Konventionen der voraufgegangenen Bourbonenzeit hielten, sondern in ihrer Aufführungspraxis und ihrer revolutionären Aufmüpfigkeit ganz neue Formen einer „musikalischen Öffentlichkeit“ schufen.3 1 2 3
Georg Knepler: Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts. Bd. 1, Berlin 1961, S. 210. Ebd., S. 208. Vgl. meinen Aufsatz: Allegro con fuoco. Der Widerhall der Französischen Revolution in der deutschen Musik, in: ders.: Beredte Töne. Musik im historischen Prozeß, Frankfurt/M. 1991, S. 31/32.
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Da in den gleichen Jahren im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation alles weiterhin im Zustand des gesellschaftlichen Status quo verharrte, fanden hingegen selbst jene Komponisten, die mit den Ideen der Französischen Revolution sympathisierten, kaum Gelegenheit, ihre Gesinnung auch in musikalischer Form auszudrücken. Schließlich gab es hier kein Marsfeld für große Aufmärsche, keinen Nationalkonvent, keinen Staatsverlag für Musik, ja nicht einmal Konzerthallen oder Opernhäuser, in denen sich eine Musik für die so genannten breiten Massen aufführen ließ. Was auf diesem Gebiet den geradezu allmächtigen Ausschlag gab, war ein dynastisches bzw. klerikales System, das alle musikalischen Aufführungsformen weiterhin fest im Griff hatte. Und so verschafften sich die von politischem Unmut ergriffenen Gefühle nur in jenen Gedichten einen musikalischen Ausdruck, denen man – wie in der Hamburger Liederlese für Republikaner von 1797 – nach französischem Vorbild bekannte Melodien unterlegte. Wer Ohren hatte zu hören, konnte solche revolutionären Anklänge auch in einigen Symphonien von Paul Wranitzky und Antonin Reicha vernehmen. Doch wirklich ins Aufrührerische stieß hier nur Ludwig van Beethoven mit seiner für eine Pariser Uraufführung konzipierten Eroica von 1804 vor, wo sowohl kämpferisch-jubelnde als auch klagende Töne angeschlagen wurden, in denen sich ein lange unterdrückter Groll gegen die herrschenden Unrechtsverhältnisse endlich Luft zu verschaffen suchte.4 Im Gegensatz dazu wirkt die musikalische Landschaft der Jahre 1848/49, als es in Paris und auch in mehreren deutschen Städten zu revolutionären Aufständen kam, geradezu ärmlich. Zugegeben, es entstanden auch in diesen Jahren eine Reihe aufrührerisch gestimmter Lieder und Märsche. Aber verglichen mit dem, was zwischen 1789 und 1794, ja noch bis 1804, in Paris und Wien an Kompositionen entstanden war, aus denen man die Parole ‚Liberté, Égalité, Fraternité‘ herauszuhören glaubt, wirkt alles um 1848/49 Komponierte geradezu unbedeutend. Dieser Musik liegt nicht jener große menschheitliche Elan, welcher sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Zuge der emanzipatorischen Tendenzen der bürgerlichen Aufklärung entwickelt hatte, sondern eher ein national- oder gar lokalbegrenzter Aufruhrgeist zugrunde, der sich von den herrschenden Oberschichten wesentlich schneller unterdrücken ließ als der vom Gefühl eines utopischen Neuanfangs der Menschheitsgeschichte ausgehende Geist der Französischen Revolution von 1789. Und so ist auch die Musik dieser Ära weitgehend zweit- oder gar drittrangig und hat selbst in vielen Geschichtsbüchern, die sich mit diesem Zeitraum befassen, kaum nennenswerte Spuren hinterlassen.
Vormärzliche Opernverhältnisse Doch greifen wir nicht voraus. Beginnen wir erst einmal mit der Frage: Welches Stadium hatte denn die musikalische Entwicklung in Deutschland und speziell in Berlin in den vier-
4
Vgl. ebd., S. 37-39.
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ziger Jahren des 19. Jahrhunderts erreicht?5 Im Bereich der institutionalisierten Musik, also im Opernbetrieb und im Konzertwesen, war Berlin damals – im Gegensatz zu später – noch kein Zentrum besonders bedeutsamer oder gar innovativer Tendenzen. Wer in diesem Bereich den entscheidenden Ausschlag gab, waren weitgehend der 1840 inthronisierte König Friedrich Wilhelm IV. und die von ihm eingesetzten höheren Verwaltungsbeauftragten. Da der neue König mit Gaspare Luigi Spontini, dem seit rund zwanzig Jahren amtierenden Generalintendanten der Oper, nicht besonders gut auskam, berief er 1842 den in Paris zu großen Ehren gekommenen ehemaligen Berliner Komponisten Giacomo Meyerbeer zum neuen Chef des Opernwesens, ja beredete ihn sogar, eine möglichst patriotische, d. h. preußisch-vaterländische Oper zu komponieren, mit der das am 18. August 1843 bis auf die Grundmauern niedergebrannte Königliche Opernhaus Unter den Linden wiedereröffnet werden sollte. Meyerbeer, der vorher mit seinen Opern Robert le diable (1831) und Les Huguenots (1836), nach Libretti von Eugène Scribe, zum Hauptstar der europäischen Opernszene aufgestiegen war, war von dieser Idee zwar nicht entzückt, fügte sich aber dann dem Auftrag seines „allerhöchsten Herrn und Gebieters“. Ja, im Oktober 1843 trug er lapidarisch in sein Tagebuch ein: „Oper – Dessauer Marsch, Müller Arnold – siebenjähriger Krieg, patriotische Flöte – nicht Friedrich persönlich“.6 Während die Berliner Liberalen, wie etwa Carl Friedrich Köppen, Franz Kugler und Adolph Menzel, mit ihrem progressionsbetonten Friedrich-Bild in den gleichen Jahren eher die Erweiterung ihrer bürgerlichen Rechte beim neuen König einzuklagen versuchten, sollte also in dieser Oper lediglich das preußisch-vaterländische Bild Friedrich ‚des Großen‘ untermauert werden. Doch Meyerbeer tat sein Bestes, diesem royalistischen Ansinnen etwas entgegenzusteuern. Er fuhr nach Paris, versprach Scribe eine horrende Summe Geld, falls er ihm das Textbuch dazu schreiben würde, dem er und Scribe den vorläufigen Titel Premier flutiste du roi, episode de la guerre de sept ans gaben. Und Scribe, der wahrlich kein Preußenfreund war, willigte aus pekuniären Gründen schließlich ein, bat jedoch den ihn bedrängenden Meyerbeer, ihm hoch und heilig zu versprechen, niemandem zu verraten, dass das Libretto dieser Oper von ihm stamme. Wieder nach Berlin zurückgekehrt, gewann Meyerbeer in Ludwig Rellstab, dem königstreuen Feuilletonredakteur der Vossischen privilegierten Berliner Zeitung, einen gewandten Übersetzer des von Scribe verfertigten Textbuchs der erwünschten hohenzollernfrommen Oper, die jetzt den Titel Ein Feldlager in Schlesien erhielt. In ‚altfritzischer‘ Gesinnung geht es in diesem Werk um eine anekdotische Episode aus dem Siebenjährigen Krieg, die Friedrich II. beinahe das Leben gekostet hätte. Auf der Flucht vor ungarischen Häschern verbirgt sich der am Kampfverlauf unmittelbar beteiligte König erst ungesehen als Einzelner unter einer Brücke, entkommt dann ebenso ungesehen in ein
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Vgl. u. a. Adolf Weissmann: Berlin als Musikstadt. Geschichte der Oper und des Konzerts von 1740 bis 1911, Berlin 1911; Oswald Schrenk: Berlin und die Musik. 200 Jahre Musikleben einer Stadt. 1740–1940, Berlin 1940; Horst Seeger, Ulrich Bökel: Musikstadt Berlin, Leipzig 1974; Ludwig Finscher: Berlin, in: Musik in Geschichte und Gegenwart. 2. Aufl. Bd. 1, Kassel 1994, Sp. 1434–1436. Zitiert in Bernd W. Wessling: Meyerbeer. Wagners Beute. Heines Geisel, Düsseldorf 1984, S. 215.
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Hauptmannshaus und entgeht schließlich, wiederum ungesehen, seinen Verfolgern als flötespielender böhmischer Musikant. Tatkräftige Hilfe erfährt er dabei von der bildschönen Hauptmannstochter Vielka, die sich als Zigeunerin verkleidet hat. Außerdem stehen in dieser Oper, wie immer bei Meyerbeer, große Massen- und Chorszenen im Vordergrund, bei denen „in leitmotivischer Andeutung der Dessauermarsch erklingt“ und die „Soldateska des prutzischen Lagers Mützen und Helme abnimmt“.7 Friedrich Wilhelm IV. gefiel das Ganze ausnehmend gut und Rellstab, der sich als der alleinige Librettist ausgab, erhielt für seine Bemühungen den Preußischen Adlerorden IV. Klasse. Für die Uraufführung am 7. September 1845 konnte zwar Meyerbeer für die Rolle der Vielka nicht Jenny Lind, die vielgefeierte ‚schwedische Nachtigall‘, gewinnen, sondern musste sich mit der Berliner Sängerin Leopoldine Tuczek zufriedengeben. Erst bei einigen Wiederholungen durfte Jenny Lind die Rolle der Vielka übernehmen und verhalf durch ihre strahlenden Koloraturen diesem unter königlichem Druck entstandenen Opus dann doch zu einem Achtungserfolg. Ja, alle königstreuen Zeitungen, allen voran die Vossische, brachten überschwänglich lobende Rezensionen dieses höchst problematischen Machwerks. Friedrich Wilhelm IV. brüstete sich sogar in der Folgezeit mehrfach damit, Meyerbeer und Rellstab die Idee des Ganzen suggeriert zu haben. Besonders gefallen hatte ihm jene Stelle, wo die preußischen Grenadiere, als sie von einer möglichen Gefangennahme Friedrich II. hören, in den zum Letzten entschlossenen Ruf ausbrechen: „Für unsern König unser Blut!“8 Und so endete die gesamte Feldlager-Affäre schließlich doch in weitgehender Zufriedenheit. Nur Meyerbeer selbst und die Berliner Liberalen waren verschnupft. Obwohl sich Meyerbeer breitschlagen ließ, für den königlichen Hof weitere Pflichtwerke, wie Fackeltänze und Festkantaten, zu komponieren, beschlich ihn schon nach ein bis zwei Jahren das ungute Gefühl, sich in Berlin auf allzu kleinliche Verhältnisse eingelassen zu haben, zumal er sich auch mit dem von Friedrich Wilhelm IV. im gleichen Jahr wie er selber ernannten Opernintendanten Karl Theodor von Küstner, der ein recht engherziger Bürokrat war, immer wieder ins Gehege kam. Daher zog es ihn nach der Uraufführung seines Feldlager in Schlesien wieder stärker nach Paris zurück, wo er mit seinem Robert le diable seinen ersten großen Erfolg erzielt hatte. Ja, ein noch größerer Erfolg war wenige Jahre später seinen Huguenots beschieden, die in Paris nach ihrer Uraufführung über 1.000 Mal über die Bühne gingen.9 Und so ersuchte Meyerbeer Friedrich Wilhelm IV. schon 1846 und dann noch einmal gegen Ende 1847, ihn aus seinen Verpflichtungen in Berlin zu entbinden, um sich in Paris wieder der Grand Opéra widmen zu können. Und der König gab diesem Gesuch schließlich widerwillig nach. So viel – andeutungsweise – zu den vormärzlichen Aufführungsbedingungen an der Berliner Staatsoper Unter den Linden. Für kurze Zeit war Meyerbeer ihr einziger Star. Nachdem er sich anfangs noch für Louis Spohrs Faust (1842) und Albert Lortzings Der 7 8 9
Ebd. S. 219. Ebd., S. 219/220. Ebd., S. 220.
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Wildschütz (1843) eingesetzt hatte, zog er sich aus der Dirigiertätigkeit mehr und mehr zurück. Was sonst in den vierziger Jahren in diesem Hause aufgeführt wurde, hat – wie Meyerbeers Feldlager in Schlesien – inzwischen eine dicke Staubschicht angesetzt. Etwas mehr Furore machten dagegen die seit 1824 im Königstädtischen Theater aufgeführten italienischen Buffoopern, bei denen Henriette Sontag bis 1850 mit ihrem hohen Sopran brillieren konnte. Hier ließen sich musikinteressierte Berliner und Berlinerinnen Werke von Gioacchino Rossini und Gaetano Donizetti gefallen, die weitgehend als ‚harmlos‘ galten und daher nicht mit den üblichen Zensurschwierigkeiten zu kämpfen hatten. Die in diesem Hause aufgeführten Opern trugen lediglich zur belustigenden Unterhaltung bei und erregten deshalb keine den Hof verstörenden ‚nationalen‘ Gefühle, die gegen die vaterländischpreußischen Interessen verstoßen hätten. Derartigen Emotionen, wie sie etwa 1821 anläßlich der Uraufführung von Carl Maria von Webers Der Freischütz im Schinkelschen Schauspielhaus auf dem Gendarmenmarkt entfacht worden waren,10 wollten die Berliner Hofkreise jetzt von vornherein einen Riegel vorschieben. Also blieb der Spielplan der Lindenoper in den vierziger Jahren relativ traditionell. Nicht einmal der junge Richard Wagner konnte hier Fuß fassen, obwohl ihn Meyerbeer dem Intendanten Küstner mehrfach empfahl. Küstner ließ zwar wegen der Dresdner Erfolge Wagners, die eine gewisse Neugier erweckt hatten, eine Aufführung des Fliegenden Holländer und dann sogar des Rienzi zu, sorgte aber – wie Ludwig Rellstab in der Vossischen Zeitung – dafür, dass beide Opern keinen großen Erfolg hatten.11 Eine ähnliche Geschmacksrichtung vertrat Carl Gottfried Wilhelm Taubert, den Friedrich Wilhelm IV., ebenfalls im Jahr 1842, und zwar als Opernkapellmeister und Konzertdirigenten, angestellt hatte. Auch der konservativ gesinnte Taubert suchte, wie Küstner, eine enge Verbindung zum preußischen Königshaus und war als Komponist, wie es später hieß, stets dort „am glücklichsten“, wenn er im Bereich des „Graziösen, Bürgerlich-Naiven und Volkstümlichen“, kurzum: Biedermeierlichen blieb, wofür vor allem seine zahlreichen Kinderlieder und salonhaften Klavierstücke sprechen.12 Was demzufolge in der Staatsoper bis 1848 über die Bühne ging, waren, wie gesagt, von wenigen Ausnahmen abgesehen, fast alles „Belanglosigkeiten“, wie Hugo Fetting später in seiner Geschichte der Berliner Staatsoper schrieb.13 Denn wer erinnert sich heute noch an jene Werke von August Schäffer, Friedrich Wilhelm Kücken, Carl Eckert oder Heinrich Esser, die in der Ära Küstners und Tauberts ihr Uraufführungen im Königlichen Opernhaus Unter den Linden erlebten? Was bei genauerer Beleuchtung als Gesamteindruck der vormärzlichen Opernära in Berlin in kritischen Augen haften bleibt, ist also ein recht farbloses Bild einer zwar regen Betriebsamkeit, aber zugleich restaurativen Unterdrückung aller gegen den Strich löckenden
10
Vgl. meinen Aufsatz: Carl Maria von Weber: „Der Freischütz“, in: Jost Hermand: Glanz und Elend der deutschen Oper, Köln 2008, S. 101–114. 11 Vgl. Weissmann: Berlin als Musikstadt (wie Anm. 5), S. 223/224 und 227. 12 Vgl. Musik in Geschichte und Gegenwart. Bd. 13, Kassel 1966, Sp. 148. 13 Hugo Fetting: Die Geschichte der deutschen Staatsoper, Berlin 1955, S. 155.
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Tendenzen. Allerdings bleibt dabei die Frage offen, ob solche aufmüpfigen Tendenzen im Bereich des Opernwesens, wo alles weitgehend den Verfügungen des jeweils herrschenden Dynasten zu folgen hatte, in diesem Zeitraum überhaupt möglich gewesen wären? Zugegeben, wie immer gab es auch hier Sonderfälle, die sich nicht nahtlos in die vorgegebenen Aufführungsbedingungen integrieren ließen. Und zu diesen gehörte nicht nur Richard Wagner, sondern auch ein weniger anspruchsvoller, aber ebenso liberaler Opernkomponist wie Albert Lortzing, der zwar eher ins Volkstümliche, wenn auch nicht ‚Tümliche‘ tendierte, aber in seinen Opern der mittleren vierziger Jahre, als er in Leipzig als Kapellmeister angestellt war, unter dem Einfluss der dortigen Tunnelgesellschaft und seines Freundes Robert Blum durchaus gegen den Strich aufmuckende Gesinnungen unterstützte.14 Und das führte schließlich dazu, dass ihm seine Leipziger Kapellmeisterstelle im Jahr 1847 wegen ‚finanzieller Schwierigkeiten‘, wie es hieß, aufgekündigt wurde. Obwohl Lortzing ursprünglich Berliner war und zu Adolf Glaßbrenners engsten Freunden gehörte, übersahen ihn die Berliner Hofkreise ganz bewusst, zumal er im zweiten Akt seines Wildschütz die zeitenthobene Sophokles-Vorliebe Friedrich Wilhelm IV. höchst ironisch persifliert hatte. Im Gegensatz zu solchen liberalen Aufwallungen unterstützten die preußischen Hofkreise lediglich jene Strömungen, die sich entweder im Sinne Metternichs als ‚restaurativ‘, als preußischpatriotisch oder in einem allgemein kulturgeschichtlichen Sinne als ‚biedermeierlich‘ bezeichnen lassen und die heute nur noch als kontrastierende Folie zu den aufmüpfigen Gegenkräften ein gewisses historisches, ja fast ins Antiquarische abgeblasstes Interesse für sich beanspruchen können.
Konzertleben der vierziger Jahre Soviel zu den vormärzlichen Opernverhältnissen unter Friedrich Wilhelm IV. Fast die gleichen Beobachtungen lassen sich im Bereich des Berliner Konzertlebens der vierziger Jahre anstellen. Das einzige bedeutende Symphonieorchester war damals in dieser Stadt die Königliche Hofkapelle, die weitgehend als Opernorchester fungierte. Überhaupt spielten Konzerte lange Zeit eine wesentlich unbedeutendere Rolle als Opernaufführungen, die im Zentrum des öffentlichen Interesses der musikliebenden Kreise standen und auch bei Hofe die dementsprechende Beachtung fanden. Vor allem Werke der Kammermusik wurden fast ausschließlich in Privathäusern, wie etwa bei den Sonntagsmusiken der Familie Mendelssohn-Bartholdy oder bei den so genannten Singe-Tees, aufgeführt. Außerdem gab es eine Reihe regelmäßig veranstalteter Garten- und Gasthauskonzerte, bei denen sich neben Berliner Musikern auch durchreisende Virtuosen produzierten. Überhaupt spielte das Virtuosentum, das von allen gesellschaftskritischen oder gar revolutionären Tendenzen ablenken sollte, in dieser Ära eine besonders prononcierte Rolle. So traten damals in Berlin zirkushafte Geiger wie Alexandre-Jean Boucher auf, die ihre Violine hinter dem Rücken oder auf dem 14
Vgl. meinen Aufsatz: Albert Lortzing: Regina, in: Hermand: Glanz und Elend (wie Anm. 10), S. 115– 131.
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Kopf spielten,15 aber auch ernsthafte Divas und Virtuosen wie Angelica Catalani, Niccolò Paganini und Franz Liszt, bei deren Konzerten in der Singakademie, im Konzertsaal des Königlichen Schauspielhauses oder im Apollo-Saal des Königlichen Opernhauses der Zuschauerstrom manchmal geradezu ungeahnte Ausmaße annahm. Regelmäßige Abonnementskonzerte mit der Opernkapelle, meist sechs im Jahr, fanden erst seit dem musikalischen Wendejahr 1842 statt. 1843/44 übernahm Felix MendelssohnBartholdy die Leitung dieser Konzerte und bereicherte sie zugleich mit solistischen Darbietungen. Doch schon 1845 beendete Mendelssohn seine dortige Tätigkeit und kehrte wieder nach Leipzig zurück, da ihm, wie Meyerbeer, „das ungroßmütige Zurückbleiben in Fortschritt und Entwicklung“ innerhalb der Berliner Verhältnisse als zu provinziell erschien.16 Und auch andere bekanntere Komponisten und Dirigenten zog es damals nicht nach Berlin, wo sie – aufgrund der engstirnigen Kulturpolitik Friedrich Wilhelm IV. – keine besonderen Entfaltungsmöglichkeiten erwarteten.
Opern- und Konzertsituation der Jahre 1848/49 Als daher im März 1848 die mit den herrschenden Zuständen unzufriedenen Berliner Bürger, Handwerker, Dienstboten und Arbeitsmänner – in Anlehnung an die Pariser Februarrevolution – aus politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Gründen zu den Waffen griffen und zum offenen Aufruhr übergingen, sah es für kurze Zeit so aus, als ob sich die Verhältnisse auch auf musikalischem Gebiet ändern würden. Doch wie sollten sich im Opern- und Konzertwesen, deren Interessenten fast alle aus den an der Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Status quo bedachten Oberschichten stammten, irgendwelche Reformen durchführen lassen? Das hätte letztlich einen Gesamtumsturz der gesellschaftlichen Verhältnisse vorausgesetzt. Und daran waren nicht nur die Hofkreise, sondern auch weite Kreise des gehobenen Bürgertums nicht interessiert. Sie wollten zwar Reformen, die ihnen mehr Freiheit gewährt hätten, aber keine Gleichmacherei mit den unteren Bevölkerungsschichten. Sie fanden es durchaus richtig, dass es in kultureller Hinsicht weiterhin bei einer strikten Trennung zwischen den gebildeten Oberklassen und dem ungebildeten ‚Pöbel‘ blieb. Selbst die so genannten Freiheitsverfechter unter den Mittelschichten, die einen ihren persönlichen Interessen dienlichen Liberalismus erstrebten, vertraten in Sachen ‚Kultur‘ meist einen bildungsbürgerlichen Stellvertretungsanspruch, der die unter ihnen stehenden Gesellschaftsklassen von vornherein ausschloss. Daher war es für die Hofkreise auf dem Sektor Musik, der in seinen höheren Formen, also der Oper und dem Konzert, weitgehend ihrer Verfügungsgewalt unterstand, relativ leicht, den in ihren Augen bewährten kulturellen Status quo aufrechtzuerhalten. So berief etwa Friedrich Wilhelm IV. am 14. Februar 1848, also kurz vor dem Ausbruch der revoluti15 Vgl. Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Bd. 6. Hrsg. v. Jost Hermand, Hamburg 1973, S. 5–7 und 401–403. 16 Vgl. Wessling: Meyerbeer (wie Anm. 6), S. 221.
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onären Unruhen, einen konservativ-biedermeierlichen Komponisten wie Otto Nicolai und nicht Albert Lortzing als seinen neuen Hofkapellmeister und betraute ihn zugleich mit der Leitung des Königlichen Hofchores. Und Nicolai erwies sich als ein treuer Diener seines Herrn, d.h., er tat nichts, um in den folgenden Monaten die Forderungen der bürgerlichen Liberalen zu unterstützen. Als die Aufrührer im März 1848 sowohl die Lindenoper als auch das Königliche Schauspielhaus auf dem Gendarmenmarkt besetzten und darauf drangen, das Wort ‚Königlich‘ aus der Bezeichnung dieser beiden Gebäude zu streichen, um so aus Hoftheatern endlich ‚Nationaltheater‘ zu machen, ließ er diese Aktionen im Sande verlaufen. Auch am Spielplan des Opernhauses, das nur für kurze Zeit seine Aufführungen unterbrach, wurde wenig geändert. Wenn man bedenkt, welche revolutionären Wandlungen sich damals sogar im Musikleben Wiens abspielten, mutet die Berliner Opern- und Konzertsituation der Jahre 1848/49 geradezu idyllisch an. Als es in Wien ab März 1848 zu blutigen Straßenkämpfen kam, war dort an einen geregelten Opern- und Theaterbetrieb kaum mehr zu denken. Alles schien ins Wanken zu kommen oder neue Formen anzunehmen. Auch viele der in Wien lebenden Komponisten wurden vom aufrührerischen Elan der folgenden Monate mitgerissen. So vertonte etwa Albert Lortzing, der wegen seiner Kündigung in Leipzig eine Stelle als Kapellmeister am Theater an der Wien angenommen hatte, im Frühjahr 1848 nicht nur einige Revolutionslieder von Carl Rick und Karl Herloßsohn,17 sondern komponierte sogar eine Revolutionsoper, der er den Titel Regina gab und deren Partitur er Mitte 1848 abschloss. Schon ihre Anfangsszene war ein absolutes Novum in der deutschen Operngeschichte. Hier stehen nämlich erstmals streikende Arbeiter auf der Bühne, während im Hintergrund, wie es in der Bühnenanweisung heißt, ein „ansehnliches Fabrikgebäude“ und „große Schlote“ zu sehen sind. Während sich die reformistisch gesinnten Arbeiter auf Verhandlungen einlassen wollen, gehen die kurz danach auftretenden Freicorpsleute kurzentschlossen zur Tat über und werfen Feuerbrände in die Fabrik. Doch am Schluss siegen schließlich die Liberalen über die freibeuterischen Chaoten und stimmen einen allgemeinen Freiheitsjubel an, dem sich sogar die gutgesinnten Bürger anschließen. Da Ende Oktober die Wiener Revolution von den kaiserlichen Truppen niedergeschlagen wurde, blieb Lortzing selbstverständlich auf seiner Regina sitzen. Sogar ein relativ freizügig eingestellter Musikverlag wie Breitkopf & Härtel in Leipzig, dem Lortzing am 23. November 1848 die Partitur und das Textbuch der Regina zuschickte, lehnte eine mögliche Aufführung sofort ab. Ähnlich erging es Lortzing in Frankfurt und Wiesbaden. In Berlin versuchte er es erst gar nicht, da er die dortigen Verhältnisse als zu konservativ, wenn nicht gar reaktionär empfand. Ähnliche Erfahrungen musste Richard Wagner machen, der zwar an den Dresdner Unruhen im Jahr 1849 nicht aktiv teilnahm, aber sich wenigstens mit seinen Reden und Schriften zu der verbreiteten Aufruhrgesinnung bekannte. Wie wir wissen, wurde deshalb von der sächsischen Regierung ein Steckbrief gegen ihn ausgestellt. Und so blieb Wagner schließlich nichts anderes übrig,
17 Vgl. meinen Aufsatz: Albert Lortzing (wie Anm. 14), S. 126–128.
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als sich einer drohenden Verhaftung oder gar einer möglichen Hinrichtung durch eine Flucht in die Schweiz zu entziehen. Doch zurück zu den Berliner Musikverhältnissen im gleichen Zeitraum. Wie gesagt, hier verlief im Opern- und Konzertwesen alles viel ruhiger als in Wien oder auch in Dresden. Und wo sich Widerspruch regte, wurden von Seiten des Hofes die Zügel einfach etwas fester angezogen. So reagierte etwa der Hof nicht einmal auf jene am 14. Juli 1848 von einigen Liberalen verfasste Denkschrift des Tonkünstlervereins zu Berlin über die Reorganisation des Musikwesens, in der die Frage aufgeworfen wurde, ob man nicht die Oper, an der das Königliche Haus und das gebildete Publikum so interessiert seien, in ein „künstlerisches Volksbildungsinstitut“ umwandeln könne, statt in ihr lediglich ein „Schaugepränge“ oder einen „kurzweiligen“ Zeitvertreib zu sehen.18 Statt auf solche Forderungen einzugehen, ersetzte Friedrich Wilhelm IV. im Sommer 1851, als sich die Verhältnisse wieder ‚beruhigt‘ hatten, in bewusst provozierender Art den Generalintendanten der Hofoper Karl Theodor von Küstner durch Botho von Hülsen, einen Leutnant des Kaiser-Alexander-Gardegrenadierregiments, der im Mai 1849 aktiv mitgeholfen hatte, den Dresdner Aufstand blutig niederzuschlagen und auch in seinem Auftreten als Opernintendant ein äußerst soldatisches Betragen an den Tag legte.19 Da Otto Nicolai, dessen biedermeierliche Oper Die Weiber von Windsor bei ihrer Uraufführung am 9. März 1849 einen beispiellosen Erfolg hatte, bereits im Sommer 1849 starb, ernannte Hülsen Anfang 1851 Heinrich Ludwig Dorn zum neuen Opernkapellmeister, dessen Kompositionen, wie die seines Kollegen Taubert, den gleichen unüberhörbaren ‚biedermeierlichen Einschlag‘ aufwiesen und der, wie Küstner, Hülsen und Taubert, ebenfalls als ein Gegner des als revolutionär angesehenen Richard Wagner galt. Und so blieb der Spielplan der Lindenoper weiterhin recht traditionell. Neben den allerseits beliebten Erfolgopern von Adolphe-Charles Adam, Daniel Aubert, Vincenzo Bellini, Gaetano Donizetti, Friedrich von Flotow, Giacomo Meyerbeer und Gioacchino Rossini kam es dort kaum zu sensationellen Uraufführungen oder gar Inszenierungen gesellschaftskritischer Werke. Von Richard Wagner brachte Hülsen im gleichen Zeitraum lediglich 1856 den Tannhäuser und 1859 den Lohengrin heraus, d. h. Opern, die auch von der Mehrheit des weitgehend konservativ gesinnten Publikums – trotz ihrer mittelalterlichen Drapierung – nicht besonders geschätzt wurden. Gewisse Änderungen im Hinblick auf das Opernwesen fanden lediglich auf einer etwas niederen Ebene statt. Als das Königstädtische Theater gegen Ende der vierziger Jahre in finanzielle Schwierigkeiten geriet und schließlich seine Tore schließen musste, trat 1850 das Friedrich Wilhelmstädtische Theater an seine Stelle, das sich ebenfalls der volkstümlichen Oper und der so genannten Posse mit Gesang annahm. An ihm fand der wegen seiner liberalen Gesinnung weitgehend erfolglose Albert Lortzing seinen letzten Unterschlupf als Kapellmeister, bevor er 1851 zutiefst verbittert starb. Doch die erfolgreichste Bühne dieser Ära war das im Februar 1844 mit königlichem Privileg am Rande des Tiergartens eröffnete 18 Vgl. Schrenk: Berlin und die Musik (wie Anm. 5), S. 122–124. 19 Vgl. Werner Otto: Die Lindenoper. Ein Streifzug durch ihre Geschichte, Berlin 1985, S. 206.
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Krollsche Etablissement. Hier wurden anfangs vor allem Konzerte, Maskenbälle und Ballette veranstaltet und ab 1850 auch Possen oder Operetten, ja schließlich sogar Opern aufgeführt.20 Mit anderen Worten: hier bildete sich ein ins Profitorientierte tendierendes Junktim von hoher Kunst und anspruchsloser Unterhaltung heraus, bei dem zwar manchmal auch die seriöse Musik zu ihrem Rechte kam, aber durch die Nachbarschaft zu Jux, Grisettenspäßen, Walzerabenden sowie dem Auftreten dubioser Zauberkünstler zwangsläufig viel von ihrer früheren ‚Bedeutsamkeit‘ verlor.
Einige Folgerungen Kommen wir zu einigen vorläufigen Folgerungen. Wenn man die Gesamtheit dieser Entwicklungen im Berliner Musikleben während der Mitte des 19. Jahrhunderts ins Auge fasst, entsteht der Eindruck einer geradezu unerschütterlichen Kontinuität. Trotz der Aufstände von 1848 blieb im Opern- und Konzertbetrieb alles beim angeblich Altbewährten. Und das war auch kaum anders zu erwarten. Schließlich verlief diese Revolution erfolglos und führte in der Nachmärz-Ära – trotz einer gewissen Öffnung ins Bürgerlich-Kommerzielle – nicht zu einer Zunahme liberaler Tendenzen. Dazu waren das Opern- und Konzertwesen viel zu stark im Rahmen jener dynastischen Besitzverhältnisse verankert, die aus diesen Unruhen eher gestärkt als geschwächt hervorgingen. Neue Musikformen hätten sich auf diesem Gebiet wahrscheinlich nur dann entwickelt, wenn es zu einer Veränderung oder gar einem Umsturz der bisherigen Gesellschaftsordnung und der in ihr herrschenden kulturellen Organisationsstrukturen gekommen wäre. Während einer Revolution, besonders einer scheiternden, hat so genannte anspruchsvolle oder seriöse Musik stets einen besonders schweren Stand. Revolutionäre Literatur kann man auch unter repressiven Zuständen schreiben und unter Umgehung der Zensur sogar als eingeschmuggelte Konterbande unter die Leute bringen. Darin hatten schon die Jungdeutschen und dann die Vormärzler eine erstaunliche Findigkeit entwickelt.21 Auch aufmüpfige Karikaturen lassen sich auf dem gleichen Wege publik machen. Aber Opern und Symphonien? Sie können letztlich nur im Rahmen kapitalintensiver Institutionen aufgeführt werden. Hier war also jedem revolutionären Aufbegehren von vornherein eine Schranke gesetzt, was sowohl Richard Wagner in Dresden als auch Albert Lortzing in Wien erfahren mussten. Ja, andere Komponisten gaben sich 1848/49 nicht einmal der Hoffnung hin, ihren Werken einen revolutionären Anstrich geben zu können. Doch existierten zu diesem Zeitpunkt derartige Komponisten überhaupt, die solche Träume hegten? Wahrscheinlich nur sehr wenige, da die meisten in Kapellmeisterverhältnissen groß geworden waren, in denen eine bedingungslose Gefolgschaftstreue gegenüber den Obrigkeiten zu den selbstverständlichen Voraussetzungen ihres Berufslebens gehörte. 20 Thomas Wicke: Vom Etablissement zur Oper. Die Geschichte der Kroll-Oper, Berlin 1993, S. 29–31. 21 Vgl. die Literaturhinweise in der Anthologie: Jost Hermand (Hrsg.): Das Junge Deutschland. Texte und Dokumente, Stuttgart 1988, S. 393–404.
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Aber gab es nicht auch andere Formen von Musik, die finanziell nicht so aufwendig waren wie die Oper oder das Symphoniekonzert und daher keinen institutionellen Rahmen voraussetzten? Wie steht es denn mit dem Lied, das aufgrund seiner inhaltlichen Eingängigkeit und seines schnellen Verbreitungsmodus in fast allen Revolutionen im Vordergrund gestanden hat? Fragen wir also weiter: Gab es nicht auch in der Berliner Achtundvierziger Revolution, selbst wenn sie nach wenigen Monaten blutig niedergeschlagen wurde, wenigstens zu Anfang einige Lieder, die sich als Ausdruck einer wahrhaft revolutionären Gesinnung charakterisieren lassen? Die Antwort darauf ist relativ einfach: Es gab sie, aber sie waren bei Weitem nicht so zündend wie vorher die Marseillaise oder später die Internationale wie auch We Shall Overcome. Dennoch sollte man sie nicht von vornherein als unbedeutend abqualifizieren. Wie immer, wenn es sich um die Musik der revoltierenden Unterklassen handelt, fließen hier die dokumentarisch erschlossenen Quellen wesentlich spärlicher als bei der Musik der jeweils herrschenden Gesellschaftsschichten. Während selbst viele der dürftigsten Opern und symphonischen Werke in gedruckten Zeugnissen überliefert sind und auch sonst an einer musikgeschichtlichen Erschließung dieser Werke nicht gespart wird, wissen wir über die Musik des so genannten Vierten Standes, vor allem über jene Lieder, mit denen sich dieser Stand gegen die herrschende Unterdrückung und Ausbeutung Luft zu machen versuchte, reichlich wenig. So geht etwa das vielgerühmte Lexikon Musik in Geschichte und Gegenwart in seinem Abschnitt Musik des Vierten Standes, wo es sich um die Berliner Musiksituation in der Mitte des 19. Jahrhunderts handelt, lediglich auf die musikalischen Unterhaltungsbedürfnisse der Unterschichten, also auf Tänze und Gassenhauer wie Denkste denn, du Berliner Pflanze ein, während es von den Vormärz-Liedern nur das weitverbreitete Lied auf jenen Heinrich Ludwig Tschech erwähnt, der 1844 ein misslungenes Attentat auf das preußische Königspaar unternommen hatte.22 Doch wahrscheinlich wurden damals auf den Berliner Straßen bereits vor 1848 wesentlich mehr solcher aufmüpfigen Lieder, wie etwa das ebenfalls 1844 entstandene Lied Das Blutgericht „nach einer Melodie des damals sehr beliebten Volksliedes Es liegt ein Schloß in Österreich gesungen,23 das sich auf den zeitgleich erfolgten Aufstand der schlesischen Weber in Peterswaldau und Langenbielau bezieht. Überhaupt war es in diesen Jahren, wie schon im Zeitalter der Französischen Revolution, beliebt, irgendwelchen aufrührerischen Gedichten bekannte Melodien unterzulegen, um so zu ihrer schnellen Verbreitung beizutragen. Besonders August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, der 1842 wegen seiner rebellischen Gedichte, die unter dem bewusst irreführenden Titel Unpolitische Lieder erschienen waren, seine Breslauer germanistische Professur verloren hatte, war ein Meister solcher Techniken. Das beweist u.a. sein Lied der Deutschen, dem er die Melodie von Gott erhalte Franz den Kaiser unterlegte, und der als reisender Barde selber 22 Vgl. Musik in Geschichte und Gegenwart (wie Anm. 5), S. 1439/1440; vgl. auch Inge Lammel: Arbeitermusikkultur in Deutschland. 1844–1945, Leipzig 1984, S. 15. 23 Vgl. Hans J. Schütz: Nun, Brüder, stehet wie ein Mann. Flugblätter, Lieder und Schriften deutscher Sozialisten. 1833–1863, Neunkirchen 1979, S. 134.
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zur Verbreitung seiner Lieder beitrug – wohl wissend, dass in politisch unruhigen Zeiten Gedichte bloß Gedichte bleiben, die nur von gebildeten Einzelnen wahrgenommen werden, während Lieder stets die Chance haben, auch die ‚breiten Massen‘ zu erreichen.24
Das politisch-revolutionäre Lied Zur Berliner Situation des politisch-revolutionären Liedes der Jahre 1848/49 lässt sich lediglich Folgendes sagen. Als die Meldungen von der Pariser Februarrevolution Berlin erreichten, verbreitete sich auch unter dem dortigen Bürger- und Arbeiterstand eine steigende Unruhe. Die ersten revolutionär gestimmten Versammlungen fanden am 6., 7. und 9. März in den so genannten Zelten im Tiergarten statt, bei denen Forderungen nach Gleichberechtigung aller Bürger sowie nach Presse-, Rede- und Versammlungsfreiheit laut wurden. Allerdings verliefen diese Versammlungen noch friedlich. Zu ersten blutigen Auseinandersetzungen zwischen den Versammlungsteilnehmern und dem preußischen Militär kam es am 13. März, worauf sich die Spannungen zwischen den Bürgern und dem Königshaus wesentlich verschärften. Als am 17. März die Nachricht vom Sieg der Revolution in Wien in Berlin eintraf, fühlten sich die zur Konfrontation entschlossenen Revolutionäre stark genug, dem König am folgenden Tag eine Resolution zu überreichen, in der sie den Abzug des Militärs und die Gründung einer Bürgerwehr forderten. Zugleich erließen sie ein Aufruf an alle mit dem herrschenden Regime unzufriedenen Bürger, sich am folgenden Tag vor dem Berliner Schloss einzufinden.25 Als sich darauf am 18. März etwa 10.000 Menschen auf dem Schlossplatz versammelten, wurden von den dort herbeigeströmten Demonstranten möglicherweise die ersten Revolutionslieder gesungen. Daraufhin war der König so eingeschüchtert, dass er bei dieser Kundgebung den Berlinern die durch den Bürgermeister Naunyn geforderte Einberufung der Vereinigten Landtage und – unter dem Jubel der Versammelten – zugleich eine größere Presse- und Zollfreiheit versprach, ja sogar in abwiegelnder Tendenz bekannte, dass er sich selber an die Spitze der liberalen Bewegung in ganz Deutschland stellen wolle.26 Das fand bei den Massen durchaus Anklang. Als jedoch Prinz Wilhelm, der beim ‚Volk‘ wegen seiner reaktionären Gesinnung besonders verhasst war, anschließend wahllos in die Volksmenge schießen ließ, kam es zu blutigen Straßenkämpfen, bei denen über 150 Berliner ihr Leben lassen mussten. Die ersten politischen Lieder, die zu diesem Zeitpunkt entstanden, galten weitgehend den Opfern dieser Kämpfe. Eins dieser Lieder begann mit der Strophe: „Vor dem Berliner Schlosse / Ertönt ein Trauerlied: / Da liegen viel hundert Tote, / Sie liegen in Reih und Glied. / Und Leich’ um Leiche tragen / Die Bürger stumm heran, / Als
24 Vgl. meinen Aufsatz: Zersungenes Erbe. Zur Geschichte des „Deutschlandliedes“, in: Jost Hermand: Sieben Arten an Deutschland zu leiden, Königstein 1979, S. 62–74. 25 Vgl. dazu auch Thomas Ludewig: Berlin. Geschichte einer deutschen Metropole, München 1986, S. 51. 26 Vgl. Wilhelm Blos: Die deutsche Revolution, Berlin 1893, Nachdruck Berlin 1978, S. 136.
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wollten sie sagen: König / Da sieh, was du getan“.27 Ja, es gab sogar Bänkellieder im Berliner Dialekt, in denen diese „jroße Mordjeschichte“ besungen wurde.28 Als das Militär endlich aus Berlin zurückgezogen wurde und Prinz Wilhelm für eine Zeitlang nach London ausweichen musste, wohin sich auch der gestürzte österreichische Staatskanzler Metternich begeben hatte, entstanden vor allem Spottlieder auf den einst geradezu allmächtigen ‚Kartätschenprinz‘, wie er jetzt hieß, dem man auf Seiten der Aufständischen mit einer harten Vergeltung drohte, falls er je wieder nach Berlin zurückkehren sollte. Dementsprechend fing eins dieser Lieder auf die Melodie des Gassenhauers Komme doch, komme doch, komm du Schöne mit den Zeilen an: „Komme doch, komme doch, Prinz von Preußen, / Komme doch, komme doch nach Berlin. / Wir wolln dir mit Steine schmeißen / Und dir’s Fell über die Ohren ziehn“.29 In einem anderen dieser Lieder, dem man die seit 1840 populär gewordene Melodie von Nikolaus Beckers Gedicht Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein unterlegte, heißt es nicht minder unverblümt: „Wir wollen ihn nicht haben / Den Herrn Kartätschen-Prinz. // Wir wollen ihn nicht haben / Den Schild der Despotie, / Der für der Freiheit Gaben / Nie fühlte Sympathie“.30 Da die Straßenunruhen auch nach dem 18. März andauerten, entstanden in der Folgezeit alle Lieder, welche den Aufständischen Mut zu weiteren Kämpfen machen sollten. Zu ihnen gehörte mit Sicherheit der Berliner Demokratenmarsch, dessen von Moritz Loevinson verfasster Text von H. Bauer vertont worden war und der mit den Zeilen begann: „Vorwärts! Vorwärts! Deutschlands Söhne, / Vorwärts mutig ins Gefecht / Niemand wag’ es mehr und höhne / Unsre Freiheit, unser Recht!“31 Die gleiche Aufruhrgesinnung machte sich offenbar in jenem Freiheitsmarsch Luft, in dem es u.a. heißt: „Hurra! Wacht auf! Steht Mann für Mann, / Wer nur den Arm kann regen! / Hurra! Herbei, was kämpfen kann. / Hurra! Dem Feind entgegen!“32 Ja, vielleicht wurden bei solchen Auseinandersetzungen auch Lieder wie das erste deutsche Streiklied von Carl Fröhlich: „Nun, Brüder, stehet wie ein Mann, / Die ernste Stunde kam; / Nun richtet vorwärts kühn den Blick, / Nur Memmen kehren feig’ zurück, / Verächtlich ohne Scham“ oder sogar schon das Arbeiterlied des Schneiders Lüchow: „Es quillt und keimt von unten auf, / Wie frisch gesäte Saat; / Es wächst wohl aus der Erd’ heraus; / Das Proletariat!“ gesungen.33 All das klingt nach Hass, nach Männerstolz, nach Heroismus – und doch war diese Revolution von vornherein zum Scheitern verurteilt, mochten auch einige ihrer Lieder noch so 27 28 29 30 31 32
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Zit. in Ulrich Otto: Die historisch-politischen Lieder und Karikaturen des Vormärz und der deutschen Revolution von 1848/49, Köln 1982, S. 240. Ebd., S. 310. Ebd., S. 313. Ebd., S. 317. Zitiert in Otto: Die historisch-politischen Lieder (wie Anm. 27), S. 296. Zitiert in Inge Lammel: Lieder der Revolution von 1848, Leipzig 1957, S. 36/37; vgl. auch Wolfgang Steinitz: Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten, Bd. 2, Berlin 1962, S. 260. Vgl. Hans J. Schütz: Nun, Brüder, stehet wie ein Mann (wie Anm. 23), S. 231, 245.
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freiheitsdürstend, wenn nicht gar umstürzlerisch gestimmt klingen. Wie wir wissen, scheiterte sie aus vielen Gründen, von denen zwei besonders hervorstechen: erstens an jenem weitverbreiteten Konservativismus der Metternichschen Restaurationsgesinnung, die sich seit 1815 in vielen Köpfen festgesetzt hatte, und zweitens an der sozioökonomischen Schwäche des liberalen Bürgertums, das letztendlich, wie es bei Ulrich Otto heißt, mehr „Angst vor den revolutionär gesinnten Berliner Arbeitern“ als vor den von der Feudalaristokratie angeführten Truppenverbänden hatte,34 die am 10. November 1848, unter der Leitung des preußischen Generalfeldmarschalls Friedrich Graf von Wrangel, ohne auf einen nennenswerten Widerstand zu stoßen, erneut in Berlin einmarschierten und damit dem ‚tollen Jahr‘, wie es später bei den nachmärzlichen Reaktionären abschätzig hieß, ein Ende bereiteten. Und so blieb auch die Musik dieser Revolution nur eine Marginalie innerhalb der allgemeinen Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts. Die wesentlich effektiveren Demonstrations- und Protestlieder entstanden erst, als die Zahl der Industriearbeiter immer größer wurde und in den sozialdemokratischen Gesängen der siebziger und achtziger Jahre ihre ‚klassische‘ Ausprägung fanden – während die gehobene, seriöse Musik im gleichen Zeitraum immer stärker entweder ins Nationalistische à la Richard Wagner oder Ästhetizistische à la Richard Strauss abdriftete und sich erst innerhalb der expressionistischen Strömungen zwischen 1910 und 1923 wieder, wenn auch in betont ‚modernistischer‘ und damit weitgehend volksfremder Form den revolutionären Tendenzen der so genannten Novembristen anzunähern versuchte. Doch das gehört bereits auf ein anderes Blatt.
34 Vgl. Otto: Die Lindenoper (wie Anm. 19), S. 206.
ROLAND BERBIG
Das königlich-kaiserliche Berlin des Rütlionen Theodor Fontane
Fontanes Berlin ist nicht mehr zu entdecken. Längst hat die Forschung sich des Themas in der ihr eigenen Gründlichkeit angenommen.1 Sein Erzählwerk ist auf Berlin-Bezüge kräftig und ergiebig durchgebürstet worden, und die sechs Jahrzehnte, die er mit Unterbrechungen in dieser Stadt zugebracht hat, wurden sozialgeschichtlich durchfurcht, psychologisch analysiert und städtebaulich verortet.2 Am Ende einer solchen allseitigen Auswertung stand (und steht noch), gewissermaßen schicksalhaft, die Verwertung. Unter Verkündung des Superlativs, Fontane sei der „bedeutendste Chronist“3 Berlins, schneidet sie seine Äußerungen über die preußische Metropole so zurecht, dass sie in handliche marktgerechte Büchlein passen. Dagegen ist nichts einzuwenden, die Kauffreudigkeit bezeugt das. Die dominierende Rolle, die Fontane dabei zugeschrieben wird, ist die des Beobachters und Betrachters.4 Fortwirkt eine der kunstvollsten Selbststilisierungen in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Dieses Berlin Fontanes entstand, so will es scheinen, aus der Schreibtischperspektive der eng bemessenen Wohnung des Dichters Potsdamer Straße 134 c, symbolische und metaphorische 75 Stufen über Gehsteig, Straßen und Häuserzeilen. Von hier aus nahm der Verfasser mehrerer Berlin-Romane teil am Diskurs über die Stadt, die nach der Gründung des zweiten deutschen Kaiserreiches einen Profilwandel durchlief und nach stimmigen Formeln suchte, um den sozialen und architektonischen Modernisierungsschub im Wort zu bannen. Aus
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Für detaillierte fachliche Hinweise habe ich dem Kunsthistoriker und Menzel-Experten Claude Keisch zu danken und Vanessa Brandes einmal mehr für Recherchehilfen, sorgsame Lektüre und redaktionelle Einrichtung dieses Beitrags. Vgl. u. a. den Abschnitt 24/1 Berlin, Mark Brandenburg, Preußen, in: Wolfgang Rasch: Theodor Fontane Bibliographie. Werk und Forschung. 3 Bde., Berlin, New York 2006. Bd. 2, S. 1429–1434. Nach wie vor grundlegend: Peter Wruck: Fontanes Berlin. Durchlebte, erfahrene u. dargestellte Wirklichkeit, in: Literarisches Leben in Berlin 1871–1933. 2 Bde. Hrsg. v. Peter Wruck, Berlin 1987. Bd. 1, S. 22–87. Gotthard Erler: Die Stadt wächst, doch eine Schusterhaftigkeit bleibt. Literaturort Berlin (33), in: Der Tagesspiegel (Berlin), 26. Februar 1994. Symptomatisch dafür: Theodor Fontane: „Wie man in Berlin so lebt“. Beobachtungen und Betrachtungen aus der Hauptstadt. Hrsg. v. Gotthard Erler, Berlin 2000 (als Taschenbuch Berlin 2004).
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einem ‚alten‘ wurde ein ‚neues‘ Berlin – und Fontane stand nicht an, diesen Wandel aufgeschlossen zu begrüßen: Berlin selbst hat sich ganz ausserordentlich verändert und ist jetzt eine schöne und vornehme Stadt. Wir verdanken das allem Möglichen, aber doch weitaus am meisten dem Asphalt und den Pferdebahnen. Nicht nur ist der Verkehr in einem ganz unglaublichen Grade gewachsen, er hat vor Allem auch sein Ansehen geändert. Die Droschken sind wohl noch da, allein man bemerkt sie wenig, weil oft in einer einzigen Minute 6 oder auch 10 elegante Pferdebahnwagen an einem vorüberfahren. Alles ist Leben, Frische, Wohlbekleidetheit. Ich freue mich, diese vernobelte Zeit, an die ich kaum geglaubt, noch erlebt zu haben.5 Fontane registrierte den Fortschritt, freute sich an der wachsenden innerstädtischen Mobilität und benutzte das Wort des Noblen, des Adligen im Sinne von Gediegenheit, um den Zugewinn an stattlichen Bauten verbal zu honorieren. Andererseits ließ er sich zu Sätzen wie „In Berlin kann ich eigentlich nicht leben“6 hinreißen und gefiel sich in Berlin-Verrissen, die ihresgleichen suchen. Die wechselvolle Geschichte dieser Beziehung muss nicht wiederholt werden. Noch einmal einen genaueren Blick indes vertragen Orte und Personen, die Fontanes Diskurs-Kompetenz über Berlin beeinflussten und qualifizierten: gewissermaßen nicht sein Berlin aus der Distanz geschützter vier Wände, sondern das auf Augenhöhe, das der unmittelbaren Begegnung. Als Anfang 1890 – wohl im Hause August von Heydens – sein vollendetes siebentes Lebensjahrzehnt im kleinen Freundes- und Bekanntenkreis nachgefeiert wurde, nahm Fontane bei seinem Dank Gelegenheit, auf den literarischen Zirkel Rütli zu sprechen zu kommen: Das große Wort Rütli ist gefallen. […] Meine 70 zerfallen genau in 2 mal 35. Die ersten 35 rütlileer, die letzten 35 rütlivoll, und wenn ich mir zusammenrechne, was ich in diesen zweiten 35 mit Hilfe des Rütli alles gelernt und erstudiert habe, so kann ich von 70 Studiensemestern sprechen, während welcher langen Zeit ich allwöchentlich die berühmtesten Professoren gehört habe, von Kugler, Menzel, Lazarus an bis auf den jüngsten Professor August von Heyden. Dazu welche glänzende Reihe von Privatdozenten […].7 Offenkundig meinte Fontane nicht jenen literarischen Verein, der, am 9. Dezember 1852 gegründet, sich in seinen frühesten „Ordnungen“ unter „Alpha“ übermütig definiert hatte als „seinem Wesen nach unbestimmbar, in seinem Wirken unbegrenzbar, an Werth un5
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Theodor Fontane an Herman Wichmann, 2. Juni 1881, in: Walter Keitel, Helmuth Nürnberger (Hrsg.): Theodor Fontane. Briefe. 4 Bde., Taschenbuch-Ausgabe, München 1980. Bd. 3, S. 136 (im Folgenden: HFB Bd., S.). Theodor Fontane an Mathilde von Rohr, 13. Juli 1885. In: HFB 3, 404. Theodor Fontane: Unveröffentlichter Dankes-Toast an den Rütli, in: Fontane Blätter. Bd. 1, Heft 6, Potsdam 1968, S. 243/244.
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schätzbar“.8 Mit diesem teilte der 1890 gepriesene Verein den Namen, nicht die launigen Gepflogenheiten seines Gründungsrituals, die an frühe Tunnel-Jahre erinnern und in denen Weißbier und Kuchen ebenso ihre Rolle spielen wie drei heilige japanische Märtyrer namens Tschi-Song, Yang-Ging und Tong-Kong.9 Aber er unterschied sich in dieser Beschreibung auch von der Realität des Rütli der fünfziger und beginnenden sechziger Jahre, dem daran gelegen war, die Literaturszene Berlins zu präsentieren und mit ihr auf das Profil der deutschen Literatur, mehr oder minder maßgeblich, einzuwirken. Fontane spricht in seinem Dankestoast weder von der Argo, dem belletristischen Jahrbuch, für das er im ersten Jahr, 1854, als Mitherausgeber verantwortlich gezeichnet hatte, noch vom Literaturblatt des Deutschen Kunstblattes, mit denen die Rütlionen bis 1858 ihrem ambitionierten Anspruch literarische bzw. literaturkritische Realitäten hatten folgen lassen wollen. Nicht auf das Literarisch-Produktive des Rütli legte Fontane wert, sondern auf dessen kulturell-rezeptiven Bildungscharakter. Mit Bedacht griff Fontane dabei vergleichend, wenn nicht metaphorisch auf jenen akademischen Raum zurück, der ihm selbst versagt geblieben war: die Universität. Seine Hohelied galt der Erinnerung an Vereinssitzungen, die höchstes intellektuelles und kunstverständiges Niveau mit einer Geselligkeitskultur verbunden hatten, die er jenseits aller „Klugschmusereien“10 ansiedelte. Mag sein, es stand ihm eine Szene vor Augen, wie er sie seiner Frau im April 1880 nach einer geglückten Zusammenkunft bei Adolph Menzel geschildert hatte. Man sei sich, „beim Nachhausegehn, auf der Treppe gerührt in die Arme“ gesunken und habe gegenseitig erklärt: „‚das sei zehn Dhaler werth gewesen‘“.11
Das Rütli als geselliger Kreis Dieser gesellige Kreis war es, in dem, nach dessen Verzicht auf öffentliche literarische Wirksamkeit, Fontane eine intellektuelle Stätte fand, die ihre Energie nicht zum Geringsten dem geistig-kulturellen Klima der preußischen Hauptstadt verdankte. Vollzogen sich dort Witterungswechsel, hinterließen sie Spuren im Rütli. Phasenweise glich es12 einer Zelle in einem großen Gewebe, deren Reaktionen Rückwirkungen nicht aus-, zuweilen sogar einschlossen. Dafür garantierte die attraktive, personelle Zusammensetzung im Kreis. Sie bezog ihre Ausstrahlungskraft aus einem Mischungsverhältnis, dessen Auffälligkeit und mutmaßliche Wirkungseigenart zwar immer wieder vermerkt und vermutet,13 aber noch nicht hinlänglich untersucht worden ist. Während der Jahrzehnte nach 1860 traf Fontane in dieser Runde 8 [Ohne Titel], Berlin, gedruckt bei J. F. Starcke [1852], S. [1]. 9 Roland Berbig, Wulf Wülfing: Art. „Rütli“, in: Wulf Wülfing u. a. (Hrsg.): Handbuch literarischkultureller Vereine, Gruppen und Bünde 1825–1933, Stuttgart, Weimar 1998, S. 402. 10 Theodor Fontane an Emilie Fontane, 5. April 1880, in: Emilie und Theodor Fontane: Die Zuneigung ist etwas Rätselvolles. Der Ehebriefwechsel 1873–1898. Bd. 3. Hrsg. v. Gotthard Erler unter Mitarbeit von Therese Erler, Berlin 1998 (im Folgenden: EBW 3), S. 206. 11 Theodor Fontane an Emilie Fontane, 5. April 1880, in: EBW 3, S. 205. 12 Selbst die Rütlionen waren sich uneins, ob ihr Vereinsname männlichen oder sächlichen Geschlechts sei, so dass die hier getroffene Entscheidung durchaus beliebig ist. 13 Vgl. vor allem Berbig, Wülfing: Art. „Rütli“ (wie Anm. 9), S. 394–406.
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regelmäßig den Maler Adolph Menzel, die Kunsthistoriker Friedrich Eggers, Hugo von Blomberg und Wilhelm Lübke, den Dichter, Journalisten und Literaturhistoriker Otto Roquette, den Offizier Bernhard von Lepel, den Pädagogen Karl Bormann, den Juristen Karl Zöllner und schließlich die Architekten Richard Lucae und August von Heyden.14 Unter dieser kaum wechselnden Besetzung war aus der literarischen Gruppe ein bürgerlich-intellektueller Gesprächskreis geworden. Kein vorgeschriebenes Programm regelte die Sitzungen, kein vorzuweisendes Ziel übte Druck aus. Vordergründig existierte kein anderer Zweck als der geselliger Unterrichtung. Unterhaltend zu sein, war die gewünschte Haltung, wobei der Schwierigkeitsgrad darin bestand, die eigene Fachdisziplin zu einem Gegenstand allgemeinen Interesses zu erheben. Untergründig waltete ein weiterer Zweck, der der gegenseitigen Förderung. Die konnte vielgestaltig sein, ideell wie praktisch, familiär wie beruflich. Die Teilnahme sicherte ein Quantum Anteilnahme des Kreises am eigenen Geschick – und der Kreis selbst versicherte sich mit dem, was ihn bewegte, eines gewissen Gemeinnutzens. Neben die Mischung unterschiedlicher Berufe und Charaktere trat ein Weiteres: die gesellschaftliche Stellung der Beteiligten. Sie versprach, innerhalb des gemeinschaftlichen Organismus vermittelnd zwischen Einzelnem und Institutionellem zu wirken. So war Richard Lucae Direktor der Königlichen Bauakademie und Moritz Lazarus nicht nur Professor an der Preußischen Kriegsakademie in Berlin, sondern auch, als deren Gründer, über viele Jahre Präsident des Kuratoriums der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums. August von Heyden war Mitglied der 1874 ins Leben gerufenen Direktion des Märkischen Provinzial-Museums Berlin und gehörte dem Preußischen Staatsrat an, und Karl Eggers agierte als Gerichtspräsident und engagierte sich in der institutionell geförderten Entwicklung der Kurzschrift. Karl Bormann hatte nicht allein über zwei Jahrzehnte im königlichen Hause Prinzessinnen und Prinzen unterrichtet, sondern war 1849 auch zum Provinzialschulrat ernannt worden und betreute bis zu seinem Tod das einflussreiche Schulblatt für die Provinz Brandenburg redaktionell.15 Mit dem Lösen der Fäden, die das Rütli an den Tunnel banden, und dem Abschütteln der Last zwanghaft produktiver Geselligkeit gewann der Kreis jene Flexibilität, die ihn in der preußischen Hauptstadt Berlin ebenso lebensfähig hielt wie in der Metropole des zweiten deutschen Kaiserreiches. Hier fand Fontane den kompetenten Zirkel, mit dem er preußische An- und Aussichten im Politischen, Staatlichen und Kulturellen debattieren konnte, und man muss sagen: nur hier und ausschließlich, sieht man einmal von der familieninternen Runde und (bis 1869/70) der Kreuzzeitungs-Redaktion ab. Sein Status war in diesem nichtproduktiven Rütli gänzlich anders als im Tunnel, den er Mitte der sechziger Jahre verließ.
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In den fünfziger Jahren übte der Kunsthistoriker und Schriftsteller Franz Kugler starken Einfluss auf das Rütli aus, und die Juristen Wilhelm von Merckel und Theodor Storm gehörten, bis zum Tod bzw. dem beruflichen Wegzug, zu seinen engagierten Teilnehmern. Bormanns im Gefolge der Raumerschen Regulative für den Volksschul-, Präparanden- und Seminarunterricht verfasste Schulkunde für evangelische Volksschullehrer war bis zur Aufhebung der Regulative 1872 Standardliteratur für die preußischen Seminare.
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Hatte man dort „einen kleinen Gott“16 aus ihm gemacht, war er im Rütli einer unter Gleichen, mitnichten primus inter pares – und es war ihm offensichtlich recht. Was nun, ist zu fragen, beschäftigte diese Herren, dass sie ihre freie Zeit drangaben und zwar ohne Gewähr und in Ungewissheit auf einen Nutzen? Spiegelt sich im Diskurs des Kreises, in den Themen, die er aufgriff oder verwarf, und dem Für und Wider tatsächlich so etwas wie das geistige Berlin? Werden intellektuelle Mentalitätswandel erkennbar? Wandelte sich mit der Geschichte der Stadt, in der man lebte und der man sich zugehörig wusste, auch die eigene im Bezug auf sie? Blieb der Kreis, bei aller Kontinuität, um die er sich bemühte, wirklich das Forum, das Fontane in seinem Toast so hochgemut beschwor?
Friedrich Eggers Rütli-Chronik Der Wunsch, diese Fragen zu beantworten, erzeugt Verlegenheit. Das Rütli, auch darin ganz anders als der Tunnel, führte kein Protokoll. Seine eigene Geschichte zu archivieren, musste den Rütlionen abwegig erscheinen. Die Zufälligkeit der Themen, die das gebildete Gespräch hervorbrachte, vertrug kein Begründungskorsett im Nachgang. Aus den Segmenten von Rede und Gegenrede ließ sich danach kein Haus errichten, warum auch. Die Neugier der Nachwelt ist auf nicht immer leicht berechenbare Quellen angewiesen, auf Briefäußerungen der Beteiligten, kleinere Notate oder Erinnerungen Jahre später. Es ist einem ausgemachten Rostocker Familiensinn zu verdanken, dass dieser Missstand gemildert wird. Seit 1860 schickte Friedrich Eggers seinen mecklenburgischen Verwandten allwöchentlich Lebensberichte. In diesen familieninternen Briefen, die er Wochenzettel nannte, reservierte er dem Rütli einen Stammplatz. Was seine Nächsten informieren und ihnen im besten Fall imponieren sollte, verwandelte die Zeit in eine Rütli-Chronik. Eggers listete die ‚Sondern‘ (die Gesprächsthemen also) auf und versah sie, wenn nötig, mit kurzen Kommentaren. Um davon einen Begriff zu geben, einige, wenige Belege: am 21. Januar 1865 etwa hielt Eggers Folgendes fest: „1) Gutzkow. 2) Lützow Aufsatz in den Recensionen gegen das Organ für christliche Kunst. 3. Herman Grimms Neues Kunstblatt.17 4. Die Künstler und die Kunstkritik“,18 am 16. Dezember 1865 stellte, laut Wochenzettel, Fontane einen Bericht von Karl Vogt über Pompeji vor, „welcher albern war d. h. Vogt’s Urtheil“,19 und am 17. Februar 16
Theodor Fontane an Georg Friedlaender, 3. Oktober 1893, in: Theodor Fontane. Briefe an Georg Friedlaender. Aufgrund der Edition von Kurt Schreinert und der Handschriften neu hrsg. und mit einem Nachwort versehen v. Walter Hettche. Mit einem Essay von Thomas Mann, Frankfurt/M., Leipzig 1994, S. 319. 17 Die von Grimm 1865 begründete Zeitschrift Über Künstler und Kunstwerke, erschien in nur zwei Jahrgängen in Ferd. Dümmler’s Verlagsbuchhandlung, Berlin. Sie gehörte zu den ersten Kunstzeitschriften, die mit Fotografien illustriert wurden. Vgl. URL: http://books.google.de/books bietet beide Jahrgänge in digitalisierter Form (besucht: 16. September 2009). 18 Friedrich Eggers: „Wochenzettel“, Archiv der Hansestadt Rostock (im Folgenden: AHSR), NL Eggers, Sign. 1.4.7.37 (1865) Bl. 8. 19 Ebd., AHSR, NL Eggers, Sign. 1.4.7.37 (1865) Bl. 106. Vogt (1817–1895), deutsch-schweizerischer Naturwissenschaftler (Zoologe), Professor und Politiker, publizierte regelmäßig in deutschen Zeitschrif-
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1866 debattierte man über einen Artikel Wilhelm Lübkes in der Spenerschen Zeitung gegen Herman Grimm.20 Am 17. März 1866 befasste sich das Rütli zuerst mit einem Brief Wilhelm Lübkes an Eggers, dann mit Hugo von Blombergs Vorrede zu einer Neuausgabe von Franz Kuglers Geschichte der Malerei, für die Eggers eine biographische Skizze von Kugler schreiben sollte, begutachtete den Anfang eines Textes zu Schwers fotografischer Geschichte der Malerei, ebenfalls verfasst von Hugo von Blomberg, um sich zum Schluss den Bericht Richard Lucaes von einer Unterredung mit dem Oberregierungsrat im Bauministerium, Lauchlan MacLean, über seine künftige Anstellung im Ministerium oder in der Bauakademie auf der Zunge zergehen zu lassen (denn die Aussichten waren bestens).21 Und – um es mit einem letzten, in seiner Eigenart nicht minder anschaulichen Beleg hier zu belassen – der sonnabendliche 30. März 1867 verging den Rütlionen damit, dass Friedrich Eggers die Aufgabe für die Preisbewerbung um eine Rostocker Hausinschrift erläuterte, die vom Kreis angenommen wurde, mit einem Meinungsbild zu der Bitte des Verlegers Alexander Duncker, für seinen Verlag einen Text über den Maler Kaulbach zu verfassen, um das Ganze dann in ein Gespräch über den Humor als Weltanschauung gipfeln zu lassen.22 Notorisches Querulantentum hätte dazu gehört, hier mangelnde Themenvielfalt zu beklagen. Bei all dem durchwirkte Berlinisches beinahe alle Rubriken, auf die man sich gesprächsweise bevorzugt einließ, seien es die Gerichtsverhandlungen gegen Ferdinand Lassalle wegen dessen Rede Über den besonderen Zusammenhang der gegenwärtigen Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes,23 zu denen Karl Zöllner als Anwalt bestellt worden war, oder die polarisierenden „Kammerdebatten mit dem Kultusminister Heinrich von Mühler“, den einige Rütlionen noch aus alten Tunnel-Zeiten kannten.24 Gleiches gilt für das rütlionische Kopfschütteln über den Berliner und preußischen „Theater = Geschäftsbetrieb“25 oder über die Entscheidungen der Berliner Zweigstelle der Deutschen Schillerstiftung, welcher Dichter unterstützungswürdig sei und welcher nicht. Man machte sich Gedanken über die „Berliner öffentlichen Bibliotheken“ und fühlte sich eingeweiht in hauptstädtische Ministerialinterna, wenn Friedrich Eggers sein „Referat zu den Kunstkommissionssitzungen der nächsten Woche im Ministerium“26 schon einmal probeweise in sonnabendlicher Runde vortrug. Verdeckt oder offen selbstreferentiell, jedenfalls Berlin-zentriert besah man sich „die hiesigen
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ten über Geschichte, Biologie und Erdkunde. 1863 veröffentlichte er seine Vorlesungen über den Menschen, seine Stellung in der Schöpfung und in der Geschichte der Erde. Der erwähnte Bericht stammt möglicherweise aus dem Umkreis dieser Arbeiten. Vogt schloss sich später entschieden dem Darwinismus an und bekannte sich zu einer antipreußischen und profranzösischen Haltung. Eggers: „Wochenzettel“, AHSR, NL Eggers, Sign. 1.4.7.37 (1866) Bl. 18. Ebd., AHSR, NL Eggers, Sign. 1.4.7.37 (1866) Bl. 31. Ebd., AHSR, NL Eggers, Sign. 1.4.7.38 (1867) Bl. 32. Rütli-Sitzungen vom 4., 11. und 19. April 1863. Rütli-Sitzung vom 19. Dezember 1868. Rütli-Sitzung vom 16. Juli 1864 oder auch die Sitzung vom 2. Januar 1867 anlässlich eines Besuches von Paul Heyse in der Stadt. Rütli-Sitzung vom 30. Oktober 1869.
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literarischen Verhältnisse und Vereinigungen, ausgehend vom Tunnel“27, oder nahm sich, schon weil Mitrütlione Eggers dort 1868 zehn Vorträge hielt, die Statuten des Vereins der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen vor. Dieser Verein residierte im Friedrich-WilhelmsGymnasium in der Kochstraße, einem der führenden Gymnasien Preußens.28 Kein Zweifel: Der Diskurs-Shake, den man mixte, war hauptstädtisch angesetzt, und welche Zutaten man auch beigab, das Berlinische schmeckte durch.
Debatten über Stadt-Projekte Das Berlin, dem Fontane im Rütli begegnete, glich den Straßen, Bauten und Plätzen, in denen er heimisch war. Diese städtische Realität unterwarf sich nicht den Diskursen, die ihm gewidmet waren, aber sie blieb auch nicht unberührt von ihnen. Fontane erlebte die urbane Wirklichkeit als eine gestaltende und zu gestaltende Kraft, real wie geistig. Die Personen, von denen er im Kreis umgeben war, veränderten das Gesicht der Stadt oder doch einige ihrer Züge. Mit dem Wandel der Stadt wandelte sich auch die Rede, die man führte, selbst dann, wenn ihr Gegenstand nicht Berlin war. Schematisierend formuliert: Rütlionen projektierten und bauten Häuser in Berlin und ließen das Rütli darüber debattieren. Rütlionen hatten Teil an der Präsentation Berlins im öffentlichen Leben und probten im Rütli das Wie. Und Rütlionen verkörperten das intellektuelle Berlin und testeten im Rütli dessen diskursive Belastbarkeit. Das will in Stichproben unter die Brennschärfe genommen werden. 1. Berliner Architektur im Rütli – Richard Lucae: Lucae, der Fontane auf seinen frühesten märkischen Wanderungen begleitete, bestimmte über anderthalb Jahrzehnte den Berliner Architektur-Diskurs im Zirkel. Begegnung und Umgang mit ihm waren Fontane nicht nur ein geselliges Vergnügen – Lucae galt als vorzüglicher Erzähler –, sondern ein Lehrstück für das Zusammenwirken von Architektur, Baupraxis und -politik. Seit 1855, also gerade 26-jährig, im Rütli, legte Lucae den Freunden sowohl seine Bauvorhaben als auch seine Aufsätze und Reden vor. So wurde 1861 ausgiebig über das Projekt eines Künstlerhauses in Berlin verhandelt,29 skizzierte er seine aktuellen Bauvorhaben in der Stadt (1866),30 stellte seinen Aufsatz „über den Stÿl in der Kunst und dem Kunstgewerbe“31 vor, gleichfalls seine Reden über Schinkel oder die Nutzung von Eisenkonstruktionen bei öffentlichen Bauten
27 Rütli-Sitzung vom 12. Oktober 1867, in: Eggers: „Wochenzettel“, AHSR, NL Eggers, Sign. 1.4.7.38 (1867) Bl. 119. 28 Rütli-Sitzung vom 13. Februar 1868, in: Eggers: „Wochenzettel“, AHSR, NL Eggers, Sign. 1.4.7.38 (1868) Bl. 20. 29 Eggers: „Wochenzettel“, AHSR, NL Eggers, Sign. 1.4.7.37 (1864) Bl. 6. Dieses Vorhaben zog sich als Rütli-Thema bis in das Jahr 1864. Der Plan wurde nicht realisiert. 30 Rütli-Sitzung vom 7. Juli 1866, in: Eggers: „Wochenzettel“, AHSR, NL Eggers, Sign. 1.4.7.37 (1866) Bl. 64 u. 65. 31 Rütli-Sitzung vom 21. November 1863, in: Eggers, „Wochenzettel“, AHSR, NL Eggers, Sign. 1.4.7.36 Bl. 187.
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(Vortrag im Architektur-Verein)32 sowie (viel debattiert) Über die Poesie des Raumes in der Baukunst.33 Als er diese Rede in der Singakademie am 13. Februar 1869 hielt, saßen die Rütlionen unter den Zuhörenden und durften sich als ungenannte Mitautoren empfinden. Möglicherweise hatten sie Anteil daran, dass aus der Poesie die Macht des Raumes geworden war, und möglicherweise auch an der Essenz, mit der Lucae seinen Vortrag beschloss: […] der Maaßstab in der Baukunst ist nur das zu unserem Bewußtsein gekommene räumliche Verhältniß unserer äußeren Person zu unserem Geist. In den Räumen unseres täglichen Lebens wollen wir, daß Geist und Körper sich ihrer Umgebung gegenüber conform fühlen, aber da, wo wir den Geist in uns feiern wollen, da drängt es uns, in einem Raume von weit übermenschlichem Maaße an unserem kleinen vergänglichen Ich die Größe unseres unvergänglichen Geistes zu messen.34 Lucae gehörte der prominenten Jury zum staatstragenden Wettbewerbsprojekt ‚Reichstagsgebäude 1871/72‘ an und war zuvor schon Juror der Kommission gewesen, die über die 1868 vom preußischen König ausgeschriebene Konkurrenz zum Bau des Berliner Doms befinden sollte.35 Das Rütli ließ sich nicht nur über diese Jurorenschaft unterrichten, es verfolgte auch kommentierend die eindrucksvolle Bautätigkeit Lucaes: von seinem Wohnhaus in der Viktoriastraße 17 bzw. 31 über eine Reihe weiterer Berliner Villen (u. a. die Villa des Mitrütlionen August von Heyden 1873 und das Palais Borsig, Voßstraße, 1875– 78)36 bis hin zu den Plänen zu einer neuen Gewerbeakademie,37 zum Umbau des Gebäudes der Bauakademie38 1874/75 und den Entwürfen für die Technische Hochschule in Charlottenburg 1876/77. Nimmt man dann noch Lucaes Kontakte zum Kriegs-, Kultus- und Handelsministerium39 hinzu, bekommt man den mustergültigen Begriff eines personifizierten Berlins im Rütli. Lucae40 stand auch im Hintergrund, als das Rütli den wohlgemeinten, aber schlecht geratenen Versuch unternahm, Fontane 1876 als 1. Sekretär in der Akademie der 32 Rütli-Sitzung vom 13. November u. 11. Dezember 1869, in: Eggers, „Wochenzettel“, AHSR, NL Eggers, Sign. 1.4.7.38 (1869) Bl. 194 u. ebd., AHSR, NL Eggers, Sign. 1.4.7.38 (1869) Bl. 210. 33 Rütli-Sitzung vom 24. Oktober 1868, in: Eggers: „Wochenzettel“, AHSR, NL Eggers, Sign. 1.4.7.38 (1868) Bl. 92. 34 Richard Lucae: Ueber die Macht des Raumes in der Baukunst, in: Zeitschrift für Bauwesen 19, 1869, S. 306. 35 Rütli-Sitzung vom 6. Februar 1869, in: Eggers: „Wochenzettel“, AHSR, NL Eggers, Sign. 1.4.7.38 (1869) Bl. 12 − keiner der von 51 Architekten eingereichten 53 Entwürfe wurde für gut befunden, so dass es zu einer weiteren Unterbrechung des Projektes kam. 36 Vgl. hierzu Elisabeth Strohmeyer: Die Wohnbauten Richard Lucaes. Ein Beitrag zur Baugeschichte des 19. Jahrhunderts, Würzburg-Aumühle 1941. 37 Rütli-Sitzung vom 20. Mai 1871, in: Eggers: „Wochenzettel“, AHSR, NL Eggers, Sign. 1.4.7.39 (1871) Bl. 73. 38 Lucae stand seit 1872 dieser Institution als Direktor vor. 39 Rütli-Sitzung vom 23. Dezember 1871, in: Eggers: „Wochenzettel“, AHSR, NL Eggers, Sign. 1.4.7.39 (1871) Bl. 187. 40 Neben ihm wirkten im Hintergrund auch die Rütlionen Karl Zöllner, August von Heyden und eventuell sogar Adolph Menzel mit.
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Künste zu installieren. Das minderte indes nichts an dem Tatbestand, dass ihm Lucae, den persönlichen Verkehr eingeschlossen, eine Verkörperung des sich modernisierenden Berlins war, die zu studieren ihm das Rütli ausgiebig gewährte. Am 9. Oktober 1869 verließen Fontane und Lucae zusammen das Rütli, um das Gespräch auf dem Heimweg fortzusetzen.41 Es wird nicht das einzige Mal gewesen sein. 2. Künstlerische und kunstpolitische Berlin-Unternehmungen des Rütli: Unter den sporadischen Bemühungen, sich kollektiv in die Kultur-, Kunst- und Baugeschichte Berlins einzuschreiben, kommt einem Ereignis ein besonderer Stellenwert zu – der Mitgestaltung der Siegesstraße Unter den Linden am 16. Juni 1871 nach dem gewonnenen Krieg über Frankreich. Sichtbarer konnte der Einschnitt zwischen alter Hauptstadt und neuer Metropole kaum sein. Waren am 8. April 1871 Lucae und Friedrich Eggers von Lazarus „in ein großes Comité von Schriftstellern für ein RiesenFriedenfest“42 gekürt worden, so diktierte die Sitzung am 27. Mai 1871 ein einziger Programmpunkt: die Ausgestaltung der Siegesstraße für den Festumzug. Fontane war mit von der Partie, allerdings fanden seine geschmiedeten Verse Moltke und Bismarck, die unter von Menzel gemalten Bildern am Akademiegebäude Unter den Linden43 prangen sollten, keine Berücksichtigung.44 Dennoch war er Teil dieses ‚vaterländischen‘ Engagements, das ganz Berlin in ein nationales Zeichen verwandelte, und beteiligte sich an der Redaktion der Inschriften, die den Verein bis in den Herbst beschäftigte. „Wir siegesstraßen“,45 notierte Chronist Eggers wiederholt. Dieser patriotische Berlin-Dienst blieb kein singulärer Akt. Eskortiert wurde er von einer Rede, die Friedrich Eggers – zurechtgeschmolzen über rütlionischem Feuer – anlässlich der Enthüllung des von Reinhold Begas geschaffenen Schiller-Denkmals vor dem Berliner Schauspielhaus auf dem Gendarmenmarkt im November 1871 zu halten übernommen hatte. Aber auch Menzels letztes Historienbild Abreise König Wilhelms I. zur Armee am 31. Juli 1871 ließe sich dem zuschlagen, ganz so wie sein Blatt, das er wenige Jahre zuvor, Anfang 1867,
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Theodor Fontane an Emilie Fontane, 10. Oktober 1869, in: Theodor Fontane an Emilie Fontane, 20. September 1859, in: Emilie und Theodor Fontane: Geliebte Ungeduld. Der Ehebriefwechsel 1857–1871. Bd. 2. Hrsg. v. Gotthard Erler unter Mitarbeit von Therese Erler, Berlin 1998 (im Folgenden: EBW 2), S. 405. Eggers: „Wochenzettel“, AHSR, NL Eggers, Sign. 1.4.7.39 (1871) Bl. 52. Heute ist der Bau Teil des Hauptgebäudes der Humboldt-Universität zu Berlin (Ecke Unter den Linden/Universitätsstraße). Vgl. Theodor Fontane: Gedichte. 3 Bde. Bd. 3: Gelegenheitsgedichte aus dem Nachlaß, Hamlet-Übersetzungen, Dramenfragmente. Hrsg. v. Joachim Krueger und Anita Golz, Berlin 1995, S. 211 (und Kommentar S. 523/524). Ganz anders reüssierte Fontane mit seinem Gedicht Einzug (16. Juni 1871), das in mehreren Tageszeitungen zum Abdruck kam. Fontane war vom 9. April bis Mitte Mai 1871 noch einmal nach Frankreich gereist, um nach seiner dramatischen Reise Herbst 1870, die zu seiner zeitweiligen Gefangenschaft geführt hatte, erneut und gründlich die Kriegsschauplätze in Augenschein zu nehmen. Rütli-Sitzung vom 8. Juli 1871, in: Eggers, „Wochenzettel“, AHSR, NL Eggers, Sign. 1.4.7.39 (1871) Bl. 88.
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für die Stadt Berlin als Geschenk an den preußischen König angefertigt hatte46 und zuvor im Rütli debattieren ließ: „Der Alte“, heißt es in Eggers Wochenzettel, „hatte sich beim Einzug im Thor eine Abschrift von der Strophe unseres Cook [Christian Friedrich Scherenberg, R.B.] ausgebeten, welche die sprechende weiße Jungfrau sagte. Diese Abschrift wird wie eine halbe Stubenthür groß von Menzel geleistet, der ganze Einzug ist dabei zwischen den Buchstaben gemalt. Das Blatt liegt in einem Kasten der mit dunkelbraunen Sammet überzogen ist, reich mit Silber beschlagen. Und dieser Kasten in einem prachtvollen Futteral, welches auch eine Hülle verdiente“.47 3. Das Rütli als Simulationsraum diskursiven Verhaltens im geistig-politisch-kulturellen Berlin: Eggers Wochenzettel dokumentieren diesen Status des Vereins anschaulich. Berichtet wird von gemeinsamen Besuchen samt nachträglicher kritischer Begutachtung der Berliner Kunstausstellungen, über die Fontane in der Vossischen Zeitung zu referieren hatte. Regelmäßig wurde „politisirt“48 – „Scharfer Kampf zwischen Nöhl [Fontane, R. B.] und Maler Müller [von Blomberg]“, heißt es nach der Sitzung vom 26. Mai 1866, „Nöhl wieder tröstlich wankend, schwankend und unklar“49 – und intern der argumentative Schlagabtausch geprobt, mit dem extern zu rechnen war. Als am 17. September 1870, ausgelöst durch Julian Schmidts Artikel Wider den Cancan, eine Debatte über Victor Hugo vom Zaun gebrochen wurde, probte Fontane die Parteinahme für den Franzosen. Hugo, der am 5. September 187050 aus dem Exil nach Paris zurück gekehrt war, hatte angesichts der Pariser Armeeparade am 13. September zur inneren Einheit aller Franzosen gegen den äußeren Feind auf- und dabei ausgerufen: „Der Sieg gehört Preußen, die Gloire Frankreich“.51 Und während Fontane im Rütli stritt und, wie Eggers notierte, „von allen Seiten zugedeckt“52 wurde, bezog sein Berliner Journalistenkollege und erfolgreicher Konkurrent Ludwig Pietsch, unterwegs mit den deutsch-preußischen Truppen, kurz vor Paris Quartier und las an der Fassade des Präfektengebäudes „die neu aufgemalte Inschrift: ‚Republique française.
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Das Blatt trägt den Titel Willkommensadresse des Magistrats von Berlin an König Wilhelm I. beim Truppeneinzug 1866. Die Strophe Scherenbergs hatte Menzel „nicht etwa in einem mittleren Feld untergebracht, sondern über das ganze Blatt verteilt, in unterschiedlichen Schriften und unterschiedlich ‚motiviert‘ “ (Claude Keisch an R.B., 4. September 2009 [Mail]). Es ist verschollen und nur in Abbildungen überliefert. Vgl. Christina Grummt: Adolph Menzel zwischen Kunst und Konvention. Die Allegorie in der Adressenkunst des 19. Jahrhunderts, Berlin 2001. Rütli-Sitzung vom 12. Januar 1867, in: Eggers: „Wochenzettel“, AHSR, NL Eggers, Sign. 1.4.7.38 (1867) Bl. 5. Rütli-Sitzung vom 17. September 1859. Vgl. EBW 2, S. 177 und Fontanes Tagebuch-Eintrag vom 30. April 1881, in: Theodor Fontane: Tagebücher. 1866–1882. 1884–1898. Hrsg. v. Gotthard Erler unter Mitarbeit von Therese Erler, Berlin 1994 (im Folgenden: TB), S. 112. Eggers: „Wochenzettel“, AHSR, NL Eggers, Sign. 1.4.7.37 (1866) Bl. 53. Am 4. September 1870 war die französische Republik ausgerufen worden. Nachhaltige Wirkung erzielte Hugos zur selben Zeit geäußerter und viel zitierter Satz: „Ce n’est pas vrai La France n’est pas morte“. Eggers: „Wochenzettel“, AHSR, NL Eggers, Sign. 1.4.7.39 (1870) Bl. 222.
DAS KÖNIGLICH-KAISERLICHE BERLIN DES RÜTLIONEN THEODOR FONTANE
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Liberté, Egalité, Fraternité‘“.53 Konkurrierendes Agieren innerhalb der Berliner Journalistik geriet in das Debattierflechtwerk des Rütli, polarisierte und führte am Ende zu einem rütlionischen Schulterschluss: Pietschs Berichterstattung wurde, nicht nur zu Eggers’ Befriedigung, „weitgehend einhellig verurteilt“.54 Das hinderte den Verein nicht, der eben noch das offizielle politische Berlin aktiviert hatte, um den in Kriegsgefangenschaft geratenen Fontane herauszupauken, im März 1871 gegen die zu privaten, unpatriotischen Schlusssätze in dessen Erlebnisbericht Kriegsgefangen zu polemisieren.55 Die Rütlionen übernahmen einmal mehr die Rolle von Sparringspartnern und trugen, vielleicht sogar maßgeblich, zu Fontanes Fitness im medialen Raum Berlin bei. Den vielleicht nachhaltigsten Effekt simulativen Diskurstrainings auf Fontane bewirkte Moritz Lazarus. Lazarus fiel aus dem Rütli-Rahmen. Seine Fachdisziplin, die von ihm entwickelte Völkerpsychologie, hatte nichts mit Kunst, Kunstgeschichte oder Literatur zu tun, und – er war Jude. Die Themen, die er mit dem Kreis debattierte, sprengten dessen ursprüngliche Grenzen: Am 22. Februar 1862 etwa referierte er „über die Schwelle des Bewußtseins“,56 am 9. März 1867 mutete er dem Verein eine Lektion Nationalökonomie zu,57 und am 27. Juni 1868 endlich stellte er dem Kreis eine Aufgabe: ‚Angler auf einem Schiffe, das von Stapel auf Odessa geht, fangen – und zwar der Schiffskoch – einen großen Schwerdtfisch. Und als der Koch den Fisch zertheilt, findet sich ein türkischer Briefbeutel darin mit 30 Briefen. Der Capitän nimmt sie an sich und bestellt sie.‘ Diese Geschichte soll poetisch bearbeitet werden, so, daß überall an die Stelle des Zufalls die ethische Nothwendigkeit tritt.58 Lazarus’ Hand lag schwer auf dem Ruder des Rütli. Mit Leibniz, wie die Freundesrunde ihr durchaus prominentes Mitglied nannte, war ein besonderes Berlin hier präsent – das jüdische. Das Rütli ließ durch ihn 1866 beispielsweise eine Sammlung hebräischer Poesie begutachten,59 es zeigte sich am 2. Oktober 1869 aufgeschlossen, einem Bericht über die in Leipzig stattgefundene jüdische Synode60 zu folgen, und war interessiert genug, ihn am 16. Oktober 1869 von einer Berliner „Judenversammlung“ referieren zu lassen.61 Ja, mehr noch: Am 29. Dezember 1869 kam es zum Verlesen der Schlussrede der jüdischen Synode, die immerhin ihr erster Präsident gehalten hatte und „deren Gegenstand die Anpassung der 53 Zitiert nach Ludwig Pietsch: Von Berlin bis Paris. Kriegsbilder (1870–1871), Berlin 1905, S. 101. 54 Rütli-Sitzung vom 30. Dezember 1870, in: Eggers, „Wochenzettel“, AHSR, NL Eggers, Sign. 1.4.7.39 (1870) Bl. 301. Dass diese „große Debatte über Ludwig Pietsch“ ausgerechnet in Fontanes Wohnung anlässlich seiner Geburtstagsfeier stattfand, spricht für sich. 55 Rütli-Sitzung vom 25. März 1871, in: Eggers, „Wochenzettel“, AHSR, NL Eggers, Sign. 1.4.7.39 (1871) Bl. 36. 56 Eggers: „Wochenzettel“, AHSR, NL Eggers, Sign. 1.4.7.35 Bl. 35. 57 Ebd., AHSR, NL Eggers, Sign. 1.4.7.38 (1867) Bl. 26. 58 Ebd., AHSR, NL Eggers, Sign. 1.4.7.37 (1868) Bl. 53/54. 59 Ebd., AHSR, NL Eggers, Sign. 1.4.7.37 (1866) Bl. 117/118. 60 Vgl. Theodor Fontane an Emilie Fontane, 3. Oktober 1869, in: EBW 2, 401. 61 Eggers: „Wochenzettel“, AHSR, NL Eggers, Sign. 1.4.7.38 (1869) Bl. 177.
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jüdischen Liturgie an die christliche deutsche Umgebung diskutierte, ohne zu einer Einigung“ gelangt zu sein.62 Dieser Präsident war niemand anderes als der Vorlesende selbst! Als Lazarus 1887 seine Reden und Vorträge gesammelt veröffentlichte, schrieb er, das Buch gebe „die Signatur der deutschen Judenheit in diesem Zeitalter“. Es berichte „von Ereignissen und Vorgängen in Bezug auf die Stellung der Juden und von den Gedanken und Stimmungen, die dadurch erzeugt wurden“.63 Bedenkt man, dass ein latenter, wenn nicht zuweilen offener Antijudaismus im Rütli auf beklemmende Weise salonfähig war,64 und bedenkt man weiter, dass in Berlin zehn Jahre später eine Antisemitismuskampagne entfesselt wurde, in der sich Lazarus öffentlich gegen Heinrich von Treitschkes ‚Die Juden sind unser Unglück‘ stellte, bekommt man einen Begriff vom Spannungspotential im Rütli. Gleichzeitig bestätigt der Umstand, dass kein diesbezüglicher Eklat überliefert ist, die vermittelnde Kraft, die dem Verein innewohnte.
Das Berlin des Rütli als Fontanes ‚Universität‘ Damit an dieser Stelle genug: Das Rütli als ‚Universität‘ Fontanes hat ihm kein Zertifikat ausgestellt. Das Bedauern, das mitschwang, als er Ende 1893 im Tagebuch notierte: „Der ‚Rütli‘ versammelt sich spärlich und wird immer toter“,65 war echt. Das Ableben der letzten Rütlionen setzte den Verein selbst auf den Sterbeetat. Mit ihm starb ein Teil von Fontanes Berlin. Es war ihm ein Schulungs- und Bildungsraum haupt- und großstädtischen Verhaltens gewesen und gleichzeitig eine Realität, in der die Stadt selbst sich seiner und er sich ihrer annahm. In diesem Raum wurde sie personalisiert und zu einer Bezugsgröße in wechselnder Gestalt. Insofern ist der Eingangssatz, Fontanes Berlin sei nicht mehr zu entdecken, vielleicht doch zu korrigieren. Denn die Geschichte des Rütli als eine Berlin-Geschichte Fontanes ist noch ungeschrieben. An Material, dieser These die Ausführung zur Seite zu stellen, wir sahen es, fehlt es nicht.
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Ebd., AHSR, NL Eggers, Sign. 1.4.7.38 (1869) Bl. 230. Moritz Lazarus: Treu und Frei. Gesammelte Reden und Vorträge über Juden und Judenthum, Leipzig 1887, S. [III]/IV. Der Sammelband wird mit der Rede zum Schluß der ersten israelitischen Synode zu Leipzig am 4. Juli 1869 eröffnet (S. 1–15). Dr. Löw aus Szegedin dankte Lazarus nach seiner Rede: „Ihnen haben wir es wesentlich zu verdanken, daß die erste Synodalversammlung die Taube Noahs geworden ist; die Protokolle, sie werden das Oelblatt sein, das der jüdischen Welt die Kunde bringen wird, daß nunmehr die Zeit gekommen ist, wo jüdische Theologen mit Nichttheologen über religiöse Fragen auf eine gedeihliche Welt berathen und über diese Fragen auf gedeihliche Weise auch Beschlüsse fassen können.“ (S. 16/17). Die starke Rolle von Juden im öffentlichen Leben beschäftigte den Zirkel wiederholt, allerdings wahrte man Grenzen. Als beispielsweise am 6. April 1872 über die soziale Frage und die anhaltende Wohnungsnot diskutiert wurde, blieb Friedrich Eggers mit seiner Meinung, man müsse alle „Häuserjuden“ totschlagen, allein. In: Eggers: „Wochenzettel“, AHSR Sign. 1.4.7.39 (1870) Bl. 34. TB 2, 260.
BERND SÖSEMANN
Berlin im Kaiserreich Stadt großer Zeitungen und Verleger
Leopold Ullstein, Rudolf Mosse und August Scherl begründeten den Ruf des Berliner Zeitungsviertels rundum die Kochstraße. Kürzlich hat Conrad Wiedemann im Tagesspiegel für den Erhalt des Namens ‚Kochstraße‘ auf Desiderata der lokalen Pressegeschichte hingewiesen und die populäre, aber fehlerhafte Darstellung des flotten Schreibers Peter de Mendelssohn gelobt. Ihm ist nachdrücklich zuzustimmen, wenn er von einer „rätselhaften öffentlichen Gleichgültigkeit“ gegenüber der Zeitungsgeschichte in Berlin spricht.1 Die Freie Universität besetzt ihren 1985 eingerichteten Lehrstuhl für Geschichte der öffentlichen Kommunikation in der Neuzeit nicht wieder, und das Berliner Museum für Kommunikation kann sich der Presse bestenfalls am Rande widmen. Alljährlich verweist wenigstens der Bundesverband der deutschen Zeitungsverleger, mit der Festveranstaltung zur Verleihung seines renommierten Theodor-Wolff-Preises auf die beeindruckende pressegeschichtliche Vergangenheit der heutigen Bundeshauptstadt und des renommierten Berliner Tageblatts.2 Die neuere Presseforschung hat zu Recht darauf verwiesen, dass mit dem Etikett ‚Zeitungsstadt Berlin‘ differenzierter zu verfahren sei als in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur von Sonntagsrednern geschehen. Nimmt man nicht allein das Kaiserreich und die Weimarer Republik in den Blick, dann konkurrieren zumindest Hamburg und auch Leipzig mit Berlin. Jenseits aller regionalen oder auch urbanen Eitelkeiten ist festzuhalten, dass nach 1871 nahezu alle Parteipolitiker und Verbandsfunktionäre die Erwartung hatten, Berlin habe das Potenzial, zu der Zeitungsstadt des jungen Deutschen Reiches heranzuwachsen. Folgt man der sechsten Auflage von Meyers Großem Konversations-Lexikon, dann hatte Berlin 1 2
Conrad Wiedemann: Heißes Pflaster, in: Der Tagesspiegel, Berlin, 4. 10. 2009, Beilage, S. 26. Einen ersten Überblick vermittelt die Skizze von Thomas Löffelholz (Über den Tag hinaus. Der Journalistenpreis der deutschen Zeitungen. Theodor-Wolff-Preis, in den Jahresbänden zu den Preisträgern, Berlin 2009, S. 7–19), der dort ebenfalls abgedruckte Beitrag von Bernd Sösemann („. . . so schwebt über jeder Wahrheit noch ein letztes Vielleicht“. Zum Leben und Werk von Theodor Wolff, in: Löffelholz: Über den Tag hinaus, S. 21–39) sowie der anlässlich der Ausstellung im Berliner Jüdischen Museum (2009/10) erschienene Begleitband: „Ich will mir gern die Finger verbrennen“. Der Journalist Theodor Wolff, Berlin 2009.
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schon bis zur Jahrhundertwende einen „fast beispiellosen Aufstieg“ zu einer Großstadt europäischen Ranges hinter sich und konnte in der Industrie einen „gewaltige[n] Aufschwung“ verzeichnen.3 In einem halben Jahrhundert hatte sich die Einwohnerzahl mit 1,9 Millionen mehr als vervierfacht.4 Die Stadt war führend geworden in der Metall-, Papier- und Lederverarbeitung, in der chemischen und Elektroindustrie sowie im Maschinen- und Instrumentenbau. Die sukzessive Einrichtung der Reichsbehörden hatte die Sektoren Dienstleistung, Verwaltung verstärkt und Berlins Attraktivität als Hauptsitz von Forschungsinstitutionen und Banken erhöht. Die Stadt stellte die begehrte letzte Stufe einer Gelehrten-, Dienstbeziehungsweise Amtskarriere dar. Doch im europäischen Rahmen war der Spätkommer unter den Millionenstädten flächenmäßig relativ klein, stand nicht allein im Ausbau seines Verkehrsnetzes, sondern infrastrukturell insgesamt zurück und konnte nicht überproportional mit Industrieunternehmen aufwarten. In ihrem unzweifelhaft vorhandenen Aufbruchswillen war die Stadt in einzelnen Bereichen durch administrative Restriktionen gefesselt. Auf der Ebene von Investitions- und baupolizeilichen Beschränkungen zeigte sich das Manko deutlich, denn die Architekten hemmte nicht zuletzt das Votum des Monarchen, dass kein Profanbau die Schlosskuppel überragen dürfe. Unter den Einwohnern mochten sich zwar nicht wenige wie Bürger von London oder Paris fühlen, doch diese beiden urbanen Konkurrentinnen zählten eine weit mehr als doppelt so große Bevölkerung, verfügten über Ring-, Zentral- oder U-Bahn-Linien und hatten längst die Pferdebahnen von ihren Boulevards verbannt und durch Straßenbahnen ersetzt. Doch in keinem europäischen Land gab es zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts eine größere Anzahl an Zeitungen als im deutschen Kaiserreich. Neben mehr als sechstausend kleinen und mittleren Publikationsorganen berichteten rund einhundert Massenblätter in überdurchschnittlich hohen Auflagen und einige wenige berühmte Tageszeitungen wie die Allgemeine Zeitung aus Augsburg, die Frankfurter Zeitung und Handelsblatt, die Norddeutsche Allgemeine Zeitung, die Vossische Zeitung oder das Berliner Tageblatt in bescheideneren Umfängen. Sie erreichten ihre Leser mit bis zu vier Ausgaben täglich. Der Konkurrenzkampf auf dem Berliner Zeitungsmarkt verlief hart, anhaltend und heftig, oftmals turbulent und für etliche Verleger nach kürzerem oder längerem Engagement ruinös, aber er wirkte langfristig lebendig und bunt, war anregend und innovativ. Ein genauer Überblick ist schwer zu erhalten, denn den Statistiken der Unternehmen jener Zeit kann man nur begrenzt vertrauen, weil sie, ebenso wie die Angaben der Werbung treibenden Wirtschaft, von den jeweiligen Interessen beeinflusst worden sind. In den firmeneigenen Übersichten tauchten die Druckauflagen als verkaufte Bestände auf, um den Anzeigenpreis mit dem Hinweis auf eine außerordentlich weite Verbreitung anheben zu können; die Anzeigen schaltende Industrie ver3 4
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 2 (zweiter Nachdruck), Leipzig 1909, S. 692–704. Einzelnachweise in Werner Süss, Ralf Rytlewski (Hrsg.): Berlin. Die Hauptstadt. Vergangenheit und Zukunft einer europäischen Metropole, Berlin 1999; zu den Entwicklungen rund um die Jahrhundertwende vgl. Bernd Sösemann: Exerzierfeld und Labor deutscher Geschichte. Berlin im Wandel der deutschen und europäischen Politik zwischen 1848 und 1933, in: Süss, Rytlewski (Hrsg.): Berlin (wie Anm. 4), S. 100–120.
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suchte dagegen mit niedrigen Zählergebnissen Rabatte zu erreichen. Nicht einmal die genaue Zahl der Publikationsorgane lässt sich in den Akten oder offiziellen Publikationen feststellen, da es je nach Motivlage günstig war, den selbstständigen Redaktionen noch die unbedeutenderen Neben- und Teilausgaben hinzuzurechnen oder sogar fiktive Verbreitungsgebiete zu konstruieren. Eine unzweifelhafte Abgrenzung zwischen Wochenblättern, Zeitschriften und den Zeitungen ist ebenfalls nicht möglich, weil selbst ‚Tageszeitungen‘ nicht täglich, sondern nur ein- oder zweimal wöchentlich oder unregelmäßig erschienen. Durch diese Hinweise abgesichert, kann von einer Anzahl von rund knapp eintausendeinhundert Blättern an der Spree ausgegangen werden – darunter befanden sich dreißig „politische“ Organe.5 Die Zahlenangabe betrifft sämtliche Zeitungen im sogenannten Großraum Berlins um 1900, denn der gesetzliche Zusammenschluss der acht Städte, 59 Landgemeinden und 27 Gutsbezirke zu einem ‚Groß-Berlin‘ gelang erst 1920. Das journalistische Geschehen in dieser modernsten deutschen Nachrichtenmetropole bestimmten um 1900 die drei großen Unternehmerfamilien Mosse, Ullstein und Scherl. Dem Verleger August Hugo Friedrich Scherl (1849–1921) war es erst nach Umwegen gelungen, die offene Handelsgesellschaft Heribert Kurth & Comp. (1883) und mit ihr seine erste Tageszeitung zu gründen. In Berlin hatte er seine hoffnungsfroh begonnene, ihm aber bald als wenig aussichtsreich erscheinende Laufbahn im väterlichen Zeitschriften- und Kolportage-Buchverlag Möser & Scherl nach wenigen Jahren beendet (1875), ohne jedoch anschließend mit seinen neuen, völlig anderen Unternehmungen, mit einer Rollschuhbahn und einem Bühnenhaus in Düsseldorf und Frankfurt am Main, reüssieren zu können. Scherls Rückkehr nach Berlin brachte nicht sogleich, aber dann im zweiten Anlauf, den erstrebten unternehmerischen Gewinn in der Tagespublizistik. Seine Motive und Intentionen hat der Verleger am 4. November 1883, in der ersten Ausgabe seines Berliner LokalAnzeigers, dargelegt: Unser Zweck und unsere Ziele. [...] Wir werden zunächst bestrebt sein, […] die Ereignisse der Woche kurz zu rekapituliren, jeder politischen Sonderstellung fern […] – mit einem Worte, auf dem lauten Markt des residenzlichen Lebens, redaktionellen Geist und Herz beschäftigen. […] Unser redaktionelles Bemühen […] soll aber nicht etwa als ein leckeres Mahl für den verwöhnten Geschmack anspruchsvoller Leser servirt werden! Es soll eine solide Hausmannskost, schmackhaft bereitet und geschmackvoll aufgetra-
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Um die Jahrhundertwende zählt der Meyer zu den bedeutendsten Blättern die folgenden: Vossische Zeitung, Berliner Tageblatt, Berliner Zeitung, Berliner Morgenzeitung, Berliner Morgenpost, Berliner Abendpost, Berliner Börsenkurier, Berliner Börsenzeitung, Freisinnige Zeitung, Volkszeitung, Staatsbürgerzeitung, Berliner Lokalanzeiger, Der Tag, Tägliche Rundschau, Vorwärts, Neue Preussische (Kreuz-)Zeitung, Reichsbote, Deutsche Tageszeitung, Die Post, Norddeutsche Allgemeine Zeitung, Deutscher Reichs- und königlich Preußischer Staatsanzeiger, Nationalzeitung, Germania, Berliner Neueste Nachrichten, Kleines Journal und das Korrespondenzblatt Berliner Politische Nachrichten. Meyers Großes KonversationsLexikon (wie Anm. 3), S. 699.
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gen, werden! […] Es ist unser kühner und weitaussehender Plan, […] ein solider und ausnahmslos jeder Frage begegnender Wegweiser zu seyn.6 Scherl erzielte mit seinem Berliner Lokal-Anzeiger, dem jüngsten Produkt der journalistischen Familie, dem Generalanzeiger,7 den größten publizistischen und unternehmerischen Erfolg. Der neue Pressetyp konnte entstehen, weil die Papierpreise von 1870 bis 1900 bis auf ein Viertel gesunken, schnelle Setzmaschinen und der kostengünstige Rotationsdruck erfunden worden waren.8 Diese Umstände und die sich auch in den ländlichen Regionen deutlich verbessernden Verkehrsverhältnisse gestatteten es, mit geringerem Personal und Kosten eine höhere Auflage in kürzerer Produktionszeit als bisher zu drucken und zu verbreiten. Die Verlage drückten die Herstellungspreise zusätzlich durch umfangreiche Werbeseiten, eine intensive Anzeigenakquisition, auffällige Reklame, ungewöhnliche bis aggressive Werbemethoden und bislang unbekannte Koppelungsgeschäfte der unterschiedlichsten Art. In den Eisenbahnen lagen kostenlose Generalanzeiger-Zeitungen aus, in den Straßen erhielten die Passanten Frei-Abonnements, und in geschäftlicher Kooperation mit Versicherungsagenturen erprobten die Verleger erfolgreich den Verbund mit Versicherungspolicen. Am stärksten zeigte sich die schnell und keinesfalls allein in den unteren Bevölkerungsschichten wachsende Leserschaft über die redaktionelle Behauptung beeindruckt, sie alle seien in der Informationsbeschaffung frei und dem Nachrichtenangebot „unabhängig“, weil sie finanziell stark und effizient arbeiteten, „vaterländisch“ dächten und sich somit ausschließlich „nationalen Interessen“ verpflichtet fühlten. Den Anzeigenkunden versicherten sie gleichzeitig, sie seien weltanschaulich neutral und „unpolitisch“, denn sie hielten im Gegensatz zur „Gesinnungspresse“ Distanz zu den Parteien. Die direkte Abhängigkeit von Groß-Inserenten und die indirekte von den wirtschaftlichen und politischen Interessen blieb dem kritischen Publikum zwar bereits damals nicht verborgen, jedoch beeinträchtigte diese Erkenntnis – um die Jahrhundertwende gab es Gewinnspannen von rund 25 % – die Geschäfte nicht wesentlich. Scherl modernisierte das Verlagswesen nicht allein auf publizistischer, sondern auch auf technischer Ebene. Als erster deutscher Zeitungsverleger kombinierte er die Mitte der siebziger Jahre erfundene Linotype-Setzmaschine mit der schnell laufenden und wenig störungsanfälligen Rotationsmaschine. Seit 1885 erschien sein bislang nur wöchentlich gedruckter Berliner Lokal-Anzeiger täglich, nach vier Jahren sogar zweimal am Tag in wachsender Auf-
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Hans Erman, August Scherl: Dämon und Erfolg in Wilhelminischer Zeit, Berlin 1954, S. 78/79. Dazu Hans-Wolfgang Wolter: Generalanzeiger. Das pragmatische Prinzip. Zur Entwicklungsgeschichte und Typologie des Pressewesens im späten 19. Jahrhundert mit einer Studie über die Zeitungsunternehmen Wilhelm Girardets (1838–1918), Bochum 1981 (= Bochumer Studien zur Publizistik- und Kommunikationswissenschaft 31). Hier und im Folgenden nach Bernd Sösemann: Die Presse ist der „Dampfwagen der Gedanken“. Verleger und Journalisten im Wandel von Öffentlichkeit und Politik in der Ära Bismarck, in: Lothar Gall (Hrsg.): Regierung, Parlament und Öffentlichkeit im Zeitalter Bismarck. Politikstile im Wandel, Paderborn 2003 (= Otto-von-Bismarck-Stiftung. Wissenschaftliche Reihe 5), S. 43–89.
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lage.9 1895 brachte Scherl seinen Bestseller auf den Markt, das Berliner Adressbuch. Seine seit 1888 bestehende Berliner Lokal-Anzeiger August Scherl & Comp. publizierte daraufhin eine ganze Serie, weitete das Angebot schnell aus und legte in den folgenden zwei Jahrzehnten Adressbücher für vierzehn weitere Großstädte vor. Um die Jahrhundertwende folgten mit der Illustrierten Die Woche und mit der illustrierten Tageszeitung Der Tag zwei weitere Erfolgsunternehmungen. Die damit erreichte verlegerische und journalistische Spitzenstellung baute Scherl zwischen 1901 und 1905 gegenüber Ullstein und Mosse weiter aus. Es gelang ihm, sich durch Absprachen mit seinem Hauptkonkurrenten Ullstein Auflagenriesen wie Die Gartenlaube,10 Vom Fels zum Meer und die Serie Praktische Wegweiser und lukrative neue Märkte mit Spezialangeboten für Hausbesitzer, Reisende oder Bastler mit Produkten wie dem Allgemeinen Wegweiser für Kleingärtner zu erschließen. Diese Zeitschriften erzielten Verkaufszahlen in den Hunderttausenden, die selbst den inzwischen vom Erfolg reichlich verwöhnten Scherl noch zu beeindrucken vermochten. Im Zeitungsbereich wuchs der Verlag durch den Kauf des Hamburger Correspondenten, der Hamburger Börsenhalle und der Allgemeinen Sportzeitung, der Entwicklung einer Einschienenbahn, eines Prämiensparsystem und einer Leihbibliothek. 1914 verkaufte der Verleger die August Scherl GmbH über einen Bankier an die Reichsregierung. Diese veräußerte sie jedoch alsbald an den Vorsitzenden des Direktoriums der Firma Krupp, Alfred Hugenberg, den Mitbegründer des antisemitischen und chauvinistischen Alldeutschen Verbands, der sie in sein bis heute nicht vollständig zu überschauendes Geflecht von Holdings, Banken und Unterstützungskassen, Buch-, Zeitungs- und Zeitschriften- sowie Film-Produktionen integrierte.11 Die Familie Ullstein ging ihren eigenen, aber nicht weniger erfolgreichen Weg.12 Er führte sie über den Papierhandel in die Verlegerkarriere. Leopold Ullstein (1826–1899), Sohn eines Papiergroßhändlers aus Fürth, hatte 1848 in Berlin ein Papiergroßunternehmen 9 Scherls Generalanzeiger im Vergleich der Auflagen (nach Rudolf Stöber: Deutsche Pressegeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, 2. überarb. Aufl., Konstanz 2005, S. 261, abgeändert): Berliner Lokal-Anzeiger General-Anzeiger für Leipzig und Umgebung General-Anzeiger für Elberfeld-Barmen General-Anzeiger für Hamburg-Altona 10
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1883–1888 150.000 31.000 40.000 46.000
1899–1904 260.000 48.000 60.000 100.000
Im Fünf-Jahresschritt war seit 1860 eine Zunahme von 86.000 Exemplaren auf 130.000 zu verzeichnen, dann auf 270.000, so dass schon 1875/76 die Rekordmarke von 400.000 Exemplaren überschritten wurde. Nach seriöser Schätzung erreichte Die Gartenlaube rund 5 Millionen Leser. Dieter Barth: Zeitschrift für alle. Das Familienblatt im 19. Jahrhundert. Ein sozialhistorischer Beitrag zur Massenpresse in Deutschland, München 1974. Dazu Bernd Sösemann: Macht und Meinung. Die Berliner Pressezaren, in: Manfred Görtemaker (Hrsg.): Weimar in Bildern, Berlin 2002, S. 158–177. Im Folgenden nach Joachim W. Freyburg, Hans Wallenberg (Hrsg.): Festschrift „Hundert Jahre Ullstein“. 4 Bde., Berlin 1977.
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und 1877 die Ullstein & Co. OHG gegründet, das Neue Berliner Tageblatt gekauft, es zur Abendzeitung Deutsche Union umgewandelt und diese ein Jahr später in der Tageszeitung Berliner Zeitung aufgehen lassen. Das Blatt bildete die Grundlage eines Verlagshauses, das nach dem Umzug von der Zimmerstraße in die Kochstraße (1881) zum größten Zeitungsverlag anwachsen sollte. In der ersten der Angebotsreihe der Ullsteins standen die Berliner Abendpost (1887), die BIZ, also die Berliner Illustrirte Zeitung (1894), und besonders die Berliner Morgenpost (1898), die in anderthalb Jahrzehnten ihre hohe Startauflage von 100.000 Exemplaren vervierfachte. Hinzu kam die Berliner Illustrirte Zeitung mit sogar anderthalb Millionen Exemplaren im selben Jahr (1914). Die fünf Söhne Hans, Louis, Franz, Rudolf und Hermann setzten 1899 das verlegerische Werk ihres Vaters mit großem Geschick fort. Eine positiv wirkende Zäsur bildete das Jahr 1921 mit der Entscheidung, das Unternehmen als Aktiengesellschaft weiterzuführen, für die Hans, bislang schon Justitiar des Verlags und Leitartikler der Berliner Zeitung, den Vorsitz im Aufsichtsrat übernahm. Folgte der zeitgenössische Leser den werbenden Anzeigen dieser drei großen Unternehmen, dann ging man in der Wilhelminischen Epoche zumindest in Berlin, auf dem „Exerzierfeld und Labor der Moderne“, herrlichen Zeiten entgegen. Zukünftig wollten die Verleger die Nachrichten noch schneller drucken und verbreiten, die Text- und auch die Bildberichterstattung stark ausweiten und das Korrespondentennetz erheblich ausdehnen. Nicht nur in Berlin, sondern im gesamten deutschen Sprachraum erzielte einer aus dem Verleger-Trio in wenigen Jahren den größten Zugewinn. Dem ehemaligen Buchhandlungsgehilfen Rudolf Mosse (1843–1920) gelang es, in weniger als zwei Jahrzehnten mit einem zu versteuernden Einkommen von knapp drei Millionen Mark zum zweitreichsten Mann im Berlin der Vorkriegszeit aufzusteigen.13 Drei Rittergüter von weit über tausend Hektar kamen im Lauf der Jahre zu seinen Besitztümern ebenso hinzu wie sein prächtiges, reich mit Gemälden, Plastiken und edlem Mobiliar ausgestattetes Palais in der Stadt, das allein einen Wert von zweieinhalb Millionen Mark gehabt haben soll – von den übrigen stattlichen Villen und weitläufigen Gebäudekomplexen in Halensee oder am Kurfürstendamm ganz zu schweigen. Dieser einflussreiche Herrscher über ein riesiges Handels- und Gewerbeunternehmen stammte aus einem kleinen Ort im Osten des Deutschen Reiches. Er war am 8. Mai 1843 in Grätz bei Wollstein, in der preußischen Provinz Posen als eines von vierzehn Kindern geboren worden. Sein Vater Markus war Arzt (1808–1865), die Mutter, Ulrike Wolff (1813–1888), stammte aus einer Kaufmannsfamilie. Der Redakteur und Theaterkritiker des Berliner Tageblatts, Hermann Sinsheimer (1884–1950), schildert ihn als „eine behäbige rundliche Erscheinung, zum Lebensgenuss nicht weniger als zur Arbeit begabt, ein Mann von Blick, Wille und Moral – verliebt ins Bauen in der Stadt und ins Bäuerliche auf dem Lande, der Kunst, wie er sie verstand, ergeben“.14 Sein Gut Schenkendorf bevorzugte er 13
Jetzt zur Großfamilie quellennah und detailliert Elisabeth Kraus: Die Familie Mosse. Deutsch-jüdisches Bürgertum im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999. 14 Dies und alle folgenden Zitate finden sich in Bernd Sösemann: Zeitungen für die Demokratie. Der Verleger Rudolf Mosse und sein Chefredakteur Theodor Wolff, in: Hermann Haarmann u. a. (Hrsg.):
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gegenüber allen anderen Residenzen und Gütern wegen seiner weitläufigen Jagdgebiete. Dort sollte Rudolf Mosse siebenundsiebzigjährig auf einer der vormittäglichen Kutschfahrten ins Jagdrevier, gesund und nur ein wenig fröstelnd in der Augustsonne, sterben. In den Nachrufen auf das Leben und Werk eines „königlichen Kaufmanns“ tritt uns Mosse als ein Mann von unerschütterlicher Zielbewusstheit, genialer Schöpferkraft, kaufmännischem Talent und Instinkt gegenüber. Das prosperierende Berlin hatte Rudolf Mosse angezogen. Nahezu die Hälfte der städtischen Einwohnerschaft bestand damals aus zugewanderten Arbeitskräften. Zu ihnen zählten auch der älteste Bruder von Rudolf Mosse, Salomon, und der unmittelbar vor ihm geborene Theodor Mosse, beide Besitzer des Wäschegeschäfts Gebrüder Mosse, in das sie nach kurzer Zeit noch den jüngeren Bruder Paul aufnahmen. Rudolfs wirtschaftliche Biographie gründete sich auf eine Buchhändlerlehre in Posen, auf Erfahrungen in einer Berliner Verlagsbuchhandlung und auf Kenntnisse, die er im Verlag Rudolf Wagner hatte erwerben können, der die 1848 von dem Komödiendichter David Kalisch gegründete Zeitschrift Kladderadatsch herausgab. Der 22-jährige Mosse erweiterte seinen Horizont doch erst signifikant als Geschäftsführer der Zeitung Der Telegraph in Leipzig und als Annoncen-Akquisiteur für Ernst Keils 1853 geschaffene auflagenmächtige, wegen ihrer Illustrationen beliebte belletristische Familienzeitschrift Die Gartenlaube. Auf seinen Reisen zu den einzelnen Kunden im ganzen deutschsprachigen Raum gewann er ebenso Selbstvertrauen wie durch die Ratschläge seines Vaters, der die Söhne in einer geschickten und wohl eindringlich wirkenden Mischung aus liebevoller Fürsorge und patriarchalischer Strenge brieflich beriet und nicht selten auch ermahnte. Zumeist waren es Appelle an den Familien- und Geschäftssinn, „gutbürgerliche Grundsätze“ oder unmissverständliche Anregungen und Anweisungen bis hin zu solchen Details, dass sie ein Hauptbuch anzulegen hätten, in dem sie alle Einnahmen und Ausgaben „wie jede ordentliche Hausfrau […] ordnungsgemäß“ führen sollten. Rudolf hat den Ansprüchen des Vaters genügen können; er benahm sich in den Augen des Vaters keinesfalls „dabey wie ein Esel”. 1866 pachtete er in toto den Anzeigenteil des Kladderadatsch und wagte es im Januar 1867, also mit vierundzwanzig Jahren, ein neuartiges Unternehmen, die Zeitungs-Annoncen-Expedition Rudolf Mosse in der Berliner Friedrichstraße 60 zu gründen. Das väterliche Tugend-Quartett „Eifer, Biederkeit, Solidität, Sparsamkeit” hat er hier und auch an anderer Stelle bis ins hohe Alter hinein beherzigt und um sein unternehmerisches Quintett ergänzt: Arbeit als Glück, Tatkraft, Marktkenntnis, Wagemut und Innovationsbereitschaft. Als sein Unternehmen 1892 das 25-jährige Jubiläum feierte, deutet Mosse die Grundsätze bzw. Einsichten an, von denen er sich habe leiten lassen. Sie hätten sich vorrangig auf die Erkenntnis gegründet, dass zwar das Zeitungswesen in Deutschland längst eine bedeutende Rolle im Leben des Volkes spiele, das Anzeigenwesen jedoch noch in seinen Kinderschuhen stecke:
Berliner Profile, Berlin 1993, S. 141–160, und in Sösemann: Macht und Meinung (wie Anm. 11), S. 158–177.
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Das Lesebedürfnis war ein größeres geworden, ein jeder, auch der geringste Mann, griff zu seiner Belehrung nach einem Preßerzeugnis. Es konnte daher dem aufmerksamen Beobachter, der die Zeichen der Zeit verstand, nicht entgehen, dass in der Publizistik noch ungehobene Schätze ruhten und es nur an dem rechten Mittler fehlte, diese Schätze der Allgemeinheit zuzuführen. Diesen Motiven verdanke seine Zeitungsannoncen-Expedition ihre Entstehung und ihren anhaltenden Erfolg. Der junge Mosse hat also nicht im Sortimentsbuchhandel die Zukunft gesehen, sondern in der Presse. Er hat damit begonnen, ihren bis zu diesem Zeitpunkt unorganisierten Anzeigenmarkt systematisch zu erschließen, indem er sich eine Einrichtung schuf, die sich der Beziehungen zwischen inserierungsbedürftigem Publikum und der gewinnorientierten Presse widmete und die Interessen auf diesem Feld zu seinem eigenen Nutzen pflegte. Sein originelles Geschäft bestand somit darin, den Anzeigenraum, mit dem er wirtschaften wollte, erst einmal als Ware zu produzieren. Wollte er reüssieren, musste er alles daran setzen, das Inserat von dem ihm strukturell anhaftenden Geruch des Unfeinen zu befreien. Zeitungen und Anzeigenvermittlung standen in seiner Vorstellung so eng nebeneinander und waren direkt aufeinander bezogen, dass ihm die Blätter wie „Inseratenplantagen“ erschienen. Dank seiner modernen Geschäftsprinzipien konnte er schnell außerordentliche Erfolge verbuchen: Er arbeitete zügig, kostengünstig und mit einem wachen Sinn auch in Geschäftsbereichen, die wir heute mit Public Relations oder Öffentlichkeitsarbeit nur unvollkommen bezeichnen. Auf zweihundert Ausstellungen und mit dem Mittel der damals noch unbekannten Gratiswerbung machte er in der Presse und auf der Straße immer wieder nachhaltig auf sich aufmerksam. 1870 beschäftigte er 20 Angestellte, 1892 waren es schon 274; 1917 arbeiteten 1375 Personen in 512 Filialen, deren Netz sich von Breslau (1871) bis Basel (1914) spannte, von Dresden (1874) bis Düsseldorf (1901) und von Stuttgart (1871) bis Straßburg (1912). Die ersten großen Gewinne seiner Annoncen-Expedition investierte er in eine eigene Tageszeitung, in die Gründung des Berliner Tageblatts, dem BT, weil er – wie es die oft nacherzählte Anekdote wissen will – eines Abends beim Skat zu seinem Bruder Emil bemerkt habe, er könne nicht einsehen, warum seine Firma nur für fremde Zeitungen Inserate sammeln solle. Programmatisch ließ er im Dezember 1871 in seinem neuen Zeitungsprodukt erklären: In einer Zeit, da die Augen der Welt auf Berlin gerichtet sind, treten wir mit dem ‚BT‘ vor die Öffentlichkeit. [...] Unser Ziel ist darauf gerichtet, nicht ein Localblatt mehr zu den übrigen zu schaffen, sondern im eigentlichen und echten, im vollen und schöpferischen Sinne des Wortes das Berliner Localblatt. [. ..] Das Material soll in weltstädtischem Sinne redigiert werden. Es muß das Bewußtsein uns beseelen: für die zivilisierte Welt schreibt, wer für Berlin schreibt! Das BT soll den Vielbeschäftigten auf allen Gebieten bei kurzem Zeitaufwand orientieren, ebenso aber auch den Anforderungen und Wünschen dessen standhalten, der mehr Zeit und
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Muße besitzt. Und es soll auch „der Hausfrau rathend zur Seite stehen“ bei ihren besonderen häuslichen Pflichten und wirtschaftlichen Sorgen. Schon nach drei Jahren musste die rasch expandierende Annoncen-Expedition ein paar Häuser weiter, in die Friedrichstraße 66, umziehen. 1871 war eine eigene Druckerei in der Neuen Friedrichstraße hinzugekommen. Hier stellte Mosse mit großem Erfolg Kochbücher her, Ratgeber aller Art, Jahrbücher, Almanache und Adressbücher, Zeitungskataloge und Fachzeitschriften, wie die Gießerei-Zeitung und die Zeitschrift für Dampfkessel und Maschinenbetrieb. Eine neue Entwicklungsphase begann 1874 mit der Übersiedlung des Verlags in das schon früher angekaufte Haus Jerusalemer Straße Nr. 48. 1882 dehnte sich der Verlag auf das Nebengrundstück aus. Damit hielt auch das Berliner Tageblatt seinen Einzug in das stark expandierende Zeitungsviertel, in dessen Mittelpunkt die Kreuzung Leipziger Straße/Friedrichstraße liegt. Sogleich nach der Jahrhundertwende errichteten die Architekten Wilhelm Hubert Cremer und Richard Wolffenstein den bekannten, sich über acht Grundstücke im Bereich Jerusalemerstraße 46/47 und Schützenstraße 20 bis 25 erstreckenden monumentalen Eckbau. Sein eindrucksvolles Portal zog sich über drei Etagen bis zur vollen Höhe des Gebäudes und bis zum Dachaufbau mit seinen Türmchen hinauf. Unten fand sich der Schriftzug Rudolf Mosse, oben stand lediglich Berliner Tageblatt. Dieses innerstädtische Gebiet war im Kaiserreich zugleich das Zentrum des Verkehrs; hier befanden sich die wichtigsten Regierungsgebäude, der Reichstag sowie das Herren- und Abgeordnetenhaus. Mosse genoss alsbald den Ruf, auch mit seinen Nachschlagewerken zuverlässige und handliche Informationen über den „Weltmarkt der Presse“ zu bieten. Mit dem Deutschen Reichs-Adressbuch für Industrie, Gewerbe und Handel schlug er einen neuen Weg ein, zum Werbe-Agentur-Unternehmen. 1884 nahm er den elf Jahre jüngeren Bruder Emil als Teilhaber. Emil hatte als Kaufmann und Verlagsbuchhändler seit dem sechzehnten Lebensjahr in der Firma seines Bruders erfolgreich gearbeitet und 1875 in der Kölner Filiale sein Talent mit der Öffentlichkeitsarbeit für die Internationale Gartenbau-Ausstellung bewiesen. Drei Jahre später wiederholte er den Erfolg in der Münchener Filiale für die große Internationale Kunstausstellung der Künstlergemeinschaft im Alten Botanischen Garten und parallel dazu in der Nürnberger Geschäftsstelle. Schließlich brillierte er als Leiter aller süd- und westdeutschen sowie der Niederlassungen in der Schweiz. Gemeinsam mit seinem Schwager Emil Cohn erwarb Rudolf Mosse 1890 die Allgemeine Zeitung des Judentums und 1904 die Berliner Volks-Zeitung. Von ihren übrigen Publikationsorganen seien hier noch das Deutsche Reichsblatt, das Witzblatt Ulk – das Compote zum BT, wurde gewitzelt – und die Berliner Morgen-Zeitung (1889) erwähnt. Diese Zeitung lag auf derselben politischen Linie wie das BT, war jedoch als „Volksblatt“ konzipiert und sollte als populäres Pendant „im besten Sinne des Wortes liberale Politik treiben, für Freiheit und Fortschritt auf politischem, wirtschaftlichem und konfessionellem Gebiete namhaft eintreten“. Rudolf Mosse gründete außerdem noch den Snanje-Verlag, der vornehmlich deutsch-russische Wörterbücher herstellte, den Spezial-Verlag Esperanto und richtete einen leistungsstarken Depeschendienst ein.
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Über das Flaggschiff des Mosse-Verlags, das Berliner Tageblatt, war sich die Öffentlichkeit schnell einig: Die Zeitung galt als wirkungsvolles Instrument, ja als schlagkräftigste Waffe des deutschen Liberalismus. Das sei auch nicht verwunderlich, hieß es, denn mit seinem ganzen Empfinden, seiner ganzen Denkweise habe Mosse nirgends anders stehen können als in dem Lager des bürgerlichen Liberalismus. Wer heute über das eine oder andere Thema die Berichte im Wirtschafts-, Feuilleton- oder auch im Lokalteil nachliest, wird auf einem hohen Niveau informiert und wird über das Zeitbezogene, das längst nicht mehr Aktuelle der Kommentare und Reportagen hinwegsehen. Er dürfte zur Lektüre des Politikressorts verführt werden, da dort die Auseinandersetzungen um Reformen, Parlamentarismus, Sozialisierung, Demokratie und Abwehr von Unfreiheit in zeitloser Frische geführt werden. Die Geschichte dieses Blattes ist noch zu entdecken, der Beitrag einer renommierten Tageszeitung zu Literatur und Kunst, zum politischen Leben einer Gesellschaft. Das glanzvolle Kapitel Berliner Tageblatt begann 1871 leuchtend, mit einem Feuerwerk an Ideen, aber es entwickelte sich zuerst keineswegs strahlend. Es musste der Kampf gegen eine traditionsreiche und starke Konkurrenz aufgenommen werden. In der ehrwürdigen Vossischen Zeitung – sie führte sich als die älteste Zeitung an der Spree auf das Jahr 1721 zurück – erkannte man auf der liberal-gemäßigten Ebene zu Recht den stärksten Mitbewerber. Die „Tante Voß“ sah über den Neuling erst einmal hinweg. Aber die Haude-Spenersche Zeitung, die in jeder Nummer ihre staatstragende Rolle und als eine dem preußischen Hof nahe stehende Stimme gar nicht erst zu verbergen suchte, konnte sich jedoch nicht mehr lange ihrer Abonnenten sicher sein. Das BT startete mit einem klaren publizistischen Auftrag – lokaler Bezug, belletristische Orientierung – und mit einem darauf eng bezogenen unternehmerischen Kalkül, das in Weitsinn, Originalität, Publikumsorientierung und unternehmerischem Wagemut bestand. Der erste Leiter, Carl Adolph Streckfuß, war ein geschickter Journalist und Organisator. Die historisch-politisch interessierten Zeitgenossen erinnerten sich seiner als einen ‚wilden Achtundvierziger‘. Als er seine Leitartikel schrieb, dürfte allein den politisch interessierten Lesern die politische Vergangenheit des jetzt ehrbaren Mitglieds der Fortschrittspartei und des Berliner Stadtrats bekannt gewesen sein, seine radikaldemokratischen Schriften und sein Hochverratsprozess. Das breitere Publikum schwärmte von seinen Krimis. Tout-Berlin las damals jeden ‚neuen Streckfuß‘. Mosses erster Mann war also keineswegs bieder und ‚unpolitisch‘. Streckfuß trat für das allgemeine und gleiche Wahlrecht in Preußen ein und für Bismarcks patriotisch-liberal getönte Innen- und Außenpolitik der ersten Jahre. Das Publikum akzeptierte den Kurs seines Blattes; die Auflage stieg rasch von den 3.000 Erstabonnenten auf 10.000 verkaufte Exemplare im Gründungsjahr und auf knapp 75.000 im Jahr 1878. Bis 1900 war dies der Kulminationspunkt. Höher reichten die Verkaufszahlen nicht hinauf, denn 1878 beendete der Reichskanzler seine Zusammenarbeit mit den Fortschrittlern, begann die Krise des Liberalismus und seiner Parteien, sanken die Verkaufszahlen des Berliner Tageblatts bis auf 55.000 im Jahr 1895 ab. Mosse vermochte den drastischen Rückgang auch nicht mit einem Wechsel in der Leitung aufzuhalten. Er setzte auf Arthur Levysohn, den die österreichisch-ungarische Regierung wegen „destructiver Tenden-
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zen“ ausgewiesen hatte. Der Sohn eines Verlegers aus Grünberg in Schlesien war in intellektuell anregenden Familienverhältnissen aufgewachsen. Der promovierte Vater hatte Rechtsund Kameralwissenschaften in Berlin studiert und wurde bekannt als Herausgeber mehrerer Werke Bettina von Arnims wie Goethes Briefwechsel mit einem Kinde sowie einzelner Bände der Gesammelten Werke von Achim von Arnim. Sein Sohn Arthur war im Anschluss an die Universitätsstudien und Promotion nach Paris gegangen, hatte von dort für die Kölnische Zeitung berichtet. Als außenpolitischer Ressortleiter des Neuen Wiener Tageblatts machte er sich später wiederholt unbeliebt und war deshalb höchst zufrieden, als Mosse ihn berief und er an der Spree die politische Freiheit fand, die ihm an der Donau letztlich verwehrt worden war. Zusätzlich zu der seit 1874 bestehenden Beilage Ulk erschienen seit 1878 die Beiblätter Haus-Hof-Garten, die Technische Rundschau (1895), Der Zeitgeist und Die deutsche Lesehalle (1902). Levysohn pflegte bewusst die Rubrik Politische Wochenschau. Scharfsinnig und kritisch, aber auch leicht gravitätisch analysierte er dort vorrangig die internationale Politik, diplomatische Beziehungen und weltpolitische Handels- und Wirtschaftsinteressen. Das BT erhielt somit klarere politische Leitlinien. Doch alle Anstrengungen führten erst mit der Jahrhundertwende zum Erfolg. Die Auflage stieg 1905, im Vorjahr der Ablösung Levysohns durch Theodor Wolff, von 68.000 auf 106.000. Mosses T. W. katapultierte das Blatt in nur einem Jahrzehnt auf eine Viertelmillion.15 Das Berliner Tageblatt stand an der Jahrhundertwende somit zwar konsolidiert, aber immer noch nicht blendend auf dem Zeitungsmarkt dar. Mosse expandierte als Verleger 1902 mit einer Zeitschrift für Dampfkessel und Maschinenbetrieb und 1904 mit der Gießerei-Zeitung in Erfolg versprechende Industriebereiche. Im selben Jahr kaufte er die Berliner Volks-Zeitung seinem Schwager Emil Cohn ab, die als „Urwähler-Zeitung“ ein journalistisches Gewächs der Revolution von 1848/49 und von linken Publizisten geprägt worden war. Mosse erhöhte durch diesen Kauf nicht nur sein Renommee, sondern verstärkte seine publizistische Präsenz in der unteren Mittelschicht und in den gehobenen Unterschichten. Etliche der Mosse-Blätter haben das Berliner Tageblatt schnell an Auflagenvolumen zu überbieten vermocht; kein Publikationsorgan erreichte dabei jedoch auch nur die Nähe des BT, wenn man die politische, wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung zu den vorrangigen Kriterien erhebt. Zeitgenossen betonen übereinstimmend, dass die Erfolge Rudolf Mosse nicht berauscht und sein Wesen nicht verändert hätten. Ihm wurden Willensstärke, die zur ehernen Hartnäckigkeit sich entwickeln konnte, und eine betonte Einfachheit zugeschrieben − er soll allem Überschwänglichen abgeneigt gewesen sein. Das Werk habe im Mittelpunkt seines Lebens gestanden. Wer ihn persönlich kannte, bewunderte seine unermüdliche Tätigkeit und seinen rastlosen Fleiß, die ihm keine Ruhepause gegönnt haben sollen. Die Öffentlichkeit suchte er nicht; das Angebot der ‚Freisinnigen‘, 1889 für den Reichstag zu kandidieren, lehnte er ab, obwohl er dieser Partei nahe stand. Nicht erst anlässlich seines 70. Geburtstags 15 Zur Biographie des Cousins des Verlagsgründers in den ersten Jahrzehnten vgl. Bernd Sösemann: Theodor Wolff. Ein Leben mit der Zeitung, München 2000, S. 27–131.
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stiftete er Hunderttausende, ja Millionen für Berlin: für öffentliche und soziale Aufgaben und Institutionen, für Notleidende inner- und außerhalb seiner Unternehmen sowie für Krankenhäuser, Vereine, Gesellschaften und Hilfsorganisationen der unterschiedlichsten Art. Bereits 1892 hatte er die Pensionskasse seiner Firma gegründet, die er so weit ausbaute, dass sie im Zeitungswesen seiner Zeit einzigartig sein sollte. Mosse unterstützte auch die Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums, das Lehrlingsheim in Pankow und die Beamten- und Beamtenwitwenstiftung der jüdischen Reformgemeinde. Die universitäre Wissenschaft profitierte ebenfalls von seinem großzügigen Mäzenatentum. Titel und Orden lehnte er ebenso wie die Nobilitierung ab; gern ließ er sich aber von der Berliner Kaufmannschaft in die Handelskammer entsenden, und wohl ähnlich geehrt fühlte er sich, als ihn die Philosophische Fakultät der Universität Heidelberg zu ihrem Ehrendoktor ernannte und eine Straße seinen Namen erhielt. Die Großzügigkeit des Mäzens und die Feinheit seines Kunstgeschmacks dokumentierte die Gemäldegalerie im Palais Mosse am Leipziger Platz gleichermaßen. Noch heute besteht die Emilie-Rudolf-Mosse-Stiftung in Wilmersdorf, deren Gründungsziel es war, bedürftige Kinder aller Konfessionen aufzunehmen und ihnen ein dem Familienleben nachgebildetes Heim zu bieten. Ähnlich anspruchsvoll wirkte das von der Stiftung in Schmargendorf errichtete Erziehungsheim für Töchter gebildeter Stände. Mosses soziale Fürsorge und Wohltätigkeit waren bedeutend und außerordentlich groß, doch für das Bürgertum des späteren Kaiserreichs nicht ungewöhnlich. Es gehörte vielmehr konstitutiv zum wirtschaftlichen Erfolg hinzu, dass das gemeine Wohl durch karitative Einrichtungen, Stiftungen und sonstige finanzielle Zuwendungen gefördert wurde. Die Aufsteiger in der Honoratiorenschaft, in der Finanz-, Banken- und Wirtschaftswelt waren die größten Mäzene des zu Besitz und Vermögen gekommenen Bürgertums und ‚festigten‘ damit ihre soziokulturelle Position. Jüdische Bankiers, Mediziner und Juristen standen im Mittelpunkt, denn sie waren in dem reichen Bürgertum am stärksten präsent. Die Antisemiten sprachen dabei selbstverständlich abfällig und diffamierend von einem gerissenen „Sammeln der ‚Konfessionen‘ unter jüdischem Oberhaupt“. Mosse war ebenso wie Scherl und Ullstein von Fünferlei überzeugt: 1. Eine professionell organisierte Großstadtpresse habe nicht mehr auf partikulare politische Öffentlichkeiten zu zielen, sondern auf das Massenpublikum. Zeitungen, Redakteure und Verleger seien dem Aufbau der politischen Kultur verpflichtet, also kollektiver Orientierungen und Erfahrungen, Dispositionen und Werte in einem nicht geringen, wenn auch nicht genau zu fixierenden Umfang. 2. Diese politische Kultur könne eine relativ große inhaltliche Konsistenz in dem sich permanent wandelnden parteipolitischen, soziokulturellen und ökonomischen Umfeld entwickeln. Hauptstadtzeitungen könnten neben weiteren national bedeutenden Blättern und kulturpolitischen Zeitschriften gesellschaftliche Veränderungen wiederholt frühzeitig wahrnehmen und ihnen wachse deshalb eine hohe gesellschaftliche Verantwortung zu. 3. Das Zentrum publizistischer Macht könne in einer arbeitsteilig entwickelten und parlamentarisch strukturierten Massengesellschaft jenseits industrieller Zentren liegen, aber
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schwerlich außerhalb der Hauptstadt. Ihre Publizistik habe im Deutschen Reich nach 1871 den Nukleus für eine anspruchsvolle Tagespresse gebildet, die informieren, kulturell etwas bewegen und politisch mit gestalten wolle. 4. Auf die Reichsgründung der Fürsten, auf das Werk ‚von oben‘, und den Wirtschaftsboom nach 1871 müsse die Entfaltung der bürgerlichen Welt, die geistige Strukturierung und intellektuelle Ausfüllung ‚von unten‘ folgen. Man habe sich an dieser Aufgabe beteiligen müssen, um das Reich geistig und publizistisch auf einer breiteren sozialen Basis gründen und somit festigen zu können. Der neue Staat sollte mehr als ein machtpolitisches Gebilde und die Hauptstadtpresse bevorzugter Vermittler zwischen Regierenden und Regierten sein. 5. Verleger und Redakteure der großen Zeitungen waren im Gegensatz zum allgemein verbreiteten Bild souverän bzw. selbstbewusst und grundsätzlich davon überzeugt, dass sich ihre Blätter als Instrumente der Informationssteuerung, Wirklichkeitskonstruktion und Massenbeeinflussung besonders gut eigneten. Die knappe Skizze eines bedeutenden Teils der Medienlandschaft im deutschen Kaiserreich sollte verdeutlichen, in welchem Umfang die Berliner ‚Pressezaren‘ ihre politische Sozialisation in der Auseinandersetzung mit einem wirtschaftlich, arbeits- und bildungspolitisch überaus erfolgreichen Macht-, Sozial- und Rechtsstaat erfahren haben. Er war demokratisch, aber nicht parlamentarisch strukturiert.16 Zunehmend negative Erfahrungen sammelten unsere Protagonisten auf dem außenpolitischen Sektor der Wilhelminischen Ära mit dem machtpolitischen ‚Neuen Kurs‘, auf den Ebenen der Verfassung im Reich und des Wahlrechts in Preußen, der Integration der Sozialdemokratie und der Gleichberechtigung von Frauen. In der Zeit ökonomischer Prosperität traten selten die schwerwiegenden Spannungen zwischen dem ideellen und kaufmännischen Denken auf, die einen Großteil der Weimarer Epoche bestimmen sollten. Macht und Einfluss auf die öffentliche Meinung verlor die spätere Generation der Berliner Verleger, als auch sie sich wirtschaftlicher Vorteile wegen korrumpieren ließ oder im Beiwagen autoritärer Parteien zum Ziel gelangen wollte. Von dem Untergang großer Zeitungen und dem Scheitern von Verlegern kann daher auch gesagt werden, was oftmals für die Regierungspolitik gilt: Ihr Staat respektive ihre Republik ist nicht an der Stärke der Widersacher, sondern an der Schwäche der Verteidiger gescheitert.
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Zu seinen Erfolgen und Begegnungen vgl. die quellengesättigten Analysen von Margret Lavinia Anderson: Lehrjahre der Demokratie. Wahlen und politische Kultur im deutschen Kaiserreich, Stuttgart 2009 (= Beiträge zur Kommunikationsgeschichte 22), insbes. S. 478–522.
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Satirische Zeitspiegelungen in Maximilian Hardens Die Zukunft
Einleitung: Die Zukunft Als politisch wie ökonomisch unabhängiger Publizist gab Maximilian Harden die 1892 gegründete Berliner Wochenschrift Die Zukunft dreißig Jahre lang heraus. Das publizistische Konzept war laut Fritz Schlawe eine „überwiegend politische Rundschauzeitschrift mit kritischer Tendenz“, ein pluralistisches Forum der deutschen und internationalen Geisteswelt.1 Dieser „berühmteste[…] und umstrittenste[…] Publizist[…] des Deutschen Kaiserreiches“2 begleitete in seinen Leitartikeln das politische und wirtschaftliche Leben mit einem individualistischen, genau informierten, analytischen Kommentar. Die Themen umfassten Diplomatie, Monarchie und Reichspolitik, Militärvorlagen und Pazifismus, Agrarpolitik, Industrie und Finanzpolitik, Arbeitsrecht, Sozialismus und Kapitalismus, Judenfrage und Frauenemanzipation, aber auch aktuelle Gerichtsprozesse, Verfahrensfragen und Kriminalpsychologie fanden in Leitartikeln, nicht nur in der Justizchronik Raum. Harden verfasste auch das die Nummer abschließende Notizbuch und die Literatur- und Theaterkritiken selbst. Obwohl er ein Mitbegründer der Freien Bühne gewesen war, waren seine äußerst kritischen Theaterbesprechungen selten modernefreundlich. Als Bismarck-Verehrer berief er sich zwar auf den Altkanzler in seiner scharfen Auseinandersetzung mit dem Caprivischen „Neuen Kurs“3 und der „Mißwirtschaft der Ära Hohenlohe“,4 pflegte jedoch als Parteiunab1
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Fritz Schlawe: Literarische Zeitschriften. Teil I: 1885-1910. 2. Aufl., Stuttgart 1965, S. 71. Zu den Mitarbeitern vgl. B[ernd] Uwe Weller: Maximilian Harden und die ,Zukunft‘, Bremen 1970 (= Studien zur Publizistik 13), S. 353–359. Helga Neumann, Manfred Neumann: Maximilian Harden (1861–1927). Ein unerschrockener deutsch-jüdischer Kritiker und Publizist, Würzburg 2003, S. 9. Zu Caprivi vgl. Weller: Maximilian Harden (wie Anm. 1), S. 117–120. Zu Bismarck ebd., S. 42/43. Zum ,persönlichen Regiment‘ Wilhelms II. vgl. John C.G. Röhl: Germany without Bismarck. The crisis of government in the Second Reich (1890–1900), London 1967. Koszyk zufolge habe sich Harden „niemals zum bloßen Mundstück eines Größeren gemacht“; Kurt Koszyk: Deutsche Presse im 19. Jahrhundert. Geschichte der deutschen Presse. Teil II, Berlin 1966 (= Abhandlungen und Materialien zur Publizistik 6), S. 254.
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hängiger die Meinungsvielfalt. Unter seinen Mitarbeitern, „Monarchisten und Republikaner[n], Sozialdemokraten und Anarchisten, Philosemiten und Antisemiten, Spiritisten und Materialisten, Bodenreformer[n], Christlich-Soziale[n] und Freiländer[n]“,5 herrschte keine gemeinsame Grundrichtung. Dieser beredte und kompromisslos kritische „Außenseiter“, der sich „von der Gesellschaft der Gründerjahre abgestoßen fühlte“,6 ist als Vorbild für Karl Kraus und dessen Wiener Fackel in Anspruch genommen worden.7 Aber Lesern der Krausschen Polemiken gegen Harden mag es schwer fallen, sich den Berliner Publizisten anders vorzustellen als „einen mit hundert Kilo Bildung beladenen, auf Stelzen daherkommenden Ritter“, den anzugreifen Kraus „aus Humanität“ zu verzichten vorgibt.8 Wenn Harden aber nicht nur als ein lächerlicher Don Quixote, ein Gegenstand der Satire, in die Geschichte eingegangen sein mag, kann er selbst auch ein Miguel Cervantes, ein schlagkräftiger Satiriker, gewesen sein? Um die frühe satirische Praxis Hardens im Kontext seines Politikverständnisses und seiner Presse- und Modernekritik zu veranschaulichen, soll hier nach einem Vergleich mit einem anderen ,Berliner Kopf‘ auf seine Einstellung zu den politischen Einrichtungen des Reiches (Monarchie, Reichstag) und zur großstädtischen Moderne Berlins (Grundrechte, Klassenjustiz, Sexualmoral) in ausgewählten Textbeispielen aus den 1890er Jahren eingegangen werden, an denen Aspekte seiner satirischen Methode (Zitate und Symbole, Textkonstruktion) und die Möglichkeiten und Grenzen der politischen Satire zu erkennen sind. Da Harden seine Kritik am aktuellen Zeitgeschehen durch voraus- und zurückschauende literarische Epochenperspektiven zu vertiefen suchte, kann von Zeitsatire ,in doppeltem Sinn‘ die Rede sein – obwohl er keine philosophischen Betrachtungen über Zeiterfahrung und Zeitlichkeit anstellt, wie Thomas Mann in seiner Einführung in den Zauberberg.9
Berliner Köpfe oder politische Satire? Das Potenzial der Satire als Beitrag zur großstädtischen Moderne Berlins ist an Werken eines anderen Autors, des Berliner Naturalisten Conrad Alberti, erkennbar, mit dem aber
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Zu Hohenlohe-Schillingsfürst vgl. Weller: Maximilian Harden (wie Anm. 1), S. 124–126. M. H.: Notizbuch, in: Die Zukunft [= Z] 8, 14. 7. 1894, S. 95/96. Koszyk: Deutsche Presse im 19. Jahrhundert (wie Anm. 3), S. 254. Peter Sprengel u. a.: Berliner und Wiener Moderne. Vermittlungen und Abgrenzungen in Literatur, Theater, Publizistik, Wien u. a. 1998, S. 157–165. Karl Kraus: Schriften. Hrsg. v. Christian Wagenknecht. 20 Bde., Frankfurt/M. 1986–1994, hier Bd. 3: Literatur und Lüge, S. 114. Harden zeigte für Don Quixote etwas Mitgefühl (M. H.: „Theater“, Z 3, 6. 5. 1893, S. 268–273, hier S. 270), an dessen „tragische Mühen“ ihn die Versuche von Professoren, am prekären Überbau der evangelischen Theologie herumzubasteln, erinnerten („Die Jesuiten“, Z 2, 4. 3. 1893, S. 385–395, hier S. 388). Thomas Mann: Einführung in den Zauberberg. Für Studenten der Universität Princeton, in: ders.: Gesammelte Werke in 13 Bdn. Bd. 11: Reden und Aufsätze 3. 2. Aufl., Frankfurt/M. 1974, S. 602– 617, hier S. 611.
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Hardens Methode und Satireverständnis zu kontrastieren sind.10 Heute herrscht nahezu Einverständnis darüber, dass die Moderne um 1900 in einer Identitätskrise begriffen war,11 aber nichts war im Jahre 1894 zeitgemäßer als Albertis theophrastischer Ansatz, als er in einer Wiener Zeitschrift unter dem Titel Berliner Köpfe eine Reihe „Kennzeichnungen ,markanter Repräsentanten der Moderne‘“ ankündigte.12 Indem er „keine Lenbach’schen Portraits“, sondern „schnelle Aufnahmen der Wirklichkeit, vermittelst meiner psychologischen Geheimcamera“ vorführte, „Schattenrisse Vorübergehender, wie sie sich im Huschen auf der Wand meiner Seele abzeichneten. Im Fluge aufgefangen, unretouchirt, tendenzlos, die Ergebnisse glücklich erlauschter Augenblicksstimmungen, der Verrath ungewollter Indiscretion“,13 versuchte Alberti, die Tradition der Charakterbilder für die moderne Ästhetik des großstädtischen Lebens und des Impressionismus zu aktualisieren. Außer zur Entlarvung von Rollenspielern und Modeerscheinungen diente die theophrastische Gattung zur Beleuchtung eines Typus im Zeichen der Unbeständigkeit und Abwegigkeit. Das verbindet sich im Tageslauf des Possenautors Oskar Blumenthal mit einem Bilde moderner Flüchtigkeit, wobei die verschiedensten Situationen der Handlungsfolge hinter den Kulissen des Theaterbetriebs den Eindruck der Lächerlichkeit hinterlassen: „er scheint das Geheimniß des perpetuum mobile in der Hosentasche zu tragen“.14 Die „Tagesordnung eines Bureauvorstehers“, an der der Maler Adolph Menzel „mit eiserner Zähigkeit festhält“, vermittelt parodierend das Arbeitsethos und die Flinkheit des Großstadtmalers auf der Motivsuche, „auf der Straße, in der Pferdebahn, dem Restaurant“, und beim Hofball kletternd „auf den Kamin, um von dort den Eindruck des Saales flüchtig aufzunehmen“.15 Ein wiederkehrendes traditionelles Motiv ist die Unzulänglichkeit des nach Höherem strebenden ‚Charakters‘: Also müsse Anton von Werner doch „Minuten der Ehrlichkeit gegen sich selbst“ kennen, in denen er sich bewusst werde, daß seine Werke „nur Füllung für die Rumpelkammer der Zukunft“ seien.16 Die überholte Gründerzeit-Ästhetik gehörte zwar zu den Angriffsgegenständen der deutschen Naturalisten, aber ihre Verabschiedung war um 1895 ein allzu billiges Programm der Satire.17 Was in Albertis Konzept fehlte, hatte Harden im Überfluss: einen Sinn für die historischen gesellschaftlichen Zusammenhänge und die Triebkräfte des politi-
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Zum Zusammenhang von ‚Angriff‘ und ‚Indirektheit‘ in der satirischen Schreibweise vgl. Jürgen Brummack: Zu Begriff und Theorie der Satire, in: DVjs 45, 1971, Sonderheft, S. 275–377, hier S. 333. Jacques Le Rider: Das Ende der Illusion. Die Wiener Moderne und die Krisen der Identität, Wien 1990. Conrad Alberti: Berliner Köpfe, in: Neue Revue 5/1, 19, 25. 4. 1894, S. 583–589, hier S. 583. Jede Folge bestand aus kritischen Einzeldarstellungen von drei bis vier mit Namen gekennzeichneten Berliner Prominenten, mit oft längeren anekdotischen oder historischen Exkursen. Ebd., S. 583. Ebd., 5/2, 29, 4. 7. 1894, S. 6–10, hier S. 6. Ebd., 5/2, 41, 26. 9. 1894, S. 389–95, hier S. 390. Ebd., S. 392. Zur Satire der deutschen Naturalisten vgl. Gilbert Carr: Satire from the German Naturalists? Karl Kraus’s Planned Anthology, in: German Life and Letters 46, 1993, S. 120–133.
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schen Systems. Trotz der Vorliebe Hardens für das Einzelporträt als Einleitung seiner politischen Kommentare entwarf er um 1893 ein umfassenderes Gesamtbild, das er sich als Stoff für ein „lustiges Feuilleton“ überlegte: den ,Geist‘ Berlins als „Kompromißgeburt aus borussisch derbem Menschenverstand, fortschrittsphilisterhaftem Dünkel, Wachparadendrill und nicht immer jüdischen [!] Börsenwitz, jedes unterhaltende Getöse, das die Ohren erfüllt“.18 Leser der Krausschen Harden-Polemik mögen schwerlich davon zu überzeugen sein, dass der Wiener den anscheinend humorlosen preußischen Einzelkämpfer einst als Meister der satirischen Technik geschätzt haben könnte. Als er aber im Juli 1897 an Harden die Frage stellte: „[...] wie wirft man sich in die Politik, wenn man für sie Interesse hat, ich meine: wie setzt man sich möglichst rasch in eine satirische Beziehung zu ihr und ihren Männern?“,19 mag ihm wohl ein theophrastischer Ansatz wie Albertis vorgeschwebt haben, aber er bekam zur Antwort die ernüchternde Ausrede: „Politik wünsche ich Ihnen nicht, es ist eine hundsgemeine Sache“.20 Das entsprach Hardens in der Zukunft geäußerter Meinung, die Politik sei ein notwendiges Übel.21 Auch über das Potenzial der Satire sprach er sich resigniert aus und stimmte, sich des Ernstes der Zeit bewusst, die juvenalsche Klage über die Satire an, über diesen „Hang, warnend und drohend die Dinge vergrößert zu zeigen“, der von „den Ereignissen“ überboten werde, „wie um ihn zu necken“.22 Dem gleichzeitigen Verfall der Theaterkunst und der Politik glaubte er anderseits, „nur auf dem Weg der Satire“ noch beikommen zu können, „denn der ernsten Betrachtung bietet sie keinen Stoff“.23 Also wechselte Hardens Satire mit bitterernster Didaktik ab.24
Majestätsbeleidigung und Geschichte In der Epoche des persönlichen Regiments Wilhelms II. war die gegen den Monarchen gerichtete Kritik und Satire wohl zeitgemäß, hatte aber gravierende Folgen. Harden hielt die Monarchie zwar für „die für unsere historisch gewordenen Zustände beste Staatsform“,25 aber für seine mutige Kritik am überheblichen undemokratischen Herrschergestus des Kai18 Apostata: Klim-Bim, Z 3, 17.6.1893, S. 571–576, hier S. 572/573. 19 Karl Kraus: Brief an Maximilian Harden vom 13. Juli 1897, zitiert nach: Martina Bilke: Zeitgenossen der ,Fackel‘, Wien, München 1981, S. 16. 20 Maximilian Harden: Postkarte an Karl Kraus vom 15. Juli 1897 (Kopie); Nachlass Harden, Bundesarchiv Koblenz, 27/ 149a, fol. 35–36. 21 Barbaresken-Tribut, Z 3, 22.4.1893, S. 145–151, hier S. 149. Zum Politikverständnis Hardens vgl. Weller: Maximilian Harden (wie Anm. 1), S. 106. 22 Apostata: Klim-Bim (wie Anm. 18), S. 572/573. 23 M. H.: Der neue Kunstkurs, Z 6, 17. 3. 1894, S. 530–532, hier S. 531. 24 Harden ermaß je nach dem Ernst der Sache, ob ein satirischer Ansatz erforderlich wäre; BarbareskenTribut, Z 3 (wie Anm. 21), S. 149. Mit Bezug auf Reichstagsdebatten: „Nicht mit Witzen, auch mit zierlich gefeilten Bosheiten nicht, ist der Kampf gegen Bestrebungen zu führen, die man aus innerster Ueberzeugung für unheilvoll hält“; Ausverkauf, Z 6, 17. 3. 1894, S. 485–493, hier S. 493. 25 M. H.: Notizbuch, Z 8 (wie Anm. 5), S. 95. Weller: Maximilian Harden (wie Anm. 1), S. 108, stellt Hardens Kritik am Hofleben (Hofskandal, Z 8, 7. 7. 1894, S. 1–9, hier S. 9) als Totsagen der Monarchie hin.
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sers musste er wiederholt wegen Majestätsbeleidigung mit Festungshaft büßen.26 Jedoch setzte er sich 1894 kritisch, ja pedantisch mit der Caligula-Broschüre Ludwig Quiddes auseinander:27 Der Geschichtsprofessor Quidde verfälsche seine römischen Quellen zwecks einer allzu durchsichtigen, eklektischen „grobe[n] Karikatur“ des deutschen Kaisers;28 die Monarchie Wilhelms II. habe „mit dem brünstig schwelgenden Imperatorenthum [...] nicht das Geringste mehr gemein“.29 Harden gab vor, mit seinen eigenen angeblich majestätsbeleidigenden Kommentaren dem Kaiser nur „ein warnendes Bild zu zeigen“;30 nur sei die gefährliche Enttäuschung der Öffentlichkeit, die solche Übertreibungen wie Quiddes hervorriefen, eine Folge des übertriebenen Vertrauens in eine persönliche Regierung des Kaisers als politisches Allheilmittel.31 Harden beklagte das zeitgemäße Unvermögen, „den Tagesereignissen historische Parallelen zu finden“, und empfahl „die Geschichte“ als „die einzige Lehrmeisterin“ für das politische Denken. Dass sich hinter dem „ewigen Wechsel von Kostümen und Dekorationen [...] die selben Erscheinungen“ wiederholen,32 dafür bieten seine eignen meisterhaften histrionisch-historischen Vergleiche in der frühen Zukunft hinreichende Nachweise.
Reichstag und literarische Vorbilder Harden hatte schon früh die „geweihten Herren, die in der Leipziger Straße zwischen zwei Mahlzeiten das deutsche Volk vertreten“, verspottet,33 da sie das Parlament zum Spektakel machten und um seine Wirkung brachten: „Die Ueberzeugungen wurden so schnell gewechselt, wie es mancher parlamentarische Witzbold mit seinem Hemde nicht thut“;34 oder: Die „Parteibrillenträger“35 verträten ihre „fraktionell geaichte[…] Massenüberzeugung [.. .] unter politischen Firmenschildern“ wie Automaten36 – bereits in dieser metaphorischen Abwertung der Parteipolitik steckt er eine Distanz zur Großstadtmoderne ab.37 26 Vgl. Weller: Maximilian Harden (wie Anm. 1), S. 109–116; Neumann: Maximilian Harden (wie Anm. 2), S. 100. 27 Zur Rezeption von Caligula vgl. Koszyk: Deutsche Presse im 19. Jahrhundert (wie Anm. 3), S. 256/ 257. 28 Caligula, Z 7, 2. 6. 1894, S. 387–396, hier S. 393. Vgl. L[udwig] Quidde: Caligula. Eine Studie über römischen Cäsarenwahnsinn, in: Die Gesellschaft 10, 1894, S. 413–430. 29 Caligula, Z 7 (wie Anm. 28), S. 395. 30 Ebd., S. 395. 31 Ebd., S. 396. 32 Ebd., S. 388. Zur Politik als richtig verstandene Geschichte vgl. Weller: Maximilian Harden (wie Anm. 1), S. 105. 33 Ausverkauf, Z 6 (wie Anm. 24), S. 486. 34 Der neue Reichstag, Z 4, 1. 7. 1893, S. 1–8, hier S. 3. 35 Apostata: Strecken-Rapport, Z 3, 24. 6. 1893, S. 618–624, hier S. 621. 36 Froschmäuserkrieg, Z 10, 12. 1. 1895, S. 49–54, hier S. 52. 37 Zur Scheinmodernität des Reichstags, zum Reichstag als „Reichsfrühstückshalle“ (Flöhhatz, Z 10, 19. 1. 1895, S. 97–108, hier S. 98) und als „Haus der Phrasen“ (Apostata: Ahlwardts Ahnen, Z 1. 4. 1893, S. 44–48, hier S. 45) vgl. Weller: Maximilian Harden (wie Anm. 1), S. 126/127.
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Dass Berlin Hauptstadt der Nation war, wurde 1894 durch die Eröffnung des von Paul Wallot erbauten Reichstagsgebäudes symbolisiert. Aber einen Anlauf zur nationalen Identitätsstiftung bildete bereits die seit 1882 von Joseph Kürschner herausgegebene, auf 164 Bände angelegte Historisch-Kritische Ausgabe der Deutschen National-Literatur (1882– 1899). Da um 1895 unter den neuesten DNL-Bänden Satiren aus der Reformationszeit erschienen waren, konnte Harden die beiden nationalen Institutionen in einem Zeitvergleich aufeinander abstimmen. Harden hielt die neue ‚Verkörperung der Gesetzgebung‘ für jene Art „äußere[s] Symbol“, von dessen „Prunk und Pracht“ sich das Volk blenden ließ. Er kontrastierte die fingierte Reaktion der ‚Gaffer‘: „So sehen Die also aus, die unser Schicksal bestimmen, – diese ganz fremden, geputzten Menschen aus einer ganz anderen Welt“, mit der des gebildeten Betrachters: „Die Leute haben Unrecht, im neuen Reichstag werden von Bürgern Erwählte die Interessen der Bürger wahrnehmen“. Mit diesem utopischen Wunschbild kontrastierte er empört den Ausschluss des ‚Volkes‘ aus der Eröffnungsfeier: Wenn eine Kaserne eingeweiht wird, ist kein Civilist zu der Feier geladen; wird aber ein Haus, das nicht für die Fürsten, nicht für das Heer, nicht für die Beamten, sondern für die Berathungen der Vertreter des Volkes erbaut wurde, seiner Bestimmung übergeben, dann fehlen die Repräsentanten der Bürgerschaft, des Gewerbefleißes, der Intelligenz, dann sieht man nicht große Gelehrte, Künstler, geistliche und weltliche Lehrer des Volkes, tüchtige Landwirthe und nützlich wirkende Unternehmer, sondern abhängige Männer in glänzenden Livreen.38 Der neue Reichstag war für ihn eine verkehrte Welt, in der ein „Froschmäuserkrieg“ wütete:39 Harden verglich die neu- und wiedergewählten Abgeordneten, „verspätete Gäste aus einer vergangenen Zeit“, die sich „unter der blitzenden Kuppel“ des Wallotbaus gemütlich beisammen fanden, mit den Fröschen und Mäusen aus Froschmeuseler, Georg Rollenhagens „im Stil der Grobianussatire gehaltene[m] Lehrbuch der Politik“.40 Während die Abgeordneten eifrig über die „Würde dieses Reichstages“ stritten,41 hätten sie weder ihre vorgetäuschten gegensätzlichen Ideologien, noch „organisirte Körperschaften“, auch nicht die „deutsche[…] Bildung“ vertreten, sondern lediglich materielle Interessen.42 Harden zieht überlegen das Fazit, ein durchschnittlicher Journalist könne das Niveau dieser Debatten übertreffen, wechselt den Ton dann zum Spott: Wenn der Reichstag etwa eine festliche Volksausgabe der „stenographischen Berichte“ veröffentlichen würde, meint er, würde es an 38 Umsturz, Z 9, 15. 12. 1894, S. 481–491, hier S. 491. 39 Froschmäuserkrieg, Z 10 (wie Anm. 36), S. 52. 40 Ebd., S. 54. Rollenhagens Froschmeuseler (1595) hatte die anonyme pseudohomerische Satire Batrachomyomachia aktualisiert und grotesk gesteigert; G.R.: Froschmeuseler, in: Eugen Wolff (Hrsg.): Reinke de Vos und satirisch-didaktische Dichtung, Stuttgart 1893 (= Deutsche National-Literatur 19), S. 399–469. 41 Froschmäuserkrieg, Z 10 (wie Anm. 36), S. 52. 42 Ebd., S. 53.
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den Tag bringen, wie tief „die geistige Bedeutung der Frösche und Mäuse gesunken“ sei, die „an der Oberfläche des deutschen Lebens so emsig knuspern und quaken“.43 Er führt die Wirkungslosigkeit des Reichstags hier nicht auf die Verfassungsstruktur des autokratischen Bismarckisch-Wilhelminischen Staats zurück, sondern auf das Bildungs- und Kompetenzdefizit der Politiker, ein Verfallsymptom der Moderne. Ähnlich begründete Harden den Vergleich „zwei zeitlich getrennte[r] Epochen“,44 als er im Essay Flöhhatz empfahl, „die Umsturzreden der Paradetribunen genau so komisch zu nehmen wie die nur scheinbar amüsanteren Flohdebatten im Fischartreichstag“.45 Johann Fischart hatte in seiner Flöhhaz allerdings keinen Reichstag dargestellt, sondern durch einen Flohkanzler die Klage der Flöhe gegen die Weiber zurückweisen lassen. In einem Exkurs machte Harden aufgrund der fromm-patriotischen Reichtagsreden eine sarkastische Bestandsaufnahme des ,Paradieses‘ Deutschland aus der fingierten Sicht eines unwissenden ,Kanadiers‘ nach dem Vorbild von Voltaires Candide: Welch ein paradiesisch glückliches Land! Die Minister sind sämmtlich edel, hilfreich und gut und ertragen geduldig jeden freien und kühnen Angriff; die Offiziere, Beamten und Bürger folgen, wenn sie ein Weib zur Ehe erkiesen, einzig der treibenden Stimme des Herzens und lassen in schnöden Mammonsdienst sich niemals verlocken; die Richter leben in einem Zustand idealer Unabhängigkeit [...]; das Bürgerthum ist in allen seinen Schichten kerngesund, es stößt jeden Unreinen rücksichtlos aus und sorgt für die Armen und Elenden in echt christlichem Mitleidsgeist [...]. Und in dieses vor allen anderen glückselige Land sittsamer Tugend, wo es keine Tücke giebt und keine Niedertracht, keine ausbeutende Willkür und keine unfromme Raubgier, und wo in ruhiger Stetigkeit Alles zum Besten Aller gefügt wird, hat sich ein frecher Hornissenschwarm eingenistet, wüstes Gesindel, dem nichts heilig ist, das alles Schönste und Hehrste begeifert und dem schattenlosen Paradiesglück wüsten Untergang droht.46 Danach empfahl er nach dem Vorbild Fischarts die Reinigung des Reichstags: „Gegen Flöhe ist Reinlichkeit noch immer das sicherste Mittel“,47 – kehrte aber den Spieß gegen die ‚Umsturzgegner‘ um, zu deren Diskurs eben die Ausrottung von Ungeziefern gehörte. Denn noch bevor man sich am Anfang der neuen Session des Reichstags mit der Umsturzvorlage auseinandersetzte, wurden Geschäftsordnungsstreitigkeiten um die Frage der Immunität gewisser sozialdemokratischer Abgeordneter wie Wilhelm Liebknecht vor Verfolgung wegen Majestätsbeleidigung ausgelöst.48 Statt auf die verkündeten ideologischen Gegensätze einzu-
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Ebd., S. 53. Flöhhatz, Z 10 (wie Anm. 37), S. 97. Ebd., S. 98. Ebd., S. 99. Ebd., S. 108. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstages. IX. Legislaturperiode. III. Session. 1894/1895. 1. Bd.: Von der Eröffnungssitzung am 5. Dezember 1894 bis zur 36. Sitzung
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gehen, würdigte Harden einige Redner, vor allem gerade den kompromisslosen Sozialdemokraten Ignaz Auer als den einzigen ehrlichen jener Tage, den „vergnügte[n] und gar nicht fürchterliche[n] Sattler aus Niederbayern“, dessen „fleißig gebürstete[r] Arbeitskittel“ von der übrigen „Maskengarderobe“ abstach. Harden freute sich – ein Wort Boileaus zitierend – „an der kernigen Kraft der Sprache“, da Auer „eine Katze keck eine Katze und den ehrenwerthen Bourgeois Rolet einen Schuft“ hieß.49 Der Großindustrielle Freiherr von Stumm50 und der Konservative Graf zu Limburg-Stirum51 kamen weniger glimpflich davon, und Harden dekonstruierte das prekäre „rhetorische[…] Prachtgebäude“ und die phrasenhafte Unlogik des Nationalliberalen von Bennigsen, der statt aus der Prämisse: „In Deutschland hat die Monarchie die festesten Wurzeln“, zu folgern, dass sie hier des „polizeilichen und inquisitorischen Schutzes weniger als sonst irgendwo“ bedürfe, für deren „kräftigeren“ Schutz eintrat.52 Das Haus, das gegen subversive ,Demolierung‘ zu verteidigen die selbstvergnügten ,Berufspolitiker‘ unfähig seien, fährt Harden fort, bedürfte tatsächlich einer gründlichen Reinigung – dieses Mülls. Hinter seiner Übertragung der Fischartschen derbsatirischen Flohnamen auf den „lustigen Rechtsstreit zwischen den Abgeordneten Nimmerruh, Hintenpick, Leistapp und den Ministern Zwicksie, Zopfsiekeck und Springinsröckel“53 steckt Empörung über bürgerlich-liberal-konservative Heuchelei und Wirklichkeitsferne. Harden personifiziert das Parlament kulturpessimistisch als „einen Totkranken“, den „die Geschniegelten“, die selbstsüchtigen Volksvertreter, „noch zur Parade pomadisiren und für die Zersetzungszeichen kein armes Wörtchen fanden“.54
Grundrechte und satirische Symbole Harden lehnte sich als Satiriker häufig an die Klassiker an; die moderne Gesellschaft bedürfe als Vorbild „das befreiende Lachen der Shakespeare, Sachs, Rabelais, Grimmelshausen und
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am 13. Februar 1895, Berlin 1895, S. 7. Zur Aufbauschung des Vorfalls vgl. Umsturz, Z 9 (wie Anm. 38), S. 489/490. Zum Fall Liebknecht vgl. Froschmäuserkrieg, Z 10 (wie Anm. 36), S. 54. Flöhhatz, Z 10 (wie Anm. 37), S. 100. „J’appelle un chat un chat et Rolet un fripon“ (Satire I, Z. 51), in: Nicolas Boileau: Oeuvres complètes. Hrsg. v. Françoise Escal, Paris 1966, S. 14. In seiner Rede am 8. Januar 1895 hatte Auer ein Flugblatt aus der Reformation ausführlich zitiert; vgl. Stenographische Berichte (wie Anm. 48), S. 184–202, hier S. 188. Das unrealistische patriarchalische Staatskonzept sei Beispiel für einen typischen Irrtum seiner Klasse; Flöhhatz, Z 10 (wie Anm. 37), S. 102/103. Zur Rede des Freiherrn von Stumm, vgl. Stenographische Berichte (wie Anm. 48), S. 206–213. Die konservativen Ideen des Grafen zu Limburg-Stirum seien nicht mehr haltbar; Flöhhatz, Z 10 (wie Anm. 37), S. 104. Zu dessen Rede, vgl. Stenographische Berichte (wie Anm. 48), S. 233–236. Flöhhatz, Z 10 (wie Anm. 37), S. 106. Zur Rede des Dr. von Bennigsen, vgl. Stenographische Berichte (wie Anm. 48), S. 244–251. Flöhhatz, Z 10 (wie Anm. 37), S. 98. Vgl. Fischart: Flöh Haz. Weiber Traz, in: Adolf Hauffen (Hrsg.): Johann Fischarts Werke. Eine Auswahl. Tl. 1: Flöh Haz. Das glückhafft Schiff von Zürich [. . .], Stuttgart o. J. [1895] (= Deutsche National-Literatur 18/1), S. 1–129, hier S. 40 (Nimmerru), S. 43 (Hindenpick), S. 47 (Zwicksi), S. 50 (Leistapp), S. 53 (Zopfsikek und Springinsröckel). Flöhhatz, Z 10 (wie Anm. 37), S. 107.
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Molière“.55 Im Juli 1897 hätte Kraus aber aus der Zukunft eine andere Antwort auf seine Frage entnehmen können: In einem Artikel über die Angst vor einer spukhaften Rückkehr Bismarcks weist Harden auf den „lustige[n] Karikaturenzeichner“ Caran d’Ache hin, der vor kurzem einen „Bismarck“ gezeichnet habe, „der die ihm zur Reparatur übergebene stolze Puppe Germania prüfend betastet und gleich merkt, daß ein allzu heftiger Ruck das Innerste des Leibes zerrüttet hat“ – Zerrüttungen, fügt Harden hinzu, die weder mit Ratschlägen noch mit Arznei, sondern nur durch den stillen Fleiß eines Volkes geheilt werden könnten. Während er solche belehrenden Beispiele oft allzu schematisch bemüht, erkennt er hier ein anderes Potenzial zur Erfassung politischer Zusammenhänge: Bildsprache und Metaphorik seien oft treffsicherer, „als mancher ernste Politiker zu denken weiß“.56 Dazu B. Uwe Weller: „[D]aß er hinter einem winzigen Anlaß die großen Konsequenzen der Zukunft erkennen und beim Namen nennen konnte“, machte ihn nicht nur zum Politiker, sondern zum Satiriker.57 Angesichts der wilhelminischen Zensur war Hardens oft meisterhafte literarischmythologische Verkleidung der Kritik von strategischem Wert, manchmal von epochaler Bedeutung:58 In diesen Jahren entstanden seine satirischen Visionen des neuen Deutschland als „Phrasien“,59 die Gleichsetzung der „blinden Andacht“ vor dem Heiligen Rock mit dem Gottesgnadentum Wilhelms II.,60 das Bild der Epoche nach der verflossenen „eisernen Zeit“ Bismarcks als „Gipszeitalter“,61 der spöttische Vorschlag eines „Caprivi-Denkmal[s]“,62 die Fabel von „Großvaters Uhr“63 und das Märchen von der „Pudel-Majestät“: „Hyazinth, der späte Sprößling der seit Jahrhunderten ruhmreich im weiten Lande der Fliegenschnapper herrschenden Tulpenzwiebeldynastie“.64 Ein typisches Beispiel für Hardens Einflechtung literarisch-mythologischer Motive in den politischen Kommentar ist Der Gummischlauch vom Mai 1894.65 Dieser Titel spielt auf Aeolus’ Ruhm als ‚Windmacher‘ und seinen Streich an, für Odysseus die Winde in einem Beutel zu sammeln. Harden konzipiert Aeolus als „Schutzpatron“, als göttlichen „Proku-
55 M. H.: Theater, Z 1, 15. 10. 92, S. 120–126, hier S. 123. 56 Der weiße Mann, Z 20, 17. 7. 1897, S. 97–102, hier S. 102. Caran d’Ache war Pseudonym für Emmanuel Poiré. 57 Weller: Maximilian Harden (wie Anm. 1), S. 378. 58 Ebd., S. 112. 59 Phrasien, 20. 7. 1890, in: Maximilian Harden: Kaiserpanorama. Literarische und politische Publizistik. Hrsg. v. Ruth Greuner, Berlin 1983, S. 56–62. 60 Harden fasste damit auch andere, zivile und militärische, „heilige Röcke“ ins Auge, deren Anbetung die Herrschenden guthießen; vgl. Der heilige Rock, 18. 9. 1891, in: Harden: Kaiserpanorama (wie Anm. 59), S. 82. 61 Gips, 18. 5. 1891, in: Harden: Kaiserpanorama (wie Anm. 59), S. 72–79, hier S. 74. 62 Caprivi-Denkmal, Z 4, 8. 7. 1893, S. 91–96; vgl. Weller: Maximilian Harden (wie Anm. 1), S. 118. 63 Großvaters Uhr, Z 24, 13. 8. 1898, S. 306–312; vgl. Weller: Maximilian Harden (wie Anm. 1), S. 111/112. 64 Pudel-Majestät, Z 23, 18. 6. 1898, S. 495–499, hier S. 495. Dazu Neumann: Maximilian Harden (wie Anm. 2), S. 103: eine „im Gewand geistreicher Feuilletoncauserie vorgetragene Fabel“. 65 Der Gummischlauch, Z 7, 19. 5. 1894, S. 291–301.
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rist[en]“ für die moderne Presse, die über ihre Funktion hinaus zu einer gefährlichen Macht im Lande gewachsen ist.66 Erst nach dieser zweiseitigen allegorischen Einleitung wendet sich Harden jenem aktuellen Ereignis zu, das seine Reflexionen ausgelöst hatte: Die Verurteilung im Berliner Landgericht von acht Journalisten zu Freiheitsstrafen wegen Beleidigung der Polizei, da sie von einem am 18. Januar 1894 stattfindenden blutigen Zusammenstoß zwischen arbeitslosen Demonstranten und Polizisten allzu kritisch berichtet hatten. Dem sozialdemokratischen Vorwärts (sowie Blättern verschiedener Parteirichtung) zufolge war ein starkes Aufgebot von Polizeibeamten auf eine sich friedlich auflösende Arbeitslosenversammlung in Friedrichshain mit blanker Waffe und mit Gummischläuchen losgegangen.67 Die Vossische Zeitung empörte sich über die Leitung der Gerichtsverhandlungen gegen die Journalisten, besonders über die Befangenheit des Landgerichtsdirektors Brausewetter, der die Verteidiger beschimpft und seine Vorurteile gegen die Presse (und den Vorwurf des Sensationalismus) mit dem Satz begründet habe: „Die Oeffentlichkeit existirt nicht“.68 Harden – der von dem sozioökonomischen „Kriegszustand“ zwischen Proletariat und den Besitzenden in einer Zeit der Kapitalkonzentration keineswegs absieht –69 weist die protestierende liberale und sozialdemokratische Presse zurecht und behauptet, die Ausrüstung der Polizei mit Gummischläuchen – hier fällt die konkrete Bedeutung des Wortes ins Auge – habe den Zweck, „beim Einhauen [...] gefährliche“ Körperverletzungen möglichst zu vermeiden.70 Während sich Zeitungen verschiedenster Parteifarbe über die von den Ausschreitungen der Polizei bewirkte Massenpanik und Körperverletzungen einig waren,71 will Harden die Hohlheit der „Gummischläuche“ als Entlastungsbeweis für die Absicht der Polizei hervorheben, wobei doch die ihm entschlüpfte Wendung „beim Einhauen“ die Absicht der Körperverletzung wohl verrät. Harden will unberührt als „fern Stehende[r]“ und „unbetheiligte[r] Zuschauer“72 das angebliche ,Blutbad‘ als Bagatelle hinstellen, da ihm daran liegt, die Übertreibungen der Presse zu charakterisieren. Mit dem Prozess sei kaum etwas für die Rechte der Arbeitslosen gewonnen, und die Zurechtweisung liberaler Journalisten durch den Vorsitzenden sei kaum
66 Ebd., S. 292. 67 Die Polizei gegen die Arbeitslosen, in: Vorwärts. Berliner Volksblatt 11, 19. 1. 1894, Heft 5, S. 1/2. 68 Der Segen der Oeffentlichkeit, in: Königlich privilegierte Berlinische Zeitung (Vossische Zeitung), Nr. 219, 12. 5. 1894, Abendausgabe, S. 1. 69 Der Gummischlauch, Z 7 (wie Anm. 65), S. 297. 70 Ebd., S. 298. 71 Gerichtliches. Adam und Genossen, in: Königlich privilegierte Berlinische Zeitung (Vossische Zeitung), Nr. 211, 8. 5. 1894, Abendausgabe, S. 2/3; Gerichtliches, in: ebd., Nr. 212, 9. 5. 1894, Morgenausgabe, 1. Beilage, S. 1; Nr 214, 10. 5. 1894, Morgenausgabe, 1. Beilage, S. 1; Die Leitung der Gerichtsverhandlungen, in: ebd., Nr. 215, 10. 5. 1894, Abendausgabe, S. 1; Der Prozeß über den Aufzug der Arbeitslosen, in: Nr. 216, 11. 5. 1894, Morgenausgabe, S. 2. 72 Der Gummischlauch, Z 7 (wie Anm. 65), S. 297.
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schlimmer als seinerzeit die des Antisemiten Ahlwardt vor Gericht.73 Harden greift das mythologische Motiv des Sacks auf, um die Selbstbehauptung der „öffentlichen Meinung“ als „moderne Windmacher[in]“74 zu geißeln. Mit dieser etwas schwerfälligen allegorischen Qualifikation der Pressefreiheit wird der mit „Gummischlauch“ bezeichnete, von der Presse inkriminierte ,Knüppel‘ – und damit die im Wilhelminischen System akuten Grundrechtsfragen (Verteidigung der Versammlungsfreiheit und Pressefreiheit) – in den Schatten gestellt.
Klassenjustiz, Sexualmoral, satirisches Panorama Nicht nur die Presse, sondern auch die Justiz und die Sexualmoral gehörten trotz zunehmender Meinungsverschiedenheiten zu den gemeinsamen Gegenständen von Hardens und Kraus’ Gesellschaftskritik. Harden hatte anlässlich des Mordprozesses Guthmann im April 1899,75 in dem es um die Ermordung einer Prostituierten ging, das Gerichtsverfahren ebenso scharf analysiert wie später Kraus Wiener Justizmorde in Sittlichkeit und Kriminalitat. Harden erklärte den Staatsanwalt für inkompetent und die forensischen Methoden für äußerst zweifelhaft, – in diesem Punkt mit der liberalen Presse übereinstimmend. Die Befangenheit des Vorsitzenden, der mit seinen Auslassungen gegen Zeugen als lumpenproletarisches Gesindel das Beweisverfahren in die Irre leitete und den Angeklagten einzuschüchtern versuchte, rekonstruiert und enthüllt Harden mittels erlebter Rede: Zeigt er [der Angeklagte] sich sicher, redet keck, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, und hat auf jeden Einwurf eine pfiffige Antwort: die Frechheit dieses geriebenen Burschen verdient exemplarische Strafe. Ist er ungebildet, ein Analphabet aus der Hefe des Volkes: ein so tief stehendes, rohes Subjekt wagt den Angriff auf unsere heilige Rechtsordnung!76 Seine Kritik an der „Stimmungjustiz“ [!] dieses überheblichen Vertreters der Klassenjustiz, eines Typus, der in Heinrich Manns Der Untertan seine literarische Verkörperung fand, wurde durch den erfolgten Freispruch Guthmanns nicht entkräftet. Der Bericht schließt mit einer weitblickenden Diagnose des Zustands deutscher Kultur, ein Beispiel der ‚Vision‘, die, wie Weller meint, Harden ermöglichte, „aus den Möglichkeiten der Gegenwart die Notwendigkeiten für die Zukunft“ zu entwickeln:77
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Ahlwardt wurde 1892 wegen Verleumdung der Gewehrfabrik Loewe zu fünf Monaten Zuchthaus verurteilt. Harden trat gegen die Befürworter der Zuchthausvorlage für das Streikrecht und die Arbeiteremanzipation ein; vgl. Weller: Maximilian Harden (wie Anm. 1), S. 128/129. Der Gummischlauch, Z 7 (wie Anm. 65), S. 301. Guthmann, Z 27, 29.4.1899, S. 185-199. Ebd., S. 188. Weller: Maximilian Harden (wie Anm. 1), S. 378.
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Solche Prozesse sind im letzten Lebensjahr des neunzehnten Jahrhunderts in der Hauptstadt des Deutschen Reiches möglich, allwo man die Hände ringt, weil ein Akt der von der Presse unterstützten Stimmungjustiz den edlern Herrn Dreyfus auf die Teufelsinsel verbannt hat.78 Eine so souveräne Perspektive übetrifft die von Conrad Alberti bemühte materielle Zukunftsmetapher („Rumpelkammer“) an Pathos und historischem Bewusstsein. Harden entfaltete in seiner Zukunft nicht nur, wie Kurt Koszyk bemerkt, „das ganze Panorama Wilhelminischer Unzulänglichkeiten“,79 sondern hatte im November 1899 den prophetischen Weitblick, vor den Folgen der Flottenpolitik zu warnen, die in zwanzig Jahren zu einem Krieg gegen Deutschland führen würde.80 Seine Warnung vor einer Ausdehnung des Nachrichtendienstes: Jede Dummheit, die eine Zeitung in Mitternachtängsten produziert, wird von der anderen geschäftig weiter verbreitet und dieses gewissenlose Spiel spinnt von Rom sich fort nach Paris, von dort nach Berlin usw., bis eines Tages der Erdtheil in Flammen steht, die ein Holzpapierstoß entzündet hat[,]81 war vorbildlich für Kraus’ Bekämpfung der Verbreitung von Unwahrheit und für den Nörgler in den Letzten Tagen der Menschheit, der das Zündholz in einen metaphorisch-apokalyptischen Zusammenhang mit der Kriegserklärung bringt.82 Ironisch erscheint es, dass die Polemik Kraus’ gegen Harden um 1908 in einem ähnlichen historischen Ausblick gipfelte wie Hardens im Prozess Guthmann. Ein Höhe- und Tiefpunkt der jahrelangen Polemik Hardens gegen Kaiser, Hof und Regierungspolitik war die Moltke-Eulenburg-Affäre. Nach dem Misslingen seines „warnend[en] und drohend[en]“ satirischen Ansatzes nach Jahren des Kampfes gegen die Macht des Hofes griff er selbst zum Mittel journalistischer Sexualschnüffelei, um den Kreis persönlicher Berater des Kaisers politisch unmöglich zu machen. Mit der Verfolgung prominenter Homosexueller, die vor Gericht endete, erzielte er wohl Breitenwirkung, verlor aber gerade den Sinn für die politisch-gesellschaftlichen Folgen – und auch für die Verhältnismäßigkeit der polemischen Mittel.83 Indem Kraus Harden deswegen Moralheuchelei vorwarf, beschwor auch er die Zukunftsperspektive herauf: In Deutschland, wird es heißen, wars möglich, daß sich eine Denunziation, neben der die erwiesene Päderastie eine geistige Leistung ist, als eine Tat der Feder ausschrie. Daß einer den Strangulierern der ursprünglichsten Menschenrechte geholfen, aber in einem 78 Guthmann, Z 27 (wie Anm. 75), S. 190. 79 Koszyk: Deutsche Presse im 19. Jahrhundert (wie Anm. 3), S. 251. 80 1917, Z 29, 11. 11. 1899, S. 233–240, hier S. 240; vgl. Weller: Maximilian Harden (wie Anm. 1), S. 123. 81 Kapellmeister Kern, Z 4, 26. 8. 1893, S. 432. 82 Kraus: Schriften (wie Anm. 8), Bd. 10: Die letzten Tage der Menschheit, S. 659. 83 Dazu vgl. die unveröffentlichte Doktorarbeit von G[ilbert] J. Carr: The Major Literary Polemics of Karl Kraus, University of Durham 1972, S. 100–150.
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Winkel seiner Zeitschrift heuchlerisch die Kultur protegiert und sich bei den Ästheten Absolution geholt hat. Daß er dem Kehrbesen des Polizeigeistes befahl und sich als Märtyrer des freien Worts gehabte.84 Die Problematik der Kampfmittel Hardens gegen Moltke und Eulenburg führt auf die Frage der Treffsicherheit der politischen Satire zurück. Indem Kraus Hardens Beschäftigung mit Tatsachen aus dem Sexualleben tadelte,85 grenzte er sich von dessen enger Auffassung des Lassalleschen Mottos „Aussprechen, was ist“ ab: „[...] darauf kommt es an. Aussprechen, was möglich ist!“86 Diese Perspektive nimmt die Satiretheorie Georg Lukács’ vorweg, derzufolge etwa die Tat des Hauptmanns von Köpenick selbst eine satirische Verkörperung des „gesellschaftlichen Zustandes“ des Wilhelminismus sei, „die Entlarvung einer nichtigen Erscheinungsform durch das plötzliche In-Erscheinung-Treten ihres Wesens“, da der Umstand, dass in diesem System des hohlen „Kadavergehorsams“ „so etwas überhaupt möglich ist“, ausreiche, „um den Gegenstand der Satire als hinreichend charakterisiert zu empfinden“.87
Reichsfassade und Textkonstruktion Kraus entwickelte aus seiner von Harden beeinflussten Polemik gegen die Presse eine der Moderne gemäße Methode der Satire: in Sprachglossen die öffentlich Meinenden beim Wort zu nehmen und dadurch den gesellschaftlichen Zustand symptomatisch zu charakterisieren. Es gab in der Zukunft Ansätze dazu: Sie nahm erstaunlicherweise die treffende stilistische Enthüllungsmethode der „Übersetzung aus Harden“, die Kraus nach 1907 gegen ihn einsetzte,88 wenigstens theoretisch vorweg, als der Mitarbeiter Otto Reinhold in seiner Kritik des „Juristenstil[s]“ vorschlug, die Urteile des „Reichsgericht[s]“ zu „verdeutsch[en]“.89 Ein polemisches Mittel, das Kraus offensichtlich bei Harden erlernte, ist die spaltenweise Gegenüberstellung zweier kontrastierender Zeitungsberichte oder „das Gegenüberstellen verschiedenartiger Dinge, die Art, eine Sache anzuschauen“, wie eine Zukunft-Mitarbeiterin es 84 Kraus: Schriften (wie Anm. 8), Bd. 2: Die chinesische Mauer, S. 88. 85 „Nicht immer darf ein Name genannt werden. Nicht, daß einer es getan hat, sondern daß es möglich war, soll gesagt sein“; Kraus: Schriften (wie Anm. 8), Bd. 8: Aphorismen, S. 132. 86 Ebd., S. 298. 87 Georg Lukács: Zur Frage der Satire, in: G. L.: Werke. Bd. 4/1: Probleme des Realismus 1: Essays über Realismus, Neuwied, Berlin 1971, S. 83–107, hier S. 92/93. Statt „durch ein ganzes bewegliches System von Vermittlungen“ das „Weltbild einer Zeit, eines gesellschaftlichen Zustandes“ zu geben, leiste die Tat des Hauptmanns von Köpenick „die Entlarvung einer nichtigen Erscheinungsform durch das plötzliche In-Erscheinung-Treten ihres Wesens mit einem Schlag, unmittelbar, ohne Reflexion, ohne Einschaltung von Zwischengliedern“; ebd., S. 91/92. Auch Harden hatte zunächst diesen „Meisterstreich des verhärmten Satirikers“ begrüßt; Abfuhr, Z 57, 8. 12. 1906, S. 363–380, hier S. 376; vgl. Koszyk: Deutsche Presse im 19. Jahrhundert (wie Anm. 3), S. 253. 88 Kraus gab vor, Hardens Desperanto ins Deutsche ,übersetzen‘ zu müssen; Karl Kraus: Desperanto, in: ders.: Schriften (wie Anm. 8), Bd. 3: Literatur und Lüge, S. 219–226. 89 Otto Reinhold: Juristenstil, Z 34, 2. 2. 1901, S. 202–206.
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ausdrückte.90 Als Harden zu Bismarcks Geburtstag die scheinheiligen Würdigungen der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung, die den alten Reichskanzler erst achtzehn Monate früher angegriffen hatte, auf diese Weise entlarvte, glossierte er: „Der Stil ist schwerer zu ändern als die Gesinnung.“91 Den Text der Königsberger Rede Wilhelms II. vom September 1894 unterzog Harden dieser kontrastierenden Methode. Als der Kaiser, um die enge Verwandtschaft des preußischen Adels mit dem ,Königshaus‘ zu betonen, das Bild des „Epheu[s]“ bemühte, der „sich um den knorrigen Eichstamm legt“: „ihn schmückt mit seinem Laub und ihn schützt, wenn die Stürme seine Krone durchbrausen, so schließt sich der preußische Adel um mein Haus“, macht der von Harden angeführte Vergleich Goethes aus Dichtung und Wahrheit – der Mollusken mit dem stammlosen Efeu, der „gern überall, wo er sich anschmiegt, die Hauptrolle spielen“ mag und „an einem Pfahl hinaufklettert und versichert, hier sei ein lebendiger Stamm, weil er ihn umlaubt habe“ –92 jeden weiteren Kommentar überflüssig. Aber Hardens Schwerpunkt blieb die politische Polemik. Mit seinen dramatisch stilisierten Leitartikeln und seinen pathetisch-prophetischen Prologen grenzte er sich von der phrasenhaften öffentlichen Meinung ab und gab seiner Zeitschrift ein eigenes Gepräge. In der ersten Nummer erklärte er: „durch eigenen Werth, nicht durch tönender Prologe gestelztes Pathos, sollen diese Blätter sprechen“,93 aber sie gingen allzu oft über die Sache hinaus in Selbstkommentare oder gelehrte Abschweifungen über, die seine überlegene Belesenheit zur Schau stellten. Im Gegensatz zu seiner Kritik des wilhelminischen Prunks steht diese zwanghafte Originalität, vor allem seine „exzentrische Diktion“,94 die aus komplexen, klassizierenden, rhythmisch schwerfälligen Perioden, idiosynkratischer Rechtschreibung und Wortwahl bestand. Durch solche literarisierenden Verkleidungen lief die politische Aussage laut Weller Gefahr, verwischt zu werden.95 Kraus traf mit dieser Diskrepanz zwischen polemischen Zielen und rhetorischen Mitteln die Achillesferse Hardens, indem er gerade bei dessen politischer Reinigungsaktion die stilistische Nähe zum wilhelminischen Prunk erkannte: „Er will die Reichsfassade reinfegen. Aber sein Arbeitskittel ist ein wallendes Gewand, das ein van de Velde entworfen hat“.96 Gottfried Korff zufolge bekämpfte Harden die „im Zeichen großstädtischer Tendenzen“ betriebene, inhaltlose „illuminierte Politik“ des „,roi parvenu‘“ Wilhelm II.97 Die Kritik 90 G[ertraud] von Beaulieu: Die Einfalls-Fabrikantin, Z 24, 23. 7. 1898, S. 175–177, hier S. 177. 91 Paralipomena zum Bismarcktage, Z 6, 3. 2. 1894, S. 239/240. 92 Notizbuch, Z 8, 22. 9. 1894, S. 576. Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Poetische Werke. Vollständige Ausgabe. Bd. 8: Autobiographische Schriften. Tl. 1: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, Stuttgart 1952, S. 642. 93 Apostata: Vom Bel zu Babel, Z 1. 10. 1892, S. 33–40, hier S. 39. 94 Weller: Maximilian Harden (wie Anm. 1), S. 16. 95 Ebd., S. 362. 96 Kraus: Schriften (wie Anm. 8) Bd. 8: Aphorismen, S. 248. 97 Gottfried Korff: ,Die Stadt aber ist der Mensch . . .‘, in: Gottfried Korff, Reinhard Rürup (Hrsg.): Berlin, Berlin. Die Ausstellung zur Geschichte der Stadt. Katalog, Berlin 1987, S. 643–663, hier S. 655.
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Hardens gilt zwar parvenuhaften Tendenzen im Berliner Leben, aber sie stellt keine Diagnose der Modernität des Kaisers dar. Gregor Streim setzt in seiner eingehenden Untersuchung der Wandlungen des Berlin-Wien-Gegensatzes in den Beziehungen der beiden Autoren zueinander Kraus’ Polemik gegen Harden um 1907 mit einer Kritik an der Moderne gleich: Hardens „effekthaschende[s]“ sprachliches „Neutönen“ sei „Ausdruck einer für Berlin typischen Mechanisierung des Lebens“, die der Wiener ablehne.98 Streim zufolge verbanden sich in Kraus’ Berlin-Bild „allgemeine Charakteristika der Moderne“ wie „die parvenuehafte Mentalität des neudeutschen Kaiserreichs, […] aber auch ein[…] Zustand fortgeschrittener Amerikanisierung“.99 Das trifft nur zum Teil zu, denn Kraus spielte immerhin die Berliner „Nüchternheit“ gegen die Wiener Scheinsentimentalität aus100 und griff im Bündnis mit der ,kritischen Wiener Moderne‘ eines Adolf Loos die überholte Ornamentkultur an.101 Demgemäß galt Kraus’ Kritik dem ,Tatsachenmenschen‘ Harden nicht als Vertreter der Modernität, sondern dessen Widersprüchlichkeit – der gleichzeitigen Manieriertheit und Moralheuchelei –, die den Berliner Publizisten als Symptom eines von ihm selbst bekämpften, noch nicht modernisierten kaiserlichen Deutschland charakterisierte, das für die Überwindung durch eine konsequent ,kritische Moderne‘ reif war.
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Sprengel u. a.: Berliner und Wiener Moderne (wie Anm. 7), S. 170. Ebd., S. 165. Ebd., S. 171. Vgl. Mirko Gemmel: Die kritische Wiener Moderne: Karl Kraus, Adolf Loos, Ludwig Wittgenstein. Ethik und Ästhetik, Berlin 2005. Imagologische Vergleiche des literarischen und journalistischen Berlin- und Wienbildes im 20. Jahrhundert heben den Mythos Wiens als „prämoderne Insel“ (gegenüber der Asphaltstadt Berlin) hervor; z. B. Christian Jäger, Erhard Schütz: Städtebilder zwischen Literatur und Journalismus. Wien, Berlin und das Feuilleton der Weimarer Republik (Literaturwissenschaft – Kulturwissenschaft), Wiesbaden 1999, S. 103/104.
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Hauptstadt-Architekturen Die polyphonen Angebote der Museumsinsel für das kaiserzeitliche Berlin
Dass die Reichsgründung 1871 trotz aller Vorboten praktisch über Nacht über Berlin gekommen sei und die Stadt entsprechend unvorbereitet angetroffen habe, lässt sich in fast jeder Berlin-Monographie nachlesen. Dementsprechend könne man von einer genuin hauptstädtischen Architektur, die die neue Rolle der von der königlich preußischen Residenzstadt zur kleindeutschen Reichshauptstadt beförderten märkischen Metropole angemessen hätte verkörpern können, nicht von Anfang an sprechen. Eine nationale Baukunst von einiger Konstanz und Wiedererkennbarkeit habe sich, so die communis opinio, in Berlin vielmehr erst allmählich herauskristallisiert: in einem längerfristigen, ohne erkennbare Gesamtplanung verlaufenden Prozess, der nach der Gründerkrise zögerlich in den 1870er und 80er Jahren anhob, in den 1890er Jahren greifbarer wurde, aber erst nach der Jahrhundertwende kulminierte.1 Allerdings scheint sich bei der näheren Charakterisierung dieser nur post festum erkennbaren Hauptstadt-Architektur, die lange zwischen Schinkelschule und Neurenaissance, Neobarock und Heimatstil changierte, vor allem die Chiffre ‚Wilhelminisches Berlin‘ einzustellen. Vage wird hierbei vorrangig an Dom und Kaiserpassage, Justizpaläste und KudammArchitektur gedacht, während fortschrittlichere, aber auch konservativere Beiträge der Berliner Architektur, etwa Alfred Messels Kaufhaus Wertheim oder Martin Gropius’ Kunstgewerbemuseum, Alfred Grenanders U-Bahn-Stationen oder Franz Schwechtens Anhalter Bahnhof, demgegenüber fast ausgeblendet bleiben. Die Idee einer einheitlichen HauptstadtArchitektur, selbst wenn man sie nur wilhelminisch deutet, verflüchtigt sich jedenfalls, sobald man sie exakter zu fassen sucht: „Staufische und norddeutsche Kirchen, Fabriken, Bahnhöfe und Warenhäuser, säulenreiche und rustikaschwere Verwaltungspaläste und Ho1
Siehe etwa Helmut Engel: Baugeschichte Berlin. Bd. 2: Umbruch, Suche, Reformen 1861–1918. Städtebau und Architektur in Berlin zur Zeit des deutschen Kaiserreichs, Berlin 2004; Harald Bodenschatz: Städtebau von den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, in: Berlin und seine Bauten. Teil 1: Städtebau, Berlin 2009, S. 13–109, und Harald Bodenschatz: Städtebau in Berlin. Schreckbild und Vorbild für Europa, Berlin 2010, S. 13–34.
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tels, Museen und Institute, Mietskasernen, Prachtstraßen und Villenviertel prägten die Kaiserstadt“,2 so resümierte Tilmann Buddensieg einmal bündig die Auffassung, erst die Moderne habe dem späthistoristischen Durcheinander kaiserzeitlicher Architektur ein Ende bereitet.
Abb. 1: Alfred Messels Neubauplan für die Königlichen Museen
Das heißt nun nicht, es habe in all der neuen Unübersichtlichkeit keine Versuche gegeben, die junge Reichshauptstadt architektonisch zu imaginieren. In der Tat gab es nach 1871 mehrere Anläufe, eine dem kleindeutschen Reich oder Großpreußen angemessene Hauptstadt-Architektur zu erfinden – eine Konstruktion der Hauptstadt, die sich wie in Paris oder London in ihren Bauten spiegeln und so wiederum die Idee der Kapitale reaffirmieren sollte. Um mit einem ihrer bekanntesten, aber auch schillerndsten Vertreter zu beginnen: Bis heute fasziniert an Alfred Messels riesenhaftem Museumsentwurf für die Berliner Mitte, dass und wie er sich den kunsthistorischen Bestimmungsübungen gegenüber als resistent erwies. Man hat in den außerordentlich suggestiven Entwürfen Messels, die Wilhelm Bode seinem Nachruf auf den Architekten 1910 beigab, einerseits einen Rekurs auf preußische Dreiflügelbauten erkennen wollen, auf die ‚klassischen Bauten des Berliner Zopfes‘, andererseits einen ‚industriebürgerlichen Reichsstil‘ am Werk gesehen, dazu einen ‚Neoklassizismus um 1910‘; in der exponentiellen Steigerung der Baumassen meinte man wahlweise einen ‚Zyklopenstil‘ oder die Megalomanie des Wilhelminismus zu erspüren, wenn nicht gar im kaiserlich vorgeschriebenen Muschelkalk einen Vorläufer der Speerschen Germania-Träume. Erst vor Kurzem ist Messels Museumsbau – ich spreche, man wird es erkannt haben, vom späteren Pergamonmuseum, verzichte aber aus guten Gründen auf diese Benennung – wiederum als 2
Tilmann Buddensieg: Hauptstadtarchitektur? Berlin baut auf Staat, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. 5. 2001, S. 54.
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Inkunabel der Moderne angepriesen worden.3 Abgesehen davon, dass eben ein jeder das sieht, was er sehen möchte, unterstreichen die zitierten Beobachtungen vorzüglich den gesucht hybriden Charakter, das vorsätzlich kombinierende und oft verschleiernde Baukleid, in dem die schillernde Architektur der Kaiserzeit bevorzugt auftrat. Erst wenn man zur Kenntnis nimmt, dass dieses heute unter dem Namen Pergamonmuseum bekannte Riesengebäude zunächst auch ‚Deutsches Museum‘ heißen sollte und Messel und seine Auftraggeber dies offenbar programmatisch nach außen kehren wollten, erschließt sich die Brisanz dieser Architektur für unsere Fragestellung. Die Zeitgenossen empfanden, auf der Museumsinsel sei „namentlich die deutsche Kunst zu kurz gekommen, deren wesentliche Erweiterung eine Pflicht der Hauptstadt des Deutschen Reiches ist, und die daher einen besonderen Bau erfordert“.4 Erst angesichts der heute gerne übergangenen Tatsache, der die Museumsinsel beschließende wie bekrönende Sammlungsbau sei zur Erbauungszeit als ausgesucht nationales Werk begriffen worden, schält sich heraus, in der späteren Kaiserzeit seien nicht nur einzelne Berliner Sammlungsbestände, sondern auch deren Architekturen einer nationalisierenden Neubestimmung unterzogen worden. Neben die Konstruktion der Kulturnation, die in ihren Museen das kulturelle Leitbild des neuen Staates ansammelte, trat so die Konstruktion der deutschen Hauptstadt, die sich in ihren Bauten zu spiegeln hatte. Im Schnittpunkt beider kulturpolitischen Konstruktionen liegt die Museumsinsel,5 die nicht nur zum Spielfeld der Kunstgeschichte als Disziplin, sondern auch zum Terrain der Selbstvergewisserung der Nation anhand ihres Kunstbesitzes heranwuchs. Die Berliner Museumsinsel liefert in der Tat ein Ensemble „gebauter Architekturgeschichten“,6 das man nicht anders als im Plural ansprechen möchte und das, so die These dieses Beitrags, als ein Bündel pluraler Entwürfe für die Künste wie für den Staat verstanden werden wollte. Gerade im Vergleich mit anderen europäischen Museumslandschaften – dem Louvre oder dem British Museum – fällt die geradezu schreiende Uneinheitlichkeit der Berliner Bauten ins Auge. Zusammengehalten werden die Solitärbauten weit mehr durch ihre urbanistische Insellage denn ihre Eigenschaft, gemeinsam die ‚Königlichen‘, später ‚Staatlichen Museen zu Berlin‘ zu bilden; architekturästhetisch streben sie deutlich voneinander fort. Die auch heute noch frappierende Vielgestalt der Museumsbauten auf ihrer Insel steht für die Diversität der Entwürfe, die für die Inhalte wie für die äußeren Formen der hauptstädtischen Museen erdacht wurden. Dies empfiehlt sie für eine Untersuchung der 3
4 5 6
Zu Messels Museumsbau haben sich dezidiert etwa Wilhelm Bode, Walter Curt Behrendt, Tilmann Buddensieg, Wolfgang Pehnt, Elke Blauert, Robert Habel und Jasper Cepl geäußert; vgl. Elke Blauert u.a. (Hrsg.): Alfred Messel (1853–1909). Visionär der Großstadt. Ausstellungskatalog, Berlin 2009 mit Literatur. Bemerkenswert scheint mir, welche unterschiedlichen Charakterisierungen der Messelsche Bau auch heute noch erfährt – was das Hybride seiner Erscheinung kennzeichnet. Wilhelm Bode: Alfred Messels Pläne für die Neubauten der Königlichen Museen, in: Jahrbuch der Königlich Preußischen Kunstsammlungen 31, 1910, S. 59–63, hier S. 59. Auf einer lokaleren oder regionaleren Ebene könnte man auch das Märkische Museum dazu zählen, das von Kurt Winkler in diesem Band behandelt wird. Andreas Köstler: Gebaute Architekturgeschichten, in: ders., Thomas Hensel (Hrsg.): Einführung in die Kunstwissenschaft. Die Berliner Museumsinsel, Berlin 2005, S. 117–135.
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verschiedenen Konstruktionen des Späthistorismus – beziehen sie sich nun auf die Stadt als neuer Reichshauptstadt oder die Sammlungen als künstlerischen Schatz des neuen Reiches. Für die Kaiserzeit wären daher insgesamt nicht weniger als vier ausgeführte Bauten zu verhandeln, die auf ihre Qualitäten als Hauptstadt-Architekturen zu untersuchen wären: die Alte Nationalgalerie Friedrich August Stülers und Heinrich Stracks, 1876 der deutschen Kunst geweiht und rückwirkend mit dem Datum 1871 versehen; das erste Pergamonmuseum Fritz Wolffs, als erstes Museum einem einzigen Gegenstand eingeräumt, noch dazu einer Architektur als Ausstellungsgut; das Kaiser-Friedrich-Museum Ernst Eberhard von Ihnes, das preußische Treppenhäuser und italienische Basiliken denkwürdig miteinander verknüpft; und das Riesenmuseum Alfred Messels und Ludwig Hoffmanns, als neu eingerichtetes Deutsches Museum zum nationalen Höhepunkt und Schlussstein der Inselgestaltung bestimmt. Darüber hinaus müssten auch die vielen Wettbewerbe und Ausschreibungen für die Bauten auf der Museumsinsel berücksichtigt werden, etwa die Planungen August Orths, der von Bernhard Sehring und Ludwig Hoffmann gewonnene Schinkel-Wettbewerb 1881/82 sowie die von über 300 Architekten beschickte Ausschreibung zur Bebauung der Inselspitze 1883/84.7 Demgegenüber beschränke ich mich auf drei Beispiele: die Alte Nationalgalerie, das Kaiser-Friedrich-Museum und das Deutsche Museum, die wiederum lediglich auf ihr Potential als Hauptstadt-Architekturen befragt werden sollen. Als These meiner Diskussionsvorlage sei vertreten, die merkwürdig verstreuten, sich auch als Einzelbauten zunehmend einer genaueren typologischen wie stilistischen Einteilung entziehenden Bauten möchten als architektonische Äquivalente einer pluralistisch verlaufenden Suche nach einer adäquaten Hauptstadt-Architektur zu verstehen sein. Der Polyphonie der letztendlich entstandenen Angebote, die auf eine neuartige Hybridität setzten, die dem neuen Staat gar nicht schlecht anstand, entspricht eine Polyfokalität ihrer Entwürfe. Daher möchte ich auch im Pluralistischen, nicht im Wilhelminischen, das – wie auch immer verdeckt – Vorwärtsweisende und Moderne der sich selbst vergewissernden Berliner Architekturszene um die vorletzte Jahrhundertwende verstanden wissen.
Die Alte Nationalgalerie Für die Alte Nationalgalerie gilt sicherlich der oben angeführte Merksatz, die Reichsgründung habe den Museumsbau Friedrich August Stülers und Heinrich Stracks unvorbereitet überrascht. Schon 1841 als Hörsaalgebäude entworfen und bereits in den späten 1860er Jahren als Museum im Bau, sollte der hoch und einsam aufragende Tempel dezidiert die nationale Kunst versammeln und gleichzeitig ein vaterländisches Denkmal darstellen – national im Sinne der Zeit vor 1870. Vorangetrieben hatten diese doppelte Idee des Natio7
Stephan Waetzoldt: Pläne und Wettbewerbe für Bauten auf der Museumsinsel 1873–1896, in: Jahrbuch der Berliner Museen N. F. 35, 1993, Beiheft; Alexander Markschies: Gut geklaut ist halb gebaut. Die Vorgeschichte des Bode-Museums, in: In Situ. Zeitschrift für Architekturgeschichte 2, 2010, Heft 1, S. 45–64 mit Literatur.
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Abb. 2: Friedrich August Stüler und Heinrich Strack, Alte Nationalgalerie
nalen vor allem bürgerliche Kreise, die fast im Alleingang für eine Sammlung deutscher Kunst der Zeit zwischen etwa 1775 und 1875 gesorgt hatten.8 Der hierfür entworfene Solitär kommt nicht umsonst Leo von Klenzes Walhalla von 1830 nahe, dieser Weihestätte deutscher Geistesheroen, und ist gleichzeitig als Fortsetzung des Berliner Klassizismus Schinkelscher Tradition zu verstehen. Schinkels Berlin, die klassizistische Kunststadt als preußische Idealresidenz, war als Konstruktion einer preußischen Kulturnation mit ausgiebigen ‚Blicken in Griechenlands Blüte‘ angelegt. Im klassizistischen Traum, in einem recht internationalen Klassizismus, erfüllte sich das Nationale – noch ohne allzu preußisch oder deutsch aufzutreten. Erst später scheint das Schinkelsche Berlin der neuen Reichsherrlichkeit nicht mehr genügt zu haben. Die größte bauliche Veränderung, die der neue Galeriebau gegenüber seinen unmittelbaren Vorläufern, Altem und Neuem Museum, mit sich brachte, bestand aber zunächst in seinem Materialeinsatz. Sie bedeutete eine weitgehende Abweichung von der Berliner Bautradition, d. h. von Schinkels Architektur, deren Wiederbelebung der märkischen Backstein8
Für die Geschichte des Gebäudes und seiner Sammlung immer noch unverzichtbar Renate Petras: Die Bauten der Berliner Museumsinsel, Berlin 1987. Die detaillierte Baugeschichte bei Hartmut Dorgerloh: Die Nationalgalerie in Berlin. Zur Geschichte des Gebäudes auf der Museumsinsel 1841–1970, Berlin 1999. Zur Neueinrichtung der Galerie 2001 unter Berücksichtigung ihrer eigenen Geschichte siehe Moritz Wullen: Die neue Alte Nationalgalerie: Ein Ideentempel als kuratorische Herausforderung, in: Hensel, Köstler (Hrsg.): Einführung in die Kunstwissenschaft (wie Anm. 6), S. 243–261.
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tradition durchaus vaterländische Züge getragen hatte. Mit der Nationalgalerie errichtete man den ersten preußischen Bau seit dem Brandenburger Tor wieder ganz in Werkstein. Ganz offensichtlich sollte der Glanz des Materials mit dem der Bauaufgabe korrespondieren. Die Baukosten fielen dementsprechend hoch aus; es waren drei Millionen Mark, die man sich beim Baubeginn 1866, als Preußen gerade um Kurhessen und Schleswig gewachsen war, genehmigte. Im Inneren häuften sich jetzt Marmor und Stuck, wo das Alte und das Neue Museum noch billigere Substitute verbauen mussten. Dem Tempel der Kunst kam es bezeichnenderweise gar nicht so sehr auf die bestmögliche Präsentation möglichst vieler Werke an: Selbst als Pseudoperipteros, dessen umlaufende Säulengalerien auf drei Seiten zum Innenraum geschlagen werden, ist die Alte Nationalgalerie – wie ihre spätere Nachfolgerin am Kulturforum, Ludwig Mies van der Rohes Neue Nationalgalerie – vom museologischen Standpunkt aus gesehen als ein Fehlbau zu bezeichnen. Einer monumentalen Raumgliederung vor allem in der gestaffelten Eingangsflucht mit Freitreppe und einem dahinter unnötig in die Breite gezogenen Treppenhaus fiel fast ein Drittel der gesamten Grundfläche zum Opfer. Man beachte den fundamentalen Gegensatz etwa zum Neuen Museum, in dem derselbe Architekt Stüler9 der Kunst zwei Jahrzehnte zuvor möglichst viel Platz eingeräumt hatte, selbst um den Preis der Aufgabe architektonischer Symmetrie.
Abb. 3: Alte Nationalgalerie, Cornelius-Säle
Eigentlich präsentierte die Alte Nationalgalerie – neben schmalen Kabinetten oben und einem schlecht belichteten Skulpturensaal unten – nur zwei Hauptsäle mit nationaler Kunst, die geschossübergreifenden Corneliussäle. Der Neurömer Peter Cornelius wurde mit Billigung, ja Vorschrift des Parlaments als Leitgestalt zeitgenössischer Kunst ins Zentrum nationaler Erinnerung gerückt, andere Schulen und Ausländer – die es durchaus auch gab und 9
Zur noch gänzlich dienenden Rolle des Neuen Museums am besten Friedrich August Stüler: Das neue Museum in Berlin, Berlin 1862.
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die gesammelt worden waren – hatten mit untergeordneten Plätzen vorlieb zu nehmen. Doch eindeutig ‚teutsch‘ war die Stoßrichtung der Alten Nationalgalerie nicht, wenn auch am Außenbau bereits die gesamte, vor allem romantisch geprägte Künstlerschaft des deutschsprachigen 19. Jahrhunderts auftritt, einschließlich des Architekten Stüler. Erst die außen zur Einweihung 1876 angebrachte Inschrift: Der Deutschen Kunst MDCCLXXI holte das idealistische Konstrukt des Klassizismus in eine eindeutig nationale, kleindeutsch begriffene Welt. Die Bronzelettern dokumentieren keinen Rechenfehler, sondern verweisen dezidiert auf das Jahr der Reichsgründung zurück, dem die Museumseröffnung nur um ein halbes Jahrzehnt hinterherhinkte. Die Inschrift erscheint allerdings als einziger äußerer Reflex des Aufstiegs Berlins zur Reichshauptstadt. Erst die Nachgeschichte im letzten Vierteljahrhundert ließ die Nationalgalerie, ihrem Namen gemäß, zum Austragungsort nationaler Debatten werden.10 Diese wurden aber nicht an oder mittels der Architektur, sondern im Inneren des Museums ausgefochten. Die spätklassizistische Architektur und damit die gesamte äußere Erscheinung des Museums als Nationalgalerie blieben dabei unangetastet. Die inneren Verschiebungen hatten es dafür in sich. In der nach 1876 recht schnell einsetzenden Ausstellung von Schlachtenbildern aus der jüngsten preußisch-deutschen Geschichte darf man eine rigide Borussifizierung und Nationalisierung des ursprünglichen Kunst-Programms der Alten Nationalgalerie erkennen. Die großformatigen Historien neudeutscher Größe durften dabei in den 1880er/90er Jahren wie selbstverständlich sogar den Kernbestand der ursprünglichen musealen Präsentation, die Cornelius-Kartons, verdecken. Etwas ganz Vergleichbares, wenn auch spiegelsymmetrisch zu verstehen, spielte sich um die Jahrhundertwende in den Kämpfen um die französische und deutsche Moderne ab. Die drei ersten Direktoren Max Jordan, Hugo von Tschudi und Ludwig Justi mußten sich hier des Protektors Wilhelm II. und seines Verdikts über die so genannte ‚Rinnsteinkunst‘ erwehren, die natürlich alles andere als national angesehen wurde.11 Trotz dieser innerlichen Wende zur Militär- und Staatsgeschichte Preußens und zur Kunst eines Anton von Werner blieb der Bau äußerlich unangetastet. Als Option für eine nationale Architektur hatte sich der internationale Klassizismus – eine ‚hellenisierende‘ oder ‚gräzisierende‘ Architektur, wie sie die zeitgenössischen Bauzeitschriften nennen – nicht erwiesen; sie galt spätestens gegen 1890 als erledigt.
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Françoise Forster-Hahn: Die Inszenierung von Kunst. Choreografien und Zeremonielle in der Alten Nationalgalerie. 1876, 1906, 1955, in: Hensel, Köstler (Hrsg.): Einführung in die Kunstwissenschaft (wie Anm. 6), S. 179–195, und Katharina Sykora: Die Nationalgalerie als gendered space, in: Hensel, Köstler (Hrsg.): Einführung in die Kunstwissenschaft (wie Anm. 6), S. 197–223. 11 Johann Georg Prinz von Hohenzollern, Peter-Klaus Schuster (Hrsg.): Manet bis van Gogh. Hugo von Tschudi und der Kampf um die Moderne. Ausstellungskatalog, Berlin, München 1996.
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Abb. 4: Kaiser-Friedrich-Museum, Ansicht
Das Kaiser-Friedrich-Museum Vor der neutralen Folie der Alten Nationalgalerie, was ihre Qualitäten als potentielle Hauptstadtarchitektur angeht, treten die architektonischen Botschaften der folgenden Museumsbauten um so plastischer hervor. Das nächste Bauwerk auf der Insel, das Kaiser-FriedrichMuseum, heute Bode-Museum genannt, wurde in dieser Hinsicht schon kräftiger überformt, und das bereits während seiner Planung.12 Ursprünglich hatten Wilhelm Bode und Richard Schöne, Museums- und Generaldirektor der königlichen Sammlungen, das Museum an der nördlichen Inselspitze als Renaissance-Museum geplant. Unter Mitwirkung des Kronprinzen und Kurzzeitkaisers Friedrich III. sollte ein neuartiges Ausstellungskonzept die neuzeitlichen Kulturleistungen insgesamt preisen. Dazu sah Bode vor, mittelalterliche bis spätbarocke Bestände aus Malerei und Skulptur zusammenzufassen und jeweils stilgeschichtlich enggeführt zu präsentieren. Der Höhepunkt der kunsthistorischen Meistererzählung wurde jedoch auf die – notabene: italienische – Renaissance gelegt, die Bode als ‚Morgenröte der Menschheitsgeschichte‘ im Sinne Hegels verstand und in einem der merkwürdigsten Museumsräume aller Zeiten aufgehoben wissen wollte.
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Auf die beträchtliche Vorgeschichte des Kaiser-Friedrich-Museums und die lange unterschätzte Rolle August Orths hierbei verweist jetzt Markschies: Gut geklaut (wie Anm. 7) – allerdings auf Kosten des Architekten Ernst von Ihne und der Museumsplaner Wilhelm Bode und Richard Schöne.
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So verbirgt sich bis heute hinter einer ‚barockoko‘ wirkenden Fassade (dazu später mehr) der auf der Hauptachse des Museums gelegene zentrale Ausstellungsraum, die so genannte ‚Basilika‘. Diese auf Wilhelm Bode wie Ernst von Ihne gleichermaßen zurückgehende Anlage, in den grauweißen Formen der Florentiner Frührenaissance gehalten, fiel als musealer Kirchenraum übrigens derart überzeugend aus, dass die Anekdote will, eine italienische Contessa, die Bode durch die Sammlung italienischer Kunst zu führen hatte, sei vor einem der Altäre betend auf die Knie gesunken – zur Bestürzung des kernprotestantischen, peinlich berührten Bode. Bis heute definiert das bauliche Zentrum des Kaiser-Friedrich-Museums die Ausstellungspolitik des Hauses, kann in einem derart überwältigenden Renaissance-Ambiente, einem wahren Kultraum der italienischen Kunst, schlechterdings nichts anderes gezeigt werden als die Werke der florentinischen, allenfalls oberitalienischen Frührenaissance. Für die Außenseite des Kaiser-FriedrichMuseums hatte Wilhelm II. hingegen gesorgt, Abb. 5: Kaiser-Friedrich-Museum, Basilika indem er seinen Hofarchitekten Ernst von Ihne vorschrieb. Dieser entwarf zwar Bodes Traum einer stilreinen florentiner Kirche, ließ jedoch die italienische Renaissance zugleich hinter einer nicht zugehörigen Architektur samt höchst merkwürdigen Fassaden verschwinden. Zudem rahmte er den Bodeschen ‚Atmosphärenraum‘ humanistischer Bürgerlichkeit äußerst geschickt mittels zweier Treppenhäuser und einer Galerie, deren hoch- und spätbarocke Stilsprache eindeutig preußischhohenzollernsche Provenienz verraten sollte. Im großen Treppenhaus, das sich nicht recht zwischen Hochbarock und Regence entscheiden mag, breitet sich eine galvanoplastische Teilkopie des Schlüterschen Reiterdenkmals des Großen Kurfürsten aus.13 Daran schließt mit dem Kameckesaal eine Reminiszenz an die goldene Schlüterzeit um 1700 an, während im Süden ein kleines Treppenhaus Pigalles Rokokoskulpturen aus Sanssouci und die Statuen der Generäle Friedrichs II. vom Wilhelmplatz präsentiert und so einen etwas intimeren 13
Das Original des Reiterdenkmals befand sich damals keine 700 Meter entfernt auf der Langen Brücke; es ging also nicht um eine Musealisierung der Schlüterzeit, sondern eine Zeichensetzung im Rahmen des Gesamtkonzepts des Kaiser-Friedrich-Museums.
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Andachtsort für die Verehrer der friderizianischen Epoche bereithält. Es liegt auf der Hand, dass im architektonischen Kommentar, den Ernst von Ihne mit den beiden Treppenhäusern aus Berliner Barock und Potsdamer Rokoko der Bodeschen Renaissancebasilika mit auf den Weg gab – aber auch die Fassaden des Kaiser-Friedrich-Museums damit imprägnierte –, ein Vorbehalt gegenüber der Renaissancenorm als bürgerlicher Leitfigur des späten 19. Jahrhunderts zu sehen ist. Eine derart als Springprozession inszenierte Kunstgeschichte musste an der Wende zum 20. Jahrhundert den Vorwurf der Willkür und des Eklektizismus hervorrufen. Der Vorwurf zieht allerdings nicht wirklich, denn Ernst von Ihne meinte es wohl ernst mit seiner hybriden Stilwahl, die nur als ein geschichtsphilosophisch durchdachtes Amalgam mit deutlich preußisch-deutschem Telos zu verstehen ist. Die Vorstellung, der neuzeitliche Aufbruch der italienischen Stadtstaaten münde in den Leistungen des preußischen Absolutismus und der preußischen Aufklärung, die sich bis in die kaiserzeitliche Gegenwart hinziehe und dort erfüllt habe, wurde so in Stein gemauert. Der gesucht hybride Charakter der Architektur des Kaiser-Friedrich-Museums, mit dem sich das wilhelminische Deutschland in die Sukzession der großen abendländischen Kulturleistungen stellte, ist auch heute noch an allen Seiten des prominent in der Spree schwimmenden Kulturpalasts abzulesen: So verraten etwa die zurückgenommene Plastizität in den Gliederungen der Flanken sowie die Proportionen der gesamten Anlage immer noch etwas von den ursprünglich vorgesehenen Anklängen an die Hochrenaissance, während die kolossale Ordnung auf dem Podium Barockes alludiert und die mit Scheitelagraffen versehenen Fenstereinfassungen des Hauptgeschosses das 18. Jahrhundert vorstellen. Bezeichnenderweise ist jedoch kein einziges der vom Architekten herangezogenen Bauglieder exakt einer bestimmten Epoche zuzuweisen. Das erklärt die unterschiedlichen Benennungen, mit denen der Bau schon von den Zeitgenossen bedacht wurde: „italienischer Frühbarock“ ebenso wie „monumentale Spätrenaissance“ oder „schwerfällige Hochrenaissance“.14 Dass dieser Versuch einer spätesthistoristischen Stilwahl, die eine neue nationale Architektur begründen sollte, am Ende allerdings fehlschlug, zeigen die heftigen Reaktionen der Tagespresse: Als das Kaiser-Friedrich-Museum im Oktober 1904 eröffnet wurde, fand sich Ernst von Ihnes Architektur als ‚falsch‘ und ‚bombastisch‘ verhöhnt – während Bodes Hängungskonzept sowie die Basilika begeistert gefeiert wurden.15
Das Deutsche Museum Kann man das Auseinanderfallen von Innen und Außen sowie die merkwürdigen Fassaden am Kaiser-Friedrich-Museum noch damit erklären, dass Museumsmacher wie Patrone, bürgerliche wie höfische Öffentlichkeit an diametral entgegengesetzten Konzepten arbeite14
Petras: Die Bauten (wie Anm. 8), S. 104 lässt die diversen Stilbezeichnungen Revue passieren, die schon der zeitgenössischen Rezeption angesichts des Außenbaus des Kaiser-Friedrich-Museums einfielen. 15 Günter Schade: Die historische Entwicklung der Berliner Museumsinsel, in: Die Museumsinsel zu Berlin, Berlin 1987, S. 22–27; Wilhelm von Bode: Mein Leben. 2 Bde., Berlin 1930, hier Bd. 2, S. 165.
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ten, so kann dies für das Deutsche Museum nicht mehr gelten. Trotz einer Bauverzögerung bis 1930 und einem zwischenzeitlichen ‚Museumskrieg‘ in der Weimarer Zeit stimmten hier die Absichten der Beteiligten sehr wohl überein, kamen Ausstellungsinterpretation, -präsentation und Kunstpolitik durchaus zur Deckung. Wie schon beim Kaiser-Friedrich-Museum gab Wilhelm Bode den Ton vor: „Im Kaiser-Friedrich-Museum war namentlich die deutsche Kunst zu kurz gekommen, deren wesentliche Erweiterung eine Pflicht der Hauptstadt des Deutschen Reiches ist, und die daher einen besonderen Bau erfordert“.16 Nach einer Inku- Abb. 6: Deutsches Museum, geplantes Inneres bationszeit von einem Vierteljahrhundert stellte sich die Lösung 1930 als dreiteilige dar: Ein Deutsches Museum für Malerei und Plastik erhielt seinen Platz im Nordtrakt des von Alfred Messel projektierten und von Ludwig Hoffmann ausgeführten Dreiflügelbaus, das Pergamonmuseum belegte den Osttrakt und das Vorderasiatische Museum den Südflügel. Drei gewichtige Sammlungsbestände lagen sich nun auf Augenhöhe gegenüber; doch im Gegensatz zu Bode, der die endgültige Lösung Messels, drei Museen in einem einzigen Bau zu versammeln, lediglich als Folge der Raumnot auf der Insel zu erklären suchte, spricht die Zusammen- und Gegenüberstellung der drei Sammlungen in einem Dreiflügelbau für sich. Denn damit gerieten ganz unterschiedliche Sammlungen in einen direkten Vergleich – wenngleich man das dröhnend beschwieg –, und dieser eröffnete kunst- wie kulturpolitisch brisante Perspektiven.17 Das aus den Beständen der Gemälde- und Skulpturengalerie neu zusammengestellte Deutsche Museum trat auf diese Weise gegen den berühmten Pergamonaltar an, die – neben der Nofretete – wichtigste künstlerische Erwerbung, wenn nicht Kunstbeute, der Kai16 17
Bode: Alfred Messels Pläne (wie Anm. 4). Notabene: Darüber redete Bode bezeichnenderweise nicht, ebensowenig wie über den großen verlorenen Innenhof, der seine Darlegungen zur Raumnot ad oculos Lügen strafte.
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serzeit. Wenn man dem großen pergamenischen Architekturensemble bislang einen eigenen Bau zugestanden hatte, so wurde es jetzt komparatistisch verhandelt, und zwar mit der deutschen Kunst. Das eigentliche Pergamonmuseum, Fritz Wolffs zwischen 1897 und 1908 bestehender Vorgänger des jetzigen Baus, ist als museumstypologischer Sonderfall so gut wie in Vergessenheit geraten. Es diente nur einem Ausstellungsstück, wies nur einen Saal auf, in dem der gesamte in den 1870er Jahren von Carl Humann ausgegrabene Altar aufgebaut war. Hier, in diesem weithin vergessenen Museum, ist der Beginn der Ausstellung kompletter Architekturglieder zu suchen, die eine Berliner Spezialität und ohne Parallele geblieben ist: Es gab und gibt kein Elgin- oder besser Parthenon-Museum in London, kein napoleonisches Pyramiden- oder Delphi-Museum in Paris, wohl aber bald in Berlin ein Markttor von Milet, eine babylonische Prozessionsstraße mit Ischtar-Tor sowie eine Mschatta-Fassade im Museum. Die Berliner Besonderheit, Architekturensembles als solche möglichst in toto zu musealisieren, übte wiederum Druck auf die neubegründete Sammlung deutscher Kunst aus: Um dimensionsästhetisch mitzuhalten, versuchte Bode sogar, einen kompletten Kreuzgang aus Würzburg zu erwerben,18 und am Ende wurde am ausführenden Architekten Ludwig Hoffmann vorbei der süddeutsche Historist German Bestelmayer damit beauftragt, riesige gotische Rabitz-Gewölbe einzuziehen, damit die deutsche Kunst in ein ihr genehmes Umfeld zöge. Museumspolitisch ist die imperiale Geste nicht zu übersehen, einen Gleichklang der ‚vaterländischen‘, älteren wie jüngeren deutschen Kunst mit den alten Kulturen Vorderasiens und Griechenlands baulich zu postulieren. Zusammen mit der imposanten Größe stellt das Deutsche Museum den deutlichsten Versuch einer Nationalisierung, einer ‚Verdeutschung‘ der Königlichen Sammlungen dar, und die Architektur Alfred Messels willfährt diesem Anspruch auch bis zu einem gewissen Punkt: Während Ernst von Ihne Barock und Rokoko mit Renaissance verschmolz und damit innerhalb der historistischen Nomenklatur verblieb, griff Messel weiter aus. Wolfgang Pehnt hat die merkwürdige Mischung aus ,Architektur um 1800‘, ,Neoklassizismus‘, Muschelkalk und Riesendimension gemäßigten ,Zyklopenstil‘ genannt,19 m.E. die noch am nächsten kommende Beschreibung dessen, was eben nicht als wilhelminisch oder neoklassizistisch durchgehen kann. Vor allen Dingen seine übergroßen Proportionen, sein Material und seine Lage lassen Karl Schefflers späteren Vorwurf der Großmannssucht durchaus berechtigt erscheinen.20 Dies betrifft sowohl die Architektur mit ihrer dominanten Muschelkalk-Verblendung, die der Kaiser wählte, mit ihren riesigen Proportionen selbst im Vergleich mit dem angrenzenden Kaiser-FriedrichMuseum und mit der Selbstausgrenzung des hufeisenförmigen Baus auf der Insel; es betrifft aber auch die Innendisposition, die ganze Architekturteile nun als ausstellungswürdig ansah 18
Frank Matthias Kammel: Kreuzgang, Krypta und Altäre. Wilhelm von Bodes Erwerbungen monumentaler Kunstwerke und seine Präsentationsvorstellungen für das Deutsche Museum, in: Jahrbuch der Berliner Museen 38, 1996, Beiheft, S. 155–175. 19 Wolfgang Pehnt: Deutsche Architektur seit 1900, München 2005, S. 58–65. 20 Karl Scheffler: Berliner Museumskrieg, Berlin 1921; Karl Scheffler: Das Berliner Museumschaos, in: Kunst und Künstler 24, 1926, S. 261–271.
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und dafür Platz wie nie zuvor benötigte. Der vorherrschende Eindruck des erst seit 1959 Pergamonmuseum genannten Konglomerats ist der eines Kuckucks im Nest der Museumsinsel. Die Öffnung des Baus nach Westen über den Kupfergraben korrespondiert mit einer Schließung nach Osten, Süden und Norden. Aus verschiedenen Perspektiven aufgenommen, drängt sich der Bau meist mit dem abweisenden Rücken, um nicht zu sagen: seinem Hintern, gegen die anderen Gebäude der Insel. Das Messelsche Museumsprojekt, das spätere Pergamonmuseum, liefert so ein vielleicht nicht schönes, aber bezeichnendes Bild für das Kaiserreich um 1905. Zusammenfassend wird man festhalten dürfen, dass es in Berlin nach 1871 zu keiner klassischen Hauptstadt-Architektur kam, wie sie etwa ein Tony Garnier und die späte Ecole des Beaux-Arts für das Paris des dritten Napoleon lieferten. Statt dessen sind mehrere Anläufe zu einer nationalen Architektur zu verzeichnen, die auf ganz unterschiedliche Strategien vertrauten. Während die Alte Nationalgalerie, die noch klassizistisch in der späten Tradition Schinkels auftrat, allein qua Inschrift nicht nur der deutschen Kunst, sondern auch der neuen Nation gewidmet wurde, versuchte das Kaiser-Friedrich-Museum in der merkwürdigen Mischung aus Renaissance, Barock und Rokoko, vor allem aber mit der Zurichtung auf den preußischen Absolutismus als Ende der Geschichte eine nationale Aussage direkt in Architektur zu übersetzen. Am freiesten gerierte sich schließlich das Deutsche Museum, das auf eine hybride Zyklopenarchitektur neudeutscher Art vertraute, die bei Andauern des Kaiserreichs wohl durchaus hätte traditionsbildend werden können. Dennoch: Es ist das bei aller wilhelminischen Pracht Pluralistische, das programmatisch wie architektonisch Hybride, das das Vorwärtsweisende an diesen Versuchen zu bilden scheint. Dass die Reichsgründung Berlin architektonisch unvorbereitet überraschte, darf man so gesehen als Vorteil erkennen.
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Das Tiergartenviertel Geselligkeit und Gesellschaft in Berlins ‚Neuem Westen‘ um 1900
Was war das Tiergartenviertel zur Kaiserzeit? Und was hat sich hier abgespielt? Die Erinnerungsliteratur imaginiert einen Raum gelungener Symbiose von Kapital und Geist, von saturierter Elitengeselligkeit und kultureller Innovation. Wie ist dieses Viertel entstanden? Wo liegt es überhaupt? Die topografisch-statistische und baugeschichtliche Analyse zeigt vor allem einen Raum permanenten Wandels, wechselnder Nutzungen und einer nahezu von Straße zu Straße eigenen Baugestalt.
Topografie und Baubestände Das Tiergartenviertel entstand im Westen Berlins, am südlichen Rand eines öffentlich zugänglichen, ‚Tiergarten‘ genannten Landschaftsparks, vor der Zollmauer der Stadt, die
Abb. 1: Das Tiergartenviertel südlich des „Thiergartens“ um 1900
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Abb. 2: Landhaus Mölter, Tiergartenstraße 31, Architekt: Friedrich Gilly, 1799, Gartenfront, Fotografie um 1862
1861/65 dem Druck der schnell wachsenden Großstadtbebauung weichen musste. Grenzen des Viertel waren im Osten die Zollmauer (Königgrätzer Straße), im Süden die Ausfallstraße nach Potsdam (Potsdamer Straße) und ein Entwässerungsgraben (‚Schafgraben‘), der 1845/50 zum Kanal (‚Landwehrkanal‘) wurde; im Norden dann schließlich der Park. Zur Erschließung:1 Vor dem Erlass einer ersten Bauordnung 1824/28 findet man hier eine Mischnutzung, die sich eng um den Parkrand gelegt hat: große Gärtnereien, Landwirtschaften, zahlreiche weite Vorstadtgärten, kleineres Textilgewerbe, zahlreiche, aus Bauernhöfen hervorgegangene Ausflugslokale und knapp 40 Sommerhäuser. Die Planungs- und Bauordnungsbehörden, Polizeipräsident und Tiergartendirektion, legten für dieses Areal Straßenführung, Landhausbebauung und ein Ansiedlungsverbot für 1
Vgl. zum Folgenden vor allem Mischa Klemm: Das Tiergartenviertel, 1845–1914. Soziale Milieus in Berlins „guter Adresse“. Magisterhausarbeit TU Berlin, Institut für Geschichtswissenschaft, 1998; Olav Münzberg (Hrsg.): Vom alten Westen zum Kulturforum. Das Tiergartenviertel in Berlin. Wandlungen einer Stadtlandschaft, Berlin 1988; Wolfgang Schäche, Norbert Szymanski: Die Lennéstraße im Tiergartenviertel. Geschichte und Perspektive einer Berliner Adresse, Berlin 2003; Hartwig Schmidt: Das Tiergartenviertel. Baugeschichte eines Berliner Villenviertels. Teil 1: 1790–1870, Berlin 1981; ders.: Das Tiergartenviertel. Baugeschichte und -typologie, in: Münzberg (Hrsg.): Vom alten Westen (wie Anm. 1), S. 47–54; Johann Friedrich Geist, Klaus Kürvers: Das Berliner Mietshaus 1740–1862, München 1980; Dieter Machule, Lutz Seiberich: Die Berliner Villenvororte, in: Berlin und seine Bauten. Teil IV: Wohnungsbau. Bd. A, Berlin 1970, S. 93–114.
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Fabriken, ein Teil der Bauherren auch per hypothekarischer Eintragung die Vermeidung großer, ebenfalls als störend empfundener „großer Ausflugslokale“ für dieses Areal fest.2 Eine Neugestaltung des ehemals kurfürstlichen Tiergartens als ‚Landschaftsgarten‘ hatte seit 1816 der Gartenarchitekt Peter Joseph Lenné in mehreren Entwürfen ausgearbeitet. In den 1830er Jahren wurde dieser Plan dann realisiert, und zwar mit der Tiergartenstraße am Rande des Parks als Promenade. In der Folge gewann das Baugeschehen an Schwung. Der Ausbau zu einer vornehmen Vorstadt begann: Zum einen erhielten − bei festgelegtem, Mietskasernenbau ausschließendem, niedrigem Überbauungsgrad der Parzellen − die östlichen, stadtnahen Straßenzüge eine mehrstöckige, überwiegend geschlossene Bebauung und damit ‚vorstädtischen‘, schon bald dann aber stark ‚städtischen‘ Charakter. Zum anderen kauften einzelne ‚Straßenprojektanten‘ die großen Gärten und Ausflugslokale auf, parzellierten die Grundstücke entlang von Erschließungsstraßen, bebauten diese mit zwei-, drei- und teilweise auch vierstöckigen Villen bzw. villenartigen Mietshäusern und suchten diese dann zu verkaufen oder zu vermieten, was zunächst allerdings noch erhebliche Mühe machte. Gleichwohl markieren diese Straßenprojekte einen doppelten Wendepunkt in der Entwicklung zum Tiergartenviertel: Zum einen legten sie den Grundstein für ein reines Wohngebiet. Zum anderen führten die von diesen Straßenprojektanten gestellten neuen Bauaufgaben zu einer Fülle von Aufträgen zur Gestaltung repräsentativer, ganzjährig zu bewohnender ‚vorstädtischer Mietshäuser‘ und ‚Vorstadtvillen‘; und diese Aufträge wiederum schufen die Existenzgrundlage für eine nun schnell wachsende Gruppe von ‚Privatarchitekten‘, welche Baugestalt und Siedlungsraum gerade auch dieses Viertels nachhaltig prägen sollten. Von hervorragender Bedeutung war unter diesen vor allem Friedrich Hitzig (1811– 1881), der mit seinen Entwürfen, aber auch mit seinem Organisationstalent, fast alle Entwicklungsstufen des Tiergartenviertels entscheidend mitgeprägt hat. Die neue, zum Tiergartenviertel führende Baudynamik begann mit dem Ankauf und der Parzellierung des ehemaligen Lehrgartens der nahegelegenen Realschule (‚Realschulgarten‘) sowie der baulichen Erschließung zweier Straßenzüge, Lenné- und Bellevuestraße, welche sich unmittelbar nördlich an den Potsdamer Platz, die Königgrätzer Straße und die 1865 endgültig abgetragene Stadtmauer anschlossen und im spitzen Dreieck am Kemperplatz aufeinanderstießen. In der Lennéstraße, die sich, in Verlängerung der Tiergartenstraße, wie diese eng an den Tiergarten anschmiegte, waren schon 1843 alle Grundstücksparzellen bebaut. In weitgehend geschlossener Bauweise und effektiver, den Gärten nur noch begrenzt Platz einräumender Grundstücksausnutzung war hier ‚eine prächtige Häuserzeile‘, eine ‚großartige Reihe eleganter Hausanlagen‘ (Schäche, Szymanski) entstanden, deren wenige grüne Lücken dann in einer neuen Baudynamik Anfang der 1860er Jahre geschlossen wurden.3 Ähnlich entwickel-
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Vgl. Klemm: Das Tiergartenviertel (wie Anm. 1), S. 20. „Da der Grundwerth in dieser Gegend ein bedeutender ist, so kam es darauf an, den Raum zu Mietshauswohnungen auszunutzen und doch noch für die Besitzer ein Gartenfleckchen zu erhalten“. Fried-
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te sich die Bellevuestraße. Markant schließlich, Schäche, Szymanski sprechen zutreffend von einem – von Hitzig gesetzten – „Schlussstein“: das Eckgebäude am Vereinigungspunkt beider Straßen (Lenné- und Bellevuestraße), mit repräsentativem Vorgarten, kunstvoll gestaltetem schmiedeeisernem Zaungitter und einer Fontäne mit doppelter Brunnenschale, 1861/62 erbaut, ab 1864 für mehr als 80 Jahre im Besitz der Familie des Bankiers Gerson, von Anfang an viel bestaunt, als Zeichnung und Fotografie in Fach- wie Unterhaltungsblättern vielfältig abgedruckt, eine erste Ikone des Tiergartenviertels, jedes Geschoss mit einer Zwölf-Zimmer-Wohnung. Dieses „Lenné-Dreieck“, drei- und vierstöckig bebaut, war spätestens damit zu einer der vornehmsten vorstädtischen Adressen Berlins aufgestiegen.4 Der junge Friedrich Hitzig, der seit 1841 im Tiergartenareal wohnte und im vermögenden Bürgertum dieser Wohngegend heimisch war, hat durch seine Grundstückskäufe wie Architekturentwürfe zur Ausarbeitung des Bautypus ‚vorstädtisches Wohnhaus‘ und damit zu Ausbau und Gestaltung dieser beiden Straßen, insbesondere der Lennéstraße, entscheidend beigetragen. In der Innenstadt waren der Gestaltung von Baukörper wie Fassaden enge Grenzen gesetzt: „Raumausgreifende Architekturglieder wie Erker, Altane oder mächtige Säulenhallen, aber auch Veranden, Loggien, Belvedere und Türme waren im innenstädtischen Bereich nicht erlaubt und bedurften einer besonderen Genehmigung“.5 Die Bauordnung für das Tiergartenareal vor den Toren der Stadt räumte dem Architekten dagegen weitaus größere Gestaltungsspielräume ein, die junge Leute wie Friedrich Hitzig zu nutzen wussten. 1840/41 errichtete er dort ein vierstöckiges vorstädtisches villenartiges Mietshaus (Lennéstraße 7); ein Jahr später dann ein ähnliches, dieses Mal dreistöckiges Wohnhaus.6 Im Bauboom der 1850er/60er Jahre folgten schließlich drei weitere Wohngebäude (Lennéstraße 8, 10 und 12, Bellevuestraße 10), letzteres das schon erwähnte, den Charakter des Lenné-Dreiecks prägende „Schlussstein-Gebäude“ für seinen damaligen Geschäftspartner, den Kaufmann und Bankier Carl Salomon Achard, der es dann zügig an den Kaufmann und Bankier Gerson weiter verkaufte. Gleichsam im Windschatten zweier zentraler innenstädtischer Plätze – Potsdamer Platz (mit dem nahen Potsdamer Bahnhof) und Leipziger Platz – war so im Verlauf nur weniger Jahrzehnte ein Dreieck von Wohnstraßen entstanden, die in Lage (Tiergarten) und Architektur (freie Formen, Türme, Straßengrün und Gärten) vorstädtische, suburbane Lage signalisierten. Mehrgeschossigkeit und Villenstilformen, Stadt- und Naturnähe, waren im Typus des villenartigen Wohnhauses und dem dadurch geprägten Straßenbild zur Einheit gebracht. Als Zielgruppe für die hier errichteten Wohnungen hatte Hitzig vor allem die gut
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rich Hitzig, in: Zeitschrift für Bauwesen, 1868, zitiert nach: Ute Wachsmuth-Major: Der Berliner Architekt Friedrich Hitzig (1811–81), Berlin 1996, S. 39. Vgl. Schäche, Szymanski: Die Lennéstraße (wie Anm. 1), S. 18–20. Wachsmuth-Major: Der Berliner Architekt (wie Anm. 3), S. 44 und 15; zu Friedrich Hitzig auch: W. Jockeit: Friedrich Hitzig. Privatarchitekt und die städtische Villa des Tiergartenviertels, in: Münzberg (Hrsg.): Vom alten Westen (wie Anm. 1), S. 119–125. Wachsmuth-Major: Der Berliner Architekt (wie Anm. 3), S. 6, sieht hier den Übergang des städtischen Wohnhauses zur Villa.
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Abb. 3: Haus Lennestraße 12/Bellevuestraße 10
verdienenden Beamten der nahegelegenen Ministerien und der Universitäten ins Auge gefasst.7 Anklang fanden diese Gebäude darüber hinaus dann aber beim vermögenden Berliner Bürgertum insgesamt. Seinen Durchbruch als führender, den ‚Geschmack‘ des sich hier neu formierenden Berliner höheren Bürgertums prägender Architekt des vorstädtischen, mehrgeschossigen, villenartigen Mietshauses erreichte Hitzig aber mit seinem ganz eigenen Straßenprojekt, mit der Auslegung und Bebauung der Victoriastraße. Sein Geschäftspartner Carl Salomon Achard, der 1855 das große Areal des ehemaligen Kemperhofs erworben hatte, beauftragte ihn hier mit der Gestaltung der gesamten Straße. Im südlichen Teil der Victoriastraße entstand daraufhin ein überlegt gruppiertes, ‚malerisches, elegantes Ensemble aus vorstädtischen‘ zwei- und dreigeschossigen villenartigen Mietshäusern und Villen, das beim Publikum ein großer Erfolg wurde. 1862/63 verlieh dann eine weitere Verbindung von Reichtum, Geschäftssinn und Kreativität, dieses Mal Friedrich Hitzig im Zusammenspiel mit dem ehemaligen preußischen Finanzminister und Direktor der Disconto-Bankgesellschaft David J. L. Hansemann, dem Erschließungsprozess des Tiergartenareals weitere, neue Qualität. Mit dem von Hitzig ent-
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Vgl. ebd., S. 21.
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Abb. 4: Wohngebäude aus der Victoria-Straße in Berlin, Architekt: Friedrich Hitzig, 1856/57
worfenen Bebauungsplan zur Villenkolonie Albrechtshof8 trat erstmals auf dem Feld der Villensiedlung in Berlin ein Terrainunternehmen auf den Plan, zunächst allerdings noch in einer recht einfachen Konstruktion und neben den eher punktuell erfolgreichen Straßenprojekten agierend. Schon bald aber sollten diese ‚city developer‘ in der Berliner ‚Westdrift‘ die einzelnen privaten Bauherren und Straßenprojektanten ganz an den Rand des Baugeschehens drängen.9 Die Lage der Villenkolonie Albrechtshof zeigt, wie überlegt die von Hitzig geleitete Immobiliengesellschaft vorging. Wieder war ein Gartenrestaurant mit weiten Parkanlagen, hervorgegangen aus einem ehemaligen Bauernhof, 1862 aufgekauft und parzelliert, Ausgangspunkt des Baugeschehens.
Abb. 5: Villenkolonie Albrechtshof, Bebauungsplan, Architekt: Friedrich Hitzig 8
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Zur Kolonie Albrechtshof wie zur Victoriastraße vgl. Celina Kress: Zwischen Garten und Stadt. Die Architekten in Berlins „Zug nach Westen“, in: Heinz Reif, Moritz Feichtinger (Hrsg.): Berliner Villenleben, Berlin 2008, S. 93–131. Vgl. hierzu Christoph Bernhardt: Vom Terrainhandel zur Weimarer Städtebaukoalition, in: Reif, Feichtinger (Hrsg.): Berliner Villenleben (wie Anm. 8), S. 71–91.
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Hitzig und sein Partner Hansemann haben die weitere großstädtische Entwicklung und die wachsende Nachfrage nach gehobenen, naturnahen Wohnformen klar vorausgesehen und in ihr Unternehmenskalkül einbezogen: Die Bebauung des Tiergartenviertels war schon bedeutend vorangeschritten; weitere Verdichtung und steigende Bauhöhen waren abzusehen. Die vorstädtische würde sich schon in naher Zukunft in städtische Lage verwandeln. Die Gefahr einer Überlagerung des Viertels durch Mietskasernenbebauung drohte. Diese ging vor allem vom Einflussbereich der Potsdamer Straße, vom Süden des Viertels aus. Ein Teil der östlichen und mittleren Straßen des Viertels waren für eine einheitliche Villenbebauung schon verloren. Dauerhaften Schutz vor mehrstöckigen Mietshäusern oder gar Mietskasernen boten nur noch – im äußersten Westen des Viertels – der Park und der Kanal. Das Projekt Albrechtshof folgte erstmals der Logik, die kurz darauf und noch einmal verstärkt Ende der 1880er Jahre, das Groß- und Mittelbürgertum Berlins in die Westdrift, an die Peripherie der Stadt zog und drängte: bewusste Distanzierung von der Mietskasernenstadt und Sicherung eines eigenen, sozial homogenen, repräsentativen, naturnahen Wohn-Raums durch Bebauung ordnende Satzung, insbesondere durch strenge, hypothekarisch festgeschriebene Baubedingungen für die angebotenen Grundstücke (maximal drei Geschosse, allseitige Fassadengestaltung, Einzelbauten, maximal Doppelhäuser, Bauwich, spätklassizistischer Stil, parkartige Umgebung, niedriger Überbauungsgrad, Vorgärten etc.).10 Es ist nicht leicht, die Baugestalt des Tiergartenviertels am Ende des 19. Jahrhunderts zusammenfassend zu beschreiben. Eine klar strukturierte, gestalterisch homogene Bauentwicklung kam angesichts dieses Mix von kleinen, mittleren und größeren Erschließungsvorgängen nicht auf den Weg: zu vage waren die Vorstellungen der zuständigen Planungs- und Baubehörden, zu bunt das Spektrum der Bauherren, zu wenig sozial und kulturell formiert, zu vielfältig und individualistisch das hier sich versammelnde Bürgertum; zu schwach schließlich der geschmacksbildende Einfluss einiger weniger herausragender Architekten wie Friedrich Hitzig und zu stark auch der Druck ansteigender Bodenpreise, der von der 1861 erfolgten Eingemeindung dieses Gebietes ausging und eine möglichst hohe Bebauung mit weitgehender Grundstücksausnutzung nahe legte. Dennoch lassen sich jenseits aller Vielfalt wechselnder Straßenbilder einige Grundstrukturen erkennen. Ich benutze zu meiner Beschreibung in leicht modifizierter Weise die von Hartwig Schmidt definierten drei Haustypen: Villa/Landhaus, vorstädtisch-repräsentatives, villenartiges Mietshaus und städtisches Mietshaus. Die Bebauung griff, von drei Kernbereichen ausgreifend, ungefähr gleichzeitig in verschiedene Richtungen aus. Im östlichen wie südlichen stadtnahen, schon stark vom Großstadtverkehr belasteten Straßennetz (vor allem Potsdamer Straße und von dort nach Norden ausgreifende Verbindungs-Straßen) entstanden in geschlossener Randbebauung recht schnell überwiegend vier- bis fünfgeschossige, durchaus hochherrschaftliche, aber architektonisch eher wenig qualitätvolle städtische Mietshäuser mit Vorderhaus und Seitenflügel. Etwas weiter (westlich und nördlich), wo sich mit dem Kirchenbau (Matthäikirche) und dem Kirchplatz (Matthäikirchplatz) in Ansätzen eine Art Zent10 Ganz ähnlich verfuhr man dann auch mit dem angrenzenden Gebiet ‚Moritzhof‘.
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Abb. 6: Bebauung des Tiergartenviertels 1850, 1880, 1910. Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Berlin
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rumsbildung andeutete, wurden früh, wie im Projekt Victoriastraße gezeigt, ebenfalls in geschlossener Bauweise, dreigeschossige, vorstädtisch-villenartige Mietshäuser (daneben aber auch schon – Hitzigs stimmiges Straßenbild konterkarierend – fünfgeschossige städtische Mietshäuser errichtet). Parallel zu dieser Entwicklung entstanden im Norden des Viertels, von der Tiergartenstraße ausgehend und entlang der öffentlichen wie privaten (Hildebrandstraße) Erschließungsstraßen nach Süden ausgreifend, in Stil und Form vielfältig variierende Villenbauten. Erst ganz nordwestlich, mit Hitzigs Siedlung Albrechtshof, erreichen wir dann eine Enklave mit nahezu reiner, lockerer, offener und ästhetisch abgestimmter Villenbebauung. Also: Je weiter östlich und südlich eine Straße lag, desto stärker besaß sie vorstädtischen oder gar städtischen Charakter; je weiter man nördlich und westlich in die Nähe des Tiergartens kam, desto stärker bestimmten Villen und größere Gärten das Bild des Viertels. Im Rückblick auf fast ein Jahrhundert Siedlungsgeschichte dieses Areals gewinnt man ein klareres Bild der Viertelentwicklung: von einer vorstädtischen Garten-, Sommerhaus-, Ausflugs- und Vergnügungsgegend zu einer baulich zwar gemischten, aber durchweg vorstädtisch-repräsentativen Gegend der Villen und villenartigen Mietshäuser. Aber auch, und diese Entwicklung bleibt noch kurz darzustellen, ein Wohngebiet auf dem Weg zu einem zentrumsnahen Viertel mit vier-, fünf- und bisweilen sogar noch höhergeschossiger, durchweg städtischer Bebauung für Wohn-, Dienstleistungs- und Regierungsnutzungen; darin eingeschlossen: einige Enklaven von Villen und repräsentativen Mietvillen. Das bisher gezeichnete Bild eines vielfältig gestalteten, aber doch durchweg vorstädtischen Wohngebiets gilt nur bis in die 1880er Jahre. Danach wurde das Tiergartengebiet von einer neuen, komplexen Baudynamik erfasst und ein letztes Mal erheblich überformt. Es waren im Wesentlichen drei Prozesse, die diese erneute, in sich weiterhin widersprüchlich bleibende Entwicklung steuerten: ein weiterer Verdichtungsschub, die beschleunigte Tertiärisierung (Dienstleistungen, Firmen – und Verbandssitze, Staatsbehörden, Botschaften) und eine schnell wachsende Verkehrsbelastung. Die nun einsetzende Entwicklung folgte auf den ersten Blick gängigen Mustern: Lückenschließung, Aufteilung der großen Gärten und deren Erschließung durch Stichstraßen, Umbau, Ausbau, Abriss und Neubau.11 Bei genauerem Hinsehen wird aber eine in sich widersprüchliche doppelte Bewegung, ein auf zwei Ebenen weiteres Vordringen vorstädtischer, vielgeschossiger Baubestände sichtbar: Ein erheblicher Teil der im Tiergartenviertel neu errichteten Häuser blieb im Bautyp vorstädtisch-repräsentativ, wurde zugleich aber noch einmal in Raumumfang wie Außen- und Innengestaltung luxuriöser als die älteren villenartigen Mietshäuser des Viertels. Und parallel strömte immer, trotz der verstärkt vorangetriebenen Westdrift des Berliner Villensiedlungsbaus, der neue Reichtum der ‚Weltstadt‘ ins Tiergartenviertel (offenbar nachhaltig eine gute Adresse), um die mit dem Geldvermögen gestiegenen Statusansprüche zu repräsentieren. Gleichsam zur Bestätigung 11
Die Mechanismen fortschreitender Verdichtung – und die Reaktion seines Vaters, eines Bankiers und Villenbesitzers darauf – schildert anschaulich, am Beispiel der Matthäikirchstraße: Werner Weisbach: „Und alles ist zerstoben“. Erinnerungen aus der Jahrhundertwende, Wien 1937, S. 108/109.
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dieses bleibenden Repräsentationswerts eines – allerdings immer kleineren Teils dieses Wohngebietes – kreierten Bauherren und Architekten noch einmal einen für dieses Viertel charakteristisch werdenden neuen Villentyp: die vornehme palaisartige Villa, riesige Raumvolumina für eine Familie, bei Verwandtschaft oder Freundschaft auch für zwei oder drei Haushalte.
Abb. 7: Wohnhaus Eduard Simon, Victoriastraße 7, Architekt: Alfred Messel, Fotografie um 1935
Berlin-W. als Milieu: Leben im Tiergartenviertel Die ‚Vergroßbürgerlichung‘ des Tiergartenviertels lässt sich aber nicht nur sozialstatistisch und in Viertelstereotypen wie z. B. ‚Millionärsviertel‘ fassen. Das vermögende Bürgertum dominierte dieses Viertel nämlich zusätzlich und vor allem visuell, durch das zahlenmäßige und ästhetische Übergewicht seiner Wohnhäuser, ja Wohnanlagen, und seines Lebensstils. Um 1900 bewohnten die an Zahl knapp überwiegenden Mittel- und Unterschichten nur etwa 20 % der Wohnhäuser des Viertels, in der Regel weniger beeindruckende, eher gewöhnliche 4- bis 5-geschossige Mietshäuser; die knapp andere Hälfte, die Oberschicht, das höhere Bürgertum, dagegen 80 % der Häuser, darunter faszinierend gestaltete, Aufsehen erregende Villen und villenartige Mietshäuser, die nicht selten zu Attraktionen des innerstädtischen wie zureisenden Tourismus wurden. In den Villen, die stets die Hauptaufmerksamkeit der Besucher auf sich zogen, wohnten nie mehr als 5 % der Tiergartenbevölkerung,
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aber gerade sie wurden für das Bild, das sich die Berliner von diesem ‚großbürgerlichen‘ Viertel machten, von entscheidender Bedeutung, oder der in Berlin lebende Franzose Jules Huret: Im Westen, am Eingang des Tiergartens liegt das vornehme Viertel, das Viertel der feinen Leute, Das W. wie der Berliner sagt, die privilegierte Residenz der verschiedentlichen Aristokratien. [...] Im Norden von der Spree begrenzt, erstreckt sich eine breite, schattige Chaussee, an der sich, inmitten von Gärten, zwischen Efeu und wildem Weingerank, die Villen und griechisch-italienischen Palais neugebackener, reicher Bankiers, Industrieller und Spekulanten erheben, deren Väter noch die Kartoffeln auf den Äckern des nahen Schönebergs pflanzten.12 So recht konnte sich allerdings das Großbürgertum über diese Schritt für Schritt errungene Dominanz nicht freuen. Denn wachsende Gefahr drohte dem Vorstadt- und Villencharakter des Viertels durch die etwa zeitgleich einsetzende Tertiärisierungsdynamik, die in den 1880er Jahren von den östlichen und südlichen Randgebieten des Viertels ihren Ausgang nahm und mit ihren Altbau um Altbau schluckenden Hotels, Kanzleien, Geschäften, Galerien, Theatern und Unterhaltungslokalen, Verwaltungs- und Vereinsgebäuden, und schon bald auch ersten Botschaften, auf die ‚stillen‘, idyllischen13 Wohnstraßen in Tiergartennähe übergriff. Als dann mit der erfolgreichen Erschließung und Bebauung des Kurfürstendamms, mit der Planungsdynamik des Architektenwettbewerbs Groß-Berlin 1908 und der Städtebauausstellung 1910 erste Pläne einer durch das Viertel zu führenden Verbindungsstraße zwischen der Innenstadt (Straßendurchbruch an den ‚Ministergärten‘) und dem Neuen Westen diskutiert wurden, hat man dies in den ‚besseren‘ Tiergartenkreisen nicht zu Unrecht als ein zum Anschluss an die ‚Westdrift‘ aufforderndes Menetekel begriffen.14 Mit dem Tiergartenviertel hatte sich – gleichsam vor den Toren der großen Stadt – ein Stadtraum eigener Art entwickelt, eine Oase mit Kleinstadtatmosphäre: still und grün, abwechslungsreich, nachbarschaftlich harmonisch ausgerichtet, repräsentativ in der Bebauung, mit Kirche und Kirchplatz als Zentrum und mit eigenen höheren Schulen und Privatlehran12 Jules Huret: Berlin um 1900, Berlin 1979 (Nachdruck dt. Ausgabe 1909; erstmals frz. 1900), S. 16/17. 13 ‚Stille‘ und ‚Idylle‘ sind die wichtigsten Leitformeln in der Erinnerungsliteratur ehemaliger Besucher und Bewohner des Tiergartens. Vgl. hierzu die Beispiele in: Münzberg (Hrsg.): Vom alten Westen (wie Anm. 1), S. 177–179: „Eine stille Ecke, fast... eine Kleinstadt in der Großstadt“ (Tilla Durieux: Eine Tür steht offen. Erinnerungen, Berlin 1954); „stille Straßen“, „vom lärmenden Potsdamer Platz entfernt“ (Tilla Durieux: Meine ersten neunzig Jahre. Erinnerungen. 4. Aufl., München 1971, S. 91); „Angenehm privater Charakter“ (Franz Hessel, 1919); „weder Lärm noch Staub“ (René Schickele, 1984); „sonntags wie auf der Dorfstraße“ (Helene von Nostitz, 1933); „die stillen Straßen am Tiergarten“ (Joachim Dissow: Adel im Übergang, Stuttgart 1961, S. 213). 14 Vgl. hierzu u. a. Hartwig Schmidt: Das Tiergartenviertel, 1988, S. 51; Architektenausschuss GroßBerlin (Hrsg.): Durchbruch Kurfürstendamm, o. O. 1914. Da die Stadt die in der Tiergartenstraße wohnenden guten Steuerzahler nicht in die steuerlich günstigeren westlichen Villenvororte abdrängen wollte, hatte dieser vor allem von Hermann Jansen vertretene Durchbruchsplan von vornherein keine Chance.
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stalten für die Söhne und Töchter der hier wohnenden Bürger, aber unter zunehmend stärkerem Druck auch der wuchernden Mietskasernenstadt, die man doch gerade erst hinter sich gelassen hatte. Für viele der Bewohner war dieses Viertel deshalb nur erste Station in der ‚Westdrift‘. Viele zogen um 1900 weiter; aber viele, sogar der deutlich größere Teil, blieben dauerhaft hier, trotzten den wachsenden großstädtischen Beschwernissen, welche eigentlich eine Weiterwanderung nahelegten, und den Verlockungen, die so viele Menschen in die neuen Villensiedlungen des Westens zogen. Was waren die Charakterzüge, was der Habitus dieses Viertels? Warum blieben so viele vermögende und/oder gebildete Bürger hier? Was bot ihnen das Viertel? Was leistete dieses Viertel für die Stadt? Und wo lagen in dieser Hinsicht die Grenzen? Fragen wir nach dem Naheliegenden: nach Begegnung, Kommunikation und Repräsentation, kurz: nach Vergesellschaftungsprozessen: Das Tiergartenviertel bot den bürgerlichen Familien, die hier wohnten, die Möglichkeit, ihren Statusanspruch, und ihren Erfolg, in Begegnungen mit anderen Menschen zu repräsentieren, nach oben gegenüber den alten, hofnahen Eliten, vom Monarchen bis zur letzten Hofdame, vom Adel bis zum Offizier, nach unten, gegenüber den an die vorrückende Mietskasernenstadt gebundenen sozialen Klassen: Handwerkern, Kleinhändlern, Arbeitern und Angestellten. Das Tiergartenviertel bot zunächst einmal, und vor allem die Möglichkeit, in der konkreten Begegnung mit höfisch-feudaler Kultur die Unabhängigkeit – und Überlegenheit – der eigenen, bürgerlichen Kultur offensiv zu demonstrieren. In diesem Viertel, hier hatte der durchaus hofnah plazierte Franzose Jules Huret durchaus recht, wohnte „die eigentliche Berliner Gesellschaft“.15 Der Fokus auf Repräsentation verlangt, das Viertel, genauer: eine Seite dieses Viertels, als ‚Arena der Vergesellschaftung‘, als ‚Bühne‘ zu betrachten, Akteurskonfigurationen und kulturelle Praktiken zu rekonstruieren, in denen die materialen wie topografischen Qualitäten dieses Gebietes mit den dort lebenden Menschen zu einem ‚sozialen Raum‘ (Martina Löw) verschmolzen.16
Der Tiergarten Das vorstädtische Tiergartenviertel entstand nicht auf freiem Grund, sondern musste sich – wie gezeigt – Schritt für Schritt gegen ältere Nutzungsformen, insbesondere gegen die Ausflugslokale und die Ausflugskultur des ‚Volkes‘, durchsetzen und den so ‚eroberten‘ Raum mit eigenen repräsentativen Nutzungen und Praktiken besetzen. Der nördlich gelegene Tiergarten, ein Landschaftspark, war, insofern Grenzgebiet, nur zum Teil zu erobern, in
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Huret: Berlin um 1900 (wie Anm. 12), S. 107; zudem betont er S. 19: „Empfänge der reichen Kreise [spielen, H.R.] eine immer größere Rolle gegenüber ‚offiziellen Festlichkeiten‘“. Vgl. Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt/M. 2001.
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seinen Wirkungen ambivalent bleibend, teils bürgerlich besetzter sozialer Raum, teils Begegnungs-, teils auch Konfliktraum der alten und neuen Eliten.17 Der 1834 von Peter Joseph Lenné, dem damals schon berühmten Gartenarchitekten, entworfene und 1873 noch einmal, z.B. durch Kinderspielplätze, ‚verschönerte‘ neue Tiergarten stellte mit seinen Reit-, Fahr- und Spazierwegen durch eine variantenreiche grüne Landschaft, mit seinen stimmungsreichen Wasserläufen, Seen und Brücken, seinen Denkmalen aus Stein und – wie z. B. bei der Rousseauinsel – aus symbolträchtiger ‚Natur‘, mit dem nahen Zoo und dem Hippodrom materiale Raumstrukturen bereit, die auf die ‚Füllung‘ mit repräsentativen kulturellen Praktiken bewusst angelegt waren. Aber wer konnte hier was repräsentieren? „Der Tiergarten“, so eine zeitgenössische Aussage, „gehört vorzugsweise den höheren Ständen, obgleich er Jedermann offen steht. Das Volk fühlt sich dort nicht behaglich“.18 Die 17 Zum Tiergarten als Begegnungsort vgl. vor allem die Studie von Horst Schumacher: Der Tiergarten, östlich angrenzender Park. Sein Milieu und seine Gäste, in: 100 Jahre Technische Universität Berlin 1879–1979, Berlin 1979, S. 225–231. 18 Fritz Monke u. a.: Die Tiergartenstraße, ein Stück Berliner Geschichte, Berlin 1975, S. 13. Dass die Arbeiterschaft ‚den Zelten‘ und Friedrichshain den Vorzug gab, betont auch Schumacher: Der Tiergarten (wie Anm. 17), S. 225. Er schreibt, „dass der Tiergarten zwar Jedermann zugänglich war, aber eigentlich für die feinen Leute“ gebaut wurde. Ebenso schon Ernst Dronke: Aus dem Volk & PolizeiGeschichten, Berlin 1846, neu hrsg. v. Bodo Rollka, Köln 1981, S. 26: Das „Volk“ könne sich im Tiergarten nicht erholen; an allen Orten sei dieser „von breiten Reit- und Fahrwegen durchschnitten, auf denen der Reichtum und die Macht dahinrollen [. . .] – und den Arbeiter mit Staub überschütten“. Differenzierter, aber doch mit ähnlichem Akzent, auch Julius Rodenberg, Herausgeber der Deutschen Rundschau: Die von ihm beschriebenen Verbotstafeln und der allgegenwärtige uniformierte Polizist werden mit dazu beigetragen haben, dass „es im Tiergarten nichts zu sehen gab, was man im von Mietskasernen umgebenen Friedrichshain in Fülle fand: Spielende Kinder, ‚Kinder aus dem Volk‘, Mädchen im Kattunkleidchen, Knaben in linnenen Jacken. Die Mütter [. . .] alte Frauen [. . .] auf den Bänken oder im Gras. Das sind Erscheinungen, die man nicht im Tiergarten sieht. Der Friedrichshain hat nicht das Privileg der Jahrhunderte, wie der Tiergarten“ (Julius Rodenberg: Bilder aus dem Berliner Leben, Halle/S. o. J., S. 29/30, 60). Auch Helmut Engel: Das Tiergartenviertel. Stadt als Geschichtslandschaft, in: Münzberg (Hrsg.): Vom alten Westen (wie Anm. 1), S. 69, betont, dass den „unteren sozialen Schichten [. . .] nach 1840 mit der Anlage des Friedrichshains im Osten eine eigene sozial abgeschlossene Welt zugewiesen“ worden ist. Für „alle, die Rang und Namen“ hatten „oder haben wollten“, war dagegen der „allabendliche Wagen- und Fußgängercorso in der Tiergartenstraße [. . .] ein gesellschaftliches Muß“ (Isidor Kastan: Berlin, wie es war, Berlin 1919, zitiert nach: Münzberg (Hrsg.): Vom alten Westen (wie Anm. 1), S. 122). Der Ritt frühmorgens im Tiergarten war vor 1914 selbst für kritisch-moderne Bürger wie Paul Cassirer und seine Frau Tilla Durieux verpflichtend (Durieux: Meine ersten neunzig Jahre (wie Anm. 13), S. 124). Werner Weisbach, Bankierssohn, Kunstmäzen und Schwiegervater der bekannten Architekten Messel und Hoffmann, wurde das von diesem Park ausgehende „Muß“ zum „Hass gegen den Tiergarten mit seinen eingezäunten Rasenflächen und vorgeschriebenen Wegen, wo ich in adretter Kleidung täglich Spazieren geführt wurde“. Er vermisste dort, wie auch im väterlichen Villengarten, „die freie, unberührte Natur“ (Weisbach: „Und alles ist zerstoben“ (wie Anm. 11), S. 87). Auch Carl Fürstenberg betont „die übliche Sonntagspromenade in der Tiergartenstraße“ als repräsentative kulturelle Praxis des Bürgertums: „Die Sonntagspromenade fand nicht mehr in den Zelten statt, sondern bereits in der Tiergartenstraße. Dort drängte sich alles zusammen,
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Erinnerungsliteratur gibt reichen Aufschluss über die vielfältige, ambivalente, in Tageszeiten und Zeitperioden aufgeteilte Nutzung des Parks für die Repräsentation teils unterschiedlicher und teils sich annähernder Lebensformen. Marie von Bunsen, wegen ihrer doppelten Einbindung sowohl in adlig-höfische wie in großbürgerliche und künstlerische Gesellschaftskreise eine wichtige vermittelnde ‚amphibische Figur‘ des Tiergartenviertels, akzentuierte den eindeutigen Schwerpunkt des Tiergartengeschehens: Damals gab es noch die Tiergarten-Promenade; langsam und gut angezogen erging man sich dort, konnte darauf rechnen, bekannte Gesichter zu sehen. Da nahte sich die Königin [später Kaiserin, H. R.] Augusta und auch als Erwachsene war es nicht ganz leicht, die tiefe Verbeugung auszuführen. Denn der Zug nahte sich überaus langsam.19 Dem Zug aus Monarchin, Hofdamen und Hoflakaien konnte man im Tiergarten ebenso fast täglich begegnen wie den Kutschen des Hochadels und der Diplomaten, und dem spazieren gehenden oder reitenden Kaiser, den eher das Spazieren bevorzugenden hohen Regierungsmitgliedern und Diplomaten, nicht zuletzt den eher reitenden Offizieren jeglichen Dienstgrades vom Fahnenjunker bis zum General; aber man begegnete auch vielen adligen wie bürgerlichen Damen, die ihre Pferde im nahegelegenen Tattersall (Luisenstraße, heute etwa Müller-Breslau-/Fasanenstraße) hatten und für die es im Tiergarten eigene ‚Aufsitzsteine‘ gab, samt Reitknechtbegleitung. 1878 setzte der ‚Wrangelbrunnen‘ einen weiteren höfisch-militaradligen Akzent. Der Tiergarten bot den bürgerlichen Bewohnern des Viertels so vor allem also Gelegenheiten, der höfisch-adligen Welt jenseits des ihnen kaum zugänglichen Hofes zu ‚begegnen‘ und an bestimmten Praktiken dieser Welt wie dem Reiten und Promenieren teilzunehmen. Eigene, genuin bürgerliche Repräsentationsformen wie das Schlittschuhlaufen oder Kahnfahren blieben eher im Hintergrund dieses Gartengeschehens. Noch deutlicher zeigte sich die höfische Repräsentationsdominanz bei den jährlichen Blumenkorsos, den Paradezügen der blumengeschmückten Kutschen der Hofgesellschaft durch den Tiergarten. Julius Rodenberg, Verleger und Herausgeber der Deutschen Rundschau, die in keinem bürgerlichen Haushalt des Tiergartenviertels fehlen durfte, macht in seinen Erinnerungen auf das schrittweise Anwachsen des Tiergartenpublikums und auf eine Art zeitliche Aufteilung des „Zutritts für Jedermann“ aufmerksam: „[...] zu gewissen Stunden des Tages“ bekomme man dort „den Anblick der Eleganz, zu anderen den der vornehmen Ruhe gewährt“. Jedes Publikum scheine seine Zeit gehabt zu haben: „Frühe Leute, die aus dem Inneren der Stadt zu ihren vorstädtischen Arbeitsplätzen strömten; dann die ‚Jugend‘, die zur Schule was in Berlin irgendwie zur bürgerlichen Gesellschaft gehörte, und wandelte im Sonntagsstaat um die Mittagsstunde auf und ab. Die Damen zogen ihr bestes Kleid an, und die Familienväter pflegten sich ihren Bratenrock anzulegen und ihren Zylinderhut aufzusetzen.“ Carl Fürstenberg: Die Lebensgeschichte eines deutschen Bankiers. Hrsg. v. seinem Sohn Hans Fürstenberg, Berlin 1931, Wiesbaden 1961, S. 25. 19 Marie von Bunsen: Die Welt in der ich lebte. Erinnerungen aus glücklichen Jahren 1860–1912, Leipzig o. J., S. 14.
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eilte“; wieder später dann Kindermädchen mit ihren Schützlingen auf den (bürgerlichen) Spielplätzen und im (bürgerlichen) Zoo.20 Leicht ließen sich diesem Bild weitere bürgerliche Figuren und Verhaltensweisen, z. B. solche der Naturbegeisterung (Vogelbeobachtung, Sonnenbaden) oder der Naturbestimmung (Pflanzenkunde betreibende Schüler wie Erwachsene) hinzufügen. Naturnähe wurde schon hier, symbolisch aufgeladen, genutzt zur Distanzierung von der eher künstlichen Hofkultur. Eine langsam fortschreitende Besetzung des Tiergartens mit bürgerlichen Themen und Praktiken ist somit unübersehbar. Die von Wilhelm II. imaginierte und gegen Widerstand durchgesetzte ‚Siegesallee‘ durch den Tiergarten mit ihrem überbordenden, vor allem die Hohenzollerndynastie, das preußische Militär und den ‚preußischen Weg‘ zum deutschen Nationalstaat abfeiernden Denkmalprogramm kann in dieser Perspektive eines Kampfes um Repräsentationsraum auch als Gegenmaßnahme der Monarchie gegen die fortschreitende Verbürgerlichung dieses Landschaftsgartens gedeutet werden. Den Tiergartenbewohnern blieb mit dem relativ frühen Lessingdenkmal an der Lennéstraße (1862) und den wenigen bürgerlichen Geistesgrößen im Garten und in der Siegesallee (Goethe, Schiller, Beethoven, Wagner) hierzu kaum ein Gegengewicht.21 Die scharfe Kritik am künstlerischen Minderwert der Skulpturen der Siegesallee kann aus dieser Perspektive durchaus auch als fortschreitende innere Distanzierung des Bürgertums vom monarchischen Neo-Absolutismus Wilhelms II. gedeutet werden, die auch und gerade im Tiergartenviertel um 1900 zu beobachten ist.
Die Wohnsiedlung Die von Jules Huret wahrgenommene ‚eigene‘, die bürgerliche Welt begann südlich des Tiergartens. Materiale Kernbestände dieser ‚Arena‘ waren die aufwändig gestalteten Straßen, grüne Parade- und Vorzeigestraßen, vornehme Mietshäuser und Villen mit hoch differenzierten, großzügigen Raumprogrammen und luxuriösen Innenausstattungen, mit hohen Ver- und Entsorgungsstandards, Gärten mit mächtigen Bäumen, Wintergärten, Gewächshäusern, Springbrunnen und Skulpturen, nicht zuletzt auch Kutschen, Pferden und livriertem (häufig allerdings für bestimmte Anlässe nur gemietetem) Dienstpersonal. Das war die Kulisse, in der man seinen Anspruch auf Aufmerksamkeit, auf Ansehen und Elitenzugehörigkeit, auf Bewunderung in all- und festtäglichen, eigenen kultivierten Praktiken und Lebensformen präsentierte und prätendierte, in der Begegnung mit Menschen, die man als gleich imaginierte, mit denen man gemeinsam Antworten auf die Frage zu erarbeiten suchte: ‚Wer sind wir?‘, und die Antwort dann an die ‚anderen‘, an die städtische, nationale und auch die internationale Öffentlichkeit weitergab. Das Spektrum der hier zur eigenen Le20 Rodenberg: Bilder (wie Anm. 18), S. 29/30, 60. 21 Beim gegenwärtigen Forschungsstand in die von mir untersuchten Zusammenhänge nur schwer einzuordnen ist die Errichtung des Rolandbrunnens und die Komposition der Oper Der Roland von Berlin durch Ruggiero Leoncavallo, beides auf Veranlassung des Kaisers. Der Rolandbrunnen galt in der deutschen Erinnerungskultur eigentlich als ein Symbol stadtbürgerlichen Selbstbewusstseins.
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bensform amalgamierten Kulturpraktiken war breit, umfasste Formen des privaten Lebens wie der kleinen und großen Geselligkeit, reichte von Hygiene, Lektüre und dilettierender Kunstausübung (Musik, Gesang, Malerei, Sammlungsleidenschaft, Bibliophilie) wie Naturgestaltung (Gartenkunst, Pflanzenzucht, Pflanzensammlungen) bis zu den Teestunden, Hauskonzerten, Salons, Empfängen, Diners und rauschenden Festen, für die das Viertel um 1900 berühmt war. Aus diesen vielfältigen Formen des Zusammenwirkens von Geld und Geist, Reichtum und Schönheit, das sich in ähnlichen Villensiedlungskulissen auch andernorts finden lässt, seien hier nur die wichtigsten, aufschlussreichsten ein Stück weit hervorgehoben: die Salons und Abendempfänge, und – nur kurz – die sich hier entwickelnden Kunst- und Geschmacksdiskurse.
Geselligkeit Im Vergleich zu den anderen Villensiedlungen der Westdrift, die – von Terrainunternehmern konzipiert und dirigiert – als ‚gute Adressen‘ eine sehr weit gehende soziale Homogenität aufwiesen, war das vorstädtische Tiergartenviertel, wie gezeigt, eher ein Wohngebiet sozialer Mischung. An seiner Gestaltung und sozialen Komposition hatte zentrale Planung einen eher geringen, der Markt dagegen einen recht großen Anteil. Profitkalküle steuerten Bebauung und Auswahl der Bewohner, und nicht, wie z. B. im Grunewald oder in der ‚Kolonie Alsen‘, eine auf soziale Homogenität achtende Elite von Bankiers und Bankdirektoren. Das heißt andererseits aber nicht, dass hier von Anfang an gemischtes Zusammenwohnen, gemischte Nachbarschaft, die Regel war. Im Gegenteil: Auch im Tiergartenviertel tendierten die verschiedenen sozialen Klassen zur Segregation nach bestimmten Straßen und Straßenfolgen. Eine klare Separation nach Klassen gelang aber nicht, weil der vorstädtische Boden-, Gebäude- und Wohnungsmarkt hier hochdynamisch war und letztlich die durchaus beobachtbaren Versuche sozialer Exklusion und Segregation immer wieder – natürlich in Grenzen – konterkarierte. Richtig erfolgreich war dieser Segregationsmechanismus bezeichnender Weise nur in den Straßen des Terrainprojekts Albrechtshof. Hier und in der Tiergartenstraße mit den angrenzenden Erschließungsstraßen dominierte das kaufmännische und industrielle Großbürgertum, im Lenné-Dreieck – schon seit weitaus früherer Zeit − die staatsnahen Eliten (Beamte, Professoren, Diplomaten). Lange vor dem ‚Millionärsviertel‘ am Tiergarten sprach man von den Geheimrats- und Gelehrtenvierteln im Nahbereich des Potsdamer Platzes.22 Wohnnähe, Nachbarschaft (versus Wohndistanz), ist aber nur ein Indikator für das Gelingen (oder Scheitern) von Kommunikation und für die Erarbeitung gemeinsamer Orientierungen wie Verhaltensweisen, also eines Prozesses intensiver Vergesellschaftung. Wichtiger noch als dieser Indikator war die Begegnung innerhalb der Häuser, 22
Vgl. Fürstenberg: Die Lebensgeschichte (wie Anm. 18), S. 62: „Die neue Wohngegend war zunächst eine Art Geheimrats- und Professorenviertel“; in den 1870er/80er Jahren seien dann die „erfolgreichen Kaufleute“ hinzugekommen (ebd., S. 67).
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genauer die Existenz von Geselligkeitsformen, die diese Begegnungen – wie an der ‚Bühne‘ des Tiergartens schon gezeigt – organisierten und konfigurierten. Sehr früh und durchaus lang anhaltend finden wir in den Quellen, nicht unerwartet, Hinweise auf eine ausgeprägte ‚Professorengeselligkeit‘ im Tiergartenviertel. Seit den 1860er Jahren wurde so z. B. das ‚Haus Lepsius‘, eine in bewusster Anlehnung an das Bürgerideal des ‚liberalen England‘ errichtete Villa in neo-gotischem Stil (Bendlerstraße 17, 1854) ein solches Zentrum ‚wissenschaftlicher Geselligkeit‘.23 Dass diese Professorengeselligkeit in der sich neu formierenden bürgerlichen Gesellschaft des Tiergartenviertels um 1900 keinen besonders guten Ruf mehr hatte, dass die renommierteren Professoren inzwischen in weiter gestreute Kreise bürgerlicher Geselligkeit ‚eingebracht‘ worden waren und dass inzwischen eine von Frauen um Frauen, um die ‚Dame des Hauses‘ herum organisierte Geselligkeitsform als Brücke zwischen den verschiedenen bürgerlichen Teilgruppen funktionierte, belegt eine Tagebucheintragung des Grafen Harry Kessler, der eine amphibische Lebensweise zwischen Hofgesellschaft und Tiergartenviertel sowie Pariser Platz (mit dem adligen Club ‚Kasino‘) und Tiergartenviertel (wie Wannseevillen) repräsentierte, vom 15. April 1900: Bei Frau vom Rath [bekannte Saloniére im Tiergartenviertel, H. R.] gegessen mit Erich Schmidt [Literaturwissenschaftler der Berliner Universität, Goetheexperte, H. R.] und Diltheys [Philosoph an der Berliner Universität, H. R.]; wie immer, wenn Professoren zusammen sind, viel Hässliches zutage gekommen, Neid und formloser Klatsch; man müsste aus ästhetischen Rücksichten keine Professoren an seinem Tisch sehen.24 Berlin war das gesamte 19. Jahrhundert hindurch ein Zentrum deutscher Salonkultur. Die Studie von Petra Wilhelmy weist 90 solcher Begegnungskreise auf,25 die in der Form – ‚Zir23
Hier versammelten sich in den 1850er/1860er Jahren um den Ägyptologen, Forschungsreisenden und Direktor des Ägyptischen Museums Richard Lepsius u. a. der Ägyptologe Adolf Erman, der Historiker Johann Gustav Droysen (Victoriastraße 3, 1859–1861), der Graecist Ernst Curtius (zunächst Bendlerstraße, dann Matthäikirchstraße 4, 1868–1870), der Freizeitwissenschaftler und Sohn des englischen Botschafters Georg von Bunsen; später kamen, auch als Träger eigener wissenschaftlicher Hausgeselligkeit, hinzu: die befreundeten Physiologen bzw. Physiker Emil Du Bois-Reymond (Victoriastraße 17) und Hermann von Helmholtz (Königin-Augusta-Straße 45, 1870–1872); vgl. Klemm: Das Tiergartenviertel (wie Anm. 1), S. 52–54 (1887 besaßen Professoren 5,6 % der Häuser; ihre Familien stellten 7 % der Einwohner); Adolf Erman: Mein Werden und Wirken, Leipzig 1929, S. 170; Bunsen: Die Welt (wie Anm. 19), S. 57, vor allem aber Bernhard Lepsius: Das Haus Lepsius. Vom geistigen Aufstieg Berlins zur Reichshauptstadt, Berlin 1933. 24 Harry Graf Kessler: Das Tagebuch. Dritter Band 1897–1905. Hrsg. v. C. Schäfer u.a., Stuttgart 2004, S. 295. Vgl. ähnliche Kritiken der Anna von Helmholtz in den 1870er Jahren: „Die Gelehrtenkreise haben hier, wie an kleinen Universitäten, die große Unsitte der langen Soupers – was wohl von einer sozialen Unbeholfenheit herrührt – so dass sie sich erst dann sicher fühlen, wenn sie ihre Gliedmaßen unter einem Tisch verankert haben.“ Anna von Helmholtz: Ein Lebensbild in Briefen. Hrsg. v. Ellen von Siemens-Helmholtz, Berlin 1929, S. 174 und Weisbach: „Und alles ist zerstoben“ (wie Anm. 11), S. 370: „eine in Steifheit und Kastengeist befangene Geselligkeit“. 25 Vgl. Petra Wilhelmy-Dollinger: Die Berliner Salons. Mit historisch-literarischen Spaziergängen, Berlin 2000, S. 374/375, 381/382.
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kel‘, ‚Teetische‘, ‚Abendgesellschaften‘ – variierten, von Anfang an eine stark jüdisch und französisch geprägte Saloniérentradition aufwiesen, seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dann aber zunehmend von einer in sozialer Trägerschaft wie implizitem ‚Programm‘ neuen, stärker repräsentierenden Hausgeselligkeit überlagert wurden,26 so dass die Grenzen hier mehr und mehr verwischten. Wichtiger als die damals (wahrscheinlich gar nicht mehr existierende) klare Grenze zwischen Salon und anderen Geselligkeitsformen ist in unserem Zusammenhang, dass viele bekannte Salons schon früh aus der Innenstadt ins vorstädtische Tiergartenviertel zogen27 und dieses so mit der Zeit zu dem Schwerpunkt Berliner ‚Salonkultur‘ (treffender wohl ‚repräsentativer Hausgeselligkeit‘) wurde.28 Jeder zweite der wichtigsten neu gegründeten Salons befand sich dort. So wurden [...] zwischen 1865 und 1874 im Tiergartenviertel die Salons der Gräfin Oriola (1866), der Babette Meyer, spätere Gräfin Kalckreuth (1870er Jahre) und der Anna von Helmholtz (1871), das ‚gesellige Gelehrtenhaus Curtius‘ (1870er Jahre), die ‚salonartigen Geselligkeiten‘ Pommer-Esche (1870) und Hedwig Dohms (1874) sowie die ‚Künstlergeselligkeit‘ der Cornelie Richter (1870er Jahre) gegründet. Bis 1887 zog dazu die ehemalige Saloniére Elisabeth Menzel in die Mätthaikirchstraße (1874), verlegten 1874 die Geschwister Olfers ihre gemeinsamen Salons in die Margaretenstraße und gründeten in den späten 70er Jahren Felice Bernstein und 1880 Anna vom Rath ihre Salons.29 Natürlich ist es sinnvoll, wenn man diese Salons, wie Wilhelmy und Klemm dies tun, nach dem charakteristischen Besucherprofil in ‚Adelssalons‘ (Gräfin Oriola), ‚Gelehrtensalons‘ (Ernst Curtius), ‚Künstlersalons‘ (Cornelie Richter) oder von Intellektuellen dominierte ‚Mittelschichtsalons‘ (Franz und Lina Duncker, Hedwig Dohm, Fanny Lewald) klassifiziert. Es trifft zweifellos zu, dass bei der Gräfin Oriola (geb. von Arnim) vor allem Adlige und adlige Militärs, dazu dann hohe Beamte und Professoren zu Gast waren, bei Anna von Helmholtz vor allem Professoren, Diplomaten und Hofadlige (daneben dann, eher selten in all den anderen ‚Salons‘, auch einige Industrielle und Bankiers), bei Babette Meyer und Cornelie Richter eher Diplomaten, Künstler und Saloniéren und bei Hedwig Dohm z. B. eher Schriftsteller, Dichter und bildende Künstler. Langfristig wirksamer waren aber andere Tendenzen: Das Tiergartenviertel wurde in Wohnbelegschaft, Alltagskultur und vor allem in seiner Sichtbarkeit, ganz besonders in der Ästhetik seiner Gebäude, ‚bürgerlich‘. Die Zahl der hier wohnenden Adligen, ohnehin in starkem Maße eher dem Bürgertum zuzuzählende nobilitierte Beamten-, Diplomaten- und Militärfamilien, ging Schritt für Schritt zurück;30 und die verbleibenden Adligen findet man zunehmend in den größeren Mietshäusern. Das 26 27 28 29 30
In den Gelehrtenhäusern z. B. wurde die Organisation der Geselligkeit eher von den Hausherren übernommen. So zogen z. B. die Salons der Lina Duncker und der Fanny Lewald ins Tiergartenviertel. Vgl. hierzu Klemm: Das Tiergartenviertel (wie Anm. 1), S. 54/55. Vgl. ebd., S. 54, in Auswertung der Studie von Petra Wilhelmy-Dollinger. Eine von mir erhobene Stichprobe aus dem Berliner Adressbuch des Jahres 1908 ergab: Von 1.023 in Berlin wohnenden Adligen wohnten nur noch 37 (= 3,6 %) im Tiergartenviertel.
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heißt: Der Adel verlor im Viertel gegenüber dem vermögenden Bürgertum nicht nur an Zahl, sondern – wichtiger und folgenreicher – an Sichtbarkeit. Nur noch einmal, 1874/76 suchte eine Adelsfamilie sich im Viertel dominant präsent zu halten: als der ‚schlesische Magnat‘ von Tiele-Winkler an der Tiergartenstraße/Regentenstraße 15 eine Prachtvilla in bis dahin im Viertel unbekannter so genannter ‚nordischer Renaissance‘ errichten ließ, eine Villa, die einerseits schnell der bürgerlichen Architekturkritik verfiel, anderseits schon bald an die italienische Botschaft überging. Bewundert wurde von dem Berliner Ausflugspublikum an Wochenenden weniger diese Adelsvilla, auch kaum noch die wenigen Adelspalais in der Innenstadt (Unter den Linden, Wilhelmstraße,31 Schlossplatz), sondern die Villen der bürgerlichen (und nobilitierten bürgerlichen) Hausherren des Tiergartenviertels: das Haus des Bankiers Gerson (Ecke Lenné- und Bellevuestraße), die Doppelvilla der Bankiers von Hansemann,32 die Villa des Kaufmanns Adolf von Liebermann und die des Industriellen von der Heydt (v. d. Heydt Straße). Kurz: Die Zahl der Adelsbewohner und adligen ‚Häuser‘ im Tiergartenviertel reichte aus für eine vergesellschaftende tagtägliche Begegnung von Adel und Bürgertum in den Mietshäusern und auf den Straßen, im Gymnasium und in den privaten Mädchenpensionaten des Viertels, in den ‚adligen‘ Salons, und amphibische Adelsfiguren wie Marie von Bunsen, Harry Graf Kessler, Eberhard von Bodenhausen oder Helene von Nostitz haben in dieser Hinsicht wichtige Brückenfunktionen übernommen. Aber im Kontrast zum angrenzenden Tiergarten, wo (Hof-)Adel und Bürgertum zunehmend gleichgewichtig nebeneinander ‚auftraten‘, war der Adel im Tiergartenviertel auf dem Weg in eine Marginalstellung.
31 Der Fürst Pless, schlesischer Magnat, baute, damals schon ein Einzelfall, nach der Reichsgründung ein neues, repräsentatives Adelspalais in der Wilhelmstraße (vgl. Fürstenberg: Die Lebensgeschichte (wie Anm. 18, S. 67; vgl. auch: Hugo Freiherr von Reischach: Unter drei Kaisern, Berlin 1925, S. 170/171: „Später [nach 1900, H. R.] hat sich dies alles sehr geändert. Die Fürsten hatten keine Palais mehr in Berlin, das hing auch mit der Steuerpolitik der Stadt zusammen. Doppelte Haushaltungen auf dem Lande und in der Hauptstadt wurden zu teuer. Die Familien kamen nur noch zu Kaisers Geburtstag, zur Cour und zu den Hofbällen nach Berlin und wohnten in den Hotels. In größerem Stil repräsentierende [adlige, H. R.] Privathäuser gab es nur noch drei, diejenigen des Oberstkämmerers Fürsten Solms, des Fürsten Guido Donnersmarck und des Grafen Tiele -Winkler“). Zum Grandhotel als neuem Ort vergesellschaftender Begegnung von alten und neuen Eliten, Adel und Großbürgertum, als Ort der Generierung einer modernen High Society eigenen, luxurierenden Lebens- und Konsumstils vgl. Habbo Knoch: Geselligkeitsräume und Societyträume, in: Reif, Feichtinger (Hrsg.): Berliner Villenleben (wie Anm. 8), Berlin 2008, S. 327–350. Zum ‚Eindringen‘ mehrerer großer Hotels und vornehmer Restaurants in die Bellevuestraße vgl. Schmidt: Das Tiergartenviertel (wie Anm. 1), S. 50 und Klemm: Das Tiergartenviertel (wie Anm. 1), S. 62. 32 Marie von Bunsen spricht von dieser Villa als „einer der Sehenswürdigkeiten Berlins und damals eben so sehr bestaunt wie etwa in Paris der Eiffelturm. Man wanderte geradezu nach der Tiergartenstraße, um die dort noch ziemlich vereinzelt stehende Baulichkeit zu bewundern.“ Bunsen: Die Welt (wie Anm. 19), S. 30. Eine von bürgerlichem Leistungsstolz getragene Übersicht über zum Teil schon vor 1871 errichtete „schöne Häuser“ des vermögenden Bürgertums im Tiergartenviertel auch in Fürstenberg: Die Lebensgeschichte (wie Anm. 18), S. 66–68.
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Die Berliner „Gesellschaft“ sei nach 1900 „viel größer und verschiedener geworden“, klagte der Hofmann und Diplomat Hugo von Reischach in der Rückschau 1925.33 Für das Tiergartenviertel gilt dies in besonderem Maße, und zwar im Sinne einer fortschreitenden Verbürgerlichung. Mittelbürgerliche Gruppen entwickelten eigene Formen der Haus- und Salongeselligkeit. Die Einladungslisten, z. B. die des Kunsthändlers Paul Cassirer und seiner Frau, der Schauspielerin Tilla Durieux, oder die des belgischen Kunstreformers Henry van de Velde34 gewannen in sozialer Hinsicht ständig an Breite und Farbe hinzu: Schauspieler, Kunstgewerbler, Bohemekünstler, Verleger und Journalisten. Und was die Zahl der Eingeladenen und den Ess-, Unterhaltungs- und Geschenkluxus anging, so sprengten schon bald die Soirées und Thees der Großbürger im Viertel alle bisher gewohnten Maßstäbe. Kurz: Nicht das von der ‚Salon-Forschung‘ typologisierend akzentuierte sozial Trennende war für das Tiergartenviertel charakteristisch, sondern die Mischung, die schnell wachsende Möglichkeit der Begegnung von ‚Fremden‘, von Menschen unterschiedlicher Herkunft, lebensweltlicher Prägung und Lebensperspektive. Harry Graf Kessler hat diese Erfahrung 1898 in einer Tagebucheintragung in nostalgischer Verliererstimmung auf den Punkt gebracht: Musikalische Soirée bei Haus-Wedells [Haushofmeister des Kaisers, H. R.] [...] da außerdem nur wenig Menschen, nur etwa 60 bis 70 eingeladen waren, trug das Ganze das in Berlin bei den Massenfesten, die jetzt hier nötig sind, so seltene aristokratische Gepräge; man könnte glauben, eine Elite zu sein, da man ausnahmsweise einmal kein Mob war, während sonst die Grenzen der ‚Gesellschaft‘ nur durch die Größe der Räume gezogen zu sein scheinen.35
33 Reischach: Unter drei Kaisern (wie Anm. 31), S. 171. 34 Zu dem Kunsthändler Paul Cassirer vgl. Christian Kennert: Paul Cassirer und sein Kreis. Ein Wegbereiter der Moderne, Frankfurt/M., 1996; Gabriele Silbereisen: Der Kunsthändler und Verleger Paul Cassirer. Viktoriastraße 35, in: Münzberg (Hrsg.): Vom alten Westen (wie Anm. 1), S. 127–130; sowie die beiden Memoirenbücher seiner Frau, Tilla Durieux: Eine Tür steht offen (wie Anm. 13) und Meine ersten neunzig Jahre (wie Anm. 13). Zu van de Velde, seit 1900 in Berlin, vgl. u. a. Kessler: Das Tagebuch (wie Anm. 24), Eintragung vom 8. März 1901, S. 399, auch die Eintragung vom 15. Januar 1903: „Soirée bei Vandeveldes. Etwa 30 Menschen“, ebd., S. 534. Die Provokation, die von den Reformkleidern van de Veldes für die Salongesellschaft des Tiergartenviertels ausging, wird erst recht deutlich, wenn man bedenkt, dass es der Frau in der Salongesellschaft oblag, in Habitus, Gestus und Kleidung die Gesellschaft als schön zu repräsentieren. Ernst Siebel hat gezeigt, wie in diesen Salons die Frauenkleidung, die Frauenpose und sogar Möbel speziell für Frauen dieser Funktion unterworfen waren und die vornehme Berliner Gesellschaft von ihren Frauen auch eine repräsentative ‚bildhafte Wirkung‘ erwartete. Reformkleider und erst recht die Reformmöbel von Behrens, Riemerschmidt, van de Velde oder den Wiener Werkstätten wirkten in diesem Kontext dysfunktional und provozierend. Vgl. Ernst Siebel: Der bürgerliche Salon 1850–1918, Berlin 1999, S. 131–133; Oswalt von Nostitz: Muse und Weltkind. Das Leben der Helene von Nostitz, München 1991, S. 70/71 und Rudolf Vierhaus (Hrsg.): Das Tagebuch der Baronin Spitzemberg, geb. Freiin von Varnbüler. Aufzeichnungen aus der Hofgesellschaft des Hohenzollernreiches, Göttingen 1965, Eintragung vom 6. Dezember 1899, S. 395. 35 Kessler: Das Tagebuch (wie Anm. 24), Eintragung vom 12. März 1898, S. 131; wie stark die gesellschaftliche Mischung der Gäste als Belastung empfunden wurde, zeigen vor allem die Tagebucheintra-
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Es war wohl diese instabile Stellung zwischen alter ‚Elite‘ und ‚Mob‘, die Kessler, wie viele andere in Berlin lebende Adlige zum offenen oder zum Andeutungs-Antisemitismus tendieren ließ.36 Das Tiergartenviertel war um 1900, so mein Resümee, ein Pionier erweiterter bürgerlicher Geselligkeit und höfisch-adliger, großbürgerlicher und mittelbürgerlicher Begegnung. Die dortige Hausgeselligkeit vereinigte in variablen Formen und unterschiedlich weitgehender sozialer Öffnung ein breites Spektrum an Gästen. Das funktionale Flechtwerk der sich hier begegnenden ‚Gesellschaft‘ verband in unterschiedlicher Gewichtung Reichtum und Bildung, das kaufmännische und das industrielle Bürgertum mit dem vermögenden Bildungsbürgertum, genauer: das kaufmännische und industrielle Großbürgertum, das Bestätigung und weitere Stabilisierung seines Geltungsanspruches anstrebende wohlsituierte freiberufliche Akademikertum, Professoren und Künstler (diese nicht zuletzt nach Aufträgen ihrer reichen Nachbarn strebend), höhere Regierungsbeamte und Diplomaten, und – deutlich schwächer vertreten – Angehörige des Militärs, der Hofgesellschaft und des reichen Landgungen der Baronin Spitzemberg (wie Anm. 34); immer wieder wird dieses Thema erörtert: „die Gesellschaft war mir zu fremd“ (Ball beim Bankier Hansemann, 6. März 1872, S. 132); „ein Sammelsurium aus allen Ständen“ (Ball beim Universitätsprofessor Moritz Lazarus, jüdischer Philosoph, am 6. März 1873 S. 140); „bunt zusammengewürfelte Gesellschaft“ (Ball beim Universitätsprofessor Gneist, am 28. März 1874, S. 146), und dieselbe Formulierung zum Salon der Cornelie Richter, am 31. März 1908 (S. 481). Als Motiv, dennoch immer wieder hinzugehen, taucht als Formel die „Neugier auf ‚interessante Menschen“‘ auf, z. B. im Tagebuch der Baronin Spitzemberg, in den Briefen der Anna von Helmholtz (z. B. Eintragungen vom 15. November und 7. Dezember 1871, 6. März 1872 etc.) oder bei Fürstenberg: Die Lebensgeschichte (wie Anm. 18), S. 492. 36 Am 12. März 1898 heißt es in Kesslers Tagebuch in einer Bemerkung zu Hermann Sudermanns Drama Johannes: „eigentlich müsste es einen Untertitel haben: Eine jüdische Familienkatastrophe. Schauplatz Tiergartenviertel [. . . weil, H. R.] in dem ganzen Stück [. . .] nicht ein einziger Charakter, nicht ein einziges Motiv ist, das nicht in einer jüdischen Tiergartenseele genauso entstehen und sich äußern könnte; ebenso modern wie die die freisinnige Volkspartei repräsentierenden Pharisäer ist auch jedes einzelne andere; der ganze biblische Krimskrams ist also lediglich Draperie, ohne jede Beziehung nach dem Inneren der Seelen hin“; Kessler: Das Tagebuch (wie Anm. 24), S. 131. Am 5. August 1902 noch einmal zum selben Stück: „Sudermann hat jüdischen Jobbern und Jobberinnen Grafen- und Prinzen Titel verliehen; aber sie riechen doch nach dem Tiergartenviertel, nicht nach der Wilhelmstraße. Sie reden und handeln wie Levi, der Pleite macht, nicht wie vornehme preußische Herren und Damen.“ Ebd., S. 511. Auf einem Festessen Berliner Literaten zu Ehren des Dichters Maeterlinck distanzierte er sich gleich zwei Mal mokant von referierenden bzw. aus ihren Werken vortragenden „Judenjünglingen“ (Eintragung vom 18. Januar 1903, S. 534/535). Ähnliche, aber verdecktere Anspielungen finden sich in größerer Zahl auch bei der Freifrau von Spitzemberg, z. B. bezogen auf die Geselligkeit des Bankiers Bleichröder: vgl. Vierhaus (Hrsg.): Das Tagebuch der Baronin Spitzemberg (wie Anm. 34), Eintragung vom 20. Januar 1872: „Ball bei Bleichröder“, dort „zweifelhafte Elemente“ (S. 130); 6. März 1872: „Ball bei Hansemann“, dort, in diesem Bankiershaus, „gute bürgerliche Gesellschaft, keine Börsenjuden und Protzen“ (S. 132); am 5. Dezember 1872: „Judenbarone“ und „Protzentum“ (S. 137). 1890 wohnten im Tiergartenviertel laut einer Statistik der Gemeinde Sankt Matthäus 14.041 Personen evangelischen, 1.400 katholischen und 2.623 jüdischen Glaubens (= knapp 20% der Viertelbevölkerung, in Berlin insgesamt im Durchschnitt 5 %); vgl. Münzberg (Hrsg.): Vom alten Westen (wie Anm. 1), S. 62.
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adels. In einer zunehmend größeren Zahl von Häusern wurde zudem – ‚freisinnige‘ Liberalität signalisierend – auch einem Teil der Künstler-Avantgarde, ja der Künstler-Boheme, die Türe geöffnet. Im Tiergartenviertel, so ein letztes hier zu belegendes Argument, entwickelte sich so aus vielfältiger Mischung und Begegnung ein vorstädtisches Milieu, welches aufgrund seiner Vielfalt von Akteuren, Aspirationen, Motivationen, Handlungsmustern und Gelegenheitsstrukturen Synergieeffekte freisetzte, und damit zur Entwicklung, zumindest aber zur Aufnahme neuer, moderner Ideen, Orientierungen und Organisationsformen fähig war.
Funktionen, Leistungen und Grenzen Wo lässt sich dies nachweisen und wo lagen hier die Grenzen? Beginnen wir mit dem hier – im Unterschied zu den Villenvierteln der weiteren ‚Westdrift‘ – bestehen bleibenden Vorteilen städtischer Lage: Die viertelinterne, kultivierte Geselligkeit dieses Wohngebiets entwickelte sich in dichter Anbindung an und Auseinandersetzung mit den hochkulturellen Angeboten der innenstädtischen, reichshauptstädtischen Kulturinstitutionen, wobei die Schwerpunkte der Aufmerksamkeit sich hier schrittweise von Theater, Oper und Musiksaal zur Universität mit ihren Wissenschaft popularisierenden öffentlichen Vorträgen, vor allem aber zu den Museen verlagerte. Das Tiergartenviertel wurde zum Zentrum der vom Museumsdirektor Wilhelm Bode höchst erfolgreich betriebenen Symbiose von Museumsbeamten, Kunsthändlern und Großbürgertum, von Forschungseifer, Kunstmäzenatentum und privatem Sammlungsbegeisterung,37 zum Ort schließlich auch einer intensiven Auseinander37
Der Sammlungseifer der Reichen des Tiergartenviertels und anderer Wohngebiete Berlins sowie deren Verbindung mit dem Museumsdirektor Bode, dem Kaiser-Friedrich-Museumsverein und den Berliner Museen sind zentrale Themen einer gegenwärtig sehr dynamischen Forschung, vgl. hierzu vor allem: Sven Kuhrau: Der Kunstsammler im Kaiserreich. Kunst und Repräsentation in der Berliner Privatsammlerkultur, Kiel 2005. Unter diesen Sammlern waren, auch dies ist wiederholt festgestellt und mehrfach mit unterschiedlichen Ansätzen erklärt worden, außerordentlich viele jüdische Großbürger. Vgl. hierzu den Aufsatz von Christof Biggeleben in: Reif, Feichtinger (Hrsg.): Berliner Villenleben (wie Anm. 8), Berlin 2008, S. 15–47. Selten erwähnt wird in dieser Literatur die Kunstsammlung des ‚Kaufmanns und Spekulanten‘ (so die Wertung Carl Fürstenbergs) Adolf Liebermann von Wahlendorf, obwohl dieser in seiner Villa in der Tiergartenstraße mit seiner „wunderbaren Bildergalerie, die einen ganzen Flügel durch zwei Stockwerke hindurch mit Oberlicht einnahm“ der Sammlungsbegeisterung des Tiergartenviertels seit 1870/72 großen Auftrieb gab. Vgl.: Willy Ritter Liebermann von Wahlendorf: Erinnerungen eines deutschen Juden. 1863–1936, München 1988, S. 11–13: „Unsere Galerie war freilich eine Berühmtheit Berlins, in der neben den großen Franzosen der damaligen Schule, den Meissoniers, Corots, Daubignys, Courbets, Troyons [. . .] alle großen modernen deutschen Maler hingen“, u. a. „sechs Menzels“ (u. a. das Eisenwalzwerk), ungefähr ebenso viel Böcklins, „die Gustav Richters [. . .], Hildebrandts, die Liebermanns, die Lehnbachs [. . .] alle Berliner Kunstfreunde, jeder fremde, die Reichshauptstadt besuchende Kunstkenner, wallfahrteten zu unserer Galerie.“ Wie stark man mit diesen Kunstsammlungen Zugehörigkeit zu einer neuen, bürgerlichen „Geschmackselite“ anstrebte, zeigt vor allem die in Memoiren und Nachrufen häufig auftauchende Formel, der Sammler habe „selbständiges Urteil“, „selbständiges Gefühl und Urteil“ etc. gehabt, vgl. hierzu die Belege für Georg von Sie-
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setzung über ‚Geschmack‘ als Grundlage bürgerlichen Konsenses, Geschmack vor allem im Urteil über Kunst, über Malerei und Skulptur und über die Innen- und Gebäudearchitektur der Villensiedlungen. Seine Dynamik gewann dieser Diskurs gleichzeitig von vielen Seiten: von adligbürgerlichen Kreisen der Kunstreform,38 von intensiven Architekt-Bauherr-Diskursen, von Zwiegesprächen zwischen beratenden Museumskuratoren und sammelnden Kunstliebhabern, vom ins Tiergartenviertel eindringenden Kunst-, Antiquitäten- und Buchhandel, von Galerien, Ateliers und Kunstvereinen, und nicht zuletzt von den sich in Kreisen und Verbänden neu organisierenden Künstlern und Kunstmäzenen. Der Geschmacksdiskurs des Tiergartenviertels führte Menschen unterschiedlicher bürgerlicher Lage und Lebensauffassung zu Gesprächen zusammen, vermittelte zwischen deren Ansichten und Einstellungen, lehrte sie aber zumindest, wenn die Diskutanten einander ‚fremd‘ blieben, wenn es gar zum Konflikt kam, die Position des anderen auszuhalten. Gerade die bleibenden Ambivalenzen dieser dominant auf Alltags- wie Hoch-Kultur konzentrierten Diskussion trieb eine liberale Vergesellschaftung in dem Sinne voran, dass man – gegen autoritäre Bevormundung wie sozialistisches Gleichheitsdenken – Individualität und Pluralität freisetzte. In vielfältiger Weise trugen die hier vorgestellten und viele andere Begegnungen des Tiergartenviertels, zwischen dort lebenden wie dorthin eingeladenen Persönlichkeiten, zu diesem Geschmacksdiskurs bei. Hier fanden sich in der Hausgeselligkeit so unterschiedlich eingestellte Historiker wie Mommsen und Treitschke, Maler wie von Werner, Menzel und Skarbina, Schriftsteller wie Sudermann und Wildenbruch, Fontane und Hofmannsthal, aber mens und den Bankier Hansemann bei Klemm: Das Tiergartenviertel (wie Anm. 1), S. 51. Auch auf diesem Feld hatte der Adel ein prestigeträchtiges symbolisches Kapital Schritt für Schritt an das Großbürgertum verloren. Große Adelssammlungen waren aufgelöst worden, verbleibende adlige Sammler, wie z. B. der Graf Dönhoff, wurden im Kaiser-Friedrich-Museumsverein mit seinen vielen reichen großbürgerlichen Mitgliedern faktisch „eingeebnet“, vgl. Marie Marion Gräfin Dönhoff: Kindheit in Ostpreußen, Berlin 1988, S. 31. 38 Dieser Diskurs wurde institutionell gestützt durch feste Zirkel (vgl. z. B. den an der arts and craftBewegung orientierten frühen PAN-Kreis um Harry Graf Kessler, Eberhard von Bodenhausen, Alfred Lichtwark, Richard Dehmel, Julius Meier-Graefe etc.), durch Verlage wie die von Samuel Fischer (Linksstraße 25) und Paul bzw. Bruno Cassirer; aber auch durch die Verlage bzw. leitenden Redakteure vieler Kulturzeitschriften, die sich im Tiergartenviertel befanden, z. B. die der Zeitschriften Deutsche Rundschau, Kunst und Künstler, PAN (als Zeitschrift 1910–1914 im Verlag Paul Cassirer, Victoriastraße 5), Gegenwart (hrsg. v. Paul Lindau und Theophil Zolling), Westermanns Monatshefte (hrsg. v. Friedrich Spielhagen) oder die Satirezeitschrift Kladderadatsch (hrsg. v. Ernst Dohm); vgl. hierzu Silbereisen: Der Kunsthändler und Verleger (wie Anm. 34), S. 128. Weitere Stützung und Anregung ging auch von den Kunstgalerien und Kunsthandlungen aus: Berlin war um 1900 eine Hauptstadt des europäischen Kunsthandels und das Tiergartenviertel ein Zentrum reicher Kunstsammler. In der Folge war auch der Kunsthandel, wie die Künstler, verstärkt in das Viertel gewandert: „In der Bellevuestraße ließ sich der Kunst- und Antiquitätenhandel nieder und in der 1897 [. . .] zum ‚Künstlerhaus‘ umgebauten Bellevuestraße 3 der ‚Verein Berliner Künstler‘ (Schmidt: Das Tiergartenviertel (wie Anm. 1), S. 50). Eine Auflistung der Aufträge suchenden und findenden Maler und Maler-Professoren im Tiergartenviertel bei Klemm: Das Tiergartenviertel (wie Anm. 1), S. 70.
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auch übereinstimmende und sich gegenseitig anregende Naturwissenschaftler wie Du BoisReymond und Helmholtz in entspannter Atmosphäre zu geselligem Gespräch. Wenn der belgische Kunstreformer van de Velde – um nur ein Beispiel anzuführen – die Wohnungen seiner Kunst fördernden Freunde Alfred von Nostitz (Victoriastraße 12), Eberhard von Bodenhausen und Harry Graf Kessler oder die des Bankiers Stern (Bellevuestraße) ‚modern‘ einrichtete, die Eingangshalle der Kunsthandlung Keller und Reiner (Potsdamer Straße) oder den Ausstellungssaal seines Freundes Paul Cassirer ostentativ ‚neu‘ gestaltete, wenn er im Salon der Cornelie Richter seine Frau in selbst entworfenen, provozierenden Reformkleidern präsentierte und bei anderer Gelegenheit eine andere Hausgeselligkeit dazu nutzte, die Besitzer der Tiergartenvillen dazu aufzufordern, ihre historischen Möbel, die die Zimmer nahezu unbewohnbar machten, aus dem Fenster zu werfen und moderne Möbel der Kunstgewerbebewegung an ihre Stelle zu setzen, dann löste dies sofort, wie in vergleichbaren Fällen, eine intensive Geschmacksdiskussion aus, die zwischen ‚schön‘ und ‚scheußlich‘, ‚angemessen‘ und ‚unmöglich‘ oszillierte; und die Kunsthandlungen, Kunstzeitschriften und Verlage, die im Viertel (oder in der nahen Friedrichsstadt) angesiedelt waren, stimmten sofort mit Ausstellungen (z. B. von Möbeln von Peter Behrens und Richard Riemerschmidt), mit Aufsätzen und Büchern in diese Auseinandersetzung ein. Die schnell fortschreitende Medialisierung und die Gründung neuer diskutierender Vereinigungen, vor allem solche der Künstler und Kunstförderer, rückte die bisher eher privaten Gespräche der Hausgeselligkeit zunehmend in öffentliche Diskussionszusammenhänge. Dies trifft für die Geschmacksdiskussion insgesamt zu. Das Tiergartenviertel wurde so zum wichtigsten Forum für die Aushandlung der ‚richtigen‘ zeitgenössischen Kunst (zwischen Naturalismus und Symbolismus, Neo-Klassizismus und Neo-Romantik, zwischen Uniformknopf-Realismus, arts and craft/Jugendstil, Impressionismus und Expressionismus, zwischen neohistoristischer Architektur, Landhausbewegung und Werkbund). Wichtige, ja berühmte Vertreter all dieser Positionen lebten, arbeiteten und diskutierten im Tiergartenviertel über den richtigen Geschmack und die richtige, reformierte Lebensweise. Dieser Diskurs über Geschmack, Moderne und – letztlich – Zukunft, also Avantgarde, erfasste ständig neue Themenfelder – insbesondere die Frauenfrage – und mündete schließlich, wie bekannt, in einer massiven Kritik am Kaiser, die als Kritik an dessen ‚katastrophalem Kunstgeschmack‘ begann, aber vor 1914 durchaus grundsätzliche politische Dimensionen annahm.39 Aufs Ganze gesehen verblieb aber das politische Engagement des TiergartenviertelBürgertums, das Kaiser und Hof zunehmend weniger, die Parlamente und Parteien aber von Anfang an nur wenig liebte, trotz aller Liberalität in Geselligkeit und kulturpolitischer Praxis, vor 1914 auf bescheidenem Niveau. Die städtische Selbstverwaltung, von der Lenkungsund Vetomacht des vom Kaiser abhängigen Polizeipräsidenten in der Regel früh ausgebremst, wies vor 1914 keinen Weg zu politischem Einfluss und Karriere und wurde entsprechend matt betrieben. Das 1892 auf der Parkseite der Lennéstraße errichtete Lessingdenk39
Zum 1913 relativ weitgehend politisierten kunstkritischen Diskurs vgl. die von Julius Meyer-Graefe publizierte Vortragsreihe Wohin treiben wir?
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mal war – wie die schon zuvor vielfach betonte Vorliebe für das liberal konnotierte ‚Englische‘ – sicherlich ein bewusst in den öffentlichen Raum gesetztes Bekenntnis zur Liberalität der Tiergartenviertelgesellschaft. Aber verstärkende Anschlussaktionen blieben aus. Politische Unzufriedenheit verbarg sich in kulturpolitischem Aktivismus. „Die reichen Leute, die hier wohnten“, so der Schriftsteller René Schickele im Rückblick, „liebten das Revolutionäre auf allen Gebieten, nur nicht gerade in der heimatlichen Politik“.40
40 Zitiert nach Münzberg (Hrsg.): Vom alten Westen (wie Anm. 1), S. 179. Wie zur Bestätigung hierfür auch die Worte des bedeutenden Malers Max Liebermann und Harry Graf Kesslers zur Trauerfeier von Paul Cassirer am 10. 1. 1926: „Er war Zeit seines Lebens ein Revolutionär, einer, der als erster die Brüchigkeit des alten Systems aus der Kunst heraus erschaut hat und es rücksichtslos bekämpfte.“ Berliner Tageblatt vom 11. 1. 1926, zitiert nach Münzberg (Hrsg.): Vom alten Westen (wie Anm. 1), S. 130.
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Vom Platz F zum nationalen Symbol Der Bau der ersten Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche
Prolog aus der Zukunft Der 23. November 1943 war ein Sonntag, Totensonntag. Der Pfarrer der Kaiser WilhelmGedächtniskirche hatte am Morgen seine Predigt unter das Motto ‚Alles vergeht‘ gestellt. Wenige Stunden später überflogen die alliierten Bomber die Stadt und legten die Kirche in Schutt und Asche.1 Eine Kirche und ein Symbol. Schon bald sind wohl Fotografien der zerstörten Kirche im Umlauf gewesen. Eine davon hat der emigrierte Philosoph Günther Stern 1946 in New York gesehen. Diese Ruine müsse man stehen lassen, ist er überzeugt, als Mahnmal für die Verbrechen Hitlers. „Jeder Zoll eine Falschheit“, schreibt er in sein Tagebuch, „erst durch die Verwüstung von düsterer Größe. – Welches Monument wäre je einem Imperator so angemessen gewesen?“2 Mit diesem Satz spielt Günther Anders – so der Name, unter dem wir Stern heute besser kennen – auf ein merkwürdiges Phänomen an: auf eine Art Verwandlung und Verklärung. Als der Schriftsteller Stephen Spender in der Zwischenkriegszeit in Berlin lebte, erschien ihm die Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche als „die häßlichste Kirche außerhalb von Maida Vale“.3 Als er sie 1946 wiedersieht, schreibt er, sie habe „jetzt die enorme Würde nackter Gewölbebogen und zerschmetterter Säulen, die den Ruinen vielleicht aller Kulturen ihre besondere Großartigkeit geben“.4 „Wenn es zerfällt, wird auch das Erbärmliche bedeutend“, meint ganz in diesem Sinne Günther Anders, „und in Trümmern selbst der Schwulst ehrwürdig. Nicht nur was echt gewesen, wird echter Zeuge der Vergänglichkeit; auch diese Steine werden im Sturz zu Brü-
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Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Bedeutung. Arbeit. Probleme. Hrsg. v. Pfarrer Horst Gunter im Auftrag des Kuratoriums Stiftung ‚Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche‘, unpag. (S. 10). Günther Anders: Tagebücher und Gedichte, München 1985, S. 238. Stephen Spender: Deutschland in Ruinen. Ein Bericht, Frankfurt/M. 1998 (orig. New York 1946), S. 279. Ebd., S. 279.
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dern der Steine der Akropolis“.5 Und der Architekt Wassili Luckhardt erklärte 1957 in einem Leserbrief an den Tagesspiegel, […] daß die Allgemeinheit allmählich und endlich sich bewußt geworden ist, daß nach Zerbombung aus einem wegen seiner Stillosigkeit kritisierten Bauwerk heute gewissermaßen ein Kunstwerk geworden ist, das der amerikanische Bildhauer Alexander Calder im Hinblick auf seine Form und seine Umgebung als die vielleicht großartigste abstrakte Plastik der Welt bezeichnet hat.6 Etwas, das als Monument des Kitschs betrachtet wurde, verwandelte sich ausgerechnet durch seine Zerstörung in ein Stück erhabener Kunst. Als Mahnmal schien es allerdings gerade dadurch seiner Funktion nicht gerecht zu werden, zumindest wurde es zunächst kaum so betrachtet. Anders stand 1953 vor der Gedächtniskirche und wartete, dass irgendjemand sein Auge zu der Ruine erheben würde; doch die Passanten eilten einfach nur vorbei, ohne den Trümmern auch nur einen Blick zu schenken. Er schreibt in sein Tagebuch: Gedächtniskirche. Berlin, 21. Juni 1953, abends Fünf Minuten stand ich vor ihr, um den Passanten abzuwarten, der an ihr aufblicken würde. Wo er nur blieb. Und wo bleibt der, der daran dächte, wem er dieses Monstrum verdankt? Mehr als an Kaiser Wilhelm den Ersten, zu dessen Gedächtnis die Kirche einmal errichtet worden war, denkt an Hitler wohl niemand. Daß sie im Volksmund nur noch ‚Gedächtniskirche‘ heißt, also einen Namen trägt, in dem der Name dessen, dem das Gedächtnis gelten soll, nicht vorkommt – auf wie eklatante Weise das demonstriert, daß wir auf Gedächtnis nicht rechnen dürfen; und daß selbst Monumente, die diesem nachhelfen sollten, vergeblich bleiben. Gibt es überhaupt noch Denkmäler, bei deren Anblick irgendwer irgendeines Menschen oder irgendeines Tages gedächte?7 Dieser Blick zurück nach vorn macht deutlich, dass es lohnend sein könnte, noch einmal einen Blick ganz zurück, auf die Entstehung dieses Denkmals zu werfen. Denn es gibt kaum eine Ruine, an der die politische Symbolik von über hundert Jahren deutscher Geschichte besser aufscheinen würde; die Gedächtniskirche ist seit ihrer Erbauung ein hochgradig symbolbeladenes Monument.8 5 6
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Anders: Tagebücher (wie Anm. 2), S. 220. Leserbrief von Wassili Luckhardt im Tagesspiegel vom 14. 3. 1957 in der Spalte Demokratisches Forum, zitiert nach Vera Frowein-Zieroff: Die Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche. Entstehung und Bedeutung, Berlin 1982 (= Die Bauwerke und Kunstdenkmäler von Berlin, supl. 9), S. 340. Anders: Tagebücher (wie Anm. 2), S. 238. Zu Günther Anders‘ Kommentaren vgl. ausführlicher: Rüdiger Zill: ‚A True Witness of Transience‘. The Symbolic Use of Architectural Fragments in Modernity, erscheint in: European Review of History/Revue européenne d'histoire 2011. Interessanterweise gibt es einige gute Arbeiten vor allem zur Baugeschichte sowohl der alten als auch der neuen Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche, aber keine, die die Geschichte dieses Symbols übergreifend darstellen würde. Vgl. z. B. Frowein-Zieroff: Die Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche (wie Anm. 6);
VOM PLATZ F ZUM NATIONALEN SYMBOL
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Schwert und Altar, verkuppelt Schon der Name Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche verrät, dass hier anders als bei den meisten Kirchen zwei Dinge miteinander verschmolzen sind: kirchliche und staatliche Zwecke, oder wie Siegfried Kracauer es 1930 ausdrückte: Die Kirche war ein „Kuppelbau, der Schwert und Altar miteinander verkuppelt“.9 Als nationales Gedenkzeichen muss man sie im Zusammenhang mit einer Reihe anderer Bauten und Skulpturen der Zeit sehen, darunter auch die heute zerstörte Gnadenkirche, die in der Invalidenstraße stand und zum Gedenken an Kaiserin Augusta, die Gattin von Wilhelm I., errichtet wurde, und die Kaiser FriedrichGedächtniskirche im Tiergarten, ebenfalls zerstört und in völlig anderer Gestalt wieder aufgebaut. Als sakraler Bau entstand die Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche im Rahmen eines umfassenden Programms, das am Ende des 19. Jahrhunderts Berlin von seiner allgemeinen Unterversorgung mit Gotteshäusern befreien sollte. Ernst von Mirbach, Oberhofmeister bei der Kaiserin Auguste Viktoria und einer der Hauptprotagonisten im Berliner Kirchenbau,10 machte im Rückblick 1904 folgende Rechnung auf: Damals [1888, R. Z.] war fast 50 Jahre lang in Berlin für Kirchenbauten nur wenig geschehen. Während Berlin von einer Einwohnerzahl von zirka 400 000 Seelen auf über 1 ½ Millionen stieg, waren nur wenige Kirchen gebaut worden. Die Stadt besaß damals 37 Kirchen und, mit Ausnahme einzelner kleiner Gemeinden im Zentrum der Stadt, hatten zahlreiche Gemeinden 80 bis 140 000 Seelen mit wenigen Geistlichen. Dieser geradezu erschreckenden Not mußte abgeholfen werden. Aber das erforderte so gewaltige Mittel, daß man verzweifelnd in die Zukunft sah, denn die meisten Gemeinden waren zu arm, um sich zu helfen. Man war der Ansicht, daß vor allem der Staat eintreten müsse. Die dafür geringste Summe, die sofort hätte bereit gestellt werden müssen, von 8 Millionen Mark wurde im Landtage beantragt und abgelehnt.11 Stattdessen wurde 1890 der Evangelische Kirchenbau-Verein gegründet, der aus dem Evangelisch-Kirchlichen Hilfsverein hervorging, einer sozialen Einrichtung, die selbst erst 1888 ins Leben gerufen worden war, wohl um die Armenfürsorge nicht der Sozialdemokratie zu überlassen. Eines der ersten Projekte dieses Kirchenbau-Vereins, dessen Vorsitzender Ernst von Mirbach wurde, war nun die Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche. Diese Entscheidung war einigermaßen verwunderlich, denn das Projekt scheint nicht unbedingt ins Profil des
Sabine Baumann-Wilke: Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche von Egon Eiermann in Westberlin, Phil. Diss. Braunschweig 1988; Kristin Feireiss (Hrsg.): Egon Eiermann. Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche. Mit Texten von Wolfgang Pehnt und Peter Haupt, Berlin 1994. 9 Siegfried Kracauer: Ansichtspostkarte, in: ders.: Schriften 5.2., Frankfurt/M. 1990, S. 184. 10 Zu Ernst von Mirbach vgl. Iselin Gundermann: Ernst Freiherr von Mirbach und die Kirchen der Kaiserin, Berlin 1995 (= Hefte des Evangelischen Kirchenbauvereins 9), auch unter URL: www.evangelischer-kirchenbauverein.de/Mirbach.htm (letzter Zugriff: 9. 10. 2009). 11 Ernst von Mirbach: Denkschrift, Berlin 1904, S. 5.
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Vereins zu passen, zum einen weil das reiche Charlottenburg nicht gerade zu den schlimmsten Opfern der kirchlichen Not gehörte, zum anderen weil Aufwand und Ertrag für manchen nicht in rechtem Verhältnis zueinander stehen sollten. Dennoch wurde der Bau das prominenteste und ehrgeizigste Projekt des Vereins. Allerdings war man sich am Anfang nicht ganz klar darüber, wo die Kirche stehen sollte, geplant war zunächst der Wittenbergplatz. Dagegen sprach sich aber die Charlottenburger Stadtverordnetenversammlung aus, die befürchtete, dass man auf diese Weise das steuerlich attraktive Gebiet an Berlin verlieren würde. Als Kompromiss entschied man sich dann für den Platz F.12 So wurde der Ort, den wir heute als Breitscheidplatz kennen, damals in der Abt. IV des Bebauungsplans prosaisch benannt. Oder besser: Man entschied sich für den Gutenbergplatz, denn so hieß er seit 1889. Der Name scheint aber für solch ein herausragendes Unternehmen schnell nicht mehr angemessen gewesen zu sein, denn 1892, nachdem der Gutenbergplatz als Ort für die neue Kirche feststand, wurde er erneut umbenannt: in Auguste-Viktoria-Platz. Kirchen sind Orientierungspunkte. Ihre Wertigkeit sagt etwas über die Art der Orientierung aus. Kirchen strukturieren Stadterfahrung, unter anderem durch ihre Stellung im Straßengefüge. Auf dem Gutenbergplatz war im Jahre 1890 allerdings noch nicht viel zu strukturieren. Zwar war das Areal schon projektiert – der Platz lag im Schnittpunkt von sechs Straßen, am nördlichen Rand wurde er schon von dem 1844 gegründeten Berliner Zoo begrenzt –, vorerst stand hier aber nur ein einziges Haus (das dann bei der Neuplanung des Platzes wieder abgerissen wurde). Die prominenteste der sechs Straßen war sicherlich der Kurfürstendamm, der bereits seit dem 17. Jahrhundert als Knüppeldamm für die Kurfürsten, die auf ihm in den Grunewald zur Jagd ritten, angelegt worden war, aber erst in den 1880er Jahren zu einer richtigen Straße ausgebaut wurde. Bismarck, der als Vorbild die Champs-Elysées im Auge hatte, gab den Anstoß. Finanziert wurde der Ausbau privat, durch eine Kurfürstendamm-Gesellschaft, die eigens für diesen Ausbau gegründet worden war. Träger der KurfürstendammGesellschaft war die Deutsche Bank – selbst erst im Jahre 1870 geschaffen –, und die Gesellschaft erhielt als Gegenleistung ein Vorkaufsrecht auf 234 ha Land im Grunewald, wo sie dann eine Villenkolonie für die Reichen aus Berlin und Charlottenburg anlegte.13 So wie sich die sechs Straßen auf dem Auguste-Viktoria-Platz schnitten, so kann man auch den Bau der Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche als einen Punkt studieren, in dem sich die unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessen der Zeit überlagerten und durchkreuzten: die kirchlichen, die kaiserlichen, die von anderen politischen Kräften, die ökonomischen und die kulturellen. Die kirchlichen wurden zunächst vom Evangelischen Kirchenbau-Verein wahrgenommen, da an dieser Stelle noch gar keine Gemeinde existierte. Als offizieller Bauherr trat die Charlottenburger Luisengemeinde auf. 12 Vgl. Ernst von Mirbach: Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniß-Kirche, Berlin 1897, S. 27. 13 Zur Geschichte des Kurfürstendamms vgl. Kurt-Heinz Metzger, Ulrich Dunker: Der Kurfürstendamm. Leben und Mythos des Boulevards in 100 Jahren deutscher Geschichte, Berlin 1986.
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Die dominierenden politischen Interessen waren sicherlich die kaiserlichen. Wilhelm II. wollte bewusst ein Symbol schaffen. Mit dieser Gedächtniskirche sollte nicht nur an seinen verehrten Großvater und De-facto-Vorgänger im Amt erinnert werden – denn die 99 Tage seines Vater Friedrich III. zählten aus der Sicht Wilhelms II. kaum –, sondern auch an Wilhelm den Großen, den Reichsgründer, den Sieger im Deutsch-Französischen Krieg und denjenigen, der im Spiegelsaal zu Versailles die deutschen Staaten zu einer Großmacht vereinigt hatte. Zu diesem Zweck entwarf der Architekt Franz Schwechten eine repräsentative neoromanische Kirche. Schwechten, 1841 in Köln geboren, hatte seine Ausbildung und seine ersten beruflichen Schritte bei einer Reihe von geachteten Architekten und Institutionen gemacht, so etwa bei Julius Raschdorff, dem späteren Erbauer des neuen Berliner Doms, in der Berliner Bauakademie, bei Julius Adler, bei Carl Boetticher, August Spielberg, im Atelier Stüler und im Büro von Martin Gropius. Seine erste große eigene Arbeit realisierte er als Chefarchitekt der Berlin-Anhaltinischen Eisenbahngesellschaft: den Anhalter Bahnhof, eine Leistung, die ihm allgemein Anerkennung verschaffte. Unter seinen späteren Arbeiten sind neben zahlreichen Berliner Kirchen vor allem der König Wilhelm-Gedächtnisturm im Grunewald (1897–1899), das so genannte Beamtentor für die AEG in der Ackerstraße (1896– 1897), die Brauerei der Schultheiß-Patzenhofer AG (1899–1902), damals die weltgrößte Produzentin von Lagerbier, heute Kulturbrauerei, die Reichskriegsschule in Potsdam (1899– 1902, heute Sitz des Brandenburgischen Landtags) und als Spätwerk das Haus Potsdam am Potsdamer Platz (1911–1912), besser unter seinem späteren Namen Haus Vaterland bekannt. Schwechtens Werk umfasste also eine große Spannweite an Bauaufgaben, teilweise durchaus mit technisch innovativen Lösungen. In der neueren Auseinandersetzung mit Schwechten wird dann auch immer wieder betont, dass er eben nicht auf den kaisertreuen Architekten neoromanischer Sakralbauten zu reduzieren ist.14 In Erinnerung geblieben ist er uns allerdings in erster Linie durch seine rückwärts gewandten Bauten, durch die neoromanischen Monumente, vor allem natürlich die Gedächtniskirche. Mit dem historisierenden Entwurf für diese Kirche kam er einer Neigung Wilhelms II. entgegen. Die Neoromanik galt unter seiner Herrschaft als besonders deutscher Stil. Allerdings bevorzugte man einen anderen Sprachgebrauch. So schreibt zum Beispiel Ernst von Mirbach ganz im Sinne seines obersten Dienstherrn: Die Kirche ist im spätgermanischen, dem sogenannten Uebergangsstyl entworfen. ‚Germanisch‘ und nicht mit dem falschen Worte ‚Romanisch‘ sollte man den Styl bezeichnen, welcher sich bei germanischen Volksstämmen eigenartig und großartig herausbildete und in deutschen Gauen seine lieblichste und vollendetste Blüthe erreichte. Sein Ursprung reicht in die aus der antiken hervorgegangene altchristliche und byzantinische Baukunst, deren charakteristisches Merkmal die stete Wechselwirkung zwischen Italien 14
Zu Schwechten vgl. Peer Zietz: Franz Heinrich Schwechten. Ein Architekt zwischen Historismus und Moderne, Stuttgart, London 1999; Wolfgang Jürgen Streich: Franz Heinrich Schwechten. 1841–1924. Bauten für Berlin, Petersberg 2005.
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und Byzanz ist, und deren herrliche Werke wir nicht nur in den Bauten christlichrömischer Kaiser, sondern als Deutsche vor Allem auch in den Bauten des kunstsinnigen großen Ostgothen-Königs Theoderich von Ravenna bewundern. Von hier nahm Karl der Große die Muster für Deutschland, vor Allem für den Dom in Aachen; von hier schmückte er seine große Kaiserburg bei Ingelheim am Rhein mit den Kunstschätzen, den Mosaiken, den herrlichen Säulengängen des Palastes Theoderichs. Aus diesen byzantinischen und ostgothischen Vorbildern entwickelte sich im 10. Jahrhundert bei den germanischen Stämmen, vorzugsweise in der Lombardei, in Deutschland und in der Normandie mit eigenthümlicher deutscher Kraft und mit urdeutscher, oft noch bis ins Heidenthum zurückreichender Anschauung, aber im Geiste der neu anbrechenden Zeit, der unübertroffen dastehende, erhabene, eigenartige germanische Baustyl. Die Entwicklung deutschen Herzens und deutschen Sinnes ist in ihm verkörpert, jugendliche Schwärmerei verbindet sich mit neckischem Uebermuth, feurige Begeisterung mit tiefer Schwermuth; Alles aber trägt den Stempel innerlicher, kindlicher Wahrheit ohne Falsch, ohne jede Geziertheit.15 Diese Umwertung der Romanik ist nun keinesfalls von Mirbachs Erfindung, auch nicht Wilhelms, sondern geht zurück auf eine Reihe von zeitgenössischen Kunsthistorikern, so Franz Kugler, Ferdinand von Quast, Wilhelm Lübke, Karl Schnaase und vor allem Georg Dehio und Gustav von Bezold. Der neue Nationalstil prägte dann auch den gesamten Auguste-Viktoria-Platz; Schwechten baute selbst noch zwei so genannte Romanische Häuser, das eine zwischen Kurfürstendamm und Kantstraße (1894–1896), das andere zwischen Tauentzien und Budapester, damals noch Kurfürstendamm (1900–1901). Hier befand sich das später berühmte Romanische Café. Hinzu kamen die Ausstellungshallen am Zoo, die so genannten Wilhelmshallen von Carl Gause (1905–1906) und schließlich 1913–1914 das Kaisereck von Emil Schaudt (das einzige heute noch existierende). Alle zusammen bildeten schließlich das Romanische Forum. Selbst die Hochbahn wurde von Schwechten mit schweren neoromanischen Backsteinbögen geplant und sollte auf Entgegenkommen von Siemens & Halske hinter dem zweiten Romanischen Haus vorbeigeführt worden, bis Schwechten sich dann den Vorschlag eines Berliner Bürgers, man solle sie unter die Erde verlegen und somit das Ensemble vom störenden Anblick eines technischen Elements frei halten, zu eigen machte.16 Schwechtens Entscheidung, beim Wettbewerb für die Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche, der 1890 ausgeschrieben wurde, einen neoromanischen Entwurf einzureichen, wird einer der Gründe gewesen sein, dass er als Sieger daraus hervorging. Der Kaiser entschied selbst – und das nicht nur im Allgemeinen, sondern auch in vielen Details, z. B. auch die Frage, wie die Kirche auf dem Auguste-Viktoria-Platz positioniert werden soll. Die Verwaltung wollte sie in die Achse entweder der Hardenberg- oder der Tauentzienstraße stellen, um damit den Verkehrsfluss möglichst wenig zu stören. Die Berliner hätten den Hauptturm 15 Mirbach: Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniß-Kirche (wie Anm. 12), S. 163. 16 Vgl. Frowein-Ziroff: Die Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche (wie Anm. 6), S. 176–180.
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gern in Richtung Berlin gesehen, die Charlottenburger natürlich in Richtung Charlottenburg. Wilhelm II. entschied zugunsten der Charlottenburger, verfügte aber vor allem, dass die Kirche schräg auf dem Platz erbaut werden solle, damit sie sich von allen sechs Seiten aus möglichst gut darstelle.17 Der Grundstein wurde schließlich am 22. März 1891 gelegt, dem Geburtstag des Geehrten, und die Einweihungsfeier am 1. September 1895 fiel mit dem 25. Jahrestag der kriegsentscheidenden Schlacht von Sedan zusammen. Die nationale Idee fand natürlich auch in der Ausstattung der Kirche im Inneren ihren Widerhall, so dass hier nicht nur christliche Motive, sondern besonders in der Vorhalle auch dynastische ihren Platz erhielten. Das ging bis in kleinste Details, zum Beispiel den Schlüssel. Mirbach beschreibt ihn in seiner Gedenkschrift zum Bau der Kaiser WilhelmGedächtniskirche so: Der Schlüssel zum Haupt-Portal, welcher von dem Bildhauer Riegelmann angefertigt worden ist, besteht aus einem vergoldeten Bronzestiel, an dessen oberem Ende, wo er mit dem Griff zusammenstößt, sich ein durchbrochenes, romanisches Ornament befindet. Der Griff ist kreisrund in einem Durchmesser von 10 cm und zeigt in der Mitte die zum Einweihungstage geprägte Gedächtnißmedaille, deren eine Seite das Bild des alten Kaisers schmückt mit der Umschrift ‚Kaiser und König Wilhelm I. der Siegreiche‘, während die andere Seite das Eiserne Kreuz von 1870 mit der Umschrift ‚Gott war mit uns‘, sowie das Datum 1. September 1870. 1895., den Namen ‚Gedächtniß-Kirche‘ und die Stammwappen des jetzigen Kaisers und der Kaiserin enthält.18 Ein nicht unerheblicher Teil dieser Gedenkschrift von 1897 (60 der insgesamt 265 Seiten) ist übrigens den „vaterländischen und kirchlichen Erinnerungstagen 1895–1897“ gewidmet. Dass hierbei das Vaterländische im Vordergrund stand, versteht sich von selbst. Die nationalen harmonierten im Übrigen durchaus mit den ökonomischen Interessen, jedenfalls denen der Kurfürstendamm-Gesellschaft. Deren Rolle und die ihrer Muttergesellschaft, der Deutschen Bank, für die Geschichte der Kirche sind bislang noch wenig untersucht. Richard von Hardt, Mitglied einer reichen Textilfabrikantenfamilie aus Lennep, Mitinhaber der Berliner Firma Hardt & Co., selbst einer der Erstzeichner von Deutsche Bank Aktien (im Wert von 60.000 Mark)19 war nicht nur stellvertretender Vorsitzender des Evangelischen Kirchenbauvereins und unter den drei wichtigsten Privatspendern (neben der Familie von Mendelssohn-Bartholdy und von Mendelssohn und einem Dr. W. Godeffroy),20 sondern auch derjenige, der zusammen mit von Mirbach den Vorschlag zum Bau der Kirche in den Evangelischen Kirchenbau-Verein einbrachte,21 ja auf ihn soll sogar ur17 Mirbach: Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniß-Kirche (wie Anm. 12), S. 29/30. 18 Ebd., S. 90. 19 Fritz Seidenzahl: 100 Jahre Deutsche Bank. 1870–1970. Im Auftrage des Vorstandes der Deutschen Bank Aktiengesellschaft, Frankfurt/M. 1979, S. 21. 20 Mirbach: Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniß-Kirche (wie Anm. 12), S. 145. 21 Vgl. ebd., S. 26.
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sprünglich der Plan für einen Erinnerungsbau an Wilhelm I. zurückgehen.22 Die Kurfürstendamm-Gesellschaft war natürlich sehr an der Aufwertung ihres Entwicklungsprojekts durch einen Anziehungspunkt wie die Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche interessiert.
Verkehrshindernis und Luxusbau: Widerstände Andere Interessen waren eher gegen den Standort, zum Beispiel aus ordnungspolitischen Gründen, so etwa der Polizeipräsident von Richthofen, der für diesen Platz in Zukunft ein hohes Verkehrsaufkommen erwartete. So schrieb er: Da der Platz F nach seiner Verkleinerung wenig mehr als den sogenannten Kreuzdamm der dort einmündenden 6 Straßen bildet, so muß das auf der Mitte desselben geplante Bauwerk dem sich naturgemäß über den Platz bewegenden Verkehre große Hindernisse bereiten. [...] Die Absicht, welche der Anlegung der außerordentlich breiten Tauentzienstraße, der Hardenbergstraße und des Kurfürstendammes [...] zugrunde liegt, Verkehrslinien ersten Ranges für die Zukunft zu schaffen, wird durch den geplanten Bau vollständig vereitelt [...] der in der Zukunft an diesem wichtigen Straßenknotenpunkt zu erwartende große Verkehr würde in empfindlicher Weise gestört werden. Das Bedürfnis, neben den gewöhnlichen Pferdebahnen auch rasch fahrende und zur Bewältigung großer Menschenmassen geeignete Beförderungsmittel (Dampf-electrische-pneumatische Bahnen u.s.w.) zu schaffen, [. ..] läßt sich, [...] nach Erbauung der Kirche mit dem verkleinerten Platze nicht mehr zur Durchführung bringen. Denn es erfordern derartige Bahnen, um mit größerer Geschwindigkeit fahren zu können [...] große Radien ([...] bei der von Siemens und Halske für Berlin projektierten elektrischen Hochbahn 100 m) [...] Berücksichtigt man, daß der Kurfürstendamm die wichtigste Zugangsstraße zum Grunewald, dem Haupt-Zielpunkt für Sonntags-Ausflüge bildet, daß oft Aufzüge, Musik usw. mit den Ausflügen verbunden sind, so erscheint eine Störung des Gottesdienstes fast unvermeidlich.23 Dass von Richthofen sich nicht durchgesetzt hat, zeigt die Geschichte. Wenn er hier doch so ausführlich zu Wort kommt, dann deshalb, weil er schon im Vorfeld des Baus ein Motiv angeschlagen hat, das sich durch die gesamte Geschichte der Gedächtniskirche zieht. So gab es etwa Ende der zwanziger Jahre eine Kampagne, die für den Abriss der Kirche plädierte, um den nun realen Verkehrsstrom auf diesem Platz bewältigen zu können. Als in den fünf-
22 23
Vgl. Gundermann: Ernst Freiherr von Mirbach (wie Anm. 10), S. 9. Abschrift des Briefes des Charlottenburger Polizeipräsidenten v. Richthofen an den Königlichen Staatsminister und Minister für Öffentliche Arbeiten v. Maybach vom 4. 3. 1891. DZA Merseburg. Hist. Abt. II. Finanzministerium. Rep. 151. 93 B. Nr. 2549, zitiert nach Frowein-Zieroff: Die Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche (wie Anm. 6), S. 146/147.
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ziger Jahren der Wiederaufbau diskutiert wurde, ließen sich erneut Stimmen hören, die für eine Versetzung des Baus plädierten.24 Aber auch genuin politische Widerstände artikulierten sich, sie argumentierten vor allem mit den Kosten. Vielen erschien der Bau zu teuer. Die Vorgabe beim Wettbewerb der Architekten waren 650.000 Mark gewesen. Ein Entwurf, nämlich der von Kyllmann und Heyden, wurde sogar von vornherein ausgeschlossen, weil er mit geplanten Kosten von mindestens 1,5 Millionen Mark zu kostspielig erschien. Schon bei der Eröffnung hatten die Aufwendungen allerdings fast 3,5 Millionen Mark erreicht, da fehlte aber außer im Chor noch die gesamte Innenausstattung. Am Ende beliefen sich die Baukosten auf 6.140.000 Mark. Von Mirbach war jedoch das, was man heute einen begnadeten Fundraiser nennen würde. Ein Großteil der Gelder konnte er aus privaten Quellen einwerben, allerdings mit Methoden, die ihm auch viel Kritik einbrachten. Einer der Vorwürfe kam von der CSP, der Christlich-Sozialen Partei des ehemaligen Hofpredigers Adolf Stoecker, er selbst wie seine Partei ausgewiesene Antisemiten.25 In den siebziger Jahren noch zogen Stoecker, der damals der Leiter der Inneren Mission war, und von Mirbach am selben Strang.26 Inzwischen hatten sich ihre Interessen und Ansichten aber auseinanderentwickelt und Stoecker wurde zum verbissenen Kritiker von Mirbachs. Sein Vorwurf war vor allem, dass der Kirchenbau-Verein für den Bau einer protestantischen Kirche von Nicht-Protestanten Geld eingeworben habe, von Katholiken – und sogar von Juden. Von Mirbach verwehrt sich gegen solche Anwürfe mit einer interessanten Mehrfachstrategie.27 Zunächst scheint er die Kritik zu akzeptieren, sie aber nicht auf sich zu beziehen. Denn als im Vorstand des Kirchenbauvereins darüber abgestimmt wurde, an wen man mit einem Spendenwunsch herantreten solle, habe man „mit allen gegen meine Stimme“, so von
24 Vgl. dazu ausführlich Gisela Fock: Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche von Egon Eiermann. Eine Studie zur Entstehungsgeschichte. Hausarbeit zur Erlangung des Magister Artium, Technische Universität Berlin 1995, S. 14–16 (ein Exemplar dieser sehr informativen, leider unveröffentlichten Arbeit befindet sich in der Technischen Universität Berlin). 25 Zu Stoecker vgl. die apologetische Biographie von Dietrich von Oertzen: Adolf Stoecker. Lebensbild und Zeitgeschichte, Berlin 1910, insbes. Bd. 2, S. 178–183, wo Stoecker gegen von Mirbach verteidigt wird; sowie Karl Kupisch: Adolf Stoecker. Hofprediger und Volkstribun. Ein historisches Porträt, Berlin 1970; Günter Brakelmann: Leben und Wirken Adolf Stoeckers im Kontext seiner Zeit, Waltrop 2004. 26 Zu Stoeckers Engagement in der so genannten Waldersee-Versammlung, die die Kirchenbaubewegung vorbereitete, vgl. Frowein-Ziroff: Die Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche (wie Anm. 6), S. 25–32. 27 Die Vorwürfe gegen von Mirbachs Spendenkampagnen werden vor allem in der zweiten Phase der Finanzierung, als es – nach der Einweihung – darum ging, das Innere mit Mosaiken zu schmücken, lauter (vgl. Gundermann: Ernst Freiherr von Mirbach (wie Anm. 10) und die Kirchen der Kaiserin, S. 12–14). Seine Denkschrift von 1904 ist eine einzige große Verteidigung gegen eine Vielzahl verschiedener Anwürfe. Nach finanziellen Unregelmäßigkeiten ersuchte von Mirbach 1904 um seine Entlassung. Der Kaiser lehnte das Gesuch zwar ab, schränkte aber die Kompetenzen des Oberhofmeisters stark ein.
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Mirbach, beschlossen, auch einzelne patriotische Katholiken und Juden anzusprechen.28 Dann aber betont er, dass der Anteil der „Judengelder“ ohnehin verschwindend gering gewesen sei: Der Kirchenbau-Verein hat von nicht evangelischen Patrioten zur Kaiser WilhelmGedächtnis-Kirche gegen zirka 75 000 M. erhalten, bei dieser Summe sind von Katholiken c. 56 000 M., von Juden c. 19 000 M. gespendet. Was bedeuten solche Summen z.B. gegenüber dem Kölner Dom, wo viele Millionen von Nichtkatholiken gegeben sind? Der Wert der Kirche betrug Ende 1903 durch ihren weiteren inneren Ausbau gegen 4 Millionen Mark und wird nach ihrer Fertigstellung über 5 Millionen Mark betragen.29 Hat von Mirbach die Bedeutung jüdischer Spenden zunächst marginalisiert, so scheint er sich gegen Ende seiner Denkschrift anders entschieden zu haben. Nun baut er eine dritte Verteidigungslinie auf, als Abwehr von Anwürfen, die noch deutlicher auf ihn als Person gemünzt sind: Was meine ausgedehnten Beziehungen zu jüdischen Damen betrifft, so möchte ich nur sagen, daß ich, meines Wissens, hier kaum eine Jüdin kenne, da sich meine Tätigkeit außer dem Dienst bei Hofe fast ausschließlich auf kirchliche Vereine erstreckt. Aber ich weiß von vielen humanitären Vereinen, wo sich jüdische Damen große Verdienste und große Anerkennung erwerben, und ich weise dieses prinzipielle gehässige Verdächtigen und Beschimpfen ohne Unterschied von alledem, was von jüdischer Seite kommt, weit von mir zurück und erkläre es für in höchstem Grade unchristlich. Wenn früher von Juden zu guten Zwecken wenig oder nichts gegeben wurde, dann wurden sie von jener Seite beschimpft. Wenn sie jetzt etwas geben, dann beschimpft man sie und die, welche die Gaben annehmen, noch mehr.30 Ein anderer Widerstand kam von links, auch er argumentierte aber vor allem mit den finanziellen Aspekten des Baus. Wenn man heute Alfred Kerrs Briefe aus der Reichshauptstadt wieder liest, findet man unter dem Datum des 8. Septembers 1895 einen zunächst rätselhaften Eintrag: „Die friedlichen Tiere, welche den Ruf haben, eher durch ein Nadelöhr zu gehen, ehe denn ein Reicher in den Himmel kommt, genießen jetzt in Berlin eine Beachtung, die weit über die Grenzen des Zoologischen Gartens hinausgeht.“ Was es mit dieser Beachtung auf sich hat, verrät Kerr seinen Lesern vorerst allerdings nicht, stattdessen erinnert er sie an die durchaus bekannte Zoologie. Das Schiff der Wüste hat treffliche Eigenschaften: es ist ausdauernd, und es ist getreu, sogar getreu bis in den Tod, indem es vorsorglich Wassermengen in einem Teile seines Magens aufspeichern soll, welche dem elend verschmachtenden Araber, nachdem er den Dolch in den Busen des edlen Tiers gebohrt, in rührender Weise zugute kommen – so stand es in den Lesebüchern: im Oltrogge, im Seltzsam und im Hopf und Paulsiek. 28 Mirbach: Denkschrift (wie Anm. 11), S. 14. 29 Ebd., S. 18. 30 Ebd., S. 34.
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Von hier aus schweifen Kerrs Gedanken weiter zum metaphorischen Alltagsgebrauch des Kamels. Dieses gute Tier ist in der Betrachtung der Menschen herabgesetzt worden, vielleicht gerade wegen seiner Geduld (‚der Gerechte muß viel leiden‘, heißt es in Psalm 34). Zwar geschieht die Anwendung seines Namens auf freie Studenten, die keiner Verbindung zugehören, ohne beleidigenden Nebensinn. Aber in der landesüblichen Mehrheit der Fälle bedeutet der Vergleich mit ihm einen gewissen Zweifel an der Genialität eines Menschen. Hierin liegt die Hauptbedeutung der Kamele für die Gegenwart. Der Ausspruch, den ein deutscher Krieger tat: ‚Schulze, Ihnen fehlen zum Kamel bloß noch die Hörner!‘, zeigt sogar unwiderleglich, daß dem modernen Mitteleuropäer die Vorstellung des konkreten Kamels überhaupt abhanden gekommen ist. In seiner Seele lebt ein ideelles Kamel, ein Begriff, der mit dem Begriff des Minderbegabtseins gleichgesetzt werden muß. Erst jetzt kommt Kerr auf den Anlass seines Räsonnements, allerdings durch die Hintertür. Es erwächst nun die erwägenswerte Frage: Ist man mit Sicherheit ein Kamel, falls man keine dreihunderttausend Mark für einen Kirchturm hergibt? Oder die Frage kann variiert werden, sie kann in komparativer, in konträrer, in eventualer Form gestellt werden, etwa: Ist man ein Kamel, und ein größeres, falls man die dreihunderttausend Mark hergibt? – und was der annehmlichen logischen Spielereien mehr sind. Und nun endlich beginnt man zu ahnen, dass es hier um einen Vorfall geht, der im Zusammenhang mit der Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche steht. In Berlin hat die berühmte Gedächtnis-Skulptur, welche sich zur Bejahung der ersten Frage entschloß, eine neue Ära des Kirchenschmuckes eingeleitet. Mancher Andächtige, der im Gebet seinen Blick über die eine Tür richtet, wird des friedlichen, getreuen Tiers, in Stein gemeißelt, ansichtig werden – und allerdings vielleicht in der Weihestimmung einen zeitweiligen Schreck bekommen.31 Worauf hier angespielt wird – und was zwar den Zeitgenossen ohne Kommentar verständlich gewesen sein mag, aber nicht mehr uns heute – ist eine Posse eigener Art. In der Vorhalle der frisch geweihten Kirche war ein Relief zu sehen, auf dem Rebecca und Isaak am Brunnen die Kamele tränken. Darunter stand als Kommentar: Was für Kamele einst gewesen die Väter unserer größten Stadt. Keine dreimal hunderttausend Mark. Ruppig. II. V. 1895. An dem in der Inschrift genannten Datum hatte die Stadtverordnetenversammlung von Berlin es abgelehnt, 300.000 Mark, die noch für den Turm der Kirche fehlten, zu spenden. So sah von Mirbachs Revanche aus, auch wenn Schwechten die Schuld auf sich nahm und das Relief in der Öffentlichkeit zu bagatellisieren versuchte, indem er es als durchaus üblichen Architektenscherz bezeichnete. Am Ende ließ von Mirbach das Relief wieder entfernen. 31
Alfred Kerr: Wo liegt Berlin? Briefe aus der Reichshauptstadt 1895–1900. Hrsg. v. Günther Rühle, Berlin 1999, S. 70/71, zur Einweihung der Kirche selbst vgl. ebd. S. 67/68.
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Einer der führenden Sprecher in der Berliner Stadtverordnetenversammlung war übrigens ein Sozialdemokrat, der erklärt hatte, seine Fraktion sei mit Freuden bereit gewesen, „für die Kaiser Wilhelm und Augusta-Stiftung [...] 900 000 Mark zur Linderung der Not der Armen und Elenden“ zu bewilligen, nicht aber dazu, Steuergelder für die Gedächtniskirche zu verschleudern.32 So war es wohl kein Zufall, dass gerade der Vorwärts am 6. September 1895 eine Abbildung des Reliefs veröffentlichte.33 Überhaupt gehörten die Sozialdemokraten zu den entschiedensten Kritikern der Kirche. Zur Einweihung planten sie eine Gegendemonstration mit Lassalle-Feiern. Keine Frage, dass diese Feiern verboten worden sind. Schon damals aber wurde auch Zweifel an dem symbolischen Surplus der Gedächtniskirche angemeldet. Ob denn ausgerechnet ein Gotteshaus das geeignete Medium sei, um „die Erinnerung des Volkes an eine große Zeit“34 zu fördern, meinte auch Alfred Kerr, um dann nur trocken einen nicht unerheblichen Schwund bei den Kirchgängern zu vermerken. Bereits 1895 haben wohl „sämtliche Berliner Prediger über mangelhaften Kirchenbesuch“35 gejammert und damit den Befürchtungen des Kirchenbauvereins ex negativo Recht gegeben. Wenn wir Kerr hier glauben können, dann wäre das ein weiterer Beleg dafür, dass sich der nationale Zweck des Baus vor den religiösen geschoben hat.
Epilog: Verwandlung und Verlust eines Symbols Ein Zeitsprung: Bei der Einweihung der neuen Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche von Egon Eiermann im Jahr 1961 war die Stadt Berlin nicht nur geteilt, sie war durch den Bau der Mauer vier Monate zuvor definitiv in zwei Hälften zerschnitten. Die Gedächtniskirche, als Ensemble von alt und neu, wurde zu dem herausragenden Wahrzeichen des westlichen Teils. Was einst als Symbol für die Reichseinigung gedacht war, wurde nun, als Ruine, Wahrzeichen des einen Teils der ehemaligen Hauptstadt, und damit zum Wahrzeichen einer in sich zerfallenen Stadt. Mehr noch: Der symbolische Charakter der Gedächtniskirche insgesamt ist zunehmend verloren gegangen. Und das liegt wohl nicht zuletzt an der neuen ästhetischen Dimension der Ruine, die schon Luckhardt und Calder angesprochen haben. Sie ist ein Musterbeispiel für die „transfiguration of a commonplace“.36 Sie wird so zu einem Stück abstrakter Kunst – und genau das behindert ihre Wahrnehmung als Symbol.37
32 Neue Preußische Zeitung, 3. Mai 1895, zitiert nach Frowein-Ziroff: Die Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche (wie Anm. 6), S. 314 33 Vgl. ebd. S. 314/315. 34 Kerr: Wo liegt Berlin? (wie Anm. 31), S. 68 35 Ebd., S. 68. 36 So Arthur C. Dantos Charakterisierung der Produktion von Kunst, vgl. Arthur C. Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst, Frankfurt/M. 1991, im Original: The Transfiguration of a Commonplace, Cambridge/Mass. 1981. 37 Für Hinweise und Kommentare danke ich Iwan-Michelangelo d’Aprile, Helmut Peitsch und Erhard Schütz.
HARALD BODENSCHATZ
Auf dem Weg zur Mietkasernenstadt?
Berlin gilt nicht erst seit Werner Hegemanns berühmtem Buchuntertitel aus dem Jahre 1930 als größte Mietkasernenstadt der Welt.1 Dieser Begriff ging in die Alltagssprache ein, schien er doch die städtebauliche Realität Berlins überzeugend auf den Punkt zu bringen. Mietkasernenstadt – das meinte eine Stadt, die zugleich hässlich und menschenfeindlich war. Der Begriff Mietkasernenstadt war nicht nur populär, er war auch wirkungsmächtig wie kaum ein anderer Fachbegriff, den Begriff Gartenstadt vielleicht ausgenommen, er begleitete, ja er legitimierte die späteren Kahlschlagsanierungen in West- und Ost-Berlin, und er förderte die allgemeine kulturelle Entwertung jeden urbanen, kompakten, verdichteten Wohnens überhaupt. Der Begriff Mietkasernenstadt war Teil einer großen Erzählung, zu der auch das Neue Bauen der 1920er Jahre gehörte, zu dessen kultischer Verehrung immer wieder als Beweis für den sozialen Fortschritt die finsteren Mietkasernenviertel bemüht wurden. In dieser Geschichte wird kein besonderer Wert auf Genauigkeit gelegt. So werden die bürgerlichen Miethausviertel gern in den gleichen Topf wie die Arbeitermietkasernenviertel gesteckt, und die Frage, wer denn die Bewohner der neuen Siedlungen waren, wird auch meist nicht gestellt. Dass es gerade nicht die Bewohner der Arbeitermietkasernenviertel waren, bleibt bis heute in vielen Baugeschichtsbüchern im Dunkeln. Es würde ja auch die schlichte, schwarzweiß-gemalte Geschichte verunklaren.
Berlin in der Kaiserzeit: Eine stürmisch wachsende Großstadtregion Die Kaiserzeit war bekanntlich durch ein stürmisches Wachstum der Bevölkerung wie der bebauten Fläche geprägt. Man darf aber dabei nicht vergessen, dass die eigentliche massive Flächenausdehnung erst in der zweiten Hälfte der Kaiserzeit stattfand. Von 1871 bis 1890 stieg die Einwohnerzahl der Kernstadt Berlin von rund 823.000 auf 1.575.000 Personen, während sie in den Vororten lediglich von 109.000 auf 385.000 Personen zunahm. Dies 1
Werner Hegemann: Das steinerne Berlin. Geschichte der größten Mietkasernenstadt der Welt, Berlin 1930. In diesem Text wird die auch vor dem Ersten Weltkrieg bevorzugte Schreibweise Mietkaserne (nicht Mietskaserne) verwandt.
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änderte sich in den 1890er Jahren in radikaler Weise. Zwischen 1890 und 1910 wuchs die Einwohnerzahl der Kernstadt Berlin nur mehr relativ wenig auf insgesamt 2.071.000 Personen, während diejenige der Vororte rasant auf 1.663.000 Personen stieg.2 Die Großstadtregion Berlin, so wie wir sie heute kennen, entstand in der zweiten Hälfte der Kaiserzeit. Das rapide Wachstum der Stadtregion in der zweiten Hälfte der Kaiserzeit vollzog sich in Konkurrenz der Gemeinden des Großraums, der privaten Verkehrsunternehmen, der Terraingesellschaften und Großbanken, aber ohne interkommunale oder regionale Gesamtplanung. Der seit 1862 geltende, durch James Hobrecht erarbeitete staatliche Bebauungsplan von Berlin mit nächster Umgebung (‚Hobrecht-Plan‘) dirigierte zwar die inneren Stadterweiterungen, nicht aber die äußeren Stadterweiterungen. Die Entwicklung der Gebiete außerhalb des Hobrecht-Plans erfolgte auf der Grundlage isolierter gemeindlicher oder privater Planungen. Während sich also in der ersten Hälfte der Kaiserzeit das Wachstum auf den Kernbereich der Stadtregion konzentrierte, war die zweite Hälfte durch das Wachstum der Vororte gekennzeichnet. Nunmehr wurde das Fehlen einer übergeordneten städtebaulichen Planung von Groß-Berlin auch praktisch fühlbar. Seit 1875 war das Preußische Fluchtliniengesetz Grundlage für die städtebauliche Planung. Es ermächtigte und verpflichtete die Gemeinden, Straßen- und Baufluchtlinien durch einen Bebauungsplan festzulegen. Damit war die Grundlage für einen kommunalen Städtebau geschaffen. Weit wesentlicher für das Wachstum des gesamten Großraums waren aber die ständig revidierten staatlichen Bauordnungen, die – gegen den Protest vieler Fachleute – eine über die durch den Hobrecht-Plan bestimmten Gebiete hinausgehende kompakte, verdichtete Stadterweiterung ermöglichten. Der Hobrecht-Plan und die späteren Teilgebietsplanungen sowie vor allem die Bauordnungen regelten die städtebauliche Form des privaten Bauens auf einzelnen oder mehreren Parzellen. Das so vermittelte Wachstum wurde über den – ebenfalls zumeist privaten – Bau der Verkehrsinfrastruktur gesteuert und hierarchisiert. Während in der ersten Hälfte der Kaiserzeit der Hobrecht-Plan dem Wachstum Berlins einen, wenn auch schwachen staatlichen Rahmen setzte, erwiesen sich in der späten Kaiserzeit vor allem die Terraingesellschaften als aktive Motoren der Entwicklung. Mit dem Aufstieg der Terraingesellschaften verschmolz die bis dahin übliche arbeitsteilige Produktion der Stadt: Die neuen Großunternehmen der privaten Immobilienwirtschaft entwickelten im Umland Berlins den Grund- und Aufriss ganzer neuer Quartiere und sorgten für den Anschluss an eine leistungsfähige Verkehrsinfrastruktur. Zugleich kontrollierten sie die private Bautätigkeit auf den von ihnen erschlossenen Parzellen durch Regelwerke. 2
Christoph Bernhardt: Bauplatz Groß-Berlin. Wohnungsmärkte, Terraingewerbe und Kommunalpolitik im Städtewachstum der Hochindustrialisierung (1871–1918), Berlin, New York 1998 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin Bd. 93), S. 16. Die Zahlen für die Vororte beziehen sich auf diejenigen Städte bzw. Gemeinden und Ortsteile, die 1920 zu Großberlin zusammengefasst wurden. Vgl. auch Michael Erbe: Berlin im Kaiserreich (1871–1918), in: Wolfgang Ribbe: (Hrsg.): Geschichte Berlins. Zweiter Band. Von der Märzrevolution bis zur Gegenwart. München 1987, S. 689–793, hier S. 693–699.
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Das Ergebnis des stürmischen Flächenwachstum Berlins in der zweiten Hälfte der Kaiserzeit war eine äußerst komplexe Stadtregion, die sich mit dem Begriff Mietkasernenstadt nicht im Geringsten fassen ließ.
Abb. 1: Groß-Berlin: Zentrum, kompakter urbaner Ring und Villenlandschaft (Quelle: Burkhard Hofmeister: Alt-Berlin. Groß-Berlin. West-Berlin. Versuch einer Flächenbilanz 1786–1985, in: ders. (Hrsg.): Berlin. Beiträge zur Geographie eines Großstadtraumes, Berlin 1985, S. 251–274, hier S. 254)
Um das vorindustrielle Zentrum herum bildete sich ein Ring von hoch verdichteten, kompakten Stadtvierteln. Im Norden, Osten und Südosten entstanden Wohnviertel vor allem für die Arbeiterklasse, im Süden, Westen und insbesondere im Südwesten für das Bürgertum. In den während der zweiten Hälfte der Kaiserzeit stürmisch wachsenden Vororten gewann die Bebauung attraktiverer, nicht mehr ganz so dicht bebauter Quartiere für ‚höhere Einkommensklassen‘ zunehmend an Bedeutung. Das galt vor allem für den Südwesten und Westen von Groß-Berlin, wo die Gemeinden Schöneberg, Tempelhof, Wilmersdorf und die Stadt Charlottenburg um reiche Einwohner konkurrierten, die die Kernstadt Berlin verlassen wollten oder die neu nach Berlin kamen. Unter dem weiten Mantel der Mietkasernenstadt waren daher ganz unterschiedliche städtebauliche Realitäten vorzufinden. Neben
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den Arbeitervierteln mit ihren trostlosen Hinterhöfen gab es auch ausgedehnte und attraktive bürgerliche Viertel mit einer dichten, mehrgeschossigen städtischen Bebauung. Außerhalb dieses kompakten Rings neuer urbaner Viertel breiteten sich neue GartenVororte aus, die – wie schon die älteren Villenkolonien – keinem Ringschema mehr folgten, sondern an günstigen Lagen entwickelt wurden – vor allem wiederum im Südwesten, zwischen Berlin und Potsdam. Die neuen Garten-Vororte unterschieden sich von den alten Villenkolonien in formaler Hinsicht deutlich: Kleinstädtisch anmutende Zentren, sorgfältig gestaltete Grünanlagen und ein mehr oder weniger malerisches Gefüge kleiner Straßen kennzeichneten diese neue Form privilegierten vorstädtischen Wohnens. Vor dem Ersten Weltkrieg war die Fläche aller Villenviertel zusammengenommen etwa genauso groß wie die Fläche des gesamten kompakten Wilhelminischen Ringes.3 Das ist ein beeindruckendes Merkmal sozialer Ungleichheit. Die wichtigste sozialräumliche Folge des stadtregionalen Wachstums Berlins war damit eine bis dahin unbekannte großräumige soziale Segregation.4 Bürgerliche Schichten verließen die historische Stadt, um sich in kompakten Stadterweiterungen oder in Garten-Vororten im weiteren Umland anzusiedeln. Dies Stadtflucht zu nennen, ist etwas ungenau, denn es war eine Flucht aus der vorindustriellen Stadt. Das Ziel dieser Flucht war keineswegs immer die suburbane Landschaft, sondern oft und vermutlich hauptsächlich ein neues, kompaktes, urbanes Stadtquartier.
Berlin: Ein Zentrum der Wohnungsreformer ‚Mietkasernen‘ gab es nicht nur in Berlin. Aber es gab nirgendwo einen dermaßen erhitzten, durchaus auch qualifizierten Streit über diese Bauform wie in Deutschland. Die Kritik an der ‚Mietkasernenstadt‘ wurde vor allem von bürgerlichen Reformbewegungen verbreitet, etwa vom Verein für Sozialpolitik, dem Bund Deutscher Bodenreformer, dem Deutschen Verein für Wohnungsreform und der Deutschen Gartenstadt-Gesellschaft. Die Mietkasernenkritik wurde vor allem in der zweiten Hälfte der Kaiserzeit systematisch ausformuliert. Sie setzte sich um 1910 durch und prägte die dominante städtebauliche Diskussion und Praxis bis in die 1970er Jahre.5
3
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Burkhard Hofmeister: Alt-Berlin. Groß-Berlin. West-Berlin. Versuch einer Flächenbilanz 1786–1985, in: ders. u. a. (Hrsg.): Berlin. Beiträge zur Geographie eines Großstadtraumes. Festschrift zum 45. Deutschen Geographentag in Berlin vom 30. 9. 1985 bis 2. 10. 1985, Berlin 1985, S. 251–274, hier S. 256–257. Vgl. dazu Michael Erbe: Berlin im Kaiserreich (1871–1918), in: Ribbe (Hrsg.): Geschichte Berlins (wie Anm. 2), S. 689–793, hier S. 700–710. Zur kulturellen Entwertung der Mietkasernenstadt vgl. Harald Bodenschatz: Platz frei für das Neue Berlin. Geschichte der Stadterneuerung in der „größten Mietkasernenstadt der Welt“ seit 1871, Berlin 1987, S. 53–81.
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Abb. 2: Typischer Mietkasernenblock im Arbeiterviertel Wedding, Planaufnahme von 1902 (Quelle: Rudolf Eberstadt: Handbuch der Wohnungswesens und der Wohnungsfrage. Jena 1910 (2. Aufl.), S. 66)
Prominentester Vertreter der Mietkasernenkritik war der Nationalökonom Rudolf Eberstadt (1856–1922), Hochschullehrer an der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin. Sein Hauptwerk Handbuch des Wohnungswesens und der Wohnungsfrage (1. Auflage 1909) war vor allem eine Auseinandersetzung mit der ‚Mietkasernenstadt‘. Nach Eberstadt war der Begriff Mietkaserne ein anerkannter Terminus technicus; er bezeichnet, wie bekannt, die in Berlin entwickelte Bauweise, die infolge der mit ihr verbundenen außerordentlichen Spekulationsgewinne sich einen großen Teil Deutschlands erobert hat. Der treffende Ausdruck für diese Hausform ist in Berlin geprägt [...]. Der Ausdruck bezeichnet den Haustypus, der in
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Hofwohnungen, Seitenflügeln, Quergebäuden eine unterschiedslose Masse von Wohnräumen umschließt. Durch die Größe des Grundstücks, dessen Abmessungen die Wohnhausform vollständig abgestreift haben, und zugleich durch den Hausgrundriß, in dem die Einzelwohnung völlig verschwindet, ist die Mietskaserne gekennzeichnet. [...] Äußerlich kennzeichnet sich das Mietskasernensystem in dem Berliner Bebauungsplan durch gewaltige schematische Straßenbreiten und durch tiefe, mit Hofwohnungen besetzte Baublöcke.6 Die Kritik an dem in der allgemeinen Diskussion sehr diffusen Begriff der ‚Mietkaserne‘ umfasste soziale, architektonische und städtebauliche Gesichtspunkte.7 In städtebaulicher Hinsicht wurde vor allem der Hobrecht-Plan als formelle Voraussetzung des Mietkasernenbaus angegriffen. Der große Abstand der Straßen, der entsprechend tiefe Baublöcke implizierte, sowie die große Breite der Straßen, die wiederum eine maximale Höhe der Gebäude (22 Meter) ermöglichte, wurden stark kritisiert.8 Architekten waren an der Produktion der Arbeitermietkasernen nicht beteiligt. Sie polemisierten vor allem gegen die Stuckfassaden, gegen die so genannte „Verlogenheit“ der Architektur. „[...] die hohen Häuserzeilen“, so der Stadtbaukritiker Joseph August Lux, sind stucküberladen und ornamentiert, wie einstens nur die Paläste, und es scheint, als ob es ein herrliches Dasein wäre in einer solchen Stadt. Beim näheren Zusehen aber entpuppt sich die ganze Großzügigkeit als Lüge und Maskerade. Ein einziger Blick in die Hofräume genügt, um das Elend der großstädtischen Wohnungsverhältnisse, das sich hinter dieser Scheinarchitektur verbirgt, zu offenbaren.9 Im Kern war die harte Kritik an der Mietkasernenstadt berechtigt. Die Wohnungsnot blieb über all diese Jahrzehnte dramatisch, die schlecht ausgestatteten Kleinwohnungen waren stark überbelegt, und besonders in den Keller- und Dachwohnungen konzentrierte sich das Wohnungselend. In der zweiten Hälfte der Kaiserzeit wurde immer wieder zu Recht darauf hingewiesen, dass die nunmehr dominanten Terraingesellschaften sich vor allem um den Bau bürgerlicher Wohnungen kümmerten, den Bau von Kleinwohnungen aber vernachlässigten.
Hauptgegner der Mietkasernenkritik: die privaten Terraingesellschaften Um 1910 machte es kaum mehr einen Sinn, den Hobrecht-Plan zu kritisieren, die Bebauung hatte längst die Grenzen dieses Plans überschritten. In den schwachen Nachbarkom6 7 8 9
Rudolf Eberstadt: Die Spekulation im neuzeitlichen Städtebau, Jena 1907, S. 70. Vgl. Bodenschatz: Platz frei (wie Anm. 5), 55–69. Vgl. etwa Rudolf Eberstadt: Handbuch des Wohnungswesens und der Wohnungsfrage, Jena 1910, S. 182. Joseph August Lux: Der Städtebau und die Grundpfeiler der heimischen Bauweise, Dresden 1908, S. 9.
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munen Berlins dominierten die privaten Terraingesellschaften, nicht nur durch ihr großes ökonomisches Gewicht, oft auch durch ihre Abgeordneten in den kommunalen Räten. Ich möchte hier nur an einige dieser Aktivitäten erinnern.
Abb. 3: Beispiel für ein urbanes bürgerliches Wohnquartier: das Rheinische Viertel um den Rüdesheimer Platz (Quelle: 40 Jahre Berlinische Boden-Gesellschaft, Berlin 1930, S. 27)
Typologisch von besonderem Interesse war der Kurfürstendamm, ein privates Entwicklungsprojekt, das nach dem Vorbild der Pariser Champs-Elysées seit 1883 zur großartigen Bühne des Bürgertums im Berliner Westen wurde. Die Straße war deswegen so beliebt, weil die Gebäude in ihren Erdgeschosszonen urbane Attraktionen boten: Cafés, Geschäfte, Unterhaltungs- und kulturelle Einrichtungen. Weitere herausragende Beispiele für neue, urbane bürgerliche Wohnviertel fanden sich im Südwesten des historischen Zentrums – etwa das Bayerische Viertel (seit 1898) und das Rheinische Viertel (1910–1914). Beide wurden von der Berlinischen Boden-Gesellschaft errichtet, einer privaten Terraingesellschaft unter der Leitung von Georg Haberland, des vielleicht bedeutendsten Unternehmer-Urbanisten in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in Berlin. Das Rheinische Viertel zeigt besonders klar die Typologie des privaten Reformstädtebaus vor dem Ersten Weltkrieg: Es vermeidet geschickt durch eine engmaschige Straßenführung Baublöcke mit großer Tiefe und damit die in Berlin übliche Folge von Hinterhöfen, und es offeriert einen großzügigen Wohnplatz, der zum Markenzeichen des ganzen Viertels wurde. An diesem Platz lag auch die U-Bahnstation, die eine Verbindung in das Berliner Zentrum vermittelte. Wichtig ist auch die besondere Architektursprache. Mit Blick auf die bürgerliche englische Architektur wurde eine Distanz zu den neureichen, absolutistische Formen imitierenden Stilen der Berliner Kaiserzeit gesucht. Bis heute gibt es keine umfassende Biographie des jüdischen Immobilien-Unternehmers Georg Haberland. Die Terraingesellschaften wurden von Wohnungsreformern relativ pauschal als Spekulanten bezeichnet, und die von diesen Unternehmen errichteten Miethäuser – etwa in den unter der Regie Georg Haberlands entwickelten Stadtteilen – wurden umstandslos mit
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‚Mietkasernen‘ gleichgesetzt. Das war eine wenig glaubwürdige Polemik, da sich diese bürgerlichen Wohnungen, anders als die Arbeitermietwohnungen, auf dem Markt – auch gegen die Konkurrenz der Garten-Vororte – behaupten mussten. Georg Haberland verteidigte sich immer wieder gegen den Vorwurf, die von ihm angestrebte städtebauliche Lösung sei unhygienisch und viel zu verdichtet – eine typische Mietkasernenbebauung eben. In der Tat war angesichts des Kaufpreises die Anlage einer ‚Villenstadt‘ unmöglich geworden, denn für eine Villenbebauung hätte der Kaufpreis bei etwa 20 Millionen Mark liegen müssen. Selbst eine Blockrandbebauung wäre unwirtschaftlich gewesen. Das Gleiche gilt – nach der Veränderung der Bauordnung – für eine viergeschossige Bauweise. In den beiden letztgenannten Fällen wäre – bei einem Kaufpreis von 72 Millionen Mark – der Verlust etwa mit 30 Millionen Mark zu beziffern gewesen.10 Haberland verwies schließlich darauf, dass die Wohnungen des künftigen Quartiers für die minderbemittelte Bevölkerung aufgrund der Planungen hochwertiger Wohnungen überhaupt nicht in Frage kämen. In dieser Frage unterschied sich das Projekt nicht von dem gescheiterten Konkurrenzprojekt der Stadt Berlin. Und er polemisierte weiter: Ist denn bisher irgend jemandem eingefallen zu behaupten, daß der Kurfürstendamm, die Bismarckstraße, die Tauentzienstraße, die Kaiserallee und das gesamte Bayerische Viertel nicht den hygienischen Anforderungen entspricht? [.. .] Ich bin der festen Überzeugung, daß die meisten der Herren sich niemals der Mühe unterzogen haben, sich die Höfe der Häuser in jenen Stadtgegenden, namentlich im Bayerischen Viertel einmal anzusehen. [...] Gerade im Bayerischen Viertel sind durch Zusammenlegung der Höfe in den meisten Häusern die Höfe als Gärten ausgestattet. [...] Die neuen schönen Häuser mit ihren geräumigen Höfen sind es gerade, welche die Bevölkerung aus der inneren Stadt veranlassen, nach draußen zu ziehen und welche zur Klage Berlins über den Abzug der steuerkräftigen Bevölkerung den Anlaß geben.11 Mit der zunehmenden Kritik an den Terraingesellschaften hatte die Mietkasernenkritik ihren Charakter verändert. Aus der sozialen Kritik an den unmenschlichen Lebensbedingungen der Arbeiter war mehr und mehr eine fundamentale Kritik an der Großstadt, am großstädtischen, kompakten Wohnen geworden.
Das Ringen zwischen angelsächsischem und französischem Weg im Städtebau Vor dem Ersten Weltkrieg konkurrierten hinsichtlich der städtebaulichen Entwicklung Paris und London als Vorbilder: Paris – in Grenzen auch Wien – galten als Vorbild für dichten, urbanen Städtebau, London als Vorbild für suburbanen Städtebau. Für die Mehrheit der 10
Georg Haberland: Der Kampf um das Tempelhofer Feld, Berlin 1911, S. 28/29. Vgl. auch Bernhardt: Bauplatz Groß-Berlin (wie Anm. 2), S. 37. 11 Haberland: Der Kampf (wie Anm. 10), S. 29/30.
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Abb. 4: Polemische Gegenüberstellung von der ‚offenen Stadt‘ London und den ‚Festungsstädten‘ Paris und Wien (Quelle: Werner Hegemann: Der Städtebau nach den Ergebnissen der Allgemeinen StädtebauAusstellung in Berlin nebst einem Anhang: Die internationale Städtebau-Ausstellung in Düsseldorf. Erster Teil, Berlin 1911, Abb. 18–20)
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Wohnungsreformer war London, „die offene, räumlich unbeschränkte Großstadt“, eher der Himmel und Paris, die „vielgeschossige Häusermasse“, eher die Hölle.12 Dagegen gerieten die Vertreter eines reformierten urbanen Städtebaus, die durchaus auf einen besonderen Berliner Weg der attraktiven kompakten Stadterweiterungen hätten setzen können, mehr und mehr in die programmatische Defensive – und dies, obwohl der bisweilen überbordenden Kritik an der Mietkasernenstadt durch die Bauordnung von 1897 ein wenig der Boden entzogen worden war. Denn die neuen Viertel mussten jetzt größere Höfe haben, beinahe, aber immer noch nicht so groß, wie sie James Hobrecht 1868 erträumt hatte. Natürlich war die Größe der Höfe immer noch nicht befriedigend. Und es gab weiterhin ein Wohnungselend in den alten Arbeitervierteln, die Überbelegung der Arbeiterwohnungen war ein gesellschaftlicher Skandal. Aber der Mangel an Kleinwohnungen und die Überfüllung der Wohnungen konnte eigentlich nicht mehr dem großstädtischen Miethaus und dem urbanen Stadtquartier qua Typus angelastet werden. Weitere Revisionen der Bauordnung, Verpflichtung der Bauherren zum Bau von Kleinwohnungen in bestimmtem Umfang, experimentelle Vielfalt bei der Gestaltung von Baublöcken, Durchsetzung von Mieterrechten – das wären Bausteine einer Wohnreformstrategie gewesen, die auf eine Veränderung, nicht auf eine radikale Dezentralisierung der Großstadt gezielt hätten. Den meisten Wohnungsreformern ging es aber schon längst nicht mehr nur um die Besserung der Lebensverhältnisse der Arbeiter, sondern um eine fundamentale Neuorientierung des Lebens in der Stadt. Attackiert wurde jegliche Form kompakten, urbanen Wohnens, um das Ziel eines verallgemeinerten suburbanen Wohnens durchzusetzen. Vor diesem Hintergrund wurden die innerstädtischen Projekte der Terraingesellschaften vor dem Ersten Weltkrieg aufgrund ihrer Dichte und urbanen Orientierung heftig angegriffen. Der gemeinnützige Garten-Vorort in Gestalt einer Kleinsiedlung, der einfachen Schwester des bürgerlichen Garten-Vorortes, war für viele Reformer die letztlich einzige akzeptable Alternative zur Mietkasernenstadt. Die erstrebenswerte Stadt erschien in dieser Optik in Kleinsiedlungen, bürgerliche Garten-Vororte und Landhausquartiere aufgelöst, die sich locker um eine kompakte City gruppierten und, im Zuge des Ausbaus der Verkehrsmittel, immer tiefer in die Region wachsen sollten – ganz nach anglo-amerikanischem Vorbild. Sie war zugleich ein Programm der Fortführung und Verallgemeinerung großräumiger sozialer Segregation. Denn die propagierten Kleinhäuser in den Kleinsiedlungen waren für die Masse der unqualifizierten Arbeiter unerschwinglich und für reichere Bürger unattraktiv. 12 Vgl. u. a. Werner Hegemann: Der Städtebau nach den Ergebnissen der Allgemeinen StädtebauAusstellung in Berlin nebst einem Anhang: Die internationale Städtebau-Ausstellung in Düsseldorf. Erster Teil, Berlin 1911, S. 17. Vgl. auch Hegemanns Aussage zu Paris: „Diese Stadt muß zugrunde gehen!“ In: Werner Hegemann: Der Städtebau nach den Ergebnissen der Allgemeinen StädtebauAusstellung in Berlin nebst einem Anhang: Die internationale Städtebau-Ausstellung in Düsseldorf, Zweiter Teil. Berlin 1913, S. 247. Zu den Auseinandersetzungen um den richtigen Weg im Städtebau vor dem Ersten Weltkrieg vgl. auch Harald Bodenschatz: Neue bürgerliche städtische Adressen. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, in: Tilman Harlander u. a. (Hrsg.): Stadtwohnen. Geschichte Städtebau Perspektiven, München 2007, S. 106–133, hier S. 125–130.
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Die Facetten der kulturellen Konstruktion eines ‚guten‘ und ‚schlechten‘ Städtebaus waren vor dem Ersten Weltkrieg in politischer Hinsicht nur das Programm eines oppositionellen Spektrums unterschiedlicher Reformbewegungen. Das änderte sich erst nach dem Ersten Weltkrieg grundlegend: Aus einem oppositionellen Reformprogramm wurde in wesentlichen Aspekten ein staatliches Programm, ein Programm der Kampfansage an die kompakte, urbane Stadt. Die damals begründete Vorstellung von Reform und Fortschritt im Städtebau prägte die deutsche fachliche und politische Programmatik für lange Zeit – zum Teil bis heute. Der fruchtbare Wettbewerb zwischen einem reformierten urbanen Städtebau einerseits und einem auf Garten-Vororte orientierten suburbanen Städtebau andererseits wurde zugunsten einer einseitigen Ausrichtung auf die Dezentralisierung der Großstadt aufgegeben. Dabei blieb eine der bedeutendsten städtebaulichen Innovationen der späten Kaiserzeit auf der Strecke: das großzügige, aber kompakte urbane Quartier aus einem Guss. Und das Problem einer großräumigen sozialen Segregation wurde erst gar nicht mehr zur Kenntnis genommen. In der Fachliteratur wird noch heute oft von zwei großen städtebaulichen Wegen bürgerlichen Wohnens gesprochen: von dem angelsächsischen Weg der Suburbanisierung des Bürgertums und von dem französischen der Urbanisierung des Bürgertums durch die Straßendurchbrüche des Barons Haussmann.13 Die Pariser Straßendurchbrüche schufen Raum für die berühmten Pariser Boulevards und damit attraktive Standorte innerhalb einer historischen Stadt, die ansonsten für das Bürgertum unattraktiv geworden war. Vor dem Ersten Weltkrieg zeichnete sich ein dritter Weg ab, für den an allererster Stelle Berlin steht: der Weg der Urbanisierung des Bürgertums durch anspruchsvolle, attraktive Stadterweiterungen in kompakter, mehrgeschossiger Bauweise. Diese Stadterweiterungen konkurrierten mit den zeitgleich gebauten Garten-Vororten. Sicher gab es auch in anderen Großstädten Europas solche Stadterweiterungen – allen voran in Paris selbst, aber auch in Budapest, Prag und Wien. Aber Berlin war ein Vorreiter in quantitativer und qualitativer Hinsicht. Dieser dritte Weg – ein bislang unterschätzter Beitrag Berlins zur europäischen Städtebaugeschichte – wurde durch den Ersten Weltkrieg verstellt und abgebrochen. Er erhielt auch nur wenig zeitgenössische Aufmerksamkeit. Er wurde von den Mietkasernenkritikern, die nach England schauten, ignoriert. Und er wurde später von der auf die Moderne orientierten Städtebaugeschichtsschreibung vergessen.
13 Vgl. Robert Fishman: Bourgeois Utopias. The Rise and Fall of Suburbia, New York 1987, S. 14.
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Hinter der Weltstadt Die ‚Friedrichshagener‘ und Berlin
Der Berliner Villenvorort Friedrichshagen oder ‚Fritzenwalde‘ schmückte sich im späteren 19. Jahrhundert mit dem Titel ‚Klimatischer Luftkurort‘ und war deshalb und nicht zuletzt Dank sehr günstiger Verkehrsanbindungen an Berlin für die Großstädter ein besonders attraktiver Ausflugsort: Müggelsee und Märkische Heide ließen die ‚Weltstadt‘ vergessen und verhießen ‚Natur‘. Seit 1890 siedelte sich dort ein Kreis von Künstlern, Literaten, Anarchisten und Politikern an, der, unabhängig von den einzelnen lebensgeschichtlichen Motiven, von Berlin nach Friedrichshagen überzusiedeln, ein recht buntes, letzten Endes homogenes Ensemble von oppositionellen Intellektuellen bot. Da es sich nicht um eine Gruppe mit festeren Strukturen und entsprechenden organisatorischen Regularien handelt, existieren keine diesbezüglichen Dokumente; bei der Rekonstruktion der Friedrichshagener1 ist man deshalb auf autobiographische, häufig verklärende Selbstaussagen der Beteiligten – „O ihr Tage von Friedrichshagen!“ –2 angewiesen, mit allen Authentizitätsproblemen. Dennoch lassen sich, auch bei der Einbeziehung literarischer Quellen der Beteiligten, Anspruch, Profil und Besonderheit der Friedrichshagener rekonstruieren.3 Das wird deutlich beim hier zu diskutierenden Thema ‚Hinter der Weltstadt‘, das als Konzept zu verstehen ist, welches die Friedrichshagener mit ihrem besonderen Blick auf Berlin entwarfen. Dass die Zeitgenossen in Anlehnung an die Berliner Schrebergartenbewegung, die ihre Siedlungskolonien ‚Kame1
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Herbert Scherer spricht in seiner weiterhin lesenswerten Studie von einem „Friedrichshagener Typus“ der Generation der um 1890 Zwanzig- bis Dreißigjährigen, die sich sozial und klassenmäßig durch die Herkunft aus dem kleinen oder mittleren Bürgertum, geographisch durch die Herkunft aus der Provinz und beruflich durch die Hoffnung, als Dichter bzw. Schriftsteller anerkannt zu werden, charakterisieren lässt. Herbert Scherer: Bürgerlich-oppositionelle Literaten und sozialdemokratische Arbeiterbewegung nach 1890, Stuttgart 1974, S. 19–21; vgl. Kurt Sollmann: Literarische Intelligenz um 1900. Studien zu ihrer Ideologie und Geschichte, Köln 1982. Wilhelm Spohr: O ihr Tage von Friedrichshagen! Erinnerungen aus der Wendezeit des deutschen literarischen Realismus, Berlin 1950. Vgl. Rolf Kauffeldt, Gertrude Cepl-Kaufmann: Berlin-Friedrichshagen. Literaturhauptstadt um die Jahrhundertwende. Der Friedrichshagener Dichterkreis, München 1994. Darin finden sich auch Kurzbiographien der Friedrichshagener.
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run‘ nannten (Kamerun war seit 1884 deutsches ‚Schutzgebiet‘), auch Friedrichshagen so titulierten, markiert eine ganz besondere Pointe der Inbesitznahme eines Naturraumes durch die Stadt.4 Insofern weist ‚Friedrichshagen‘ weit über sich hinaus – es war, so Max Halbe, „kaum noch eine Ortsbezeichnung“, sondern „ein Zustand, eine Geistesverfassung […]. Im Sinne dieser geistigen Zuständigkeit gab es ja eine ganze Anzahl solcher ‚Friedrichshagener‘, die in Berlin oder in dessen anderen Vororten wohnten […] und alle um den Friedrichshagener Kern kreisten“.5
‚Friedrichshagener‘ Zunächst Namen von Beteiligten, die die Besonderheit dieses Zirkels illustrieren und verdeutlichen, dass „in Friedrichshagen die revolutionär-literarischen und die revolutionärpolitischen Tendenzen der Zeit einander bis zum Verschmelzen“ nahekamen, wie der Anarchist Erich Mühsam notierte.6 Zu nennen sind: Die Gründungsväter Wilhelm Bölsche und Bruno Wille, die 1890 den Auftakt mit der Übersiedlung von Berlin bildeten und in Friedrichshagen Zentralfiguren blieben; ihnen folgten bald die Brüder Hart, sodann kamen – auf Dauer oder zeitweilig oder als regelmäßige Besucher – die Naturalisten Leo Berg, Otto Julius Bierbaum, Karl Bleibtreu, Otto Brahm, Max Dauthendey, Otto Erich Hartleben, Wilhelm Hegeler, Karl Henkell, Peter Hille, Felix Hollaender, Arno Holz, Hans Land, Ernst von Wolzogen. Des weiteren Fritz Mauthner, Paul Scheerbart, der Jugendstil-Maler Fidus, der Verleger Samuel Fischer, Rudolf Steiner, der deutsch-polnische Décadence-Autor Stanislaw Przybyszewski, von den Skandinaviern u.a. Ola Hansson, Laura Marholm, Edvard Munch, August Strindberg. Zu nennen sind weiterhin die prominenten Anarchisten John Henry Mackay und Gustav Landauer sowie die linkssozialistischen Brüder Richard und Max Baginski sowie Bernhard und Paul Kampffmeyer, der sozialistische Politiker Georg Ledebour, der Anarchist Wilhelm Spohr, der mit Weidner und Landauer die Zeitschrift Der Sozialist herausgab, der anarchistische Schriftsteller und Verleger Hermann Teistler, der Schauspieler Julius Türk, der Verleger und Anarchist Albert Weidner. Angesichts dieses Spektrums unterschiedlicher, sich an einem Ort begegnender Milieus politischer und literarischer Wortführer der gesellschaftlichen Opposition mag man Friedrichshagen charakterisiert finden, so Bruno Wille, durch „literarisches Zigeunertum und sozialistische wie anarchistische Ideen, keckes Streben nach vorurteilsloser eigenfreier Lebensweise, Kameradschaft zwischen Kopfarbeitern und begabten Handarbeitern, aber auch geistvollen Vertretern des Reichtums“.7 4
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Vgl. Julius Hart: Friedrichshagen. Aus meinen Lebenserinnerungen (1918/19); Nachdruck in: Günter de Bruyn (Hrsg.): Friedrichshagen und seine Dichter. Arkadien in Preußen, Berlin 1992, S. 173–188, hier S. 176/177. Zitiert nach Scherer: Bürgerlich-oppositionelle Literaten (wie Anm. 1), S. 27/28. Erich Mühsam: Unpolitische Erinnerungen, in: ders.: Publizistik. Unpolitische Erinnerungen. Hrsg. v. Christlieb Hirte, Berlin 1978 (= Ausgewählte Werke 2), S. 475–670, hier S. 507. Bruno Wille: Aus Traum und Kampf. Mein 60jähriges Leben. 3. Aufl., Berlin 1920, S. 33.
HINTER DER WELTSTADT
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Was auch als Boheme-Definition daher kommen könnte (‚literarisches Zigeunertum‘), korreliert mit der politisch-ideologischen Konstellation um und nach 1890. Es ist dies eine Gemengelage zwischen Proletariat, Arbeiterbewegung, Sozialdemokratie, Anarchismus, Naturalismus und Revolution. Das scheint entgegen der angedeuteten Homogenität der Friedrichshagener auf Heterogenität zu verweisen, aber es indiziert auch eine bestimmte Homogenisierung des Raumes und Ortes Friedrichshagen entgegen der Heterogenität der Großstadt, die sich u.a. durch Mischung der Menschen, Begegnung mit Fremden usw. auszeichnet. Friedrichshagen ließe sich als Ort der Entmischung auffassen.
Ort der Entmischung 1889 erklärte die Zweite Internationale auf ihrem Gründungskongress den 1. Mai zum weltweiten Kampftag zur Durchsetzung des achtstündigen Normalarbeitstages. Anfang 1890 zeichnete sich im Deutschen Reich ab, dass es im Reichstag für eine erneute Verlängerung des am 1. Oktober auslaufenden Sozialistengesetzes keine Mehrheit mehr geben würde. Die Debatte darüber, ob Streiks am 1. Mai nicht die Wiedererlangung der Legalität gefährden könnten, war in der seit mehr als einem Jahrzehnt illegalisierten deutschen Sozialdemokratie konkreter Auslöser von Grundsatzdiskussionen, in der sich eine lange aufgestaute tiefe Unzufriedenheit vieler Parteimitglieder mit der zentralistischen Führung der sozialistischen Reichstagsfraktion artikulierte. Bekanntermaßen führten diese Kontroversen zur Abspaltung der Opposition der so genannten ‚Jungen‘, an der Intellektuelle, naturalistische Literaten und spätere Anarchisten wie Bruno Wille, Paul Ernst, Gustav Landauer u. a. maßgeblichen Anteil hatten – es war die berühmte „Literaten- und Studentenrevolte“, wie der alte Engels im Londoner Exil ebenso abschätzig wie kurzschlüssig urteilte.8 Wichtig war dieser Opposition, für die Bruno Wille die fundamentalen anti-autoritären, anti-etatistischen und anti-parlamentarischen Prämissen formulierte, die Kritik an geschichtsdeterministischen Auffassungen in der Sozialdemokratie. Die ‚Unabhängigen‘ bzw. ‚Jungen‘ pochten auf den ‚subjektiven Faktor‘ im Geschichtsprozess: „Je entwickelter nun die Individualität des Arbeiters ist, um so […] revolutionärer ist er“, heißt es im Manifest der Unabhängigen.9 Entsprechend steht ausdrücklich die „Individualisierung der Arbeiter“ im Programm der Opposition, so in einer Grundsatzerklärung von 1891, die wegen des Herkunftsortes mancher Mitglieder auch Friedrichshagener Manifest genannt wurde.10 Auf dessen Basis gründeten die 1891 aus der SPD ausgeschlossenen ‚Jungen‘ den bis 1894 be8 Walter Fähnders: Naturalisten, Sozialisten, Anarchisten. Dispositionen der literarischen Intelligenz im ausgehenden 19. Jahrhundert, in: Ulrich von Aleman u. a. (Hrsg.): Intellektuelle und Sozialdemokratie, Opladen 2000, S. 59–76. 9 Zitiert nach Walter Fähnders: Anarchismus und Literatur. Ein vergessenes Kapitel deutscher Literaturgeschichte zwischen 1890 und 1910, Stuttgart 1987, S. 6. 10 Richtlinien (Manifest) der Vereinigung Unabhängiger Sozialisten aus dem Jahre 1891. URL: http://friedrichshagener-dichterkreis.de/blog/2008/01/19/friedrichshagener-manifest-1891 (letzter Zugriff 11. 6. 2010).
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stehenden ‚Verein Unabhängiger Sozialisten‘. Führende Köpfe dieser Bewegung waren Bruno Wille und Paul Ernst, Hermann Teistler, Max Schippel, Paul Kampffmeyer, Otto Brahm, publizistische Plattform war u. a. Gustav Landauers Zeitschrift Sozialist – außer Paul Ernst, der im engen Kontakt zu Wille stand, alles Friedrichshagener also. Dass sich Intellektuelle wie Wille oder Landauer bei ihrer Gesellschaftskritik und ihrer Affinität zur Arbeiterbewegung von der Frage nach den subjektiven Faktoren politischer und revolutionärer Praxis ganz besonders beeindruckt zeigten, liegt auf der Hand: Das war Angelegenheit auch von Kunst und Literatur und entlastete vom Kollektivismus der Massenbewegung, der den Intellektuellen durchaus fremd oder unheimlich schien. Bei aller Bindung ans Proletariat blieben Ängste vor der „blutschlammbespritzten Gleichmachungswalze“11 (Otto Julius Bierbaum) gerade bei den Intellektuellen bürgerlicher oder kleinbürgerlicher Provenienz. Das Engagement etwa Bruno Willes in der Volksbildung, die Gründung der Berliner ‚Freien Volksbühne‘ durch Wille, Bölsche und Julius Türk sowie der 1892 davon sezessionierten ‚Neuen Freie Volksbühne‘, an deren Leitung wiederum die Friedrichshagener Wille, Ludwig Jacobowski, Landauer und Mauthner beteiligt waren, zielen auf derartige Bildungsinitiativen im Proletariat – eben als Alternative zu Kollektivismus und Massencharakter. Der weitere Verlauf dieser Opposition ist bekannt: Ein Teil der ,Unabhängigen‘ kehrte später in die SPD zurück, eine andere, um Gustav Landauer gruppierte Fraktion blieb selbstständig und bildete zu Beginn der 1890er Jahre die Keimzelle des sich neu organisierenden Anarchismus in Deutschland. Was die Friedrichshagener angeht: Nach den ersichtlich engen Berührungen zwischen Sozialdemokratie und Naturalismus während der Sozialistengesetze und den Konflikten und Verwerfungen um 1890 setzte auch und gerade bei den sozialistisch engagierten Intellektuellen eine auffällige Rezeption von Friedrich Nietzsche und Max Stirner ein, die eine Rückbesinnung auf das ‚große Ich‘ signalisierte. Michael Georg Conrad formulierte: „Der Wachstumsprozeß der Moderne zur Blüte und Frucht folgt dem ZarathustraRuf: ‚Nach oben‘“.12 John Henry Mackays Stirner-Wiederentdeckung erfuhr mit seinem Roman Die Anarchisten gerade in diesen Jahren erste Erfolge, und das (ursprünglich von Julius Langbehn in seinem Rembrandt-Deutschen 1891 bekannt gemachte) Schlagwort vom ‚Sozialaristokratismus‘ machte die Runde. Bruno Wille bezeichnete damit sein volkspädagogisch inspiriertes Konzept eines selbständigen Intellektuellen- und Erziehungssozialismus jenseits organisierter Zusammenhänge. Arno Holz hat im Personenensemble seines Lustspiels Sozialaristokraten (1896) darauf reflektiert, wenn er Figuren wie Wille (Dr. Gehrke), Przybyszewski (von Styczinsky), Mackay (Bellermann), den Anarchisten und Schneidergesellen Sprödowski auf die Bühne stellt und wie oberflächlich auch immer die eingangs skizzierte Gemengelage zur Entschlüsselung freigibt. – Es sind diese Entwicklungen, die auch auf die Friedrichshagener und den zeitgenössischen Großstadtdiskurs insgesamt verweisen. 11 Otto Julius Bierbaum: Zum Kapitel „Die Sozialdemokratie und die Moderne“ (1891), in: Gotthart Wunberg (Hrsg.): Die literarische Moderne. Dokumente zum Selbstverständnis der Literatur um die Jahrhundertwende, Frankfurt/M. 1971, S. 124–126, hier S. 126. 12 Walter Fähnders: Avantgarde und Moderne 1890–1933. 2. Aufl., Stuttgart, Weimar 2010, S. 83.
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Alternative zum ‚Phänomen‘ Berlin Hinter der Weltstadt nennt Wilhelm Bölsche eine Essaysammlung aus dem Jahr 1901, der Untertitel lautet: Friedrichshagener Gedanken zur ästhetischen Kultur.13 Dabei ist die Raummetapher auch temporär zu lesen: Man fand sich nicht nur topographisch hinter (bzw. südöstlich von) Berlin, sondern hatte auch lebensgeschichtlich die Stadt ‚hinter sich‘, wenn man nun „Friedrichshagener Gedanken“ anstellte: Berlin hing einem „zum Halse heraus“,14 und man suchte, „die schwarze Brühe der Großstadt geistig und körperlich wieder herunterzuwaschen“.15 Das bezieht sich auf handfeste Berlinerfahrungen, als Subtext mag auch der politische Schlamm des vormaligen Friedrichshagener Engagements, hier als schwarze Brühe, mitschwingen. Nun schien beim „Schritt von der Weltstadt zur Kiefernheide“16 Friedrichshagen besonders attraktiv, weil man umgekehrt auch „Natureinsamkeit bei brausender Weltstadt“ finden konnte17 – gerade die erwähnte Nähe zu Berlin und die vielfältigen urbanen Aktivitäten, die die Friedrichshagener von dort aus aktiv wie passiv verfolgten, sei es der Besuch der ‚Volksbühne‘ oder der Salons von Berlin, schien für eine Insel in der Natur unabdingbar. Der ehemalige Friedrichshagener Gustav Landauer reflektiert 1912 in einem Essay seine Rückkehr in die Großstadt und reproduziert die ambivalente Stadterfahrung, nämlich Kritik und Unverzichtbarkeit der Großstadt: Man war eine Zeitlang fort, in der freien Natur, in den Bergen, und ist nun wieder zurückgekehrt in die Großstadt. Zurück, nicht heimgekehrt; man fühlt sich nicht zu Hause in diesem rastlosen Gewimmel, in dieser Massenhaftigkeit der Öde; man hat sich an den Grenzen der Stadt angesiedelt, weil man ihre Einrichtungen irgendwie zum Leben braucht.18 Entsprechend ist Friedrichshagen „Peripherie der Weltstadt“, so Julius Hart,19 ist „eine Vorstadt, wo Welt und Welt, Dorf und Großstadt, Häusermeer und wogende Saatfläche sich berühren“.20 Unabhängig von der einheitlichen Natur-Metaphorik, mit der hier Großstadt und Landschaft gleichermaßen bedacht werden – Häusermeer dort, Saatfläche hier –, wird 13 Wilhelm Bölsche: Hinter der Weltstadt. Friedrichshagener Gedanken zur ästhetischen Kultur, Jena, Leipzig 1901, zitiert nach dem 4. u. 5. Tsd., S. 190. 14 Ebd., S. VI. 15 Ebd., S. VIII. 16 Ebd., S. XI. 17 Wille: Aus Traum und Kampf (wie Anm. 7), S. 33. 18 Gustav Landauer: Rückkehr in die Großstadt (1912). Nachdruck in: ders.: Zeit und Geist. Kulturkritische Schriften 1890–1919. Hrsg. v. Rolf Kauffeldt, Michael Matzigkeit, München 1997, S. 209–215, hier S. 209. 19 Hart: Friedrichshagen (wie Anm. 4), S. 176. 20 Wilhelm Bölsche: Die Poesie der Großstadt, in: Das Magazin für Litteratur 59, 1890, Nr. 40, 4. Oktober, S. 622–625, hier S. 622. URL: http://www.uni-due.de/lyriktheorie/texte/1890_boelsche.html (letzter Zugriff 11. 6. 2010).
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die Selbstpositionierung in der Zentrum-Peripherie-Beziehung deutlich: Der GroßstadtDiskurs ist Friedrichshagen also eingeschrieben. Auffällig häufig verwenden die Friedrichshagener wie auch ihre Zeitgenossen die bereits zitierte Metonymie „Weltstadt“, nicht nur mit Blick auf „Weltstädte“ wie Paris u. a.,21 sondern auch und gerade in Bezug auf Berlin. So heißt es 1883 in einer Rezension zu Max Kretzers Berlin-Romanen: Berlin sei „Weltstadt im größten Sinne“,22 an anderer Stelle wird vom „Ungeheuer Weltstadt“23 gesprochen, superlativisch ist von der „Riesenstadt“24 und zuletzt von der „Riesenweltstadt“,25 so bei Arno Holz 1885, die Rede. Über den Stand der ästhetischen Repräsentation Berlins bemerkt Bölsche: „Noch ist die echte Weltstadt für uns ein Phänomen. Und doch liegt sie schon im Archiv der Poesie“.26 Von da her ergibt sich zunächst die Frage, welche genauere Berlin-Wahrnehmung es denn ist, die zum Auszug nach Friedrichshagen führt – und welche Attribute Friedrichshagen zugeschrieben werden als Alternative zum ‚Phänomen‘ Berlin. Die Ambivalenz der naturalistischen Berlin-Aneignung ist bekannt, sie bewegt sich zwischen „Paradies“ und „Höllenreich“, wie es bereits in Julius Harts Auf der Fahrt nach Berlin27 heißt. Bölsche resümiert 1890: „So wächst uns die Großstadt jäh über den Kopf, plötzlich steht sie vor uns als Riesengemälde, als Riesenepos der Wirklichkeit“.28 Die Chocs des Urbanen lassen gerade die aus der Provinz Zugereisten eine „nervöse Ueberreizung“ beklagen, „die das großstädtische Treiben bei jedem, der im ‚Kampf ums Dasein‘ steht, notwendig hervorruft“.29 Die Großstadt ist Projektionsfläche für den Topos des Nervösen, der Nervosität als einem Epochenmerkwort für die Zeit um 1900. „Weltstadt, zu Füßen mir! dich grüßt mein Geist / Zehntausend Mal“,30 heißt es zwar, aber auch: „das berliner Leben macht nervös, sobald man selbst ein Stück Berlin wird“.31
21 Ebd., S. 625. 22 [Anonym]: Die Reichshauptstadt im Roman (1883). Nachdruck in: Manfred Brauneck, Christine Müller (Hrsg.): Naturalismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1880-1900, Stuttgart 1987, S. 235–242, hier S. 235. 23 Wilhelm Bölsche: Die Flucht vor der Stadt, in: ders.: Weltblick. Gedanken zu Natur und Kunst. Dresden 1904, S. 35–42, hier S. 36. 24 Bölsche: Die Poesie der Großstadt (wie Anm. 20), S. 622. 25 „Fernab fällt wie fortwandelnder Stürme Sausen/Hin verworrener Lärm der Riesenweltstadt“. Julius Hart: In der Einsamkeit, in: Wilhelm Arent (Hrsg.): Moderne Dichter-Charaktere, Leipzig 1885, S. 71–75. 26 Bölsche: Die Flucht vor der Stadt (wie Anm. 23), S. 35. 27 In: Waltraut Wende (Hrsg.): Großstadtlyrik, Stuttgart 1999 (= Reclams Universal-Bibliothek 9639), S. 45–47. 28 Bölsche: Die Poesie der Großstadt (wie Anm. 20), S. 625. 29 Ebd., S. 624. 30 Julius Hart: Berlin, in: Monatsblätter. Organ des Vereins „Breslauer Dichterschule“ 15, Mai 1889, Nr. 5, S. 68–70, hier S. 68; mit Änderungen wieder in: Julius Hart: Homo sum! Ein neues Gedichtbuch. Nebst einer Einleitung: Die Lyrik der Zukunft. Großenhain, Leipzig 1890, S. 111/112. 31 Bölsche: Die Poesie der Großstadt (wie Anm. 20), S. 624.
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Wenn es die Großstadt selbst ist, die „von dem Dichter fordert, er solle […] Nerven haben von Stahl und die Sonne nur zwischen Telegraphendrähten sehen“,32 dann scheint die Kompensation, dass die Weltstadt ja doch eine Fülle innovativer künstlerischer Sujets liefert, scheint die „Tatsache einer Befruchtung der Kunst durch die Großstadt“33 auf Dauer nicht ausreichend.34 Was wenig später Georg Simmel gerade als Besonderheit und Einmaligkeit der Großstadt hervorhebt, dass sie bei aller notwendigen „Steigerung des Nervenlebens“35 dem „Individuum eine Art und ein Maß persönlicher Freiheit [gewährt], zu denen es in anderen Verhältnissen gar keine Analogie gibt“,36 scheint den naturalistischen Intellektuellen als Beengung. „Ja, die Großstadt macht klein“, dichtet Richard Dehmel,37 und Bruno Wille schreibt ein Gedicht Die leidende Stadt mit Tolstoi-Motto über ein „Leben unter freiem Himmel“: „O selig, / Zu öffnen die Tore der Stadt“.38 Der Schritt von der Weltstadt zur Kiefernheide ist als Wendung zu Natur, Landschaft, Kleinstadt, Provinz durchaus als Alternative zur Weltstadt gedacht. So endet Bölsches Vorwort zu Hinter der Weltstadt mit den Worten: Wenn es so recht rabenflügelig schwarz im Westen über meinen Wäldern qualmt, meine ich oft seine faulen Schwaden schon abdampfen zu sehen. Vielleicht muß aber vorher auch der letzte ästhetisch fühlende Großstadtmensch noch waldeinwärts gezogen sein, – wie der Dulder Odysseus, den Poseidons Fluch erst ließ, als er ins Binnenland wandernd einen Ort fand, wo man das Ruder auf seiner Schulter für eine Worfschaufel hielt.39
32 Ebd., S. 625. 33 Ebd.; das vielzitierte Diktum „Die moderne Großstadt ist baar aller Poesie“ (ebd., S. 622) wird von Bölsche in dem betreffenden Aufsatz selbst relativiert und darf nicht vom Kontext gelöst werden. 34 Das Interesse an Berlin ist ein ausgesprochen ästhetisches. Berlin wird als im Wortsinn reizvolle Vorlage für zu schreibende Werke wahrgenommen, die gerade auch das als Bedrohung gesehene Potential der Großstadt gerne aufgreift. Bei aller ‚Ambivalenz‘ – durch eine derartige Ästhetisierung der Großstadt wird diese erträglich bzw. akzeptierbar; so schreibt Bölsche: „ich habe Berlin lieb gewonnen, nicht, wie so mancher, weil ich hier in hervorragendem Maße mein materielles Glück gemacht hätte, sondern als Poet. Wenn ich jetzt die Stadt durchwandere, vom Zentrum mit seinem wilden Strudel bis hinaus zur stillen Vorstadt […], so habe ich in mir nur ein Gefühl, das Gefühl der Ohnmacht gegenüber dieser Fülle des poetischen Stimmungsgehaltes, dieser Ueberfülle, die fast erdrückt, die in ihrer Größe nur einem gleicht, nämlich der Riesenstadt selbst.“ Bölsche: Die Poesie der Großstadt (wie Anm. 20), S. 622. 35 Georg Simmel. Die Großstädte und das Geistesleben, in: ders.: Das Individuum und die Freiheit, Frankfurt/M. 1993, S. 192–204, hier S. 192; Hervorhebung im Original. 36 Ebd., S. 198. 37 Richard Dehmel: Predigt ans Großstadtvolk, in: Jürgen Schutte, Peter Sprengel (Hrsg.): Die Berliner Moderne 1885–1914, Stuttgart 1987, S. 344–346, hier S. 344. 38 Bruno Wille: Einsiedler und Genosse. Soziale Gedichte nebst einem Vorwort von Julius Hart, Berlin 1891, S. 38–40; auch in: Schutte, Sprengel (Hrsg.): Die Berliner Moderne 1885–1914 (wie Anm. 37), S. 341/342. 39 Wilhelm Bölsche: Vorwort, in: ders.: Hinter der Weltstadt (wie Anm. 13), S. VI–XII, hier S. XII.
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Aber es ist, aller lyrischen Verherrlichung von Kiefer und Heide, Sonne und Licht zum Trotz, eben eine Wendung, die allererst durch großstädtische Erfahrung ermöglicht wurde und erkennbar von ihr imprägniert ist. Das gilt sogar für die soziale Frage: „Die große soziale Wolke der Stadt warf ihren roten Schein ab und zu herüber zu der kleinen Klippe im Kiefernmeer“.40 Es ist eine Erfahrung, die auf Berlin basiert und nicht, wie in der Los-vonBerlin-Bewegung der Zeit, im Völkischen oder Nationalen.
Utopische „Stadt des Lichtes“ Auch wenn sich in einer Fülle von Texten neoromantische Naturseligkeit mit Großstadtfeindschaft zu paaren scheint – mit Friedrichshagen bzw. der insbesondere in der Lyrik produzierten Kunstlandschaft von Natur wird auch ein utopisches Potenzial aufgerufen, das über die zitierte Ambivalenz-These hinausweist und auf eine Neubestimmung der Peripherie-Zentrum- und der Stadt-Natur-Relation abzielt. So wird etwa im Schlussteil von Julius Harts Gedichtband Triumph des Lebens (1898), der mit Insel der Seligen überschrieben ist,41 nicht allein der Antagonismus Stadt/Land aufgerissen, sondern auf Versöhnung beider gesetzt. Bei Bölsche ist es die Allegorie der Großstadt selbst, die er fordern lässt: „es muß ein Weg gefunden werden, ein Weg für den modernen Menschen, der aus diesem Spukgebilde herausführt“.42 Wenn Richard Dehmel in seiner Predigt ans Großstadtvolk als Lösung fordert: „schafft euch Land! Land! rührt euch! / vorwärts! rückt aus! –“,43 so sucht Bruno Wille die Aufhebung des Antagonismus nicht in einer ländlichen, sondern in einer Stadt-Utopie, die mit der Natur versöhnt ist: Fern in Winterdunst versunken Liegt die graue Stadt. – Auf bereifter Wiese Träumt ein Frühgeborener Von einer Stadt des Lichtes. – – –44 Es ist also der Traum nicht allein von der Natur, sondern von einer Stadt, hier einer utopischen „Stadt des Lichtes“, die als Lösung der Großstadtproblematik aufscheint – was auch polemisch angelegt ist gegen jene „ganz abgeschlossene Kunst“ der bloßen „Waldwinkel“, die Bölsche ausdrücklich kritisiert. Zwar fühlt man sich „heute“, wie er 1901 schreibt, „der
40 Ebd., S. X. 41 Darauf verweist Jost Hermand: Die deutschen Dichterbünde. Von den Meistersingern bis zum PENClub, Köln 1998, S. 137. In seinen Erinnerungen an Friedrichshagen von 1918/19 wiederholt Julius Hart den utopischen Aspekt, indem er Friedrichshagen und die „Neue Gemeinschaft“ als „eine glückselige Insel“ bezeichnet. Hart: Friedrichshagen (wie Anm. 4), S. 174. 42 Bölsche: Die Flucht vor der Stadt (wie Anm. 23), S. 40/41. 43 In: Schutte, Sprengel (Hrsg.): Die Berliner Moderne (wie Anm. 37), S. 344–346, hier S. 344. 44 Bruno Wille. Sonnentod, in: ders.: Einsiedler und Genosse (wie Anm. 38), S. 78–81, hier S. 79.
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Weltstadt entfremdet“,45 es wird aber eine über die Ästhetisierung hinaus gehende Großstadt-Bewältigung unternommen, die ihrerseits nun utopisch durch die Natur oder durch das, wofür Friedrichshagen steht, beleuchtet wird. Vergleichbares lässt sich bereits an einem frühen Friedrichshagener Roman zeigen, Bölsches Mittagsgöttin von 1891. Dieser dreibändige Roman aus dem Geisteskampfe der Gegenwart (Untertitel), in dem es um den zeitgenössischen Spiritismus geht, spielt in Berlin und auf dem Lande, wobei einige Berlin-Passagen, etwa die Gänge des Ich-Erzählers durch Berliner Straßen und Viertel, gerade dann ‚modern‘ wirken, wenn sie nach naturalistischen Abbild-Prinzipien im Sinne etwa des Holzschen Kunstgesetzes erzählt werden.46 Der Romanschluss bietet in seinem happy-end eine bemerkenswerte Metaphorik. Der Held kehrt nach seinen spiritistischen und Liebes-Abenteuern nach Berlin und damit auch zu seiner alten Liebe zurück. Bei der Einfahrt in den Bahnhof der „Weltstadt“ – in die „eiserne Riesenhalle, das Symbol der Kraft, das Symbol dessen, was man werden konnte, wenn wir nur wollten“ – erblickt der Heimkehrer „am Ende des Perrons, in dem großen trüben Grau der Asphaltflächen, der Eisenstangen, des ganzen Riesenarsenals dieser Kampfesstätte der menschlichen Technik“ seine Geliebte. In einer Schlussapotheose finden sich die Liebenden eingehüllt in einer weißen Wolke – es ist die Dampfwolke der einfahrenden Züge („Ungetüme“): „Auf weltentrückter Berghöhe hätten wir nicht einsamer sein können.“ Dieses Tableau führt von der Großstadt, für die der Bahnhof ein besonderer und metonymischer Ort ist, über die Beobachtung der Technik, die metonymisch ebenfalls auf die Großstadt als „Kampfesstätte“ zurückweist, hin zur Natur. Das exponierte Naturbild der „weltentrückten Berghöhe“ markiert aber keine Alternative zu Großstadt und Technik oder beider Dichotomie, sondern der Vergleich versöhnt: Der Dampf der Maschine und die insinuierte Wolke auf einem Berggipfel werden virtuell eins und dienen den Liebenden als „Tarnkappe“, wie es im letzten Satz des Romans heißt.47 Wie verquast auch immer diese Passage erscheinen mag – der symbolträchtige Romanschluss transzendiert die Ambivalenz bzw. die antagonistische Kluft zwischen Großstadt/Technik und Natur.
45 Bölsche: Vorwort (wie Anm. 39), S. IX. 46 So findet sich in dem Roman ein frühes Beispiel für den Berlin-Topos des Asphalt-Licht-Motivs (1891!): „Die Friedrichstraße glänzte noch naß vom Regen und verdoppelte, wenn die Perspektive gerade offen lag, die endlose gelbe Laternenreihe durch den Reflex des Asphalts; bisweilen ließ noch ein schwer trabender Omnibus den Widerschein seiner Lampe als düsterrote Blutlache über den Damm schwimmen, die elektrischen Kugeln der großen Restaurants strahlten […] ihr hartes Weißblau als letzte Sonnen aufs Trottoir.“ Wilhelm Bölsche: Die Mittagsgöttin. Roman aus dem Geisteskampfe der Gegenwart. 3 Bde. (1891); hier zitiert nach der Neuausgabe Leipzig 1901, Bd. 2, S. 56. Zum erwähnten Asphalt-Licht-Topos vgl. Erhard Schütz: Asphaltreklame. Die nächtlich erleuchtete Metropole. Kontinuitäten und Variationen eines Berlin-Topos bis 1945, in: Hermann Haarmann (Hrsg.): Berlin im Kopf. Arbeit am Berlin-Mythos. Exil und innere Emigration 1933 bis 1945, Berlin 2008, S. 73–89. 47 Bölsche: Die Mittagsgöttin (wie Anm. 46), Bd. 3, S. 309/310.
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Zentrum und Peripherie Zurück zum Großstadtdiskurs: In seinen Reflexionen über die Großstadt bietet Bölsche eine Art Versuchsanordnung – oder ein ‚Experiment‘, um ein Lieblingswort der positivistischnaturwissenschaftlich geprägten Naturalisten zu übernehmen –, in der er die Großstadt als eine „Schule“ ansieht, „die uns da draußen die Augen erst recht geöffnet hat“.48 Denn: „Die Weltstadt ist einfach die neue Zeit, der große schmutzige Torbogen, durch den jeder einmal hindurch muß, um seine höhere Stufe zu finden“.49 Von einem Ort des ‚Außen‘ oder von einer vermeintlichen Peripherie her gesehen gestattet der Blick auf die Großstadt deren Erkenntnis. Der Städter habe zwar „im Kerker gesessen, aber er hat in anderem Zusammenhang sehen gelernt. Wenn er jetzt hinauskommt, ist es, als sei er hellsehend für die Landschaft.“ So fungiert die „Weltstadt [als] eine entscheidende Durchgangsstation“ beim „besseren Wiederfinden“ eines „Heimatbodens“, und dies gilt in umfassender Weise. Es gilt für die Kunst – sie ist „erobert, beherrscht, vergroßstädtischt [!] durch die Großstadt“.50 Es gilt für die Gewinnung von „Heimat“51 – die Großstadt erscheint als eine „ungeheure Fortschrittsmacht“, „sozial so gut wie künstlerisch“ – „bloß der Weg ist vorerst vielfach dunkel, wohin das soll“.52 Das Ziel ist ein durch die Großstadt selbst herbeigeführter Zustand, in dem „Ideale erwachen, glühende Träume eines Besseren, das kommen muß“53 – eine „höhere Stufe“, in der die Großstadt überwunden wird: und zwar im Modell Friedrichshagen, ließe sich forciert anschließen.54 Es ließen sich auch Bezüge zur zeitgenössischen Gartenstadtbewegung sehen, wobei die Gartenstadt, so der englische Liberale Ebenezer Howard, für das Volk drei es anziehende „Magnete“ vorsieht: Die Stadt, das Land, die Land-Stadt. Dabei steht die Stadt für „Ausschluss von der Natur. Geselligkeit“, das Land für „Mangel an Geselligkeit. Schönheit der Natur“ und die Land-Stadt für „Schönheit der Natur. Geselligkeit“.55 Offenbar ermöglicht die bereits angedeutete Konstruktion einer Peripherie (Natur), die stets um ihr Zentrum (Großstadt) weiß und sich insofern gegen eine Verabsolutierung eines der beiden Pole immunisiert, eine Entlastung des Individuums. Was Georg Simmel als Funktion und Leistung der Fortschrittsmacht Großstadt annahm, wird hier als Schutzraum zwar der Natur und der Landschaft proklamiert – aber allein nach der Durchgangsstation und -institution Großstadt, der insofern die Rolle eines Katalysators zukommt. In den großen Debatten über Stadt/Land/Heimat wird von Friedrichshagener Seite der Versuch un48 49 50 51 52 53 54
Bölsche: Die Flucht vor der Stadt (wie Anm. 23), S. 41. Ebd., S. 41. Ebd., S. 39. Ebd., S. 40. Ebd., S. 40. Ebd., S. 40/41. Hierzu: Peter Sprengel, Gregor Streim: Berliner und Wiener Moderne. Vermittlungen und Abgrenzungen in Literatur, Theater, Publizistik, Wien 1998, S. 323. 55 Kristiniana Hartman: Gartenstadtbewegung, in: Diethart Kerbs, Jürgen Reulecke (Hrsg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933, Wuppertal 1998, S. 289–300, hier S. 291.
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ternommen, Heimat in einer utopischen Stadt des Lichtes zu postulieren, die ohne den Moloch Weltstadt ebenso wenig denkbar scheint wie durch bloße und ausschließliche Naturwahrnehmung. Diese wiederum, eben als urban mitgeprägte, ist vor der Verabsolutierung von Natur gefeit, also für eine angemessene Wahrnehmung der Landschaft gerüstet bzw. ausgestattet. Umgekehrt wird als Utopie das Bild einer Großstadt skizziert, die ihren Charakter als Moloch und Babel verloren hat, weil sie selbst durch eine neutralisierende Naturwahrnehmung purgiert worden ist. Eine Generation nach den Friedrichshagenern werden Benjamin, Franz Hessel oder auch Wilhelm Speyer versuchen, dem Moloch Berlin den Charakter von ‚Heimat‘ zu verleihen,56 einmal um damit den Völkischen deren Adaption des Heimat-Begriffs57 streitig zu machen, vor allem aber, um die besondere Weise der Bewohnbarkeit auch der Stadt vorzuschlagen. Für eine Aneignung der Großstadt, die eine Wahrnehmung von Natur oder Landschaft oder Landleben oder Provinz nicht ausschaltet, sondern utopisch versöhnen möchte, könnten mit allen formulierten Einschränkungen die Friedrichshagener stehen. Am Ende wird Friedrichshagen doch noch von der Großstadt eingeholt. Es sei ein letztes Mal ein Friedrichshagener, nun aus dem Jahr 1914, zitiert: Horch, was für ein weltstädtisches Toben auf der Friedrichshagener Friedrichstraße? Aus dem Berliner Zuge hat sich ein stampfender, schwatzender Menschenstrom ergossen. Diese hastenden Arbeiter, abgespannten Verkäuferinnen und Bürobeamten bringen die dumpfige Luft ihrer Arbeitskasernen mit und all die Segnungen des Maschinenzeitalters. Elektrische Flammen bestrahlen ein grellbuntes Plakat. Unter dem Titel eines Theaters hat sich ein Kintopp etabliert […]. Uff, und Grammophone lassen ihre Walzen wetteifern! […] Wenn vom nahen Flugplatze Johannisthal eine Rumpler-Taube in brummenden Kreisen naht oder ein Parseval [ein Luftschiff] wie ein Fabeldrache angeschnoben kommt … O Himmel, was für einen Aufschwung hast du über das gute Fritzenwalde verhängt!58 Solche Beobachtungen kann natürlich nur fixieren, wer die Semantik der Großstadt aus dem Effeff kennt.
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Darauf hat zuletzt Erhard Schütz verwiesen; vgl. Erhard Schütz: Sekt oder Die Welt ist blau. Adnoten zu Wilhelm Speyer und zum mondänen Roman, in: Helga Karrenbrock, Walter Fähnders (Hrsg.): Wilhelm Speyer (1887–1952). Zehn Beiträge zu seiner Wiederentdeckung, Bielefeld 2009 (= ModerneStudien 4), S. 55–74, besonders S. 64–66. 57 „Kein Heimatboden einigt alle diese Benützer des Büros Berlin“, heißt es 1925 bei Wilhelm Stapel. Zitiert nach: Berlin Provinz. Literarische Kontroversen um 1930. Bearbeitet von Jochen Meyer. Marbach 1985, S. 17. 58 Bruno Wille: Die Müggel, aus: ders.: Das Gefängnis zum Preußischen Adler. Eine selbsterlebte Schildbürgerei (1914); zitiert nach: de Bruyn (Hrsg.): Friedrichshagen und seine Dichter (wie Anm. 4), S. 225–234, hier S. 234.
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III. Wahrnehmungsformen
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PHANTASIEN AUF DEM ALEXANDERPLATZ WÄHREND DER ABREISE DER D’LLE SONTAG
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Phantasien auf dem Alexanderplatz während der Abreise der D’lle Sontag Berliner und Berlin-Literatur im ‚Tunnel über der Spree‘ (1827–1837)
Der literarische Verein ‚Tunnel über der Spree‘ muss sich um sein Bleiberecht in der deutschen Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts so wenig sorgen wie um seinen Platz im literarischen Leben der preußischen Hauptstadt. Dass es nach der Reichseinigung 1870/71 still um ihn wurde – trotz einer opulenten Feier anlässlich seines 50-jährigen Bestehens im Jahre 1877 –, und Fontane nach der Begegnung mit einem alten ‚Tunnel‘-Kämpen Februar 1884 kopfschüttelnd im Tagebuch notierte: Leo Goldammer im Tiergarten getroffen, auf dem Weg zum Sonntagsverein (Tunnel). Dichter dritten Ranges sind schon lächerlich, wenn sie jung sind, aber solch 72jähriger, mit kolossalem Asthma, der immer noch bei seinem vor 40 Jahren angefangenen „Großen Kurfürsten“ sitzt, ist die Lächerlichkeit in höchster Potenz […]1 besagt nur: auch die außergewöhnlich lange Geschichte dieses Vereins hatte einmal ihr Ende. Wie wenig Fontanes Spott mit der Wertschätzung des Vereins zu tun hat, bezeugt sein Buch über den ‚Tunnel‘-Heroen Christian Friedrich Scherenberg, das er 1884 gerade veröffentlicht hatte und das in seinen stärksten Partien ein Buch über den Verein geworden ist. Fontane hatte durch seine Person und durch seine Äußerungen über die literarische Sonntagsgesellschaft wesentlichen Anteil an deren Rezeptionsgeschichte in Theorie und Praxis. Ist ihm auch nicht zur Last zu legen, dass der Blick auf den ‚Tunnel‘ an Tiefenschärfe erst mit seinem Eintritt Mitte der vierziger Jahre begann, so lässt sich jener spöttelnde Federzug von ‚Dich-
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Der Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin, Sondersammlung Tunnel über der Spree, namentlich Henrik Hofer ist herzlich für die unkomplizierte und kompetente Hilfe bei der Quellensichtung und für die Zitiergenehmigung zu danken. Vanessa Brandes gilt besonderer Dank für ihre Hilfe beim Anfertigen und Ordnen der Kopien und der redaktionellen Einrichtung dieses Aufsatzes. Theodor Fontane: Tagebücher. 1866–1882. 1884–1898. Hrsg. v. Gotthard Erler unter Mitarbeit von Therese Erler, Berlin 1994 (= Große Brandenburger Ausgabe. [Abt. 4:] Tage- und Reisetagebücher. [Bd.] 2), S. 199.
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tern dritten Ranges‘ nicht überlesen. Als Fontane selbst sich aus dem Vereinsleben zurückzog, prägte er die vielsagende Formulierung, er sei dem ‚Tunnel‘ ‚entwachsen‘. Und merkwürdig, dieses anthropologisch eingefärbte Bild auf die Vereinsgeschichte haben sich auch die Chronisten des ‚Tunnel‘ zu eigen gemacht. Fritz Behrend spricht 1919 in seiner ersten geschlossenen Darstellung im Untertitel von den Kinder- und Flegeljahren 1827-1840,2 und ergänzt es in der kompletten Vereinsgeschichte um „erste Blüte“, der eine „zweite Blütezeit“ gefolgt und sogar eine „Nachblüte“ beschieden gewesen sei.3 Die frühe Zeit hat Tribut für dieses griffige Bild, das ihr entweder gönnerhaft, spöttelnd oder verächtlich begegnete, gezahlt. Das Wortbild musste nicht erfunden werden, die bissigen Zeitgenossen hatten es bereits für den Gründer des Vereins, Moritz Gottlieb Saphir, zur Hand. Als er sich mit einigen von ihnen überworfen hatte, veröffentlichten sie die Broschüre M. G. Saphir in Berlin und gaben ihr den Untertitel Zum Besten des Fonds für sittlich verwahrloste Kinder.4 Behrend, 1919 verhalten, 1938 massiv antisemitisch argumentierend, wies dem ‚Hauptflegel‘ „ungarischer Staatsangehörigkeit, jüdischen Geblüts“5 dann gleich seine Ecke zu, die er aus Polizeiakten und intrigendurchwirkten Dokumenten baute und in die er auch noch wirkungsvoll wie denunziatorisch Saphirs Taufnöte platzierte.6 Christian Friedrich Scherenberg hat, als er am 3. Dezember 1877 seinen Festgruß auf der Jubiläumsfeier vortrug, Saphirs Namen, versehentlich oder bewusst, aus seinem Vers-Spiel gelassen, dabei aber genau jene Wörter beschworen, die für die ersten ‚Tunnel‘-Jahre, um die es hier geht, kennzeichnend sind: Hell grüß Fanfar dich Jubilar! Im Winkel hier entsprossen. Als sich zusammengossen, Just heut vor fünfzig Jahr, Herr Kaffee, Fräulein Sahne. […] Du Mischling, du Berliner Kind, Den Witz schon in der Windel […] Rein kommt nur Poesie. Der Schalksnarr regieret; […]
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Fritz Behrend: Der Tunnel über der Spree. I. Kinder- und Flegeljahre 1827-1840. Heft 51 der Schriften des Vereins für die Geschichte Berlins, Berlin 1919. Fritz Behrend: Geschichte des Tunnels über der Spree, [Berlin] 1938, S. 7, 12, 33 und 64. Sie erschien zuerst als Zeitungstext im Conversationsblatt, ehe sie in Broschur gebunden auf den Markt kam. Behrend: Geschichte des Tunnels über der Spree (wie Anm. 3), S. 7. Vgl. Behrend: Kinder- und Flegeljahre (wie Anm. 2), S. 7.
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Das Ganze, kurz zu sagen, War Poesie. Herzauberte Gemütshumor Mit seiner Pulse Schlage […] Die Kappe warf die Sparren Heraus zu toller Art, Daß sie den alten Narren Noch übernarrt.7 Witz, Humor, Narr und Schalk – mit diesen Begriffen markierte Scherenberg den dominierenden Gründungszug des Vereins. Er setzte damit jenes augenzwinkernde Einverständnis mit den zu belächelnden ‚Tunnel‘-Gepflogenheiten voraus, die für die Anfangsjahre getrost als Albernheiten abzubuchen waren. Das betraf einerseits formelle Vereinsrituale. Sie schrieben Begrüßungszeremonien, Namensabstrusitäten und andere habituelle Verfahren vor, die die bürgerliche Alltagsexistenz für zwei, drei Stunden ‚Tunnel‘-Dasein bis zur sozialen Unkenntlichkeit entstellten. Andererseits betraf es Sprachverständnis und -gebrauch des ‚Tunnel‘. Sind die Vereinsrituale auch hinlänglich beschrieben und sozialgeschichtlich ausgewertet worden,8 so ist das Mosaik der literarischen Produktion des ‚Tunnel‘ noch immer äußerst lückenhaft. Vor allem gilt das für die ersten anderthalb Jahrzehnte nach seiner Gründung.
Moritz Gottlieb Saphir und die literarische Produktion des ‚Tunnel‘ Die Forschung von Sprengel9 bis Wülfing10 hat sich vorrangig und mit besten Gründen auf Saphir konzentriert, der seit Sengle, dem man nicht widersprach, als „einer der erfolgreichsten Erneuerer der Witzkultur des Rokoko“11 gilt. Deutlich wurde, dass der Antisemitismus 7 Christian Friedrich Scherenberg: Festgruß zum 3. Dezember 1877, zitiert nach: Theodor Fontane: Autobiographische Schriften. Bd. 3/2. Hrsg. v. Gotthard Erler u. a., Berlin, Weimar 1982, S. 55/56. 8 Vgl. Wulf Wülfing: Art. „Tunnel über der Spree“, in: Wulf Wülfing u. a. (Hrsg.): Handbuch literarisch-kultureller Vereine, Gruppen und Bünde 1825–1933, Stuttgart, Weimar 1998, S. 430–455. Siehe auch Joachim Kruegers Kommentar zu Fontanes Sitzungsprotokollen und Jahresberichten des Tunnels über der Spree: Fontane: Autobiographische Schriften (wie Anm. 7), S. 59–86. 9 Peter Sprengel: Moritz Gottlieb Saphir in Berlin. Journalismus und Biedermeierkultur, in: Günter Blamberger u. a. (Hrsg.): Studien zur Literatur des Frührealismus, Frankfurt/M. u. a. 1991, S. 241– 275. Sprengel weist die Radikalität und die Folgen des antisemitischen Umgangs mit Saphir ebenso nach wie dessen Radikalität und Folgen in der Modernisierung des deutschsprachigen Journalismus, worin er ihn als einen Vorläufer des Jungen Deutschland (an)erkennt. 10 Wulf Wülfing: Folgenreiche Witze. Moritz Gottlieb Saphir, in: Jahrbuch der Rhetorik 12, S. 1–11. Wülfings Analyse, konzentriert auf das rhetorische Phänomen der Paronomasie in Korrespondenz mit Freuds Witz-Abhandlung, legt die politisch-gesellschaftliche Brisanz und Spannkraft des Saphirschen Witzes frei. 11 Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration 1815– 1848. 3 Bde., Stuttgart 1971–1980, hier Bd. 2, S. 75.
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Behrends in jener kompakten antijüdischen Front seine Wurzeln fand, mit der sich schon Saphir in Berlin konfrontiert sah und die massiv gegen den schlagkräftigen „Spielcharakter“ und die rhetorische „Virtuosität“ seiner „Schriftstellerei“12 vorging. Die ‚Tunnel‘-Gründung, dessen sprachlich-subversives Aufmunitionieren und Instruieren und Saphirs Verzwirbeln von Verein, innovativen Zeitungsgründungen (der Berliner Schnellpost für Literatur und Geselligkeit und dem Berliner Courier) mit dem literarisch-politisch-höfischen Leben, das ihm Zensur, Polizei, Haft und Ausweisung einhandelte – das alles ist der Boden, aus dem die literarische Produktivität des ‚Tunnel‘ und seiner ersten Mitglieder in den Jahren nach 1827 erwuchs. Wenn Scherenberg 1877 vom ‚Tunnel‘ als „Berliner Kind“ reimte, dann brachte er in der topographischen Personifizierung Verein und Ort in ein kausales, im Bild gesprochen: familiäres Verhältnis. Es ist zu Recht geltend gemacht worden, dass Saphir nicht der ‚Tunnel‘ war und dass er nur in der Anfangsphase dem Verein „seinen persönlichen Stempel aufgedrückt“13 hat. Dennoch: Es bleibt Saphirs Berlin, das die literarische Vereinsbetriebsamkeit in den ersten Monaten prägte und weit darüber hinaus bestimmte. Und es bleibt sein an keine Nachwelt denkendes, das komplette klassische Lyrikprogramm demontierendes und parodierendes literarisches Werk, das das restliche ‚Tunnel‘-Repertoire profilierte. So sehr er sich bewundernd auf Jean Pauls Pfaden wandeln sah, die anverwandelten Züge behielten die scharfen Konturen eines eigenen Profils. In keiner überlieferten Form ist jenes Berlin Ende der zwanziger Jahre dem modernen, unberechenbaren, freizügigen Zugriff dergestalt ausgeliefert wie in Saphirs jeder Willkür und jeder Dissonanz sich öffnenden Texten. Berlin nimmt in der Abfolge seiner Tätigkeitsorte den kürzesten, aber nachhaltigsten Platz ein. Hier entstanden, wie einer seiner Herausgeber resümiert, „vieler seiner besten Sachen“.14 Ein wertendes Wägen der kurzen Amtszeit Saphirs15 im ‚Tunnel‘ muss den Publikationsradius einbeziehen, der die Wohnungs- oder Kaffeehauswände ausdehnte bis zu den Stadtgrenzen und vor dem Tor des königlichen Hofes nicht haltmachte. Hat sich die Stadt, so ist nun zu fragen, im Zuge ihrer erst latenten, später offenkundigen politisch-historischen Profilierung, in das literarische Vereins-Œuvre eingezeichnet – und wenn ja: wie?
12 Sprengel: Moritz Gottlieb Saphir in Berlin (wie Anm. 9), S. 249. 13 Ebd., S. 253. Behrend, bei dem sich Faktenwissen und Urteilsschwäche die Waage halten, schreibt, dass Saphir nach seiner „Enthauptung“ im ‚Tunnel‘ „noch starken, überwiegenden Einfluß“ hatte, „solange er in Berlin weilte.“ Behrend: Kinder- und Flegeljahre (wie Anm. 2), S. 20. 14 Einleitung zu: M.G. Saphir’s humoristische Schriften in vier Bänden. Ausgew. und hrsg. v. Karl Meyerstein, Berlin [o. J.], o. S. Beiläufig: Editorisch sind die vorhandenen Saphir-Ausgaben hochgradig problematisch. Sie teilen weder Entstehungskontexte mit, noch nennen sie die Druckorte – damit ist ein literarisches Werk wie das von Saphir im Grunde ‚tot‘, oder eben nur ein grenzenloses Paradies rhetorischer Möglichkeiten im Großraum deutscher Literatur. 15 Die vier Monate, von denen immer die Rede ist, müssen etwas relativiert werden: Erst das Protokoll vom 3. Dezember 1829 meldet den Austritt des „Privatgelehrten M. G. Saphir“ aus dem Verein – übrigens zusammen mit seinem Konkurrenten Eduard Oettinger.
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Berlin-Bezüge der literarischen Produktion Bis 1840 brachten es die wöchentlichen ‚Tunnel‘-Sitzungen immerhin auf 2.500 – ‚Späne‘ genannte – literarisch-künstlerische Beiträge. Sie wurden von Beginn an sorglich gesammelt. Saphirs Praxis, das am Sonntag Vorgetragene mehr oder minder nach Gutdünken auf eigene Faust zu verwerten, war zwar auf lebhafte Kritik und heftige Verstimmung gestoßen – keinesfalls kam es jedem gelegen, in die zum Teil aggressive Betriebsamkeit des Berliner Literaturlebens zu geraten, womöglich noch namentlich –, beeinträchtigte die Entscheidung, alle Beiträge zu archivieren aber nicht.16 Ausgewählte Veröffentlichungen lösten den von Saphir intendierten Arbeitssinn des Kreises bereits nach einem Jahr ab. Man war nach verschreckenden öffentlichen Kontroversen darauf bedacht, zwischen Vereinspublikationen und Veröffentlichungen einzelner Mitglieder scharf zu unterscheiden. Dieses Verfahren hat zu dem Missverständnis geführt, dass nach der Krise um Saphir 1828/29 im ‚Tunnel‘ Vorgetragenes in der Regel die Vereinsgrenzen gar nicht mehr überschritt. Ohne dass eine verlässliche Statistik darüber existiert, darf vermutet werden, dass die meisten der dort erfolgreich präsentierten Texte auch die literarische Öffentlichkeit erreichten.17 Wiederholt stößt der Leser in den Späne-Bänden nicht auf die Beitragsabschrift, sondern findet Hinweise wie: „Abdruck in: ‚M. G. Sapphirs Berliner Schnellpost, 1828. No. 42‘“18 oder „Abgedruckt: ‚Dramaturgische Xenien 3t Fortsetzung. Berliner Modespiegel 1833 No 7.8.‘“ etc. Ein Druck freilich ohne Vereinswimpel und ‚Tunnel‘-Etikettierung. Behrend hat als erster in seiner Broschüre über die Kinder- und Flegeljahre eine Textauswahl aus dem ‚Tunnel‘-Nachlass gegeben, die, rätselhaft genug, den späteren Kultusminister Heinrich von Mühler im Nachhinein zum Poeten großschreibt. Daneben ließ er Heinrich Smidt zu Wort kommen, auch mit dessen Hamburger Bildern, die sich in die literarische Stadt-Literatur des Jahrhunderts einreihen, ohne dort Gewicht zu haben.19 Berlin indes kommt nur in Louis Schneiders Bilder aus Berliner Nächten vor. Ein charakteristisches Bild über die ‚Berlin‘-Präsenz der literarischen Arbeit des ‚Tunnel‘ ergeben sie nicht. Die Sichtung der ‚Späne‘-Bände, in denen bis etwa 1849/50 der größte Teil des für den ‚Tunnel‘ Verfassten überliefert ist, ergibt im ersten Durchgang, bei dem es für diese Zwecke bleiben muss, Folgendes: 16 Vgl. hierzu Wülfing: Art. „Tunnel über der Spree“ (wie Anm. 8). 17 Leider sind die Ende der achtziger und zu Beginn der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts engagiert betriebenen Forschungen zum Verein nach ersten wichtigen Veröffentlichungen wieder zum Erliegen gekommen. Ein Glücksumstand dabei ist, dass trotz mangelnder Förderung eine Datenbank entstand, die die Protokoll- und Beitragsbände systematisch ausgewertet und für den Zugriff über das Internet zugänglich gemacht hat. Henrik Hofer (UB Humboldt-Universität zu Berlin) gilt dafür großen Dank. Die materialgestützte Integration des Vereins in das literarische Leben vor allem bis Mitte der vierziger Jahre, die der Nachlass gewährt, steht nach wie vor aus. Selbst die wichtige und grundlegende Studie von Peter Sprengel ist ohne die Benutzung des Vereinsnachlasses verfasst. 18 Wilhelm Fischer: Die verzauberte Hunnenprinz, in: Monbijou. UB der HUB, Tunnel-Archiv, Späne, Bd. 1 (1827/28), Bl. 331 (Span 0211). 19 Sie sind später im Druck erschienen. Heinrich Smidt: Hamburger Bilder, Hamburg 1836.
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1. Berlin ist als topographisches Phänomen kein bevorzugter literarischer Gegenstand. Das gilt sowohl für die Phase unter Saphirs Regie als auch für die sich ihr anschließende bis Mitte der dreißiger Jahre. Orte, Straßen, Plätze – dies alles kommt vor, aber eher vereinzelt, eher beiläufig, keineswegs als ein Sujet, das die künstlerische Konkurrenz, um die es auch immer ging, beflügelte. Texte wie Carl Johann August Theodor Scheerers (‚Novalis‘) Das Denkmal auf dem Kreuzberge bildeten hinsichtlich ihres Lokalkolorits im Titel eher die Ausnahme, wie es in dem angeschlagenen patriotischen Ton seit Saphirs Ausscheiden an Regelmäßigkeit gewann. Jenes 20 Meter hohe Denkmal, nach einem Entwurf Schinkels zwischen 1818 und 1821 errichtet, erinnert mit seinen zwölf Statuen an Siege im Freiheitskrieg gegen das napoleonische Frankreich 1812/13. Seht ihr den Hügel im Morgenroth? Seht ihr das Denkmal recht blinken? Dies weihte, nach schwerer überstandener Noth, Den Helden, die’s schützten vorm Sinken Borussia, von Feinden umgeben, Im Kampfe für Freiheit und Leben.20 Das Topographische, auf das der Sprecher des Gedichts im Auftakt den Blick lenkt, verwandelt sich übergangslos ins Patriotische, der konkrete Ort in einen abstrakten. 2. Das Großstadtsujet entfaltete sich auch dort nicht zu einem Vergleich mit der preußischen Hauptstadt, wo er sich nachgerade anbot. So vermerkt das Protokoll, als Louis Schneider am 23. Mai 1830 Etwas über London vorgetragen hatte, „uninteressant in Wahl des Berührten“ und „der Darstellung“.21 Und auch der Reisebericht von Emil Jacobi (im Verein: ‚Wilhelm Müller‘), der am 15. Juli 1832 im ‚Tunnel‘ von einem bewegten ParisAufenthalt erzählte, rückt so nah an das Erleben, dass eine Rückspiegelung auf Berlin, den erst die darstellerische Distanz gewähren kann, ausblieb.22 Carl Löwe endlich, im ‚Tunnel‘ unter ‚Puffendorf‘ literarisch und organisatorisch aktiv, schilderte, wie Pallas Athene, als Athen und Byzanz erloschen, nach neuen glücklichen Gefilden Ausschau hielt, und wie ihrer ‚sehnenden Brust‘ der Göttervater Zeus eine ‚liebliche Flur‘ wies – und poetische Urbanität war dann aber eben nicht Spree-Athen, sondern jenes Heidelberg, über dem der endlose Schein aller romantischen Idyllik lag. 3. Für die Frühzeit stimulierte die Dauerfehde mit der begünstigten Sängerin und Schauspielerin Henriette Sontag, die regelmäßig und für hohe Gagen von Karl von Holtei an das privat betriebene Königstädtische Theater geholt wurde, eine Berlin-Aura.23 Die 20 UB der HUB, Tunnel-Archiv, Späne, Bd. 5 (1831/32), Bl. 106 (Span 0864.61). 21 UB der HUB, Tunnel-Archiv, Späne, Bd. 3 (1829/30), Bl. 133 (Span 0587.97) und Protokollband 1829/30. 22 UB der HUB, Tunnel-Archiv, Späne, Bd. 5 (1831/32), Bl. 234–235 (Span 0942.139). 23 Vgl. Sprengel: Moritz Gottlieb Saphir in Berlin (wie Anm. 9), S. 254–256. Sprengel sieht in der Verquickung von Zensur, Öffentlichkeit und Henriette Sontag/Königstädtisches Theater die drei maßgeblichen Berliner Geschichten Saphirs, die ihm zum Schicksal wurden.
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Sontag lebte im ‚Tunnel‘ fort. Es war, als ob ihr Name den Verein, der sich selbstironisch ‚Sonntags-Gesellschaft‘24 titulierte, immer wieder befeuern sollte und konnte. Wo man ihres Namens habhaft werden konnte, dem in der Biedermeierlichkeit Berlins etwas sanft Politisches anhaftete, bannte man ihn. Hinter jener Phantasie auf dem Alexanderplatze während der Abreise der D[emoise]lle, die am 6. Januar 1828 zum Vortrag kam, verbarg sich nicht allein eine Parodie auf Schillers Monolog der Jungfrau – sondern die Attacke gegen ein Doppelziel, das beide konstituierenden Feindbilder berlinisch platziert: Willst Du ihren Ruhm verkünden, Himmelstochter, Poësie, Wähle die, die Plätze finden Im Parquet mit leichter Müh’; Doch nicht etwa unser einen Die fast gar nicht dort erscheinen, Auch nicht Dilettanten wähle Mit zu schwacher Mittwochsseele.25 Das Theater ist in den Spottversen der verkommene Ort, dessen Beschwörung die eigene Programmatik – nämlich nicht zu lobhudeln, sondern unbestochen zu kritisieren – sinnfällig werden lässt. Von ihm aus kann im selben Zuge die gegnerische ,Mittwochsgesellschaft‘, das andere geistige Berlin, bloßgestellt werden. Das parodistische Verfahren verschränkte einen Berlin-verlockenden, aber fehlorientierenden Obertitel mit dem Schiller-Bezug auf den Jungfrau-Monolog hin zu einer Boulevardsatire. Sie zu verstehen, musste man eingeweiht sein. Das literarisch Versandte geriet gleichsam aufgrund mangelhafter Adressierung in Gefahr, zu versanden… 4. Emil Arndt, der, als er eine Bürgermeisterkarriere hinter sich hatte, auf eine ‚Tunnel‘Laufbahn hoffte, lieferte ein literarisches Berlin-Muster, das wiederholt aufgegriffen wurde, weil es ein Potential für serielle Verfertigung barg. Er epigrammatisierte und wählte sich dafür charakteristische Berliner Bauwerke. Das 18. Jahrhundert hatte das satirische, ironische Potential der auf Erwartung und Aufschluss eingerichteten Distichen freigelegt. Ein Musterbeispiel dafür ist die Kirchenparade, die Arndt kurz nach seinem Eintritt vorstellte. Dialogisch in der Struktur, das heißt in einer Wechselrede von A und B reihte er die Domkirche, die Marienkirche, die Nikolai-Kirche, das Heiligegeistspittel, die Französische Kirche und die Jerusalemer Kirche auf und suggerierte mit diesem Verfahren Fortsetzbarkeit. Grundiert wurde diese Reihungstechnik von einer Ironie, die durchaus die Grenze zur Bürgersatire touchierte:
24 Auch ‚Sonntagsverein‘ u. ä. 25 UB der HUB, Tunnel-Archiv, Späne, Bd. 1 (1827/28), Bl. 34 (Span 0018).
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Domkirche A) Zu dieser Kirche strömt das Volk in Massen hin, Es muß hier wahrlich herrschen ein ächter, frommer Sinn B) Aus Frömmigkeit, da gehen nur wenige herein, Die Meisten, um zu seh’n und um geseh’n zu seyn.26 Das Grundmuster, einmal vorgegeben, gewährte Spielräume: Die Ironie konnte, wie hier, die latente Verlogenheit bürgerlicher Frömmigkeit karikieren und in Blickkontakt mit dem aufklärerischen Epigramm-Verständnis bleiben. Sie konnte sich aber auch verbrüdern mit sozialer Stichelei, die sich in diesen ‚Tunnel‘-Zeiten eines uneingeschränkten Hausrechts im Verein erfreute: Französische Kirche A) Viel Equipagen fahren vor dieser Kirche vor. B) Hier steigt auf feine Weise zu Gott der Dank empor. A) Auf feine Weise sagst Du, wie kann dies möglich seyn? B) Der Redner spricht französisch, und das ist doch wohl fein!27 Der durch die Romantik ins Abseits geratenen Dichtungsform des Epigramms wurde Terrain zurückerobert – wobei der Berlin-Bezug die Basis für das Verbindende von Topographie und Epigraphie abgab. 5. Im Bemühen, einer Vielfalt von Ausdrucksformen Raum zu geben, war man bei den Berlin-Bezügen keineswegs auf Lyrik – wie wiederholt dem Verein aufgrund von Analogieschlüssen unterstellt wurde – fixiert und gefiel sich nicht nur im Sprachspiel, sondern auch im Spiel mit sprachlichen Ausdrucksformen aller Art: Diese Auffälligkeit, Gattungsmöglichkeiten nicht zaghaft wahrzunehmen, sondern mit ihnen beherzt zu experimentieren, ist auf die Biedermeierliteratur und auf die Jean-Paul-Rezeption zurückgeführt worden, die ihren Anteil daran hat – aber das Ausmaß nicht erklärt. Selbstverständlich ist davor zu warnen, bei dem Berliner Kaufmann Wilhelm John, wenn er zum Stiftungsfest am 3. Dezember 1830 sich mit zwölf Texten unter der Überschrift Stimmen der Vorübergehenden der ‚Tunnel‘Kritik aussetzte, an eine Vorwegnahme jener berühmten Verse Baudelaires An eine Vorübergehende (A une passante [1860]) aus den Pariser Bildern (Tableaux Parisiens) zu denken. Johns Idee bezog ihren Reiz aus Alltagsminiaturen, deren Entsprechung sich im Boulevardstück wie in der Milieu- und Charakterstudie der Zeit fand. Die Bilder, die wiederum aneinander gereiht sind, gleichen einem Panoptikum, in das der Zuhörende oder der Leser ‚blickt‘; da sieht er dann Die trostlose Wittwe, den Bettler, den Trauernden, den Polizeibeamten und Das Berliner Dienstmädchen:
26 UB der HUB, Tunnel-Archiv, Späne, Bd. 2 (1828/29), Bl. 255 (Span 0486.255). 27 Ebd.
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1) Nun ja, das wußt’ ich im Voraus, So oft ich Bücher muß besorgen; Nichts bring’ ich der Mamsell nach Haus, Als Clauren heut, und Clauren morgen. 2) Ist’s doch, als ob der Clauren meist, Für die Mamsell allein nur schriebe, Dies Buch ist auch von ihm, was heißt: ‚Was ist das Leben ohne Liebe.‘28 Die Trivialisierung der so genannten Bildungs-, jedenfalls besitzenden Schicht, deren Literaturgeschmack aus der Perspektive vom sozialen Unten gewertet und dem Spott ausgeliefert wird, transportiert ein Name, der zum Synonym für eine Entleerung ästhetischer Urteilsfähigkeit eben jener Schicht steht, deren Privileg und Aufstiegsgerüst Kunst und Kenntnis sind. Doch der Rahmen hält, er wird nicht gesprengt. Die Bilder bleiben verträglich. Das Moment des Vorübergehens dimensioniert nicht die Flüchtigkeit allen Seins, gibt nicht die Perspektive des Flaneurs, an dem die Dinge und die Menschen gleichermaßen vorüber fließen, haltlos und unhaltbar, sondern eine Art ikonographisches Steckbild, dessen Sammeln eine Ganzheit des Alltagsseins verspricht – ein Verfügen und Verfügbarmachen. Literarische Modelle dieser Art versprachen Verwertbarkeit, sie boten eine bildliche Gestaltung an und gestalteten sich dafür selbst als ein Bild, dem ein Vorher und Nachher fehlt – das immer Jetzt ist. Und an dem visuell nur zu verweilen vermag, der an ihm vorübergeht … Unbestrittener Vorzug dieses Einfalls war erneut dessen serielles Potential, für das der ‚Tunnel‘ ein Testpublikum abgab, der zu einem Votum nicht nur angehalten, sondern per Satzung genötigt war.29 6. Wie das Beispiel der Stimmen der Vorübergehenden und die Reaktivierung der epigrammatischen als streitbare Form gezeigt haben, nutzten die Späne-Beiträge Berlin als ikonographischen Ort städtischer Fixpunkte, deren Erkennungs- und Wiedererkennenswert begünstigend auf die intendierte Aussage wirkten. Neben Orte und Örtlichkeiten traten, wie bereits zu bemerken war, Phänomene literarischen Lebens. Auf dieser Ebene kommt den ‚Tunnel‘-Texten eine Doppelfunktion zu. Einerseits sind sie Bilder eines historischen Mikrokosmos des Berliner Literaturlebens, das in ihnen durch die Schrift gegenwärtig, durch die verstrichene Zeit historisch vergangen ist. Das sicherte Distanz, die ihren Ausgangspunkt in der Niederschrift hat. Andererseits waren sie Operationsgrößen in eben jenem literarischen Leben Berlins – der Niederschreibende und der ‚Tunnel‘ selbst agierende Teile jener wechselnden Aggregatzustände. Die preußische Hauptstadt residierte in den ‚Tunnel‘Spänen als publizistische und kulturelle Öffentlichkeit. Sie gewann Gestalt durch Fixierung 28 UB der HUB, Tunnel-Archiv, Späne, Bd. 4 (1830/31), Bl. 6 (Span 0683.6). 29 Ein Teil dieser Texte wurde publiziert. Der entsprechende Späne-Band vermerkt nach der „4t Lieferung“: „‚Abgedruckt a. d. Arch. des Sonntagsvereins‘ Bnd. II, S. 256“. Mit höchster Wahrscheinlichkeit sind weitere Publikationen an anderen Orten anzunehmen. UB der HUB, Tunnel-Archiv, Späne, Bd. 4 (1830/31), Bl. 141 (Span 0785.116).
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jener Instanzen, die sie öffentlich gestalteten. Unter der Überschrift Plappermäulchens Glossenbüchlein ließ ‚Petrarca‘ am 6. Januar 1828 die Vereinsgenossen an seiner Lektüre der (nicht nur) hauptstädtischen Presse teilhaben. Hinter ‚Petrarca‘ verbarg sich ein 25-jähriger Mann, den die Rückschau „eine zentrale Figur des Berliner lit. Lebens im Biedermeier“30 nennt und vor dem überdies eine außerordentliche Laufbahn innerhalb der jüdischen Reformbewegung lag: Ludwig Lesser, Mitbegründer des Vereins und eins seiner engagiertesten Mitglieder. Wie bei dem Epigramm wurde auch hier auf eine traditions- und wandlungsreiche Ausdrucksform zurückgegriffen. Auch ihr stand eine ungeahnte Karriere bevor, an deren Ende ihr Ursprung als eines der ältesten althochdeutschen Sprachdenkmäler vergessen war. Mit Lessers Einträgen war sie schon im Metier polemischer Stellungnahme zum publizistisch-feuilletonistischen Alltag angekommen. Das Angestrebte gab die Form vor: Zuerst wird die Quelle genannt – die Vossische Zeitung oder die Spenersche Zeitung etc. –, dann das die Glosse auslösende Zitat notiert, um schließlich in einer bissigen Anmerkung entblößende Pointen zu bieten. Ein Beispiel simpler Art: der Druckfehlerteufel. Spenersche Zeitung d. 17 Decbr.: ‚Wer ein mit guten Kupferdrucken versehenes, und übrigens sauer erhaltenes Exemplar des im Buchhandel gänzlich vergriffenen Taschenbuchs ‚Vergißmein nicht von Clauren‘ für 1819 zu verkaufen gesonnen ist, erhält vom Buchhändler Blöcke den doppelten Ladenpreis.[‘] Anmerk: O Tempora, o mores! Denn Keiner hörte darauf, was contra Clauren eifernd in Stuttgard Wilhelm Hauff in seiner Predigt spricht: ‚ein sau’r Vergißmeinnicht will Einer im großen Haufen, nun für den doppelten Werth gar kaufen!‘ –31 Die operativen Möglichkeiten dieser Form sind augenfällig. Der an sich unerhebliche Fehler im Druck weitete sich, mit rechtem und unterrichtetem Auge besehen, zu einer Einbindung in eine Literaturfehde aus, bei der die konkurrierende ‚Mittwochsgesellschaft‘ eine Rolle spielte, die nicht unerheblich war. Der ‚Tunnel‘ übte sich als eine Art kritische PressPrüfungsinstanz, deren Praxis auch Anleitung zur kritischen Lektüre war und niemandem untergeordnet schien als dem Verstand. Zeitungslektüre wurde als Ausgangs- und Zielpunkt der eigenen literarischen Hervorbringung. Deren Wert prüfte der ‚Tunnel‘, die Verwertung erfolgte im hauptstädtischen Medium, auf das man mit einer Munition schoss, die man von dort bezogen hatte.32 30
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Gerhard Wolf (Hrsg.): Rückwärts gehen die Krebse gern, vorwärts eilt die Zeit. Berliner Biedermeier in Vers und Prosa, Berlin 1988 (= Günter de Bruyn, Gerhard Wolf (Hrsg.): Märkischer Dichtergarten), S. 343/344. UB der HUB, Tunnel-Archiv, Späne, Bd. 1 (1827/28), Bl. 38 (Span 0019b). Die Glossen sind in der Regel umfänglicher. Hier musste eine kurze ausgewählt werden, die aber durchaus charakteristisch ist. Der ‚Tunnel‘-Nachlass bietet eine ganze Reihe solcher literarischer Späne-Beiträge. Die skizzierten haben deshalb nur Beispielcharakter. Emil Arndts Zeitungsschnitzel vom 29. November 1829 radikalisieren, um wenigstens eine zweite Spielart anzudeuten, den Umgang mit dem Medium Zeitung, indem sie auf der einen Seite eine seriöse Meldung geben und, nachgestellt, aber in parallelem Bezug, auf der anderen Seite eine konterkarierende, böse oder ironische fingierte ‚Fortsetzung‘ der Meldung bieten: „1. Die Einweihung des Bischofs von Basel ging am 26t: Juli mit vielem Gepränge vor sich; – / er war
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7. Nach Saphirs Rückzug aus dem ‚Tunnel‘ und nach der zum Statutenparagraphen erhobenen Absicht, alles zu vermeiden, was den Verein „in einen Konflikt mit der übrigen literarischen Welt bringen könnte, mithin auch eine jede dazu führende Veröffentlichung seiner Thätigkeit und jede Einmischung in die Streitigkeiten literarischer Parteien“,33 stoppte zwar die Bereitschaft zur öffentlichen Fehde, aber nicht die einer Berlin-fixierten medialen Kampflustigkeit. Zu dem möglicherweise massivsten Späne-Schlag in dieser NachSaphir-Ära holte Heinrich Smidt aus, der dem Verein am 13. Juni 1830 beigetreten war und am sonntäglichen 16. Oktober 1831 zwanzig Berliner Xenien darbot (weitere folgten die Woche darauf). Das Xenion hatte spätestens seit Goethe und Schiller seine ursprüngliche Aufgabe, ein Gastgeschenk mit Versen zu begleiten, verloren und war zu einer literarischen Stichwaffe mutiert. Fontane, der noch einige Jahre mit dem knapp zwanzig Jahre älteren Smidt im ‚Tunnel‘ verkehren wird, hat ‚Bürger‘ (so dessen Vereinsname) als „Inhaber einer ‚biederen Rechten‘“ charakterisiert: Das seien „Menschen, die zunächst ganz wundervoll gemütlich sind und ihre wahre Natur erst offenbaren, wenn sie sich durch das, was man tut oder auch nicht tut, in ihrem Interesse bedroht oder geschädigt glauben“.34 Derartige Züge spiegeln sich in den Xenien Smidts aus dem Jahre 1831 durchaus, sind aber auch Spiegel jener ausgeklammerten Öffentlichkeit. In vorgeschriebener Distichon-Form ließ Smidt das literarische Leben Berlins Revue passieren und wenig gute Haare an ihm. Der groben Einteilung in I. Dramaturgische, II. Zeitschriftliche und III. Schriftstellerische ordnete er gleich grob Xenien anlässlich einer Berliner Aufführung von Schillers Jungfrau von Orleans zu oder, für den hier interessierenden Sachverhalt, zur ganzen Palette Berliner Zeitungsblätter von der Staatszeitung über den Freimüthigen bis zu Karl Gutzkows frühem publizistischen Paukenschlag, dem Forum der Journalliteratur. „Wohl hat die Journallistig [!] bei uns ein eignes Forum, / Weil sich ein andres Gericht mit dem Plebs nicht befasst hat. –“35 Oder zu dem damals viel gelesenen Beobachter an der Spree: „Sag, was beobachtest Du? Der Spree silbernes Wasser. / Und was verhüllet das Naß? derren [!] trocknen Sand. –“36 Wie gut der ‚Tunnel‘ beraten war in seiner proklamierten und bei Verstoß mit Ausschluss strafbaren Öffentlichkeitsabstinenz, bezeugt die dritte, Schriftstellern vorbehaltene Gruppe Xenien. Sich in bester Gesellschaft wähnend, ließ Smidt Berlin und seine Dichter aufmarschieren, um ihnen Gehässigkeiten zu sagen. Er positionierte die mit Xenien Vorgeführten und damit sich selbst: Raupach, Varnhagen von Ense, Chamisso, Fouqué, Ludwig Robert, Alexander Cosmar (immerhin ab Dezember 1834 selbst ‚Tunnel‘-Mitglied), Willibald Alexis u.s.w. Dass dabei nicht ausschließlich Böswilliges und Bissiges zum Zuge kam, bezeugt das Distichon auf Chamisso: „Du hast den Erdball umsegelt, im Geleite Apoll’s und
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früher Anführer einer berüchtigten Räuberbande im Schwarzwalde.“ UB der HUB, Tunnel-Archiv, Späne, Bd. 2 (1828/29), Bl. 373 (Span 0490.257). Statuten des Sonntags-Vereins zu Berlin. § 12. Als Manuscript gedruckt. Berlin 1835. Fontane: Autobiographische Schriften (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 230. UB der HUB, Tunnel-Archiv, Späne, Bd. 4 (1830/31), Bl. 134 (Span 0778.109). Ebd.
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Minerven. / Schmelzest mit zaubrischem Sang Norden und Süden in Eins“.37 Anders klingt es schon bei Fouqué, dem ins poetische Stammbuch diktiert wurde, dass passé sei, was seinen Namen trage: „Alter Sänger und Ritter wohl standen Dir Harnisch und Leier; / Nun das Costüm nicht mehr taugt / lege gefälligst es ab“.38 Und Willibald Alexis, der im Freimüthigen vor nicht zwei Jahren gegen Saphir und die ‚Tunnelianer‘ zu Felde gezogen war, konfrontierte Smidt mit dessen Roman-Figur. Sie sollte Alexis, der in der ‚Mittwochsgesellschaft‘ tonangebend war, zur Besinnung und aus der journalistischen Welt fort rufen, um sich seinem Vorbilde Walter Scott wieder zu nähern: „Wöchentlich sagst Du freimüthig, wie Du Dich quälest und windest. / Laß ab, Walladmor ruft, kehre nach Schottland zurück“.39 Dass der Verein für dergleichen Kost, die ihn wenigstens die frische Luft öffentlicher Fehden ahnen ließ, nach wie vor ein offenes Ohr hatte, zeigte die Bewertung: ‚größtentheils gelungen‘. Sie musste natürlich auf eine Detailkritik verzichten, bekannte sich im Urteil aber zum Berlin-spezifischen Charakter, der nur zu gerne seine literarische Produktivität aus der Reibung im Literaturbetrieb bezogen hätte. Aber Smidts Versuch, diesem großstädtischen Zug wieder Raum zu verschaffen, griff nur im Mikrokosmos des abgeschirmten Vereinssonntags. In Alexis oder Robert, der Saphir auf üble antijüdische Weise in seine Bühnespektakel einbaute, nahm der junge Smidt die alten ‚Tunnel‘-Feinde ins Visier und erneuerte damit sowohl die Berlin-Bindung als das Berlin-Gebundensein. Eine Erneuerung öffentlicher Fehdenkultur, die polarisierte und damit qualifizierte, stand indes außerhalb ihrer Möglichkeiten: substantiell und vereinsrituell. 8. Am 1. Juli 1832 bewertete der ‚Tunnel‘ Drei Nachtbilder, die der versiert lesende Schauspieler Louis Schneider vortrug, mit „mittelmäßig“.40 In den Späne-Bänden finden sich die Beiträge nicht – und auch nicht alle nachfolgenden, die Schneider, offenbar unberührt vom reservierten Urteil, unter gleicher oder ähnlicher Titelflagge bis zum 13. April 1834 den Vereinskollegen überhalf. Wieder griff das serielle Prinzip – die Berliner Nächte, von denen erzählt wurde, bildeten eine lange Linie durch die Jahrhunderte: so Der Prinz von Nassau (Die Nacht vom 3. auf den 4. April 1677), Spener (Die Nacht vom 12. zum 13. April 1728) und Der alte Zieten (Die Nacht vom 21. auf den 22. Juli 1756).41 Der regional-lokale Charakter, der Ort und die Personnage der Handlung bestimmte, wurde verzopft mit der brandenburg-preußischen Geschichte: ein offenbar tragfähiges Modell. Je länger
37 UB der HUB, Tunnel-Archiv, Späne, Bd. 4 (1830/31), Bl. 134 (Span 0778.109). 38 Ebd. 39 Ebd. 40 UB der HUB, Tunnel-Archiv, Späne, Bd. 5 (1831/32), Bl. 227 (Span 0936.133). 41 Diese Nachtbilder finden sich wiederabgedruckt in: Behrend: Kinder- und Flegeljahre (wie Anm. 2), S. 95–111. Sie sind 1835, 1870 und in einer bearbeiteten Form 1924 in Buchform erschienen. Andere Nachtbilder widmen sich den Nächten vom 11. auf den 12. April 1159 (Albrecht der Bär), vom 19. zum 20. Oktober 1322 (Konrad Schütze), vom 12. auf den 13. September 1335 (Der Propst von Bernau) bis in die für Preußen im 19. Jahrhundert legendärste Zeit der napoleonischen Befreiungskriege (Der Kosak. Die Nacht vom 27. auf den 28. Februar 1813).
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Schneider an dem Zopf knüpfte, je besser wurde die Benotung, die er dafür kassierte. Nachahmer blieben mit Alexander Cosmars (‚Geßner‘) Berliner Lebensbildern42 oder Karl Löwes (‚Puffendorf‘) Berliner Nachtbild 43 nicht aus. Acht Tage verweilte ich bereits in Berlin. Am Montag war ich angekommen; am Dienstag hatte ich das theure Chambre garnie vertauscht, am Mittwoch mit einem berühmten Schneider mit wichtigen Unterhandlungen wegen meiner Garderobe gepflogen, am Donnerstag hatte ich, Rumpf’s Fremdenführer in der Hand, belehrende Wanderungen durch Berlin unternommen, am Freitag war endlich der neue schwarze Anzug einpassirt, mit dem ich am Sonnabend ein halbes Dutzend Empfehlungsbriefe glücklich untergebracht, und auf Sonntag eine Einladung zum Thee bei dem Geheimrath Zipfel erobert hatte.44 Das Berlin im ‚Tunnel‘ war ins Narrative, wenn nicht ins Redselige geraten. Wo Smidt mit seinen Berliner Xenien Leben in die ‚Tunnel‘-Bude bringen wollte, brachten Cosmars Lebensbilder gutwillig geduldete und ebenso gutwillig honorierte Langeweile. Schneider und Cosmar hatten für sich die Berliner Geschichte(n) entdeckt. Hiermit genug. Der ‚Tunnel‘ erwies der Stadt, die ihn prägte und um deren Prägung er in wechselvoller Geschichte bemüht war, seine Referenz – in Maßen, nicht maßlos. Er beschränkte sich dabei keineswegs auf die Lyrik, sondern aktivierte in diesem ersten Jahrzehnt eine erstaunliche Bandbreite an literarischen Ausdrucksformen, die am Ende zur Prosa führte – einerseits in Form der historischen seriellen Kurznovelle, andererseits in Form der IchErzählung, die Berlin ‚erobert‘. Der Schauplatz Berlin konkurrierte und harmonierte mit dem Ort literarischen Lebens gleichen Namens, in den man sich wirkungsvoll einschalten möchte und vor dem man empfindlich zurückscheute. Man entzog sich mit seinem literarisierten Berlin jenem explosiven Terrain von Theater und Presse, büßte dabei an innovativer Kraft ein und wurde dennoch zum Vorläufer einer patriotischen Dichtung, wie sie Fontane dann mit seinen Preußenliedern auf den alten Derflinger oder den alten Dessauer prägen sollte. Zu keinem späteren Zeitpunkt wird Berlin einen vergleichsweise gewichtigen Platz in der literarischen ‚Tunnel‘-Produktion einnehmen. Dass die Einschränkung – die auch eine in der Formenvielfalt ist – wettgemacht wurde durch eine Renaissance von Ballade und Lied, besagt nichts über den Preis, den die Preisgabe des kreativen, experimentellen BerlinBezugs bedeutete.
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UB der HUB, Tunnel-Archiv, Späne, Bd. 8 (1834/35), Bl. 106–115 (Span 1507.77) und weitere in den nächsten Sitzungen. 43 UB der HUB, Tunnel-Archiv, Späne, Bd. 8 (1834/35), Bl. 132–140 (Span 1515.85). 44 UB der HUB, Tunnel-Archiv, Späne, Bd. 8 (1834/35), Bl. 106 (Span 1507.77).
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Nachrichten aus der Provinz Berlin-Korrespondenzen des jungen Gutzkow für das Morgenblatt und andere süddeutsche Journale
Karl Gutzkow, geboren 1811 in Berlin, hat sich zeitlebens engagiert mit seiner Vaterstadt auseinandergesetzt. Er hatte hier familiäre Wurzeln, verlebte hier seine Kindheit und Jugend, seine Schul- und Universitätszeit und besaß eine geradezu genuine Kenntnis der Berliner Lokalitäten, des Kulturlebens, der Gesellschaft und ihrer Mentalität. In seinem bewegten, von zahlreichen Ortswechseln begleiteten Schriftstellerleben blieb die preußische Hauptstadt ein zentraler Bezugspunkt, an dem sich Gutzkow aufmerksam, kritisch und leidenschaftlich abarbeitete. Die Reihe der journalistischen und feuilletonistischen Arbeiten, die Gutzkow aus und über Berlin geschrieben hat, ist lang. Alle wichtigen Entwicklungsphasen Berlins von der preußischen Residenzstadt der Restaurationszeit bis zur Reichshauptstadt der Gründerjahre hat er aufmerksam verfolgt, als Autobiograph subtil geschildert oder zur Kulisse großer Erzählwerke gemacht. Sein monumentales Werk Die Ritter vom Geiste (9 Bände, 1850/51) ist der erste bedeutende Berlin-Roman in der Literatur des 19. Jahrhunderts, der erste deutschsprachige Roman, der das Phänomen ‚Großstadt‘ in seiner Totalität, in all seinen Facetten und Zusammenhängen beschreibt. Zu den ersten Berlin-Texten Gutzkows gehören zahlreiche Korrespondenzen, die er zwischen 1832 und 1834 aus Berlin für süddeutsche Blätter schrieb und die lange verschollen waren.1 Sie bilden einen bemerkenswerten publizistischen Teil der frühesten Schaffensperiode Gutzkows und sollen hier nachfolgend vorgestellt werden. „Der junge Autor debütirt in Deutschland schlecht“, klagt Gutzkow 1834 im Vorwort zur zweibändigen Ausgabe seiner Novellen.2 Er führt diesen Umstand auf die rückständigen und provinziellen Verhältnisse im Deutschen Bund zurück, wo es „keine öffentlichen Plät-
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Ein Großteil der Korrespondenzen ist inzwischen wieder veröffentlicht in: Karl Gutzkow: Briefe und Skizzen aus Berlin (1832–1834). Hrsg., komment. und mit e. Nachw. v. Wolfgang Rasch, Bielefeld 2008 (= Aisthesis Archiv, Bd. 10). Quellenangaben hieraus erfolgen im Weiteren mit Angabe der Seitenzahl direkt im Text. Karl Gutzkow: Vorrede. In: ders.: Novellen, Hamburg 1834, Bd. 1, S. V.
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ze“ gäbe, „auf welchen sich die literarische Jugend, von Allen gesehen und von Allen belobt oder belacht, tummeln könnte“.3 Damit bezieht sich Gutzkow auch auf Berlin, Hauptstadt des seit 1815 zur europäischen Großmacht aufgestiegenen Preußen. Gutzkow zählt 1834 seine Vaterstadt spöttisch zu den ‚Winkelstädten‘ des Deutschen Bundes und dem Diktum des Düsseldorfers Heine aus dem Jahr 1822, „Berlin ist ein großes Krähwinkel“,4 dürfte der Berliner Gutzkow zehn Jahre später bedenkenlos zugestimmt haben. Berlin hatte um 1830 etwa 236.000 Einwohner (unter Einschluss des Militärs), 224 Straßen und Gassen, 22 Plätze und Märkte, 33 Gotteshäuser, mehrere Kasernen, zahlreiche Äcker und Gärten, sechs Gymnasien, zwei Theater und ein Opernhaus, ein Schloss und eine Universität.5 Die Stadt war vollständig von einer etwa vier Meter hohen Mauer umgeben und ließ sich in knapp vier Stunden zu Fuß umrunden. Die 15 Tore, die den Durchgangsverkehr ermöglichten, wurden abends geschlossen. Das Straßenpflaster war, wenn überhaupt vorhanden, miserabel,6 die nächtliche Beleuchtung trotz der 1826 eingeführten Gaslaternen armselig,7 die hygienischen Verhältnisse erbärmlich. Obwohl 1810 die Gewerbefreiheit eingeführt worden war, entwickelte sich das Berliner Wirtschaftsleben mühsam. Es basierte vor allem auf der Textilindustrie. „300 Spinnmaschinen mit 29,000 Spindeln, 4834 Weberstühle für Tücher, 25 Buchdruckereien und außerdem eine große Anzahl von Fabriken, Manufakturen und Märkten“ hält Wolffs Conversations-Lexikon 1834 für erwähnenswert.8 Die industrielle Revolution, die in anderen Ländern schon im Gange war, kündigte sich in Berlin erst leise an. Alte Zunftordnungen und -verhältnisse lösten sich gerade auf, der kapitalistische Markt trat an ihre Stelle und die Einführung englischer Maschinen machte viele Manufakturarbeiter erst einmal arbeitslos. Es fehlte Berlin an einer selbstbewußten, gebildeten und starken bürgerlichen Klasse, die den ökonomischen, politischen und kulturellen Fortschritt hätte fördern können. Berlin war stattdessen im Wesentlichen eine kleinbürgerliche Stadt und der Berliner Philister blickte über den Rand seines Stadtteils nicht hinaus. In diesem provinziellen und hinterwäldlerischen Milieu blieb das Bewußtsein, Bewohner der Hauptstadt einer europäischen Großmacht zu sein, vielleicht sogar der heimlichen Hauptstadt Deutschlands, unterentwickelt. Nicht nur wirtschaftlich, auch politisch gesehen waren Preußen und Berlin erheblich rückständiger als andere deutsche Staaten und Hauptstädte. Während in einigen Ländern des Deutschen Bundes schon Verfassungen erlassen worden waren, durfte in Preußen nicht einmal an das Verfassungsversprechen König Friedrich Wilhelms III. von 1810 und 1815 3 4 5 6 7 8
Ebd., S. V. Heinrich Heine: Briefe aus Berlin, in: ders.: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Bd. 6. Hrsg. v. Jost Hermand, Hamburg 1973, S. 19. Vgl. O. L. B. Wolff (Hrsg.): Neues elegantes Conversations-Lexicon für Gebildete aus allen Ständen, Leipzig 1834, Bd. 1, S. 196/197 (Artikel Berlin). Vgl. dazu Adolf Streckfuß: 500 Jahre Berliner Geschichte. Vom Fischerdorf zur Weltstadt. 3. Aufl., Berlin 1880, Bd. 2, S. 816. Vgl. dazu ebd., S. 817/818. Wolff (Hrsg.): Neues elegantes Conversations-Lexicon (wie Anm. 5), S. 197.
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öffentlich erinnert werden. Die politischen Verhältnisse in Preußen und in Berlin waren seit dem letzten Krieg vom „patriarchalischen Despotismus“9 Friedrich Wilhelms III. bestimmt, von politischem Stillstand und einer ängstlichen Unterdrückung jeder liberalen Regung. In den Gefängnissen der Stadt, in Köpenick und in Spandau, vegetierten Hunderte von politisch Verfolgten, Opfer der seit den Karlsbader Beschlüssen von 1819 begonnenen Demagogenverfolgung. Die Presse unterlag einer strengen Präventivzensur und vermittelte ihren Lesern nur ein sehr lückenhaftes Bild von den politischen Ereignissen in Stadt und Land. Selbst über bestimmte innerstädtische Vorfälle durften die Zeitungen nicht immer informieren. Ludwig Rellstab, lange Musikkritiker der Vossischen Zeitung, berichtet in seinen Lebenserinnerungen, wie es 1823 anlässlich der Eheschließung von Kronprinz Friedrich Wilhelm mit der Prinzessin Elisabeth von Bayern zu einem folgenschweren Unfall an einer der Spreebrücken kam, bei dem zahlreiche Menschen starben. Keine Berliner Zeitung durfte das Unglück bekanntmachen. „Ein Beweis“, so Rellstab, „wie unsere Angelegenheiten damals verschleiert geführt wurden!“10 In den Unterhaltungsjournalen und belletristisch-kritischen Zeitschriften waren politische Themen von vornherein ausgeschlossen. Nirgendwo wurde die Zensur so gnadenlos gehandhabt wie in Preußen. Gutzkow kommt in seinen frühen Korrespondenzen mehrfach darauf zu sprechen. Bagatellen wurden wie Staatsgeheimnisse behandelt, nahezu belanglose Mitteilungen hinter vorgehaltener Hand als aufsehenerregende Neuigkeit begierig aufgesogen. Im Lesecafé von Josty, so erinnert sich Gutzkow später, das vorwiegend von höheren Beamten und Militärs frequentiert wurde, fielen zuweilen einzelne Körner aus dem stillen Leben der Staatsmaschine. ‚General von Müffling geht an den Rhein als Gouverneur von Köln –‘ Ha! Eine damalige SensationsNachricht! Sie ging von einem der Pasteten kauenden Munde zum andern. Aber gesetzt, die Zeitung gegenüber [die Spenersche Zeitung, W.R.] oder die andere in der Breitenstraße [Sitz der Vossischen Zeitung, W.R.] hätte diese hochinteressante Nachricht bringen wollen, der Censor würde dabei mit blauer Tinte geschrieben haben: ‚Woher wissen Sie das? Quelle angeben!‘11 Politische Öffentlichkeit konnte angesichts dieser Repressalien weder existieren noch gedeihen. Politische Urteils- und Willensbildung war, so teilt Gutzkow seinen süddeutschen Lesern 1832 mit, wie „alle politische Parteiung auf die Nebenzimmer eines Kafés oder die stille Klause zweier Freunde verwiesen“ (46). Die Berliner literarische Szene, die in der ‚Mittwochsgesellschaft‘ Goethe auf den Thron hob, im ‚Sonntags-Verein zu Berlin‘, besser bekannt als ‚Tunnel über der Spree‘, nur dilettantische Verseleien, poetische Scherze und epigonalromantische, unpolitische Prosa zum Besten
9 Karl Gutzkow: Onkel Spener, in: ders.: Gesammelte Werke. Bd. 9: Oeffentliche Charaktere. 3. Aufl., Jena [1879], S. 429. 10 Ludwig Rellstab: Aus meinem Leben, Berlin 1861, Bd. 2, S. 208. 11 Gutzkow: Onkel Spener (wie Anm. 9), S. 429.
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gab, bot Gutzkow keinen Anhaltspunkt. Nach dem missglückten Versuch einer eigenen Zeitschrift, dem Forum der Journal-Literatur (1831), reiste der junge Berliner Intellektuelle im November 1831 nach Stuttgart, um dort seinen Mentor Wolfgang Menzel bei der täglichen Arbeit am Literatur-Blatt zu unterstützen. Gutzkow war tief beeindruckt von der illustren Gesellschaft an Dichtern, Politikern, Journalisten, Schauspielern und Gelehrten, die sich im Hause Menzels einfand. Er war fasziniert vom Gründergeist der Verleger, von den zahlreichen journalistischen und buchhändlerischen Möglichkeiten, die die Verlagsstadt Stuttgart bot, und er war hingerissen vom quirligen politischen und öffentlichen Leben in der Metropole einer konstitutionellen Monarchie, die ein markantes Gefälle zu Berlin und zum absolutistischen Preußen bildete. „Stuttgart und Berlin zu Ende des Jahres 1831“, so erinnert er sich 1844, welch ein Kontrast! Hier nur Wachtparaden, Ballettvorstellungen, stille SonntagNachmittagsruhe, dort die Zurüstung zu einem stürmischen Landtage, die Durchmärsche der flüchtigen Polen, die Begründung neuer Zeitungen, der Nachhall der rheinbayrischen Agitation. Mir schwindelten die Sinne in diesem Durcheinander von Reden, Gastmahlen, Toasten, Emeuten, in diesem Kontrast eines Repetitoriums über die Hegelsche Logik, das ich soeben in Berlin verlassen hatte, und eines so bewegten Schauplatzes, wie ich ihn in Süddeutschland antraf.12 Als Gutzkow im April 1832 nach Berlin zurückkehrte, hatte er vielversprechende Kontakte zu Verlegern und Redakteuren geknüpft, von Johann Friedrich Cotta die Einladung erhalten, an allen Blättern seines Verlages mitzuarbeiten, und mit zwei liberalen süddeutschen Tageszeitungen – dem in Freiburg erscheinenden Der Freisinnige und der Stuttgarter Deutschen Allgemeinen Zeitung – vereinbart, regelmäßig Korrespondenzen aus Berlin zu liefern. Noch von Stuttgart aus hatte sich Gutzkow am 5. April 1832 bei Karl von Rotteck um eine Stelle als Berlin-Korrespondent für den Freisinnigen beworben: Seit einem halben Jahr hab’ ich mich in Stuttgart aufgehalten, nicht ohne die Absicht, mit dem süddeutschen Leben vertraut zu werden. Jetzt denk’ ich mich in meine Vaterstadt, Berlin, wieder zurückzubegeben, mich also gleichsam vom Leben zum Tode zu bringen. Ich habe mir das Ziel gesteckt, mit der Feder durch den Strom des Lebens zu schwimmen, in Berlin müßte ich dabei Schiffbruch leiden! Ich kann aber nicht anders für die gemeinsame Sache des Vaterlandes, u namentlich meine Heimath wirken, als durch die Organe Süddeutschlands […]. Meine Kenntniß des Preußischen Staates ist detaillirt, mein langer Aufenthalt in Berlin hat mich mit den Ansichten der Preuß. Doktrinärs vertraut gemacht, ich habe in Berlin Verbindungen […], ich glaub’ also eine ersprießliche Correspondenz aus Berlin führen zu können.13
12 Karl Gutzkow: Schlözer und die Statistik, in: Kölnische Zeitung, 9. März 1844. 13 Gutzkow an Karl von Rotteck, Stuttgart, 5. April 1832. Fundort: Stadtarchiv Freiburg, Nachlaß Karl von Rotteck, Sign.: K 1/25, K VIII, Nr. 638.
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Das Schreiben ist für Gutzkows journalistisches Interesse und politisches Koordinatensystem aufschlussreich. Stuttgart ist Leben, Berlin der Tod. Unter preußischer Zensur kann er nicht schreiben und sucht daher den Anschluss an die süddeutsche Presse; als Liberaler will er in Süddeutschland für Preußen wirken, hier für ein ‚anderes‘ Preußen werben und auf diesem Wege die liberalen und nationalen Tendenzen im Norden stärken. Er betont gute Lokalkenntnisse, Kontakte zu Doktrinärs‚ also zu gebildeten liberalen Oppositionellen, Beziehungen zu Regierungskreisen, leider ohne Genaueres über seine potenziellen Informanten preiszugeben. Gutzkow bittet Rotteck ferner, eine Antwort an Wolfgang Menzel nach Stuttgart zu senden, nicht nach Berlin. Menzel dürfte daher aus Gründen der Konspiration Gutzkows Briefe aus Berlin an den Freisinnigen und an die Deutsche Allgemeine Zeitung vermittelt haben. Die Stuttgarter Allgemeine Zeitung, eine gemäßigt liberale Tageszeitung, erschien erstmals am 27. Juni 1831, wurde im November in Deutsche Allgemeine Zeitung umbenannt und im September 1832 vom Deutschen Bund verboten. Chefredakteur der Zeitung war Karl August Mebold (1798-1854), ein ehemaliger Tübinger ‚Stiftler‘ und Burschenschaftler, der 1825 „wegen Theilname an einer hochverräterischen Verbindung“14 zu einer zweieinhalbjährigen Festungshaft verurteilt worden war. Gutzkow dürfte ihn im Winter 1831/32 bei Menzel kennengelernt haben, denn Mebold war auch gelegentlicher Beiträger des Menzelschen Literaturblatts. Gutzkows Berliner Korrespondenzen beginnen Mitte Juni 1832 und enden am 20. September, sind mit einem Kreuz chiffriert und zum Teil von Zensurstrichen entstellt. Was ließ sich für eine politische Zeitung aus Berlin berichten? Das grundsätzliche Problem für einen Berliner Korrespondenten bestand in der Beschaffung wichtiger, aufschlußreicher und gesicherter politischer Meldungen. „Berlin ist kein konstitutioneller Ort“, schreibt Gutzkow 1834 an Georg von Cotta, wir haben in Verwaltungen und höherer Politik keine Oeffentlichkeit und es kostet bedeutende Anstrengung, in den Besitz interessanter und verbürgter Nachrichten zu kommen. […] Eine Berliner Korrespondenz drückt sich in jeder Zeitung, wo man sie trifft, nur lakonisch aus.15 Wer also nicht über persönliche Kontakte zu höheren Regierungsbeamten, Hofleuten oder Offizieren verfügte, war auf Gerüchte oder das Kaffeehausgeschwätz angewiesen oder übernahm schon gedruckte Meldungen aus anderen, nicht-preußischen Zeitungen. Gutzkow hatte, wie oben angedeutet, ‚Verbindungen‘, nutzte sicher auch Kontakte zu Freunden und Kollegen, um Neuigkeiten zu erfahren, oder berichtete, was er selbst gesehen und erlebt hatte. Seine Zeitungskorrespondenzen sind ein buntes Schnipselwerk, zusammengesetzt aus unterschiedlich kurzen Einzelpassagen, aus politischen Meldungen, Mei14 J. Hartmann: Karl August Mebold, in: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 21, Leipzig 1885, S. 152. 15 Johannes Proelß: Das junge Deutschland. Ein Buch deutscher Geistesgeschichte, Stuttgart 1892, S. 361.
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nungen, Glossen, Stimmungsberichten, Stadtklatsch oder selbst erlebten Vorfällen. Das thematische Spektrum ist groß: Gutzkow behandelt Kommunal- und Landesangelegenheiten, Verwaltungs- und Rechtsfragen, Beförderungen und Amtsenthebungen, den Zollverein, das Börsengeschehen, die Auswirkung des Hambacher Festes, Festnahmen Oppositioneller, das jährliche Manöver, Pferderennen, Volksfeste oder die erneut drohende Choleraepidemie. Er kommentiert aus der Sicht eines preußischen Liberalen die europäische Politik, die schwebende belgische Frage oder die Aufstände in Frankreich im Sommer 1832. Ironie ist ein wichtiges Stilmittel Gutzkows. Wenn er von der wachsenden Wettlust der Berliner angesichts des seit 1823 jährlich stattfindenden Pferderennens, eines Vergnügens der aristokratischen Elite, berichtet, assoziiert er englische Verhältnisse: „Man sieht, wir machen Fortschritte im Englischen; wie lange wird’s noch währen, und wir haben ein Parlament!“ (47) Mit einer vollkommen nichtssagenden Meldung vom Sommermanöver persifliert er die Hofberichterstattung der servilen Berliner Presse: „Des Königs Majestät hatte vor einigen Tagen das Geschick, innerhalb des Lagers einen Mißtritt zu begehen. Beim Aufsatteln verfehlte er den Steigbügel, und fiel der Länge nach zu Boden“ (63/64). Neben der heimlichen Schadenfreude, den König im märkischen Staube liegen zu sehen, verspottet Gutzkow die Hofberichterstattung der Tageszeitungen, wenn er abschließend hinzufügt: „zur Beruhigung Aller hat man von keinen unangenehmen Folgen gehört“ (64). Das Thema Zensur nimmt einen sehr breiten Raum in seinen Korrespondenzen ein. Gutzkow klärt den Leser über die spezifischen Zensurverhältnisse in Preußen auf, die strenger seien, als die Karlsbader Beschlüsse festlegten. Hoffnungsvoll blickt er einem neuen Pressegesetz entgegen, das von einer Kommission ausgearbeitet werden soll. Er informiert regelmäßig seine Leser über das Verbot einzelner Bücher, ganzer Verlage oder von Journalen wie Rottecks Allgemeinen politischen Annalen, wobei er hervorhebt, dieses Verbot sei aufgrund eines im Aprilheft erschienenen Aufsatzes Über die historischen Bedingungen einer preußischen Verfassung beschleunigt worden. Die Kernaussagen dieser von der Zensur als unbotmäßig und gefährlich eingestuften Abhandlung referiert Gutzkow knapp aber aufmerksam, denn dieser Aufsatz in Rottecks Annalen stammt, unter dem Kürzel K...z..w veröffentlicht, von Gutzkow selbst. Gewinnt man in diesen Korrespondenzen einen deprimierenden Eindruck von den Zensurverhältnissen und repressiven Zuständen in Preußen, so fällt dennoch auf, dass Gutzkow Berlin keineswegs nur als „monotonen Schauplatz des ‚patriarchalischen Despotismus‘“16 präsentiert. Unter einer scheinbar ruhigen Oberfläche gärt es. In Preußen mehren sich liberale Ansichten, regt sich der Oppositionsgeist und wächst die soziale Unzufriedenheit im Volk. Tendenzen einer subversiven Stimmung im Land werden von Gutzkow seismographisch genau aufgezeichnet und mit verhaltenem Optimismus registriert. Da betont er eine „freiere Ansicht, die bei uns immer mehr Anhänger und Freunde findet“ (45), schildert amüsiert die liberale Stimmung unter jungen Theologiestudenten, berichtet mit 16
Karl Gutzkow: Rückblicke auf mein Leben. Hrsg. v. Peter Hasubek, Münster 2006. S. 81 (=Gutzkows Werke und Briefe. Kommentierte digitale Gesamtausgabe. Autobiographische Schriften, Bd. 2).
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klammheimlicher Freude von der Flucht von Demagogen aus preußischen Festungen und trifft in seiner Korrespondenz vom 9. September 1832 die Feststellung, dass sich eine zunehmende Politisierung der Berliner Gesellschaft mit einer wachsenden politischen Reife verbinde, von der sogar das Militär ergriffen sei, neben dem ‚Altar‘ die zweite wichtige Stütze des preußischen Absolutismus: Selbst bei uns hören wir aller Orten die gesundesten Urtheile über die Gegenwart des gemeinsamen Vaterlandes. Es bilden sich Gesellschaften ohne Regel und Zwang, die die Erscheinungen des Tages sich gegenseitig erläutern […]. Die Polizei wird allerdings solchen hie und da auftauchenden Gesellschaften das Verbot ankündigen, aber staunen, welche Mitglieder sie zähle. […] Am meisten interessirt sich das Militär für solche Vereine […]. Unter den hier zum Manöwer versammelten Truppen ist die Mehrzahl der jüngern Offiziere von einem Geiste beseelt, der den Freunden der Freiheit nur willkommen seyn kann. Es ist mir das angenehmste Geschäft, diese Erfahrung bekannt zu machen.17 Gutzkow ergreift jede Gelegenheit, um auf Unruhe, Widerstand, Protest hinzuweisen. Selbst ein vordergründig harmloses Volksvergnügen wie der alljährlich stattfindende Stralauer Fischzug steht im Kontext verkappter politischer Oppositionsarbeit. Ein von der Polizei beschlagnahmtes Rundschreiben an Berliner Handwerker, die sich heimlich während des Fischzugsfestes in Stralau treffen wollen, nennt die Gründe der sozialen Unzufriedenheit und wird von Gutzkow aus zweiter Hand referiert; die Briefe seien „in höchst populärer Sprache“ verfasst und verurteilten beispielsweise die ungleiche Vertheilung der Steuern. Eine Maschine mache, hieß es, 50 Arbeiter unnütz, dennoch bezahle ihr Besitzer nur für Einen Mann Gewerbssteuer. Der Wohlstand sinke überhaupt immer mehr, es trete gänzliche Nahrungslosigkeit ein, die durch einen unnützen Staatsaufwand noch vermehrt werde. Unser Hof habe durch die neuesten Verheirathungen ein prunkendes Wesen angenommen, an die Stelle der früheren Einfachheit sey Luxus und Verschwendung getreten, die Theater verlangten einen Aufwand, der mit der allgemeinen Noth auffallend in Widerspruch stehe. […] Auch das Ungleiche des Verhältnisses unseres Nationalvermögens zu Dem, was wir leisten müssen, soll geschickt hervorgehoben und nachgewiesen seyn, wie eine Bevölkerung von 12 Millionen bei uns Dasselbe geben müsse, an Körpern fürs Kriegsministerium, an Geldern für die Finanzen, was Oesterreich bei einer Bevölkerung von 3 mal, Rußland von 5 mal soviel Menschen. (64) So bringt Gutzkow das, was die Polizei aus dem Verkehr zog, als scheinbar neutraler Referent geschickt in Umlauf und unter die Leute. Der Fall ist insofern bemerkenswert, als ein anderer Berliner Korrespondent mit einer gegenläufigen Tendenz ebenfalls über den Vorfall berichtet. Es ist Gutzkows Kollege am Morgenblatt für gebildete Stände Willibald Alexis, der 17
† Berlin, 9. Sept., in: Deutsche Allgemeine Zeitung Nr. 448, 16. September 1832, S. 2081.
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den Vorfall ins Lächerliche zieht und mit Behagen konstatiert, alles sei ruhig in Berlin. Über den Inhalt der konfiszierten Briefe verliert er kein Wort: Man hatte revolutionäre Briefe an die Altgesellen der Gewerke gefunden, daß sie Tische und Stühle für Redner bereit halten sollten, wenn sich solche fänden. Wer, der Berlin kennt und den Berliner Volkswitz, würde es wagen, als Redner vor Berlinern aufzutreten! Die Satire machte ihn in den ersten Minuten todt, wär’s auch nur mit der Redensart: ‚Was, der Kerl will was Apartes wissen, was wir nicht wissen thun!‘ […] Es ist hier kein Boden zu einem Hambacher Feste. Still und ruhig wie immer lief der berühmte Fischzug ab.18 Mit Willibald Alexis haben wir uns nun schon jener bedeutenden Zeitschrift genähert, für die Gutzkow auch als Korrespondent arbeitete, dem Morgenblatt für gebildete Stände. Das Morgenblatt für gebildete Stände, 1807 von Johann Friedrich von Cotta gegründet, 1837 umbenannt in Morgenblatt für gebildete Leser, war jahrzehntelang die führende deutsche Unterhaltungs- und Kulturzeitschrift. Sie bediente das Bildungs- und Unterhaltungsbedürfnis ihrer Leser mit einem klug konzipierten, enzyklopädisch angelegten Programm. Beiträge aus der schönen Literatur wurden gemischt mit Reisebriefen, Memoiren, Biographien, Beiträgen aus der Naturgeschichte, Technik, Altertumskunde, Pädagogik, Philosophie, aus der Völkerkunde oder Staatswissenschaft. Jede Nummer schloss in der Regel mit Korrespondenz-Nachrichten, die für eine aktuelle Berichterstattung aus allen großen europäischen Hauptstädten, aber auch aus entlegenen Provinzgegenden, ja sogar aus Übersee berichteten. Nur die aktuelle Politik blieb aus dem Programm der Zeitschrift ausgeschlossen; der politischen Berichterstattung diente ein anderes zugkräftiges Periodikum des Hauses Cotta, die in Augsburg erscheinende Allgemeine Zeitung. Den außergewöhnlichen Erfolg verdankte das Morgenblatt seinem vielseitigen Programm, den gediegenen Originalbeiträgen (keine Nachdrucke!) und dem guten Mitarbeiterhonorar, das gezahlt wurde. Die Verflechtung mit dem Cotta-Verlag, der als ‚Klassiker-Verlag‘ für fast alle, die sich auf dem literarischen Markt positionieren wollten, außerordentlich attraktiv war, erhöhte die Anziehungskraft der Zeitschrift für junge Autoren. Seit 1827 leitete Hermann Hauff (1800–1865) das Morgenblatt. Schon während seiner Rückreise nach Berlin im April 1832 begann Gutzkow für das Morgenblatt zu arbeiten. Er beteiligte sich bis 1835 mit Novellen, Reisebriefen, Skizzen sowie ersten dramatischen Versuchen am Blatt und lieferte für die Sparte KorrespondenzNachrichten zehn umfangreiche Beiträge aus Berlin, und zwar in zwei Zeitblöcken: Von Mai bis August 1832 sowie von Oktober 1833 bis Mai 1834. Die Briefe bilden keine geschlossene, aufeinander Bezug nehmende Folge, sondern erschienen sporadisch. Das Morgenblatt hatte seit seiner Gründung aus Berlin berichten lassen, u.a. von Willibald Alexis, der in den 1830er Jahren fortwährend aus Berlin korrespondierte. Gutzkow fädelt sich also mit Neuig18 [Willibald Alexis:] Berlin, Anfangs Septembers, in: Morgenblatt für gebildete Stände Nr. 229, 24. September 1832, S. 916.
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keiten aus dem Berliner Kultur-, Stadt- und Gesellschaftsleben in die Arbeit seines Kollegen und seiner Vorgänger ein. Oberflächlich betrachtet unterscheiden sich Gutzkows Morgenblatt-Korrespondenzen zunächst nicht sehr von denen seiner Kollegen. Themen sind Stadtverschönerung und -erweiterung, Lesekultur, Theaterleben, Universität, öffentliche Vorlesungen. Was Gutzkows Korrespondenzen zunächst besonders interessant macht, ist ihre Verwandtschaft mit einer um 1830 zuerst in Frankreich entstehenden literarischen Kleinform, der ‚physiologischen Skizze‘. Sie durchleuchtet und beschreibt das Großstadtleben mit seinen sozialen Charakteren, Typen, Gewohnheiten, Sitten, Moden, topographischen Gegebenheiten. Ihr Wesen liegt vor allem in der genauen Beobachtung des Alltäglichen. Auch Gutzkow schreibt einzelne Berliner Skizzen. In ihnen mischen sich persönliches Erleben und politisch-kulturgeschichtliche Reflexionen mit der genauen Schilderung topographischer Details und gesellschaftlicher Milieus. In diesen Diskursives und Fiktionales verknüpfenden Texten gelingen ihm eindrucksvolle Bilder urbanen Lebens und Lebenswandels. Diese literarische Kleinform städtischer Sittenbilder setzt Gutzkow in seinen Korrespondenzen fort. Im November 1833 beschäftigt er sich zum Beispiel skizzenartig ausschließlich mit dem Wandel der Berliner Alltagssitten und der sich ändernden moralischen ‚Physiognomie‘ der Stadt. Berlin sei eine bürgerliche Stadt, ohne jedoch eine aufrechte, couragierte, weltoffene bürgerlichen Klasse zu haben: „Der bei uns dominirende Bürger ist […] kein Großbürger, sondern ein Philister, ein Kleinstädter, welcher auf dem schönsten Platze Europas, im […] Lustgarten, stehen kann und niemals seine Vorstadt, seinen sogenannten Kietz, vergessen wird“ (79). Diese Dominanz des Kleinbürgertums und seiner Mentalität erklärt Gutzkow aus den ökonomischen Bedingungen des 18. Jahrhunderts. Aber jetzt sei „Berlin […] in einer Krisis begriffen, die mit einer merklichen Aenderung seines bisherigen Charakters enden wird“ (80). Die auffallenden Symptome dieser Krise erkennt Gutzkow an der sich wandelnden Alltagskultur Berlins. Gutzkow demonstriert das an drei Beispielen: An der wachsenden Reiselust seiner Mitbürger und dem beginnenden Bädertourismus, an der aufkommenden ‚Vergnügungsindustrie‘ mit ihren Tivolis und Volksbelustigungen, die mit ständig neuen und bis dahin nicht gekannten Knalleffekten die Zuschauer unterhalten, und an einer verfeinerten Eßkultur, die umso mehr ins Gewicht fällt, da man in Berlin bislang ausgesprochen schlecht gegessen habe: Wie sehr hat sich dieß seit Jahr und Tag verändert! Sie finden nach Wiener Art lange, unglaubliche, fabelhafte Speisekarten, welche nach den neuesten Grundsätzen der Kochkunst rubricirt und in verschiedene Fächer eingetheilt sind, welche alle die elegantesten und duftendsten Namen tragen. Man spricht jezt in den Speisehäusern von Salami, von Fricandeaus, man macht den bei uns bisher völlig unbeachteten Unterschied zwischen Backen und Braten, und lernt kleinen Nebenspeisen, welche der Italiener unter dem Namen Friture zusammenfaßt, eine verdiente Aufmerksamkeit schenken. […] Es bereiten sich außerordentliche Dinge bei uns vor, und ich behaupte, wenn irgend ein äußerer Anstoß, z. B. die Anlage eines neuen Theaters, hinzukäme, wir würden eine denkwürdige Revolution unserer Sitten erleben. (80)
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Gutzkow betont damit den unübersehbaren Wandel im Stadtleben, unterstreicht die Entwicklungsfähigkeit der Stadt, verweist auf eine mögliche Revolution der Sitten, die – unausgesprochen – Vorläufer einer politischen Revolution sein könnte. Anders als beim Gros der Korrespondenten ist bei Gutzkow eine ausgesprochen liberale und politische Tendenz erkennbar, obwohl Politik vom Programm des Morgenblatts explizit ausgeschlossen war. Schon die erste Berlin-Korrespondenz von Ende Mai 1832 beginnt mit einer politischen Frage, die von elementarer Bedeutung für den Schriftsteller ist: Die Pressefreiheit. Gutzkow fordert, „daß der preußische Staat die seinen Bürgern […] garantirte literarische Freiheit endlich gewähren müsse“ (39), und entwickelt im Anschluss ganz offen eine Schreibstrategie, mit der er demonstriert, wie die Zensur unterlaufen werden sollte: Dazu bedarf es keineswegs der Kunst eines Taschenspielers. Wo sich gegen ein System nichts sagen läßt, da läßt sich vielleicht gegen die etwas sagen, die es vertheidigen. Wo es zum Verbrechen angerechnet wird, den Mund eines Menschen zu beurtheilen, da lobe man das Kinn, das unter, und tadle die Nase, die über ihm sizt. (40) Gutzkow eröffnet seine Berliner Korrespondenzen ausdrücklich mit der Aufforderung, aufmerksam zwischen den Zeilen zu lesen. Und in diesem Sinne läßt er subtil, gewitzt, ironisch und manchmal sehr verwickelt seine preußenkritischen Ansichten in die Korrespondenzen einfließen. Wie ironisch-verwickelt, das soll abschließend an einem Beispiel deutlich gemacht werden: Schon im Jahr 1833 wird in Berlin eine Eisenbahnverbindung Berlin-Potsdam angeregt. James Schumann macht am 28. Juni eine diesbezügliche Eingabe an den König und an das Ministerium des Innern mit einer ausführlichen Denkschrift, in der er betont, die verbesserte Verkehrsverbindung bringe beide Städte näher, ohne sie je zu verschmelzen in einen Residenzkoloß, sichert das kleine Potsdam, daß das größere Berlin es nie verschlinge, und gewährt beiden doch die Vorteile einer so innigen Vereinigung. Die Einwohner beider Städte werden sich dann einander immer mehr nähern und in eine Gemeinschaft treten, welche jetzt so häufig nicht gefunden werden kann […]. (190) Die Anlagekosten werden auf 300.000 Taler geschätzt. Über dieses Projekt berichtet Gutzkow im Dezember 1833. Dabei schlüpft er in die Rolle eines glühenden Berliner Lokalpatrioten, dem die ganze Richtung nicht passt und der die Eisenbahnverbindung nach Potsdam missbilligt. Er bemüht zuerst das Kostenargument – lohnt sich der finanzielle Aufwand für ein Ausflugsvergnügen? „150,000 [Berliner] kennen Potsdam nicht,“ so Gutzkow, „und werden ruhig sterben, ohne die Terrasse von Sanssouci bestiegen zu haben; allein auch die übrigen 90,000 scheinen in Potsdam nie mehr gewollt zu haben, als es zu sehen“ (90). Ein fragwürdiges Vergnügen in seinen Augen. Ansonsten sei die täglich mehrmals nach Potsdam fahrende Kutsche „fast immer leer, und das ist sehr vernünftig; denn in Potsdam ist nichts als Langeweile“ (90). Die wenigen Passagiere, die dennoch dorthin fahren, sind der Rede gar nicht wert: Ein Vorstädter, der seinen Vetter besucht, ein Jude, der bei einem Leutnant
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Schulden eintreibt, ein altes Weib, das Kommissionsgeschäfte macht: „Für diese Menschen soll eine Eisenbahn, was eben so gut ist, als hätte ich gesagt, eine Million geopfert werden?“ (91) Der Gedanke, für eine Eisenbahn nach Potsdam bedeutende Ausgaben investieren zu müssen, ja der Gedanke an Potsdam schlechthin empört den Berliner: „Nein, die Berliner gewinnen nichts durch Potsdam; denn wir kreuzigen uns, wenn wir von dieser Einöde hören; wie kann man in Potsdam leben! uns ist das ganz unerklärlich“ (91). Auf ihre Kosten kämen nur die Potsdamer, die dem Berliner notorisch zur Last fallen, da sie „uns mit jenen gemeinen Manieren ärgern, welche die Potsdamer bekanntlich zu den unausstehlichsten Geschöpfen in ganz Brandenburg machen“ (91). Die Option, dem Potsdamer die Fahrt nach Berlin zu erleichtern, ist ein schlagendes Argument, das Eisenbahnprojekt kategorisch abzulehnen, denn: „wir wollen keine Potsdamer unter uns, wir wollen diese Leute nicht, welche es für elegant halten, statt ja immer allemal zu sagen“ (91). Nun bleibt noch die Frage nach den Exilberlinern in Potsdam, – denn, so Gutzkow, „Berlin wird von Potsdam gouvernirt“ (91) – nach den unfreiwillig in Potsdam arbeitenden Offizieren und Beamten. Denen wäre eine Eisenbahn zu gönnen. Aber gerade ihnen empfiehlt Gutzkow das Prinzip Langsamkeit, da die bedächtige, ruhige Fahrt durch die freie Natur den Beamten zum gründlichen Nachdenken bringt und den Offizier geduldiger, ausgeglichener, friedliebender macht. Für das Wohl des preußischen Staates und seiner Diener wäre es ersprießlicher, wenn alles bliebe, wie es ist. Gutzkow: Der preußische Staat würde weniger gut regiert werden, wenn sich jene drei Stunden auf dreißig Minuten verringerten; kurz, Eisenbahn überall! nach Pankow! nach Charlottenburg! auf der Spree nach Stralow! nur nicht nach Schöneberg und Potsdam! Sey dieß die Parole der Patrioten. (92) Gutzkow geht es also nicht prinzipiell um die Einführung von Eisenbahnen, es geht ihm um Richtung und Ziel. Für ihn kann der Abstand zu Potsdam, der Herzkammer des preußischen Absolutismus, der Ikone des preußischen Militärstaates, dieser „große[n] Kaserne“ (90), „dieser Einöde“ (91), mit Schlössern und Gärten auch ein Kleinod des Hohenzollernhauses, gar nicht groß genug sein. Nur dieser Distanz verdanke Preußen, so Gutzkow, seine „besten […] Feldherren […] und großen Staatsmänner“ (92), wobei er an die nach 1815 kaltgestellten Reformer wie Stein, Hardenberg, Humboldt oder Scharnhorst denken dürfte. Vordergründig karikiert Gutzkow den provinziellen Kleingeist, den lokalen Dünkel, die fortschrittsfeindliche Behäbigkeit des Berliner Philisters, die eifersüchtige Rivalität zum Potsdamer Nachbarn. Doch hinter der Karikatur wird eine politische Tendenz sichtbar: Mit der räumlichen Distanz zu Potsdam verbindet sich für Gutzkow die Distanz zum preußischen Absolutismus und dem herrschenden politischen System in Preußen. Fassen wir Gutzkows Bild von Berlin zu Beginn der 1830er Jahre zusammen, wie es sich aus den kaleidoskopischen Einzelbeobachtungen, Meldungen, Analysen, Skizzen und Episoden seiner Korrespondenzen erschließt: Berlin beschreibt er als kleinbürgerliches Pflaster, zurückgeblieben, provinziell, isoliert, ohne Anschluss an andere bedeutende Städte. Aber Berlin ist eine junge Hauptstadt und
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kann sich entwickeln. Berlin stecke sichtbar in einer Krise, verändere seine Lebens- und Alltagskultur, erweitere seinen mentalen Horizont, der Berliner Bürger emanzipiere sich langsam. Trotz seiner scharfen Ablehnung des preußischen Absolutismus möchte Gutzkow den süddeutschen Lesern Preußens Hauptstadt damit näher bringen und Vertrauen wecken. In Berlin gärt es selbst in den Reihen derjenigen, die einmal zu den Stützen des Regimes zählen sollen, der jungen Offiziere und Theologen. Anders als vierzig Jahre später in seinen Rückblicken auf mein Leben (1875), wo Gutzkow den erstarrten Zustand Berlins zu Beginn der 1830er Jahre betont, nur das „pedantische, engherzige, penible, philisterhafte Berlin von damals“19 im Auge hat, von einer „steifen, zugeknöpften, monotonen, ganz den Sonntagspredigten der Geistlichen hingegebenen“20 Stadt spricht, bieten seine Korrespondenzen ein differenzierteres Bild des vorindustriellen Berlins, in dem eine zunehmende Politisierung der Bürger, eine wachsende oppositionelle Stimmung und steigende soziale Empörung sichtbare Zeichen politischer Bewegung und hoffnungsfrohe Vorboten urbanen Wandels sind. Mit diesem verhalten optimistischen Blick auf Berlin sollte Gutzkow richtig liegen. Im Mai 1834 bricht er hier alle Zelte ab und verlässt eine – wie er ironisch formuliert hatte – „Winkelstadt“ des Deutschen Bundes, um ziemlich genau zehn Jahre später, im April 1844, in eine „Weltstadt“21 einzuziehen. In eine Weltstadt, die ihre Mauern durchbrochen, alte Vorurteile und Gewohnheiten über Bord geworfen, ihren kleinstädtischen Charakter verloren, an bürgerlichem Selbstbewußtsein gewonnen hat. Eine Stadt, die sich nunmehr „mit einem großen sittlichen Nationalleben in Zusammenhang zu setzen“22 versteht. Berlin hat innerhalb von nur zehn Jahren einen ‚Geist der Oeffentlichkeit‘ entfaltet, der Preußens Metropole endlich zu großen nationalen Aufgaben prädestiniert und auf unbestimmte Zeit zur heimlichen Hauptstadt Deutschlands macht.
19 Gutzkow: Rückblicke auf mein Leben (wie Anm. 16), S. 129. 20 Ebd., S. 128/129. 21 „Berlin ist eine Weltstadt geworden“, beginnt Gutzkow 1844 begeistert seine Berliner Eindrücke (Kölnische Zeitung, Nr. 104, 13. April 1844). Dieser Beitrag Gutzkows ist vollständig in der Internetausgabe von Gutzkows Werken und Briefen (URL: www.gutzkow.de) nachzulesen. 22 Gutzkow: Berliner Eindrücke (wie Anm. 42).
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Franz Kuglers Berliner Briefe 1848 Ästhetisch-politische Spaziergänge vom Vor- in den Nachmärz
In den Abendstunden des 18. März 1848 unternahm Franz Kugler, wie gewohnt, seinen täglichen Spaziergang, kam allerdings nicht weit. Sein Nachbar jagte ihm in einer Droschke entgegen und rief, der „Kampf sei ausgebrochen“.1 Es währte nicht allzu lang, so gieng der kunstreiche Aufbau der Barrikaden auch bei uns, rechts und links, vor sich; soweit wir die Friedrichstraße hinabsehen konnten, war Barrikade an Barrikade. Bald näherte sich das Feuern. […] Genug – unsre nächste Gegend blieb vom Kampf u. seinen absichtlichen und unabsichtlichen Gräueln verschont.2 Schon am folgenden Tag, einem Sonntag, wurden die Barrikaden jedoch wieder fortgeräumt, man fasste sich und wieder Mut, eine Flasche Champagner, aus Dankbarkeit, die Gefahr überstanden zu haben, und geleert mit einem Bekannten, tat ihr Übriges. Gedämpfte Zuversicht stellte sich ein und Kugler selbst sich den Bürgergarden zur Verfügung. „[M]eine Wenigkeit“, meldete er dem Dichter Emanuel Geibel zehn Tage später, sei „auch mit schwachen Anfängen dabei“.3 Er schloss sich den rasch gebildeten bürgerlichen Corps, die Menschen und Gebäude vor gewaltsamen Übergriffen schützen sollten, an und zog, „selbst ein gewaltiges Gewehr“4 schleppend, in den nächsten Wochen regelmäßig auf Wache. Trotz einer ungewissen eigenen Zukunft deutete er das Geschehen bald als einen „große[n] gewaltige[n] Schritt des Schicksals“, in dem „Weltgeschichte wandelt“, und war bestrebt, sich von der „Masse wechselnder Stimmungen“ nicht irritieren zu lassen. Ihn ekelte 1 2 3 4
Franz Kugler an Emanuel Geibel, 29. März 1848, in: Rainer Hillenbrand (Hrsg.): Franz Kuglers Briefe an Emanuel Geibel, Frankfurt/M. u. a. 2001, S. 149. Ebd., S. 149. Ebd., S. 149. Paul Heyse an Emanuel Geibel, 28. März 1848, in: Erich Petzet (Hrsg.): Der Briefwechsel von Emanuel Geibel und Paul Heyse, München 1922, S. 11; vgl. auch Kuglers Brief an Geibel vom 30. März 1849, in dem er von einer Patrouille berichtet. Er dränge sich nicht nach dem „Kriegsdienst […], aber mir ist mit der Muskete auf der Schulter doch ganz lustig zu Muth.“ Franz Kugler an Emanuel Geibel, 29. März 1848, in: Hillenbrand (Hrsg.): Franz Kuglers Briefe (wie Anm. 1), S. 152/153.
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„die radicale Schönthuerei“ an, wie ihn „das communistische Wesen immer wieder in Sorge“ hielt.5 Wo der 18-jährige Paul Heyse sich nur mühsam vom Anblick der Märzgefallenen befreien kann und sich gedrängt fühlte, das persönliche Geschick auf die Waage des Tages zu werfen,6 und wo der 29-jährige Theodor Fontane in schnellem Wechsel zwischen radikalsten und liberalsten Positionen lavierte, da zwang sich der 40-jährige Kugler zu Besonnenheit. Ich suche von den Spiegelfechtereien der einzelnen Erscheinungen, der momentanen Gegenwart abzusehen, einen Standpunkt der Betrachtung aus weiterer Ferne zu gewinnen, und ich glaube dann allerdings, daß […] eine neue weltgeschichtliche Epoche beginnt, in welcher das elende, hinterlistige Wesen der Kabinets-Politik und der KabinetsRegierung abgethan ist und allewege frei und offen nach volksthümlichen Principien gehandelt wird.7 Ihn trennte nicht nur eine Generation von den Jüngeren, sondern auch ein beruflicher Lebensweg, dessen individualisiertes Profil nicht leichthin im Zeitverschleiß weniger bewegter Monate seine Konturen preisgab. Er stand zu weit im Leben, um dessen bisherige Fundamente willentlich einzureißen, und hatte noch zu viel Leben vor sich, um Chancen, wie sie politische Umbrüche zu bieten vermögen, offenen Auges zu ignorieren. Seltsam sei es, schrieb er im Juni 1848, „den Kopf über dem Wasser behalten“ zu wollen, „wenn man mitten in den zischenden Wogen“8 stehe. Genau in dieser prekären Lage nahm er sich „eine besondere Arbeit vor“.9 Er durchstreifte die Berliner Straßen, besah sich architektonische Bau- und malerische Kunstwerke und tauchte die Feder, die ihm doch bequemer und genehmer zu Willen war als die Muskete, ins Tintenfass, „um über unser gesammtes neueres Kunsttreiben Rechenschaft“ zu geben. Den Ertrag, „stärker wie ein ansehnliches Trauerspiel“,10 publizierte er im Kunstblatt, der Beilage zum Cottaschen Morgenblatt, in dem er seit 1842 redaktionell tätig war. Sein Titel: Berliner Briefe, seine Verfasserschaft – anonym. Warum? Hatte die Entscheidung, nicht unter eigener erkennbarer Flagge zu schiffen, etwas mit jenem lebensgeschichtlichen Standort zu tun? Und wenn ja, inwiefern?
5 Ebd., S. 149. 6 Vgl. seine Briefe an Emanuel Geibel vom 20. und 28. März 1848, in: Petzet (Hrsg.): Briefwechsel (wie Anm. 4), S. 1-4 und 8-11. 7 Franz Kugler an Emanuel Geibel, 29. März 1848, in: Hillenbrand (Hrsg.): Franz Kuglers Briefe (wie Anm. 1), S. 149/150. 8 Franz Kugler an Emanuel Geibel, 22. Juni 1848, in: Hillenbrand (Hrsg.): Franz Kuglers Briefe (wie Anm. 1), S. 160. 9 Ebd., S. 160. 10 Ebd., S. 161.
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Ein preußischer Beamter mit literarischer und wissenschaftlicher Bildung Von Friedrich Eggers,11 Jacob Burckhardt12 und Theodor Fontane über Ehrenfried Kaletta13 bis zu Leonore Koschnick14 und Rainer Hillenbrand haben alle, die sich Franz Kugler zuwendeten, dem Reiz, der von dessen Lebensweg ausging, nicht widerstehen können. Dass einer, aus Pommern stammend, in frühen Berliner Studienjahren romantische Lieder dichtete und Heinrich Heine porträtierte, dass er in Chamissos Musenalmanach Noten und Verse publizierte, dass er die Kunstgeschichte zu einer wissenschaftlichen Disziplin entwickelte, die er seit 1835 als Professor der Berliner Akademie der Künste lehrte und in dickleibigen Handbüchern etablierte, dass einer 1843 ins Ministerium für geistliche, Unterrichtsund Medizinalangelegenheiten als ‚Hilfsarbeiter‘ – eine Art Dezernentenstelle – berufen und später zum Geheimrat ernannte wurde und dass einer endlich in den Berliner Literaturkreisen um den ‚Tunnel über der Spree‘ den Ton angeben sollte – das alles hat biographische Originalität. Es passte in keinen Rahmen. Wer nach einer Deutung suchte, konstruierte. Kugler selbst war schon früh das Mischungsverhältnis seiner Talente eine Sonderbarkeit, der er ironisch oder pathetisch Herr zu werden versuchte: So unterzeichnete er sich im Brief an Clara Hitzig, seine zukünftige Frau, mit „Doctor, Privatdocent an der Universität, Lehrer an der Kunstakademie, Redacteur des Museums, Mitglied vieler gelehrten und künstlerischen Gesellschaften, Dichter, Componist, Sänger, Maler, Kupferstecher, Lithograph etc. etc.“15 und verankerte als stabile Größe seiner Briefe das Selbstbild von dem zwischen Beruf und Berufung, zwischen Amtspflicht und Amtsfluch Zerrissenen: Man hat mich aus meiner Carriere, aus den Erfahrungen, die nach gründlicher Anstrengung sich eben zu bewähren anfing, herausgerissen, ohne daß es […] zu irgend einer Ordnung meines Seins, zu einem Aequivalent für das vorläufig Aufgegebene gekommen wäre. Der Ministerialstellung etwa freiwillig entsagen, kann ich natürlich nicht, sowohl aus Rücksicht auf meine Familie, als auf den mir eröffneten neuen und an sich so schönen Beruf, abgesehen davon, daß ich bei dem großen Vertrauen, das der
11 Friedrich Eggers: Franz Theodor Kugler. Eine Lebensskizze, in: Franz Kugler: Handbuch der Malerei seit Constantin dem Großen. 3. Aufl., bearbeitet v. Hugo von Blomberg. 1. Bd., Leipzig 1867, S. 1– 34. 12 Jacob Burckhardt: Briefe. Hrsg. v. Max Burckhardt. 10 Bde., Basel 1949–1986. 13 Ehrenfried Kaletta: Franz Theodor Kugler 1808–1858. Dichtungen, Breslau 1937 (= Sprache und Kultur der germanischen und romanischen Völker. B. Germanistische Reihe Bd. XXIV). 14 Leonore Koschnick: Franz Kugler (1808–1858) als Kunstkritiker und Kulturpolitiker. InauguralDissertation, Freie Universität Berlin, Berlin 1985, S. 194. Diese Dissertationsschrift, leider nicht als Buch in einem Verlag erschienen, ist die mit Abstand gründlichste Arbeit, die es bisher zu Franz Kugler gibt. 15 Franz Kugler an Clara Hitzig, 18. Juli 1832, BSTB München, NL Kugler, Franz, Sign. Ana 549, 1 (1831–38).
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Minister mir schenkt, ihn nicht kränken darf. Aber die andere Carriere, die ich [nachträglich eingefügt: fast] verlassen, hält mich dennoch mit tiefsten Pflichten fest.16 Dieses Selbstbild, multipliziert in zahllosen überlieferten Briefen bis zu seinem Tod, verwandelte sich widerstandslos in die Fremdwahrnehmung. War es zuerst die wissenschaftliche Laufbahn, die er durch die ministerielle gefährdet sah, wurde es nach 1848 noch einmal die poetische, die ihm den erworbenen Rang und Ruhm auf den anderen Feldern missliebig machte: „Er hätte“, schreibt Fontane in seinen Lebenserinnerungen, all das „gern hingegeben, wenn er einen großen Dichtererfolg dafür hätte eintauschen können“.17 Diese verführerischen Antinomien verfehlen ihren Zweck. Sie spielen die Vielfalt der Begabungen Kuglers und die Vielfalt der Orte, an denen sie sich verwirklichte, gegeneinander aus. Wie Kugler in seiner Wahrnehmung selbst, sehen sie ihn an einem Ort agieren und sind besorgt, dass er dabei die anderen vernachlässigen muss. Für die Berliner Briefe ist maßgeblich, dass sein Verfasser ein preußischer Beamter mit literarischer und wissenschaftlicher Bildung war. Es ist wichtig zu wissen, dass dieser Beamte in seinem Selbstverständnis als höherer Verwaltungsbeamter sich sowohl als „Repräsentant des Volkes“ begriff als auch als Teil von dessen „moralische[m] Fundament“.18 Notiert sind die Briefe von einem Mann, der über kunstpraktische Erfahrungen verfügte und die Abbildungen seiner Fachbücher zu Teilen selbst anfertigte, aber ebenso von einem Mann, der diese künstlerische Tätigkeit als eine Angelegenheit verstand, die den Staat anzugehen habe: handfest praktisch und nicht minder handfest ideell. Die Lektüre der Briefe gewinnt Substanz durch ihren biographischen Subtext, bedenkt man, dass ihr flanierender Autor bereits 1846 tief verdrossen über den Zustand der öffentlichen Verhältnisse war, in denen ihm „Schlendrian, Philistrismus und Dilettantismus“19 den Ton angegeben hatten, so dass es ihm 1847 willkommen war, auf amtliches Geheiß eine Kunst und Staat thematisierende Schrift abzufassen. Die Schrift hatte er unter den Titel Ueber die Kunst als Gegenstand der Staatsverwaltung, mit besondrem Bezuge auf die Verhältnisse des preussischen Staates gestellt und mit den Sätzen eröffnet: Wie die Wissenschaft dazu berufen ist, den Menschen geistig frei zu machen, die Bestimmung der Kunst, ihm das Gepräge des geistigen Adels zu geben. mithin die Staatsregierung, wenn es überhaupt zu ihren Pflichten gehört, die des Volkes zu fördern und zu leiten, diese Sorge nicht bloss der Wissenschaft, auch der Kunst zuzuwenden haben.20
so ist es Es wird Bildung sondern
16 Franz Kugler an Carl Grüneisen, 26. März 1846, DLA Marbach, Cotta-Archiv, A: Grüneisen. 17 Theodor Fontane: Von Zwanzig bis Dreißig, in: ders.: Autobiographische Schriften. Hrsg. v. Gotthard Erler u. a., Bd. 2, bearbeitet v. Peter Goldammer, Berlin, Weimar 1982. S. 179/180. 18 Leonore Koschnick: Franz Kugler (wie Anm. 14), S. 194. 19 Franz Kugler an Gottfried Kinkel, 9. Juni 1846, zitiert nach Wolfgang Beyrodt: Gottfried Kinkel als Kunsthistoriker. Darstellung und Briefwechsel, Bonn 1979, S. 280. 20 Zitiert nach Franz Kugler: Kleine Schriften und Studien zur Kunstgeschichte. Mit Illustrationen und andern artistischen Beilagen. Dritter Theil, Stuttgart 1854, S. 578.
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Der offizielle Auftraggeber hatte Kugler nicht hindern können, ein Reformprojekt zu skizzieren, das institutionell scharf zu Sache ging – immer unter der Prämisse, dass sich Kunst und Gesellschaft „in gegenseitiger Abhängigkeit“ befinden und dass ein (ideal gedachter) Staat „administrativ“ einzugreifen habe, damit sich „diese Wechselbeziehung zu beidseitigem Vorteil entwickelt“.21 Von Kunstpolitik konnte, als Kugler seine Stellung übernommen hatte, „kaum die Rede sein“22 – er hatte den sich daraus ergebenden Spielraum konzeptionell genutzt, Idee und Praxis zu verknüpfen: Wilhelm von Humboldt und Friedrich Wilhelm IV. gleichsam Arm in Arm als seine Gewährsleute und Patrone.23 Und er hatte elf Monate vor den März-Barrikaden gestanden, dass „das Mitregieren im Kleinen“ sogar anfange, ihm „Spaß zu machen“.24 Rainer Hillenbrand fixiert diese kulturpolitische und kunstpraktische Intention Kuglers ganz zutreffend, wenn er schreibt: „Alle Künste sollten durch feste Institutionen und durch garantierte Budget-Zuweisungen in den Genuß von öffentlichen Aufträgen, Preisen, Schulen, Stipendien, Subventionen etc. kommen“.25 Auch diese Schrift hatte Kugler, beiläufig, anonym publizieren lassen. Sollte hier diese Schrift durch sich wirken und dabei ihren offiziösen Charakter erkennen lassen, achtete Kugler tunlichst darauf, dass seine Berliner Briefe nicht als verkappte Botschaften eines Ministeriums gelesen würden, dessen Chef Johann Albrecht Friedrich Eichhorn im Visier derer stand, die mit Nachdruck und nachhaltig auf Veränderung drängten. Damit sind einige, wenige Sachverhalte genannt, die einen Begriff geben von jenem Autor, der den Lesern des Kunstblattes, die sich gerade wieder von den Schrecken des revolutionären Sturms zu erholen begannen, Sommer 1848 Berliner Briefe sandte, in der Hoffnung, dass sie – ja, in welcher Hoffnung eigentlich?
Betrachtendes Innehalten Berliner Briefe oder Briefe aus Berlin – mit diesem Titel stellte Kugler seine Texte unter ein großräumiges Dach. Nichts an ihm verwies auf den Inhalt. Kaum eine damalige regional oder überregional orientierte Zeitung verzichtete auf eine so oder ähnlich bezeichnete Rubrik. Sie diktierte keinen Umfang und ließ dem Korrespondenten thematisch freie Hand. Denn in der Regel handelte es sich bei dem Verfasser um einen in Berlin ansässigen oder auf 21 Leonore Koschnick: Franz Kugler (wie Anm. 14), S. 199. 22 Ebd., S. 203. 23 Kuglers Verhältnis zum preußischen König war weithin ungebrochen, ganz anders als das zu seinen unmittelbaren Vorgesetzten, denen er mangelnde Kompetenz oder Unentschlossenheit und Schwerfälligkeit vorwarf. 24 Franz Kugler an Heinrich Kruse, 22. April 1847, Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf, hier zitiert nach Leonore Koschnick: Franz Kugler (wie Anm. 14), S. 194. 25 Rainer Hillenbrand: Vorwort, in: ders. (Hrsg.): Franz Kuglers Briefe (wie Anm. 1), S. 11. Es besteht – wozu Hillenbrand neigt – aus meiner Sicht keine Veranlassung, Kugler mit diesen Positionen in Schutz zu nehmen. Sie haben Hand und Fuß – und vor allem ein Potential, das sich mit den vormärzlichen Verhältnissen in Preußen nicht erledigt hat.
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Berlin spezialisierten Journalisten oder Kundigen. Die Rubrik versprach Unterrichtung aus erster Hand. In der Regel blieben die Artikel ungezeichnet oder wurden mit einem Kürzel bzw. Signum versehen. Kugler entschied sich für die drei Initiale T. L. S., was auf die Abbreviatur eines Namens schließen ließ. Über sieben Ausgaben des Kunstblatts verteilte er den Gesamttext, der sich aus drei Briefen zusammensetzte. Jeder Einzelbrief widmete sich einem Gegenstand genauer, erlaubte aber darstellerische Freiräume und ließ Platz für Nebenbemerkungen oder Anspielungen zum Tages- und Zeitgeschehen. Von ihnen machte Kugler reichlich Gebrauch. Der erste Brief annotierte das Ganze und wendete sich dann dem Zustand der Berliner Architektur zu. Im zweiten Brief nutzte Kugler das Bemühen, den bildenden Künstler Peter Cornelius in Berlin zu binden, um im gleichen Zuge sein kritisches Wort zum aktuellen Stand des Nord-Süd-Diskurses in die Debatte zu werfen. Und im dritten, letzten Brief endlich nahm er sich die diesjährige akademische Kunstausstellung vor, die vom Herbst ins Frühjahr vorverlegt worden war. Um einen Begriff von diesen Briefen zu geben, bietet sich ein kurzer Blick auf den ersten an. Mit seinem Auftakt gibt er alles Folgende vor. Er teilt mit, was er bezweckt, und muss, um den Kurswert der Mitteilungen hochzuhalten, seine Visitenkarte vorlegen. Kugler umgeht das Heikle dabei, in dem er einen direkten, mit den Gegenständen der Briefe vertrauten Adressaten setzt. Auf dessen wiederholte Mahnung hin, sich „über den Stand der künstlerischen Dinge in unsrer guten Residenz auszusprechen“, greifen „die des Schreibens entwöhnte[n] Finger wieder zur Feder“.26 Der Leser wird in dieser Konstruktion zum mittelbaren Adressaten, was ihm ebenso viele Freiheiten sichert wie dem Schreibenden. Er weiß ihn anwesend, aber zugleich im Hintergrund. Und er bewegt sich damit auch ihm gegenüber auf Augenhöhe. Wie in Heines Briefen aus Berlin aus dem Jahr 1822 bedient sich Kugler eines imaginierten Spaziergangs durch die Stadt: „Ich bitte, folgen Sie mir in unser grosses Opernhaus“, heißt es, „[l]assen Sie uns eintreten“ und „blicken Sie empor zur Decke, oder blicken Sie lieber nicht empor“ (630). Gegenwärtigkeit des Betrachteten wird erzeugt, eine dialogische Ebene eingezogen, der Angeredete liefert fingierte Stichwörter: „Sie fühlen sich überrascht durch den grossartigen Raum“ (630). Der in der ersten Person durch Berlin Flanierende – nach Selbstaussage, durch die Jahre zu eher bedachtsamen Urteil gelangt – zeichnet sich reserviert gegenüber dem, was „die Menge jubelnd beklatscht“, und markiert den eigenen Standort durch den „stürmische[n] Tag“, der gekommen sei und manchen „Schein“ der vergangenen Jahre habe „zerstieben“ lassen. Das betreffe das Allgemeine, aber gleichermaßen die Kunst. Nun erweise sich, „was auf festen Pfeilern und was (wie etliche Strassen in der Nordwestecke Berlins) auf beweglichem Infusoriengrunde gebaut war“. Diesem Bewegungs- und Auflösungsbild, dem eine Grenzscheide für die Stabilität von Urteilen zugeschrieben wird, stellt der Briefschreiber die eigene Position zur Seite: „auf einen Augenblick still zu stehen und über unser Gebiet eine rasche Rundschau zu halten“ (629). Der Bewegung in den Zeit- und Kunstverhältnissen 26 T. L. S.: Berliner Briefe. I, zitiert nach Franz Kugler: Kleine Schriften (wie Anm. 20), S. 628. Quellenangaben hieraus erfolgen im Weiteren mit Angabe der Seitenzahl direkt im Text.
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wird mit betrachtendem Innehalten begegnet. Zu verharren, wo alles einer Beschleunigung unterworfen ist, erscheint als ergiebige, aber nicht gefahrenfreie Position. Der Verfasser bringt diesen Umstand sogar ins Bild, indem er erzählt, wie ihn, als er mit dem Fernglas das Relief am Opernhaus studierte, sogleich „dichtes Volk“ umscharte, um „nach dem bedrohlichen Grunde meiner Aufmerksamkeit zu forschen“. Der an sich harmlose Vorgang des Betrachtens wird als Bedrohung empfunden – und diese Empfindung seiner „guten Mitbürger“ als zeitcharakteristisch weitergegeben (632). Der Blick, der aus diesem Innehalten geworfen wird, er fällt zuerst auf die Architektur der Stadt, die zu Kulissen revolutionärer Bewegung geworden ist: auf den Konzertsaal des Schauspielhauses, wo die Vorberatungen der Deputierten zur preußischen und deutschen Nationalversammlung gerade stattgefunden hatten, oder auf den Monumentalbau des Kriegsministeriums in der Leipziger Straße. „Es handelt sich“, schreibt Kugler, „um unsere Zukunft“, wenn hier noch einmal auf die „nicht durchweg erfreuliche nächste Vergangenheit“ (629) gesehen werde. Vergegenwärtigt wird Ebenmaß und Harmonie, vergegenwärtigt wird vor allem Friedrich Schinkel, als dessen Weg- und persönlicher Zeitgenosse (629)27 man sich bekennt. Wohl darauf bedacht, den Brief freizuhalten von Emphase und Eifer, gerät die Beschreibung, wie Schinkels Entwürfe des Museums verwirklicht worden sind, ins latent Symbolische. „Das kaum Gehoffte hat sich nun erfüllt und wir gehen kühl und ohne sonderliche Erbauung vorüber.“ (633) Zwischen darstellendem Text und Subtext wird eine Schnittstelle erzeugt. Der Leser weiß, was gemeint ist, ohne dem Gemeinten ausgeliefert zu sein. Der Briefschreiber plädiert für Nüchternheit, Sachlichkeit, auch Schlichtheit. Das lässt ihn die nur scheinbare Eleganz mancher Privatbauten verwerfen und Bauten loben, die direkt auf den Tag und indirekt auf die Zukunft verweisen: „Sicherheit und Bewusstsein des Daseins, klare, entscheidende und bedeutsame Form spricht sich ungleich erfreulicher in den mannigfachen Fabrikanlagen aus“. An diesen Gebäuden lobt er „gesundes Material und solide Construktion“ (640).28 In Korrespondenz zu den Forderungen des Tages fordert er: „Das monumentale Werk muss aus dem Bewusstsein des Volkes heraus geboren werden“, dies sei die wichtigste „Lehre der Neuzeit“ (634). Romantische Zutaten, die Mittelalterliches zitieren, sind ihm suspekt (640). Am freimütigsten gibt sich der Briefschreiber in seiner Kunstauffassung im dritten Brief zu erkennen – und steht in seinem Freimut schon mit einem Bein in den Kunstdebatten der beginnenden fünfziger Jahre. Hat er im zweiten Brief in der Auseinandersetzung mit Cornelius bereits das Stichwort ausgegeben, wird er es bei der Beschreibung der Malerei entfalten. „Die Kunst kann am Ende“, heißt es in der Begutachtung von Cornelius’ Christus unter den Erzvätern in der Vorhölle, „doch nur Thatsäch-
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So erinnert sich der Verfasser an den Moment, als „wir im Zimmer des Meisters selbst“ dessen Gouache-Entwürfe begutachtet haben. In diesem Zusammenhang spricht Kugler auch seine Wertschätzung für das neue Musterkrankenhaus und Diakonissenanstalt Bethanien aus, wo Theodor Fontane wenig später Anstellung und zeitweilig Unterkommen finden wird (639).
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liches darstellen“ (654). Das liest sich wie ein Grundsatz und ist auch einer in diesen „Confessionen über die hiesigen Kunstzustände“ (643) Kuglers. Sie verknüpfen ihn mit der Forderung nach höherer „Gemeinsamkeit der Richtungen“ innerhalb der Kunst, die allerdings nur entstehen könne, wenn sie „für das Gemeinsame, d.h. für volksthümliche Zwecke, thätig“ (660) sei. Wenn „Realität“ gesagt und in der Kunst verlangt wird, dann ist „Wahrheit“ (664) gemeint. Geradezu programmatisch fällt die Kritik an Wilhelm von Schadows Brunnen des Lebens aus, wenn er als ein Beweis angesehen wird, „dass in der Kunst nur Realität, nur Gegenständlichkeit, nur wirkliche Wahrheit zum Heile führen kann“ (668). Und nicht minder programmatisch ist die Grenzlinie zur Tendenzkunst. Da wird gefragt, ob das überhaupt „noch Kunst“ sei, und das Recht zu dieser Frage mit dem aufgegebenen „Anspruch, uns zu […] erbauen“ (673), begründet. Hier verlieren die Briefe ihren Plauderton, geben nicht nur das Flanieren, sondern auch seinen Gestus auf und wechseln in den, der am besten mit der Wendung „wir verlangen“29 umschrieben ist. Sie nähern sich entschlossen und unübersehbar Kunstpositionen des poetischen Realismus und des programmatischen Realismus, ohne im Politischen schon in das Fahrwasser Ludwig von Rochaus und im Literarischen in das etwa der Grenzboten zu geraten. Indes: Kugler bestellt das Feld, auf dem der Berliner Realismus der fünfziger Jahre wachsen wird. Dazu gehört, um einen prominenten Beleg anzubieten, Fontanes erste poetologische Äußerung in der Öffentlichkeit, die er unter dem Titel Unsere lyrische und epische Poesie seit 184830 1853 (allerdings anonym) veröffentlichen wird. Nicht zufällig greift Fontane, um seine kritische Revue mit einem stabilen Fundament zu versehen, ausdrücklich auf die bildende Kunst zurück.
Zeugnis sich wandelnder Verhältnisse „Ich weiss nicht“, schreibt Kugler in seinem zweiten, Cornelius reservierten Berliner Brief, „ob man, vorfühlenden Sinnes, die Ausstellung absichtlich zur Begrüssung all der Dinge angeordnet haben mag, die uns dieses Jahr bringen sollte“.31 Wie an dieser Stelle, so zieht sich durch alle drei Briefe, die leicht eine kleine Broschüre ergäben, wie ein roter Faden eine Signalkette, die die kleine Feder des Verfassers mit dem großen Federzug der Zeitgeschichte verbindet. Auch noch auf den geringfügigsten Gegenstand, der referiert wird, fällt jener Märzblitz. Er gibt das Licht ab, in das alles gestellt wird, und Kugler fühlt keinerlei Veranlassung, darüber zu entscheiden, ob es sich um ein alles reinigendes Gewitter handelt oder um ein Wetterleuchten. Getragen von der Gewissheit, dass Kunst und Gesellschaft, was und wie immer geschieht, ursächlich verbunden sind. Die Briefe sind damit einerseits ein kunstgeschichtliches Dokument aus dem Jahr 1848, verfasst von einem reflektierten und kompe29 30 31
Vgl. u. a. T. L. S.: Berliner Briefe. I, zitiert nach Franz Kugler: Kleine Schriften (wie Anm. 20), S. 662. In: Deutsche Annalen zur Kenntniß der Gegenwart und Erinnerung an die Vergangenheit. Hrsg. v. Karl Biedermann, Leipzig 1853, S. 353–377. T. L. S.: Berliner Briefe. III, zitiert nach Franz Kugler: Kleine Schriften (wie Anm. 20), S. 656/657.
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tenten Mann, der historischen Sinn mit bewusster Zeitgenossenschaft verknüpft. Andererseits sind sie ein literarisches Zeugnis sich wandelnder Verhältnisse. Das sichert den Briefen eine Ganzheit und Geschlossenheit, als die sie in der Forschung noch nicht wahrgenommen worden sind.32 Kugler beschreibt intentionell den Ist-Zustand der Berliner Kunstzustände Mitte 1848 von außen und bewegt sich schreibend gleichzeitig im Innenraum von Ereignissen, die ihn schreiben. Das fügt sie in die Reihe seiner kunstpolitischen Schriften, denen nach Die Kunst als Gegenstand der Staatsverwaltung Januar/Februar 1849 der Entwurf Gesetz über die Organisation der Kunstanstalten folgte und im August desselben Jahres die Grundbestimmungen für die Verwaltung der Kunstangelegenheiten im preußischen Staate, die Paul Heyse erst nach Kuglers Tod anonym herausgab.33 Kugler vollzieht eine Bewegung mit, deren Vollzug er selbst Teil ist. Die wechselhaften Umstände verweigern, was er intendiert: die souveräne Außensicht, die über den Tag blickt. Im Gegenzuge entschädigen sie dadurch, dass sie der distanzierten Kunstschau Berlins chronikalische Zeitlupenaufnahmen einzeichnen. Wer sie identifiziert, wird in diesem angedeuteten Subtext bis zu jener merkwürdigen, dunklen Prophetie geführt, mit der Kugler schließt, bei der es aber nicht belässt. Dabei fällt Kugler wieder in jenen Ton, den er Heine, seinem Gefährten aus frühen Berliner Tagen, abgelauscht hat und, mag sein, den er kryptisch zitiert: Ich glaube, die Sonne steckt noch hinter den Bergen, und was ihr dafür haltet, möchte noch erst irgend ein dunstiges Scheinbild sein. Die Zeit und das Vaterland wollen sich erneuen; aber ihr wisst es, der alte Wundervogel des Orients bedarf, ehe er sich verjüngt, einer Läuterung in Flammen. Grosse Geschicke schreiten zunächst heran, bitter ernste, den Boden, auf dem wir augenblicklich noch stehen, bis in seine Grundvesten erschütternde.34 Dem zyklischen Geschichtsbild, das zum Verständnis der historischen Stunde und deren Bestimmung bemüht wird, verwandelt sich das frühsommerliche Junilicht über Berlin in ein Symbol der Zeitenwende. Die Visitierung der architektonischen und kunstbildnerischen Gegenwart weitet sich zu einer Vision, der das Blut der Märztoten erst Auftakt eines ungeheuerlichen Umbruchs, nicht der Umbruch selbst ist. Der den Kopf, wie es im Brief an Geibel hieß, über dem Wasser halten will, sieht die nächste noch viel größere Welle und 32
Auch Koschnick verzichtet darauf, sie in dieser Geschlossenheit zu behandeln. Sie greift Teile heraus und ordnet sie behandelten Einzelthemen zu (wie zum Beispiel Kuglers dezidierten Ausführungen zu Cornelius oder der Entwicklung seines kunstpolitischen Konzeptes). Hillenbrand liefert durch seine Edition der Kugler-Briefe an Geibel wichtiges biographisches Material, hat aber natürlich keine Veranlassung, den Bezügen auf die Berliner Briefe im Kommentar weiter nachzugehen. 33 Vgl. Franz Kuglers Briefe an Emanuel Geibel, in: Hillenbrand (Hrsg.): Franz Kuglers Briefe (wie Anm. 1), S. 354/355. Das Kultusministerium war über die posthume Veröffentlichung ihres ehemaligen Mitarbeiters verstimmt. Auch die von Friedrich Eggers auf Kuglers Anregung und Vermittlung 1850 verfasste Denkschrift über die Gesamtorganisation der Kunstangelegenheiten, die das Deutsche Kunstblatt 1851 veröffentlichte, ist diesem Komplex hinzuzurechnen. 34 T. L. S.: Berliner Briefe. III, zitiert nach Franz Kugler: Kleine Schriften (wie Anm. 20), S. 691.
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weiß nicht, ob er auch sie unbeschadet überstehen wird. Aber die Vision belässt es nicht beim Apokalyptischen. Sie verabschiedet ihre Leser mit einer prophetischen Besänftigung, in der sich Nation und Kunst wieder zu jener Harmonie finden, die nach Kugler im Vor- wie im Nachmärz ihr Eigentliches ist: Einst aber wird der Tag eines neuen Vaterlandes, eines neuen Volksthums erscheinen. Dann wird man auch einer neuen Kunst bedürfen, und die Formen ihrer Bethätigung, ihrer Stellung im Leben werden sich von selber machen. Dann wird man sich umschauen nach den Kräften der alten Zeit, welche die Stürme überdauert haben, nach den neuen Kräften, welche die Zeit gereift hat.35 Ob Kugler gemerkt hat, dass er hier erneut und ein letztes Mal Heine zitiert, und zwar jenen Heine, der dem deutschen Publikum die Pariser Gemäldeausstellung von 1831 referierte? Wie Kugler hatte auch der eine neue Zeit prophezeit, die eine neue Kunst gebäre, und wie dieser hatte auch er sie „in begeistertem Einklang“ gesehen und Worte gefunden wie „Vorgefühl einer Wiedergeburt“ und einer „ewigen Verjüngung“. Und ganz in verwandtem Sinne hatte auch Heine „die Zeitbewegung“ als der Kunst förderlich, nicht „schädlich“ begriffen und „egoistisch isoliertes Kunstleben“ verächtlich verworfen.36 Doch in zwei Punkten, und zwar in zwei entscheidenden, ist unvermittelbare Differenz markiert. Jene Kunst, die Heine beschworen hatte, sollte neu sein, ohne Vergleich. Nicht die „verblichene […] Vergangenheit“, sondern allein die lichte Zukunft war die Quelle ihrer Symbolik. Und war es auch den Franzosen, also einer Nation, aufgegeben, sie aus sich heraus zu schaffen, so stand für den Auftrag die Menschheit, nicht das Vaterland. Der Kugler der Berliner Briefe indes sähe sich am liebsten als Herold einer neuen „Epoche der vaterländischen Kunst“37 und widmet diesem Bild sein Wort zum Schluss. Es ist datiert auf den 20. Juni 1848.
Nachspiel Als Franz Kugler nach dem langen Spaziergang die Feder zurück ins Tintenfass steckte und das Geschriebene seinem Schicksal überließ, war er im nachmärzlichen Berlin angekommen. Mit den bald geschaffenen politischen Realitäten verloren jene Ereignisse, auf denen seine Berliner Briefe fußten und deren unentschiedenes Flackern ihr Licht gewesen war, jenes Profil, das Erneuerung oder Veränderung verhieß. Doch gerade in dieser allgemeinen politischen Konstellation, die als reaktionäre Wende oder konterrevolutionärer Gegenstoß wirkte, blieb der persönlichen Geschichte Kuglers ein Handlungsspielraum bewahrt: Am 7. Dezember 1848 berief ihn Friedrich Wilhelm IV. zum „Geheimen Regierungs- und vortragenden Rath“38 und sein neuer Minister, Adalbert von Ladenberg, übertrug ihm damit „die 35 Ebd., S. 691. 36 Heinrich Heine: Französische Maler, in: Heinrich Heine. Sämtliche Schriften. Hrsg. v. Klaus Briegleb. Dritter Band. Hrsg. v. Karl Pörnbacher. 3., durchges. Aufl., München 1996, S. 72/73. 37 T. L. S.: Berliner Briefe. III, zitiert nach Franz Kugler: Kleine Schriften (wie Anm. 20), S. 691. 38 Zitiert nach Leonore Koschnick: Franz Kugler (wie Anm. 14), S. 197.
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Angelegenheiten in Beziehung auf Kunst-Sachen, Kunst-Akademien und musikalische Institute“.39 Der Mann, der in seinen Berliner Briefen den Realismus als eine zeitgemäße Devise ausgegeben hatte, skizzierte auch gleich, wie er die Sache aufzufassen gedachte. Mochte er spüren, dass der zeitpolitische Zwischen- und Schweberaum, den die Berliner Briefe genutzt hatten, längst wieder eingerissen war, für ihn schien sich ein neuer Gestaltungsraum zu öffnen. Und erneut entschied er sich für eine Doppelrolle, die seinen Begabungen entsprach und versprach sich davon Gewinn für das Amt, das er nun bekleidete: […] es liegt mir daran, bei dem zweideutigen Verhältniß, in dem ich dem KunstPublikum als Kunstkritiker und als Kunstverwaltungs-Beamter gegenüber stehe, mich sans façon der Schaar der ausübenden Künstler anzureihen; es wird […] den Leuten […] zeigen, daß ihre Sachen von einem gehandhabt werden, der, in seiner Art, mit vom Handwerk ist.40 Wer auf beiden Seiten ist, ist auf keiner. Ob das auch für Kugler zutrifft, ist hier nicht weiter zu verfolgen. Sein Weg in den Nachmärz jedenfalls gerät konsequent. Er nahm seine Amtspflichten wahr, er bereiste Preußen, um die Theaterverhältnisse zu modernisieren, er verfasste Dramen und schrieb Novellen, er wirkte als Herausgeber und arrangierte das gesellige Leben in seinem Haus so, dass alle Künste in ihm vertreten waren. Und endlich trat er dem literarischen Verein ‚Tunnel über der Spree‘ bei, wo sich bald eine Gruppe formierte, die Fontane in seinen Erinnerungen mit Kuglers Namen zusammenbrachte, konzeptionell und personell. Er brach, mit einem Modewort unserer Tage, jenes Ideengerüst einer gemeinsamen Organisation der Künste in Preußen, an dem er seit den dreißiger und entschieden ab Anfang der vierziger Jahre arbeitete, herunter und benutzte dessen Bauteile dazu, es im Miniaturformat über die Zeit zu retten – oder in ihr zu platzieren. Ganz aus diesem Sinn heraus diskutierte der ‚Tunnel‘ Anfang 1851 die produktiv-gesellige Vereinigung mit Malern und Musikern, „zusammen 5 Gesellschaften“, sogar ein großer Saal war schon anvisiert worden. Fontanes Kommentar gegenüber seinem Freund Bernhard von Lepel: Ein Vertauschen unsrer Rauchkammer mit einem künstlerisch hergerichteten Lokale, wäre an und für sich schon ein großer Gewinn; die eigentliche Bedeutung unsres Vorhabens liegt aber tiefer. Eine Verschmelzung der verschiedenen Kunst-Elemente, kann (bei so häufiger Begegnung) und soll nicht ausbleiben. Beide Theile werden dabei gewinnen.41
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Adalbert von Ladenberg an Friedrich Wilhelm IV., 23. November 1848, zitiert nach Leonore Koschnick: Franz Kugler (wie Anm. 14), S. 198. 40 Franz Kugler an Emanuel Geibel, 18. November 1848, in: Hillenbrand (Hrsg.): Franz Kuglers Briefe (wie Anm. 1), S. 171. 41 Theodor Fontane an Bernhard von Lepel, 7. Januar 1851, in: Gabriele Radecke (Hrsg.): Theodor Fontane und Bernhard von Lepel. Der Briefwechsel. Kritische Ausgabe. 2 Bde., Berlin, New York 2006, S. 230.
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„Wir werden sehn“, schrieb er noch – und Kugler sah, wie die anderen auch. Was er sah, befriedigte ihn nicht. Es korrespondierte am Ende mit dem Schicksal seiner kunstpolitischen Reformschriften, besonders jenen aus den Jahren 1849 und 1850. Sein Kommentar, als er einen ihrer Vorläufer 1853 in seine Sammlung Kleine Schriften und Studien zur Kunstgeschichte aufnahm: „Die Veröffentlichung […] erschien nicht thunlich.“42 Über den Zuschnitt dieser Schriften selbst sagt das nichts – eher im Gegenteil.
42 Franz Kugler: Kleine Schriften (wie Anm. 20), S. 603.
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Berlin als imaginierter Raum der Revolution – nicht zuletzt am Beispiel Adolph Menzels
Menzels so berühmte wie kleinformatige Aufbahrung der Märzgefallenen aus dem Jahr 1848 ist recht früh zur Ehre der Geschichtsatlanten erhoben worden. Doch weniger der Ankauf des nicht vollendeten und dennoch signierten Ölbilds für die Hamburger Kunsthalle 1902, erst seine mediale Vervielfältigung als Imago der kanonisierten Revolutionserzählung ließ es zum Hauptwerk der Berliner Revolutionsbewältigung aufrücken. Heute scheint der kleinen Vedute des Gendarmenmarkts, jener privaten Meinungsäußerung des Bürgers Menzel, die das gesamte 19. Jahrhundert über im Atelier und in Privatsammlungen verborgen hing, nicht nur die Sichtbarmachung des Berliner Aufstandes, sondern die Repräsentation der Abb. 1: Joseph Karl Stieler, Friedrich Wilhelm IV., 1851 deutschen Revolution von 1848 insgesamt übertragen.
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Abb. 2: Adoph Menzel, Aufbahrung der Märzgefallenen, 1848
Selten wird der Versuch gewagt, einmal andere Bildquellen zu befragen, um aus den unterschiedlichen Blickwinkeln der Kontrahenten und nicht zuletzt des Publikums der Ereignisse ein umfassenderes Bild der Revolution von 1848 in Berlin zu zeichnen. In der Ausstellung der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg im Jahr 2008, Macht und Freundschaft1 im Martin-Gropius-Bau, hing unser Menzel in einem ansonsten leeren Raum einem der offiziellen Herrscherbildnisse Friedrich Wilhelms IV. nach 1849 gegenüber, um einen visuellen Kontrapunkt anzuschlagen. Die am Ende ästhetisch mißglückte Gegenüberstellung – ein Simulakrum musste gegen das Original antreten, da die Hamburger Kunsthalle ihren Menzel nicht ausleihen mochte – leistete eines gleichwohl: Sie trieb bewusst die beiden Konfliktparteien im Berlin von 1848 als Gegensatzpaar auf die Spitze: Dimensionsästhetisch liegen Welten zwischen beiden Gemälden, trifft Überformat auf Miniatur;2 gattungsspezifisch tritt ein Porträt gegen eine Vedute an, besser: ein Bildnis gegen ein Ereignisbild, das so recht nicht Historie sein will; zeitlich weiß das eine Tableau um den Ausgang
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Jürgen Luh, Ada Raev (Hrsg.): Macht und Freundschaft. Berlin – St. Petersburg 1800–1860. Ausstellungskatalog, Berlin 2008, S. 45 und Abb. 34, 35. Die Größenverhältnisse betragen 300 × 199 cm gegenüber 45 × 63 cm. Die im Katalog vorgenommene Gegenüberstellung der beiden Bilder kehrt die realen Größenverhältnisse von mehr als 20 : 1 allerdings ins Absurde um.
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des Treffens, während sich das andere dem mehr als unsicheren Verlauf widmet; technisch vergleicht man finito mit infinito, in das Menzel trotzig seine Signatur geritzt hat; bildstrategisch stehen sich Einzel- und Wimmelbild gegenüber; medial trifft Original auf Reproduktion. Zwei Vorstellungswelten der Revolution von 1848 prallten in der Ausstellung aufeinander, die uns hier nur insofern interessieren sollen, als der überdeutlich aufscheinende Kontrapost ein Bild von Berlin suggeriert, das auffallend defizitär wirkt, was die Stadt als imaginierten Raum der Revolution angeht. Beide Leinwände bemühen zwar den Stadtraum, rufen ihn für sich auf und binden ihn in ihr Konzept ein: Hinter Friedrich Wilhelm IV. werden die Linden bis zum 1851 eingeweihten Rauchschen Reiterstandbild Friedrichs II. sichtbar. Letzteres ist auf der Blickachse mit einem der 1844 geschenkten Rossebändiger Pjotr Jakob Clodt von Jürgensburgs ausbalanciert, um den Gedanken herrscherlicher Dominanz in die Tiefe zu führen, und auch die Zeughausfassade rückt das Arsenal zur Volksbändigung mehr als nötig in den Stadtraum. Menzel hingegen fokussiert zwar auf den Gendarmenmarkt als öffentlichen Raum, nutzt aber neben einer Vielzahl schwarzrotgoldener Fahnen im linken Bildfeld nur die trauerbeflorte Porticus des Deutschen Doms als Würdeformel: als standesgemäße Folie für den Berg an Särgen, der sich symmetrisch auf dem Katafalk davor türmt. Während für den regierenden Butt also alle Konventionen des siegessicheren Staatsportraits aufgeboten werden, scheint sich die Vorstellung von Berlin als Raum der Revolution, als Handlungs- wie Projektionsraum der Volkssouveränität, in die Karikatur, in die Flugschrift, bestenfalls in die krakelierende, nicht einmal zu Ende geführte Ölskizze eines desillusionierten Menzel zurückgezogen zu haben. Die Frage, ob es für die Jahre um 1848 eine Imagination der Stadt Berlin als ein führendes revolutionäres Zentrum überhaupt gab, soll mich hier leiten. Hatte die scheiternde Revolution wenigstens vorübergehend Einfluss auf das Vorstellungsbild der Stadt, wie es sich in den Bildmedien der Künste, vielleicht aber auch in der Stadt selbst niederschlug? Veränderte sie die Wahrnehmung der kleindeutschen Kapitale, als die sie damals schon angesprochen wurde, und wenn, auf welche Weise? Welche der beiden Parteien, die Revolution oder die Reaktion, besetzte das Image von Berlin in den Künsten, und zwar auf welchen Gebieten und mit welcher Nachhaltigkeit? Wie ephemer mussten die Bilder der Stadt ausfallen, um hier eindeutige Aussagen treffen zu dürfen, und wie diskret oder gar klandestin hatten sich die dauerhafteren einzukleiden? Ich versuche hier einen Überblick unter Einbezug aller Bildgattungen; als These sei verfolgt, dass Berlin im selben Maße wie andere Kapitalen der Revolution von 1848/49 Raum bot, dass aber nach deren Scheitern die Stadt als Realraum wie als imaginierter Raum möglicher Revolutionen dezidiert ausgeschaltet wurde. Anfangs gelangten vor allem in der Graphik Ansichten von Berlin in Umlauf, in denen das Verhältnis von Stadtbürgern und Hohenzollernmonarchie zugunsten der Ersteren neu geklärt schien. Doch so kurz Berlin in der Imagination der Revolution auftauchte, so heftig fiel die Gegenreaktion aus. Die Stadt wurde in der Tat nach 1848 künstlerisch besetzt – aber dezidiert antirevolutionär: imaginativ mit sprechenden Veduten, real mit Denkmälern. Was etwa in Eduard Gärtners peinlich genau erscheinender Ansicht Unter den Linden
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von 18533 prima vista wie ein friedlicher Sonntagnachmittag erscheint, versammelt bei näherem Zusehen nur noch spärliche Reste bürgerlichen Publikums auf Berlins Prachtmeile, während vor jedem Gebäude Militär und Polizei postiert ist und vom Lustgarten her Militärkolonnen anmarschieren. Unser aller Erwartung an das Berlin des 19. Jahrhunderts war die Folge, eine Militarisierung des Straßenbildes,4 eine Omnipräsenz der Pickelhaube. Ein derart imaginierter Raum namens Berlin, in dem die Spuren des Aufstandes sorgsam getilgt oder überschrieben erscheinen, hat dann bis zum Stechschritt der Wachregimenter Bestand gehabt.
Abb. 3: Verteidigung der Barrikade am Alexanderplatz
Nehmen wir kurz das Bild Berlins in Augenschein, wie es uns die Bildproduktion der revolutionären Tage – vor allem zwischen dem 18. und 23. März 1848 – vorstellt.5 Die auch aus anderen Zentren der Revolution, etwa Paris oder Wien, bekannten Barrikaden-Szenen fin-
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Eduard Gärtner: Unter den Linden, 1853, Alte Nationalgalerie. Vielleicht muss man besser von einer Re-Militarisierung oder nochmaligen Militarisierung sprechen, denn bereits im 18. Jahrhundert erscheint das Straßenbild Berlins auffällig militärisch geprägt und wird als solches wahrgenommen. Verteidigung der Barrikade am Alexanderplatz, Farblithographie, Institut für Hochschulkunde Würzburg, Sammlung des Verbandes Alter Corpsstudenten, Inv. Nr. VIII Be 4.
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det man hier wieder, offensichtlich in gleicher Dichte und Qualität.6 Meist kolorierte Lithographien, also Bildmedien mit vergleichsweise großer Auflage und Verbreitung, liefern sie doch nur den Typus schlechthin des Revolutionsbildes qua Barrikadenkampf. Aus umgestürzten Fahrzeugen und Karren gebildet, die mit Fässern und Planken auffällig unregelmäßig verstärkt sind, zieht sich eine pittoreske Straßensperre bildparallel durch die Darstellung. Nicht selten erscheinen diese offensichtlich schnell aufgeworfenen Barrikaden durch eine Aufgipfelung in der Mitte zentralisiert, eine Kompositionsform, die – verglichen mit den wenigen überlieferten Fotografien und Daguerréotypien7 – nicht gerade glaubhaft wirkt, geschweige denn militärisch effizient: Entweder hebt sich die Barrikade selbst pyramidal, es findet sich eine Fahne mittig aufgepflanzt, gerne auf einem Wagenrad, oder es krönt eine Zentralfigur als Barrikadenheros die Komposition; manchmal auch in Kombination. Der Barrikadenheros ermuntert seine Mitstreiter, wendet sich an das Militär oder fällt gar dramatisch, ein malerisches Menschenopfer für die Revolution.8 Weitere notwendige Bestandteile des Barrikadenbildes stellen die Verwundeten, die entweder aus dem Getümmel getragen werden oder schon verblutet am Boden liegen – ersteres Zeichen der Fürsorge unter den Revolutionären, letzteres der notwendige Preis des Barrikadenkampfes. Zum Darstellungstyp gehören ferner die Unordnung der Aufständischen, ein fröhlicher Individualismus, dazu eine Vielzahl an Waffen, deren Alter an das Arsenal eines Letzten Aufgebots denken läßt. Dem wird die starre Ordnung der Militärs entgegengesetzt, die formierte Masse, die gesichtslose, zum Diagramm geronnene Effektivität. Nicht in allen Darstellungen zu finden, aber bildargumentativ gewichtig ist die Unterstützung der Aufständischen durch die Bevölkerung. Revolutionäre sind nicht nur an der Barrikade, sondern auch in den Fenstern und auf den Dächern der umliegenden Gebäude postiert und setzen so die Barrikade in die Stadt hinein fort. Gewehrfeuer aus den Fenstern und Steinwürfe von den Dächern verdeutlichen nicht nur, dass der Barrikadenkampf eine Sache der gesamten Bevölkerung, also des Volkes, ist, sondern auch, wie wenig chancenreich der militärische Angriff auf die Stadt und ihre Bevölkerung, auf das Gesamte der Stadt, vorderhand zu sein scheint.9 Weitere Accessoires der Bildkonvention erkennt man in den 6
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Einen guten Überblick über die druckgraphischen und fotographischen Barrikadenbilder liefern Lothar Gall (Hrsg.): 1848. Aufbruch zur Freiheit. Ausstellungskatalog, Berlin, Frankfurt/M. 1998; ders. (Hrsg.): Wege. Irrwege. Umwege. Die Entwicklung der parlamentarischen Demokratie in Deutschland. Historische Ausstellung im Deutschen Dom in Berlin 2002; Wolfgang Cilleßen u. a. (Hrsg.): Lexikon der Revolutions-Ikonographie in der europäischen Druckgraphik 1789–1889, URL: http://www.uni-giessen.de/cms/fbz/fb04/institute/geschichte/fruehe_neuzeit/lexikon-der-revolutionsikonographie. Zum Folgenden vgl. Timothy J. Clark: The Absolute Bourgeois. Artists and Politics in France 1848–1851, London 1973, darin v. a. das Kapitel The Picture of the Barricade, S. 9–30. Fotografische Abbildungen von Barrikaden etwa in Gall: 1848 (wie Anm. 6), Abb. 449: Thibault, Daguerréotypie der rue St-Maur, Musée d’Orsay. Der Tod des Barrikadenheros wirkt wie eine Vorwegnahme der berühmten Fotografie Robert Capas aus dem Spanischen Bürgerkrieg. Das Wissen um die tatsächliche Zahl der Opfer – es waren etwa 300 zivile gegenüber 19 militärischen zu beklagen – ist damit allerdings nicht zu vereinbaren.
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Hilfstruppen, den Kindern und Alten, die Kugeln gießen, in den Zivilisten, die Fensterläden herbeischleppen, aus deren Bleiverglasung Munition gegossen wird, und in den oft jungen Gavroche-Typen, die den jungen Heroismus der Revolutionäre am besten zu verkörpern scheinen.10 Man möchte dieser Konstruktion der Revolution im Medium Barrikadenbild, wie sie in allen Hauptstädten der Revolution von 1848 existierte, vorderhand unterstellen, sie hätte sich durchaus besitzergreifend auf das Bild der Stadt Berlin legen können. Welche Möglichkeiten hätten sich hier geboten – man denke nur an Eugène Delacroix’ La liberté guidant le peuple von 1830 –, um etwa das historische Ereignisbild des Pariser Aufstandes mit einer Allegorie wirkmächtig zu amalgamieren. Alle Kennzeichen, auch alle Klischees des Barrikadenbildes sind hier wiederzufinden, desgleichen aber auch eine situative Kontextmarkierung, die das überzeitliche Klischee vom Barrikadenbild wirkungsvoll historisch in den Stadtraum rückbindet: Die trikoloregeschmückten Türme von Notre-Dame im Hintergrund verankern das allegorisch-stellvertretende Geschehen an seinen historischen Ort. Der deuxième jour des trois glorieuses, der 28. Juli 1830, ist nachvollziehbar ins Bild gesetzt, an dem Kirche und Rathaus der Revolution zufielen und Karl X. seinen Thron verlor. Nicht ohne Grund ist Delacroix’ Bildfindung, unternommen als Versuch einer neuen Historienmalerei, zu einer Ikone der Revolution schlechthin geworden.11 In Berlin lassen sich allenfalls Spuren einer derart ausgreifenden Imagination einer revolutionären Stadt finden – wenngleich ich Susanne von Falkenhausen nicht folgen will, wenn sie im „Barrikadenkampf [...] keine Grundlage für eine einheitsstiftende, nationale Bildmotivik“12 erkennen möchte. So erlaubt etwa eine heute häufig reproduzierte Ansicht der Breiten Straße südlich des Stadtschlosses,13 bildargumentativ nachzuvollziehen, wie das Barrikadenbild die beschriebenen Klischees abstreifen kann, gewissermaßen konkret und politisch wird – etwas, das Wirkung auf das Bild der Stadt ausüben hätte können. Das Blatt zeichnet sich vor allen anderen Barrikadenbildern Berlins dadurch aus, dass es in einer suggestiven Nachtszene die Barrikade dem Stadtschloß brüsk entgegensetzt, die Konfrontation zwischen Militär- und Zivilstand an der Barrikade also auf die generelleren Formeln Schwarzrotgold versus Schwarzweiß, Deutscher Bund versus Preußen, Demokratie versus Monarchie sowie Verfassung versus Ständeordnung bringt.
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In Berlin übernahmen diese Rolle die Schlosserlehrlinge Ernst Zinna und Wilhelm Glasewaldt. Zu den Berliner Barrikaden vgl. Heinz Warnecke: Barrikadenstandorte 1848, Berlin 1999 und Gerd Heinrich: Berlin am 18. und 19. März 1848. Märzrevolution, Militäraufgebot und Barrikadenkämpfe, Berlin, New York 1980 (= Historischer Handatlas von Brandenburg und Berlin Heft 6). 11 Zu Delacroix’ Bild vgl. zuletzt Arlette Sérullaz, Vincent Pomarède: Eugène Delacroix. La liberté guidant le peuple, Paris 2004. 12 Susanne von Falkenhausen: Zeitzeuge der Leere. Zum Scheitern nationaler Bildformeln bei Menzel, in: Claude Keisch, Marie Ursula Riemann-Reyher (Hrsg.): Adolph Menzel 1815–1905. Das Labyrinth der Wirklichkeit. Ausstellungskatalog, Berlin 1997, S. 493. 13 Erinnerung an den Befreiungskampf in der verhängnisvollen Nacht vom 18.–19. März 1848, Farblithographie, Landesarchiv Berlin, F Rep. 310, 105 b.
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Abb. 4: Barrikade in der Breiten Straße, 1848
Abb. 5: Johann Heinrich Hintze, Breite Straße, 1833
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Ein knapper Vergleich mit einer etwas älteren, politisch weit weniger aufgeladenen Stadtvedute Johann Heinrich Hintzes14 aus fast derselben Perspektive verdeutlicht, wie sorgfältig die Bildredaktion des Barrikadenbildes hier gearbeitet hat: Das Portal II des Stadtschlosses, das die Breite Straße als Zeremonialachse, etwa bei Umzügen und Exequien, nutzbar machte, indem die Straße mehr oder minder direkt darauf zuführte, tritt in die Fassade zurück und wird fast unsichtbar. Es geht dem Barrikadenbild also nicht um eine Binnendifferenzierung des Schlosses – etwa die sonst häufige Herausarbeitung des Altans, auf dem der Herrscher auftreten könnte –, sondern vielmehr um die abriegelnde Wirkung eines glatten Quertraktes, der die Straße absperrt, schon immer abgesperrt hat, und dem die Barrikade als ephemerer Sperriegel gewissermaßen nur parallel antwortet. Das einzige Element, das nicht zu dieser reduzierten Qualität des Stadtschlosses passt, ist die damals im Bau befindliche Kuppel Stülers. Sie war aber aus dieser Perspektive eigentlich gar nicht sichtbar, wurde darüber hinaus erst 1853 fertiggestellt. Zudem besaß sie eine klassische Kuppel über achteckigem Tambour, kein Klostergewölbe wie in der Lithographie, die wie ein Vorgriff auf die Reichstagskuppel Wallots wirkt. Diese Kuppel, so mein Verdacht, tritt wohl nur auf, um von der neudeutschen Trikolore wirkungsvoll verdeckt zu werden: Die Fahne steht hier gegen das so anders geartete Herrschaftszeichen der Kuppel, vom Mond fahl beschienen und in die rechte Hypotaxe gesetzt. Und als drittes Element der Bildredaktion werden in der Breiten Straße die vier Renaissancegiebel des Ribbeckhauses in der rechten Häuserflucht kurzerhand unterschlagen, damit sie nicht als weiterer Bereich des Hofes die klare Konfrontation von Bürgerstadt und Stadtschloss verwässern können.15 Abb. 6: Die Bürger Berlins tragen die Leichen der Gefallenen in den Schlosshof, 1848 14 Samuel Heinrich Spiker: Berlin und seine Umgebungen im neunzehnten Jahrhundert. Eine Sammlung in Stahl gestochener Ansichten, von den ausgezeichnetesten Künstlern Englands, nach an Ort und Stelle aufgenommenen Zeichnungen, nebst topographisch-historischen Erläuterungen, Berlin 1833, Tafel III. 15 Das Ribbeckhaus von 1624 wurde damals als Marschallamt genutzt. Zum Ribbeckhaus vgl. Christine Scheiter: Familie von Ribbeck auf Ribbeck im Havellande. Die genealogische Darstellung der Familie und eine baugeschichtliche Betrachtung des Herrenhauses, Norderstedt 2005, S. 10–12.
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Die Schlossansicht – das ist mir bei der Durchsicht des revolutionären Bildes von Berlin klar geworden – bot eine Möglichkeit, in die Wahrnehmung Berlins einzugreifen, sein Image wenigstens partiell zu besetzen und als revolutionäre Stadt zu bestimmen. Wiener und Pariser Darstellungen der Revolution von 1848 haben m. E. nichts Entsprechendes ausgebildet, keinen derartig identifizierbaren Fokus des Geschehens hervorgetrieben. Angesichts weiterer graphischer Serienbilder, die jeweils das Schloss bemühen, möchte man von einer versuchten Usurpation der südlichen Schlossvedute sprechen, die mit Stechbahn und südöstlichem Schlossvorplatz im Übergang zur alten Stadtmitte ja eine wichtige Rolle im Revolutionsgeschehen spielte. Hierhin lassen sich schon jene fatalen zwei Schüsse lokalisieren, mit denen eine dem König zujubelnde, aber ihn auch bedrängende Menge aufgelöst werden sollte und die zum Auslöser der Barrikadenkämpfe wurden. Eine Ansicht der polizeilich-militärischen Räumungsaktion, die von der Stechbahn aus genommen ist, bringt die Konstellation Schloss versus Stadt, Militär versus Bürger auf den visuellen Punkt eines grundsätzlichen Links und Rechts im Bilde, die sich deutlich in der gegengleichen Neigung von Bajonetten und Säbeln, Zylindern und Pickelhauben widerspiegelt.16 Eine andere Bildstrategie fährt ein Nürnberger kolorierter Holzstich auf,17 der den Bildtypus der Huldigung vor dem Schloss – wenn man will: die klassische Buckingham Palace-Szene – invertiert, als die Berliner nach dem nächtlichen Gemetzel am 19. März ihre Toten im Schlosshof abladen und den König zwingen zuzusehen – in vielen Quellen als der „fürchterlichste Tag“18 im Leben des Königs geschildert. Das Blatt konstatiert denn auch befriedigt: „Alles ward von da an bewilligt“. Diese Form der Schlossansicht kann auch einmal ins close-up rutschen,19 und die Szene einer invertierten Huldigung so ganz mühelos gelingen, bildstrategisch gesehen unter fast höhnischer Beibehaltung der alten Unterschiede von Oben und Unten. Es reicht, dass in der Menschenmenge alle den Kopf gesenkt halten, um mit wenigen emporgerissenen Armen die alte Bildformel der Akklamation zur Anklage umzupolen. Dass man das Berliner Schloss jedoch nicht als Hort des absoluten Gegensatzes zur Revolution sah, also nicht als ein Bauwerk, das wie eine Bastille zu behandeln war, zeigt die Bildzeitung der Grablegung der Re-
16 Erster Angriff der Cavallerie auf das unbewaffnete Volk vor dem königl. Schlosse in Berlin, Holzschnitt, Leipziger Illustr. Zeitung Bd. X, Nr. 249, S. 231. Zu den Kategorien der Bilderzählung siehe grundlegend Heinrich Wölfflin: Über das Rechts und Links im Bilde, in: Münchner Jahrbuch der Bildenden Kunst N. F. 5, 1928, S. 213–224. 17 Ereignisse in Berlin nach der Schreckensnacht vom 18. auf den 19. März 1848, Lithographie, Stiftung Stadtmuseum Berlin, Inv.Nr. GDR 69/17, abgebildet in: Gall: 1848 (wie Anm. 6), S. 157. 18 Brief Menzels vom 23.3.1848 an Carl Heinrich Arnold in Kassel; Claude Keisch, Marie Ursula Riemann-Reyher (Hrsg.): Adolph Menzel: Briefe. 4 Bde., Bd. 1, 1830–1855, Berlin 2009, S. 246 (Faksimile) und 248. 19 Die Bürger Berlins tragen die Leichen der Gefallenen in den Schloßhof, abgebildet in: Neue Gesellschaft für Bildende Kunst (Hrsg): Kunst der bürgerlichen Revolution von 1830 bis 1848/49. Ausstellungskatalog, Berlin 1972, Abb. S. 82.
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volutionäre im Friedrichshain.20 20.000 Berliner Bürger sollen von den 183 Opfern (von über 300) Abschied genommen haben; die Särge wanderten von der Aufbahrung auf dem Gendarmenmarkt – Menzels Motiv – über das Schloss, das in der unteren Bildleiste als einziger größerer Bau hinter der Menschenmenge geschildert wird, die drei Kilometer in den Volkspark hinaus. Die im Hintergrund aufgerufene Architekturkulisse erscheint in dieser Version fast freudig beflaggt und auf diese Weise als sicherer Hort der angestrebten Verfassungsziele umgedeutet; es ist erfolgreich eingemeindet. Freilich sind die ephemeren Künste damit noch nicht verlassen. Jenseits der Flugschriften und Tagesnachrichten, jenseits auch der kleinformatigen Skizzen und aquarellierten Bleistiftzeichnungen ohne jede Verbreitungschance oder Vervielfältigungsmöglichkeit, kehrt sich der Befund geradezu um. Die eben gezeigten Episoden aus der Geschichte der Revolution in Berlin haben keinerlei Entsprechung in den Großgattungen Tafelbild und Monumentalskulptur gefunden. Kleinformatige Öl- oder wenigstens Kreidebilder à la Meissonier, Daumier oder später Manet gibt es nicht – von Delacroix’ Großformat eines Historienbildes der Revolution ganz zu schweigen.21 Die einzige Ausnahme – neben einem Barrikadenkampf im Mai 1848 von Julius Scholtz in Dresden –22 ist das Tableau, an dem keine Ausstellung zur Zeit um die Mitte des 19. Jahrhunderts herumkommt: Menzels kleiner Aufbahrung der Märzgefallenen auf dem Gendarmenmarkt. Im Gegensatz zu Ernest Meissoniers erschreckender Perspektive auf die Nachgeschichte der Barrikade, zynisch Souvenir de Guerre Civile benannt, die sogar im Salon ausgestellt werden konnte, verließ Menzels Ölbild sein Atelier bis 1902 nicht. Es ist so oft interpretiert worden, dass von mir keine gänzlich neue Deutung verlangt werden kann.23 Ich möchte nur auf einige, bislang unerwähnt gebliebene oder unberücksichtigte Details aufmerksam machen, die es erlauben, seine Rolle im imaginierten Berlin-Bild der Zeit näher zu bestimmen – die nicht viel mit der heutigen Rolle einer offiziellen Revolutions-Ikone in unseren Geschichtsatlanten zu tun hat. Nachdem Menzel in den Schulbüchern seit jeher herangezogen wurde, die Position der Revolutionäre zu markieren, ist die jüngere Deutungsgeschichte sehr vorsichtig geworden. Das merkwürdige Ereignisbild – den Begriff Historie scheut man – sei weder eindeutig revolutionär noch festlegbar reaktionär gesinnt, also weder als oppositionelle noch als affir-
20 Feierliches Leichenbegängniß der in dem Kampfe am 18. u. 19. März 1848 gefallenen Bürger in Berlin, Lithographie, Stiftung Stadtmuseum Berlin, Inv.Nr. GDR 79/103, abgebildet in: Gall: 1848 (wie Anm. 6), S. 165. 21 Etwa: Ernest Meissonier: Souvenir de Guerre Civile, 1848; Honoré Daumier: Familie auf der Barrikade, 1848; Edouard Manet: Die Barrikade, 1871, jeweils Paris, Musée du Louvre. 22 Abbildung in: Gall (Hrsg.): Wege. Irrwege. Umwege (wie Anm. 6), S. 78. 23 Eine sehr gute Zusammenfassung der Forschung zum Bild sowie eine neue These zum vollendetunvollendeten Status und zur Rolle der Künstlersignatur bietet Karin Gludovatz: Nicht zu übersehen. Der Künstler als Figur der Peripherie in Adolph Menzels Aufbahrung der Märzgefallenen in Berlin, in: Edith Futscher u. a. (Hrsg.): Was aus dem Bild fällt. Figuren des Details in Kunst und Literatur, Festschrift Friedrich Teja Bach zum 60. Geburtstag, Paderborn 2007, S. 237–263.
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mative Stellungnahme anzusehen.24 Allenfalls als abgebrochenes Projekt einer maßvoll revolutionsbejahenden Phase Menzels wird es gewertet, und dazu des Künstlers spätere Aussagen hinzugezogen, das Sujet sei ihm widerwärtig geworden, er hätte das Bild ablegen müssen und dabei nicht einmal vollenden können. Es soll längere Zeit auf die Rückseite gedreht im Atelier gelehnt haben; Fotografien einer viel späteren Zeit zeigen es dort aufgehängt, nach dem Verkauf nach Hamburg blieb die Stelle leer. So umstritten das Bild auch heute ist, was seine Deutung angeht, einiges wird man doch festhalten dürfen. Zum einen ist das Bild durchaus vollendet – es ist nämlich signiert und datiert, noch dazu an einer ‚unvollendeten‘, den Entstehungsprozess des Bildes dokumentierenden Stelle, und zwar lange vor dem endlichen Verkauf an Alfred Lichtwark 1902.25 Zum anderen ist man immer auf Schwierigkeiten gestoßen, wenn man das Bild als Abbild, als getreue Spur, eines historischen Ereignisses zu lesen versuchte: Zu unbestimmt sind die eindeutig uneindeutigen Gesten, jede von ihnen ist verschieden interpretiert worden.26 Für eindimensionale Lesarten des Bildes müsste man denn auch seine schlagenden Inkonsistenzen bewusst übersehen. So drängen sich etwa Menschengruppen oben auf den Treppenwangen des Schauspielhauses, als wäre unten kein Platz – während vor den Särgen, im geometrischen Mittelpunkt des Bildes, gähnende Leere herrscht. Kurz, Menzels Aufbahrung trägt die offene Signatur des Unvollendeten, aber auch des inhaltlich Unbestimmten. Nun hat Michael Fried Menzels so genannten Realismus einen fulminanten Beitrag gewidmet, der sich nicht in einen vordergründigen Realismus-Begriff verbeißt, sondern seine performative Qualität erstmals ausschreibt:27 Fried arbeitet – wie ich finde, ganz zurecht – einen von Menzel angelegten bildlichen Zwang zum langsamen Auslesen des Gendarmenmarktes heraus, der eben alles andere als bloß realistisch oder impressionistisch geschildert wird. Die großen Freiflächen zwischen den Menschengruppen stehen so für die große Leere der Hermeneutik, die der Maler den Beschauern aufgibt. Es entsteht eine great fiction, die sich nicht festlegen lässt, aber zur Füllung verpflichtet und gleichzeitig viele Sinnangebote bereithält. Menzel konnte auch viel eindeutiger sein. Sein Neujahrsgruß zu 1849 an Eduard Heinrich Herrmann dann, sechs Wochen nach Wrangels Besetzung der Stadt aufs Blatt geworfen, ist leichter zu lesen: Das Segel des Revolutionsschiffs ist bereits schlaff, das kecke Fähnchen gebrochen, der Revolutionär auf der Barrikade ein verdorrter Baum, dem wie nach einem Hochwasser ein leerer Eimer als Helm übergestülpt ist, das Ladenschild mit dem Ver24
Falkenhausen: Zeitzeuge der Leere (wie Anm. 12), S. 494. Im selben Katalog, S. 458, sieht Werner Busch in Menzels Aufbahrung sogar eine reine formale, malerische Reaktion auf die revolutionären Vorgänge, kein „wie auch immer geartetes politisches Bekenntnisbild“. 25 Gludovatz: Nicht zu übersehen (wie Anm. 23), S. 241/242. 26 Ein für Menzels Bildsprache bezeichnendes Beispiel bietet der prominent plazierte Herr vor dem Sarg im Vordergrund, der den Hut vor dem Toten abnimmt, seine Reverenz aber gleichzeitig durchkreuzt, indem er sich vom Sarg abwendet. 27 Michael Fried: Menzels Realismus. Kunst und Verkörperung im Berlin des 19. Jahrhunderts, München 2008.
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sprechen ‚Bairisch Bier‘ denunziert das Publikum der politischen Kaffeehaus-Klubs als Trinker, ein Nachtstuhl rechts unten kommentiert das Ende – eine drastische Bilderrede, die nicht ohne Fäkalsprache auskommt. Demgegenüber hat der Maler aber seine Palette der Barrikade zur Verfügung gestellt, und zwar wiederum im geometrischen Zentrum der Barrikade; Menzel baut sich als Künstler mitten in die Barrikade ein, er denunziert die Revolution – und ist dennoch ihr Teil.28 Menzels Unentschiedenheit im offizielleren Ölbild, die seine Aufbahrung heute überall als Stellvertreterbild des an mangelnder Entschiedenheit gescheiterten Berliner Revolutionsversuchs firmieren lässt, kann vielleicht vor dem Hintergrund des großen Kontextes Berlin besser verstanden werden. Das Bild, alleine auf sich gestellt, wahrt sein Äquilibrium, es behauptet seine ästhetische wie politiAbb. 7: Menzel, Neujahrsgruß an Eduard sche Eigenständigkeit, verbittet sich – wie so Herrmann 1849 häufig sein Schöpfer – ein ‚Dreinreden‘. Doch vor die Folie dessen gestellt, was wir hier noch nicht ins Auge gefasst haben: die Monumentalbilder in Berlin, die das Revolutionsgedenken offiziös betrieben, erhält Menzels Ölbild eine Eindeutigkeit, die ihm gerne abgesprochen wird. Als Hauptwerk der Berliner Revolutionsbewältigung darf es eben gerade nicht gelten; hier muss hingegen – allein qua Öffentlichkeitsanspruch und Dimensionsästhetik – die so genannte Invalidensäule als würdiger Stellvertreter angesehen werden. 1948 erst abgeräumt, ist sie in Berlin mittlerweile in Vergessenheit geraten.29 Dabei war sie der genetische Vorläufer der Siegessäule vor dem Reichstag – ist dabei aber lediglich für die 19, nach anderen 28
Zu Menzels Sylvestergruß vgl. Claude Keisch: Landschaft. Revolution. Geschichte. Adolf Menzel: Die Bittschrift. Ausstellungskatalog, Berlin 2002, S. 36–44. 29 Die monographische Literatur zur Invalidensäule ist vergleichsweise dünn: Jutta von Simson: Der Bildhauer Albert Wolff 1814–1892, Berlin 1982, S. 208/209, Abb. 52–55; Laurenz Demps: Der Invalidenfriedhof. Denkmal preußisch-deutscher Geschichte in Berlin, Berlin 1996, S. 40–44. Merkwürdiger- oder besser bezeichnenderweise firmiert die Invalidensäule nicht in Peter Bloch, Waldemar Grzimek: Die Berliner Bildhauerschule im neunzehnten Jahrhundert. Das klassische Berlin (1978). 2. Aufl., Berlin 1994. Hervorragende jüngere Studien, die die Invalidensäule berücksichtigen: Manfred Hettling: Bürger oder Soldaten? Kriegerdenkmäler 1848 bis 1854, in: Reinhart Koselleck, Michael Jeismann (Hrsg.): Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, München 1994, S. 147–193; Helke Rausch: Kultfigur und Nation. Öffentliche Denkmäler in Paris, Berlin und London 1848–1914, München 2006, hier v. a. S. 200–204 und S. 237–239.
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Quellen 24 beim Sturm auf die Barrikaden umgekommenen Militärangehörigen errichtet worden. Während die 183 Särge mit den zivilen Opfern zwar gemeinsam im Friedrichshain bestattet wurden, es dort aber trotz mehrerer Versuche zu keinem Märzgefallenendenkmal kam, kümmerte sich die Monarchie rührendst um die etwa 20 gefallenen Soldaten. 15 Soldaten waren zwei Tagen nach dem ‚Staatsbegräbnis von unten‘, am 24. 3., ‚zeitig‘ am Morgen in einem Massengrab des Invalidenfriedhofs beerdigt worden. Darüber erhob sich seit dem 18. Oktober 1854, was Helke Rausch für das bis in die 1870er Jahre hinein „mit Abstand am aufwendigsten inszenierte und programmatisch aufgeladene militärische Denkmal konservativer Denkmalstifter und des preußischen Königs“30 hält. Künstlerische Gründe sind gerne vorgeschoben worden, um sich nicht mit den etwas drögen Reliefs über der Säulenbasis oder anderen Details der Abb. 8: Invalidensäule im Invalidenpark, 1854 Riesensäule beschäftigen zu müssen; doch das gusseiserne Monument maß stolze 38 Meter, der Adler darüber hatte acht Meter Spannweite und war im Invalidenpark, der Anlage vor dem Invalidenhaus am nördlichen Stadtrand von Berlin, nahe dem Hamburger Bahnhof nicht zu übersehen. In dieselbe Zeit der Restauration, die 1850er Jahre, fällt dann mit der Aufstellung der Generalsdenkmäler Yorcks und Gneisenaus gegenüber der Neuen Wache und der Neubestückung des Wilhelmplatzes eine beispiellose Militarisierung des Stadtbildes. Immer mehr Militärs bevölkerten die Linden, während Denkmäler der ‚Helden ohne Degen‘ nur auf dem Schinkelplatz aufgestellt werden konnten. Bei der Einweihung des Rauchschen Reiterstandbildes für Friedrich II., das anfangs lange von bürgerlicher Seite begrüßt wurde, da man den Dargestellten als positives Beispiel eines aufgeklärten Herrschers imaginierte,31 im Jahr 1851 kam es zu unschönen Szenen: Fahnen aus dem Jahre 1848 waren verboten, die Studentenschaft kündigte daher ihre Beteiligung am Festzug auf. Militär säumte die feierliche Enthül30 Rausch: Kultfigur und Nation (wie Anm. 29), S. 198–208. 31 Zur langen Vorgeschichte dieser Denkmalssetzung Jutta von Simson: Das Berliner Denkmal für Friedrich den Großen. Die Entwürfe als Spiegelung des preußischen Selbstverständnisses, Frankfurt/M. 1976.
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lung, und als Gerüchte einer Gegendemonstration im Friedrichshain kursierten, führten sie zu einem präventiven Polizeieinsatz dort. Darüber hinaus fällt in dieselbe Zeit eine Umorientierung im Stadtbild Berlins, die mit ihrer militärischen Semantisierung einherging: weg von der Südseite des Schlosses zur Nordseite hin, die auch den bürgerlichen Blick auf die alte Stadtmitte mit den Stadtkirchen durch einen ständischen auf die Prachtstraße Unter den Linden beerbte. So hat die Berliner Revolution von 1848 im Umkehrschluss der Reaktion dazu geführt, Berlin eher als militärische Einheit denn als bürgerlich-demokratisches Gemeinwesen vor- und darzustellen. Für die Zeit nach 1850 möchte man also eher vom ‚Projektionsraum militärischer Souveränität‘ denn ‚Projektionsraum der Volkssouveränität‘ sprechen. Berlin als imaginierter Raum der Revolution, vergleicht man sein Schicksal mit dem von Paris, Rom oder London, ist nach 1849 zielgerichtet zu einem geschlossenen Raum der Imagination gemacht worden.
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Anthropologische Ansätze in der Berlin-Literatur Max Rings
Ich gehe hier von einem Topos aus, der das ganze 19. Jahrhundert begleitete und der hier an drei Beispielen exemplifiziert wird. Man begegnet ihm vielleicht erstmalig in Engels’ Untersuchungen zur Lage des englischen Proletariats. Von den Arbeiterbezirken Whitechapel und Bethnal Green behauptet Engels, dass „man da am Westende der Stadt ebensowenig von [ihnen] wußte wie von den Wilden Australiens oder der Südseeinseln“.1 Hier tritt der Topos als Polemik auf, es geht rhetorisch gesteigert um vergleichbare Tiefen der Ignoranz. Das nächste Mal, dass wir ihm begegnen, hat er wissenschaftliche Konturen zugesetzt. „Weit früher und besser hat man fremde Völker geschildert als das eigene, ja der gemeine Sprachgebrauch läßt uns heute noch bei dem Worte ‚Ethnographie‘ eher an Indianer und Hottentotten denken als an unser eigenes Volk in der Gegenwart“.2 Durch diesen Topos legitimiert 1858 Wilhelm Heinrich Riehl die Gründung des Lehrstuhls für Volkskunde an der Universität München. Er markiert in der Anthropologie das Ende der so genannten ‚salt-water fallacy‘3 und damit den Augenblick, wo der anthropologische Blick sich auf das europäische Binnenland richtet. Längst davor aber hatten Schriftsteller ihr Augenmerk auf ‚das eigene Volk in der Gegenwart‘ gerichtet und damit ihre eigene Form der literarischen Anthropologie eingeführt.4 Das dritte Beispiel ist dem literarischen Feld entnommen und zeigt in seiner Konventionalität die Domestizierung, die nicht nur dem Topos selbst, sondern dem ganzen Ansatz widerfuhr. In dem Vorwort zu seinen Kulturstudien und Sittenbildern zur Stadt Berlin
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MEW, Bd. 2, S. 261. Wilhelm Heinrich Riehl: Die Volkskunde als Wissenschaft (1858), Berlin, Leipzig 1935, S. 16. Zur ‚repatriation of anthropology’ vgl. George E. Marcus, Michael M. J. Fischer: Anthropology as Cultural Critique. An experimental moment in the human sciences, Chicago, London 1986, S. 111/112. Zum weiteren Thema: Hugh Ridley: ‚Relations stop nowhere‘. The common literary foundations of German and American Literature 1830–1917, Amsterdam, New York 2007, S. 139–170.
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schreibt Max Ring5 über den Kosmopolitismus seiner deutschen Mitbürger, die sich für Neapel und Halbasien, für die Sittenromane Zolas und für russische Zustände interessierten, mit der Konsequenz: „Nur unsere Heimat ist uns fremd und unsere nächsten Landsleute lassen uns gleichgültig. Nicht nur den Süddeutschen, sondern den eingeborenen Bewohnern ist Berlin in vielen Punkten noch eine terra incognita“.6 Diese drei Statements weisen trotz ihren engen Gemeinsamkeiten potenziell drei sehr unterschiedliche Konsequenzen auf: Konfrontation mit der großstädtischen Armut; volkskundliche Nabelschau der selbstgefälligen Kulturpluralität der Heimat; Ankurbeln des Binnentourismus. Die Beziehungen der Literatur zur Anthropologie, bzw. zur Volkskunde, waren seit jeher sehr enge.7 Innerhalb des patriotischen Rückbesinnens auf das eigene Volk gab es ohnehin kaum Grenzen zwischen ethnographischen Studien, Novellen mit starkem Lokalkolorit (hierin lag neben seinen wissenschaftlichen Publikationen die bevorzugte Spezialität Riehls), Regionalgeschichte und der Entwicklung der nationalen, also volksnahen Literatur, inklusiv der ordnenden Disziplin, der Germanistik. Ein ähnlicher anthropologischer Ansatz steckte hinter jeder dieser Formen. Nicht einmal die Bemühungen um eine straffere Wissenschaftlichkeit haben gegen diesen Urimpuls gewirkt – wie der Vergleich zwischen den Aktivitäten von Lowell und Childs in der Anfangsphase der amerikanischen Literatur und dem GrimmKreis deutlich macht.8 Jedes Mal, wo das Nationale an der Literatur hervorgehoben wurde, wurde dieser anthropologische Komplex wieder relevant, und Rings Werk bietet – trotz der Trivialisierung, die man feststellen kann – ein klares Beispiel der praktischen Auswirkung der literarischen Anthropologie auf die Belletristik, und damit auf das Stadtverständnis von Berlin. Ring ist ein interessanter Fall, indem er zu den seltenen Autoren gehört, die dem Industrialisierungsprozess positiv gegenüberstanden, und wenn man bedenkt, dass die anthropologische Entdeckungsreise im Politischen prinzipiell reaktionär war – allein der Gestus der Verwahrung traditioneller Lebensweisen führte dazu –, ist der Fall Ring spannend. Der Anthropologie fehlte, wie Engels unterschwellig vermerkte, jeder Befreiungsimpuls. Nichts sprach dafür, dass das anthropologische Auge die Bevölkerung Whitechapels stärker unterstützen würde als die anderen unterdrückten Bevölkerungsgruppen (die ‚Indianer und Hottentotten‘). Sie stand von ihrem Ursprung an im Schatten der deutschen Klassik, ihr Ideal – schon vor der Aufnahme durch die Literatur – war ästhetisch umweht. Diese Spuren liegen 5
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Max Ring (1817–1901) Mediziner, Journalist und Schriftsteller. Medizinstudium in Breslau, Promotion 1840, im Vormärz erste schriftstellerische Versuche und Zensurprobleme. Werke: Berlin und Breslau, Breslau 1849; Stadtgeschichten. Bd. 1: Christkind Agnes, Bd. 2: Die Chambregarnistin, Bd. 3: An der Börse, Berlin 1852; Aus dem Tagebuch eines Arztes, Berlin 1856; Der Geheimrath. Ein Lebensbild, Prag, Leipzig: 1857; Berliner Leben. Kulturstudien und Sittenbilder, Leipzig, Berlin 1882. Ring: Berliner Leben (wie Anm. 5), Vorwort, o. S. Vgl. Susan Hegeman: Patterns for America. Modernism and the Concept of Culture, Princeton/N.J. 1999; auch Regina Bendix: In Search of Authenticity. The Foundation of Folklore Studies, Madison, London 1997. Vgl. Bendix: In Search of Authenticity (wie Anm. 7), S. 75/76.
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tief in der Fachgeschichte verankert: Auf die bleibenden Konsequenzen dieser Entstehungsgeschichte deutet Regina Bendix’ hervorragende Untersuchung. Typisch für das so genannte Engagement der Kunst für die Situation der unteren Schichten war – wie wir alle wissen – die im Vorwort zu Maria Magdalene immer wieder vorgetragene Ansicht Friedrich Hebbels, dass nämlich eine eventuelle Beseitigung großstädtischer Misere durch seine Dramen zwar für die Armen nützlich und erfreulich sein könne, der dramatischen Kunst aber nichts bringe und von daher irrelevant sei. So hatte eine anthropologische Großstadtliteratur einen starken Nachholbedarf – und es ist durchaus möglich, dass man ihr Potenzial eher bei den weniger ambitionierten Schriftstellern beobachten kann. An dieser Stelle sollen lediglich drei Aspekte der literarischen Anthropologie kurz aufgezeichnet werden, und unsere Beispiele entnehmen wir der Überschaubarkeit willen sowie, um einen fast vergessenen Namen doch wieder in Erinnerung zu rufen, dem Werk des Berliner Schriftstellers Max Ring. Das erste Symptom ist ein hinlänglich bekanntes, das den ganzen europäischen Realismus durchzieht: der ständige Hinweis auf die Fortsetzung zeitloser Mythen und tragischer Figurenkonstellationen in den Tiefen der modernen Großstadt. Ring entdeckt – nicht ohne ein Gefühl des Triumphs – in den Alltagsstoffen seiner Großstadt die zeitlosen Stoffe der Weltliteratur und reiht sein Werk damit neben Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe, Hebbels Maria Magdalene, der Heiligenfigur in Middlemarch, dem frühen Wagner (vor allem Lohengrin) in eine Grundkonstellation des europäischen Realismus ein. Hierfür bietet Ring in seinem als humoristische Eisenbahnlektüre gedachten Tagebuch eines Arztes hinlänglich Beispiele. „Wer die Romantik der Leidenschaft noch sucht“, schreibt er in einem Kapitel zu einem Selbstmordfall in der Großstadt – d. h. am Schnittpunkt ästhetischer und soziologischer Interessen –, „der muss tiefer hinabsteigen. Unsere Werthers sind keine Legationssekretäre oder poetische Assessoren, sondern Arbeiter, Handwerker, Tischler, Schuster und selbst Schneider“.9 Wiederum: „Die Liebe ist in den unteren Schichten der Gesellschaft noch immer jene kräftige Leidenschaft, welche den ganzen Menschen mit ursprünglicher Gewalt erfaßt“.10 Die Anthropologie ging als Disziplin auf Entdeckungsreise, wohl auf der Suche nach dem Wesen der fremden, bzw. der eigenen Kultur und sein Aha-Erlebnis war vielleicht sowohl die Überlappung des Beobachteten mit einer (nebenbei gesagt oft ganz schlimmen) Theorie als auch (hierzu ausführlich Bendix) der Fund einer jungfräulichen Authentizität. Die Literaten verstanden ihre Suche nicht unähnlich: Überlappung mit alten literarischen Mustern, plus Frische des neuen Materials. Die zweite ethnologische Tendenz bei Ring richtet sich auf die Beobachtung im Großstadtmilieu. Der Duktus solcher Textstellen ist vor allem ein lehrhafter, zum Teil ein historisierender (von daher der Übergang zu Texten wie Berliner Leben, wo die Stadtgeschichte für den ‚wohlwollenden Touristen’ eine weitere Attraktion bietet), aber vor allem eine Sensibilität gegenüber dem Neuen am Gesicht der Stadt. Diese Tendenz wird exemplarisch in Max Rings Stadtgeschichten deutlich; jede der drei Erzählungen fängt mit einer analytischen 9 Ring: Aus dem Tagebuch (wie Anm. 5), S. 123. 10 Ring: Berlin und Breslau (wie Anm. 5), Bd. 2, S. 33.
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semiotischen Beschreibung eines für seine Stadt typischen Milieus an, zu dem die handelnden Personen seiner Erzählung ganz explizit als Illustrationen stehen. Der Ansatz bringt einen ganzen Erzählduktus mit sich, wie man an den ersten Absätzen der zweiten der Stadtgeschichten, der Chambregarnistin, beobachten kann: Kurz vor dem ersten des Monats bricht in der Hauptstadt ein höchst eigentümliches Fieber aus, dessen Beschreibung wir bisher vergebens in den Lehrbüchern der Arzneikunde gesucht haben. Die davon Befallenen verrathen eine gewisse Hast und Unruhe, welche sie nicht länger in ihrer Wohnung duldet. Sie eilen auf die Straßen hinaus, die sie bald mit stürmischen, bald mit zögernden Schritten durchwandern. Dabei verdrehen sie die Augen ganz wunderbar und schielen nach gewissen Hausnummern und Zetteln, auf welchen mit lateinischen oder deutschen Buchstaben klar und deutlich zu lesen ist. Hier werden möbilirte Stuben vermiethet. Sobald die Patienten eine derartige Tafel erblicken, erfaßt sie der höchste Grad des Paroxismus. Heftig stürzen sie in das so bezeichnete Haus, jagen die Treppen hinauf, klingeln mit Heftigkeit und verlangen ungestüm, die möbilierte Stube mit oder ohne Kabinet in Augenschein zu nehmen. Ihr rollendes Auge, welches den Raum durchmißt und die aufgestellten Gegenstände prüft, verräth eine tiefe innere Bewegung. Die mannigfachsten Gefühle durchtoben ihre Brust, Furcht oder Hoffnung, endlich das Ende so vieler Leiden gefunden zu haben. Mit Aengstlichkeit wird nach dem Preise gefragt und wenn derselbe ansteht, ist der Patient auch meist für einige Zeit geheilt, wenn aber nicht, so wüthet die Krankheit nur um so schrecklicher fort. Die Epidemie möchten wir am liebsten mit dem Namen Oikomania belegen. So ein griechisches Wort giebt gleich der ganzen Sache ein gelehrtes Ansehn, und wir wollen uns um keinen Preis der Welt das Verdienst einer so wichtigen medizinischen Entdeckung streitig machen lassen. Die Oikomania oder Chambregarnistenseuche befällt meist nur junge unverheirathete Männer und alte Hagestolze, Frauen leiden weit weniger daran und Kinder bleiben gänzlich davon verschont. Ein solcher Patient steht oder geht vielmehr vor uns.11 Solche Passagen finden – soweit ich Überblick habe – in jedem Ring-Text ihre Entsprechung. Sie ersetzen – hier auch sicherlich eine Errungenschaft des anthropologischen Blicks – die von zeitgenössischen Schriftstellern häufig bevorzugten schroffen Kontraste zwischen Reich und Arm, Hoch und Niedrig. Sie unterscheiden Max Ring von Vorgängern wie Eugène Sue. In den drei Stadtgeschichten werden zusätzlich noch Börse und so genannte Trockenmieter auf diese Weise geschildert. Die hier als ironische Metapher eingespielte, distanzierende medizinische Perspektive ist auch Teil der feuilletonistischen Traditionen, an die – wie Martina Lausters Untersuchung deutlich macht12 – Ring anknüpft. Andere Szenen – wie 11 Ring: Stadtgeschichten (wie Anm. 5), Bd. 2, S. 2-4. 12 Martina Lauster: Sketches of the Nineteenth Century. European Journalism and Its ,Physiologies‘, Houndmills/N.Y. 2007. Zur Semiotik der Straßenszene vgl. S. 317/318.
ANTHROPOLOGISCHE ANSÄTZE IN DER BERLIN-LITERATUR MAX RINGS
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etwa Warten auf den Zug, Industrielle zwischen Handwerker und Bürger, Kreditgeschäfte in der Bank, Genrebilder aus dem neuen Geheimratsviertel – haben eher den Charakter von Reportagen. In welcher Form auch immer: Sie rechtfertigen meine Klassifizierung von ihnen als anthropologische Texte. Zu ihrer Gattungsbezeichnung als ‚Unterhaltungsliteratur‘ braucht man nur noch zu fragen, womit sich Berlin unterhalten lassen wollte – d. h. ihre Unterhaltungsfunktion löst in keiner Weise ihren anthropologischen Wert auf: Möglich ist, dass sie Rings Texte von den schlimmen Nachwirkungen des ästhetischen Idealismus befreit. In den Kapiteln von Berliner Leben finden sich Antizipationen von Standardtexten aus dem 20. Jahrhundert: beispielsweise im Morgue-Besuch oder bei den Obdachlosen.13 Wenn Rolf Lindner von der „Kraft der Ethnographie“ schreibt, „einen Menschen und seine Welt sichtbar zu machen“,14 bezeichnet er damit die Kerneigenschaft dieser Texte. Interessant an den Erzählungen, die solche Elemente beinhalten, ist, wie deutlich die triviale Handhabung der Fabel hinter dieser Intelligenz zurückbleibt. Für moderne Leser stechen vor allem das moralisierende ‚happy end‘ und die manchmal aufdringliche Sentimentalität in der Figurengestaltung negativ hervor. Offensichtlich war Ring Optimist, der an die positive Entwicklung seiner Gesellschaft glaubte, vor allem durch die Industrialisierung, wie man an der Anzahl positiver Helden aus dem Industrieleben, und zwar nicht nur unter den technisch ausgebildeten Fabrikarbeitern (in Berlin erwähnt Ring immer wieder die Borsig-Arbeiter), sondern auch unter den Unternehmern selbst zu erkennen hat. Das ‚happy end‘ ist aber nicht nur Ausdruck eines Gesellschaftsoptimismus, sondern zeigt nochmals den problematischen Ursprung der Volkskunde in ästhetischen Vorstellungen, wie etwa in der des Erhabenen.15 Die Augenblicke eines hohen Pathos, der Selbstaufopferung, schlechthin des Heroischen und Erhabenen waren nicht nur – wie wir sahen – AhaErlebnisse der Industrieschriftsteller, sondern auch Zeichen der Verankerung volkskundlicher Interessen in idealistischen Vorstellungen. So haben wir es bei Ring mit einer Ästhetik zu tun, von der die Hälfte in der Tradition der letztendlich ländlich orientierten Volkskunde stand, die andere Hälfte aber – ideologisch und ästhetisch – in der Tradition der sich etablierenden Großstadtliteratur. Die Vergessenheit, in die Ring unter den Händen der Literarhistoriker geriet, spricht ein deutliches Urteil über die Bewertung dieser beiden unterschiedlichen Traditionen aus. Wenn wir uns drittens fragen, ob und wie die Einzelschilderungen zu einem Gesamtbild Berlins führen, ist die Antwort zwiespältig. Ring schreibt keine Kleinprosa, die ihm erlaubt, bzw. ihn dazu gezwungen hätte, Gesamtperspektiven zu geben. Die Länge seiner Texte schloss Totalität aus, den forcierten Schlüssen zum Trotz. Hinzu kommt, dass der prinzipielle Kontrast Großstadt-Land fehlt. Es gibt zwar Figuren, die aus der Kleinstadt nach Berlin kommen, sie sehnen sich aber nicht nach der Heimat zurück, ziehen aus ihren 13
Das abschließende Kapitel bei Lauster heißt mit Recht: Sketches as a Grammar of Modernity, ebd. S. 309/310. 14 Rolf Lindner: Walks on the Wild Side. Eine Geschichte der Stadtforschung, Frankfurt/M., New York 2004, S. 198. 15 Hierzu Bendix: In Search of Authenticity (wie Anm. 7), S. 30/31.
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Erfahrungen kein Gesamtfazit, sondern reihen sich gemütlich in die Großstadt ein. Sogar Rings früher Roman Berlin und Breslau (1849), der am ehesten auf Kontrasten gebaut zu sein scheint, kontrastiert die beiden Städte vor allem aufgrund ihrer unterschiedlichen politischen Entwicklung – von daher Rings Interesse an der schlesischen Demokratie als Variante zu Berliner Erfahrungen und Vorstellungen.16 Innerhalb seines Bilds von Berlin stellt Ring Änderungen fest, aber relativ unbedeutende, eher Umschichtungen, Umbesiedlungen innerhalb der bekannten Konturen seiner Stadt.17 Er beschreibt zwar neu besiedelte Gegenden – wie etwa die Umgebung von Bormanns Fabrik,18 oder das Geheimrathsviertel selbst – die Beobachtung dieser Prozesse lässt ihn aber weder auf die Kerngebiete der Stadt verzichten noch soziale Kommunikationsprozesse horizontal, d.h. extensiv darstellen: ein Fußweg kommuniziert immer zwischen den dargestellten Schichten, d. h. die Ausdehnung Berlins bedeutet immer noch keine prinzipielle Änderung seiner Strukturen; die räumliche Entfernung ist noch keine Dimension sozialer Entfremdung: für Ring sind es immer vertikale Kommunikationsprozesse innerhalb der Wohnhäuser oder die Beobachtungen der unteren Schichten an den an ihnen vorbeifahrenden Oberschichten. Was die Vergnügungsstätten angeht: Auch wenn bis 1882 das hohe Interesse der Oberschichten an der ausgesuchten Gastronomie für Ring feststeht, so spielt in den Romanen eher ein gemeinsamer Genuss ohne Klassenspezifik die Hauptrolle – natürlich kein Alexanderplatz, keine Unterhaltung für die von Ring zur Kenntnis genommenen neuen Massen von Näherinnen, Stenotypistinnen usw., sie treffen alle mit Adel und Bürgertum bei traditionellen Anlässen wie Maskenball zusammen, und Rings Schilderung ähnelt damit der eher kleinstädtischen Welt von Gutzkows Die Ritter vom Geiste.19 Vor allem wird Berlin weder dämonisiert noch idealisiert, sondern Schauplatz neuer Erfahrung. Das beobachtende Auge ist nicht das des gelangweilten Flaneurs, sondern des beschäftigten schriftstellernden Großstadtarztes, der sich anthropologisch ausbildet.
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Ring: Berlin und Breslau (wie Anm. 5), Bd. 2, S. 173/174. Vgl. Peter Fritzsche: Reading Berlin 1900, Cambridge/Mass., London 1996, S. 199. Ring: Der Geheimrath (wie Anm. 5), S. 159/160. Karl Ferdinand Gutzkow: Die Ritter vom Geiste. Roman in neun Büchern (1850/51), Frankfurt/.M. 1998, 4. Buch, 8. Kap. ‚Der Fontunaball‘ (S. 1287–1289).
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Julius Rodenbergs Berliner Spaziergänge
In den zehn Jahren, in denen die Deutsche Rundschau – wie Roland Berbig an der „Rundschau-Debatte“ nachgewiesen hat – ihren selbstgesetzten Anspruch erfüllte, „das Nationaljournal”1 zu sein, war nicht nur „Berlin as the center of Germany […] an underlying theme of every issue“,2 sondern veröffentlichte der Herausgeber in ihr auch – neben den Novellen von Keller, Meyer, Ebner-Eschenbach oder Storm und Essays von Dilthey oder Grimm – seine eigenen Berlin-Beschreibungen, die von 1885 bis 1888 in drei Bänden gesammelt wurden. Im Jahr des Erscheinens der Folge 3 der Bilder aus dem Berliner Leben spielte ‚Ein sozialer Roman aus dem modernen Berlin‘ – Conrad Albertis Wer ist der Stärkere3 – folgendermaßen auf Julius Rodenberg an: „Er nannte sich Doctor Julius v. Greifenstein (in Wahrheit hieß er Isidor Feigeles und stammte aus dem Dorfe Greifenstein), der Herausgeber der ‚Germanischen Revue‘, die allgemein für die vornehmste Zeitschrift der Hauptstadt gehalten ward.“4 Die Herkunft des DR-Herausgebers und Autors spielt in einem nicht nur regionalen Sinn auch für Theodor Fontane, der brieflich seinen Freund Bernhard von Lepel informiert: „Rodenberg, der sich nach diesem Orte nennt (eigentlich Lewy; seine Nase besiegelt es)“,5 eine wichtige Rolle im kritischen Lob der „deskriptiven Seite“ von Rodenbergs ‚Roman aus der französischen Kolonie‘ Die Grandidiers (1879): unsere Villenstraßen im Mai, wenn die Kastanien blühen, […] Neu-Kölln am Wasser, wenn drüben die Häuserfronten in tausend Lichtern flimmern, […] die Lange Brücke, wenn der Vollmond über dem Reiterbilde des Großen Kurfürsten steht und durch die 1
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Roland Berbig, Josefine Kitzbichler (Hrsg.): Die Rundschau-Debatte 1877. Paul Lindaus Zeitschrift ‚Nord und Süd‘ und Julius Rodenbergs ‚Deutsche Rundschau‘. Dokumentation, Bern u. a. 1998, S. 67. Katherine Roper: German Encounters with Modernity. Novels of Imperial Berlin, New Jersey, London 1991, S. 47. Conrad Alberti: Wer ist der Stärkere? Ein sozialer Roman aus dem modernen Berlin. 2 Bde., Leipzig 1888, Bd. 1, S. 109/110. Karl Ulrich Syndram: Kulturpublizistik und nationales Selbstverständnis. Untersuchungen zur Kunstund Kulturpolitik in den Rundschauzeitschriften des Deutschen Kaiserreiches, Berlin 1989, S. 164. Theodor Fontane: Briefe an Julius Rodenberg. Eine Dokumentation. Hrsg. v. Hans Heinrich Reuter, Berlin, Weimar 1969, S. 186; 27. 5. 1884.
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nächtlich-stillen Stadtviertel nur noch die ‚Singuhr‘ ihre fromme Weise spielt – […] alles dies, und viel anderes noch, [ist] nie schöner, lebendiger und wirkungsvoller geschildert worden […]. Fremde, die diese Schilderungen lesen, werden unser ‚Babel‘ in einem ganz neuen Lichte sehen, und die Vorstellung wird Platz greifen, daß diese vielgehaßte und viel beargwöhnte Stelle doch schließlich besser sein müsse als ihr Ruf. Und wie Liebe zum Ort diese Schilderungen diktierte, so diktierte Liebe zum Lande das ganze Buch. Es geht ein patriotischer, […] ein schöner Dankbarkeitszug durch alles, was hier zu uns spricht, eine freudige Anerkennung dessen, was Preußen, seine Fürsten und sein Volk, für Deutschtum und Freiheit, vor allem aber für die Freiheit des Gewissens getan haben.6 In diesem Lob für die Auswahl des Schönen, die Wirkung auf Fremde und die Verbindung von Berlin, Preußen und Deutschland – drei Momente, denen ich im Folgenden nachgehen möchte – klingt, wenn sie auf ‚Dankbarkeit‘ zurückgeführt werden, eine Ambivalenz an, die Fontanes Äußerungen zu Rodenbergs Stadtbeschreibungen, in anonymen wie gezeichneten Rezensionen und in Briefen, doppelt entfalten: Wenn Fontane erstens Rodenberg zu einer in Berlin bisher fehlenden „Tagesliteratur“ beitragen sieht „in dem Sinne, daß sie memoirenhaft auch das unpolitische tägliche Erlebnis […] festhielte […] ganz speziell unsere[r] Stadt Berlin“,7 „das für den Alltag Interessantere“,8 so wirft er ihm zugleich vor, insbesondere dem dritten Band Unter den Linden, „Kultur- und Literarhistorisches an Stelle des einfach Historischen geboten“9 zu haben, und Fontane verallgemeinert von Rodenberg, „daß sich der Berliner, ja vielleicht der Großstädter überhaupt, für das außerhalb der historischpolitischen Sphäre Liegende mehr erwärmt als für seine staatlichen oder selbst militärischen Größen“.10 „Ihre Behandlung des Stoffes“ Berlin, schrieb Fontane an Rodenberg, sei „die dankbarere, die dem Berliner Publikum sympathischere“.11 Wenn Fontane zweitens die Berliner ‚Bilder‘ als „menschlich wahr“12 lobt, gibt er in der biographischen Lesart eine Begründung, weshalb ihm Rodenbergs Berliner, preußischer, deutscher Patriotismus als Dankbarkeit erscheint – eines Fremden, der dazugehören möchte, aber es nicht tue: Ihr Buch gibt mir erst Aufschluß über Ihr ganzes Leben und die besondre und kluge Wahl, die sie getroffen. Es ist Ihnen durch diese Wahl vergönnt gewesen, in einer hervorragenden und ganz besonders guten Gesellschaft zu leben, und daß sich das nicht so
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Theodor Fontane: Aufsätze zur Literatur. Hrsg. v. Kurt Schreinert, München 1963 (= XXI/1), S. 316/317. Fontane: Briefe (wie Anm. 5), S. 100. Ebd., S. 118. Ebd., S. 118. Ebd., S. 118. Ebd., S. 30. Ebd., S. 27.
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bloß zufällig gemacht hat, daß Sie’s gewollt haben, das rechne ich Ihrer Klugheit, Ihrem Geschmack und Ihrem Charakter gleich hoch an.13 Folgerichtig macht Fontane einen „ziemlich groß[en]“ „Unterschied […] der Gattung nach“14 zwischen den „Ferienreisen“ und „Berliner Skizzen“ des vor der Deutschen Rundschau erschienenen Bandes In deutschen Landen, mehr noch aber hinsichtlich der Erzählhaltung des Autors: In den „Ferienreisen“, behauptet Fontane über Rodenberg „bewegt er sich auf seinem eigensten Gebiet“, den Berliner „Skizzen“ jedoch „fehlt […], besonders in den spezifisch berlinisch gehaltenen, die volle Sicherheit der Bewegung“.15 Fontanes Vorbehalte gegen Rodenbergs allgemein-großstädtischen Mangel an Erwärmung für politisch-militärische Geschichte und seine besondere Wahl der Zugehörigkeit zur guten Gesellschaft ließen sich beziehen auf das Urbane als „Kombination von Internationalität und Lokalität“,16 in dem Günter Oesterle das kulturpoetische „Energiezentrum“17 des Feuilletons im 19. Jahrhundert ausgemacht hat: Für den Tag als für die Ewigkeit schreiben unterlaufe, so Oesterles These, die Opposition Kosmopolitismus/Nationalismus,18 indem nationale Identitäten „miniaturisiert“19 würden. In einem solchen Sinne, der ausdrücklich Heinrich von Treitschkes Denunziation eines jüdischen Feuilletonstils umkehrt, könnten Rezeptionszeugnisse von Rodenbergs Bildern aus dem Berliner Leben gedeutet werden, von Monty Jacobs’ Nachruf in der Vossischen Zeitung 1914 bis zu Heinz Knoblochs Nachwort zur DDR-Ausgabe von 1987: „Vielleicht gerade, weil er kein Berliner von Geburt war, ist er auf Straßen und Plätzen der Stadt mit der gleichen andächtigen Aufmerksamkeit umherspaziert, die er als fahrender Journalist den fremden Weltstädten entgegenbrachte“,20 schrieb Jacobs, was Knobloch als Motto benutzte für seine Rühmung: „Ansteckender Lokalpatriotismus mit Blick in die Welt“.21 Doch lassen sich auch Zeugnisse finden, in denen die von Jacobs und Knobloch zum Verschwinden gebrachte Nationalität als Rodenbergs BerlinBild dominierend wahrgenommen wurde. Georg Brandes, den die DR „zu ihren hervorragendsten und berühmtesten Mitarbeitern“ zählte22 und der in ihr Essays über Lassalle,
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Ebd., S. 27. Ebd., S. 101. Ebd., S. 107. Günter Oesterle: „Unter dem Strich“. Skizze einer Kulturpoetik des Feuilletons im neunzehnten Jahrhundert, in: Jürgen Barkhoff, Gilbert Carr (Hrsg.): Das schwierige neunzehnte Jahrhundert. Germanistische Tagung zum 65. Geburtstag von Eda Sagarra, Tübingen 2000, S. 229–250, hier S. 231. Ebd., S. 246. Ebd., S. 246. Ebd., S. 247. Heinz Knobloch: Nachwort, in: Julius Rodenberg: Bilder aus dem Berliner Leben. Hrsg. v. Gisela Lüttig, Berlin 1987, S. 355–374, hier S. 355. Ebd., S. 362. Klaus Bohnen (Hrsg.): Georg Brandes u. die ‚Deutsche Rundschau‘. Unveröffentlichter Briefwechsel zwischen Georg Brandes und Julius Rosenberg, Kopenhagen, München 1980 (=Text und Kontext. Sonderreihe. 8.), S. 12: Deutsche Rundschau 63, 1890, S. 460.
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Nietzsche und Zola publizierte, bis es über „einen Aufsatz über Heine“23 zum Bruch kam, erwähnt in seinen dänisch 1885 erschienenen „Aufzeichnungen […] während eines mehrjährigen Aufenthalts“24 Berlin als deutsche Reichshauptstadt Rodenberg nur einmal, im Kapitel Klavierspiel und Servilität. Brandes zitiert aus den Grandidiers, um zu belegen, was das Weihnachtsangebot der Berliner Buchhandlungen 1878 bestimme: „Chauvinismus und Kaiserverehrung und Bismarckverehrung“.25 Ob nicht Lokalität und Internationalität in Rodenbergs Berliner Bildern eher Nationalität „verdichten”26 als unterminieren, also die Verknüpfung von Berlin, Preußen und Deutschland leisten, soll im Folgenden an den beiden anderen Momenten, die Fontane an der ‚Deskription‘ Rodenbergs hervorgehoben hat, gefragt werden: der Auswahl und der Wirkung auf ‚Fremde‘. Rodenbergs Ich-Erzähler nennt denjenigen, dessen Spaziergänge er berichtet, häufig den Wanderer. Wenn dieser Figur ein „erfreuender“27 oder „für das Gemüt beruhigende[r]“ (178) „Anblick“ (166) zugeschrieben wird, nähert sie sich dem gleichfalls durchgängigen inklusiven „wir“ und „man“ als Subjekt von zumeist optischen Wahrnehmungen. Während das Ich immer dann obligatorisch ist, wenn auf autobiographische Erinnerungen zurückgegriffen wird, ist das Wir nur gelegentlich auf Berliner eingeschränkt, in der Regel schließt es Leser ein, die nicht als Berliner angeredet werden. So wie ein Anblick „den für eine Weile von allen Banden der gewohnten Umgebung abgelösten Wandrer mit einem wundersam frohen Vorgefühl der Zukunft erfüllen“ (155) kann, gilt allgemein: „das Werdende, Ringende freut das Auge; man hat auch hier das Gefühl, mitten in einer mächtigen Entwicklung zu sein“ (175). Im Einzelnen kann es über einen Stadtteil heißen, dass er „gleichsam vor unseren Augen den Prozeß in allen seinen wesentlichen Zügen noch einmal wiederholte, durch welchen dieser unwirtliche Boden in eine der glänzendsten Städte der Welt verwandelt ward“ (171). Dass der ‚Wandrer‘ als von der ‚gewohnten Umgebung abgelöst‘ dargestellt wird, ermöglicht nicht nur die Verallgemeinerung seiner Wahrnehmungen und Bewertungen auf den Adressaten, sondern folgt auch aus einer, scheinbar beiläufigen, Verortung des Wir innerhalb Berlins. „Hier, wo die neuen Häuser von Berlin erst gleichsam von ferne heranrücken, sind einige von den alten, gemütlichen Weißbiergärten geblieben, wie man auf unserer Seite der Stadt sie nur noch selten antrifft.“ (185)
23 Ebd., S. 74. 24 Georg Brandes: Berlin als deutsche Reichshauptstadt. Erinnerungen aus den Jahren 1877–1883. Aus dem Dän. Peter Urban-Halle. Hrsg. v. Erik M. Christensen, Hans-Dietrich Loock, Berlin 1989, S. 1. 25 Ebd., S. 251. 26 Helmut Berking, Martina Löw: Wenn New York nicht Wanne-Eickel ist … Über Städte als Wissensobjekt der Soziologie, in: dies. (Hrsg.): Die Wirklichkeit der Städte, Baden-Baden 2005 (= Soziale Welt. Sonderband. 16.), S. 9–22, hier S. 20. 27 Julius Rodenberg: Bilder aus dem Berliner Leben. Hrsg. v. Gisela Lüttig, Berlin 1987, S. 166. Quellenangaben hieraus erfolgen im Weiteren mit Angabe der Seitenzahl direkt im Text.
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Die Verortung eines Berliner Wirs auf einer von zwei Seiten der Stadt folgt scheinbar nicht der Regel, dass die Ziele der Spaziergänge, „Stadtteile“ als „Weltgegenden der Stadt“ (134) nach den Himmelrichtungen unterschieden werden: Zuerst fällt der „Blick auf den Plan“ (134), dann wird „in diese fernen Gegenden [ge]wandert“ (136), um „in der Nähe [zu] sehen“ (135). Dabei erweist sich dann der Westen als die eine Seite, die Nähe, der gegenüber Norden, Osten und Süden die Ferne bilden. Die entgegengesetzten zwei Seiten und die vier Himmelsrichtungen fallen zusammen in der einleitenden Passage zu Sonntag vor dem Landsberger Tor, die mit der Selbstdarstellung des Erzählers eine Beziehung zum Adressaten aufbaut: „Es tut mir wohl, das Leben einmal von einer anderen Seite zu betrachten, als wir es im Westen der Stadt zu sehen gewohnt sind“ (19). Die „vollkommene Gewißheit, einem Bekannten auf jener Seite der Stadt nicht zu begegnen“, wird abgegrenzt von der Möglichkeit, auf Sizilien, am Nordkap oder auf der „äußersten der Hebriden“ „Bekannte [zu] treffen“: „Aber wenn ich vor das Landsberger Tor gehe, dann bin ich ein Fremder unter Fremden. Oder – nein doch! Diese Menschen […] sind mir nicht fremd. Sie kennen mich nicht; ich aber kenne sie […,] fühle mich auf eine gewisse zutrauliche Weise in ihre Geheimnisse eingeweiht und nehme den lebhaftesten Anteil daran.“ (18/19) Auf Rodenbergs Spaziergängen in die Industrie- und Arbeiterbezirke des Nordens, des Ostens und des Südens artikuliert der ‚Wanderer‘ nicht nur Unwissen des Adressaten, wenn es in eine „Weltgegend“ geht, „von welcher man in den übrigen am wenigsten weiß“ (134), sondern auch Furcht: „in welche sich niemand gern hineinwagte“ (136), „welche […] von den übrigen Welt gemieden“ (137). Das Verhalten des ‚Wanderers‘ entspricht seiner Versicherung: „Man kann sich getrost unter diese Leute setzen“ (145), auch mit der Einschränkung: „Nur muß man freilich vermeiden, ihnen aufzufallen, und sich nicht die Miene geben, sie beobachten zu wollen.“ (145) Doch die Wanderungen‚ die nur ausnahmsweise gegen den „Strom“ der Arbeiter „schwer […] vorwärts […] kommen“: „Denn die ganze Schar der Arbeiter wälzt sich hier in dichter Masse dem Wandernden entgegen“ (143), führen regelmäßig bis zu dem Punkt, wo „kein Berlin mehr [ist], so weit der Blick reicht“(155/156): Zuletzt gelangt man an eine Stelle, wo sie [die Stadt] ganz aufzuhören scheint, und man erblickt das offene Land; aber freilich schon im Kampfe mit der Stadt, die langsam, langsam aber auch wie das Verhängnis unaufhaltsam aus der Ferne heranschreitet. Schon liegen hohe Backsteinhaufen aufgetürmt, schon ist der weiche Boden von Räderspuren durchfurcht, schon steigen, wie Skelette, Baugerüste dort aus der Erde, während hier noch am Ufer [der Spree] zwei Kinder für ihre Ziege schneiden und ein Mann mit einer Leiter über die Brücke kommt, um die Petroleumlämpchen anzuzünden. (75/76) Die Grenze von Stadt und Land, z. B. im Norden, macht Berlin zu einem Ganzen, auch wenn von dessen „ungeheurer, stundenweiter Ausdehnung man […] hier oben nichts sehen kann“ (156), denn „hier kann man, wenn ich so sagen darf, Berlin wachsen sehen“ (97):
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„Wenn einst die Müllerstraße fertig bebaut ist, wird man in einer Linie […] vom südlichsten bis zum nördlichsten Punkte Berlins, drei Stunden lang unter nichts als Häusern wandern.“ (175) Den entscheidenden Aspekt für die Bewertung der Veränderung von Land in Stadt vermittelt der Wanderer als adressatenbezogene Identifikation: „auch hier noch, an der äußersten Grenze Berlins, hat man die ganz bestimmte Empfindung der Sicherheit, welche die Zusammengehörigkeit mit einem großen Ganzen gibt.“ (155) Auf seine ‚Zusammengehörigkeit mit einem großen Ganzen‘ als einem ‚Werdenden‘ rekurriert Rodenberg, wenn er die Auswahl seiner positiv bewerteten Wahrnehmungen programmatisch kommentiert: Das ist es, was mich auf diesen meinen Wanderungen durch die Stadt so sehr anmutet: überall Menschen zu finden, mit denen sich ein trauliches Wort tauschen […] läßt, […] mit den gesellschaftlich vielleicht unter uns Stehenden auf eine Weile zu verkehren […] und selbst aus den Werken und Hinterlassenschaften der Verstorbenen eine Stimme zu hören, die mich nicht unbewegt lassen kann. (32/33) Beide Auswahlprinzipien, die sich auf die Oppositionen oben/unten und einst/jetzt beziehen, lassen sich exemplarisch an Rodenbergs Darstellung der Rosenthaler Vorstadt erkennen. Präsentiert wird die Ackerstraße als „ein Anblick, welcher allein genügen würde, den ungeheuern Abstand von einst und jetzt darzutun oder gewissermaßen in einem Bilde zu zeigen: Ich meine die Meyerschen Familienhäuser“ (166). Bettina von Arnims ‚Stimme‘ wird ausführlich zitiert, um an der nicht so genannten Mietskaserne (nur zweimal ist bei Rodenberg beiläufig von „Mietskasernen“ (149) oder „kasernenartigen Gebäuden“ (175) die Rede) „nicht schlecht[e] Luft“ und „reichliches Licht“ (168) zu belegen: „Wenn man mit solchen [von Bettina von Arnim geschilderten] Zuständen die gegenwärtigen Familienhäuser vergleicht, dann begreift man, welche Fortschritte wir gemacht haben.“ (167) Den „heute dort“ sichtbaren „modernen, hohen, palastähnlichen Gebäuden“ (137), in denen „Proletarier“ „mit ihrem bescheidenen Anteil an frischer Luft […] glücklich“ seien (166), setzt Rodenberg die aus Bettina von Arnim zitierte Vergangenheit entgegen: „in den vergilbten Blättern, wenn man sie heute liest, ist noch immer der Geruch von ungesunden, dumpfen Stuben und von Lumpen […] – kahl, trostlos, ein Bild, um einem im Traume den Atem zu benehmen“ (137). Auch wenn Rodenberg ausnahmsweise einräumt: „So rapide mit der Größe wächst auch die Armut und das Elend“ (177) – darstellenswert ist ihm nur die Regel: „Aber viel hat sich seitdem auch hier zum Bessern geändert“ (177), wie er im Kontrast zu einem GutzkowZitat über einen Armenfriedhof formuliert. Die Harmonisierung von oben und unten durch die Darstellung eines Ganzen in Entwicklung folgt aus der Auswahl positiv gewerteter Wahrnehmung, die sich auf die „Poesie“ in der „Prosa“ richtet, z. B. das Humboldt-Gymnasium, „wo jetzt Fabriken sind, hin- und hergehende Lokomotiven, hohe Häuser, Rauch und Lärm“: mitten unter diesen Fabriken und gleichsam umbrandet von der großen Arbeiterströmung steht ein schöner, äußerst solider Ziegelbau, durch einen stillen Hof von den all-
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zu lauten Stimmen der Straße geschützt und von Grün und Gartenanlagen gar freundlich umgeben (163). Obwohl der Erzähler wiederholt, so vor den Spaziergängen vor das Landsberger Tor wie in den Norden, eine „Gegend“ ankündigt, „wo man sie [die „Arbeiterbevölkerung“] am besten in der Nähe sehen kann, bei der Arbeit sowohl als in den Feierabendstunden“ (135), beschränkt sich Rodenbergs Darstellung konsequent auf Feierabend und Feiertag: „Wer […] in der rechten Stimmung sehen will“ (138), heißt es auf den Adressaten bezogen, sei auf die „Stunde, wo die Fabriken schließen und die Arbeiter heimkehren“ (149), angewiesen und auf das „Feierliche“ eines Sonntags (169), „was gegen den Wochentagslärm […] sehr wohltuend absticht“ (170). So betont Rodenberg zu dem „Raum zwischen Berg- und Gartenstraße“: die Leute dieser Gegend nennen ihn ‚Spielplatz‘. […] auf den Bänken, die sich hier reichlich finden, oder auf Schemeln, hölzernen Stühlen und Rohrsesselchen, die sie sich selber mitgebracht haben, sitzen hier in der Abendkühle die Bewohner der angrenzenden Straßen, alte und junge Ehepaare traulich beisammen, und die Kinder jagen sich auf dem Rasen, während durch das Grün der Gebüsche die großen Feuer der Hoppeschen Maschinenfabrik leuchten. (166) Über „die Leute“ in der Pferdebahn, deren Fahrt an der Dankeskirche endet, die „aus der Häusermasse […] ragt“, heißt es: „viele haben Blumen in der Hand, mehrere noch das schöngebundene, wohlerhaltene Gesangbuch“ (170). Die „zur dankbaren Erinnerung an die zweimalige providentielle Errettung unseres Kaisers von den Attentaten des Jahres 1878 aus freiwilligen Beiträgen erbaut[e]“ (174) Dankeskirche wird dem Wanderer als „Andenken des ersten deutschen Kaisers im wiedererstandenen Deutschen Reich“ zum „doppelt“ „erhebenden“ „Eindruck“: der Mittelpunkt eines neuen Gemeindelebens und zugleich das erste monumentale Bauwerk von einem jetzt schon großen historischen Charakter in dieser Gegend, die vor wenigen Jahren noch Einöde war, einzig bewohnt von kleinen Pächtern, Ackersleuten und Schäfern, welche keine Geschichte hatten und nichts als leicht verwischbare Spuren gelassen haben (174). Dass nicht nur die Kirchgänger unter den Arbeitern des Wedding, sondern alle Bewohner der zur deutschen Hauptstadt gewordenen preußischen Residenz nunmehr eine Geschichte hätten, ist die Voraussetzung der besonderen Rolle, die Friedhöfe auf den Spaziergängen Rodenbergs spielen. Die bevorzugte Auswahl der Begräbnisstätten folgt nicht nur aus der Möglichkeit des Ich-Erzählers, Einst und Jetzt zu verknüpfen: „Was mich immer und immer wieder auf diese Berliner Kirchhöfe zieht, das sind die Bilder und Erinnerungen der alten Tage. […] Jeder Kirchhof dieser großen Stadt ist voll von Schatten, die wieder lebendig werden, wenn man ihre Namen nennt.“ (164) Über das Wir der Berliner hinaus wird auf den Adressaten verallgemeinert: „Wenn es in Berlin etwas gibt, was die Seele zu beruhigen vermag, [...] welche der Betrachtung und des Aufblicks bedarf: so ist es gewiß ein Be-
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such auf unseren Kirchhöfen.“ (105) Der ‚Aufblick‘, den der Wanderer auf den Friedhöfen vermittelt, haftet nicht an dem Nebeneinander von Poesie und Prosa, sondern geht auf die Zukunft: So schreitet die Stadt vorwärts, ihre Flut nach allen Seiten hin ergießend […]; und selbst die Stätten des Friedens, […] die Kirchhöfe Berlins, auch sie sind nur noch Inseln, an deren Ufer die steinerne Brandung anschlägt. Einst, noch vor zwanzig, dreißig Jahren lagen sie weit draußen vor den Toren, wie die neuen Kirchhöfe, welche diese Gemeinden jetzt in der Hasenheide haben; aber in einer großen Stadt verschlingt das Leben den Tod, und wer weiß, ob nach abermals zwanzig, dreißig Jahren nicht auch um sie das Häusermeer sich geschlossen haben wird wie um jene? (104) Der Wanderer Rodenberg findet auf den Friedhöfen Berlins eine sinnliche Anschauung der imaginierten Gemeinschaft der Nation, im Werden und Vergehen sowohl Kontinuität als auch Harmonie: In Berlin ‚verschlingt das Leben den Tod‘. So konzentriert sich in Rodenbergs Friedhofsbeschreibungen die Wahrnehmung und Bewertung der zur Weltstadt werdenden Hauptstadt Deutschlands als „Ubergangsstadium“: „Wir befinden uns in einem Übergangsstadium, Straßen, Häuser und Menschen; und von dem Alten wird bald wenig genug mehr zu sehen sein“ (161). Noch an einem, wie er betont, extremen Beispiel, dem „Knotenpunkt“ des „Bahnsystems“ an der Friedrichstraße mit ihren „Monstrehotels nach amerikanischem Muster“, gelingt es dem Wanderer, „Züge der alten Zeit bewahrt“ zu finden und nun, im Alten noch befangen, ebenso plötzlich überrascht zu werden durch die Großartigkeit und Schönheit des Neuen, das eine dicht neben dem andern und alles im Zusammenhange das Bild einer Entwicklung, wie sie dem Auge sichtbar nicht leicht zum zweiten Male sich zeigt: das ist ein Reiz für mich, der immer wieder mit derselben Stärke wirkt. (340) Rodenbergs Betonung der Dauerhaftigkeit des Reizes verweist auf die Stärke der Bejahung des Neuen auch um den Preis der Vernichtung des Alten, vorausgesetzt die Nation stifte Kontinuität zur Vergangenheit und Harmonie in der Gegenwart. „Deutsch war sein Lied […], das Lied tönt fort“ (165),28 zitiert Rodenberg den Grabstein Albert Lortzings als einen der durch Nennung wieder lebendig gemachten Schatten vom Neuen Sophienkirchhof. Denn auf den Friedhöfen geht es Rodenberg darum, das Neue mit dem Alten auf eine Weise zu verknüpfen, die den einzelnen zum Glied in einer Generationenkette macht. Auf dem Friedhof – zumal dem aus der kirchlichen Obhut entlassenen öffentlichen Friedhof wie dem „Gemeindefriedhof zu Berlin“ in Friedrichsfelde – scheint die Nation als Gemeinschaft der Lebenden und der Toten, als das ewige Leben des Individuums sinnlich erfahrbar zu werden. 28
Vgl. das ausführliche Zitat bei Wilhelm Raabe: Die Chronik der Sperlingsgasse, unter dem Datum 3. Dezember.
JULIUS RODENBERGS BERLINER SPAZIERGÄNGE
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Der Berliner Gemeindefriedhof darf unter den jüngeren Schöpfungen Berlins eine der wohltätigsten genannt werden und wird eine der folgenreichsten sein; [...] für die gesamte Bürgerschaft ohne Unterschied der Stände und des religiösen Bekenntnisses bestimmt [...], gewährt er schon jetzt einen wohltuenden Anblick. (179) Ausdrücklich legt der Erzähler dem Adressaten den Gedanken als ‚wohltuend‘ nahe, daß es wenigstens eine sichtbare Stätte gibt, an welcher jene großen Probleme der sozialen und religiösen Unterschiede, die das Leben nicht zu lösen vermag, zum Austrag gebracht worden sind [...], wo der Arme neben dem Reichen und der Bekenner der einen Kirche neben dem Bekenner der anderen schläft. (179) Rodenbergs Beschreibung des Friedhofs von Friedrichsfelde ist als Exkurs eingeschoben in die damit kontrastierende zweier Friedhöfe im Norden, des der Charité und der PhilippiGemeinde. Letzteren stellt er in Form der Suche nach dem Grab eines Rodenberger Freundes seines Vaters dar, des Architekten Wilhelm Zahn. Die autobiographische Rückbindung der Beschreibung setzt nicht nur in Gegensatz die einstige „Offenbarung […] den Namen dieses Mannes und dieses Städtchens [im Brockhaus] gedruckt zu sehen – als ob der Strahl von etwas bisher Ungeahntem, Fremdem und Unbekanntem über meinen Weg fiele“ (182), und das namenlose Grab, wo „nichts als eine Nummer“ (184) auf den Mann verwies, dessen Tod er „– wie das in Berlin ja so manchmal geschieht – erst aus der Zeitung, nachdem er schon begraben war“ (183), erfahren hatte. Wichtiger noch ist dem Erzähler die Erklärung, warum der Brockhaus eine ‚Offenbarung‘ gewesen sei, denn sie betrifft die Veränderung der Haltung zu Berlin; zu Zahns ‚Fortwanderung‘ aus der „Heimat“ über Kassel und Italien nach Berlin heißt es: Dies alles beschäftigte die Phantasie des Knaben wundersam, dem Kassel, die Hauptstadt Hessens, wie etwas Fernes, fast Unerreichbares vorschwebte, dem Italien von den Nebeln und Schatten der römischen Königsgeschichte erfüllt schien und der vor Berlin – Furcht hatte. Denn Berlin war damals nicht wie heute der Attraktionspunkt für die strebsame deutsche Jugend; es stieß mehr ab, als es anzog, und es gehörte Mut dazu, das Vorurteil zu überwinden. (181/182) Eine ähnliche Entkonkretisierung dessen, was zu ‚überwinden‘ gewesen sei, um Berlin nicht mehr zu fürchten, sondern zu lieben, kennzeichnet einen anderen autobiographischen Rückgriff des Erzählers der Bilder aus dem Berliner Leben, der allerdings nicht von einem Friedhof, sondern von einer Straßenszene ausgeht: Mir übertönt er nicht, dieser Lärm, das Rollen der Wagen, und der hastige Schritt der Menschen, die feierliche Stimme, die vom Werden und Vergehen spricht; ich höre sie überall, hier in der nimmer rastenden Stadt, wie ich sie einst draußen gehört habe auf der Heide, […] begleitet von […] dem Abendliede der Lerche. Ich habe mein Los mit der Allgemeinheit geworfen und mir nur das Recht vorbehalten, zuweilen nachdenklich stehenzubleiben – mir ist in dieser gewaltigen Stadt mit ihren Hundert- und abermal
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Hunderttausenden so wohl wie in der Heimat. Was ich dort, vom Berge herab im Anschauen der Abendlandschaft erfahren, das wiederholt sich hier für mich noch täglich. Daß der einzelne nur im beseligenden Gefühle des Ganzen Erfüllung findet und daß es dort die gebundene Natur, hier die rege Fülle des menschlichen Lebens ist, macht dies Gefühl nur stärker, nicht anders. Es ist kein Traum mehr, es ist die Wirklichkeit ergreifender oder erhebender Schicksale, eine lange Kette von Wandlungen, Untergängen und Neubildungen, und indem ich ihnen [...] folge [...,] werde ich ein Teil der Geschichte selber (199/200). Indem Rodenberg absieht von der Konkretisierung dessen, was unterzugehen, sich zu verändern und neu zu bilden hatte, bleibt das auch für seinen Adressaten geltende Angebot einer Identifikation mit der Nation als einem Ganzen in Entwicklung, das in der Hauptstadt Berlin wahrnehmbar sei. „Für alle wichtigen Ausdrucksformen unserer Nation wird Berlin eines Tages das Zentrum sein“, schrieb Rodenberg 1884 und forderte von seinen Lesern, mit Geduld diesen Tag zu erwarten, aber schon jetzt „diese neue Großartigkeit“ anzuerkennen, die Berlin in „die schönste Stadt der Welt verwandelt“.29 An Walther Rathenaus modernistischer Wendung des wilhelminischen ‚Kaiserworts‘ von 1888: „obwohl er viele große Städte gesehen, hätte er doch den Eindruck, daß Berlin unter ihnen die schönste Stadt sei“,30 hat Walter Fähnders den „Versuch einer Versöhnung mit der großen Stadt“31 aufgezeigt. Vielleicht ließen sich Rodenbergs Bilder aus dem Berliner Leben als ein solcher verstehen, allerdings als ein dezidiert nationalistischer.
29 Übersetzt nach Roper: German Encounters (wie Anm. 2), S. 47. 30 Walter Fähnders: „Die schönste Stadt der Welt“. Walther Rathenaus Berlin-Essay, in: Walter Delabar, Dieter Heimböckel (Hrsg.): Walther Rathenau. Der Phänotyp der Moderne. Literatur- und kulturwissenschaftliche Studien, Bielefeld 2009, S. 67–85, hier S. 69. 31 Ebd., S. 84.
OLAF BRIESE
Die Verdichtung Berlins Stadträume in Romanen Max Kretzers
Die Berlin-Romane Max Kretzers, Fritz Mauthners, Paul Lindaus und Theodor Fontanes zeichnen sich zumeist durch eine relativ präzise räumliche Verortung ihrer Szenerien aus. Man soll Berlin erkennen, und man erkennt Berlin. Die Romanhandlungen gewinnen durch die bloßen Ortsangaben an realistischer Konkretheit, und darüber hinaus zeigen die gezielten Orts- und Straßenangaben meist schon signalhaft den sozialen Status der Protagonisten an. Bis auf wenige Ausnahmen – die Handlung von Lindaus Roman Arme Mädchen (1887) ist im Berliner Norden angesiedelt, in der Gegend um Ackerstraße, Pappelplatz und Weinbergsweg, Fontanes Stine (1890) spielt gleichfalls im Berliner Norden, in der Invalidenstraße – sind alle diese Romane im aufstrebenden Südwesten und Westen der Stadt verortet. Kretzer bildet hier eine Ausnahme. Einerseits unterscheidet er sich von den genannten Autoren durch die anfangs scharfe soziale Drastik seiner Schilderungen, andererseits weisen seine Schauplätze eine sozialräumliche Vielfalt auf, die die Romane der genannten anderen Autoren so nicht auszeichnet. Eine Konzentration Kretzers auf den Osten und Südosten Berlins (Jannowitzbrücke/Moritzplatz/Oranienstraße sowie auf die Gegend der damaligen Luisenstadt insgesamt, wo Kretzer lange Zeit wohnte)1 ist dabei unübersehbar. Aber eine raumanalytische Untersuchung seiner Romane kann sich nicht auf die Frage beschränken, wie ‚realistisch‘ oder ‚vielfältig‘ er Stadträume der wachsenden Metropole reflektiert und verarbeitet. Vielmehr kann sie verdeutlichen, zu welchen komplexen Raumarrangements es kommt. Stadträume werden bei Kretzer konstitutiv für die literarische Dynamik insgesamt, und literarische Handlungskonflikte sind immer auch Raumkonflikte. Kretzer wird damit – so der Titel dieses Beitrags – einerseits zum Chronisten einer sich verdichtenden Großstadt Berlin, wie er andererseits diese Vorgänge literarisch höchst artifiziell stilisiert und künstlerisch ‚verdichtet‘.
1
Auch Kretzer, der ständig in bedrückenden Umständen lebte, gehörte offenbar zu denen, die oftmals nach Quartalsende umzogen. Seine Wohnorte in der Luisenstadt laut Berliner Adresskalendern waren u. a.: 1880: Wasserthorstraße 16; 1881: Gitschiner Straße 59; 1882–1884: Fürstenstraße 4; 1885: Adalbertstraße 17; 1886: Bethanienstraße 8 usw.
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Schrumpfräume – Expansionsräume Um es endlich einmal zu sagen: Ein großer Teil der Romane um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, die unter dem Sammelbegriff ‚Berlin-Romane‘ bekannt (und vergessen worden) sind, handelt gar nicht von Berlin. Damit ist nicht der Umstand gemeint, dass ein Roman wie Die blaue Laterne. Berliner Roman von Paul Lindau (1907), der Berlin sogar im Titel führt, zur Hälfte in Norddeutschland, d.h. in Hamburg und an der Nordsee spielt. Vielmehr: Berlin war gar nicht Berlin. Beziehungsweise korrekter: Berlin war Berlin und gleichzeitig nicht Berlin. Folglich handeln auch Berlin-Romane von dieser Stadt und gleichfalls nicht. Denn wenn sie von Charlottenburg handeln, handeln sie nominell nicht von Berlin; wenn sie von Schöneberg handeln, handeln sie nominell nicht von Berlin, wenn sie vom Westend handeln, handeln sie nominell nicht von Berlin. Berlin war umzingelt von Aufsteigersiedlungen, die, rechtlich gesehen, gar nicht zur Stadt gehörten und gerade daraus ihre Attraktivität bezogen, beispielsweise aufgrund von Steuervergünstigungen für die Erbauer wie für die Bewohner. Berlin gelang es nur allmählich, sich diese Urbandelikatessen einzuverleiben. Das Tiergartenviertel wurde 1881 eingemeindet, die Stadt Schöneberg im Jahr 1920, die Stadt Charlottenburg, die wohl reichste Kommune Preußens, ebenfalls erst 1920.2 Dennoch ist es literaturhistorisch legitim, unter Vernachlässigung stadtrechtlicher Details (die damals allerdings keineswegs Details waren), ausschließlich vom Ort ‚Berlin‘ zu sprechen; es gab keine ‚Lichterfelde-Literatur‘. Solche neu entstandenen Siedlungen wie Lichterfelde, die anfangs zumeist noch bloße Wohn- und Schlafsiedlungen waren, blieben auf Berlin fixiert, auf das politische, ökonomische und kulturelle Zentrum. Dort befanden sich die Ministerien, die Börse, die Kultur-, Theater- und Vergnügungsstätten. Dieses Zentrum erweiterte sich eben um bestimmte Dependancen, vergrößerte, wie vor allem die Romane Mauthners und Lindaus erkennen lassen, seinen Raumradius. Kretzers Romane haben hingegen die Besonderheit, nicht nur Raumerweiterungen, sondern auch Raumschrumpfungen nachzuzeichnen. Soziale Positionen sind bei ihm stets Raumpositionen. Und da er auch die soziale Lage von Kleinhandwerkern, Proletariern und Unterschichtenvertretern literarisch thematisiert, kommt es bei ihm, in einer Art von Kontrastästhetik, zu literarischen Erweiterungsräumen und Schrumpfräumen gleichermaßen. Mitunter geschieht das in einem Roman gleichzeitig. Das ist insbesondere in Die Verkommenen (1883) der Fall. Stellte der Roman Die Betrogenen (1882) gezielt und typisierend, wie in einem Panorama, eine große Vielzahl von Schauplätzen unterschiedlichster, z. T. verelendeter, sozialer Akteure einschließlich ihrer räumlichen Interaktion heraus, fungierte im Roman Drei Weiber (1886) der geschlossene Raum von Salon und Klub als dekadenter Raum einer geschlossenen Gesellschaft, schilderte der Roman Meister Timpe (1888) eine geradezu naturhafte Raumlawine der Modernisierung, von der Timpe überrollt wird, machte Der Millionenbauer (1891) gezielt soziale Raum-Konkurrenzen der alten und neuen ‚Eliten‘ untereinander zum Thema, 2
Vgl. Felix Escher: Berlin und sein Umland. Zur Genese der Berliner Stadtlandschaft bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, Berlin 1985, S. 195–197, 246–248.
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entwarf der Roman Irrlichter und Gespenster (1892/1893) weniger Raumkonkurrenzen, sondern vielmehr wieder aktive Raum-Interaktionen der verschiedenen sozialen Akteure (wobei es aber nicht mehr, verglichen mit den Die Betrogenen, sozial verelendete Akteure gab) und durchmaß der ebenso wohlhabende wie dunkel-geheimnisvolle Holzhändler im gleichnamigen Roman (1900) demonstrativ-souverän den ihm geöffneten Raum der Stadt, so ist die Besonderheit des genannten Romans Die Verkommenen das programmatische Nebeneinander von Schrumpf- und Erweiterungsräumen. Rasant schrumpft der Spielraum der sozial Deklassierten, hingegen erweitert sich der der sozialen Aufsteiger und vermeintlichen Aufsteiger programmatisch. Wie gestaltet sich diese literatur-räumliche Kontrastästhetik? Zwei hauptsächliche Schauplätze gibt es im Roman: den Berliner Norden der Gerichtstraße und den Süden der Potsdamer- und Bülowstraße. Zwischen beiden gibt es Vermittlungen; als Raum- und Handlungsscharnier fungiert eine Pfandleihe nördlich des Zentrums in der Gartenstraße in der Rosenthaler Vorstadt. Dort treffen die Schicksale der Akteure anfangs aufeinander, einerseits der Proletarierfamilien Merk und Schwarz, die hier ihre Sachen versetzen, andererseits der jüdischen Pfandleiherfamilie Laib, deren Verwandte mittlerweile zu den Aufsteigern Berlins zählen (Journalist sowie Börsenspekulant). Hauptthema des Romans ist der Sozialabstieg der Familie Merk, und dieser Abstieg ist ein räumlicher. Er verdeutlicht sich anhand von drei Merkmalen: erstens der räumlichen Vertreibung aus dem Zentrum der Stadt, zweitens einem Höhenverlust (vom zweiten Stock in den Keller) und drittens in räumlicher Verengung (von Stube und Küche zu lediglich einer Kammer). Grund ist die Arbeitslosigkeit des Schlossers. Man zieht also aus einem ‚ordentlichen‘ Haus in der Invalidenstraße in eine der neuen Mietskasernen in der Gerichtstraße im Wedding (der Wedding war übrigens 1861 nach Berlin eingemeindet worden und war das erste großflächige Berliner Elends- und Notstandsgebiet).3 Nunmehr wohnt die Familie in einer schrecklichen „Mietskaserne da draußen“, in „der äußersten Vorstadt“,4 in einem Karree für rund 70 Familien nebst Schlafburschen, vier Flügel gruppiert um einen Innenhof (es handelt sich, wie sich rekonstruieren lässt, um Bauten, die ab 1869 in der Gerichtstraße entstanden, sie zählten also noch nicht zum erst später aufkommenden Typ der Mietskaserne mit Kaskaden von Häusern und Hinterhöfen).5 Eine Stube und eine Küche im zweiten Stock: Noch kann die fünfköpfige Familie – bald sind es mit einem weiteren Kind sechs Personen – darin leben. Zwar bleibt Vater Merk weiter arbeitslos, aber immerhin arbeitet seine Frau wieder in einer Fabrik in der Landsber3
4 5
Vgl. Karin Mahlich: Zur Siedlungsgeschichte des Wedding, in: Helmut Engel u. a. (Hrsg.): Geschichtslandschaft Berlin. Orte und Ereignisse. Bd. 3, Berlin 1990, S. XI–XXIV, hier S. XIX; Verein ‚Schriftenreihe Wedding e.V.‘ (Hrsg.): Armut und Obdachlosigkeit in Wedding. Schriftenreihe Wedding. Bd. 2, Januar/Februar 1991. Max Kretzer: Die Verkommenen. Berliner Sitten-Roman (1883). 16. u. 17. Auflage, Leipzig [ca. 1919], S. 29, 76. Vgl. Klaus Dettmer: Wedding, Berlin 1988 (= Geschichte der Berliner Verwaltungsbezirke, Bd. 10), S. 84/85; zur Typologie der Mietskaserne vgl. Johann Friedrich Geist, Klaus Kürvers: Das Berliner Mietshaus 1862–1945 […], München 1984, S. 220–222.
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ger Straße. Der Radius der Merks verkleinert sich aber beständig. Denn als Vater Merk sich zum ersten Mal in seinem Leben in der Kneipe des Hauses zum Alkohol verführen und die Kinder ohne Aufsicht lässt, erstickt der Jüngste beim Spielen mit dem Wohnungsofen. Merk kommt für vier Wochen in Haft, wird in eine Zelle gesperrt; am Tag der Haftentlassung, wieder zum Trunk verführt, erschlägt er im Affekt seinen ‚Verführer‘. Zwei Jahre Gefängnis, wieder im Schrumpfraum. Auch der Raum der restlichen Familie schrumpft. Mutter Merk kann nämlich aufgrund eines Arbeitsunfalls nicht mehr zur Arbeit, sie bleibt im Haus, in der Wohnung. Da die Miete nicht aufgebracht werden kann, landet man schließlich in einer Kellerkammer dieser Mietskaserne, mit nichts als Strohschütten auf dem Boden. In dieser Lage setzt der schrittweise moralische Abstieg der Tochter Magda ein. Sie gibt vor, als Tagesmutter zu arbeiten, wurde aber überredet, durch Kneipen zu ziehen und Blumen und Kleinwaren anzubieten. Zwei Kupplerinnen, die gleichfalls aus der Mietskaserne in der Gerichtstraße stammen, kommen ans Ziel: Sie machen Magda betrunken, sie wird einem reichen Wüstling zugeführt (Dorotheenstraße im direkten Zentrum der Stadt). Damit endet der erste Band des Buchs: Magda kniet und beichtet vor ihrer krank niederliegenden Mutter. Der soziale Abstieg und die Raumreduktion sind geradezu vollendet. Es geht, in mehrfachem Sinn des Worts, nicht mehr ‚weiter‘. Der zweite Band des Romans, der aufgrund der teilweise unmotivierten und kolportageartigen Ausfächerung der Geschichte an die Stärken des ersten nicht anschließen kann, zeigt dann, wie es dennoch ‚weiter‘ geht. Der Raumradius der Akteure erweitert sich. Merk ist aus dem Gefängnis zurück, er verkauft in der so genannten ‚Kaiserpassage‘ (Ecke Friedrichstraße/Unter den Linden) selbstgeschnitzte Spielzeuge; und die Familie muss nicht mehr im Keller der Mietskaserne hausen. Vor allem aber Magda vergrößert ihren Radius, gleichfalls der Sohn der schon erwähnten Näherin Schwarz, der als Kind mit ihr zusammen in der Mietskaserne aufwuchs und mir ihr befreundet war. Oskar, so sein Name, gelingt ein scheinbarer sozialer Aufstieg. Er arbeitet, vermittelt über die Verwandten der bereits erwähnten jüdischen Pfandleiher, in einer Verlagsbuchhandlung in der Bülowstraße, anfangs als einfacher Schreibergehilfe, später als Verfasser von primitiven, aber gut verkäuflichen Groschenromanen. (Gewisse antisemitische Tendenzen des Romans, das sollte erwähnt werden, erklären sich aus Kretzers Sozialengagement; er war in dieser Zeit der Sozialdemokratie verbunden, aber nicht Mitglied der ohnehin verbotenen Partei, und auch in Kreisen der Sozialdemokratie gab es zu dieser Zeit einen gewissen sozial motivierten Antisemitismus.)6 Auch Magda war ‚aufgestiegen‘. Sie war durch ihren ‚Fall‘ schwanger geworden, hatte spontan die Mietskaserne verlassen und bestreitet ihren Lebensunterhalt nunmehr als Mätresse von Adligen und Neureichen in den
6
Vgl. zu Kretzers sozialdemokratischen Kontakten: Max Kretzer: Wilder Champagner. Berliner Erinnerungen und Studien, Leipzig [1919], S. 37–39; Pierre Angel: Max Kretzer. Peintre des la société berlinoise de son temps. Le romancier et ses romans (1880–1900), Paris 1966, S. 20, 44–46; vgl. weiterhin: Hans-Gerd Henke: Der „Jude“ als Kollektivsymbol in der deutschen Sozialdemokratie 1890–1914, Mainz 1994.
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Lokalen und Salons in der Mitte Berlins. Raumerweiterung und Sozialaufstieg gehen Hand in Hand. Aber: Der scheinbare Höhepunkt des sozialen Aufstiegs beider Arbeiterkinder wird zum Wendepunkt ihres Niedergangs und Falls. Eine Theatervorstellung im ‚National-Theater‘ am Weinbergsweg, das damals durchaus anspruchsvolle Vorstellungen bot,7 zeigt Magda und Oskar auf der Höhe ihrer Reputation. Und diese Höhe ist auch eine räumliche, es geht den „Weinbergsweg hinauf zum größten Theater Berlins“, und darin „schritt sie die Stufen zur Loge hinauf“.8 Der Neffe der Pfandleiher, ein Börsenspekulant, der Magda als Mätresse von einem Bekannten ‚übernommen‘ hat, führt sie stilvoll und demonstrativ zu dieser Vorführung aus; Oskar ist unabhängig davon von einem Verwandten der Pfandleiher, einem neureichen Journalisten, ebenfalls eingeladen (Sitz im ersten Rang), und er wird mit Versprechen auf die Veröffentlichung seiner literarischen Arbeiten und auf Lohnerhöhungen günstig gestimmt. Es kommt jedoch zum Eklat: Das gezeigte erfolgreiche Stück stammt eigentlich von Oskar, der um sein geistiges Eigentum geprellt wurde, und der Galan Magdas wird direkt nach der Theatervorstellung von einer Nebenbuhlerin durch einen Säureanschlag entstellt, auch Magda wird verletzt. Damit setzt eine rasante Abwärtsbewegung beider Aufsteiger ein. Magda und Oskar gestehen alsbald einander ihre alte Liebe, aber sie sind mittlerweile zu ‚verkommen‘, um etwas aus ihrem Leben und ihrer Liebe zu machen. Er ergibt sich dem Trunk; sie beginnt wieder, als loses Mädchen durch die Kneipen zu ziehen, später als Bettlerin. Der Roman endet in einem traurigen Finale: Vater Merk stiehlt für die hungernde Familie und wird verhaftet; Magdas Kind, das bei ihren Eltern aufwuchs, stirbt; Magda und Oskar ziehen, einen letzten Entschluss vor Augen, aus der Stadt heraus, Chausseestraße, Müllerstraße, Tegeler See. Dort stürzen sie sich in die Tiefen des Wassers: „Ein Sprung, er hat sie erfaßt und sinkt mit ihr eng umschlungen“.9 Die Raumlogik, die anfangs den Merks vorgezeichnet schien – einerseits die Vertreibung aus der Stadt an ihren Rand und andererseits die räumliche Abwärtsbewegung – haben sich im ‚Auswärts‘ und ‚Abwärts‘ vollendet. Von Anfang an lebten die Familien Merk und Schwarz in einer Kontraktionsspirale, ihr sozialer und ihr räumlicher Spielraum wurden beständig kleiner. Die Modernisierungsgewinner (mit denen sich ihr Schicksal kurzzeitig kreuzte) lebten hingegen in Expansionsräumen. Sie erweiterten ihren Radius beständig und durchmaßen souverän die Stadt. Dabei handelte es sich nicht nur um eine personenbezogene Schilderung, nicht nur um einen Einzelfall. Über dieses Schicksal der einzelnen Personen hinaus entwarf der Roman eine generelle stadträumliche Kontrastästhetik. Die ‚Verlierer‘ hausen in den Mietskasernen des Nordens, auf extrem verdichtetem Raum. Dort sind sie stillgelegt in Stagnation. Die Gewinner leben im Südwesten, in den abgeschiedenen Villen an der Potsdamer Straße. Ihr Raum ist nicht verdichtet, sondern extrem ‚aufgelockert‘. Zwar haben sie ebenfalls eine Stillhalteposition, aber eine selbstge7 8 9
Vgl. Ruth Freydank: Theater in Berlin. Von den Anfängen bis 1945, Berlin 1988, S. 293; vgl. auch: Kretzer: Wilder Champagner (wie Anm. 6), S. 173/174. Kretzer: Die Verkommenen (wie Anm. 4), S. 371, 376. Ebd., S. 439.
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wählte. Denn bei Bedarf erweisen sie sich als äußerst mobil und agieren höchst vernetzt im Adergewebe der Stadt: Zu bestimmten Stunden des Tages vereinen sich all die verschiedenartigsten Elemente, die den Apparat dieser bevorzugten Herberge der Equipagen ausmachen, im Strome der Potsdamerstraße. Dann tritt auch der stillste Villenhof mit dieser Ader in Verbindung, dann sieht man, umgeben vom endlosen Geräusch der Pferdebahnwagen, Omnibusse und Gerassel der Droschken und Kutschen, Typen prägnanter Art […].10 Man sieht im Roman eine Stadt, aber mit gänzlich kontrastierenden Stadträumen. Im fünf Jahre später veröffentlichten Roman Meister Timpe spitzt sich diese Konstellation dramatisch zu: Der Stagnationsraum, der Immobilitätsraum, der Kontraktionsraum wird direkt vom Dynamikraum, vom Mobilitätsraum, vom Expansionsraum bedroht. Beide treffen direkt aufeinander. Aus der Perspektive des Verlierers Meister Timpe heißt das, dass es eigentlich nur einen Typ von Räumen gibt: den der Einschnürungsräume, die ihn zu erdrosseln drohen und ihn schließlich erdrosseln.
Natural-dingliche Einschnürungsräume In der der Tendenz nach realistischen Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland avancierten ‚Mauern‘ zu wichtigen literarischen Elementen. In Texten wie Friedrich Spielhagens Sturmflut (1877) oder Theodor Storms Die Söhne des Senators (1880) spielten sie eine ebenso zentrale Rolle wie in Felix Dahns Ein Kampf um Rom (1876/78). Reflektiert Letzterer im Gewand des Historischen die Nationalstaatseuphorie nach der deutschen Reichgründung und projiziert die Festungskämpfe des deutsch-französischen Krieges allegorisch in die Spätantike zurück, so thematisieren die Mauervariationen Spielhagens Mauern als unüberwindliche mentale Trennungslinie, bei ihm zwischen Adel und Bürgertum. Erst die unaufhaltsame Sturmflut, die mit einem Dammbruch einhergeht, fegt alle Trennungsmauern hinweg: Ein Bürgerlicher und eine Adlige heiraten; ein Adliger und ein Bürgerlicher, einst in der Revolution 1848 auf verschiedenen Seiten der Barrikaden unerbittliche Gegner, versöhnen sich. Bei Storm ging die Mauer sogar mitten durch die bürgerliche Gesellschaft selbst; zwei Kaufmannssöhne entzweien sich, und die zwischen den Grundstücken wachsende (und am Ende glücklicherweise fallende) Mauer wird Symbol dieses Bruderzwists, der mehr als nur ein Bruderzwist ist, es ist ein unerbittlicher Zwist der Moderne mit sich selbst. Und in Meister Timpe, dem Berlin-Roman Max Kretzers von 1888? Auch in diesem realistisch bzw. naturalistisch angelegten Zeitroman, der am Beispiel eines Handwerkers die Gründerzeitjahre in Berlin thematisiert, tragen Mauern allegorische Züge, aber auf andere Weise, nämlich als direkte, aktive Handlungselemente und Akteure. Auch sie zertrennen die bürgerliche Gesellschaft, jedoch in anderer Hinsicht als bei Storm. Unversöhnlich und in 10 Ebd., S. 109/110.
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wachsendem Maß umschließen die mit der Moderne wachsenden Mauern die ehrbare Handwerkswelt des Drechslermeisters Timpe. Einerseits berennen ihn die Mauern der anderen, andererseits mauert er sich selbst nach und nach ein. Timpes sozialer Radius (im Niederdeutschen heißt ‚Timpe‘ übrigens soviel wie ‚Ecke‘) schrumpft und schrumpft. Ebenso – Übersetzung von Sozialvorgängen in räumliche Konfigurationen und Konstellationen – schrumpft sein räumliches Revier. Schritt um Schritt wird er, der Vertreter einer überkommenen Welt der Handarbeit, also ein Modernisierungsverlierer, räumlich stillgelegt und legt sich still. Er verbarrikadiert sich auf seinem schrumpfenden Grundstück, dann in seinem Haus, schließlich in seiner Werkstatt, dann im darunter liegenden Keller, seinem Restrefugium, wo er ausweglos in den Tod geht. Damit entwirft Kretzer aber nicht nur ein allegorisches Szenario, sondern auch einen gewollt realistischen Plot, mit dem Dinge, gleichsam als Naturgewalten, zu Handlungsakteuren werden. Aus der Perspektive des Romans und aus der Sicht der tragisch scheiternden Hauptfigur haben die Dinge, die Mauern und die anderen urbanen Mobilisierungs- und Modernisierungselemente, eine unnachsichtige Handlungslogik. Timpe unterliegt, er ist Opfer der Verhältnisse, die sich im Roman als Sach- und Dingverhältnisse ausweisen. Kurz zur Handlung, die in den späten siebziger und frühen achtziger Jahren angesiedelt ist: Johannes Timpe, ein rechtschaffener Drechslermeister, der einige Gesellen unterhält und dessen Werkstatt sich in der Nähe der heutigen Jannowitzbrücke befindet (dort, wo die Holzmarktstraße jetzt von der S-Bahn überquert wird; das aufgrund seiner vor Geschwindigkeit schief liegenden Züge berühmte Monumental- und Panoramagemälde Julius Jacobs und Wilhelm Herwarths des Bahnhofs Jannowitzbrücke aus der Zeit um 1891 zeigt die Szenerie),11 gerät in Konflikt mit seiner Nachbarin. Timpes Sohn Franz, den er nicht entschieden genug erzieht, stiehlt wiederholt im Nachbargarten; die Kaufmannswitwe, die ihn besitzt, lässt eine hohe, mit Scherben bewehrte Mauer errichten. Alle offiziellen Rechtsklagen Timpes helfen nicht. Die Mauer darf bleiben, und erste Schatten werfen sich auf sein Haus. Alsbald heiratet ein gewisser Fabrikant Urban die Witwe. Tätig ist er in derselben Branche wie Timpe – ebenfalls Knopf- und Gehstockfabrikant. Urban läßt die Gartenbäume fällen und errichtet ein hochaufragendes Fabrikationsgebäude. Timpes Blickradius wird weiter beschränkt. Noch hat er freie Sicht in eine Richtung, aber in die andere ist der Blick inzwischen verstellt: „Dort der lachende Sonnenschein, die unbegrenzte Freiheit des Blickes, der Reiz einer eigentümlichen Landschaft, und hier, Hand in Hand mit dem Zerstörungswerk der Menschen, der Aufbau steiler Wände, die das Licht des Himmels nahmen“.12 Aber nicht nur die Veränderungen in der räumlichen Nachbarschaft betreffen Timpe. Es geht um sein eigenes Grundstück, um seinen Besitz selbst. Einerseits begehrt es die private Gesellschaft, die die neue Stadtbahn baut (also die Bahnverbindung zwischen Ostbahnhof und Charlottenburg); andererseits möchte Nachbar Urban, der Fabrikant, es sich aneignen, 11
12
Vgl. Rolf Bothe: Stadtbilder zwischen Menzel und Liebermann. Von der Reichsgründungsepoche zur wilhelminischen Großstadt, in: Berlin Museum (Hrsg.): Stadtbilder. Berlin in der Malerei vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Berlin 1987, S. 173–242, hier S. 212–214. Max Kretzer: Meister Timpe. Sozialer Roman (1888), Berlin 1927, S. 59.
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entweder um betrieblich zu expandieren oder um als Spekulant den Grundstückspreis für den Verkauf an die Bahngesellschaft in die Höhe zu treiben. Damit zeichnete Kretzer, bezogen auf die Nahperspektive Timpes, zumindest andeutungsweise, tatsächliche Spekulationsskandale dieses Bahnbaus nach; er wurde 1875 begonnen, und nachdem das Konsortium erst Kasse und anschließend unter dubiosen Umständen Bankrott machte, übernahm der Staat 1878 den Bau, der 1882 vollendet wurde.13 Timpe weiß nichts von dieser großen Welt. Er lebt nur in seiner Nahperspektive, er erlebt, wie Urban ihn unter Druck setzt. Noch kommunizieren Timpe und Urban direkt miteinander, und zwar durch ein Loch in der Mauer, das ansonsten mit Bohlen verstellt ist. Bald hört aber diese persönliche Kommunikation gänzlich auf. Immerhin, Timpe hält an seinem Grundstück fest und behält es. Aber es wird nunmehr eingekeilt und Timpes Lebensraum materiell-dinglich weiter beschnitten. Die Schneise für die neue Stadtbahn zielt auf sein Grundstück zu, die Trasse soll direkt durch seinen Vorgarten führen, schon sieht Timpe, wie die umliegenden Häuser abgerissen werden, Damm und Viadukt sich ins überkommene Stadtbild fressen. Letztlich führt der Viadukt aber hinter dem Grundstück mit dem Haus vorbei. Dennoch gerät es durch den Abriß der Nachbarhäuser und durch neue Straßenschneisen in eine Insellage: Timpes Haus nahm sich nun wie ein störender Punkt in der Umgebung aus, wie ein alter Sonderling, der der Neuerung trotzt: vorn der freie Platz, begrenzt von den Neubauten der Holzmarktstraße, und hinten die roten Backsteingebäude der Fabrik, überragt von dem Schornstein, der Siegessäule der modernen Industrie.14 Hinzu kamen die schon genannten Bauten der Bahn: Einer ihrer Pfeiler berührte die hintere Giebelwand so dicht, daß der Meister vermeinte, ihn mit der Hand fassen zu können. Fast gleichmäßig von Tag zu Tag, als wüchsen sie Fuß für Fuß aus der Erde, erhoben die Pfeiler sich auf der ganzen Linie […]. Und je weiter die Steinmassen sich rechts und links ausdehnten, um zu einem riesigen Ringe zu werden, je beengter fühlte sich der Meister […].15 Die räumliche Isolierung korrespondiert mit der sozialen. Sohn Franz, einst in die Lehre zum Nachbar Urban gegeben und nunmehr dessen geistiges Ziehkind, wendet sich vollends von seinem Vater ab. Er erweist sich nicht nur als kapitalistischer Glücksritter, sondern ebenso als moralisch verwerflicher Tunichtgut, der seinen Vater bestiehlt. Er versorgt Urban mit den handwerklichen Mustermodellen, die einst für Timpes Erfolg gestanden hatten. Da Urban darüber hinaus durch seine Fabrikationsanlagen weitaus effektiver arbeitet und auch der Kundenstamm hinüberwechselt, gerät Timpe immer mehr in wirtschaftliche Schieflage. 13 Vgl. u. a.: Erika Schachinger: Zum Bau der Stadtbahn in der alten Innenstadt Berlins, in: Die Berliner S-Bahn. Gesellschaftsgeschichte eines industriellen Verkehrsmittels. Katalog zur Ausstellung der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK) […], Berlin 1982, S. 27–48. 14 Kretzer: Meister Timpe (wie Anm. 12), S. 120. 15 Ebd., S. 128.
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Einen Kunden nach dem anderen verliert er, ein Geselle nach dem anderen verlässt ihn. Der ehrwürdige Großvater, gleichfalls ein Mitbewohner im Haus, stirbt; Sohn Franz heiratet Urbans Tochter und ist gleichfalls für den Vater ‚gestorben‘. Noch bleibt ihm die Ehefrau Karoline, aber auch sie stirbt. Timpe, verarmt und allmählich zum Trinker werdend, hat nur noch einen treuen Altgesellen und kapselt sich ein: „Timpe begann nun, das Leben eines wahren Einsiedlers zu führen. Selten verließ er das Haus. Er scheute die Berührung mit der Außenwelt […]. Hatte er wirklich einen geschäftlichen Gang zu erledigen, so tat er es im Schutze der Abendstunde“.16 Recht und schlecht schlägt er sich durch. Um zu Geld zu kommen, nimmt er eine Hypothek auf, aber weil Spekulanten und Beamte unter der Hand kooperieren, kommt es zu unnachgiebigen Rückzahlungsforderungen. Die Verbreiterung der Straße ist nämlich beschlossene Sache, und im Falle der Nichtzahlung hätte man Timpe auf elegante Art enteignet. Timpe resigniert, er verschließt sich innerlich und äußerlich immer mehr. Ratschläge und Hilfe schlägt er aus, den anhänglichen Altgesellen, der ihm die neue Zeit vorsichtig aus sozialdemokratischer Perspektive erklären möchte, sperrt er aus und verbarrikadiert sich im Haus. Immerhin gelingt es ihm, die Pfändung abzuwenden, indem er beginnt, seine Werkbänke zu verkaufen. Damit scheint das Ende vorprogrammiert. Alles steuert in diesem schmucklosen Roman, der sich epischer Gesten gänzlich enthält, mit der Folgerichtigkeit einer Tragödie auf den letzten Akt, auf die Katastrophe zu, zumindest was Timpe betrifft. Als einziges retardierendes Element wirkt lediglich die plötzliche, von Alkohol beflügelte antikapitalistische Kampfrede auf einer Streikversammlung der benachbarten, sozialdemokratisch orientierten Arbeiter; Timpe, der sonst eher hilflos und passiv wirkt, springt dort sogar seinem Sohn an die Kehle. Aber danach fällt er wieder in sich zusammen, ist nur noch lethargisches, hilfloses Subjekt. Aufgrund seiner aufrührerischen Reden hat er – schließlich spielt die Handlung inmitten der Zeit des Sozialistengesetzes – eine gerichtliche Strafe zu erwarten; parallel dazu naht die endgültige Pfändung und Abschiebung Timpes vom unrettbar verschuldeten Grundstück. Sein Entschluss steht fest: „Er verrammelte sämtliche Türen, schleppte mit übermenschlichen Kräften schwere Gegenstände an die Fenster und auf den Flur. Dann befestigte er auch die Laden zur Werkstatt, die seit undenklichen Zeiten nicht geschlossen wurden“.17 Tags darauf, als Gerichtsvollzieher und Schutzmänner ins Haus eindringen, zündet er sein letztes Refugium, sein Kellerverließ an. Und oben, auf dem Viadukt, so endet der Roman, rollte die erste Bahn. Timpe, ein Opfer des Fortschritts, wird von ihr symbolisch überrollt. Bisher wurden hier, bezogen auf Timpe, die Raumverengungen und Raumverdichtungen hervorgehoben, Timpes agoraphobische und klaustrophobische Erfahrungen. Dennoch sind Räume innerhalb der Romankomposition durchaus ambivalent. So können Räume und ihre Mauern für Timpe zu Schutzelementen werden und Ummauertes zum Schutzraum. Gleichermaßen sind diese selbstgewollten Freiräume Zwangsräume in einem geradezu 16 Ebd., S. 184. 17 Ebd., S. 224.
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naturhaft erdrückenden Zivilisationsgefängnis Stadt. All das bedeutet den Abschied vom biedermeierlichen Berlin, von dem Haus, das 1820 vom Großvater aufgebaut worden war. Noch wohnen, zu Beginn des Romangeschehens, im Sinn des herkömmlichen „ganzen Hauses“, drei Generationen unter einem Dach:18 erstens der Großvater (der sich als blinder, greiser Seher und Relikt einer längst vergangenen Welt erweist), zweitens Timpe, der durchaus anfangs Mobilität erkennen lässt, sogar überlegt, für seinen Sohn wirtschaftlich und räumlich zu expandieren, und drittens schließlich der Sohn, der zu Urban wechselt, also auf die Seite des unerbittlichen industriellen Fortschritts. Nicht nur dieser Familienverbund zerbricht, so dass Timpe allein im Haus verbleibt. Vielmehr: Die ganze herkömmliche Stadt zerbricht und wird von neuen Ensembles hinweggefegt: „Was dort fiel, war das alte Berlin, der stete Anblick seiner Kindheit“.19 Die Logik dieses modernisierenden Stadtumbaus impliziert, dass sich die Stadträume verengen und verdichten, sich aber parallel dazu der Radius ihrer Bewohner potenziell vergrößert. Bezeichnenderweise schnüren gerade neue Verkehrswege Timpes Refugium ein und bedrohen sein Haus: Hinten die Stadtbahn, vorn die Straßenerweiterung. Sie zwängen ihn ein, und er lässt sich einzwängen, er findet keinen Anschluss an die Neuerungen. Andere Akteure des Romans hingegen nutzen beherzt diese neue städtische Mobilität: Timpes Sohn lässt sich eine Villa in Friedrichshagen erbauen und ‚pendelt‘ zu den verschiedenen Handlungsorten; Timpes versöhnliche Schwiegertochter besucht ihn mehrmals von Friedrichshagen aus. Sie – und andere, auch andere Handwerkerkollegen – haben den Bewegungs- und Handlungsspielraum, den Timpe sich nicht erwirbt. Er ist fast vollständig immobil. Und er wird, unfähig zu Mobilität, vom expandierenden Moloch Stadt verschlungen. Timpe – und hier soll betont werden, dass es Kretzer klar erkennbar nicht um eine Metaphysik des Untergangs geht, sondern um eine Milieu- und Fallstudie über einen bestimmten Modernisierungsverweigerer und Modernisierungsverlierer, dem im Roman kontrastiv Modernisierungsnutznießer und sogar Modernisierungsnutznießer aus dem Kleinhandwerkermilieu gegenüberstehen – ist nicht Herr der geschichtlichen Entwicklung, der Stadtveränderung, der Stadtverdichtung und Stadterweiterung. Vielmehr: Die Stadt bedrängt ihn, stürmt auf ihn ein, umzingelt ihn mit ihrer materiellen Zudringlichkeit. Er produziert Gehstöcke; die Stadt erdrosselt ihn mit einer Doppelschlinge aus S-Bahn-Trasse und Verkehrsmagistrale. Timpe ist nicht Opfer persönlicher Ränke, sondern erstens seiner selbst, zweitens des unerbittlichen Gangs der Verhältnisse, der Dinge, der Stadt. Urban, so heißt sein Gegenspieler mit dem Nachnamen. Nomen est omen: Sie, die Stadt, wird zum triumphierenden Akteur, sie hat ‚agency‘, wie man heute sagt. Letztlich ist es, als ob die Stadt handelt, als wären die Menschen nur ihre Handlanger, ihre ausführenden Agenten. Gerade dieser Organismus Stadt hat all die menschlichen Qualitäten und Kulturpotentiale, denen es Timpe mangelt: Dynamik, Veränderungswillen, Durchsetzungskraft. Timpe hingegen gibt auf, scheint zu degenerieren, verweigert sich zunehmend der ‚Kultur‘; er zieht sich, wie ein
18 Vgl. Martin Swales: Epochenbuch Realismus. Romane und Erzählungen, Berlin 1997, S. 163–176. 19 Kretzer: Meister Timpe (wie Anm. 12), S. 59.
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Dachs, wie es im Roman heißt,20 regressiv in seinen Bau zurück. In diesem gibt er sich – letzte Geste der Souveränität – selbst den Tod. Die Stadt handelt, die Stadt bedrängt, die Stadt regiert die Menschen mit der Kraft einer Naturmacht. Und genau das ist der theoretische Kern eines stadttheoretischen Essays, der exakt fünfzehn Jahre nach dem Roman Meister Timpe veröffentlicht wurde. Es handelt sich um den 1903 veröffentlichten Essay Die Großstädte und das Geistesleben des in Berlin geborenen und in Berlin lehrenden Kulturtheoretikers Georg Simmel. Großstadt – und Großstadt, das ist hervorzuheben, war für Simmel stets Berlin – ist ein eigendynamisches Dingkonglomerat. Simmel spricht von einer Herrschaft von „Dingen und Mächten“ über die Kultursubjekte, er spricht von einem „Überwuchern“.21 Dinge gewinnen bestimmte Handlungsqualitäten, sie werden, wie Kulturprodukte überhaupt, zum Selbstläufer. Dinge – und Simmels Ausführungen lassen sich durchaus als Kommentar zu Timpes Erfahrungen lesen – gewinnen ‚energeia‘, werden ‚energisch‘. Sie haben nicht nur Sinn, sondern Eigensinn, sind nicht mehr steuerbar, sondern steuern selbst, sie wollen sich nicht fügen, sondern verfügen selbst. Fazit: Das Erzeugnis regiert den Erzeuger, der Knecht den Herrn, genauso, wie Timpe es erfährt. Dinge werden zu ebenso verborgenen wie souveränen Regenten, zu unermüdlichen Event-Managern, die fortwährend mit Menschen etwas veranstalten. Erbarmungslos haben sie die Menschen im Griff. Die materielle Kultur, so könnte man meinen, erdrosselt ihre Schöpfer. Im Fall von Meister Johannes Timpe liegt diese Konstellation auf der Hand. Der Jungfernzug der Stadtbahn, so die schon erwähnte Schlussszene des Romans, rollt über die ‚Trümmerstätte‘ hinweg, die vom Grundstück verblieben war und in deren Wohnzimmer der tote Timpe aufgebahrt lag: „Ein dumpfes Ächzen und Stoßen wurde wahrnehmbar, heller Qualm wälzte sich über die Straße, und unter dem Zittern der Erde brauste die Stadtbahn heran, die ihren Siegeszug durch das Steinmeer von Berlin hielt“.22
Sozialräume und Raumprofit Meister Timpe kann als Kretzers bedeutendster Roman gelten (weil er die soziale Frage nicht in eine moralische übersetzt und weil er Elemente der karikierenden und stereotypen Kolportage meidet); drei Jahre später legte er mit Der Millionenbauer seinen kommerziell wohl erfolgreichsten vor (den er im selben Jahr 1891 auch zu einem Theaterstück umarbeitete). Kretzer gibt Satire statt Melodram: und zwar bissige Satire, keine zahme Satire. Dieser streckenweise unterhaltsame Roman Der Millionenbauer bietet ein Panorama nicht der sozial Deklassierten, wie Timpe es einer war, sondern der sozialen Eliten. Und die Pointe: Auch die sozialen Eliten, in diesem Fall der preußische Adel, sind bereits unkorrigierbar lädiert und deklassiert. Sie sind ökonomisch unter Druck, sind in der Regel verschuldet und mora20 Vgl. ebd., S. 189. 21 Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben (1903), in: ders.: Gesamtausgabe. Hrsg. v. Otthein Rammstedt. Bd. 7, Frankfurt/M. 1995, S. 116–131, hier S. 129/130. 22 Kretzer: Meister Timpe (wie Anm. 12), S. 228.
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lisch derangiert. Nur mühsam kann die hohle Fassade von Stand und Ehre aufrechterhalten werden, mühsam werden Standesgrenzen betoniert. Ein scheinheiliger Habitus soll zementieren, was längst bröcklig geworden ist und permanent bröckelt. Und auch in diesem Roman ist die Raumproblematik handlungskonstitutiv. Zwei Seiten konkurrieren um das, was der französische Soziologe Pierre Bourdieu Raumprofite (aufgrund ökonomischer, sozialer, physischer und symbolischer Raumhegemonie) nennt:23 auf der einen Seite ein einstmals ländlich-schlichtes Gemüt, das durch kluge Grundstücksspekulationen zum ‚Millionenbauer‘ aufgestiegen ist, auf der anderen Seite Vater und Sohn der dem ältesten preußischen Adel angehörenden Familie von Heckenstett. Ihre soziale Konkurrenz ist eine direkte Geldkonkurrenz. Ausgetragen wird sie aber überraschend deutlich als Raumkonkurrenz, als Konkurrenzkampf um soziale Hegemonie in öffentlichen und privaten Stadträumen. Dabei gehen beide Seiten mit asymmetrischen Voraussetzungen ins Geschehen, und letztlich, nachdem sich die Wege und Raumansprüche vehement kreuzten, kommt es zu einer symmetrischen Demaskierung. Auf diese Weise mündet der Roman nicht in eine Katastrophe, aber auch nicht in eine Versöhnung. Er endet mit einer Patt-Situation, die nur Verlierer kennt. Zum Inhalt: In einem Wilmersdorfer Ausflugslokal (unverkennbar der damals berühmte ‚Tanzpalast Schramm‘ am Wilmersdorfer See, ein Gewässer, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts zugeschüttet wurde) treffen der millionenschwere Bauer Hans Köppke aus Schöneberg, der durch Landverkäufe an Eisenbahn- und Terrain-Gesellschaften zu Reichtum gekommen ist (und noch weitere Reserven an Land und an Kiesgruben in der Hinterhand hat), und die Adligen Hartwig von Rigard und Eberhard Hugo Freiherr von Heckenstett ungewollt aufeinander. Erste Misstöne, die sich allein aufgrund des offensichtlich sozialen Gefälles ergeben, räumt der joviale Köppke – der ökonomische und physische Regent über diesen Raum – aus, indem er die finanziell klammen jungen Männer erstens mehr oder weniger nötigend freihält, sie zweitens in seine Droschke nötigt und sie drittens kurzerhand nötigt, mit in sein Schöneberger Domizil einzukehren. Der gemeinsam durchzechte Abend stellt die Weichen für ein von beiden Seiten angepeiltes Geschäft, das schon am nächsten Morgen konkrete Formen annimmt: Der junge Mann bekommt eine Tochter des Bauern mit entsprechender Mitgift zur Braut; die Braut und damit auch Köppke erhalten im Gegenzug durch diese Heirat ihren symbolischen Adelsschlag. Zwei auch räumlich separierte Milieus treffen damit aufeinander. Nicht zufälligerweise ereignete sich das erste Treffen noch auf dem neutralen Terrain eines Ausflugslokals in idyllischer Landschaft. Dann aber zeigt sich der soziale Unterschied sofort als Raumunterschied: Köppke, dessen Urahn einst wahrscheinlich als Pferdeknecht in das von den Wirren des Dreißigjährigen Kriegs zerstörte Dorf Schöneberg gekommen war, residiert dort neureich auf seinem Hof, der trotz Neu- und Anbauten noch bäurischen Charakter trägt und die Neuankömmlinge mit scharfem Geruch nach Vieh empfängt. Hugo, nach seinem kurzen Offiziersdienst noch bei seinen Eltern lebend, wohnt mit ihnen in einer der neugewachsenen Straßen außerhalb des alten Berlin, an der Grenze zu Schöneberg, in einem Durch23
Vgl. Pierre Bourdieu: Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum, in: Martin Wentz (Hrsg.): Stadt-Räume, Frankfurt/M., New York 1991, S. 26–34.
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schnittsviertel, das im Winkel von Potsdamer Straße und Landwehrkanal liegt. Köppkes Haus ist stilvoll, gleichwohl ein wenig protzig eingerichtet; die Mietwohnung der (selbstredend verschuldeten) Heckenstetts atmet eine gewisse Melancholie des Niedergangs: langsam verbleichende Teppiche, Gebrauchspuren an den unmodernen Möbeln, Nippes als Wohlstandsersatz: „Alles war sauber, mit Geschmack gestellt und angeordnet, aber alles verriet den fahlen Glanz vornehmer Armut, die schlimmer ist als die wirkliche, weil sie das stete Bestreben zeigt, sich zu verdecken“.24 Man ist, was den Wohnort und die Wohnsituation betrifft – auch die entsprechenden Familienporträts fehlen nicht – also ein wenig an Fontanes Adelsfamilie der Poggenpuhls erinnert (Fontane veröffentlichte seinen gleichnamigen Roman fünf Jahre nach Kretzers Millionenbauer), und auch der Plot ähnelt sich verblüffend, nur dass bei Fontane der betreffende Sohn in eine jüdische Familie einheiratet, bei Kretzer aber in die des zu Reichtum gekommenen Bauern.25 Denn geheiratet soll werden. Aber das führt zu Problemen, letztlich sogar zu einem Eklat. Allein der soziale Unterschied ist skandalös genug: Adliger sucht Bauerstochter! Bauerstochter sucht Adligen! Verstärkt werden die Spannungen, weil Geld nicht lediglich verschämt im Hintergrund der Eheanbahnung steht, sondern sie direkt überschattet. Die Heckenstetts sind verschuldet, und der leichtlebige und bei Pferdewetten und im Spiel verschwenderische Sohn Hugo befördert nur diese Verschuldung. So muss der alte Major, der unter Qualen bei Köppke den Brautwerber spielt, gleichzeitig um sofortige Schuldentilgung einer unmittelbar fälligen Summe bitten. Der Major ist gezwungen, Köppke in Schöneberg die Aufwartung zu machen und mit der peinlichsten Bitte aller Bitten zu konfrontieren. Dabei transformiert sich die ökonomische Hegemonie erneut, wie schon bei den ersten nötigenden Einladungsszenen, in eine Raumhegemonie, eine physische Raumhegemonie. Die Raumprofite potenzieren sich. Der Bittsteller, der Adlige aus bestem Haus, muss zum Millionenbauern nach Schöneberg kommen. Dort hält Köppke generös Hof, er dominiert mit körperlicher Fülle und mit der Sicherheit seiner Präsenz den Raum, seine Stimme und sein genussvoll ausgestoßener Zigarrendunst erweitern seinen unmittelbaren physischen Radius und ‚markieren‘ diesen Raum zusätzlich. Umgekehrt aber ist ihm der Zugang zu den Adelswohnungen im Zentrum verwehrt, hier gelten die traditionellen, wenn auch mittlerweile längst brüchigen Raumdefinitionen. Sorgsam und auch mit Täuschungen und Lügen versucht der neue Schwiegersohn, der inzwischen in einer palastähnlichen repräsentativen Wohnung im damals nobelsten Berliner Wohnviertel, dem Tiergartenviertel, wohnt (die ja von Köppkes Mitgift bezahlt war), Letzteren von adligen Familienempfängen fernzuhalten. Letzte Schutzzonen sollen mit aller Macht verteidigt werden. Die Kämpfe um physische Raumhegemonie gehen sogar soweit, dass Köppke, der sieht, wie Hugo in einem Vergnü-
24 Max Kretzer: Der Millionenbauer. Roman (1891), Berlin 1953, S. 59. 25 Vgl. insgesamt: Miroslaw Ossowski: Theodor Fontane und Max Kretzer. Ein Vergleich anhand ihrer Berliner Romane, in: Theodor Fontane im literarischen Leben seiner Zeit. Beiträge zur FontaneKonferenz vom 17. bis 20. Juni 1986 in Potsdam, Berlin 1987 (= Beiträge aus der Deutschen Staatsbibliothek, Bd. 6), S. 525–546.
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gungslokal mit so genannten losen Mädchen flirtet und ihn mit pöbelhaften Provokationen bloßstellen will, von Hugo und seinen Standesgenossen rigoros an die Luft gesetzt wird.26 Ökonomisch definierte Räume, physisch definierte Räume: Der nunmehr städtisch ausgetragene Machtkampf zwischen Bauern und Adel (Bürger und Proletarier kommen in dieser Kulturposse fast gar nicht vor) vollzieht sich auch auf einem weiteren, einem dritten Terrain. Neben ökonomischen und physischen bekommt Raum auch eine moralische Dimension. Der Grobian Köppke, vom Charakter her gewiss kein Feingeist, sondern auch von Geltungs- und Rachsucht getragen, hat bestimmte Prinzipien. Gewinn und Geld stehen bei ihm an erster Stelle, das Leben darum herum soll sich in unkompliziertem Genuss gestalten. Wenn Probleme auftauchen, werden sie durch Geld gelöst. Er hält die Welt für käuflich, weil sie käuflich ist, und er versteckt diese Maxime nicht sonderlich. Insofern ist er auf seine Art ehrlich und berechenbar. Sein betont offenes Haus kennt scheinbar keine Ständeunterschiede, es dient ihm sogar dazu, Ständeunterschiede gezielt und nicht ohne Schadenfreude zu brechen. Deutlich wird das u.a. in der Szene, in der sich bei einem Gemeinschaftsessen in Köppkes Haus einer seiner Neffen als einstiger Militärbursche des neuen Schwiegersohns entpuppt, dieser also durch die Hochzeit mit ihm verwandt werden wird.27 Köppke hat die schlichte und berechenbare Moral der Unmoral, er hat nichts zu verbergen. Auch deshalb stehen Haus und Hof auch weniger wohlhabenden Familienmitgliedern offen. Es ist ein Haus ohne Geheimnisse. Die Wohnung der Heckenstetts und die Wohnung des neuen Paars sind hingegen Lügendomizile. Mit einer Lüge wird Köppke von Hugo daran gehindert, in die Wohnung des jungen Paars einzutreten und an einem kleinen Empfang im Adelskreise beizuwohnen, und mit Lügen täuschen sich die Heckenstetts gegenseitig. Der Major, der die Familienwohnung regelmäßig für seine angeblichen Studien in der Königlichen Bibliothek verläßt, ist in Wirklichkeit, was nicht einmal seine Frau weiß, als kommerzieller Weinvertreter unter Standesgenossen tätig. Und die Mutter borgt von einem Bankier für ihren Sohn heimlich Geld und deckt seinen liederlichen Lebenswandel. Dieser wiederum verheimlicht ihr und seinem Vater, so gut er kann, sein ausschweifendes Leben. Die Adelswohnung wird mit den vorgeschobenen Ideologemen von Anstand und Ehre zu einer Stätte von Lügengespinsten; moralisch gesehen, ist sie ein Lügendomizil. Das wird auch die Wohnung des neuen Paars im Tiergartenviertel, bald beginnt Hugo Affären mit anderen Frauen. Aber diese moralisch einfache Rollenverteilung – hier der rauhbeinige, aber unverstellte bäuerliche Emporkömmling in seinem dörflichen Domizil, dort die eifrig an ihren Standestrugbildern arbeitenden Adligen in ihren Stadtwohnungen, die sich immer mehr als Lügennester herausstellen – wird letztlich einer grundlegenden Revision unterzogen. Die Romanhandlung ‚kippt‘. Köppke, immer mehr von Rachsucht und Geltungsdrang getrieben, wird zum Schnüffler. Er engagiert – in Kretzers Sonderbare Schwärmer (1881) und in Lindaus Die blaue Laterne (1907) kommen kommerzielle Privatermittler ebenfalls zum Einsatz – eine Detektei, um den Lebenswandel seines Schwiegersohnes aufzudecken und die junge Ehe zu 26 Vgl. Kretzer: Der Millionenbauer (wie Anm. 24), S. 202–204. 27 Vgl. ebd., S. 133–135.
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spalten. Mit Selbstgefälligkeit und Hybris beleidigt und beschimpft er schließlich die Heckenstetts auf elementare Weise; Vater Heckenstett legt daraufhin, ganz überholte adlige Standesehre, seinem Sohn den Selbstmord nahe. Nur einer novellenhaften Wendung ist zu verdanken, dass die Situation nicht eskaliert, vielmehr Köppke Abbitte leisten muss. Was war geschehen? Zwei Personen, die unter all den bloßgestellten Typen des Romans als Positivgestalten anzusehen sind, erzwingen eine ausgleichende Wende. Köppkes Tochter Marie, die trotz ihrer Heirat mit Hugo ihr Herz auf dem rechten Fleck behalten hat, versucht zu vermitteln, und ein verarmter Verwandter, der bei Köppke als Faktotum und Sekretär diente und aus ungerechtfertigter Wut von Letzterem verjagt wurde, wehrt sich. Er erinnert vor versammelter Familie daran, wie es zu dem Millionenreichtum gekommen war: Er war Ergebnis eines Erbbetrugs, durch den Köppke nicht nur an einen Teil des Vermögens gelangt war, sondern an das ganze. Der Millionenreichtum beruhte, zumindest zum Teil, auf Lügen und Intrigen. Die Grundstücke, die Köppke und seine Familie reich gemacht hatten, gehörten ihm nur halb. Das bleibt weiter Familiengeheimnis, aber eine Entschuldigung an die Heckenstetts wird veranlasst, und das junge Paar erhält die Chance für einen Neuanfang. Zusammengefasst: Die ökonomischen, physischen und moralischen Raumantagonismen erwiesen sich als Raumverkehrungen, bis hin zur letzten überraschenden Wendung. Der Nachkomme eines Pferdeknechts wird in einem Dorfe Schöneberg zum Millionär, die einstigen adlig-ländlichen Gutsbesitzer sind längst zu Stadtwesen mutiert und verarmt. Und das Anfangsszenario eines tendenziell moralisch ‚besseren‘ ländlichen Raums und eines tendenziell moralisch ‚schlechteren‘ städtischen Adelsraums wird ebenfalls einer verkehrenden Revision unterzogen. Am Ende gibt es auf beiden Seiten das gleiche Resultat, nämlich das Resultat zerstörter Selbstbilder und zerstörter Illusionen. Räume sind die theatrale Kulisse von immerwährenden Sozialtragödien, Sozialkomödien und Sozialpossen, in die die Akteure sich mehr oder weniger selbstgewollt verstricken. Auch dieser Roman Kretzers macht keine Liebeserklärung an Berlin. „Berlin frisst allens uff“ –28 dieses Bonmot, mit dem Köppke die räumliche Expansion Berlins beschreibt, kann auch für die angefressene sozialpsychische Verfassung seiner Bewohner aller Schichten und Klassen gelten.
28 Ebd., S. 29.
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Die Textur der Fülle Wilhelm Bölsches Roman Die Mittagsgöttin
Zu den bleibenden thematischen Errungenschaften des Naturalismus zählt die Großstadt. Mit ihr hat er literaturgeschichtlich Epoche gemacht. 1884 fasste Arno Holz die lyrische Entdeckung der Großstadt in die prägnante Formel: „Das goldne Wort: Auch dies ist Poesie!“1 1886 verkündet Julius Hart: „nur die Friedrichstraße hat noch Poesie, wert gemalt zu werden“.2 Äußerungen dieser Art verdecken freilich den Umstand, dass die naturalistische Großstadterfahrung weit weniger Eindeutigkeit besaß, als es das modernistische Selbstverständnis der Autoren suggerierte; was sie an der ‚großen Stadt‘ faszinierte und beglückte, war zugleich angstbesetzt und traumatisch. Vor allem die gewachsenen ökonomischen Gegensätze hatten sich den städtischen Topographien nach 1870 deutlich eingeprägt; so vor allem in Berlin, wo die proletarischen Ostquartiere im Gefolge ausgedehnter Fabrikbauten eine gänzlich andere Physiognomie gewannen als der reich gewordene, in Teilen geradezu mondäne Westen der Stadt. „Ein Paradies, ein süßes Kanaan, – / Ein Höllenreich und Schatten bleich vermodernd“,3 dichtete Julius Hart 1882 über das moderne Berlin und gab damit einer geradezu schizophrenen Stadterfahrung Ausdruck. Aus der Distanz steht es außer Frage, dass die frühe Moderne ihre Modernität nicht aus einem schrankenlosen Bekenntnis zur Großstadt bezogen hat. Modern ist sie vielmehr dort, wo sie die gegenläufigen Affektimpulse ihrer Stadtwahrnehmung in sich aufnimmt und in bestimmte ästhetische Figurationen ihrer Darstellung wendet. Modern, jedenfalls ästhetisch modern, ist nicht schon das Thema der Großstadt an sich, sondern das Zusammenspiel von mentalen Reaktionsmustern und ästhetisch-textuellen Figurationen, die sich an das Sujet anlagern. In gewisser Weise lässt sich dieser Zusammenhang an den Anstrengungen ablesen, mit denen der Naturalismus, seiner eigenen Epistemologie treu, einen Gegenstand, der sich eigentlich als poesiefern und ‚prosaisch‘ erwies, gerade für die literarische Darstellung zu 1 2 3
Arno Holz: Frühling (1884), in: Jürgen Schutte (Hrsg.): Lyrik des Naturalismus, Stuttgart 1973, S. 59. Zitiert nach: Gerhard Schulz: Arno Holz. Dilemma eines bürgerlichen Dichterlebens, München 1974, S. 28. Julius Hart: Auf der Fahrt nach Berlin (1882), in: Schutte (Hrsg.): Lyrik des Naturalismus (wie Anm. 1) S. 43.
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gewinnen versuchte. Die Provokation des Naturalismus, in ihrem milden Oxymoron gleichermaßen gegen Hegelianismus und bürgerlichen Realismus gewendet, lautete dann auch: „Poesie der Großstadt“.4 Unter ihrem Titel hatte Wilhelm Bölsche 1890 einen kleinen Beitrag publiziert, der zu den frühesten Programmen einer urbanen Dichtung in Deutschland zu zählen ist. Bölsches Anti-Hegelianismus besteht darin, dem „großstädtischen Treiben“ einen „poetischen Stimmungsgehalt“ bzw. ein „echtes Stimmungselement“5 abzuringen und damit das Poetische im Prosaischen zu verankern. Wie der Argumentationsgang zeigt, ist das allerdings nicht nur gegen, sondern zugleich mit Hegel formuliert. Denn „Größe“, „Erhabenheit“ und „überwältigende Herrlichkeit“ der Großstadt würden unmittelbar einsichtig, wenn die ästhetischen Kategorien analog zur „gegenwärtigen Entwickelungstufe“6 historisiert werden: Die Großstadt ist […] die Großtat der menschlichen Kultur auf ihrer gegenwärtigen Entwickelungsstufe. […] Wer festklebt an der Schablone bestimmter klassischer Formen, […] wer mit einem Worte ganz und immerzu nur das Alte vertritt, der Aesthetik kein Recht zur Fortentwicklung zugesteht, der ist allerdings ewig verloren für den Zauber moderner Großstadt-Poesie. […] Die gigantische Panzerschale der Bahnhofshalle am Alexanderplatz wäre hier […] zu nennen. Herausgerissen aus dem Ganzen wäre sie häßlich, häßlich wären die himmelhohen Neubauten, die endlosen Straßen, ganz hervorragend häßlich wären die Stangen der elektrischen Lampen an der Leipziger Straße, das krause Notennetz der unzähligen, […] fast schon den blauen Himmel in ein liniiertes Blatt verwandelnden Telegraphendrähte. Als Glied des Ganzen […] finde ich das alles groß, erhaben, schön.7 Das Zitat belegt, dass die naturalistische Stadtdarstellung zwei gegenläufige Operationen zusammenführt: Funktionalität und Symbolizität. Zunächst werden die architektonischen Ensembles aus ihrem materialen Zusammenhang in ihre „häßlichen“ Funktionseinheiten auseinandergelegt, um dann, in dieser dekomponierten Form reiner Funktionalität, entlang unsichtbarer, aber himmelwärts gerichteter Fluchtlinien in eine ‚telegraphische‘ Vernetzung zu streben, die ihrerseits wieder als ‚symbolisches‘ „Glied eines Ganzen“, als „Ausdruck“ eines Allgemeinen, in dem der „Kulturheraufgang“ der Moderne aufgehoben sein soll, sinnfällig wird. „Im Symbolischen“, so Bölsches Resümee, „fällt das Vereinzelte, das direkt und an sich formal Wirksame ganz von selbst fort vor der Forderung nach Allgemeinheit“.8
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Wilhelm Bölsche: Die Poesie der Großstadt (1890), in: Manfred Brauneck, Christine Müller (Hrsg.): Naturalismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1880–1900, Stuttgart 1987, S. 253– 259. Ebd., S. 253, S. 255. Ebd., S. 256. Ebd., S. 256/257. Ebd., S. 257. Zu Bölsches auf Einheit zielendem Symboldenken vgl. Walter Gebhard: ‚Der Zusammenhang der Dinge’. Weltgleichnis und Naturverklärung im Totalitätsbewusstsein des 19. Jahrhun-
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Ohne größere Schwierigkeiten lassen sich die synthetischen Intentionen dieses Symboldenkens erkennen. Es beruhigt die Vielzahl der zur reinen Funktion gewordenen Teile, also das, was in einem forcierten Sinne ‚modern‘ ist, in einer auf Totalität zielenden Zusammenschau, und es kann dies vor allem aufgrund des wenig elaborierten und traditionalistischen Zuschnitts, den Bölsche diesem Symbolischen gibt. Dennoch gibt es in Bölsches Poesie der Großstadt einen Unruheherd, der die eigene Konzeption in Frage stellt. Er zeigt sich in dem, was Bölsche mehrfach „Ueberfülle“ nennt und was schlechterdings mit der „Weltstadt“ selbst konvergiert: eine aus dem „Häusermeer“ der „Großstadt“ hervordrängende „Fülle des poetischen Stimmungsgehaltes“, die geradezu das „Gefühl der Ohnmacht“ heraufbeschwört, mehr noch, eine „Ueberfülle, die fast erdrückt, die in ihrer Größe nur einem gleicht, nämlich der Riesenstadt selbst“.9 Die Formulierung markiert ein epistemologisches Kerndilemma der naturalistischen Stadtdarstellung. Sie gründet in einer überwältigenden ‚copia rerum‘ und macht deutlich, dass das Reale, um dessen mimetische Darstellung es dem Naturalismus zu tun ist, kraft seiner Fülle bereits selbst als Ästhetisches auftritt und daher die die Qualität des ‚nur‘ Referentiellen bzw. eines Vor-Ästhetischen nicht besitzt. Wenn die realistische Epistemologie traditionell aus der Spannung zwischen dem Zeichencharakter ihrer literarischen Sprache und der zeichenabgewandten Präsenz der Dinge lebt,10 dann präsentiert sich die naturalistische Wirklichkeit bei Bölsche als dichte und undurchdringliche ‚Textur‘ ihrer Verweisungen und Relationen. Diese Realität ist selbst schon ein ‚Superzeichen‘, ein Höchstmaß an Bezüglichkeiten und Analogien, ein überstrukturiertes und überreiches Ästhetisches: bare „Ueberfülle“. Sichtbar wird in Bölsches Poesie der Großstadt daher keine detailprägnante Realität, sondern ein abstraktes Konzept von Fülle, das der naturalistische Text fortwährend produziert. Insofern ist die naturalistische Stadt nur der Name für eine Substitution, die an die Stelle der mimetischen Realität eine Zeichenpraxis der ‚copia‘ treten lässt.
Doppelte Ordnung der Fülle Wie kaum ein anderer Text der naturalistischen und nach-naturalistischen Epoche ist Wilhelm Bölsches Roman Die Mittagsgöttin, 1891 in zwei Bänden von beinahe 800 Druckseiten erschienen, aus dieser Zeichenpraxis der Fülle erzeugt. Schon die parataktische Grenzenlosigkeit des Romans, die ausufernde Fülle seiner Beschreibungen, die wie ornamentierte Flächen in den Erzählgang eingelegt sind, macht dies deutlich. Noch expliziter aber als diese Äußerlichkeit signalisiert der Romantitel, dass das Erzählverfahren des Textes in einer Mythologie der Fülle verankert ist. Tatsächlich spielt der Romantitel auf eine wendische Volkderts, Tübingen 1984, S. 397; Monika Fick: Sinnenwelt und Weltseele. Der psychophysische Monismus in der Literatur der Jahrhundertwende, Tübingen 1993, S. 175/176. 9 Bolsche: Die Poesie der Großstadt (wie Anm. 4), S. 253. 10 Vgl. Sabine Schneider: Einleitung, in: dies., Barbara Hunfeld (Hrsg.): Die Dinge und die Zeichen. Dimensionen des Realistischen in der Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts. Für Helmut Pfotenhauer, Würzburg 2008, S. 11–24, hier S. 11.
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mythologie an, nach der die Mittagsgöttin – die ‚Pschipolniza‘ – den Bauern zur Mittagszeit erscheint, um ihnen prüfende Fragen zu stellen und sie mit Krankheit und Tod zu bestrafen, wenn sie deren Antworten nicht befriedigen. „Wenn um die Mittagstunde“, lässt sich Bölsches Protagonist Wilhelm inmitten der urwaldartigen Landschaften des Spreewalds erklären, die glühend heiße Sonne brennt, naht sich dem habgierigen Bauern, der auch in dieser Zeit der Ermattung und des großen Naturschlafes sich beim Flachsbau müht, eine weiße Gestalt […]: Pschipolniza, die Göttin der Mittagsstille. Sie legt ihm Fragen über sein Werk vor, und wenn er nicht antworten kann, haucht sie ihn an, daß er krank wird, oder würgt ihn zu Tode. […] Heute glaube ich eher, es kommt […] hauptsächlich auf die Antwort an, die man ihr giebt. Weiß man die rechte, so ist die Fragerin kein böses Ungeheuer mehr […], sondern eine schöne, sanfte Flurgöttin, die unser Feld segnet, unsere Arbeit gedeihen macht.11 Die Erläuterungen, die Wilhelms spiritistischem Mentor, einem Grafen, in den Mund gelegt sind, verweisen auf einen zweifachen Zusammenhang. Zum einen rufen sie einen europäischen Mythenkomplex auf, in dem antike Vorstellungen der ‚copia‘ (bzw. ‚cornucopia‘) und ihre Personifikationen des Reichtums und des Überflusses ebenso aufgehoben sind wie die alttestamentarische Gestalt des ‚daemonium meridianum‘ und ihre volksmythologischen Filiationen.12 Schon die römische Mythologie kannte die Ops, die Göttin des Überflusses und des Erntesegens, die in ihren Festen – den ‚Opalia‘ und den ‚Opiconsivia‘ – einen eigenen Kult der Fülle und der Reichhaltigkeit besaß.13 Zum anderen legen die Ausführungen eine doppelte, gewissermaßen verfeindete Fülle nahe: einerseits eine Fülle der natürlichen Dinge im Zeichen ihrer Wahrerin, der Pschipolniza, die die ‚weibliche‘ Natur und ihre „unerhörte Fruchtbarkeit“ (I, 151) hütet und schirmt; andererseits eine ausbeutende Fülle der ‚männlichen‘ Ökonomie, die in die Natur eingreift und die als Unermüdlichkeit der 11
Wilhelm Bölsche: Die Mittagsgöttin. Ein Roman aus dem Geisteskampfe der Gegenwart. 2 Bde., 2. Aufl., Leipzig 1902, hier Bd. 1, S. 170/171. Quellenangaben hieraus erfolgen im Weiteren mit Angabe der Seitenzahl direkt im Text. 12 Vgl. zur Rhetorikgeschichte der Copia Jean-Claude Margolin: Art. „Copia“, in: Gert Ueding (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. 10 Bde., Darmstadt 1992–2009, hier Bd. 2 (1994): Bie–Eul, Sp. 385–393; Volkhard Wels: Triviale Künste. Die humanistische Reform der grammatischen, dialektischen und rhetorischen Ausbildung an der Wende zum 16. Jahrhundert, Berlin 2000, S. 70–72, 164– 166, 170–172 sowie Terence Cave: The Cornucopian Text. Problems of Writing in the French Renaissance, Oxford 1979. Zu den volksmythologischen Traditionen der Mittagsgöttin vgl. Dietrich Grau: Das Mittagsgespenst (daemonium meridianum). Untersuchungen über seine Herkunft, Verbreitung und seine Erforschung in der europäischen Volkskunde, Siegburg 1966, S. 8–10, 98–100. 13 Vgl. M. C. Howatson (Hrsg.): Reclams Lexikon der Antike, Stuttgart 1996, S. 451; Hubert Cancik u. a.: Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. 16 Bde. in 19 Tl.-Bdn., Stuttgart, Weimar 1996– 2003, hier Bd. 8 (2000): Altertum. Mer–Op, Sp. 1267/1268. Im römischen Kult steht die Ops dem Erntegott Consus nahe. Als Personifikation ist die ‚copia‘ mit der Nymphe Amaltheia verbunden, die seit römischer Zeit mit dem Attribut des Füllhorns ausgestattet ist. Vgl. nur Ovid: Fasti 5, 111–128. Etymologisch geht ‚copia‘ aus ‚co-ops – copis‘ (‚Überfluss‘) hervor.
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Produktion und der Verwertungen der natürlichen Güter vor Augen tritt. Wie die Ausführungen des Grafen allerdings deutlich machen, kann sich die Pschipolniza auch in eine „sanfte Flurgöttin“ verwandeln: Wenn der Mensch der Natur nicht mehr als „habgieriger Bauer“ (I, 170) entgegentritt, sondern sich unterordnet unter das, was ihm die Natur von sich aus gibt, erscheint die Mittagsgöttin als diejenige, die die Arbeit in der Fülle der Natur segnet und gedeihen lässt. Diese doppelte Ordnung der Fülle fundiert Bölsches Text nicht nur insofern, als sie ihm ihren motivisch-mythischen Kern zuspielt; immerhin findet sich Lilly Jackson, das spiritistische Medium der Erzählhandlung, in ihr gespiegelt. Diese zweifache Fülle fundiert den Text auch als dasjenige rhetorisch-poetologische Verfahren, das ihn narrativ realisiert. In der antiken Rhetorik ist die ‚copia verborum ac rerum‘ eine Fähigkeit (‚facultas‘) bzw. Möglichkeit (‚potestas‘), die einen potenziellen Reichtum in sich trägt, und zugleich eine Reichhaltigkeit, die die Gegenstände der Rede und Argumente – die „innumerabilis argumentorum copia“14 – ebenso betrifft wie die Häufung und Anreicherung der Worte. Darin dient die ‚copia‘ der ‚amplificatio‘, der Ausarbeitung eines Arguments durch den Reichtum der Worte, und doch kann sie, wie spätestens die humanistische Rhetorik belegt, in den Verdacht der bloßen ‚loquacitas‘ bzw. der ‚garrulitas‘ geraten. Was sich in einem Fall als eine ihren Sachgesichtspunkt erschöpfende Auffüllung der Rede mit Worten erweist (‚periballein‘), stellt sich in einem anderen Zusammenhang als ein unaufhaltsames Fortsprechen, als eine parataktische Bewegung dar, die ihren Gegenstand geradezu verschlingt. Das schillernde Geflecht der Begriffe, das um die verwandten Phänomene der ‚abundantia‘15 und der ‚prolixitas‘ zu ergänzen wäre, macht deutlich, dass die ‚copia‘ grundsätzlich nach zwei Seiten hin entfaltet werden kann und sich daher einer Festlegung außerhalb relationaler Bezüglichkeiten entzieht. Gerade weil sie nicht aus einem starren Gegensatz zu Stiltugenden der Kürze (‚brevitas‘, ‚brachylogía‘) verstanden werden kann, und doch von Fall zu Fall als ‚Überfülle‘ erscheint, bilden Fülle und Beschränkung, Abundanz und Kürze keine ‚reinen‘ Wertgegensätze. Vielmehr sind in Sache und Begriff der ‚copia‘ Teilmomente einer Textorganisation aufgehoben, die Fragen der textuellen Ökonomie verhandelt und damit in das Feld textueller Performanz hineinreicht. ‚Copia‘ verweist auf die Frage, ob und wie ein Text seine Motive, Themen, Figuren, Handlungsstränge, also seinen semantischdiegetischen ‚Apparat‘, den er (narrativ) etabliert, durchführt und zu Ende erzählt. Insofern geht es um eine im Text ausgestellte und durchgeführte Selektivität – um eine selbstgeschaf14
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Marcus Fabius Quintilianus: Institutio oratoria. Ausbildung des Redners. 12 Bücher. Hrsg. und übers. v. Helmut Rahn. 2 Teile, Darmstadt 1972/1975, hier 1. Teil, V, 10, 100; vgl. auch Marcus Tullius Cicero: De oratore. Über den Redner. Lat./Deutsch. Übers. und hrsg. v. Harald Merklin. 2., durchges. und bibliogr. erg. Aufl., Stuttgart 1991, I, 6, 21 (‚ornate ab eo copioseque dicatur‘). Vgl. Roland Bernecker: Art. „Abundanz“, in: Ueding (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik (wie Anm. 12), Bd. 1 (1992): A-Bib, Sp. 21–24. Die ‚abundantia‘ (gr. mégethos: ‚Größe‘, plethos: ‚Überfluss‘) bildet als rein verbale Reichhaltigkeit eine Unterkategorie zur ‚copia‘. Zu ‚mégethos‘ und ‚plethos' vgl. Aristoteles: Rhetorik. Übers., mit einer Bibliogr., Erläuterungen und einem Nachw. v. Franz G. Sieveke. 5., unveränd. Aufl., München 1995, S. 102 (1383b II, 5, 20).
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fene Zeichenlast –, die im Text bearbeitet werden muss. Ohne an dieser Stelle die komplexe Geschichte der ‚copia‘ rekonstruieren zu können, scheinen in ihr so in grundsätzlicher Weise Fragestellungen gegenwärtig zu sein, die Texte auf ihre Zeichenökonomien und damit auf übergreifende historische Zeichenordnungen hin transparent machen.
Stadt und Land in einer einzigen Gestaltwahrnehmung Wer die alles in allem überschaubare Deutungsgeschichte der Mittagsgöttin überblickt, wird feststellen, dass der Text im Wesentlichen als Beitrag zum Großstadtroman der Jahrhundertwende verstanden wurde.16 Diese Lesart resultiert primär aus den Suggestionen des Erzählschemas, das auf eingespielte Topoi einer ‚expressiven‘ Stadtdarstellung zurückgreift, wie sie im Feld der frühen Moderne, vor allem im naturalistischen Stadtroman, gattungsbildend gewesen sind.17 Genretypisch ist Bölsches Roman zunächst darin, dass er sein Geschehen – wie in den entsprechenden Großstadtromanen Max Kretzers oder Konrad Albertis – in einem tiefenstrukturellen „Grundgesetz“18 fundiert – dem Kampf ums Dasein –, um dieses Bewegungsgesetz fortwährend in den Erzähldiskurs zu transkribieren.19 Auch Bölsche erzählt die Geschichte eines Protagonisten, der aus den elementaren Kämpfen der Großstadt – dem „Babelturm aus Millionen Ziegelsteinen“ (I, 31) – in eine Naturlandschaft flüchtet, deren Sinnlichkeit all das reaktiviert, was die Moderne verdrängt hat. Auch Bölsche diskreditiert diese verlockende Alternative, die in der weltabgewandten Schlossgemeinschaft der Spreewald-Spiritisten ihren mystizistischen Ort findet, als Illusion, um seinen Protagonisten – nach der Entlarvung Lillys als Zirkusartistin – um so nachhaltiger der Stadt und dem bürgerlichen Erwerbsleben zurückzugeben. Und auch Bölsche entfaltet diesen Entlarvungsprozess als fortwährende Oszillation zwischen zwei Schauplätzen – Stadt und Spreewald –, die mit den Mitteln einer überbordenden ‚descriptio‘ zu ‚reinen‘ Gegensätzen dramatisiert werden. In dieser Kreisbewegung, die Wilhelm im Durchgang durch den urbanen Rationalismus wie den ländlichen Spiritismus als einen Anderen, Gewandelten, Gereiften nach Berlin zurückkehren lässt, folgt der Text einem Grundnarrativ der Zivilisationsgeschichte: einer 16
Vgl. die diesbezüglich umfassende Deutung bei Christof Forderer: Die Großstadt im Roman. Berliner Großstadtdarstellungen zwischen Naturalismus und Moderne, Wiesbaden 1992, S. 29–106. 17 Vgl. im Anschluss an Raymond Ledrut (Les images de la ville, Paris 1973) und seine Konzeption der Stadt als ‚champ des significations‘ Klaus R. Scherpe: Ausdruck, Funktion, Medium. Transformationen der Großstadterzählung in der deutschen Literatur der Moderne, in: Götz Großklaus, Eberhart Lämmert (Hrsg.): Literatur in einer industriellen Kultur, Stuttgart 1989, S. 139–161, hier S. 146–148; Klaus R. Scherpe: Von der erzählten Stadt zur Stadterzählung. Der Großstadtdiskurs in Alfred Döblins ‚Berlin Alexanderplatz’, in: Jürgen Fohrmann, Harro Müller (Hrsg.): Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, Frankfurt/M. 1988, S. 418–437, hier S. 422. 18 Konrad Alberti: Mode. Roman, Berlin 1893 [Der Kampf ums Dasein Band 4], Statt einer Vorrede, unpag. 19 Vgl. zu diesem Verhältnis von Ursprungswelt und transkribierter Oberfläche Ingo Stöckmann: Der Wille zum Willen. Der Naturalismus und die Gründung der literarischen Moderne 1880–1900, Berlin, New York 2009, S. 41–137. Dort auch Hinweise auf das entsprechende Romankorpus.
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Geschichte von der Abwehr und Überwindung einer gefahrvollen Natur zugunsten einer (wenn auch entsagungsvollen) Selbstübergabe an die Rationalität der Moderne.20 Diese narrative Fügung ist allerdings primär den Vordergründigkeiten ihrer semantischen Organisation geschuldet. Die ebenso umwegige wie verspätete Sozialisation Wilhelms, die erst nach 800 Seiten zu Ende kommt, verdankt sich einer semantischen Mechanik, die Stadt und Land, dem Erzählschema gemäß, säuberlich voneinander trennt und gegeneinander in Stellung bringt. Auf der Ebene der Zeichenpraxis scheint es dagegen, als zerlaufe die Unterscheidungsreinheit des Romanschemas, weil beide Erfahrungsräume – die „Riesenstadt“ (I, 41) wie das „Schwellen und Strotzen“ (II, 2) des Spreewalds – aus derselben Zeichenökonomie der Fülle erzeugt sind. Offenkundig besitzt der Text keine Möglichkeit, die Serie seiner semantischen Distinktionen – Stadt vs. Land, Mortifikation vs. Vitalität, Entzug vs. Präsenz, Leere vs. Fülle etc. – auch semiotisch, d.h. als Differenz von Zeichenordnungen zu realisieren. Darin besitzt Bölsches Erzählen eine thetische Dimension: Es setzt semantische Differenzierungen, die aber Setzungen bleiben, weil in ihrem Rücken eine Zeichenbewegung am Werk ist, die das derart Differenzierte laufend verähnlicht, weil es derselben Textur der Fülle entstammt. Insofern zielt die gesamte Beschreibungsarbeit, die Bölsches Text demütig um die Spreewald-Natur versammelt, auf die Veranschaulichung reiner Fülle. Fülle ist sie durch die parataktische Häufung einer in die Fläche expandierenden Detailbeschreibung wie durch die fortwährende semantische Qualifikation dichter Texturen und vegetativer Geflechte, die die beschriebene Natur restlos in ihrem Verschlungensein aufgehen lassen: Die üppigen Baumkronen über den winzigen Fußpfaden feierten wahre Orgien der unentwirrbarsten Verschlingung, tiefrote Blutbuchen und silbergraue Weiden mit lichtgrünen amerikanischen Eichen und Tulpenbäumen durch Hopfenguirlanden und geschmeidiges Gaisblatt ineinander verwebt, Goldregen und Jasmin in schweren Büschen zwischen die Stämme gepreßt über einem Rasen von kriechendem Epheu, daneben wieder die roten Weihnachtskerzen der Kastanien herabschattend auf die Moospolster, aus denen die wilden Maiglöckchen und große, gespenstisch wunderliche Waldorchideen sproßten. (I, 187; vgl. I, 154) Beschreibungen dieser Art verlaufen nach zwei Richtungen. Einerseits markieren sie naturhafte Texturen und Gewebe, die – im Gegenzug zu den Schreibordnungen des poetischen Realismus – keinen Durchblick mehr auf eine ‚Tiefe‘ gestatten. Weil der Text die ornamentalen Elemente der Ranken, Linien, Girlanden, Arabesken und Verschlingungen aus ihrer dekorativen Funktion auslöst und in das Textzentrum ‚einwandern‘ lässt, häufen sie sich aufeinander und bilden ‚dichte‘ Texturen. In dieser für den Jugendstil bezeichnenden Doppelbewegung aus ‚Füllen’ und ‚Rahmen‘ dominiert das ‚Füllen‘, das Einwandern der Arabes20
Vgl. Forderer: Die Großstadt im Roman (wie Anm. 16), S. 84; Lothar L. Schneider: Die alte und die neue Fremde. Zu Wilhelm Bölsches Roman Die Mittagsgöttin, in: Joanna Jablkowska, Erwin Leibfried (Hrsg.): Fremde und Fremdes in der Literatur, Frankfurt/M. u. a. 1996, S. 139–158, hier S. 152.
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ken und Ornamente in sich selbst.21 So ist im „wendischen Spreewald“ (I, 151) alles „wogendes Meer“ (II, 2), reine „Verschlingung“ (I, 187) und „tolle Arabeske“ (II, 3). Die Abwesenheit der traditionellen Epistemologie der Tiefe bedeutet allerdings nicht, dass in den Verschlingungen der Deskription jeder Sinn verlorenginge. Vielmehr wirkt hier eine ‚copia‘, die den Reichtum der ornamentalen Verwebungen in einer intransitiven, die Verweisungsfunktion des Zeichens in sich einstülpenden Bewegung selbst als ihren Sinn konstituiert: Gerade in der Abwesenheit einer nicht mehr auszumachenden Tiefe findet sich ihr Sinn in der Verschlingung und der Verflechtung selbst. Andererseits besitzen Beschreibungen dieser Art eine lineare Dimension. ‚Copia‘ ist in Bölsches Erzählen auch ein Prinzip additiver, beinahe „rhythmischer“ (I, 314) Fortzeugung, d. h. Effekt einer Reihung von Beschreibungen, deren Fülle lediglich im Aspekt des ‚numerus‘, der Menge, besteht. Nicht weniger als diese Reichhaltigkeit ist auch der städtische Erfahrungsraum ein Effekt der ‚copia‘. Auch die Stadt ist, gegen den kalten Funktionalismus, den sie veranschaulichen soll, aus derselben Textur der Reichhaltigkeit erfunden. Zwar verankert der Text den Weg des Protagonisten durch das großstädtische Berlin immer wieder in der realen Topographie – erwähnt werden u. a. die „Rathenowerstraße“ (I, 2), die „Schillingstraße“ (I, 26), das „Brandenburger Tor“ (I, 319; II, 208) und die „Friedrichstraße“ (II, 202) –, so dass eine gegenüber den fließenden ‚Wogen‘ und ‚Wellen‘ des Spreewaldes andere, d.h. zäsurierte Bewegung sichtbar wird, doch fungieren diese Hinweise lediglich als Haltepunkte im Erzählprozess. Sind diese Haltepunkte erreicht, entlädt sich der Text in einer Art Beschreibungsrausch, der ausdrücklich die Vielzahl der optisch-akustischen Impressionen zu einem Bild intensiver Reichhaltigkeit zusammentreten lässt. Dabei ist es sekundär, dass diese „Fülle“ (II, 126) nicht aus einer vegetativen Natur, sondern aus den Kernvisionen des 19. Jahrhunderts – Arbeit und Energie – geboren ist: Welch ein Bild – dieser Wirbel des großstädtischen Arbeitsmeeres. […] Und diese Fülle der Farben. Der kolossale Platz gerade vor mir braunschwarz, naß, hier und da, wenn die Wolken sich zerteilten, mit lichtblauem Reflex. Die Linien der Pferdebahngeleise scharf, dunkel, gleich Einschnitten im Grund, gegenüber, wie ein Loch ins Unendliche des Raumes graublau verdämmernd, die Riesenperspektive der Leipzigerstraße. Die Säulentempelchen rechts und links blenden weiß, mit bläulichen Metalldächern, hinter denen die hohen grünen Baummassen sich starr, wie versteinert, gegen den Trubel der vorüberrasenden Dinge abhoben. Zwischen den kleinen, durchsichtig verschwimmenden Gaslaternen hier und dort der eckige, weißgraue Klotz einer elektrischen Lampe wie losgelöst vom dunklen Schaft und frei emporschwebend […]. (II, 126)22 21
Vgl. Ernst H. Gombrich: Ornament und Kunst. Schmucktrieb und Ordnungssinn in der Psychologie des dekorativen Schaffens, Stuttgart 1982, S. 87. 22 In der Weiterung dieser Stadtbilder erfindet der Text beinahe alle Kulturphänomene aus dem Vorstellungsbereich der ‚copia‘. So ist die spiritistische Bibliothek des Grafen ein endloses Neben- und Beieinander der Texte, eine Art unaufhörliche Textur: „Vor meinem Auge erschien die schier unglaublich riesige Armee der alten und neuen Vorkämpfer des Spiritismus. Namen um Namen strahlte aus den
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Wenn es auch zutrifft, dass die architektonischen Ensembles immer wieder zu Allegorien moderner Erfahrungsgehalte zusammen treten,23 so ist doch auffällig, dass sie insbesondere dort, wo sie die „Öde“ (II, 305) der Stadt veranschaulichen sollen, in einer paradoxalen Struktur ‚reicher Leere‘ münden. Leere, Entzug, Abwesenheit ist im Erzählen Bölsches primär eine phänomenale Behauptung bzw. eine semantische Setzung, die an der Fülle, mit der sie im Text realisiert werden, vorbeispricht. Wenn sich Wilhelm nach seiner Rückkehr aus dem Spreewald durch die depressive Leere der Stadt bewegt und im „kalten“ Räderwerk der Rathausuhr das zweck- und ziellose „Nichts“ (I, 262) der modernen Welt erblickt, entlädt sich der Text in die Fülle parataktischer Beschreibungen und Hyperbeln, die die Leere rhetorisch und semiotisch so intensiviert, dass sie nicht eigentlich mehr ‚leer‘ wirkt.24 Eine Leere dagegen, die als Aussparung, als Ellipse im Zeichenstrom denkbar wäre, kennt der Text nicht. Weil Bölsches Erzählen in die Fülle wie in die Leere seiner Gegenstandswelt immer nur denselben Reichtum an Zeichen und Benennungen investieren kann, ist es immer wieder damit befasst, Leere in Fülle und Abwesenheit in Präsenz zu verwandeln. Wie in einem ‚horror vacui‘ treibt das Erzählen eine Bewegung an, die die ‚copia‘ buchstäblich als AufFüllung entleerter Räume einsetzt und so sukzessive die städtischen Straßenfluchten ‚von unten nach oben‘ anreichert. Was im Blick des depressiven Subjekts als ‚Öde‘ beginnt, mündet im Zeichenglück eines ‚ganzen Panoramas‘, in dem der Text nach und nach sichtlenkende Horizonte aufeinander lagert und damit den zunächst perspektivisch begrenzten Blick in die Raumtiefe auffüllt: Eine einsame Droschke rollte mit lautem Hall dem Bahnhof zu. Gerade vor mir, im Osten, färbte sich der Himmel glühend rot, und in seinem Scheine wuchs langsam, langsam das große Panorama von Berlin zu mir herauf, wie es sich von meinen hohen Fenstern so entzückend überschauen ließ. Zwischen den tiefgrünen Akazienkronen der riesige Exerzierplatz noch wie ein dämmerndes Nebelfeld, über das die Baumgruppen jenseits sich wie bläuliche Inseln einer fernen Welt emporhoben. Links ein mehr und mehr aufglühender Pupurblock: die Artilleriekaserne mit ihrer Sandsteinverkleidung, geradeaus die schwere rote Dächermasse und gelbe Fensterwand des Invalidenhauses, weiter rechts das grünliche Dach des Lehrter Bahnhofs […], endlich in tiefem Schwarzblau die Kuppel des Ausstellungsgebäudes. Fern aber über allem […] die zarte Silhouet-
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Goldlettern der Buchrücken, Bibel an Bibel, Evangelium an Evangelium, Kirchenvater an Kirchenvater der rätselhaften Geheimlehre drängte sich von den Regalen mir zu: alle die dickleibigen Verteidigungsschriften, die endlosen Jahresfolgen der deutschen, französischen, englischen und russischen Journale […]“ (I, 218). Vgl. auch II, 39. Die spiritistische Lehre erscheint Wilhelm entsprechend als „Überfülle von Anregung“ (II, 112). Vgl. Forderer: Die Großstadt im Roman (wie Anm. 16), S. 52. So werden noch die Bilder organischen Verfalls unter der Hand zu Bildern der Fülle. Vgl. etwa II, 70, wo die „[t]ausend […] Skelette eines vom Raupenfraß zerstörten Eichenstandes“ über und über „flechtenbefranst“ sind. Auch die Aussparungen und Löcherungen im Naturraum tragen Texturen und sind insofern den vitalen Texturen der Fülle angenähert.
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te der eigentlichen Weltstadt […]. Jetzt zeigte sich in glühender Rundung die Sonnenscheibe selbst, ihr roter Feueratem blitzte durch das durchbrochene Pfeilerwerk der […] Zionskirche hindurch und dann in goldenem Riesenfächer über das ganze Panorama hin. (I, 306/307) Psychodynamisch entspricht diese fortwährende Investition von Zeichen dem Wunsch, auch die Stadt nach dem Bild jener natürlichen „Überfülle“ (II, 112) zu gestalten, die den Spreewald als Inbegriff der Ungeschiedenheit und Trennungslosigkeit kenntlich macht. Entsprechend gehört es zu den Konsequenzen dieser semiotischen Ungeschiedenheit, dass der Text immer wieder tropische Bewegungen anstößt, die auf Vermischung, Entstaltung, Übergang und Benachbarung zielen. Weite Teile des Romans folgen insofern einer metonymischen Bildlogik. Sie versetzt die Figuren und Gestalten in eine Berührung, um sie in dieser Berührung schließlich aufgehen zu lassen. Dabei gehen Berührendes und Berührtes eine Verschlingung ein, die die Figuren so in die Naturfülle hineinstellt, dass deren ‚graphische‘ Kontur verschwimmt und als derart Ent-Zeichnetes in die Reichhaltigkeit ihres ‚Hintergrundes‘ eintritt. Auch in dieser Verwobenheit von Figur und Grund tendiert Bölsches Mittagsgöttin bereits zu den anti-semiotischen Verfahren des Jugendstils.25 Wenn Wilhelm auf einer seiner zahlreichen Kahnfahrten durch den Spreewald ein „wendisches Mädchen“ beobachtet, dann geht dessen „Gestalt“ tendenziell in der „üppigen“ (I, 155) Fülle auf, die die Kahnfahrt zuvor evoziert hatte – eine Fülle, die die Spuren und ‚Zeichnungen‘ verwischt, die die Gestalt des Mädchens noch wenige Momente zuvor aus der Vegetation hervorgehoben hatten: Als unser Fahrzeug geschmeidig um eine Ecke bog, trat uns gerade gegenüber und greifbar nahe, ein wendisches Mädchen, in der grellfarbigen Landestracht selbst anzuschauen wie ein bunter Strauß, aus einer niedrigen Pforte zwischen die Blumen, der stolze, hoch herauf nackte Fuß beugte das straffe Ufergras kräftig nieder […], dann wandte die Gestalt sich langsam wieder zurück und verschwand. Auch über dem Gebaren dieses einsamen Menschenkindes lag etwas wie Verzauberung; die Spur im Grase schien im Augenblick schon wieder verwischt […]. (I, 155) Im Kern folgt der Text einer Bild- und Zeichendynamik, die fortwährend Erinnerungen, Wiedererkennungen und Übertragungen aktiviert. In diesem Sinne fungiert die ‚copia‘ wie eine semiotische Anamnesis: Fast alles, was Wilhelm in den Blick rückt, erweist sich als bereits Gesehenes bzw. kann – über die Phänomene und ihre ursprünglichen Besetzungen hinweg – zunächst erinnert und schließlich umbesetzt werden. In dieser Möglichkeit, Bilder, Impressionen, Wahrnehmungen übertragen zu können, erweist sich die gesamte Phänomenwelt der Erzählung als Welt eines einheitlichen und ungeschiedenen phänomenalen 25
Vgl. Cornelia Blasberg: Jugendstil-Literatur. Schwierigkeiten mit einem Bindestrich, in: DVjs 72, 1998, Heft 4, S. 682–711, hier S. 695/696. Wahrnehmungspsychologisch kulminiert diese Inversionsbewegung um und nach 1900 im Modell der ‚Isosthenie‘, der Reziprozität bzw. Alternation entgegengesetzter Figuren und Gestalten in einem Wahrnehmungszusammenhang.
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Reichtums. So wird Wilhelms wiederholte Flucht aus Berlin von Bildern strömender Wasserfluten und „aufschäumender Sturzwellen“ (I, 345) begleitet, die sich wenige Zeit später, über die Differenz der Räume und Landschaftselemente hinweg, auch im Spreewald ergießen. Genau besehen strömt diese Fülle, die im Text zunächst ein Konnotat des Spreewalds war, nun auch in den Stadtraum, um ihn in der Erinnerung an das gestaltlose Wogen und Strömen des Spreewaldes buchstäblich zu fluten und um insofern beide Landschaftselemente qualitativ ununterscheidbar werden zu lassen.26 Ein derartiger Reichtum ist, wie gesehen, vor allem in den ornamentalen Formen präsent, die der Text immer wieder in Gestalt naturhafter Verschlingungen evoziert. Allerdings trägt das Ornament auch die beschriebenen anamnestischen Funktionen. Wenn Wilhelm in einem Berliner „Café chantant“ (II, 192) den Darbietungen einer Artistin beiwohnt, ist es bezeichnenderweise eine „hellblaue Ecksäule mit vergoldeten Ornamenten“, die einen assoziativen Prozess des Wiedererkennens und der Gestaltähnlichkeiten freisetzt. Der ganze ornamentale Reichtum, der den „weiblichen Kopf“ (II, 200) der Ecksäule umspielt, löst in der Wahrnehmung Wilhelms ein Spiel von „Ähnlichkeiten“ (II, 201) und gestalthaften Analogien aus, in deren Konsequenz die Varietéartistin und Lilly Jackson in einem „Doppelbild“ (II, 199) zusammentreten; ein Doppelbild, das die getrennten Erfahrungsräume von Stadt und Land in einer einzigen Gestaltwahrnehmung verschmilzt und schließlich den gesamten Stadtraum erschließt, indem es, wie der Blick auf die „geflügelte Viktoria“ (II, 206) belegt, das immer gleiche Wahrnehmungsschema der Ähnlichkeit in die unterschiedlichen Phänomene überträgt: Bisher hatte ich den Koloß der Triumphsäule in der Mitte des Platzes kaum gewahren können, so formlos zerfloß er in der Lichtkuppel, die darüber stand. Jetzt aber hatte ich den Mond fast genau zu Häupten der Gipfelgestalt. […] Und auch dort, auch dort, in der schwebenden Gestalt, die sich, je länger der Blick haftete, nun doch auch im ganzen Umriß der weiblichen Formen löste, die zu zittern, zu entflattern schien –, auch dort sah ich Lilly jetzt […] (II, 206/207).27
Ein historisches Erzählbewusstsein Bölsches Mittagsgöttin ist damit kaum mehr in der Lage, das angestammte Gattungsschema der ‚expressiven‘ Stadtdarstellung zu reproduzieren. Was auf der ‚Oberfläche‘ semantischer Bestimmungen, ganz in der Tradition ihrer binären Symbolwelten, distinkt wirkt – hier die 26
Vgl. I, 348. Das Überfließen des Wassers, sein buchstäblicher Über-Fluss, entspricht im Übrigen der Etymologie von ‚abundantia‘. 27 Auffälligerweise wird Lilly zu Beginn nur im Modus des Wiedererkennens eingeführt. Bevor Wilhelm sie leibhaftig erblickt, erscheint sie ihm auf einer Tischfotographie des Grafen: „Sie war es, deren Bild auf dem Tische so magisch fesselte […]“ (I, 143). Entsprechend ist der Maler Frey damit beschäftigt, Lillys Porträt unablässig zu repetieren. Bei einem Besuch in dessen Atelier erblickt Wilhelm „wenigstens dreißig Porträtköpfe von Lilly“ (II, 35).
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versteinerte Stadt, dort die üppige Spreewaldnatur –, erweist sich bei genauerem Zusehen als Manifestation einer Zeichenpraxis der ‚copia‘, die das Prinzip binärer Unterscheidungen (Stadt vs. Land, Individuum vs. Masse, Heimat vs. Fremde) unterläuft. Beschreiben und Erinnern, ‚descriptio‘ und ‚anamnesis‘ sind die beiden Operationen, mit denen der Text auf unterschiedliche, gleichwohl komplementäre Weise Fülle erzeugt: einerseits durch eine ‚copia verborum‘, die ihre Sachverhalte so lange verbalisiert und be-schreibt, bis sie buchstäblich von ihr überwuchert sind; andererseits durch eine textuelle Merkwelt, die Stadt und Land als Räume einer gemeinsamen Gestaltfülle inszeniert, um so fortwährend das eine im anderen zu vergegenwärtigen. Noch die Metaphernkomplexe, die die beiden Landschaftselemente eigentlich als Differenz erfahrbar machen sollen, erweisen sich als invertierbar, weil die phänomenale Reichhaltigkeit beider Räume gerade keine distinkten Bildordnungen zulässt.28 In der Konsequenz nimmt Bölsches Mittagsgöttin damit bereits jenen andachtsvollen Monismus vorweg, der – in die „nie reißende Kette“29 der Gestaltbildungen und den Reichtum der organischen Formen vertieft – kein Ende, keine Begrenzung finden wird.30 Sein Gesetz ist jene Schlegelsche „Indicazion auf unendliche Fülle“,31 die Texte wie Bölsches Liebesleben in der Natur zu ‚unendlichen‘ Texten macht. So bleibt zu fragen, wie es um eine Großstadterzählung bestellt ist, der ihr eigenes Erzählschema in dieser Weise brüchig geworden ist. Einiges spricht dafür, dass Bölsches Mittagsgöttin – über die Schwächen des Textes hinweg – etwas besitzt, was man ein historisches Erzählbewusstsein nennen könnte. Es besteht darin, dass sich der Text als ‚später‘ Text, als Text am Ende und in den historischen Ausläufern eines Erzählschemas weiß, das er buchstäblich zu Ende erzählt. Zwischen dem Metasignifikanten der Großstadt bzw. dem, was der Roman an diegetischer Erzählhandlung um ihn herum organisiert – Flucht und Rückkehr, Verlobung und Treuebruch etc. –, und der Zeichenfülle seiner Beschreibungen besteht kein dichter funktionaler Zusammenhang mehr. War die Deskription im Großstadtroman Kretzers oder Albertis noch als Ausdruckswert in die Diegese integriert, weil der Erzähler hier unmittelbar „von der Ebene des Stadtbezugs auf die Ebene des Protagonistenbezugs“32 wechseln konnte, so tritt Bölsches Mittagsgöttin in zwei Zustände bzw. zwei narrative ‚Aggregate‘ 28
Vgl. Schneider: Die alte und die neue Fremde (wie Anm. 20), S. 153, Anm. 153; Forderer: Die Großstadt im Roman (wie Anm. 16), S. 39. Die Invertierbarkeit der Metaphorik, insbesondere die Anthropomorphisierung der Technik, ist allerdings ein Grundzug des Naturalismus, wie Hauptmanns Bahnwärter Thiel (1889) oder Conrad Albertis Roman Maschinen (1895) belegen. 29 Wilhelm Bölsche: Weltblick. Gedanken zu Natur und Kunst, Dresden 1904, S. 150. 30 Vgl. Ingo Stöckmann: Im Allsein der Texte. Zur darwinistisch-monistischen Genese der literarischen Moderne um 1900, in: Scientia Poetica 9, 2005, S. 263–291. 31 Friedrich Schlegel: Literarische Notizen 1797–1801. Literary Notebooks. Hrsg. v. Hans Eichner, Frankfurt/M. u. a. 1980, S. 60 [Nr. 407]. 32 Forderer: Die Großstadt im Roman (wie Anm. 16), S. 124. Dies geschieht vor allem dadurch, dass den Protagonisten, je nachdem, welcher Erzählstand innerhalb des Erzählvorgangs erreicht ist, entsprechend ausdrucksvolle bzw. expressive Stadtansichten koordiniert werden. Auf diesem Weg verschafft sich die Narration architektonisch-stoffliche Ausdrucksqualitäten, die sich zu wechselnden Sinnbildern des Erzählgehalts verdichten.
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auseinander, deren Verweisungsverhältnis bereits gelöst ist. Entsprechend folgt der Erzählprozess lediglich der Alternation dieser beiden Zustände, und erst die Entleerung der erzählten Welt von ihren Figuren führt zur Schließung bzw. Rundung der Erzählhandlung. Wie sehr der Text – gegen die Selbsteinschätzung des Autors33 – mit seiner eigenen erzählerischen Ökonomie zerfallen ist, dokumentiert der Umstand, dass er das Schicksal seiner Figuren nicht zu Ende erzählt, sondern nur durch eine Häufung auffallend beliebiger Todesfälle und (Selbst-)Morde bewältigt; dies gilt für den Maler Frey, Ernestine, Lillys Vertraute, den Grafen und schließlich für Lilly selbst. Insofern re-inszeniert Bölsches Text sein Erzählschema, in dem er es in dieser nur mehr rudimentären, weil semiotisch überwucherten Form gewissermaßen ‚ein letztes Mal‘ erzählt, und er tut dies, um die Stadt als eine literarische Hinterlassenschaft kenntlich zu machen, für die künftig neue und andere Darstellungsverfahren als bisher gefunden werden müssen. Fast scheint es damit, als überreiche Bölsches Text das Großstadt-Sujet einer Zukunft des Erzählens, die er selber nicht mehr gestaltet. Entsprechend besäße auch die Poetik der ‚copia‘ einen konkreten Ort in der Verfahrensgeschichte der frühen Moderne: Sie wäre als ‚Ordnung‘ von Zeichen zu entziffern, die aus ihrem angestammten, aber historisch gewordenen Bezeichnungszusammenhang (‚Realismus‘) herausund in einen Zustand der Zerstreuungen, Dissipationen, Wucherungen und (arithmetischen) Vervielfältigungen eingetreten sind. Bedenkt man jedenfalls Bölsches programmatische Überlegungen zur Poesie der Großstadt, so hat man es hier mit einer Selbstrücknahme der naturalistischen Darstellungsansprüche zu tun: Sie sind, kaum dass der Naturalismus dem Großstadt-Thema eine auf dem Niveau der modernen Industriegesellschaft angesiedelte poetologische Kontur gegeben hat, bereits in den Bann einer Substitution geraten, die die (Über-)Fülle des Realen in der Fülle der Zeichen hat aufgehen lassen. Weil die naturalistische Darstellung die ‚copia rerum‘ restlos in der ‚copia verborum‘ aufgehoben hat, ist dem Naturalismus nicht nur die Stadt, sondern das Reale im Ganzen verloren gegangen.
33 Im Vorwort zur zweiten Auflage des Romans hatte Bölsche behauptet, dass „die dichterische Komposition in sich, so wie sie einmal angelegt war, vollkommen geschlossen ist“ (I, V).
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Heinrich Manns Im Schlaraffenland und Georg Simmel
Vor einiger Zeit ist aus soziologischer Sicht Georg Simmel vorgehalten worden, sein kanonischer Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben von 1903 liefere nur eine eingeschränkte Sicht des Phänomens der Großstadt, da er weder die Mietskasernenstadt und das Proletariat noch die Frauen einbeziehe.1 Ähnliches hat man Heinrich Manns 1900 in München erschienenem Roman Im Schlaraffenland vorgehalten – er konzentriere sich, wie der Untertitel ‚Ein Roman unter feinen Leuten‘ es ja nun besagt, lediglich auf eben diese ‚feine Gesellschaft‘ Berlins und die sei karikaturhaft zu einer Mixtur aus „korrumpierbare[n] Kleinbürger[n], exzentrischen Schmarotzer[n] und vor allem blasierte[n] Aufsteiger[n]“ verzerrt.2 Ein Urteil, das Seinerzeitiges wiederholt: „nur Lumpen und Schufte giebt es da“.3 Diesen vermeintlich partial blinden Zerrbildern will ich folgend nachgehen, indem ich sie miteinander zu spiegeln versuche. Dabei gehe ich zum einen von der Annahme aus, dass Georg Simmels Aufsatz zwar bis heute eine stadtsoziologische und urbanistische Zitatikone schlechthin ist und Simmel darin auch eine Theorie des Urbanen entwickelt hat, wiewohl es ihm keineswegs um Stadtsoziologie im engeren Sinne ging. Vielmehr erscheint diese eingeschlossen in eine intendierte Theorie sich modernisierender Gesellschaft, sodass Simmel also, wie Oliver Schöller-Schwedes ausgeführt hat, von seinem Aufsatz annahm, „nicht weniger als eine Theorie moderner Gesellschaften zu sein“.4 Insofern Simmel Theoretiker moderner Gesellschaften ist, impliziert das naturgemäß auch Folgerungen für die Stadt, aber weniger für die damalige als für 1 2
3 4
Dietmar Jazbisnek: Die Großstädte und das Geistesleben von Georg Simmel. Zur Geschichte einer Antipathie, Berlin 2001 (= WZB, FS II 01-504). Hermann Schlösser: Heinrich Mann: Im Schlaraffenland, in: Cornelia Niedermeier, Karl Wagner (Hrsg.): Literatur um 1900. Texte der Jahrhundertwende neu gelesen, Köln u. a. 2001, S. 171–177, hier bes. S. 172. Kl.: Im Schlaraffenland, in: Hamburger Nachrichten. Belletristisch-Literarische Beilage, Nr. 42, 24. 10. 1900, S. 2. Oliver Schöller-Schwedes: Der Stadtsoziologe Georg Simmel. Ein Missverständnis und seine Folgen, in: Berliner Journal für Soziologie 18, 2008, Heft 4, S. 649–662, hier S. 658.
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die heutige als ‚world city‘, als Maklerort internationaler Kapitalströme. Denn was gerne beim stadtsoziologischen und urbanistischen Rekurs auf Simmel vergessen wird: dass er mit dem Essay explizit an seine groß angelegte, 1900 erschienene Philosophie des Geldes anknüpfte. Meine These ist nun, dass Heinrich Manns Roman ähnlich gelesen werden muss, dass er nämlich eine – wie auch immer verzerrte – Darstellung der Berliner Gesellschaft nur insofern ist, als er eine grundsätzliche ästhetizistisch-vitalistische Gesellschaftskritik intendiert. Bei beiden freilich, Simmel und Mann, ist eben das zeitgenössische Berlin der genuine Ort dieser neuen Geld-Gesellschaft. Dabei hat der Schriftsteller, anders als der Philosoph und Soziologe, es mit der – und sei es auch nur illustrativen – Konkretion seiner wahr- oder angenommenen Theoreme zu tun. Das, will ich am Ende zeigen, lässt ihn geradezu zwangsläufig hinter Simmel zurückfallen. Im Schlaraffenland ist im Kontext von Heinrich Manns Werk eher hintangestellt – und das nicht nur wegen seines Umgangs mit Aspekten des Antisemitismus. Zeitgenössisch wurde ihm schon der Überdruss am so genannten Berlin-Roman zum Hindernis. Zwei Umstände, so Joseph Ettlinger, erschwerten das Urteil zum Roman über die „faulblütige und fettherzige Gesellschaft von Berlin-Sodom“, nämlich einmal, daß hier Gesellschaftskreise abgespiegelt werden, die der Roman der letzten fünfzehn Jahre von Paul Lindau bis zum Verfasser der ‚Ballhaus-Anna‘ schon in allen möglichen Gruppen- und Massenbildern aufgenommen hat; und dann die gelegentlich fast ins Utopische schweifende Uebertreibung wirklicher Verhältnisse. Man hat Mühe, sich der aufschwirrenden literarischen Reminiszenzen zu erwehren, bei den Einleitungskapiteln nicht gleich an Bleibtreu (‚Größenwahn‘), bei der satirischen Einkleidung typischer Persönlichkeiten nicht an Johannes Scherr (‚Porkeles und Porkelessa‘), bei den schlemmerischen Schilderungen […] nicht etwa an Hardens ‚Trüffelpüree‘-Studien und bei anderen Dingen nicht an die ganze bunte Reihe von Berlin W.-Romanen zu denken, in denen aus dem verfilzten Knäuel von Börse, Tiergarten, Theater und Presse mit mehr oder weniger Talent die Fäden zu einer Handlung gezogen wurden. Diese Stoffwelt zwischen Burgstraße und Zoologischem Garten ist heute – man darf wohl sagen zum Glück – schon so ausgenutzt, daß sie von der ganzen älteren belletristischen Garde wohlweislich im Stich gelassen worden ist und fast gemieden wird; und nicht zum wenigsten diese Gattung war es, die den litterarischen Ueberdruß an Berlin und die Bewegung zur Provinzkunst hin hat anwachsen lassen. Es gehörte deshalb schon die Naivetät eines unverbrauchten Talentes dazu, sich nochmals auf einem so abgeackerten Boden anzusiedeln.5 Was Ettlinger im Literarischen Echo anspricht, zeigt den Wahrnehmungshorizont der Zeit. Tatsächlich sind es vor allem zwei Stränge, nicht selten miteinander verflochten, die in den Jahren vor und nach 1900 unter dem Label Berlin-Roman fungieren. Zum einen der Typus 5
Josef Ettlinger: Ein satirischer Roman, in: Das literarische Echo 3, 1900/1901, Sp. 334–336.
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des Dienstmädchenromans – armes Wesen vom Land wird vom Sohn oder Vater des bürgerlichen oder reichen Hauses geschwängert, landet in der Gosse oder begeht Selbstmord. Zum anderen die von Ettlinger apostrophierten Tiergarten-Romane, die „verfilzten Knäuel von Börse, Tiergarten, Theater und Presse“, für die sich leicht noch weitere Beispiele beibringen ließen. Bleibt der andere von Ettlinger angeführte Aspekt, die „Uebertreibung wirklicher Verhältnisse“ – „nur Lumpen und Schufte gibt es da“. Heinrich Mann selbst hat nachträglich konzediert, dass in seinem ganz offenkundig an Maupassants Bel ami angelehnten Roman, dessen Protagonist freilich eher eine Talmiversion von George Duroy ist, „sehr viel Karikatur u. Excentricität“ herrsche.6 Es ist hier wohl nicht nötig, die zeitgenössische Rezeption und die Wellen der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Spezifizität und Angemessenheit des Satirischen dieses Romans nachzuzeichnen, all die Fragen nach dem Verbleib positiver Figuren, nach dem Verhältnis von Märchen und Experiment, nach der Eigentümlichkeit seiner Frauenfiguren und auch – zumindest erst einmal – nicht seines Verhältnisses zum Antisemitismus wie zum implizit reflektierten Konkurrenzverhältnis von Dramatik und Epik und der Rolle des Journalismus dabei. Folgend soll vielmehr die Spezifik dieses Berliner Schlaraffenlandes skizziert und – soweit möglich – verortet werden, um dann die darin erkennbaren Wahrnehmungs-, Verhaltens- und Deutungsweisen mit Schlaglichtern aus Georg Simmels zeitgenössischen theoretischen Arbeiten zu korrelieren. „Ein junger Mann, berauscht und überfordert von seinen Erfolgen, dreht durch. Genauer gesagt: für ein paar falsche Augenblicke, die ihm die Existenz kosten werden, glaubt er, die Regeln begreifen zu können, die ihn nach oben gebracht haben“.7 Der Roman spielt im Jahr 1894. Andreas Zumsee ist im Winter aus seiner rheinischen Heimat nach Berlin gekommen, um Literaturkarriere zu machen. Kontaktlos hungert er sich durch. Der selbst wenig erfolgreiche Schriftsteller Köpf nimmt Interesse an dem ebenso arglosen wie beflissenen Zumsee und vermittelt ihn an die Redaktion des ‚Nachtkurier‘, von wo aus er wiederum in Kontakt mit der im Tiergarten residierenden Familie Türkheimer kommt, die Mittelpunkt einer Entourage von schmarotzenden Pseudo-Künstlern und Journalisten unterschiedlichster Provenienz ist, apostrophiert als die „Blüte unserer kunstsinnigen Gesellschaft“ (37). Zufällig ist gerade der Liebhaber der 45-jährigen Hausfrau Adelheid geschasst worden. Andreas, die ‚liebe Unschuld‘, Pulcinell und Bajaz (384, auch 395), mit dem „Talent zum Glückmachen“ (16, 23, 58, 89 u. ö.) ausgestattet, füllt die Lücke. Die üppige, ihn alsbald hingebungsvoll liebende Matrone hält ihn aus und protegiert ihn, wobei er als Günstling auch des Hausherrn wiederum von anderen hofiert wird. Man besucht die Uraufführung eines anderen Protegés, ‚Rache‘, eine boshafte Parodie auf Stück, Erfolg und Publikum von Gerhart Hauptmanns Die Weber, 1893 uraufgeführt. Ansonsten trifft man 6
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Zitiert nach Materialien, in: Heinrich Mann: Im Schlaraffenland. Ein Roman unter feinen Leuten. Mit einem Nachwort v. Wilfried F. Schoeller und einem Materialanhang, zusammengestellt v. Peter-Paul Schneider, Frankfurt/M. 1988, S. 458. Seitenangaben im Text folgend nach dieser Ausgabe. Frank Schirrmacher: Fein sein, faul sein. Heinrich Manns ‚Im Schlaraffenland‘, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 275, 25. 11. 1988, S. 30.
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sich im Hause Türkheimer, wo neben den schmarotzenden Künstlern und Journalisten allerlei Figuren aus verarmtem Adel und letztlich von Türkheimer abhängiger ParvenüBourgeoisie sich vergnügen, langweilen und intrigieren. Zumsee, dessen Beitrag zur Konversation darin besteht, aufgeschnappte Phrasen als eigene Einfälle und Urteile weiterzugeben, steigt sein Erfolg bei der Hausfrau, seine von ihr manipulierte finanzielle Sekurität und künstlerische Reputation zu Kopf. Schließlich versteigt er sich dazu, die Geliebte des zuckerkranken Hausherrn, eine Parodie auf eine femme fragile, die 17-jährige Proletengöre Matzke, „mager, frech, lymphatisch und voll zerlumpter Ansprüche“ (287), zu erobern, die nun unterm nome de guerre Bienaimée in einer Westendvilla residiert. Daraufhin nimmt Familie Türkheimer gemeinsam an ihm Rache, indem Zumsee gezwungen wird, eine subalterne Redakteursstelle anzunehmen, „’ne Stelle, nicht zu fett und nicht zu mager, daß ihm nie zu wohl wird und daß er doch immer in Angst ist, sie zu verlieren“ (388), dazu die ungeliebte Matzke zu heiraten und in die Hasenheide, den Tiergarten des Pöbels, zu ziehen, „wo bei dem Gestank von Schweiß und Fettgebäck, zwischen Schreckenskammern und Riesendamen eine schwarze, fratzenhafte Menge den populären Instinkten, Wollust und Grausamkeit, keuchend frönte“ (397). Der Roman endet damit, dass Schriftsteller Köpf Zumsee ein Romanmanuskript über die feine Gesellschaft anbietet, das dieser aber ablehnt: Sie sind gallig und unglücklich, mein Lieber, wie Ihre Satire – und die stimmt nicht mal. Ihr Held geht inmitten der Jobberweiber unter. Ja, meinen Sie, daß jemand, der wert war, zu leben, überhaupt untergeht? Ohne Unbescheidenheit: bin ich selbst denn untergegangen? Man unterhält sich, man läßt sich der Wissenschaft zuliebe mit den Leuten im Schlaraffenland ein, man sammelt Dokumente über sie. […] Und wenn man eines Tages genug hat von den Patschuli- und Kloakendünsten – o mein Gott, ich empfand nachgerade ein unwiderstehliches Bedürfnis nach Reinheit. (408) In dem Moment fährt draußen in einem „pyramidenartig aufgebauten Jagdwagen“ mit uniformierten Lakaien, die Posaunen blasen, wie in einem „epischen Siegeszuge“ James L. Türkheimer zusammen mit dem Fürsten der Walachei vorbei, den Türkheimer dabei unterstützen soll, „die moderne Kultur in sein Land einzuführen“, im weiteren Gefolge seine Schranzen. Wobei der Journalist Liebling, zuvor Zionist, nun Alldeutscher, den Platz Zumsees neben der Hausfrau einnimmt – „gleich der Apotheose am Schluß eines Feenmärchens“ (410). Diese Konstruktion der Satire als Feenmärchen ermöglichte Heinrich Mann, die ‚feine Gesellschaft‘ der Parvenüs zu karikieren, mehr aber noch und mit größerer Intensität den Kulturbetrieb der Zeit rundum zu desavouieren. Kunst besteht hier lediglich aus Prätention, Simulation, Imitation und Plagiat. Sie ist völlig abhängig von Kommerz und mäzenatischer Willkür, sie ist nurmehr Dekoration der Macht, korrupt, banal und hohl. Sie schmarotzt am spekulantischen Finanzkapital. Künstler und Journalisten nassauern am Hofe des Börsenjobbers wie ehedem die Schranzen am feudalen Hofe. Gesinnungs- wie gedankenlos wechseln die Moden und Phrasen. Ob Symbolismus oder Naturalismus, Sadismus oder Frömmelei, Deutschtümelndes oder Zionismus, Emanzipation der Frau oder dienende Mutterschaft,
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Gotik oder Renaissancemenschentum – alles beliebig wechselnd wie die Phrasen und Modewörter, mit denen die Schickeria ihre Zugehörigkeit zum System Türkheimer signalisiert. Schon der Name impliziert das ja. Zwar soll er wohl auf eine jüdische Herkunft des Spekulanten anspielen – wie überhaupt das Schlaraffenland von jüdischen Figuren so sehr bestimmt wird, dass Heinrich Mann unter den Verdacht des Antisemitismus geraten kann, den er freilich im Roman selbst als bloß eine der modischen Attitüden charakterisiert, mit denen selbst Türkheimer kokettiert. Vor allem aber konnotiert der Name, was man mit ‚türken‘ oder ‚einen Türken bauen‘ zu bezeichnen pflegt, eben Vortäuschung und Vorspiegelung. Gerade in dieser Talmi- und Simulationskultur aber sehnt man sich nach dem Unverstellten, Wahren, Authentischen – für das vermeintlich nun Andreas Zumsee steht oder das einfache Volk à la Matzke, das hier jedoch moralisch als nicht minder korrupt und überdies noch hässlich erscheint. Das Schlaraffenland hat sein Zentrum in der Villa Türkheimer, in der Hildebrand Privatstraße, im Tiergarten gelegen. Von hier aus funktioniert das System: Türkheimer ist nämlich ein ziemlich aufgeklärter Mann, er sieht ein, daß der jetzt so beliebte Kommunismus tatsächlich einem Bedürfnis der Neuzeit entspricht. Natürlich bloß der gesunde Kommunismus, der sich in seinen berechtigten Grenzen hält. Über die Familie darf die Politik der offenen Hand nicht hinausgehen, das wäre gewissenlose Vergeudung des Nationalvermögens. Aber die Familie ist weitverzweigt […]. In das System passen nämlich alle hinein, die Sie kennen. (202/203) So wird Zumsee rabulistisch belehrt. Zugleich charakterisiert das System Berlin als Hauptstadt und damit das Kaiserreich insgesamt (vgl. z.B. 326 u. 394). Indirekt vorgezeichnet ist somit bereits, was Heinrich Mann dann im Untertan direkt satirisieren wird, wie ja sein Andreas Zumsee, der sich gegen Ende die Barttracht Wilhelms des Zweiten zulegt (347) und von sich glaubt: „Ich bin größer als die Ereignisse“ (391), dem späteren Diedrich Heßling präludiert. Zumindest implizit bildet Heinrich Mann die Strukturen dieses Berlin ab, dessen Repräsentationszentrum im Tiergarten liegt und dessen signifikante, metonymische Orte Börse, Theater und Redaktion sind – in der Linie Burgstraße, Gendarmenmarkt und Leipziger Straße. Nicht minder signifikant ist das Bewegungsprofil von Andreas Zumsee: Es beginnt mit einer Wohnung in der wenig renommierten Linienstraße, um über die Dorotheenstraße zur Lützowstraße zu führen – und damit zum der Hildebrand Privatstraße am nächsten gelegenen Punkt. Von wo aus der Undankbare zusammen mit der kleinen Matzke, die von der Gegend um die Heinersdorfer Straße ins repräsentative Westend kam, in die Peripherie der Hasenheide expediert werden wird. Abgesehen von ein paar Spaziergängen oder Besorgungen in der Umgebung des Gendarmenmarkts, Unter den Linden und in der Leipziger Straße, besucht man die Börse in der Burgstraße, das Schauspiel am Gendarmenmarkt und die Zeitungsredaktion in der Kochoder Schützenstraße. Ansonsten bewegt sich das Personal des Romans lediglich in Interieurs. Die aber sind in ihrer – ausgiebig ausgemalten – geschmacklosen Kompilatorik und in
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ihrem imitativen Eklektizismus unmittelbares Pendant zu dem, was Walther Rathenau 1899 am Exterieur der Stadt bemerkte: Berlin, „der Parvenu der Großstädte und die Großstadt der Parvenus“, hat die Stadt von einst, die noch „einen Charakter“ hatte, verdrängt. Die verbliebenen „niedrige[n] Wohnhäuser und klassische[n] Bauwerke der bescheidenen Residenz“ wirken in dem jetzigen „Tamtam der Gipsorgien und Stucktrompeten […] erdrückt, veraltet, deplacirt […]. Berlin ist nicht gewachsen, es ist verwandelt.“ Folgt eine Revue der architektonischen Scheußlichkeiten und Missgriffe. Die bombastische Reichshauptstadt, so Rathenau, ist „nationlos“ und könnte genauso gut „an die Newa oder die Donau versetzt“ werden. Ihre Baukultur ist eklektizistisch, „entsetzliche Frühgeburten polytechnischer Bierphantasien“. „Es ist ungefähr so, wie wenn ein Zahnkünstler ein prächtiges Gebiß anfertigt und sich rühmt, er habe jedem einzelnen Zahn besonderen Charakter, Ausdruck und Farbenton geliehen.“ Das alles steht unter dem süffisant ironisierenden Titel: Die schönste Stadt der Welt.8 In seinem Buch Berlin. Ein Stadtschicksal wird Karl Scheffler Rathenaus Beobachtung aufgreifen, indem er beschreibt, wie Wilhelm II. „aus dem formlos häßlichen Berlin mit den Mitteln des Scheins und eines toten Akademismus die ‚schönste Stadt der Welt‘ zu machen“ versuchte. Scheffler destilliert daraus die berühmte Formel: „Berlin [ist] dazu verdammt, immerfort zu werden und niemals zu sein“.9 Die Kritik der ästhetischen Oberflächlichkeit ist nicht nur ästhetizistische Kritik der Oberfläche, sondern darin zugleich Kritik der fehlenden moralischen wie politischen Substanz. Damit berührt sie sich in mehr als einer Hinsicht mit Positionen, die Georg Simmel seinerzeit in Hinsicht auf die Großstadt als Laboratorium der Moderne zu gewinnen suchte. Georg Simmel hatte 1903 in Die Großstädte und das Geistesleben sich mit der spezifischen ‚geistigen‘ Konstitution des Großstädters als großstädtischem ‚Geistigen‘ befasst. Indem die Großstadt Bedingungen schafft, in denen das Tempo und die Anzahl der Sinnesdaten extrem expandieren und sich zugleich verdichten, muss das großstädtische Individuum Schutz- und Abwehrmechanismen entwickeln. Es steigert sein Bewusstsein. Exaktheit, Pünktlichkeit, Schematisierung, Quantifizierung, Abstraktion und Anonymität prägen das großstädtische Leben. Dem entsprechen als individuelle Verhaltensweisen „Blasiertheit“, „Reserviertheit“ und „Aversion“ als Formen der Selbsterhaltung und der Verteidigung individuell-persönlicher Freiräume. Blasiertheit – hergeleitet vom französischen blasé = gleichgültig, unempfänglich – ist eine Form der Reizabwehr und Reizbarkeitsverweigerung, eine „Abstumpfung gegen die Unterschiede der Dinge“. Reserviertheit wiederum gründet für
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[Walther Rathenau]: Die schönste Stadt der Welt, in: Die Zukunft, Bd. 26, 1899, S. 36–48, hier S. 37, 39, 41, 40 u. 43. Vgl. auch Walter Fähnders: ‚Die schönste Stadt der Welt‘. Walther Rathenaus BerlinEssay, in: Walter Delabar, Dieter Heimböckel (Hrsg.): Walther Rathenau. Der Phänotyp der Moderne, Bielefeld 2009, S. 67–85 Karl Scheffler: Berlin. Ein Stadtschicksal (1910), Berlin 1989, S. 218/219.
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Simmel auf dem „Recht auf Mißtrauen“, das er dem Großstädter konzediert.10 Es äußere sich in Gleichgültigkeit, Aversion, gar Hass. Auch dies sind Formen des Selbsterhalts angesichts der übermächtig erscheinenden Vielzahl der Anderen. Es ist mithin ein Verfahren, Distanzen zu wahren, die allenthalben gekürzt und kassiert werden. Was in Blasiertheit und Reserviertheit aber als „Dissoziierung“ erscheint, so Simmel, ist in Wahrheit eine der „elementaren Sozialisierungsformen“ der Großstadt, weil sie individuelle Freiräume sichert.11 Ein Beispiel dazu aus dem Schlaraffenland, in dem man sich unablässig blasiert gibt oder andere als blasiert empfindet (vgl. z. B. 19 o. 290), ein Beispiel des Übergangs von Blasiertheit in Aversion, die bei Heinrich Mann zugleich zum Spiegel imperialen Herrenmenschentums wird: Er setzte den braunen Juchtenschuh fester als sonst auf das Pflaster der Friedrichstadt und blickte den Vorübergehenden herausfordernd und voll Verachtung unter die Hüte, ohne ihnen auszuweichen. Wenn er einem andern jungen Manne von Welt begegnete, so war es, als schlichen zwei zornige Kater, mit gesträubten Stacheln unter der Nase, umeinander herum. Es galt, sich gegenseitig Furcht einzuflößen durch stark betonte männliche Tugenden, durch Kälte, brutalen Wirklichkeitssinn und äußerste Reizbarkeit. Ein neunzehnjähriger Gardeleutnant, der mit steifem Ellenbogen in der Hoffnung eines Sieges auf Andreas zuschritt, mußte im letzten Augenblick seinen Irrtum erkennen. Unmittelbar vor dem Zusammenprall vollführte er eine schnelle Wendung mit dem Oberkörper und verbeugte sich leicht. Darauf war es Andreas zumute, als sei er geadelt worden auf dem Felde der Ehre. Er entfernte das Schild von der Tür seiner Wohnung und ließ ein neues befestigen mit der Inschrift ‚Andreas zum See‘. Er fand, daß dieser Name, wenn noch nicht aristokratisch, doch kaum mehr bürgerlich klinge. (348) Mit Letzterem bewegen wir uns schon in die andere, komplementäre Richtung, die Simmel im Großstadtverhalten konstatiert. Es ist die „Schwierigkeit, in den Dimensionen des großstädtischen Lebens die eigene Persönlichkeit zur Geltung zu bringen“. Sie führt dazu, „sich pointiert, zusammengedrängt, möglichst charakteristisch zu geben“, und verführt „schließlich zu den tendenziösesten Wunderlichkeiten […], zu den spezifisch großstädtischen Extravaganzen des Apartseins, der Kaprice, des Pretiösentums“, zur prinzipiellen „Form des Andersseins, des Sich-heraushebens und dadurch Bemerklichwerdens“.12 Auch dies kann man an Andreas Zumsee illustrieren. Der einzige eigene Einfall dieses, wie es im Roman heißt, „unbewußten Spekulanten“ (293) bleibt es, sich in dieser Gesellschaft von Marotteuren eine eigene „Marotte“ zuzulegen: Er gibt sich als katholischen Dichter, der in einer Mönchskutte angeblich dem Asketismus und der Weltferne sich weiht. Das
10 Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, in: Die Großstadt. Vorträge und Aufsätze zur Städteausstellung, in: Jahrbuch der Gehe-Stiftung zu Dresden, Bd. IX, Dresden 1903, S. 185–206, hier S. 193, 195. 11 Ebd., S. 196. 12 Ebd., S. 202.
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ist unter dem überwiegend jüdischen Personal des protestantischen Berlin eine Attraktion. Zumal für Adelheid, die „ein ungeahntes Vergnügen daran [fand], den Mönch zu lieben“, eine „teuflische Lust […], vor der ihr selbst beinahe graute“ (151). Die Analogien zu Simmel gehen aber noch entschieden weiter. Das Schlaraffenland ist durch und durch bestimmt vom Geld, das Heinrich Mann in etwas penetrant konkretistischer Leitmotivik unter den Möbeln herumrollen – und damit aber auch faktisch entwerten – lässt. Die Teilhaber am Schlaraffenland sind allesamt Spekulanten, „unbewußte“ wie Zumsee oder solche, die als „anständige Spekulanten“ (265, 272) gelten wollen, deren spekulativer Kern aber Machenschaften an der Börse sind, in denen märchenhafte Erzählungen als gefälschte Informationen fungieren. Großstädte sind, hatte Simmel geschrieben, „Hauptsitze des Geldverkehrs“. Als solche bilden sie die spezifischen Charakteristika aus, von denen wir eben gehört haben. Was, wie eingangs gesagt, oft übersehen wird: Simmel hatte in seinem Aufsatz explizit auf dessen Grundlegung in seiner 1900 – parallel zum Schlaraffenland – erschienenen Philosophie des Geldes verwiesen.13 „Dieses Buch“, schrieb damals Karl Joel in der Neuen Rundschau, konnte nur in dieser Zeit und nur in Berlin geschrieben werden. […] Es ist die erste Antithese, das scheinbar Unmögliche und doch Notwendige dieses Buches, daß es zugleich in und über der Zeit steht, daß es, als Produkt an einen Ort und eine Zeit gebunden, doch frei ist, daß es die Seele des modernen Berlin projiciert auf einen universalen Horizont.14 Simmels Buch beschreibt, wie Lothar Müller es genannt hat, einen Prozess der „Liquidierung im Doppelsinn von Verflüssigung aller Kultursphären einerseits, fortlaufender Vernichtung der Tradition andererseits“.15 Und, kann man hinzufügen, dies als Prozess der Liquidisierung, nämlich alles und jedes liquide, finanzierbar und verkäuflich zu machen. Er beschreibt das als einen Prozess zunehmender Abstraktion, als Prozess der steigenden Indifferenz. Man kann auch sagen: Als Entropie unserer Möglichkeiten – denn die Möglichkeiten werden immer zahlreicher, die Chancen zugleich aber immer geringer. „Immer complicierter aber wird das Handeln heute“, fasst Karl Joel das zusammen, immer länger die Reihen der Zwischenglieder, die der Verstand einbaut, immer ferner rücken die Ziele, die Werte, die das Gefühl setzt, […] immer mehr wird das Leben Vorbereitung, Berechnung, […] – es wird kälter in der Welt, die langen Mittel verschlingen fast die kleinen Zwecke.16
13 Vgl. ebd., S. 206. 14 Karl Joel: Eine Zeitphilosophie, in: Neue Rundschau (Freie Bühne) 12, 1901, S. 812–826, hier S. 813. 15 Lothar Müller: Die Großstadt als Ort der Moderne. Über Georg Simmel, in: Klaus R. Scherpe (Hrsg.): Die Unwirklichkeit der Städte, Reinbek 1988, S. 14–36, hier S. 18. 16 Joel: Eine Zeitphilosophie (wie Anm. 14) S. 819.
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Entsprechend zieht die Verstädterung alles in sich hinein. So gibt es kein wirkliches Außerhalb dessen mehr, für was die Großstadt exemplarisch steht. Ja, ihr Prinzip ist nicht mehr lokalisierbar, nicht mehr auf spezifische Räume beschränkt, sondern ein zeitlicher Prozess, der sich alles unterwirft. Räumliche Distanzen werden zu zeitlichen Funktionen: So sind Land oder Ländlichkeit nicht mehr länger Gegenwelten zur Großstadt, sondern deren Projekte und Projektionen. Sie sind dem Zeitpuls der Großstadt, dem der Konjunkturen der Mode, unterworfen. Natürlichkeit und Unschuld, Ländlichkeit und Exotismus, sie erscheinen in dieser Perspektive als beliebige und schnell wechselnde Projektionen der Großstadt, so wie Gemüt und Seele Entwürfe des Intellekts sind. Dafür sorgt jene spezifische Kategorie von Großstadtmenschen, die vom Börsenjobber bis zum Zionisten, vom Theaterdichter bis zum Redakteur das Schlaraffenland bevölkern. Simmel in der Philosophie des Geldes: In den modernen Großstädten gibt es eine große Anzahl von Berufen, die keine objektive Form und Entschiedenheit der Betätigung aufweisen: gewisse Kategorien von Agenten, Kommissionäre […]. Jene großstädtischen Existenzen, die nur auf irgendeine völlig unpräjudizierte Weise Geld verdienen wollen […]. Sie stellen ein Hauptkontingent zu jenem Typus unsicherer Persönlichkeiten, die man nicht recht greifen […] kann, weil ihre Beweglichkeit und Vielseitigkeit es ihnen erspart, sich […] in irgendeiner Situation festzulegen. Daß das Geld und die Intellektualität den Zug der […] Charakterlosigkeit gemeinsam haben, das ist die Voraussetzung dieser Erscheinungen.17 Und Joel über deren Habitat: Zahlen machen unsere Welt, die moderne Welt, die Riesenskala, auf der alles auf- und abrollt, diese ungeheure Resonanz aus tausend Schalltrichtern, die alles in Verbindung setzen, dieses Echo aller Zeiten und Länder, aller Stile und Richtungen, diese Conkurrenz aller Werte und Interessen, die sich durchkreuzen und durcheinandersummen, mit einem Wort: die Welt als Börse. Das gilt, so folgert Karl Joel konsequenterweise dann auch noch für Simmels eigene Position wie konsequenterweise auch für deren Sprache: Beide, Intellekt und Geld, „übersetzen die sich fremden Dinge erst in die Sprache der Gegenseitigkeit […], setzen sie in Relation, schaffen die Relativität“. Und so attestiert er Simmels Buch, es sei „sozusagen in der Sprache auch Geldwirtschaft“, nämlich „die Worte nur in ihrem Beziehungswert […] nehmend, während noch die Meisten heute in der Naturalwirtschaft ihrer Sprache stehen und vom Einzelwort concrete Saftigkeit, Nährwert fordern“. 18 Über solch naturalistische Illusion ist auch Heinrich Manns Ästhetizismus hinaus. Und das in einer ähnlich relationistischen Sprache, wie Josef Ettlinger damals bemerkt: „Wir hören dem Erzähler zu wie einem mondänen Plauderer, der uns in der gewähltesten Form 17
Georg Simmel: Philosophie des Geldes (1900). Hrsg. v. David P. Frisb, Klaus Christian Köhnke, Frankfurt/M. 1989 (= Georg Simmel Gesamtausgabe Bd. 6), S. 596/597. 18 Joel: Zeitphilosophie (wie Anm. 14), S. 813, 815.
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ein obszönes Histörchen erzählt“.19 In dieser Sprache demonstriert sich die bloße Abgeleitetheit jedweder Substantialitätsvorstellungen wie metaphysischen Sehnsüchte – und damit die obsolete Illusorik von irgend Sicherheit und Garantie. Das ist Thema wie Verfahren von Heinrich Manns Roman. Und darum sind die Fragen, wo denn das Positive bleibt, die seit frühen DDR-Tagen immer mal wieder gestellt wurden, müßig. Es gibt in dieser Welt sich universalisierender Spekulation kein Außerhalb. Darum sind auch ihre möglichen Gegenpositionen noch immanent, so wie die satirische Kritik Köpfs oder die einer ‚weiblichen Kultur‘, die, so Simmel, ohnehin eine contradictio in adiecto sei.20 Was er so avanciert durchspielt, belegt Heinrich Mann, der dem Zwang zur Illustration der Illusionen nicht entkommen kann – und wohl in der Lust der Polemik auch gar nicht will – freilich noch unfreiwillig selbst: Seine Unternehmung, diese schlaraffische Welt, in der „doch jeder alles werden“ kann (326) und folglich auch alle wieder nichts, so demonstrativ im jüdischen Milieu zu situieren, ist nicht weniger eine phantasmatische Substantialisierung und obsoleter Konkretismus als die Unschulds- und Natürlichkeitsprojektionen seiner Protagonisten im Blick auf Ländlichkeit, Volk oder Proletariat.
19 Ettlinger: Ein satirischer Roman (wie Anm. 5). 20 Georg Simmel: Weibliche Kultur (1902), in: Georg Simmel: Philosophische Kultur, Berlin 1983, S. 207–241, hier S. 239. Vgl. dazu Inka Mülder-Bach: „Weibliche Kultur“ und „stahlhartes Gehäuse“. Zur Thematisierung des Geschlechterverhältnisses in den Soziologien Georg Simmels und Max Webers, in: Sigrun Anselm, Barbara Beck (Hrsg.): Triumph und Scheitern in der Metropole. Zur Rolle der Weiblichkeit in der Geschichte Berlins, Berlin 1987, S. 115–140, hier S. 136. Zu einem kritischeren Blick aus dieser Perspektive auf Heinrich Mann vgl. Franziska Schößler: Börsenfieber und Kaufrausch. Ökonomie, Judentum und Weiblichkeit bei Theodor Fontane, Heinrich Mann, Thomas Mann, Arthur Schnitzler u. Émile Zola, Bielefeld 2009, S. 68–70.
IV. Umbau durch Erinnerung
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Moment-Architektur Die Kunst der Barrikade und die Kunst ihrer medialen Mythisierung
Die Geschichte von Barrikaden in Europa ist noch nicht geschrieben. Sie setzt ein mit einer fiktiv-nichtfiktiven Urszene. Fiktiv, weil es keine Urszenen gibt, nichtfiktiv, weil es diese Szene offenbar gegeben hat. Im Jahr 480 v. u. Z. wurden die Thermopylen, ein 4 km langer und 50 m breiter Engpass auf dem griechischen Festland, von einer Schar griechischer Krieger gegen die Übermacht persischer Truppen verteidigt. Wie Herodot überliefert, verteidigte ein Häufchen von rund eintausend Spartanern und Thespiern unter dem Spartanerkönig Leonidas den Pass, der an einigen Stellen nur eine Wagenspur breit war, gegen die sagenhafte Zahl von dreihundertmal zehntausend Persern unter Führung des Perserkönigs Xerxes. Gedeckt durch einen in Eile errichteten improvisierten Wall, brachten die gut motivierten Griechen die persische Invasion an dieser Schlüsselstellung tagelang zum Stocken. Durch Verrat gelang es schließlich den Persern, in den Rücken der Sperranlage zu dringen, fast alle Verteidiger fielen. Dieses Ereignis lässt sich als Präludium europäischer Barrikadenkämpfe ansehen. Zwei bzw. drei grundlegende historische Besonderheiten kommen jedoch hinzu, um von Barrikaden im eigentlichen Sinn zu sprechen. Erstens eine Verlagerung von Kämpfen ins Innere von Städten, eine Bürgerkriegssituation, d. h. der Kampf verschiedener rivalisierender innerstädtischer Akteure mit relativ begrenzten technisch-militärischen Mitteln oder ein Bürgerkrieg in dem Sinn, dass ein städtisches Gemeinwesen urbanen Widerstand gegen Okkupatoren leistet. Zweitens verengte Stadtlandschaften mit relativ geschlossenen Häuserfronten, zwischen denen Barrikadensperren überhaupt Sinn machen. Und drittens – und dadurch zeichnet sich die eigentliche Ära der Barrikade aus, das 19. Jahrhundert – sind mobile Pulverwaffen auch größeren Kalibers vorauszusetzen, bewegliche Geschütze (mit dem Aufkommen motorisierter Panzerfahrzeuge im 20. Jahrhundert kommt die Epoche der Barrikade an ihr Ende). Diese drei genannten Bedingungen waren in der Ära Napoleons gegeben. Als die durch ihn forcierten ‚Niederwerfungskriege‘ (anstelle der ehemaligen dynastischen ‚Ermattungskriege‘) Städte wieder direkt zu Kriegsschauplätzen gemacht hatten, erfüllten innerstädtische Barrikaden, gegründet auf das neue Phänomen unerbittlicher so genannter Volkskriege, eine wichtige militärische Funktion: Saragossa 1808, Dresden und Kassel 1813, Sens 1814. Mit
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dem 27./28. Juli 1830 in Paris und dem 23.–25. September 1830 in Brüssel begann eine ganz andere Art des Barrikadenkriegs. Eine definitiv neue Ära brach an, die des gewaltsamen bürgerlichen Kampfs gegen feudal-absolutistische Repression, für wirtschaftliche und politische Freiheiten. Barrikaden – in den französischen Revolutionswirren seit 1789 scheint es kaum Barrikadenkämpfe gegeben zu haben, in Paris überhaupt nicht –1 waren Vehikel und Symbol dieses Kampfs: ein Realsymbol. Sie avancierten zum imaginären Konstrukt, zu einem erinnerungsträchtigen Erkennungszeichen, zu einem imaginativen Apriori. Zugespitzt gesagt: Barrikaden sind Imaginationskonstrukte. Sie gewinnen ihren Gehalt vor allem in medialen Strategien. Nicht, dass es Barrikaden de facto nicht gegeben hat. Aber als solche waren sie flüchtige Momenterzeugnisse, spontan errichtet und aufgetürmt, Produkte plötzlicher Energieausbrüche, als städtisch-architektonische Ensemble äußerst fragil, ebenso flüchtig wie der revolutionäre Funke, der sich rasant schnell ausbreitete und ebenso rasant schnell verglomm. Umgekehrt proportional zu dieser Kurzlebigkeit verhielt sich ihr Nachleben. Barrikaden entstanden, medial mobilisiert, hauptsächlich in öffentlicher Erinnerungsarbeit. Sie waren kollektive mythische Konstrukte, Gründungsmythen im krisenhaften Haushalt bürgerlicher Selbstvergewisserung mit all den Vorzügen, die Gründungsmythen aufzuweisen haben. Mittels Barrikade erfand sich das Bürgertum anfangs unablässig neu, der Idealtypus Bürgertum konstituierte sich permanent rückwirkend im Idealtypus Barrikade. Dass diese Barrikaden im Lauf des 19. und vor allem 20. Jahrhunderts allmählich einem kollektiven Verdrängungsprozess unterlagen, hat mit der sich verschärfenden bürgerlichen Zweifrontenstellung gegen alten Adel und neuen dritten Stand zu tun, letztlich mit der realen und imaginativen Aneignung des Realmythos Barrikade durch Teile von anarchistischen und Arbeiterbewegungen seit der Pariser Kommune 1871.
Die architektonische Eruption Im Jahr 1848 war auch Berlin Schauplatz von Barrikadenkämpfen. Schon Tage vor dem Ausbruch der Märzrevolution war es in der Stadt gelegentlich zum Barrikadenbau gekommen, wobei man sich unter Barrikade – die Bezeichnung war ursprünglich im Französischen aus ‚barriques‘, Fässer, gebildet – nicht immer architektonisch kunstvolle Ensembles vorzustellen hat. Eher handelte es sich bei diesen spontanen Auflehnungen um Reit- und Schreithindernisse jeder Art gegen berittene und unberittene Militärformationen: „Major v. Gansauge stieß in der Brüder-Straße, an der Ecke der Neumanns-Gasse, auf eine 3 bis 4 Fuß hohe Barrikade, die nicht füglich übersprungen werden konnte“.2 Das Architekturelement 1
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Vgl. Rolf Reichardt: Barrikade, in: Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 1. Hrsg. v. Friedrich Jaeger, Stuttgart, Weimar 2005, Sp. 1010–1015, hier Sp. 1010. Zur Geschichte von Barrikaden seit dem Spätmittelalter bzw. der Frühen Neuzeit: vgl. La Barricade, sous la direction de Alain Corbin et Jean-Marie Mayeur, Paris 1997. Karl Ludwig von Prittwitz: Berlin 1848. Das Erinnerungswerk des Generalleutnants Karl Ludwig von Prittwitz und andere Quellen zur Berliner Märzrevolution und zur Geschichte Preußens um die Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin, New York 1985, S. 76; vgl. auch ebd., S. 56, 62/63, 75, 78; vgl. auch
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Barrikade war gewissermaßen noch in der Erprobungsphase, ein Zeitzeuge spricht davon, dass mit diesen an den Tagen vor dem 18. März errichteten Gelegenheitsbauten „Vorstudien des Barrikadenbaus“ betrieben wurden.3 Denn logistische Vorkenntnisse im Barrikadenbau hat es in Berlin nicht gegeben. Nach Erinnerungen von Zeitgenossen sollen immerhin in demokratischen Zirkeln wie etwa in Gustav Julius’ öffentlicher ‚Zeitungshalle‘ bei der Lektüre ausländischer Zeitungen nach den Pariser Februarereignissen regelrechte Vorträge über technisch-taktische Fragen des Barrikadenbaus gehalten worden sein.4 Dann die furiose Barrikadennacht vom 18. zum 19. März 1848: Aufbauschende Zeitberichte sprechen von 5.000 Barrikaden, eine andere Zählung überliefert die Zahl von 921.5 Großzügige Schätzungen gehen von drei- bis viertausend Barrikadenkämpfern in der Stadt aus sowie vielen Zehntausenden Helfern, die sich gegen etwa 12–15.000 Militärs zu behaupten hatten.6 Gründungsmythisch-performativ schien es, als hätte sich jeder einzelne Bürger der Stadt empört. Wie hat man sich die verbarrikadierte Stadt des 18. März vorzustellen? War Berlin in zwanzig Minuten mit Barrikaden verschanzt und „jedes Haus [...] eine Festung“, wie die Schriftstellerin Bettina von Arnim brieflich dramatisierend überliefert? Bildete innerhalb kaum einer Stunde „selbst die kleinste Gasse eine eigene Festung“, wie der Chronist Eduard Forsberg berichtet? War in wenigen Stunden die ganze Stadt verschanzt und „jede Straße“ mit einer „Anzahl kleiner Festungen“ versehen, wie der Revolutionshistoriker Adolf Streckfuß übermittelt?7 Waren alle Barrikaden so errichtet, wie die am Alexanderplatz, die Streckfuß wie folgt beschreibt:
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Adolf Wolff: Berliner Revolutions-Chronik. Darstellung der Berliner Bewegungen im Jahre 1848 nach politischen, socialen und literarischen Beziehungen. Bd. 1, Berlin 1851, S. 62/63, 80–82 sowie Adolf Streckfuß: 500 Jahre Berliner Geschichte. Vom Fischerdorf zur Weltstadt. Bd. 2, Berlin 1886, S. 965, 967. Zur innenpolitischen Rolle des Militärs ab 1815 in Europa generell: Wolfram Siemann: Heere, Freischaren, Barrikaden. Die bewaffnete Macht als Instrument der Innenpolitik in Europa 1815–1847, in: Dieter Langewiesche (Hrsg.): Revolution und Krieg. Zur Dynamik historischen Wandels seit dem 18. Jahrhundert, Paderborn 1989, S. 87–102. [Anonym:] Berlin in der Bewegung von 1848, in: Die Gegenwart. Eine encyklopädische Darstellung der neuesten Zeitgeschichte für alle Stände 2, 1849, S. 538–597, hier S. 546. Vgl. Karl August Varnhagen von Ense: Journal einer Revolution. Tagesblätter 1848/49, Nördlingen 1986, S. 49; Streckfuß: 500 Jahre Berliner Geschichte (wie Anm. 2), S. 954. Vgl. Die Märztage in Berlin, in: Illustrirte Zeitung Nr. 250, 15. April 1848, zitiert nach: Johann Friedrich Geist, Klaus Kürvers: Das Berliner Mietshaus 1740–1862. Eine dokumentarische Geschichte der „von Wülcknitzschen Familienhäuser“, München 1980, S. 355; Wolff: Berliner Revolutions-Chronik (wie Anm. 2), S. 177. Vgl. Veit Valentin: Geschichte der deutschen Revolution von 1848–1849. 2 Bde. (1930/31), Weinheim, Berlin 1998, Bd. 1, S. 434; vgl. auch Rüdiger Hachtmann: Berlin 1848. Eine Politik- und Gesellschaftsgeschichte der Revolution, Bonn 1997, S. 162. Bettina von Arnim an Pauline Steinhäuser, 24. März–20. Mai 1848, in: Bettina von Arnim: Werke und Briefe in vier Bänden. Bd. 4: Briefe. Hrsg. v. Heinz Härtl u. a., Frankfurt/M. 2004, S. 633; Eduard Forsberg: Die neuesten Ereignisse Berlins, der Kampf für Freiheit und Recht der denkwürdigen Tage des 18. u. 19. März 1848 [. . .], Berlin 1848, S. 19; Streckfuß: 500 Jahre Berliner Geschichte (wie Anm. 2), S. 981.
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Ein paar umgeworfene Wagen hatten auch hier den Anfang zum Bau gemacht, da aber die Barrikade selbst schwerem Geschütz widerstehen sollte, und Zeit genug zum Bau gewesen war, hatten die Bürger sie mit allen nur zu Gebote stehenden Mitteln befestigt. Die Granitplatten des Trottoirs und Eisenplatten aus einer nahe gelegenen Eisenhandlung waren verwendet worden, um einen festen Schutz gegen die Geschützkugeln zu gewähren; man hatte Schanzkörbe herbeigeschleppt und mit Sand alle Zwischenräume aufgefüllt. Eine dreifarbige schwarz-roth-goldene Fahne wehete auf ihr.8 Denkt man an die allein zwölf bzw. vierzehn nachmittäglichen Barrikaden der Königstraße – die alle innerhalb von rund zwei Stunden genommen wurden –, wird das piktoral verfestigte Stereotyp der uneinnehmbaren Straßenfestung mehr als fragwürdig. Quellen zufolge reichte das Spektrum Berliner Barrikaden von simplen Maßnahmen wie ausgeworfenen Glasscherben oder verstreuten Materialien von Haus- oder Straßenbaustellen, ergänzt mit herausgerissenen Rinnsteinbohlen und Pflastersteinen, über umgestürzte Markt- oder Transportkarren, versetzt mit Haushaltsgegenständen, Kleinmöbeln und Brunnenhäusern, bis hin zu wenigen kunstvoll arrangierten Ensembles, bei denen umgestürzte Personenomnibusse, Transportwagen, Droschken, Marktbuden, Laternenpfähle und Balken zwei bis drei Meter hohe Sperranlagen bildeten, verfüllt mit Fässern, Wassertrögen und Pflastersteinen. Lumpen, Tuche, Wollwerk, gefüllte Säcke und Matratzen dienten als Kugelfang.9 Im Vorraum wurden, falls ausreichend Zeit gewesen war, Gräben ausgehoben, Draht und Stolperstricke wurden gespannt.10 Hierzu ein Zeitbericht: Man benutzte außer Wagen, Balken, Pfosten, Straßensteinen auch Hausgerät und Haustüren zu diesem Zweck. Die Bretter der Marktbuden auf dem Dönhoffsplatz und der Jerusalemerstraße, wo Jahrmarkt gehalten wurde, lieferten reichliche und brauchbare Hülfsmittel, und alle diese verschiedenartigen Bestandteile wurden so zweckmäßig und kunstfertig verwendet, daß mehrere dieser Verrammelungen, so z.B. die am köllnischen Rathhause, sogar der Wirkung der Kartätschen widerstanden. Das aufgerissene Straßenpflaster machte an den meisten Stellen die Verwendung der Reiterei unmöglich, und um dieses noch mehr zu erschweren, wurden mehrere Straßen, vorzüglich die Leip-
8 Streckfuß: 500 Jahre Berliner Geschichte (wie Anm. 2), S. 986; eine ähnliche Beschreibung dieser Barrikade findet sich in: [Anonym:] Berlin in der Bewegung (wie Anm. 3), S. 555. 9 Anhand der Barrikaden vom Juni 1848 in Paris wurden vier verschiedene, im Grad der Festigkeit variierende Barrikadentypen unterschieden, vgl. Emmanuel Fureix: De l’„autel de l’anarchie“ au Golgatha. La barricade de juin 1848 en représentation, in: La Barricade (wie Anm. 1), S. 221–233, hier S. 223/224. 10 Zu Draht vgl. [Anonym:] Berlin in der Bewegung (wie Anm. 3), S. 559; zu Stolperstricken Hubert von Meyerinck: Die Straßenkämpfe in Berlin am 18. und 19. März 1848 (1891). Hrsg. v. Horst Kohl, Leipzig 1912, S. 41.
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zigerstraße, mit Glasscherben bestreut; auf anderen trieben Kinder spitzige Eisen in den Boden ein.11 Es soll sogar – und hier erreicht die für den Kampfmoment errichtete Barrikade den stilisierten Status einer stationären Mauer – zum Bau einer „völlig gemauerte[n] Brustwehr“ auf der erwähnten, außergewöhnlich gut befestigten Barrikade Alexanderplatz/Ecke Neue Königstraße, gekommen sein.12 Eher handelt es sich dabei jedoch, wie verschiedene Zeitzeugen überliefern, um eine gestapelte Schutzwehr aus Granit- und Eisenplatten.13 Selbst damit war dieser Bau unter den so genannten ‚Vollbarrikaden‘ eher eine Ausnahme. Was sind Halbbarrikaden, was Vollbarrikaden? Wie entstanden sie? Im Grunde verlief der Barrikadenbau äußerst spontan und führte zu unterschiedlichen Ergebnissen. Es gab keinen Aufstandsplan, keine führenden Köpfe, kaum eine Koordination. Und technischtaktische Kenntnisse – das gilt für Verteidiger wie Angreifer gleichermaßen – mussten per ‚trial and error‘ erworben werden. Zwei wesentliche Barrikadentypen (die ich beide als ‚Moment-Architektur‘ bezeichnen möchte) lassen sich unterscheiden. Sie lassen sich typisierend zwei verschiedenen Zeitphasen des 18. März zuordnen und gleichfalls bestimmten Stadträumen. Anfangs wuchsen reine Defensivbarrikaden, die lediglich Zuflucht und Schutz vor Berittenen und Säbelhieben boten (ich möchte sie ‚Halbbarrikaden‘ oder ‚Barrikaden erster Art‘ nennen).14 Sie entstanden im unmittelbaren Zentrum, in der Nähe des Schlosses, aber auch in der Nähe von Kasernen. Schnell wuchsen dann aber auch Barrikaden, die nicht nur der Flucht dienten, sondern der organisierten, bewaffneten Defensive, also Barrikaden, die die Kampfrichtung, freilich nur limitiert, umkehrten (sie können als ‚Vollbarrikaden‘, als ‚Barrikaden zweiter Art‘ bezeichnet werden). Sie lagen etwas entfernt vom unmittelbaren Zentrum. Gerade relativ breite Straßen, die bevorzugt den Truppenbewegungen zugute kamen, mussten verbarrikadiert werden. Günstig erwiesen sich Straßenkreuzungen wegen guter Rückzugsmöglichkeiten, aber hier wurde oftmals, wie ein Zeitzeuge berichtet, der Fehler begangen, die Barrikaden mit den Eckhäusern plan abschließen zu lassen, statt sie noch einige Häuser in den Straßen zu verschieben.15 Einerseits wurden so Attacken aus den Häusern bzw. von den Dächern in den Rücken der angreifenden Militärs erschwert. Andererseits ließen sich die Barrikaden von den Angreifern über Eckhäuser bzw. über Höfe und Gartenmauern teilweise umgehen und von hinten umfassen. Beim Sieg über den Pariser Juni-Aufstand 1848 machte Militärdiktator Louis-Eugène Cavaignac aus diesen Umfassun11 12 13
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Die Märztage in Berlin, in: Illustrirte Zeitung Nr. 250, 15. April 1848, zitiert nach Geist, Kürvers: Das Berliner Mietshaus (wie Anm. 5), S. 355. [Anonym:] Berlin in der Bewegung (wie Anm. 3), S. 555. Vgl. zur Barrikade am Alexanderplatz: Heinz Warnecke: Barrikadenstandorte 1848, Berlin 1999, S. 67–69; Dorothea Minkels: Die historische Aussagekraft von Bildern am Beispiel der großen Barrikade am Alexanderplatz im Jahre 1848, in: Berlin in Geschichte und Gegenwart. Jahrbuch des Landesarchivs Berlin 20, 2001, S. 37–72. Diese Unterscheidung knüpft an Überlegungen Alain Pauquets an, vgl. Les représentations de la barricade dans l’iconographie de 1830 à 1848, in: La Barricade (wie Anm. 1), S. 97–112, hier S. 99. Vgl. Streckfuß: 500 Jahre Berliner Geschichte (wie Anm. 2), S. 981.
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gen und der permanenten gewaltsamen Durchbrechung der Häuserwände von innen eine regelrechte Strategie.16 Dennoch – bereits kleinste Hindernisse machten, taktisch gesehen, militärischen Sinn, z. B. auch gespannte Drähte wie in der Kommandantenstraße oder Glasscherben wie im Voigtland und in der Leipziger Straße. Sie beschränkten die Bewegungsgeschwindigkeit von Kavallerie und Artillerie zumindest zeitweise. Außerdem ermöglichten schon diese Anlagen, im Vormarsch stockende Truppen mit Steinen aus Fenstern und von Dächern zu belegen, selbst mit gelegentlichem Gewehrfeuer von Dächern, aus Häusern oder Toreinfahrten. Das mag den Bewegungsradius und die Marschgeschwindigkeit von Truppen behindert haben, es sagt aber noch nichts über den zweckrationalen militärischen Sinn oder Nichtsinn von Barrikaden als Ganzes aus. Was nützte den Verteidigern der bloße besinnungslose Rückzug von Barrikade zu Barrikade?
Ekstatische Gemeinschaftlichkeit Die Revolution von 1848 fand nicht im Saale statt. Sie ereignete sich auf der Straße. Gerade für Berlin ist mit Manfred Gailus davon auszugehen, dass „die kollektive Straßenbesetzung das eigentliche Bewegungs- und Machtzentrum“ des Revolutionsgeschehens ausmachte.17 Beispiele für diese Reklamation der Straße waren öffentliche Versammlungen unter freiem Himmel, Trauerumzüge, Festumzüge, Katzenmusiken, Massendemonstrationen und spontane Kleinproteste. Barrikadenkämpfe waren wesentliches Element dieser Straßenbesetzung. Wer waren ihre Erbauer? Widersetzliche Elemente, disziplinlose Tumultanten, revoltierende Unterschichten oder, wie obrigkeitliche Propaganda insinuierte, fremde Aufrührer?18 Folgt man bürgerlichen Zeitzeugen (und auf die Zweckfunktionalität dieser Berichte wird noch später einzugehen sein), dann gewinnt man den vorerst kaum überraschenden Befund, Vertreter aller Stände hätten vereint den Kampf begonnen und durchgestanden. Alle Stände waren beim Barrikadenbau beteiligt, alle bereit, sich zu ‚schlagen‘. Es scheint, als habe es einen urbanen Pakt gegeben, eine von allen Berlinern tatkräftig besiegelte Gemeinschaftlichkeit mit einem Hauptgegner: dem Militär. In der Tat: Beim Berliner Barrikadenbau konnte auf eine relativ große aktive und vor allem passive Unterstützung von Bewohnern und Bürgern gerechnet werden. Tatsächliche Barrikadenkämpfer gab es dann nur einen Bruchteil davon. Diese nicht selten sympathisierenden Einwohner gaben in der Regel freiwillig ihr Wohneigentum, Handelseigentum oder Lagermaterialien her, die dem Barrikadenbau oder der Bewaffnung dienten. Einem spontanen Handlungszwang folgend, 16 [Anonym:] Berlin in der Bewegung (wie Anm. 3), S. 555. 17 Manfred Gailus: Straße und Brot. Sozialer Protest in den deutschen Staaten unter besonderer Berücksichtigung Preußens. 1847–1849, Göttingen 1990, S. 366; vgl. insgesamt: ders.: Die Revolution von 1848 als „Politik der Straße“, in: Dieter Dowe u. a. (Hrsg.): Europa 1848. Revolution und Reform, Bonn 1998, S. 1021–1043. 18 Vgl. Katharina Rosenplenter: Eine Rotte von Bösewichtern. Ausländische Agitatoren als Anführer der Berliner Märzunruhen?, in: Wolfgang Ribbe (Hrsg.): Berlin-Forschungen III, Berlin 1988, S. 43–51.
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schien in der Erregung des außergewöhnlichen Augenblicks verschwenderische Hilfsbereitschaft überwogen zu haben, gelegentlich aber, wie beim Bau in der Breiten Straße, soll einer der engagierten Kämpfer schwankende und sich verflüchtigende Helfer mit flachen Säbelhieben diszipliniert haben.19 Aber zumeist gab es, in diesem kurzen Zeitraum eines Nachmittags und einer Nacht, stabile Barrikadenbesatzungen: einen kleinen Kern von harten Kämpfern und einen größeren von materiellen und logistischen Unterstützern, enthusiastisch in Kampfstimmung. Wie entstand dieser Enthusiasmus, wie verebbte er ebenso schnell? Was brachte Bürger dazu, ihr Wohneigentum zum Barrikadenbau zu stiften, um es am Tag darauf verschämt wieder einzusammeln? Welche Handlungslogik lag dem zugrunde? Hier sind direkt auf die Vormärz-Phase bezogene Erklärungsversuche heranzuziehen, welche herausarbeiten, dass die kulturelle Grammatik dieser Rebellionen eine „enge Verwandtschaft der revoltischen Geste mit dem Fest“ belege. Diesen rebellischen Ausbrüchen und den explosiven Momenten, in denen Auseinandersetzungen gewaltsam eskalierten, waren nicht zuletzt, wie in der Forschung bereits herausgearbeitet wurde, karnevaleske Züge mit einer „Mischung aus Fest und Revolte“ zu eigen.20 Berücksichtigt man jenen auffallenden Lust- und Festaspekt – distanziert spricht Heinrich Heine von plebejischen „Bacchanten der Freiheit“ –,21 so wird man diese spontanen Ausbrüche nicht anders als mit dem Begriff säkularisierter kollektiver Ekstase kennzeichnen können. Diese unkontrollierten und unvorhersehbaren Aktionen waren Formen ritueller ekstatischer Praxis. Ebenso zeitlos wie zeitgebunden stellten sie kein Mittel zu vorausberechnetem Zweck dar. Sie waren Formen von Auflehnung, Selbstvergessenheit und Verschwendung und bezogen sich nur auf sich, auf das Gemeinschaftserlebnis und den Augenblick selbst.22 Die Barrikade war das Zentrum dieser Eruption, um sie gruppierte sich diese revoltierende Ekstase. Sie war für eine Nacht der realutopische Topos einer Utopie, einer Utopie, für die Güter und Leiber mit unkontrollierter Verschwendung hingegeben wurden. Der Nacht der Ekstase folgten, das bleibt nachzutragen, dann ein Morgen und ein Vormittag der Ernüchterung. Am 19. März wurden, wie Varnhagen von Ense berichtet, mit beeindruckender Selbstverständlichkeit die „nun überflüssigen Barrikaden weggeräumt, indem jeder Eigenthümer seine dazu verwendeten Sachen wieder an sich nahm“.23
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Friedrich Steinmann: Geschichte der Revolution in Preußen (1849), zitiert nach: Warnecke: Barrikadenstandorte (wie Anm. 13), S. 58. Wolfgang Kaschuba: Protest und Gewalt – Körpersprache und Gruppenrituale von Arbeitern im Vormärz und 1848, in: Peter Assion (Hrsg.): Transformationen der Arbeiterkultur, Marburg 1986, S. 30–48, hier S. 44. Heinrich Heine: Französische Zustände (1832), in: ders.: Werke und Briefe. 3. Aufl. Hrsg. v. Hans Kaufmann, Berlin, Weimar 1980, Bd. 4, S. 502. Vgl. Olaf Briese: „Jleechgültigkeit und rochen im Thierjarten“. Tabak und Ekstase in den Rebellionen 1830 und 1848, in: Forum Vormärz Forschung 3, 1997, S. 27–42. Varnhagen von Ense: Journal einer Revolution (wie Anm. 4), S. 91.
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Der Kampf um Anerkennung Militärisch gesehen ereignete sich im März 1848 in Berlin geradezu eine Sensation: Die Kämpfer hatten einen überraschenden Sieg errungen. Dieser militärische Sieg war aber kein militärischer, konnte es bei den limitierten Potenzen von Barrikaden auch gar nicht sein. Die Berliner Hauptverkehrsadern waren im Verlauf der Nacht mehr oder weniger in der Hand des Militärs. Auch die anfangs von Aufständischen verteidigten Stadttore waren für weitere Truppenzuführungen überwiegend wieder freigekämpft. Die Truppen – und immer mehr strömten aus dem Umland auf die freigekämpften Stadttore in Richtung Berlin – hatten freie Bewegungsbahn. Eine bestürmte Barrikade nach der anderen fiel, musste zwangsläufig fallen (auch wenn immer wieder neue errichtet wurden). Bis in die Morgenstunden des 19. März hatte sich als einzige – wie der Zeitzeuge Streckfuß hervorhebt – die am Alexanderplatz noch gegen alle Anstürme halten können. Aber auch hier war die Lage prekär, eine Einkreisung zeichnete sich ab. Dennoch hatte der permanente zeitverzögernde Rückzug den Aufständischen erlaubt, allmählich durch den Sturm auf kleinere Arsenale mehr und mehr Feuerwaffen zu erbeuten. Im Gegenzug ermüdeten die weniger stark motivierten Truppen, die zum Teil schon seit einer Woche die bis dahin weitgehend gewaltfreien Unruhen in Berlin niederhalten mussten, und sie hatten u.a. Probleme mit Nachschub an Nahrungsmitteln. Der Kampf, der nur einen Sieger hätte haben können – den Pyrrhussieger Militär –, zog sich hin. Die Aufständischen auf der einen Seite gewannen im Lauf des Tages und der Nacht mehr und mehr Zeit. Führende Militärs auf der anderen Seite, auch eingedenk der drohenden Gefahr der Demotivierung der Truppen oder gar ihrer Fraternisierung mit den Aufständischen,24 trugen dem König vor, statt verlustreicher Barrikadenkämpfe lieber bestimmte Stadtviertel oder gleich die ganze Stadt in ihren Mauern einzuschließen und von außerhalb mit Kanonaden zu bestreichen.25 In dieser Pattsituation handelte der König, der unentschlossene ‚Romantiker auf dem Thron‘ (Strauß). Wie in vielem kaum auf eine Position festlegbar, verliebt in seine gottgegebene Rolle und erfüllt von Selbstmitleid, vernarrt in seine lieben Berliner und tief erschüttert von ihnen, posierend in der Rolle des gütigen Landesvaters einerseits, des gestrengen andererseits, fasste er am Morgen des 19. März nach längeren Unterhandlungen den plötzlichen Entschluss, die Truppen aus der Stadt abziehen zu lassen. Er beendete die vorläufige Pattsituation und verhinderte das abzusehende Blutbad. Nach längerem Hin und Her, ob erst mit dem schrittweisen Abbau der Barrikaden begonnen werden müsste, um im Gegenzug und ebenso schrittweise die Truppen abzuziehen, oder ob umgekehrt erst das Militär abziehen müsste, um mit dem Abbruch von Barrikaden zu beginnen, kam es zu einer überraschend schnellen Lösung. Auf die sichtlichen Bemühungen von Aufständischen, Barrika24
Vgl. Wolff: Berliner Revolutions-Chronik (wie Anm. 2), S. 180, 218; Varnhagen von Ense: Journal einer Revolution (wie Anm. 4), S. 95, 99, 115; [Anonym:] Berlin in der Bewegung (wie Anm. 3), S. 560. Kritisch zu diesen Berichten bzw. Vermutungen: Hachtmann: Berlin 1848 (wie Anm. 6), S. 167. 25 Vgl. Prittwitz: Berlin 1848 (wie Anm. 2), S. 231.
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den in der Königstadt, d. h. in der Nähe der stark umkämpften und bisher nicht einnehmbaren Barrikade am Alexanderplatz abzubauen, gab er gegen Widerstand der Militärs die Anweisung, die Stadt völlig von den Einheiten zu räumen. War das überhaupt nötig? Hätte das aufgestachelte Militär die Revolte nicht niederhalten können? Als These sei vorausgeschickt: Barrikaden bewährten sich keineswegs militärisch und konnten sich auf diesem Gebiet nicht bewähren. Militärisch gesehen waren Barrikadenbauten und Barrikadenaktionen in der Regel sinnlos. Sie sind (fast immer oder hauptsächlich oder in der Regel) auf Niederlage programmiert. So auch in Berlin: Bis auf die gewaltige Barrikade am Alexanderplatz waren alle Sperren, die angegriffen wurden, am 18. März und in der Nacht zum 19. März stets auch erobert worden (was natürlich nicht daran hinderte, dass im Rückraum stets neue Barrikaden wuchsen). Waren Barrikaden in dieser Hinsicht ‚militärisch‘ sinnlos, waren sie es ‚symbolisch‘ jedoch nicht. Sie waren Vehikel einer Selbstbehauptung und erkämpften ganz andere entscheidende Siege als militärische. Pointiert gesagt: Der Kampf um Barrikaden war hauptsächlich jeweils ein Kampf um den unausbleiblichen Rückzug der Verteidiger und um einen Aufschub ihrer Niederlage. Barrikaden waren Schutz bei dem Rückzug aus einer Schlacht, die lediglich, wenn es zu dieser Schlacht kam, gerade nur um dieses Rückzugs willen geschlagen werden konnte. Barrikadenkämpfe waren auf Defensive, auf Rückzug, auf Niederlage programmiert. Dass sie überhaupt zustande kamen und von den Angreifern aufgenommen wurden, hat auch mit der real-symbolischen Besetzung von Räumen zu tun. Die Barrikade als autonom markiertes Territorium machte Sinn vor dem Kampf. Denn dieses autonome Territorium bzw. das von ihr begrenzte Gebiet war aus der Sicht etablierter Macht inakzeptabel. Erst das Vorgehen dagegen evozierte den gewaltsamen Kampf, der, aus der Perspektive der Aufständischen, niemals zu Terraingewinn führen konnte, sondern nur zu Rückzug und Verlust. Die Barrikade provozierte einen stets ungleichen und von vornherein entschiedenen Kampf. Aber sie bewirkte etwas ganz anderes. Sie sprengte materialiter die verordnete Ruhe eines sozialen Burgfriedens und zwang politische, militärische und soziale Institutionen, auf eine Gruppe, Schicht oder Klasse zu reagieren, der es verwehrt war, sich als solche anders zu artikulieren: Kampf um Anerkennung. Barrikadenkämpfer setzten sich gewollt physischer Gewalt aus. Zugespitzt: Sie generierten die urplötzliche machtvolle physische Gewalt, der sie sich ausgesetzt sahen. Sie erzwangen den skandalösen Umschlag von politischer Repression in militärisch-physische, der die Rhetorik der Herrschaft als vorgeblich legitime entblößte und Subjekte des Widerstands leibhaftig vorführte. Ihr Ringen um Anerkennung als politisches Subjekt spitzte sich, in einer Phase fortgeschrittener Anerkennungsverweigerung, demonstrativ zu im Kampf um Anerkennung als physisches Subjekt. Im Errichten der Barrikade und im Sturm darauf war dieser Kampf niemals vergeblich, war vorab sogar schon gewonnen. Barrikaden verfechten, und zwar erfolgreich, völlig andere Ziele als lediglich militär-strategische. Sie sind Institute von physischer Anerkennungsakkumulation. Sie inszenieren augenfällig sozio-physische Subjekte, deren Qualität als politischer bis dato genuin verleugnet wurde. Die Barrikade war Ort einer öffentlichen Ausstellung, einer Zurschaustellung, war Ort eines sozialen Exhibi-
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tionismus. Sie zeigte ein Subjekt, dem politische Anerkennung bisher verweigert wurde. Diese Inszenierung, die, jenseits des Ausgangs von Barrikadenkämpfen, allemal erfolgreich ist und bleibt, diktiert auch die Regeln des Kampfs. Auf der Barrikade wird gekämpft. Im Prozess militärischen Kalküls verlagert sich dann der Kampf allmählich hinter sie, bis er sich fast gänzlich auf die effiziente Verteidigung der Barrikade von Fenstern und Dächern verlegt. Auf der Barrikade wird gekämpft, vorerst im Eifer des Gefechts und, zur Performance stilisiert, post festum in Text- und Bildpublizistik. Die Barrikade gerinnt vollends zur Bühne, zur Bühne des Auftritts von Akteuren, deren Existenz sich physisch unter Beweis zu stellen hatte. Dieser Auftritt folgt einer konsequenten Dramaturgie, stellt – jenseits allen militärischen Kalküls – leibhaftige Akteure aus, ihren Kampf, ihr Sterben und ihren Tod. Der Opferwille, der davon lebt, dass andere Akteure in die durch den Tod gerissene Lücke springen, folgt der Logik theatraler Entblößung. Er bezieht, objektiviert im Medium der Barrikade, seinen Mehrwert aus erzwungenem und gewolltem Exhibitionismus. Theatralisches Heldentum war wesentliches Element dieses Kampfs. Es folgte einer ganz bestimmten, ritualisierten Choreographie. Auf den Barrikaden, nicht hinter den Barrikaden wurde dem eigenen Selbstverständnis nach gekämpft. Es ist als bloße historische Episode anzusehen, dass sich Kämpfer der ersten große Barrikade am Alexanderplatz (die nach kurzem Anrennen fiel) mit Materialien des nahe gelegenen Königstädter Theaters versahen, dass sie sich mit Flinten, Piken, Speeren und Degen aus dem Theaterfundus versorgten, darüber hinaus die Barrikade selbst mit Landschaftskulissen verstärkten.26 Dennoch ist diese Konstellation die anschauliche Verdichtung dessen, was sich in diesen Barrikadenkämpfen und mehr noch in der nachfolgenden Bildpublizistik ereignete: Es wurden variierte theatrale Performances eines beständig gleichen Stücks namens ‚Barrikadenkampf‘ gegeben. Akteure des Stücks: Arbeiter, Handwerker und auch Bürger. Sein denkbar einfacher, bezwingender Inhalt: Wir sind immer noch hier, wir sind. Diese Zurschaustellung beschränkte sich nicht nur auf den Raum hinter bzw. auf der Barrikade. Denn mitunter wurde nicht nur auf Barrikaden gekämpft, sondern, unter gezieltem Einsatz, unter gezielter Verschwendung des eigenen Lebens, vor ihnen. Nicht nur Eigentum wurde bei Barrikadenkämpfen aufs Spiel gesetzt, sondern auch das eigene Lebenskapital. Dinge wurden zu Barrikaden, auf ihren Trümmern sollte eine neue Gesellschaft erwachsen. Gegebenenfalls wurde auch das Leben als solches zum Einsatz gegeben. Der Zukunft zugewandt, wurde das alte Leben der Dinge und das herkömmliche Leben der Körper real wie symbolisch zerstört. Das wohl wirkmächtigste Beispiel eines solchen selbstzerstörerischen Heroismus waren, zumindest in der Überlieferung, nicht Taten von Bürgern, sondern die eines Schlossergesellen und eines Schlosserlehrlings: Heinrich – nicht Wilhelm – Glasewaldts und Ernst Zinnas. Letzterer wurde in dem Kampf, den er geradezu heroisch vor der Barrikade suchte, getötet, er starb am Mittag des 19. März. Ohne hier auf 26 Vgl. Theodor Fontane: Von Zwanzig bis Dreißig (1898), in: ders.: Autobiographische Schriften. Hrsg. v. Gotthard Erler u. a. Bd. 2, Berlin 1982, S. 350/351, vgl. auch Meyerinck: Die Straßenkämpfe (wie Anm. 10), S. 25.
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die Aspekte von Quellenüberlieferung und Quellenkritik eingehen zu können, die für den realen Fall unerlässlich wären, soll hier das angeführt werden, was sich der kulturellen Erinnerung einschrieb: Held Zinna stand jetzt nur noch allein auf seiner Barrikade, und er hielt es für das Gerathenste, einen Ausfall aus derselben zu unternehmen. So stürzt er hervor, schwingt aus Leibeskräften seinen alten Säbel und führt damit einen mächtigen Hieb auf den an der Spitze seines Bataillons heranmarschirenden Offizier, der davon erschrocken zurücktaumelt. In demselben Augenblick aber werden sechs bis acht Gewehre auf ihn losgedrückt, doch entgeht ihnen der beherzte Knabe durch eine geschickte Wendung, mit der er sich zur Erde bückt. Hier rafft er drei große Pflastersteine auf, und schleudert einen nach dem andern, gerade vor die Front der Soldaten hintretend, auf dieselben ab.27 Die den Kämpfen zeitlich nachfolgende Druckgraphik schreinte diese theatrale Perspektive dem kulturellen Gedächtnis ein. Als fast durchgängiges, stereotyp immer wiederkehrendes Element dieser Druckgraphiken tauchen der Barrikadenkämpfer bzw. die Barrikadenkämpfer auf, die sich theatralisch-demonstrativ dem Feind ohne Deckung entgegenstemmen (Sichtperspektive von hinten, also aus Sicht revolutionärer Barrikadenkämpfer selbst, oder schräg von vorn, also aus Sicht direkt eher Unbeteiligter). Die Barrikade, als architektonisches Raumelement, transformierte sich in dieser Perspektive nicht zum Ort militärischen Schutzes für die Verteidiger, auch nicht zum Hindernis für die Angreifer, sondern wurde zu einer Bühne vor anwesendem Publikum. Sie wurde, wie auch Darstellungen bzw. stilisierende Darstellungen der bereits schon erwähnten Barrikade vom Alexanderplatz belegen, zu einer den Häuserfronten vorgeschobenen Rampe: in der Ist-Szenerie eine Bühne vor dem lauernden und wiederholt anstürmenden Militär, in der Nach-Szenerie eine Bühne für das Rezeptionspublikum dieser Graphiken.28 Als Vermutung für weitere, vertiefende Analyse kann gelten, dass die bürgerliche Perspektive, selbst in Gruppenarrangements, den theatralen Einzelkämpfer, d. h. das bürgerliche Individuum, stilisierte. Spätestens nach den Pariser Juni-Kämpfen von 1848, als Teile des Proletariats sich erhoben, wurde aber auch die eng verbundene Gemeinschaft, das geradezu verschmolzene Kollektiv zum Gegenstand, das gelegentlich selbst wie eine Barrikade wirkte und in den Rang einer unüberwindlichen Menschenmauer erhoben wurde – bloße ungeschützte Leiber, die sich, machtvoll amalgamiert, gegen die armierten Statthalter der Macht stemmten. Teilweise agierten sie sogar vor den Barrikaden, wenn sie, wie es Graphi-
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[Anonym:] Berlin in der Bewegung (wie Anm. 3), S. 558. Wolff scheint sich auf diesen Bericht zu stützen, vgl. Wolff: Berliner Revolutions-Chronik (wie Anm. 2), S. 179. Zum biographischen Hintergrund Glasewalds und Zinnas vgl. Kurt Wernicke: Von der „Sturmpetition“ zur Siegeseuphorie. Kalkül, Blut und Tod in der Berliner Märzrevolution, in: ders.: Vormärz, März, Nachmärz. Studien zur Berliner Politik- und Sozialgeschichte 1843–1853, Berlin 1999, S. 126–139, hier S. 130/131. 28 Vgl. Minkels: Die historische Aussagekraft von Bildern (wie Anm. 13).
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ken Honoré Daumiers aus dem Jahr 1850 imaginierten, als verschmolzene, vor- und zurückflutende Masse zum Gegenangriff überging.29
Die hässliche Differenz Die Barrikade sollte imaginativ die Bürger zusammenbinden und sollte sie imaginativ mit den Unterschichten zusammenbinden. Am Ende der Revolution fiel jedoch dieser imaginierte soziale Schulterschluss, und er fiel in neuen Barrikadenkämpfen. In den Zusammenstößen vom 16. Oktober 1848 fochten Arme und Reiche, Nichtbesitzende und Besitzende, Unterprivilegierte und Bürger ihre Interessen gewaltsam gegeneinander aus: „Das schöne Einverständniß war verschwunden, welches zwischen dem Bürger und dem sogenannten Volke bestanden“.30 Dieses neue politische Kampffeld war spätestens durch den Lyoner Seidenweberaufstand von November 1831 – mehr als eine bloße Rebellion – eröffnet worden. Zwei soziale Gruppen waren gewaltsam aufeinandergeprallt. Der Tarifkampf von Arbeitern bzw. arbeitenden Kleineigentümern gegen das neue ‚Bürgerkönigtum‘ ging in einen mehrtägigen bewaffneten Aufstand mit Barrikadenbau über.31 Diese soziale Massenerhebung war nur erstes Vorspiel von Auseinandersetzungen, die die Zukunft entscheidend prägen würden. Diese düstere Zukunft vor sich, warnte das Flaggschiff des deutschen Liberalismus, das einflußreiche, von süddeutschen Liberalen edierte Staats-Lexikon 1834: „Der theils unwissende, theils zur Verzweiflung gebrachte, theils in seinen schlechtesten Leidenschaften aufgeregte Pöbel ist zu sinnlosen Gewaltthaten aufgelegt; die Sicherheit des Eigenthums ist bedroht“.32 Genau das, Gewalttaten, die das Eigentum bedrohten, war das Szenarium der Pariser Juli-Kämpfe 1848 gewesen. Mehr oder weniger vereint waren auf den Barrikaden die Februar-Errungenschaften erkämpft worden, die letzten Reste des Ancien Régime wurden gemeinsam gestürzt. Aber ein Arbeiteraufstand sprengte wenige Monate später diese Zweckgemeinschaft von Besitzenden und Besitzlosen. Die Schließung der Nationalwerkstätten, die, als kurzfristig geschaffener sozialer Puffer, rund einhunderttausend brotlose Arbeiter auf Staatskosten beschäftigten, führte vom 22. bis 26. Juni zu Barrikadenkämpfen, zu kurzfristigem brutalen Bürgerkrieg mit rund 400 Barrikaden. Armee und Nationalgarde unter dem eilig von der Nationalversammlung ausgerufenen Militärdiktator Cavaignac gegen ca. 50.000 Aufständische: Die Rebellion wurde gewaltsam niedergeschlagen, es gab rund 3.000 Tote, Cavaignac wurde zwei Tage darauf Ministerpräsident.33 29 Vgl. T. J. Clarke: The Absolute Bourgeois. Artists and Politics in France 1848–1851, London 1973, Bild 86. 30 Robert Springer: Berlin’s Strassen, Kneipen und Clubs im Jahre 1848, Berlin 1850, S. 211. 31 Vgl. Helmut Bock: Die Illusion der Freiheit. Deutsche Klassenkämpfe zur Zeit der französischen Julirevolution 1830 bis 1831, Berlin 1980, S. 203–205. 32 R. M[ohl]: Art. „Ansteckende Krankheiten“, in: Carl von Rotteck, Carl Welcker (Hrsg.): StaatsLexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften, Bd. 1, Altona 1834, S. 603–615, hier S. 610. 33 Vgl. Jill Harsin: Barricades. The War of the Streets in Revolutionary Paris, 1830–1848, New York, Houndmills 2002, S. 294–296; Louis Hincker: Citoyens-combattants à Paris, 1848–1851, Villeneuve-
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In Berlin bestanden solche scharfen sozialen Konflikte nicht. Stephan Born, einer der nach Berlin gekommenen Akteure der kommunistischen Arbeiterbewegung, warnte immer wieder davor, in der preußischen Metropole entwickelte Klassengegensätze sehen zu wollen und sie gewaltsam und unüberlegt zu forcieren.34 Natürlich gab es soziale Konflikte, und sie verschärften sich im Verlauf der Monate nach der März-Revolution. Die Folge waren geordnete, pragmatische, zielorientierte Arbeitskämpfe proto-gewerkschaftlichen Zuschnitts einschließlich Streiks; eine gewaltsame Zuspitzung zeichnete sich zu keiner Zeit ab. Gewalt hingegen erwuchs aus dem Konflikt zwischen Schichten des Subproletariats mit städtischen Behörden. Ohne auf die erforderliche, differenzierende Analyse eingehen zu können, was alles zu ‚Subproletariat‘ bzw. zu ‚Unterschichten‘ gehörte: Arbeiter, Handwerker und Stadtarme, die aufgrund der sich schon vor der Revolution zugespitzten sozialen Lage nach den März-Ereignissen auf Kosten der Kommune als Erdarbeiter zu gemeinnützigen Arbeiten eingesetzt wurden, erwiesen sich immer mehr als Last. Sie sabotierten teilweise erfolgreich Arbeitsauflagen und die Versuche, Akkordlöhne einzuführen. Dann der Oktober 1848: Diese in städtischen Diensten Stehenden initiierten einen Maschinensturm. Dieser ging in Barrikadenkämpfe und blutige Auseinandersetzungen mit mehreren Toten über. Aufständische richteten sich nicht mehr nur gegen die überlebten Einrichtungen des Ancien Régime, sondern nunmehr gegen die Lasten der einsetzenden Modernisierung. Was war geschehen? Am 12. Oktober war es auf dem so genannten Köpenicker Feld, einer süd-östlich vor der Stadt innerhalb der Mauern gelegenen Brache, zu einem Exzess gekommen. Städtische Erdarbeiter, die hauptsächlich aus Kreisen erwerbsloser Textilarbeiter und Handwerker stammten und u. a. für Kanal- und Straßenbauarbeiten eingesetzt waren, hatten eine Dampfmaschine zerstört. Diese war unmittelbar zuvor installiert worden, um Grundwasser abzupumpen. Diese Zerstörung hatte, ökonomisch und politisch bedingt, die Entlassung von einhundert Arbeitern am 16. Oktober zur Folge. Nunmehr entlud sich aber der Widerstand. Ein Demonstrationszug mit roter Fahne zog Richtung Stadt. Es kam zu Auseinandersetzungen mit polizeilichen Schutzmannschaften und einer Abteilung der Bürgerwehr. Schließlich eröffnete die Bürgerwehr das Feuer. Ergebnis: mehrere Tote und viele Verwundete, Generalmarsch für Bürgerwehr auf der einen Seite, Volksaufläufe und Barrikadenbau auf der anderen. Waffenläden wurden geplündert, weitere Barrikaden errichtet. Ein Zug begab sich quer durch die Stadt zu einer der Borsig-Fabriken am Oranienburger Tor, um die Maschinenbauarbeiter miteinzubeziehen (die sich allerdings verweigerten). Die Barrikadenkämpfe blieben auf den Südosten der Stadt, die Gegend der heutigen Fischerinsel, beschränkt. Nach Einbruch der Dunkelheit flammten „in dem verbarricadirten Stadttheile Fackeln auf, die Fenster wurden zum Theil erleuchtet; die Nachtscene erhöhete die leiden-
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d’Ascq 2008. Zur verzögerten, zurückhaltenden oder gar ablehnenden Reaktion auf diese Vorgänge in Deutschland: Ulrike Ruttmann: Wunschbild – Schreckbild – Trugbild. Rezeption und Instrumentalisierung Frankreichs in der deutschen Revolution von 1848/49, Stuttgart 2001, S. 249–51. Vgl. Hachtmann: Berlin 1848 (wie Anm. 6), S. 422–424; ders.: Die sozialen Unterschichten in der großstädtischen Revolution von 1848. Berlin, Wien und Paris im Vergleich, in: Ilja Mieck u. a. (Hrsg.): Paris und Berlin in der Revolution 1848, Sigmaringen 1995, S. 107–136.
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schaftliche Aufregung“.35 Erst kurz vor Mitternacht wurden die Aufständischen zerstreut. Vier- bis fünftausend der etwa siebentausend auf städtische Kosten beschäftigten Arbeiter sollen sich an den Kämpfen beteiligt haben, auf ihrer Seite gab es insgesamt zwölf Tote, auf Seiten der Bürgerwehr, die mit ca. fünfzehn- bis zwanzigtausend Mann beteiligt war, einen. Die Stadt war symbolisch zerteilt worden, und die Barrikade hatte die sich verstärkende Grenze zwischen Ständen, Schichten und Klassen materiell verdeutlicht und forciert. War das, im Ganzen gesehen, eine – auf ihre Art vormoderne – antikapitalistische Maschinenstürmerei? Oder war das ein Aufbegehren eines Pöbels, der sich gegen den in seiner Sicht naturgemäßen Arbeitgeber kehrte, also gegen die städtischen Behörden? Auf welche Weise formierten sich die sozialen Fronten neu, noch dadurch verkompliziert, dass zu Hilfe gerufene Arbeiterformationen erklärten, sie würden sich zur Aufgabe machen, den Kämpfen zwischen Bürgerwehr und Polizei auf der einen Seite und aufständischem Pöbel auf der anderen Seite als besonnene Vermittler abhelfen?36 So wenig hier traditionelle Kategorien von Klassenkampf greifen, ist zumindest eines sicher: Mythisieren ließ sich dieser ‚hässliche‘ Zusammenstoß nicht. Bilddokumente gibt es von diesem Kampf bezeichnenderweise kaum, vom Barrikadenkampf gar nicht. Seitens des unterlegenen Subproletariats gab es weder finanzkräftige Hersteller noch Käufer für solche Memorialgraphiken; Proletarier in Festanstellung distanzierten sich – wie schon in den Monaten zuvor – von diesem Subproletariat; die bürgerliche Mittelschicht konnte dieses unrühmlichen Siegs nicht froh werden, ging beschämt zur Tagesordnung über und hatte kein Interesse an der piktoralen Verewigung dieses Zusammenstoßes. Der Kampf um Anerkennung verpuffte, die Wogen der Geschichte gingen über diese Episode hinweg. Selbst die spätere marxistische Traditionssuche, die diesen Zwischenfall vereinzelt aufgriff und in ihr theoretisches Klassenkampfkorsett pressen wollte,37 konnte hier im Grunde kein gründungsmythisches Potential entdecken und gab die Vereinnahmung dieser Ereignisse auf.
Der Pakt der Imagination Seit den Pariser Ereignissen von 1830 galten Barrikaden als Revolutionssymbol schlechthin.38 Sie waren, obwohl nicht wenige Zeitzeugen hervorhoben, wie wenig kunstvoll sie errichtet worden wären, Kunstwerke ganz eigener Art. In mehrfachem Sinn lässt sich von 35 Bericht des Polizeipräsidenten vom 17. Oktober 1848, zitiert nach Hachtmann: Berlin 1848 (wie Anm. 6), S. 718/719. 36 Über die Darstellung von Hachtmann hinaus vgl. als Sekundär- und Primärliteratur auch Springer: Berlin’s Strassen (wie Anm. 30), S. 209–214; Streckfuß: 500 Jahre Berliner Geschichte (wie Anm. 2), S. 1143–1148; Gailus: Straße und Brot (wie Anm. 17), S. 376–389. 37 Vgl. Kurt Wernicke: Geschichte der revolutionären Berliner Arbeiterbewegung 1830–1849, Berlin 1978, S. 189–194. 38 Vgl. Reichardt: Barrikade (wie Anm. 1), Sp. 1014; ders.: Barrikadenszenen der 48er Revolution. Plurimediale und internationale Wahrnehmung, in: Joachim Eibach, Horst Carl (Hrsg.): Europäische Wahrnehmungen 1650–1850. Interkulturelle Kommunikation und Medienereignisse, Hannover 2008, S. 339–387.
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einer Kunst der Barrikade und der Kunst ihrer Mythisierung sprechen. Erstens: Barrikaden, als Moment-Architektur, waren ein der Kunst der Architektur zugehörendes Artefakt, als solches hat sie etwa der bekannte Berliner Architekturmaler Eduard Gaertner bildkünstlerisch konzipiert (Barrikade in der Breiten Straße, 1848). Zweitens wurden Barrikaden zum Kunstwerk einer bildkünstlerischen Überlieferung, sie wurden künstlerisch in Bild und Druck inszeniert, in Medien, die genuin bürgerlicher Verfügung und Interpretationshoheit unterstanden. Drittens lässt sich von einer Kunst der inhaltlichen Inszenierung sprechen, einer Inszenierung sozialer Homogenität im Sinn eines bürgerlichen Gründungsmythos. Dieser Mythos war eine ‚selffulfilling prophecy‘. Er leistete, was er fingierte: Einerseits konturierte er ein Bürgertum, dass es als solches noch nicht gegeben hatte und im Widerstreit seiner divergierenden Schichten jeweils nur fragil gab, andererseits adelte er vornehmlich dieses bürgerliche Subjekt als Subjekt eines Barrikadenkampfs, denn, wie in der Forschung herausgestellt wurde, traten via Bild Bürger und Bürgerliche – das ist jüngst durch eine Detailanalyse der Bildpublizistik herausgearbeitet worden – nachträglich wieder programmatisch ins Barrikadengeschehen ein.39 Der Realmythos Barrikade blieb aber kein rein bürgerliches Propagandaprodukt. Er wurde von Kontrahenten beiderseits der Barrikaden kreiert. Zweifellos hat es Barrikaden und Barrikadenkämpfe gegeben. Das steht außer Frage. Aber ihr über den singulären Moment hinausreichendes Gewicht gewannen sie in einem unausgesprochenen Pakt der Imagination, der einerseits den anfänglichen, andererseits den späteren Siegern die Gelegenheit offerierte, Barrikadenkämpfe zur entscheidenden historischen Schlüsselsituation zu stilisieren. Die einen, die Aufständischen, hatten die heroischen Barrikadenkämpfe gewonnen und die darauffolgenden Kämpfe allmählich verloren. Die anderen, die Verfechter der Adelsherrschaft, hatten die traumatischen Barrikadenkämpfe verloren und die anschließenden allmählich gewonnen. Auf beiden Seiten blieben Barrikaden gleichsam monolithisch den konkurrierenden kollektiven Gedächtnissen eingeschreint. Barrikaden waren zu einem imaginativen Apriori geworden. Erstens standen sie im Fokus eines Begehrens nach Eindeutigkeit, einer Eindeutigkeit, die die dissoziierenden Sozialverhältnisse nicht zu gewähren vermochten, sie bündelten die ebenso abstrakten wie komplizierten Sozialverhältnisse der Moderne, hielten die auseinanderdriftenden Sozialprozesse als Nukleus zusammen. Zweitens schufen sie, mit der substanzhaften Scheidung von Räumen, konkrete räumliche Identität. Drittens schufen sie konkrete Freund-Feind-Verhältnisse, produzierten in der Provokation des bewaffneten Kampfs konkret sichtbare Gegner. Viertens reduzierten sie diese Gegnerschaft auf den vormodernen physischen Kampf – bis hin zu einer leibhaften Kollektivsymbiose in Kampf und Tod. Zusammengefasst: Wo immer Barrikaden real oder medial entstehen, sind sie Generatoren, Akkumulatoren und Transformatoren abstrakter Verhältnisse in konkrete, sie sind mythenfähige Aggregate zur Bündelung von Sozialenergien und zur Produktion sozialer Identität. Die Barrikade ist eine faszinierende Projektionsfläche. In praxi war und ist sie eine grandios funktionierende Wunschmaschine. 39 Vgl. Minkels: Die historische Aussagekraft von Bildern (wie Anm. 13), S. 66/67.
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Barrikade, Gartenwand und Hafen 1848 in Friedrich Spielhagens Gründerzeitroman Sturmflut
Man erinnert sich noch an die Beschreibungen der „verbissenen Demokraten“ aus den achtundvierziger Jahren, mit ihren energischen Bärten, ihren Höker-Hüten, ihren frechen Wämsen, gelegentlich ihren Loken eines „tewtschen Jünglings“ u. drgl., daran hat sich im Grossen und Ganzen nicht viel geändert. Nur sind jezt von zwei Seiten Angliederungen erfolgt, deren jede wieder ihre besondere Fisionomie hat: auf der einen Seite proletarische Gesellen mit dem trozigen Blik des Schmieds, der listigen Visasche des Schreiners, dem superintelligenten Gesicht des Schneiders etc., Leute, die verhältnismässig verdamt viel gelesen und den ganzen Materjalismus der sechziger Jahre inne haben. Dann, von der andern Seite, jene verzweifelten Doktoren, Professoren, Schurnalisten, Redaktöre und Privatgelehrte, die meinen, sie haben ein kompletes, neues, filosofisches Sistem, oder eine wirtschaftliche WeltOrdnung, in ihrem Tintenfaß –. Oskar Panizza: Psichopatia criminalis, 1898 Nach tausend Seiten endlosem Hin und Her zwischen Ständen und Stimmungen, zwischen Frauen, Freunden und Rivalen, kulminiert Friedrich Spielhagens voluminöser Durchbruchs- und Erfolgsroman Problematische Naturen, 1860 vorabgedruckt, 1861 der erste, 1862 der zweite Teil als Buch erschienen, in gut 50 Seiten Showdown an den Berliner Barrikaden. Der „Krater der Revolution, die seit ein paar Stunden zum Ausbruch gekommen war“,1 zieht die Protagonisten magnetisch (oder: magmatisch) an, „der Baronensohn, der sich zu den Proletariern hält, der Proletariersohn, der unter den Fürsten sitzt“,2 sie finden im ausgebrochenen Kampf an den Barrikaden ihre Bestimmung, Letzterer – neben zwei der
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Friedrich Spielhagen: Problematische Naturen (1861/62). Mit einem Nachwort von Therese Erler, Berlin 1965, S. 1022. Ebd., S. 1033.
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Protagonisten auf der richtigen Seite – auf der falschen den Tod, ersterer aber darf das letzte Wort behalten. „Und nun begannen von allen Türmen in feierlichen Klängen die Glocken zu läuten – dieselben Glocken, die in der Barrikadennacht den Schlachtruf heulten.“ Einhundertsiebenundachtzig Opfer des Barrikadensturms werden beerdigt. Was tut der Name? Was tut es, was sie im Leben waren […]? Der Tod für die Freiheit krönt alles Streben, sühnt alle Schuld. Das fühlen, das sagen die Hunderttausende, die, rechts und links in gedrängten Reihen am Wege stehend, den Zug an sich vorüberziehen lassen […].3 So endet Friedrich Spielhagen den Roman, in dem er das letzte Wort – wohl, um den Erzähler vor dessen möglichen Konsequenzen zu bewahren – einem scheinbar unbekannten Schwarzbart „aus dem Volke“ in den Mund legt: Wir sollen schaffen und wirken in dem heißen Staub der Alltäglichkeit, rastlos, ruhelos, denn nimmer schläft die Tyrannei. Wir sollen arbeiten und schaffen, daß die Nacht nicht wieder hereinbreche, […] die Nacht, die so arm war an gesunden Menschen und so reich an problematischen Naturen – die lange schmachvolle Nacht, aus der nur der Donnersturm der Revolution durch blutige Morgenröte hinüberführt zur Freiheit und zum Licht.4 Der so spricht, war übrig geblieben, nachdem neben den Co-Protagonisten auch die umworbene Melitta ihren letzten Seufzer getan hatte. Der angebliche Mann aus dem Volke ist Baron Oldenburg, der weltgewandte Skeptiker, der justament seine „Lehrzeit im Barrikadenbau auf den Straßen von Paris durchgemacht“ und nun auch hier „der Mode des Tages“, eben dem Barrikadenbau, gehuldigt hatte, alsbald zum Anführer wurde, der „auf allen Punkten zugleich zu sein“ schien, mit „unerschütterliche[r] Kaltblütigkeit und geniale[r] Schnelligkeit des Blicks“.5 Er war es auch gewesen, der im ersten Band den Roman-Titel von Goethes Maximen und Reflexionen her erklären durfte: Es ist ein Goethe’scher Ausdruck und kommt in einer Stelle vor, die mir viel zu denken gegeben hat. Es gibt problematische Naturen, sagt Goethe, die keiner Lage gewachsen sind, in der sie sich befinden, und denen keine genug tut. Daraus, fügt er hinzu, entsteht der ungeheure Widerstreit, in dem sich das Leben ohne Genuß verzehrt. – Es ist ein grausiges Wort, denn es spricht in olympischer Ruhe das Todesurteil über eine, be-
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Ebd., S. 1050. Ebd., S. 1051. Ebd., S. 1023/1024.
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sonders, in unseren Tagen, weit verbreitete Gattung guter Menschen und schlechter Musikanten.6 Mit dem letzten Satz freilich gibt Spielhagen dem eine weitere Wendung, in der es nicht mehr nur um die Zerrissenen von Bürgertum und Adel, sondern – spätestens mit E. T. A. Hoffmann – zugleich auch um die Spannung von allenfalls bravem Bürger und berufenem Künstler geht.7 In der Kombination mit Goethes Reflexionen wiederum schwang für seine Figuren mit, was Fontane im Stechlin dann generalisierte, indem er den alten Stechlin Pastor Lorenzen, der ihm wider besseres Wissen seine Wahl mit dem Hinweis versichert hatte, dass das alles gute Leute seien, antworten lässt: „Aber schlechte Musikanten. Alle Menschen sind Wetterfahnen, ein bißchen mehr, ein bißchen weniger. Und wir selber machen’s auch so. Schwapp, sind wir auf der andern Seite“.8 Nun, Spielhagen hat von seinem Thema 1848, vom Weg durch die Konfrontation von Adel und Bürgertum hin ‚zur Freiheit und zum Licht‘ auch später nicht gelassen. Freilich hat er die Lösung nicht wie sein Protagonist Oldenburg als Revolution, sondern den Aufruhr durchaus als Schrecken im Sinn, als Reformation oder Revision verstanden und in ausladender Argumentation auf sich genommen. Eben dies beides, sein Thema wie dessen Durchführungen, haben ihn einer späteren, jüngeren Generation zum zwar guten Menschen, aber schlechten Musikanten werden lassen. Problematische Naturen waren immerhin 12 Jahre nach dem Ereignis erschienen, an dem Spielhagen selbst nicht teilgenommen hatte, weil er zwei Tage zuvor aus Berlin abge-
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Ebd., S. 312/313. Bei Goethe heißt es: „Es gibt problematische Naturen, die keiner Lage gewachsen sind, in der sie sich befinden, und denen keine genugtut. Daraus entsteht der ungeheure Widerstreit, der das Leben ohne Genuß verzehrt.“ Begonnen hat dieser Topos, wenn man nicht Eichendorffs Hinweis in der Geschichte der poetischen Literatur in Deutschland auf Shakespeare – „um mit Shakespeare zu reden“ nachgeht, mit Brentanos Ponce de Leon (1804), wo es hieß: „Diese schlechten Musikanten und guten Leute.“ E.T.A. Hoffmann hat es in Lebensansichten des Kater Murr aufgegriffen und lässt, unter Bezug auf Brentano, Kreisler sagen: Daraufhin „teilte ich, wie der Weltenrichter, flugs alles Menschenvolk in zwei verschiedene Haufen, einer davon bestand aber aus den guten Leuten, die schlechte oder vielmehr gar keine Musikanten sind, der andere aber aus den eigentlichen Musikanten.“ Ähnlich auch in Leiden eines Theaterdirektors: „Er war ein herzlieber verständiger Mann und dabei ein ungemein erbärmlicher Dichter, welches sehr wohl miteinander verträglich.“ Heine bezieht es dann in Ideen. Le Grand auf „diese obskuren Autoren“ und nimmt den Satz in Atta Troll auf, in Rücksicht auf die im Streit mit Börne aufgekommene Dichotomie von Talent und Charakter: „Es war fast persönlich schmeichelhaft für die große Menge, wenn sie behaupten hörte, die braven Leute seien freilich in der Regel sehr schlechte Musikanten, dafür jedoch seien die guten Musikanten gewöhnlich nichts weniger als brave Leute, die Bravheit aber sei in der Welt die Hauptsache, nicht die Musik.“ Vgl. auch Peter von Matt: „Ihr guten Leute und schlechten Musikanten!“ Über die biographische Falle im Umgang mit der Literatur, in: ders.: Das Wilde und die Ordnung. Zur deutschen Literatur, München 2007, S. 239–247. Auf Spielhagen geht von Matt ebenso wenig ein wie auf Heinrich Laube, der zuvor die Formulierung in Das junge Europa in Hinsicht auf die Engländer benutzt: „Ordinäre bürgerliche Verwaltung, darin sind diese guten Leute und schlechten Musikanten zu Hause, darin sind sie unbefangen, dreist und frei wie kein Volk auf der Welt […].“ Vgl. übrigens auch von Instettens Ausspruch in Effi Briest! Theodor Fontane: Der Stechlin. Roman (1899). 2. Aufl., Berlin 1899, S. 232.
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reist war. Der Roman erschien den Zeitgenossen, zumal in einer Zeit, die nicht nur ideell die nationale Einheit wieder auf die Tagesordnung setzte, offenbar als Offenbarung über jene Zeit, die auf die Barrikaden zu- und nach ihnen nicht auch auslief. Dafür, dass er erst nachträglich zum 48er wurde, hat er die „schlechte Akustik der Stadt meiner Jugend für politische, soziale und wissenschaftliche Dinge“ verantwortlich gemacht. Was er nachträglich auf 48 hin schrieb, das blieb – bei allen eigenen theoretisierenden ‚Objektivierungen‘ zum Roman – recht vormärzlich instrumentiert, in Personal wie Intrigen, vor allem aber in der notorischen Verflechtung von stürmischen Handlungen und endlos diskursivem Räsonnement – und nicht zuletzt in den pathetisch-sentimentalen Abschlussszenarien.9 Dies Erbe – die Hineinnahme anderer, ‚modernerer‘ Elemente in Rechnung gestellt – behielt er zeitlebens bei wie die notorische Konfrontation von Bürgertum und Adel, wobei mehr noch als diese die Gegenüberstellung je von gutem i. e. leistungswilligem und egalitärem, oft auch militärischem, mit karikaturhaft dummem und verkommenem Adel zunehmend die Kritik indignierte. Hinzu kommt noch ein anderes Moment, das Julian Schmidt in einem Aufsatz über Spielhagen 1871 artikulierte und das dann in Variationen konsensuell wurde: Anders als die Zeit von 1840 bis 1866 sei die jetzige der Reichsgründung dem „politischen Tendenzroman“ nicht günstig. „Mehr und mehr stellt sich heraus, daß die Politik nicht poetisch ist“.10 Spielhagens Romane, so wurden sie verstanden, mischten sich in die Politik ein, indem sie Muster von damals fortschrieben. So wurde er selbst zum guten Menschen und schlechten Musikanten erklärt, indem etwa Bismarck ihn späterhin als festen Charakter mit begrenzter literarischer Fähigkeit bezeichnete.11 Und von der Hand zu weisen ist das ja nicht. Denn auch wenn Problematische Naturen noch immer neue Auflagen erlebte – 1900 war es die 22. –, so galt da doch nicht nur, was Spielhagen durchaus hellsichtig bemerkt hatte, dass die Romane im Zeichen der Eisenbahn zum schlanken Einbänder tendierten,12 sondern zudem, zumindest international, dass Held und beispielsweise Wetter nicht mehr, wie von Spielhagen verteidigt,13 in zwingender Korrespondenz, sondern durchaus kontingent zueinander stehen konnten.14 Ganz zu schweigen von den Bewegungen des Börsenkapi9 Hier folge ich – gegen Victor Klemperer: Die Zeitromane Friedrich Spielhagens und ihre Wurzeln, Weimar 1913, und Julian Schmidt: Friedrich Spielhagen, in: Westermanns Illustrierte Deutsche Monatshefte 29, 1870/71, S. 422–429 – Hugh Ridley: ‚Der Halbbruder des Vormärz‘. Friedrich Spielhagen. Reflexionen zu den Kontinuitäten seines Werkes, in: Helmut Koopmann, Michael Parraudin (Hrsg.): Formen der Wirklichkeitserfassung nach 1848. Deutsche Literatur und Kultur vom Nachmärz bis zur Gründerzeit in europäischer Perspektive. Bd. 1, Bielefeld 2003, S. 217–231. 10 Julian Schmidt: Friedrich Spielhagen (wie Anm. 9), S. 448. 11 Spielhagen: Problematische Naturen (wie Anm. 1), S. 1053. 12 Vgl. Friedrich Spielhagen: Die epische Poesie unter den wechselnden Zeichen des Verkehrs, in: Friedrich Spielhagen: Neue Beiträge zur Theorie und Technik der Epik und Dramatik, Leipzig 1898, S. 17– 51, hier bes. S. 47 u. 50/51. 13 Vgl. Friedrich Spielhagen in Hartmut Steinecke (Hrsg.): Theorie und Technik des Romans im 19. Jahrhundert, Tübingen 1970, S. 106. 14 Vgl. etwa Wilhelm Scherers Kritik der Kritik Spielhagens an George Eliot. Vgl. dazu Lothar Schneider: Die Verabschiedung des idealistischen Realismus. Friedrich Spielhagens Romanpoetik und ihre Kritiker, in: Koopmann, Parraudin (Hrsg.): Formen der Wirklichkeitserfassung (wie Anm. 9), S. 236/237.
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tals, die weder von guten Leuten noch von schlechten Musikanten wussten und an keiner Barrikade haltmachten, sondern allenfalls Schneisen für Passagen oder Passagiere durch die Städte schlugen.
Sturmflut Spielhagens Roman Sturmflut, 1876 erschienen, um den es hier folgend gehen soll, handelt vom Bau neuer Infrastrukturen – Bahn und Hafen –, vor allem aber, wie Spielhagen selbst erklärte, von „der Verwüstung […], welche der Milliardenunsegen in ökonomischer und sittlicher Beziehung über Deutschland gebracht hat“.15 Zwar bleiben ihm, wie auch den meisten Vormärzlern, Geldwesen und Spekulation weitgehend fremd und unverständlich, aber umso abscheulicher erscheint ihm deren Wirkung, eben als Sturmflut. Da Spielhagen den geschlossenen Roman zäh verteidigt,16 ist das Ganze nicht nur wahlverwandtschaftlich organisiert, sondern auch die titelgebende Sturmflut omnipräsent. Da ist zum einen die Sturmflut an der Ostsee, der realen vom November 1872 nachgebildet. Protagonist Reinhold, der uns noch beschäftigen wird, prognostiziert sie aufgrund von Beobachtungen und Kartenstudium als ein „Ereignis, das nach meiner Überzeugung seit Jahren vorbereitet ist und nur auf die gelegentliche Ursache wartet, die nicht ausbleiben wird, um mit einer Gewalt hereinzubrechen, von der die kühnste Phantasie sich wohl keine Vorstellung machen kann“.17 Mag Reinhold die naturgesetzlichen Voraussetzungen einer Sturmflut verstehen, der anwesende Präsident versteht sich allenfalls darauf, deren Metaphorik zu nutzen. Er spricht in Erwartung einer andern Sturmflut […] und auf einem ganz andern Gebiet. […] Auch hier ist der gewöhnliche Lauf der Dinge auf die unerwartetste Weise unterbrochen worden, auch hier hat eine Aufstauung von Fluten stattgefunden, die sich in einem ungeheuren Strom – einem Golfstrom […] – von Westen nach Osten18 ergossen haben. Auch hier prophezeien die Kundigen, dass so unnatürliche Verhältnisse nicht von Dauer sein können, dass sie die längste Zeit gedauert haben, dass ein Rückstau eintreten müsse, eine Reaction, eine Sturmflut, welche – um in dem Bilde zu bleiben, das der Sache so sonderbar entspricht, – sich, eben wie jene andere, zerstörend, vernichtend über uns stürzen und mit ihren trüben, unfruchtbaren Wassern die Stätten bedecken wird, auf denen die
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Nach Jeffrey L. Sammons: Friedrich Spielhagen. Novelist of Germany’s False Dawn, Tübingen 2004, S. 188. Vgl. dazu Lothar Schneider: Die Verabschiedung des idealistischen Realismus (wie Anm. 14), S. 233– 244. Zitiert nach Friedrich Spielhagen: Sturmflut. Roman. 2 Bde. 5. Aufl., Leipzig 1883, Bd. I, S. 67. Bandund Seitenangaben im Text folgend nach dieser Ausgabe. Wobei der sich eher von südwestlicher in nordöstlicher Richtung bewegende Golfstrom ja doch wohl als lebensspendend angesehen werden müsste …
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Menschen bereits für alle Zeiten ihr Reich und ihre Herrschaft fest gegründet zu haben glaubten (I, 70 /71).19 Und da im Roman, wie sein Held Reinhold blitzschnell erkennt, zudem Shakespeare in Berlin, nämlich: „Capulets und Montagus nur durch eine Gartenwand getrennt“ (I, 130), gegeben wird, gehen nicht nur des Meeres und der Gelder, sondern auch der Liebe Wellen hoch und geraten todesgefährlich in die Kreuzsee beider. Zunächst aber ist da – wie Spielhagen ja auch das symbolräumliche Arrangement liebt – besagte Gartenwand, die nicht nur ein ursprünglich einmal zusammengehörendes Grundstück trennt (vgl. I, 101), sondern auch Ottomar, „Sekondeleutnant“ und Sohn des adligen Generals von Werben, von Ferdinande – bildende Künstlerin und Tochter des bürgerlichen Fabrikanten von „Marmorwaaren“ (II, 17), Ernst Schmidt. Man wohnt im Bereich des Tiergartens und die Straßen tragen so bezeichnend wässrige Namen wie – bürgerlich – Canalstraße und – adlig – Springbrunnenstraße. Das schon indiziert, dass es in Spielhagens Roman nicht um erzähltes, beschriebenes, gar handelndes Berlin geht, sondern die Orte der Stadt topisch fungieren, für Herrschaft und Militär, Geldwirtschaft, Kunst und Kommerz, wie schließlich Verkehr stehen. Genannt werden neben dem Tiergarten noch „Dönhoffsplatz“ (I, 123), auf dem die Germania des Künstlers Justus einst stehen soll, das „Brandenburger Thor“ (I, 173), die Friedrichstraße, durch die mit klingendem Spiel ein Regiment zieht und dabei die „Flut der Passanten“ staut (I, 175), Unter den Linden, wo im „eleganten Salon des Hôtel Royal“ (I, 200) die Bösewichte konspirieren – sowie eine „Expedition in die innersten Tiefen der Stadt“, durch „immer schmalere und winkligere Gäßchen“ (II, 324/325), wo das Idyllenpaar Justus und Mieting von einem Trödeljuden über den Tisch gezogen werden. Das, wofür die Stadt stehen soll, fokussiert sich neben der Tiergartenvilla mit angeschlossener Luxuswarenfabrik auf nicht näher lokalisierte, signifikante Gebäude: Das ist neben dem Bahnhof als öffentlicher Begegnungsraum insbesondere die Kunstausstellung (I, 175–177), als Ort, an dem sich alles trifft und keine anderen Hierarchien gelten sollen als die des Geschmacks. Hier trifft denn auch Reinhold auf die geliebte Else, im Schnittpunkt von Stadt, Land und Meer, nämlich als Ort ihrer künstlerischen Repräsentation. In ihrer Repräsentation. „Zwei verlassene Kinder in diesem Menschenwalde – ich fürchte mich ordentlich. Sie fürchtete sich nicht – Reinhold sah es wohl: sie war hier zu Hause – es war ihre Welt, mit der sie vertraut war, wie er mit dem Meere.“ (I, 178) Die Väter der beiden Liebenden Ferdinande und Ottomar sind verfeindet – von den Barrikaden des März her. Seither stehen sie, die auf den unterschiedlichen Seiten der Barrikaden standen, Rücken gegen Rücken, wie ihre Häuser getrennt durch besagte Gartenwand. Hier nun ist nicht der Adlige die problematische Figur. Beide, Adliger und Bürger, sind, wie mehrfach betont wird, ‚herrliche‘ Figuren. Doch der Vulkan der Revolution, der am Ende 19
Vgl. auch II, S. 157: „Das kann so nicht bleiben […] ein Volk kann nicht auf die Dauer um das goldene Kalb tanzen und dem Moloch opfern; es geht entweder unter in der Flut seiner Sünden, oder es klammert sich an den rettenden Ararat echter Mannes- und Bürgertugend.“
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von Problematische Naturen ausgebrochen war, brodelt hier im Temperament des Bürgers Schmidt weiter: „das gewaltige Feuer, das hier in prächtigen Garben emporschoß, um dann wieder, wie unter einer Aschendecke, weiter zu glühen und zu drohen“ (I, 110). Gegen Ende des ersten Bandes überwindet sich von Werben und sucht seinen Gegenpart auf. Beide erklären dabei erst einmal sich und uns sehr ausgiebig ihre Prinzipien: Von Werben verweist auf den Stolz einer langen Familientradition, auch wenn der Sohn derzeit sich als schuldenmachender Schwächling entpuppt. Schmidt hingegen ist stolz darauf, dass seine Familie aus dem Nichts kommt und sein Vater ein – allerdings heldenmütiger – Kahnschiffer war. Sodann erläutert er seine nach nunmehr 24 Jahren noch immer heiße Wut auf von Werben. Beide standen sich damals beiderseits der Barrikade als Führer gegenüber. Schmidt brachte es nicht fertig, den gegnerischen Offizier zu töten, während der ihn einzig deshalb schonte, weil er justament abbeordert wurde. In Gefangenschaft begegnet Schmidt ihm wieder, als er um Verschonung eines Todkranken bittet. Worauf der – „Demokrat! […] so stirb, wenn Du nicht anders willst“ – den Degen gegen ihn führt und Schmidt nur durch seinen „breitkrämpige[n] Hut und […] dichtes Haar“ vorm Tode bewahrt wird (I, 364–367). Nun stehen sie sich ein drittes Mal gegenüber. Der Adlige erklärt, was wir aus beider Familienerzählung bereits wissen können: Es scheint, daß wir die Rollen, die dem Manne des Volkes und dem Aristokraten für gewöhnlich zugetheilt werden, vertauscht haben. Der Mann des Volkes erinnert sich haarklein einer Unbill, die ihm vor einem Menschenalter fast begegnet ist, und hat nichts verziehen; der Aristokrat hat freilich auch nichts vergessen, aber er hat zu verzeihen gelernt. (I, 368) Von Werben wirbt für seinen Sohn um die Hand von Schmidts Tochter. Doch Schmidt hat geschworen, „daß diese Hand verdorren möge, bevor sie die Hand des Generals von Werben berührt“ (I, 369). Dabei bleibt es. Jedenfalls bis kurz vor Schluss, der noch fast 500 Seiten auf sich warten lässt. Schmidt hat nun nicht nur eine problematische Tochter, mit problematischer Inklination zu Schopenhauer, Hartmann und Wagner, nicht nur dazu noch einen zum Spekulanten und Betrüger verdorbenen Sohn, sondern obendrein auch renitente Arbeiter. So zeigt er sich nicht nur starr fixiert auf die Vergangenheit, sondern auch starr gegenüber der Zukunft in der Gegenwart. Aufgehetzt von einem, dem „das junge Gesicht bereits von bösen Leidenschaften zerwühlt und verwüstet war“ (I, 154), streiken und randalieren die Arbeiter wegen der Entlassung von Sozialisten. Wir wollen wissen, Herr Schmidt, weshalb wir nicht Sozialisten und auch Kommunisten sein sollen, wenn wir wollen; wer uns verbieten kann, einzutreten in die Reihen der Arbeiterbataillone, die gegen die hartherzige Bourgeoisie marschieren, um sich ihr gutes Recht wieder zu erobern, das man uns so schmählich vorenthält? (I, 154) Schmidt verhält sich den Proletarierforderungen gegenüber so halsstarrig wie seinerzeit der Adel sich hinsichtlich des Bürgerbegehrens zeigte. Das kann nicht gutgehen. Doch die Wiederauferstehung der Barrikade wird verhindert, weil Reinhold eingreift.
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Reinhold ist ein Neffe, Brudersohn Schmidts, von nun an, Reinholds Perspektive übernehmend, auch vom Erzähler ‚Onkel Ernst‘ genannt. Reinhold, erfahren wir gleich eingangs, nachdem wir ihn eine drohende Schiffskatastrophe haben meistern sehen, hat sich als tapferer Soldat im jüngsten Krieg bewährt, war ursprünglich weltgereister Kauffahrerkapitän und wird nun Lotsenkommandant auf Usedom. Er ist bei seinem Bravourstück Else von Werben, der Tochter des vom Onkel gehassten Nachbarn begegnet – und liebt sie fortan, wie diese, eingenordet durch seinen Kompass, still ihn auch. Eine ganze Reihe von Nebenfiguren und -handlungen hier auslassend, sehen wir Reinhold in ein Spiel von Liebes- und Geld-Intrigen verstrickt. Graf Golm, der zur Finanzierung seiner Anteile an einem Konsortium zum Bau eines Kriegshafens und einer Eisenbahn dorthin, die „drei Mohrenköpfe“ in seinem Wappen gegen eine „runde Million Mitgift“ verkaufen möchte, will keine der zunächst ins Auge gefassten „schönen Töchter Israels“ (I, 203), sondern nun ausgerechnet Else von Werben heiraten. Hierzu soll Philipp, Onkel Ernsts Sohn, als neureicher Spekulant am Eisenbahn-Schwindel beteiligt, behilflich sein. Ottomar von Werben wiederum will der drückenden Schulden wegen nun nicht Ferdinande, sondern die reiche Clara heiraten, die er nicht liebt. Clara wiederum, von Ottomars Nichtliebe enttäuscht, verfällt dem leidenschaftlichen, doch nichtstaugenden Grafen Golm. Man sieht in Sturmflut die Wahlverwandtschaften schon rüstig auf dem Wege zu Courths-Mahler. Doch nicht genug damit, die Geheimnisse von Paris kommen auch noch hinzu. Neben dem Schwindler-Konsortium gibt es nämlich noch zwei ausgesprochen üble Burschen. Der eine ist Giraldi, Diplomat in Diensten des Papstes, dem die Schwester von Werbens verfallen ist und der nun über sie und ihre erwitweten Besitzungen herrscht und das als Teil einer ultramontanen Verschwörung zur Unterwerfung der protestantischen Tiefebenen zwischen Berlin und Usedom betreibt. Der Jesuit, „tückischer Bube und gleißnerischer Schurke“, ja, der Teufel selbst, will allesamt ins Verderben stürzen. Was er im Großen intrigiert, intrigiert Antonio, sein Landsmann und – wie sich später herausstellt – Sohn aus Eifersucht vor Ort erfolgreich gegen Ottomar und Ferdinande. Ottomar, inzwischen zum Wechselfälscher geworden, soll auf Beschluss seiner militärischen Vorgesetzten sich selber richten. Mit seiner Abreise zur Ostsee verlagert sich das Geschehen aus Berlin dorthin. Nahezu das gesamte Personal reist Richtung Usedom. So begegnen sich etwa Philipp Schmidt und Ottomar von Werben auf dem Bahnhof. „Der bürgerliche Banquerotteur und der adlige Fälscher – sie standen auf einer Stufe“ (II, 333) – so können sie zusammen fahren. Ihnen werden ihre Schwestern, die Bösewichte und ihre Väter dorthin folgen, wo der wackere Reinhold sich inzwischen als Hafenkommandant bewährt und die von ihm prognostizierte Sturmflut erwartet. Die trifft gewaltig ein und räumt unter dem Romanpersonal nachhaltig auf. Zwar werden Graf Golm und Clara von Reinhold gerettet, aber der Graf ist zum Feigling und sie verrückt geworden. Der eifersüchtige Antonio, der Ottomar erdolchen will, tötet die sich dazwischen werfende Ferdinande. Ottomar darf sich bei der großen Rettungsaktion bewähren, um schließlich hinzusinken „wie einer, der den ehrlichen Reitertod gestorben“ (II, 439). Auf der Flucht nach Chile entdeckt, gibt Philipp sich die Kugel. Und neben allerlei Ortsansässigen, von denen aber nicht viel Aufhebens gemacht
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wird, kommen auch die beiden italienischen Bösewichte in der Sturmflut um. Die väterlichen Haudegen schlussendlich versöhnen sich zur ehelichen Vereinigung von Reinhold und Else und der Bestattung der restlichen Kinder.
Eine Art Wunschversion Bismarcks Dieses wilde und recht brachial verknotete Intrigenspiel, „verwickelte Verhältnisse“ (II, 447) nennt es der Roman selbst, versucht Kulturbürger wie Kolportagesüchtige gleichermaßen zu bedienen. Dabei ruft Spielhagen zwar zur Überwindung des Barrikaden-Traumas von 1848 auf, schleppt aber den erzählerischen Ballast von damals weiter mit. Die Jesuitenintrige scheint darunter ein Zentralstück, das sogar von noch weiter her kommt. Zwar wäre der Konkretismus persönlich und geheim wirkender Mächte auch lesbar als Ausdruck von Hilflosigkeit gegenüber den undurchschaubaren Geldbewegungen, aber entgegen dem allgemeinen Kopfschütteln in der Sekundärliteratur über einen derart altbackenen Einfall könnte man darin das Konstrukt eines zukünftig neuen Frontverlaufs sehen, der nun die nationale Einheit zu stören und zu zerstören droht, wie seinerzeit die ausländischen Mächte dank der Intransigenz des Adels. Hier nämlich, in der gründerzeitlichen Sturmflut, ist zwar der Adel, zumindest der vom pommerschen Lande und der der Söhne, unwürdig, aber die wirklich gefährliche Halsstarrigkeit ist inzwischen an den bürgerlichen Pol gewandert. Und da ist nicht nur die rückwärtsgewandte Unversöhnlichkeit gegenüber dem Adel, sondern nun vor allem die Schroffheit gegenüber dem Proletariat. Hier eben kommt Lotse Reinhold ins Spiel. Zwar wäre es wohl zuviel der Spekulation, Spielhagen als Initiator jenes Topos vom Lotsen Bismarck zu behaupten, den der Punch dann 1890 von Bord gehen sah, aber Reinhold erscheint doch als eine Art Wunschversion Bismarcks. Darüber hinaus kann man in ihm eine der Initialfiguren zur Kette jener soldatischen Ingenieurstypen erkennen, die bis in die dreißiger Jahre hinein zu einer – auch politischen – literarischen Wunschfigur werden sollten, von Ganghofer und Frenssen über Kellermann, Bronnen, Hauser, Reger bis hin zur Ernst Jünger und Hans Dominik. Onkel Ernst mag Bismarck nicht. Schmidt, der die Gegenwart anders als zu den heroischen Zeiten, „auf den Barrikaden in den Märztagen, auf den Bänken der Nationalversammlung“, nurmehr als „Jahrmarkt […] und eine Trödelbude“ sieht, „wo sie über den Ladentisch hinüber und herüber schachern und einen Fetzen unserer stolzen Freiheitsfahne nach dem anderen verganten, an den Mann, der sie alle in der Tasche hat und von dem sie wissen, daß er sie in der Tasche hat“, sieht in eben diesem Bismarck den „schlaue[n] Finkler“, der „noch jeden Augenblick, wenn die Gimpel einmal nicht in’s Netz wollen“, singt: „wer hat 1864, wer hat 1866, wer hat 1870 gemacht? ich! ich! ich!“ (I, 112/113) Reinhold ist da positiver gestimmt. Was er ein paar Seiten später zur rechten Kunst des Kommandierens deklarieren darf, liefert im Bild des Schiffes eben eine korrigierende Wunschversion: Dann kommen wir auf das Schiff, wo nur Einer befehlen darf, die Andern gehorchen müssen. Aber keiner hat gelernt, was er nun üben soll: den Officieren fehlt nur zu oft
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die Haltung; sie fahren mit Schelten und Poltern drein, wo ein ruhig bestimmtes Wort am Platze wäre; ein ander Mal lassen sie wieder fünf gerade sein und die Zügel schießen, wo sie dieselben straff anziehen müßten. Die Leute ihrerseits können eine so ungleiche Behandlung um so weniger ertragen, als sie meistens rohe Gesellen sind, die nur auf die Gelegenheit warten, den Zwang, der auf ihnen lastet, abzuschütteln. (I, 116) Etwa dreißig Seiten später erleben wir den Onkel als zwar mutigen, doch halsstarrigen Prinzipal gegenüber den Arbeitern, deren Verhalten Onkel Ernst einmal mehr Bismarck anlastet. Die „Arbeiterbataillone“ seien längst Wirklichkeit, da ja – nach Bismarck – Macht vor Recht gehe. „Und so ist die Revolution in Permanenz erklärt, der Krieg Aller gegen Alle.“ (I, 156) Anders als der Onkel, aber auch anders als dessen problematische Kinder, die gerade den skrupellosen Machtmenschen Bismarck verehren (vgl. I, 189 u. 194), zeigt Reinhold sich auf einer dritten Position – darüber. Die darf er bei nächster Gelegenheit des Arbeiteraufruhrs als Mann des „ruhig bestimmten Wortes“ bewähren und seine Lehre vom Schiff her verkünden: „Sieh, Onkel […] es ist hier gerade wie bei einer Meuterei auf offener See. Wenn man nicht die Macht hat, die Kerle zu Paaren zu treiben […], so muß man wohl Frieden mit ihnen zu machen suchen.“ (I, 251) Eben so handle auch der „große Bismarck“, „der weiß die Segel zu stellen und zu laviren, wenn es sein muß […]. Man muß auch von seinen Feinden lernen.“ (I, 252) Die Analogie der Situation von 1873 zu der 1848, das versteht sich wie Vischers Moralisches von selbst, geht nicht so weit, nun etwa das Proletariat in die Anspruchsposition des Bürgertums zu setzen. Im Gegenteil. In dessen flexibler Abwehr soll der Bürger aus den Fehlern des Adels lernen, zumal die eigentliche Bedrohung nicht bei den starren Barrikaden, sondern in der beweglichen Flut des Geldes liegen soll.
Versöhnung Im Finale der Sturmflut wird Reinhold – in seiner beweglichen Allgegenwart eine Fortschreibung des Barons Oldenburg – vollends sich als der souverän Flexible bewähren dürfen. Reinhold ist gerade kein Hauke Haien, kein ichbesessen starrköpfiger Deichgraf,20 sondern Kapitän und Lotsenkommandant – dessen Aufgabe es ist, das Schiff umsichtig in den sicheren Hafen zu bringen. Hier freilich ist er sowohl prophetischer Warner vor der zerstörerischen Flut als auch vor dem gefährlichen Hafenprojekt der spekulantischen Hybris (vgl. III, 445). Die metallne Fläche da unter uns wird, in wilde Wogen zerwühlt, ihren Gischt hinaufspritzen bis auf diese Höhe! Wehe den Schiffen, die nicht jetzt schon in den Hafen geflüchtet und vielleicht selbst dort nicht vor der wilden Wuth gesichert sind! Wehe den Niederungen da unter uns! (II, 189/190) 20 Vgl. dazu Axel Drews, Ute Gerhard: Wissen, Kollektivsymbolik und Literatur am Beispiel von Friedrich Spielhagens ‚Sturmflut‘, in: Edward McInnes, Gerhard Plumpe (Hrsg.): Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848-1890, München 1996 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 6), S. 708–728, hier S. 720.
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Diese Flut überrennt tatsächlich selbst den Hafen, wie sie zugleich eine korybantisch trunken tanzende und rasende „Menge“ erzeugt (vgl. II, 381). Doch einmal mehr gelingt Reinhold, weil er beweglich ist, die Rettung: Und die Flagge flatterte hinter dem, der am Steuer saß und mit leisem Druck der starken Hand durch die schäumenden Strudel das willige Fahrzeug lenkte nach dem Ziel, das die klaren, untrüglichen Augen festhielten, wie der Adler seine Beute, ob auch das mutige Herz noch so wild gegen die Rippen pochte. Und schossen so vorüber – vorüber an der Menge, die athemlos dem Wunder staunte […]. Und dann athmeten sie auf; wie aus einer einzigen angstbeklemmten Seele, von der die Angst genommen ist. Und hurrah! hurrah! hurrah! erscholl es, wie aus einer einzigen Kehle, daß es den heulenden Sturm übertönte. Mochte das Boot im Dunkel verschwinden! Sie wußten: Der am Steuer verstand seine Sache, […] und es würde wiederkehren, gerettet, die Geretteten tragend aus Sturm und Flut. (II, 440) Eben so rettet Reinhold nicht nur die Geliebte, sondern auch Golm und Clara. Wie zu Anfang darf nun wieder der Präsident die beiden Fluten zusammenbringen: „Ihre [Flut] hat, Gott sei dank, schnell genug ausgetobt, die meine wird, Gott sei’s geklagt, noch lange fortwüthen. Und möchten da doch auch so wackere Sanct Georgs erscheinen, die dem Drachen so muthig zu Leibe gehen […]!“ (II, 445) Damit schreibt der Autor das, was dem Bildhauer eingangs nicht gelingen sollte, nämlich die beiden Figuren von „Adelshasser“ und „Demokratenfresser“ in sein „Siegesdenkmal“, das auch ein „Friedensdenkmal“ ist (I, 126/127), zu integrieren, auf das Konto seines Romans – die Versöhnung von 48er-Adeligem und -Bürger, unter den sinnbeschwörenden Worten am Grab nach der purgatorischen Sintflut: „Meine Freunde! dies hier – es mußte, mußte sein! Es mußte sein, weil wir so arg, so ganz vergessen hatten der Liebe“ (II, S. 459).
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‚Weit hinten in Mecklenburg ...‘ Revolutions-Reflexe in Fritz Reuters Roman Ut mine Stromtid
Ein Gesellschaftspanorama aus dem 19. Jahrhundert Reuters Roman, von 1862–64 in drei Bänden publiziert, bietet ein Gesellschaftspanorama des Lebens auf dem Lande in Mecklenburg um die Mitte des 19. Jahrhunderts: auf dem Gutshof, auf dem Dorf und in der Kleinstadt, und er zeigt dabei die Reformbedürftigkeit der Gutsherrschaft, die dem Gutsherrn die juristische Gewalt über die Bewohner des Gutsbezirkes gab und die Leibeigenschaft der Tagelöhner de facto weiter bestehen ließ. Das Grundthema des Buches ist ein ökonomisches: Verhandelt wird das Eindringen des Kapitals in die Landwirtschaft Mecklenburgs samt den Folgen, die das für das soziale Gefüge hat. Dargestellt wird dies am Versuch der ‚feindlichen Übernahme‘ des Gutes eines im Standesdünkel befangenen Adeligen, der von einem skrupellosen bürgerlichen Agrarkapitalisten zusammen mit zwei Helfern in die Überschuldung getrieben wird. Die ökonomische Frage bestimmt auch das Geschick aller anderen Beteiligten: Drehpunkt des weiten Panoramas, der Reuterschen Weltsicht, das Große im Kleinen und das Kleine im Großen aufzudecken, ist immer die Frage des Besitzes, der Pachtsumme, des Getreidepreises. Glück und Leid entstehen daraus und erst daneben aus den – übrigens durchaus statischen – Charakteren.1 Die erzählte Zeit umfasst die Jahre 1829 bis 1848, das Buch endet somit im Revolutionsjahr, und zwar mit einer detailfreudigen Schilderung der Art und Weise, wie sich die revolutionären Berliner Ereignisse in der mecklenburgischen Provinz spiegeln – in der Kleinstadt Rahnstädt, auf den umliegenden Gutsdörfern Gürlitz, Rexow und Pümpelhagen, in den Familien. Die beiden Großherzogtümer Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz waren seinerzeit die rückständigsten Länder des Deutschen Bundes: Sie existierten bis 1918 als 1
Gerhard Schmidt-Henkel: Zwei Kapitel Reuter. Episodisches und bildhaftes Erzählen, in: Gert Mellbourn u. a. (Hrsg.): Germanistische Streifzüge. Festschrift für Gustav Korlén, Stockholm 1974, S. 222–237, hier S. 224.
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Ständestaaten mit spätfeudaler Verfassung ohne gewählte Landesparlamente. Der Adel hatte de facto ein Vetorecht gegenüber den Großherzögen, in den Städten herrschte bis 1868 Zunftzwang, Industrie gab es kaum, die Schulen auf dem Lande dienten zum Dummhalten und Disziplinieren der Kinder durch Katechismus und Prügel. Reuters Schilderung der Ereignisse des Revolutionsjahres im mecklenburgischen Abseits gründet in dieser politischen, ökonomischen und kulturellen Zurückgebliebenheit dieses Landes, im beschränkten Horizont der Provinz und in der daraus folgenden Unbedarftheit der Akteure. Die Darstellung des Geschehens hat deshalb zwangsläufig eine stark humoristische, teils auch satirische Einfärbung. Sie ist aber keineswegs denunziatorisch. Reuter kannte die Befindlichkeiten und Denkweisen auf dem Lande und in den Kleinstädten, und er hatte selbst einschlägige Erfahrungen im Reformverein seiner Heimatstadt Stavenhagen gesammelt. Bemerkenswert sind die Revolutionskapitel der Stromtid vor allem in einem Punkt. Reuter, der mit seinem sozial-anklägerischen Epos Kein Hüsung (1857) die durch Ausbeutung, Willkür und Menschenverachtung bestimmte Behandlung der Tagelöhner auf den Gütern scharf gegeißelt und dafür die Missachtung des Lesepublikums der Restaurationszeit geerntet hatte – dieser Reuter hat sich nicht gescheut, den Lesern, verpackt in einen Kriminalfall und eine Liebesgeschichte, erneut eine Zumutung zu servieren. In Kein Hüsung endet die Eskalation der Ereignisse damit, dass der Knecht nach vielen Demütigungen seinen Junker im Affekt mit der Mistforke ersticht und dann nach Amerika flieht. In der Stromtid schildert Reuter mit kaum verhohlener Sympathie die Vertreibung des intriganten Agrarkapitalisten Pomuchelskopp von seinem Gut durch die eigenen Tagelöhner, die er allzu lange mit Hungerrationen und Prügel traktiert hatte. Wozu die Geschichte der deutschen Literatur anmerkt: „Eines der wenigen literarischen Zeugnisse revolutionärer Volksaktionen in der deutschen Literatur nach 1848“.2
Selbstzeugnisse zur Konzeption Fritz Reuter war kein Theoretiker. Er, der in geselliger Runde ein gefragter Unterhalter war, steht auch als Autor fest in der Tradition spontanen mündlichen Erzählens mit prallen Figuren und kräftigen Bildern und meist additiv gereihten Ereignissen. Folglich gibt es nur wenige Zeugnisse, in denen er sich über das/sein Schreiben äußert. Eine grundsätzliche Aussage, die auch von Gewicht ist für die Stromtid, findet sich im Brief an den Schweriner Advokaten und Gelegenheitsdichter Eduard Hobein vom Juni 1861. Dort heißt es: Frage Dich selbst: wer ist der Held, Karl der Große oder Wittekind? für wen nimmt der Poet Partei? Für die Konquistadoren oder für die Inkas? Die Poesie fällt stets mit dem 2
Autorenkollektiv: Geschichte der deutschen Literatur. Bd. 8,1, Berlin (DDR) 1975, S. 551. Vgl. auch Kurt Batt: Reuter und die Folgen. Notizen zu einer wirkungsgeschichtlichen Skizze, in: ders. (Hrsg.): Mecklenburgisches Lesebuch, Rostock 1977, S. 289–314, hier S. 301/302. Dieser Aufsatz ist in der unter identischem Titel erschienenen westdeutschen Lizenz-Ausgabe (München: Piper 1979) nicht enthalten.
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rein menschlichen Erbarmen für den Unterliegenden zusammen, sie steht auf der Seite des Hektor gegen den Sieger Achilleus.3 Zur Konzeption der Stromtid mit Blick auf das Jahr 1848 hat Reuter sich in zwei Briefen geäußert; beide gingen an den Literaturkritiker und Miteigner der Wochenschrift Die Grenzboten Julian Schmidt, der Reuters Werk bereits mehrfach freundlich besprochen hatte. Unter dem 26. März 1862, als der erste Band des Romans noch nicht erschienen war, schrieb Reuter: Jetzt habe ich etwas Größeres, wenigstens Umfänglicheres in Arbeit: ‚Ut mine Stromtid‘ [...]. Das Ding soll in der politisch unschuldigen Zeit vor 48 beginnen und zum Schluß dies verhängnisvolle Jahr als Hintergrund erhalten. – Fürchten Sie jedoch nicht, daß ich mit Freiheitsphrasen, Barrikadenkämpfern und halbverdauten politischen Ansichten ins Geschirr gehen werde; ich denke mir bei [...] der Geschichte den Humor zu bewahren und den höchst peinlichen Unverstand der damaligen Zeit sowie auch die feige Nachgiebigkeit der anderen Seite durch denselben genießbar zu machen.4 Diese Passage steht in einem Dankesbrief an Schmidt, der drei Tage zuvor eine Würdigung Reuters in der Berliner Allgemeinen Zeitung veröffentlicht hatte. Die Bemerkung zur geplanten Darstellung der Vorgänge von 1848 mit ihrem distanziert-kritischen Ton ist deshalb auch adressatenorientiert zu lesen: als gerichtet an einen führenden Publizisten des nationalliberalen Bürgertums, dessen Organ Die Grenzboten programmatisch gegen die Vormärzliteratur und gegen die französische Gegenwartsliteratur Partei nahm. Gut anderthalb Jahre später, im Brief vom 17. November 1863, bemerkte Reuter knapp: Ich arbeite jetzt fleißig an dem letzten Teil der Stromtid und hoffe, denselben vor Ostern gedruckt zu sehn; ich bin jetzt grade in der Schilderung des Jahres 1848 begriffen, wie’s sich in den kleinen Städten machte; es macht mir viel Spaß, dasselbe in heiterer Weise zu rekapitulieren.5 Das liest sich, als wolle Reuter dem Literaturkritiker eine humoristisch entschärfte Darstellung ankündigen. Ohne politische Bewertung und daraus abgeleitete Darstellungsweise kommt der dritte Hinweis Reuters zur Behandlung des „verhängnisvollen Jahres“ aus. Er findet sich im Roman selbst als Vorbemerkung des Erzählers und umfasst den ersten Absatz von Kapitel 35 1848. Dort wird dem Leser mitgeteilt, die 48er Ereignisse sollten nur mit Blick auf die Personen des Romans geschildert werden:
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Arnold Hückstädt (Hrsg.): Fritz Reuter. Briefe. Bd. II 1861–1866, Rostock 2009, S. 19. Ebd., S. 46. Ebd., S. 153.
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Hir is natürlich nich de Urt, doräwer tau schriwen, wat dat Johr gaud för de Welt oder wat dat slicht för ehr was, dat mag sick ein jeder nah sinen Kram taurecht leggen; ok will ick mi dormit nich inlaten, tau berichten, wat dat för de äwrige Welt för Folgen hadd un wo sine eigentlichen Ursaken tau säuken sünd; äwer wat dat Johr för de Gesellschaft in Mun’n führte, mit de ick hir för allen tau dauhn heww, kann ick nich von de Hand wiesen; süs künn dit Bauk it en groten Unverstand tau En’n gahn.6 Reuters Schilderung der Ereignisse des Jahres 1848 umfasst alle erwähnten Momente – und mehr. Sie geht mit den „halbverdauten politischen Ansichten ins Geschirr“, sie ist humoristisch und satirisch, und sie beschränkt sich auf Schauplatz und Personal in der mecklenburgischen Provinz. Darüber hinaus aber enthält sie eine Darstellung voller Anklage und Mitgefühl, die das Elend der Tagelöhner infolge ihrer Ausbeutung durch schlechte Herren vorführt.
Reformverein I Sehen uns wir einige Passagen in Reuters Darstellung des Jahres 1848 ab Kapitel 35 ein wenig näher an. Nach der eben zitierten Vorbemerkung springt der Autor mitten hinein in seine Gesellschaft und erzählt, wie in Rahnstädt das Interesse an den politischen Ereignissen erwacht. Wenn auch die großen Ereignisse des Weltgeschehens sich weit weg von der mecklenburgischen Provinz abspielen, die Kunde davon dringt gleichwohl dorthin, und zwar durch die Zeitungen. Elf neue Zeitungsabonnements hat der Postmeister bereits bestellen müssen: viermal wurde der konservative Hamburgischer Korrespondent geordert, siebenmal die liberale Vossische Zeitung – ein Verhältnis, das der Postmeister für ein schlimmes Zeichen hält: „denn Tante Vossen unnergröw mit ehre Redensorten de ganzen gesellschaftlichen Taustän’n; sei müggt sick ok nich Slimms dorbi denken, äwer sei ded ’t doch.“ (517) Die Zeitungslektüre ist nicht auf die Honoratioren beschränkt, die sich zu viert je eine Zeitung teilen. Auch die einfachen Bürger, Handwerker zumeist, wollen wissen, wie es in der Welt zugeht. Dafür sorgt der Advokat Rein, der ihnen in der Gastwirtschaft Grammelin aus der Zeitung vorliest und dabei noch die eine oder andere Nachricht hinzu erfindet: wie etwa jene vom Aufruhr unter den Eskimos, die sich weigerten, weiterhin die Erdachse zu drehen, und zwar aus Mangel an Tran, weil der Walfang im Vorjahr so schlecht gewesen sei. Die Reaktionen der Zuhörer, die sich über die erfundenen Ereignisse mehr aufregen als über die tatsächlich Geschehenen, kommentiert der Erzähler mit der Bemerkung, dass die Rahnstädter Bürger für die Zeitung noch nicht reif seien und dass der Mensch eine Sache, die noch nicht direkt betreffe, insgesamt recht kaltblütig ansehe. Dieser Einstieg schildert anschaulich die ständisch differenzierte Zeitungs-Nutzung jener Tage: er zeigt, wie die Nachrichten über das Weltgeschehen unter die Rahnstädter Ho6
Kurt Batt (Hrsg.): Fritz Reuter. Gesammelte Werke und Briefe. Bd. V. Ut mine Stromtid, Rostock 1967 (Reprint Rostock 1990), S. 515. Quellenangaben hieraus erfolgen im Weiteren mit Angabe der Seitenzahl direkt im Text.
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noratioren und Handwerker kommen und wie sie von Letzteren (miss)verstanden werden. Wobei der Erzähler zuletzt eine ironisch kommentierende Bemerkung anschließt – ein Verfahren, das Reuter durchgängig anwendet. Wenig später allerdings rücken die Unruhen näher: die Berliner Postkutsche mit den Zeitungen bleibt aus. Die Rahnstädter stehen im dichten Haufen vor der Posthalterei und fragen sich, was das wohl zu bedeuten habe. Und als die Post auch am folgenden Tag wegbleibt, beginnt man zu munkeln, „in Berlin wir ’t nu ok utbraken“. (518) Am dritten Tag kommt dann wieder eine Postkutsche, zwar nicht aus Berlin, sondern nur aus Oranienburg, aber sie bringt wenigstens einen Menschen mit, der in Berlin gewesen ist. Doch der kann den Rahnstädtern nichts erzählen, weil er sich auf den vorherigen Poststationen schon heiser geredet hatte. Schließlich muss der Passagier pantomimisch mit Armen und Beinen und Stock vormachen, wie es in Berlin beim Barrikadenkampf zugegangen sei. Derart instruiert, „woans ’ne Revolutschon utsach un woans se makt warden müsst“, werden sich die Rahnstädter Kleinbürger, von denen jeder eine Unzufriedenheit mit sich herum trägt, beim Bier rasch einig: „anners müßt t warden un keinen gauden Gang güng’t nich, wenn sei nich ok ehre Revolutschon kregen, d.h. man ’ne lütte.“ (519) Also schaffen sie sich ein Forum zur Artikulierung ihrer Unzufriedenheit und gründen einen Reformverein, und zwar zusammen mit den Honoratioren. Denn die waren inzwischen auch zum Biertrinken gekommen, um sich beizeiten beliebt zu machen, für den Fall, dass es hier losgehen solle. Über die Vereinsgründung merkt der Erzähler ironisch an: „Allens dit geschach in de grötste Ordnung, wat würklich tau bewunnern is, wenn einer bedenken will, dat de ganze Gesellschaft ut untaufredene Lüd’ bestunn, indem dat einzigste taufredene Mitglied von den Verein de Gastwirt Grammelin was.“ (520) Doch mit den Reden, die nun gehalten werden, werden rasch die Differenzen deutlich, und bald verlassen die ersten Mitglieder den Verein. Der Streit entspringt aus den unterschiedlichen materiellen Interessen. Zuerst protestiert der Böttcher dagegen, dass ein Tischler die Rednertonne gebaut habe, denn das sei Böttcherarbeit und gegen die Zunftregeln. Dann beantragt der dicke Bäcker die Erweiterung der Rednertonne, man könne sich darin gar nicht rühren. Doch der Antrag wird abgelehnt, nachdem ein Schneider erklärt hatte: für die Dicken, die sowieso im Fett säßen, sei die Tonne nicht gebaut, sondern für die anderen, die noch nichts auf den Rippen hätten. Weil fortan fast nur noch die Mageren zu Wort kommen, bleiben die Dicken verärgert weg. Und mit ihnen das „ruhige Element“, wie der Erzähler kommentiert. Stattdessen drängen die städtischen Tagelöhner in den Reformverein. Nach den ersten Sitzungen des Vereins schildert der Erzähler die Geschehnisse zeitweilig nicht mehr direkt. Nun berichtet der pensionierte Entspekter Bräsig, die Hauptfigur des Romans, unterwegs auf allen Schauplätzen und damit der ideale Mittler, seinem Freund und Berufskollegen Karl Hawermann alle Neuigkeiten; so wird es möglich, dass beide den Fortgang der Dinge in Rahnstädt und der Welt diskutieren und kommentieren können. Bräsig rapportiert also, dass König Ludwig in Paris weg gejagt worden und dass die Post aus Berlin wieder nicht gekommen sei, und er berichtet über die Debatten im Reformverein.
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Eines Abends kommt er später, denn im Verein sei es hoch hergegangen. Die städtischen Tagelöhner hätten gefordert, die Rahnstädter Feldmark müsse neu ausgemessen werden und jeder Einwohner gleich viel Land bekommen. Was aber die Ackerbesitzer abgelehnt hätten: die seien zwar auch für Gleichheit, ihr Eigentum aber wollten sie behalten. Hawermann sieht sofort, welche Folgen es haben könnte, wenn die Tagelöhner auf dem Lande ihrerseits auf den Einfall kämen, „die Güter zu teilen“. Denn anders als die städtischen Tagelöhner könnten sich die Tagelöhner auf dem Lande auch bei größtem Fleiß kein Stück Eigenland erarbeiten. Setze sich der Gedanke der Güter-Aufteilung bei den ausgebeuteten Tagelöhnern fest, dann werde es zuerst wohl nur auf die schlechten Herren losgehen, und manch einer hätte es wohl auch verdient – „äwer wer steiht uns dorför, dat dat nich ok de gauden dröppt?“ (525) Warnende Worte, die Reuter seinen Zeitgenossen 1863 ins Stammbuch schrieb: im Roman vertreiben die geschundenen Tagelöhner am Ende den schlechtesten der Herrn; in Mecklenburg, und nicht nur dort, hat es 82 Jahre später alle Herren getroffen.
Konflikt-Lösung im Privaten Die Unruhe der Zeit macht selbst vor der Familie des bürgerlichen Gutspächters Nüßler nicht Halt, diesem Musterbetrieb, in dem man die Knechte und Mägde als Menschen behandelt. Die Unruhe hat deshalb auch nicht die Leute erfasst, sondern den Hausherren Jochen Nüßler. Der hatte zwar mit der Heirat vor einem Vierteljahrhundert de facto das Kommando an seine tüchtige Frau abgetreten. Nun will er wegen der unruhigen Zeit ganz aufs Altenteil gehen und die Wirtschaft dem künftigen Schwiegersohn übergeben, der schon auf dem Hof wirtschaftet und endlich heiraten möchte. Das Problem: Frau Nüßler graust es vor dem Ruhestand. Der Dissens spitzt sich zu, als der so phlegmatische wie maulfaule Jochen, der mit drei stereotyp wiederholten Sätzen auskommt („dat is all so as dat is“, „dat is all so as dat ledder is“, „wat sall einer dorbi dauhn“), seinen Tagelöhnern plötzlich eine Rede halten will. Als seine Frau, darüber höchst beunruhigt, ihm das verbietet, stellt er sich erstmals im Leben gegen sie und haut auf den Tisch: alle hielten Reden, ob er ihr dafür zu schlecht sei, und ob er denn nicht der Herr sei? Wiederum fügt der Erzähler eine ironische Bemerkung ein, die auf „die schlimme Zeit“ Bezug nimmt: „Ja, dat Johr 1848 was en schrecklich Johr, kein Regiment würd mihr estimiert, sülwst in dit was de apenbore Ungehursam utbraken.“ (552) Aber Jochen bringt dann doch keine Rede zustande,7 der just anwesende alte Familienfreund Bräsig kann ihn darüber beruhigen und schickt die wartenden Tagelöhner mit dem Versprechen wieder an die Arbeit, der Herr wolle erst im Herbst beim Erntefest reden. Das
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Vgl. dazu Gerhard Schmidt-Henkel: Eine kleine Poetik nicht gehaltener Reden, ausgehend vom 27. Kapitel der „Stromtid“, in: Christian Bunners u. a. (Hrsg.): Fritz Reuter, Ernst Moritz Arndt, Alwine Wuthenow, Rostock 2004 (= Beiträge der Fritz Reuter Gesellschaft 14), S. 56–64.
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Ehepaar versöhnt sich, und Frau Nüßler stimmt erleichtert der baldigen Hochzeit samt der Übergabe der Wirtschaft zu. Reuter demonstriert hier psychologisch klug am emotional aufgeladenen Konflikt um den innerfamiliären Generationen-Wechsel, wie die Machtübergabe mithilfe eines Mittlers schiedlich-friedlich gelöst werden kann. Und das lässt sich auch als Lösungs-Modell für die großen gesellschaftlichen Konflikte lesen.
Reformverein II Sehr anders steht es im Hause Pomuchelskopp. Als sich die Unruhe wie ein Fieber auch unter den Tagelöhnern auf den Gütern verbreitet, wird dem Leuteschinder Pomuchelskopp mulmig zumute. Denn er weiß, dass seine Leute besonders viel Grund zur Unzufriedenheit haben. In ihm streiten Hass und Feigheit, bis er sich aufs Lavieren verlegt: „Wir müssen lavieren, wir müssen lavieren, mit einem vorsichtigen Lavement kommen wir vielleicht durch“ (529).8 Frau und Kinder sollen die Leute ab sofort freundlich behandeln, den Handwerkern in der Stadt will er die Rechnungen bezahlen, seinen Tagelöhnern den Vorschuss erlassen, er selbst aber in die Höhle des Löwen gehen und dem Reformverein beitreten. Tatsächlich wird Pomuchelskopp nach einer kontroversen Diskussion aufgenommen, wobei den Ausschlag der Hinweis darauf gibt, welch ein wichtiger Kunde der Herr Gutsbesitzer mit seiner vielköpfigen Familie für die Handwerker in der Stadt sei. Der Erzähler kommentiert dies sarkastisch so: „De materiellen Interessen bömten sick in Gestalt von Pomuchelskoppen sine Stäweln un Hosen gegen de ideale Brüderlichkeit up; ’t was ’ne harte Slacht.“ (560) Es folgt eine große Diskussion der Frage, „woans de Armaud in de Welt kamen was un worüm dat sei sick noch ümmer in de Welt uphollen ded“ (561), also des politischen Themas Nummer 1 im Europa jener Jahre. Dabei wird beschlossen, an das großherzogliche Schloss zu Rahnstädt das Wort „Nationaleigentum“ schreiben – durch dessen Verkauf könne ein gutes Stück Armut beseitigt werden. Die Sache gefalle ihm, hört Pomuchelskopp einen seiner Tagelöhner dazu sagen, das solle man auch „ok an unsern Herrn sine Husdör“ schreiben.9 8
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Das Wort „Lavieren“ hat schon Georg Weerth benutzt, um das Verhalten des Kaufmanns Preiß zu charakterisieren, als die Revolution dessen Geschäfte zu stören beginnt: „Man muß sich durchlavieren wie ein guter Seeräuber. Wir verdienen nichts mehr, die Geschichte kann nicht länger so fortgehen.“ Vgl. Georg Weerth: Humoristische Skizzen aus dem deutschen Handelsleben (1848), Kapitel 10 „Herr Preiß in Nöten“, in: Jürgen-W. Goette u. a. (Hrsg.): Georg Weerth. Vergessene Texte. Bd. I., Köln 1975, S. 364. Zitate Batt: Fritz Reuter (wie Anm. 6), S. 561 bzw. 566/567. Wieder liefern die revolutionären Vorgänge in Berlin die Handlungsvorlage für Rahnstädt: „Nationaleigentum“ war an das Schloss des Prinzen Wilhelm geschrieben worden, der wegen seines Schießbefehls als „Kartätschenprinz“ verrufen wurde und im März 1848 aus Berlin fliehen musste.
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Dies treibt Pomuchelskopp in die Rednertonne, um den Reformverein für sich zu gewinnen. Doch er überzieht. Er behauptet, dass es Armut nur in den kleinen Städten gebe, „denn unsere Tagelöhner auf dem Lande, die kennen keine Armut“ (568). Und dann zählt er alle Sachleistungen auf, die er seinen Tagelöhnern gebe: vom Wohnkaten über Kartoffelacker und Kuhweide bis hin zum Heizmaterial. Im Übrigen könnten die Tagelöhner jederzeit kündigen und sich eine andere Stelle suchen. Bei diesen Behauptungen platzt Bräsig der Kragen: mit feuerrotem Kopf steigt er aufs Podium und weist nach, dass Pomuchelskopp „an diesem Vaterlandsorte ausgestunkene Lügen in Vortrag gebracht“ (569) habe. Denn dessen Tagelöhner bekämen in Wahrheit die schlechtesten Landstücke, feuchte Wohnungen und nassen Torf und insgesamt halte er seine Tagelöhner so, dass sie anderswo stehlen müssten, um nicht zu verhungern. Die Armut auf dem Lande stamme daher, dass die Tagelöhner auf dem Lande ihre Deputate nicht bekämen. Seine Philippika schließt Bräsig so: „Aber woher stammt sich die Armut in der Stadt? – Mitbürger ich will ’s euch sagen, denn ich leb hier schon lange genug in der Stadt und regardier’ die Menschheit: die große Armut in der Stadt kommt von der großen Powerteh her!“ (571)10 Die Versammlung endet, Pomuchelskopp verdrückt sich, Bräsig aber wird von dessen Tagelöhnern feierlich nach Hause geleitet. Und hier folgt wieder ein Kommentar des Erzählers – diesmal ein moralisches Fazit: Un as Bräsig bi Grammelinen ut de Dör treden ded, stunnen säben Blas’instrumenten vör em in en Halfkreis un prust’ten em mit ‚Heil Dir im Siegerkranz!‘ in de Ogen, un David Berger hadd sick de Brill upset’t un slog mit Grammelinen sinen Billardköh den Takt dortau, dat Unkel Bräsig sick vör Släg wohren müsst. Äwer de Gürlitzer Daglöhners stünnen in en Drümpel üm em rüm, un Wever Rührdanz säd: ,Fürchten S’ sick nich, Herr Entspekter, Sei hewwen uns bistahn, wi stahn Sei wedder bi‘. Un as nu mit Bräsigen en fierlichen Ümtog äwer den Mark un dörch alle mäglichen Rahnstädter Straten hollen würd, gung deese quälte un verkamene Ort in Tru un Ihrborkeit neben em, denn’t was jo dat irste Mal, dat de Welt sick üm ehre Not un ehren Jammer kümmern
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Kursivierung im Original. – Dieser letzte Satz ist rasch berühmt geworden und auch in den Büchmann gelangt. Zumeist wird er verkürzt um die Worte „in der Stadt“ zitiert und so zur bloßen Tautologie gemacht. Dabei sind diese drei Worte wesentlich zum Verständnis. Denn die Armut in de Stadt kommt von der großen Powerteh – ergänze: auf dem Lande, weil die schlechte Lage der Landwirtschaft dazu führt, dass Gutsbesitzer und Gutspächter ebenso wie die Tagelöhner kaum noch in der Stadt kaufen. Diese Lesart des Satzes von Bräsig wird gestützt durch eine Passage in der hochdeutschen Vorfassung der Stromtid, die da lautet: „Es mag paradox klingen, aber der Verfasser findet den Grund der Armuth in den Städten [. . .] hauptsächlich in der Unsicherheit und dem Schwanken der äußeren Verhältnisse der Landwirthschaft überhaupt, vorzüglich des Pächterstandes.“ Vgl. Rudolf Bender (Hrsg.): Manuscript eines Romans (die hochdeutsche Urgestalt der „Stromtid“ von Fritz Reuter), [Halle/Saale] 1930, S. 51; vgl. Georg Ellinger: Die große Armut kommt von der großen Powerteh her, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 13, 1925, S. 155/156.
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ded, un dat Gefäuhl, dat einer nich ganz verlaten is, stickt dat Gaude in de Minschenseel lichter an as alle Vermahnung. (572)11
Verbrüderungsball und Vertreibung Ungeachtet aller Konflikte wird im Reformverein beschlossen, zum Besten der Stadtmusiker einen Verbrüderungsball zu veranstalten: „das heißt“, wie Bräsig seinem Freund Hawermann erklärt, „einen politischen, wo sich alle Stände, Edelleute und Rittergutsbesitzer und Pächter und Bürger mit Frau und Kindern zusammen finden sollten und sich die Hände drücken und mit enander tanzten und meinentwegen auch küßten“. (592) Natürlich geht die Sache gründlich schief. Das fängt schon damit an, dass die Adeligen nur mit ihren Söhnen erscheinen, weil die Frauen plötzlich fürchterliches Zahnweh bekommen hatten und die Töchter verreist waren. Die Verbrüderung funktioniert nur in eine Richtung – die jungen Herren, die besseren Stände, tanzen zwar mit den Handwerkertöchtern, ihre Schwestern aber nicht mit den Handwerksburschen. Auch beim Essen und Trinken werden zwischen „Panschamber“ und billigem Rotwein Standesschranken sichtbar. Und der letzte Versuch von Bräsig mit dem gemeinsamen Singen von Schillers Ode an die Freude endlich Verbrüderungsstimmung in Gang zu bringen, scheitert an wachsender Sanges-Unlust, so dass Bräsig zuletzt unter Tränen ganz allein den Gesang mit den Worten endet: „Seid umschlungen Millionen – Untergang der Lügenbrut!“. Wieder folgt ein Kommentar des Erzählers: „Das war zu stark, das konnten sie nicht vertragen. – ‚Lügenbrut?‘ – Nein, das war zu toll. Ih sie logen ja alle, aber nur, wenn’s nötig war.“ (643) Bräsig ist über das Scheitern des Verbrüderungsfestes, von dem er so viel für die Menschheit erhofft hatte, enttäuscht und erbost, und Reuter nutzt das zu einem grellen Kontrast. Denn Bräsig erfährt in dieser seelischen Verfassung, dass man sich im Nebenzimmer über ihn lustig mache, denn der Winkeladvokat Slusuhr habe gemeint, er könne ja König von Frankreich werden, da er derzeit nichts zu tun habe. Das ist zu viel: Nachdrücklich dementiert Bräsig mit seinem Spazierstock aus Kreuzdorn auf dem Rücken des Notars die Unterstellung, er strebe nach monarchischer Macht. Damit ist der Abend zwar für Bräsig, nicht aber für Pomuchelskopp und seine Familie zu Ende. Dessen Tagelöhner haben sich verabredet, ihren Herrn bei seiner Rückkehr vom Ball nicht wieder auf den Hof zu lassen, weil sie den Menschenschinder nicht mehr als Herrn haben wollen, sondern einen anderen. „Aber alles mit Ordentlichkeit“, wie Rührdanz – nicht zufällig ein Weber, denn er hat als Handwerker eine etwas größere Übersicht als die Tagelöhner – als Wortführer den Leuten immer wieder einschärft: auch wenn Pomuchelskopp sich nicht ordentlich gegen sie verhalten habe, gegen eine gewaltlose Aktion 11 Zur Komposition dieses Kapitels und zur sprachlichen Differenzierung der Reden vgl. Wolfgang Lindow: Gesellschaft und Sprache in der „Rahnstädter Reform“, in: Ulf Bichel u. a. (Hrsg.): Vom Reichtum des Erzählens. Fritz Reuter 1810-1974, München 1975, S. 70–73.
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könne der Großherzog nichts haben.12 Und so wird Pomuchelskopp samt Frau und Töchtern in seiner Glaskutsche ohne körperliche Gewaltanwendung nach Rahnstädt eskortiert und dort dem Bürgermeister übergeben. Nur ein Sohn, der immer gut zu den Leuten war, darf auf dem Hof bleiben. Reuter schildert eine gewaltlose Gewaltaktion, er stellt sie als gerechtfertigt dar. Und er verschweigt nicht, dass der Großherzog das Vertrauen, das Rührdanz in ihn gesetzt hatte, enttäuscht hat: der Weber und die Tagelöhner müssen später ins Gefängnis.13 Der Großherzog nimmt Partei für den Menschenschinder Pomuchelskopp, der seinen Leuten nicht das ihnen Zustehende gegeben und sie unmenschlich behandelt hatte. Damit dementiert Reuter im Grunde die Tendenz der Stromtid, der zufolge gesellschaftliche Konflikte sich ohne Gewalt lösen lassen, sofern jeder der Beteiligten seinen Verpflichtungen in sozialer Verantwortung und in tätiger Mitmenschlichkeit nachkommt.
Finale als Wunschbild Die Darstellung des Jahres 1848 und der Roman selbst enden denn auch in einem Wunschbild: alle Bösen erhalten ihre Strafe und die Guten werden belohnt. Franz von Rambow tilgt als reicher deux ex machina die Schulden seines Vetters, er kauft Pomuchelkopps Gut und heiratet die Tochter des von seinem Vetter entlassenen Inspektors Hawermann. Die geschundenen Tagelöhner bekommen einen neuen guten Herrn und die Liebenden ihre Hochzeit über die Standesschranken hinweg. Adelsstolz, Raffgier und Menschenverachtung werden gebrandmarkt, Humanität, soziales Verantwortungsgefühl und bürgerliche Tüchtigkeit gepriesen. Eine Utopie: Sie lässt jene von Julian Schmidt und den Seinen geforderte ‚poetische Gerechtigkeit‘ walten und sie ist ein moralischer Appell an das Gewissen der herrschenden Klasse, menschliche Gerechtigkeit zu üben – in grundsätzlich kaum veränderten Verhältnissen.14 Kritik an den sozialen Missständen und damit die Forderung nach deren Beseitigung auch angesichts der nachrevolutionären Unmöglichkeit durchgreifender Änderungen – das immerhin hat Reuter Anfang der 1860er Jahre mit der Stromtid zu bieten, als das Bürgertum sich politisch neu zu organisieren begann. Reuter ließ die Frage der gerechten Gesellschaftsordnung nicht fallen und ging damit deutlich über die ‚Dorfgeschichten‘ hinaus, die damals im Schwange waren.
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Zu Weber Rührdanz vgl. Ulf Bichel: Der antirevolutionäre Revolutionär. Zur Funktion des Webers Rührdanz in der „Stromtid“, in: Christian Bunners u. a. (Hrsg.): Fritz Reuter und die ReformBestrebungen seiner Zeit, Rostock 2002 (= Beiträge der Fritz Reuter Gesellschaft 11), S. 68–78, hier S. 68/69. 13 So gewaltlos sind die wenigen, in Mecklenburg tatsächlich geschehenen Tagelöhner-Aktionen nicht verlaufen. Vgl. Kurt Batt: Fritz Reuter. Leben und Werk, Rostock 1967 (Reprint 1990), S. 326. 14 Ebd., S. 326/327.
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Eine längerfristige Veränderungs-Perspektive ist im Schluss-Kapitel angedeutet. Als Bräsig zu sterben kommt, vermacht er einen großen Teil seines Geldes der Schule in Rahnstädt: „denn [...] mit die kleinen Schulkinder ist es ein Jammer!“ (708) Die Bedeutung dieses Vermächtnisses erhellt aus dem nachgelassenen satirischen Fragment De Urgeschicht von Meckelnborg (1874), an dem Reuter zeitweilig parallel zur Stromtid gearbeitet hat. Dort ist Schulbildung eine zentrale Forderung der Tagelöhner an den Herzog. Sie verlangen freie Bahn für alle durch Abschaffung der Privilegien und sie wollen, dass ihre Kinder nicht länger dumm gehalten werden: „[...] lernen müssen unsere Gören was!“15 Da jede gesellschaftliche Veränderung in den Köpfen beginnt, kann man Bräsigs letztwilliges Legat zugunsten der Schule lesen als Reuters Version des alten Verses „unsre Enkel fechten ’s besser aus“.
15 Kurt Batt (Hrsg.): Fritz Reuter. Gesammelte Werke und Briefe. Bd. VII, Rostock 1967 (Reprint 1990), S. 86.
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Kollektives Gedächtnis und Erinnerungsorte der Berliner Hugenotten
Man könnte meinen, über die Identität der Berliner Hugenotten im 19. Jahrhundert zu schreiben, sei ein paradoxes Unterfangen. Denn mit den Hugenotten im 19. Jahrhundert wird eine Minderheit zum Thema, die nach 200 Jahren – man könnte auch sagen: nach mehr als sieben Generationen – Anwesenheit in Berlin ihre Tradition neu erfindet. Wohlgemerkt, nachdem sie mehrheitlich und bestens in den preußischen Ständestaat integriert ist, die französische Sprache und Kultur abgelegt und die deutsche angenommen hat, also gar keine Minderheit mehr ist. In diesem Prozess der Selbstvergewisserung und der Neuerfindung greifen die Nachfahren der einstigen französischen Flüchtlinge reformierten Glaubens auf Versatzstücke der Historiographie und Mythen ihrer Vorfahren zurück, sie generieren aber auch neue Topoi. Zentrale Akteure in dieser Neuerfindung einer hugenottischen Geschichte und Identität sind die Berliner Hugenotten, die auch noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts über eine elitäre, selbstbewusste Schicht und, wie Matthias Asche es formuliert, eine systematisch konstruierte, klar ausgeprägte Gruppenidentität verfügten.1 Und nicht zufällig läuft dieser Prozess synchron einerseits mit dem Abschluss der Akkulturation dieser Minderheit und andererseits der Etablierung des deutschen Nationalstaats unter preußischer Führung. Bei den Hugenotten ist zeitübergreifend eine starke Tendenz zur Erinnerung der eigenen Geschichte zu beobachten. Die Historiographie in der Diaspora setzte quasi zeitgleich mit der Ansiedlung im Brandenburgischen Refuge ein. Von den ca. 170.000 Protestanten, die ab den 1680er Jahren aus Frankreich vor Verfolgung, Zwangskonversion und der Aufkündigung des Toleranzedikts durch Ludwig XIV. geflohen waren, ließen sich ca. 20.000, ausgestattet mit den Privilegien des 1685 erlassenen Edikts, in Brandenburg nieder. Charles Ancillon verbindet in seiner prominenten Denkschrift von 1690 geschickt die faktenreiche Beschreibung dieser Einrichtung Französischer Kolonien, das Einsetzen hugenottischer
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Vgl. Matthias Asche: Neusiedler im verheerten Land. Kriegsfolgenbewältigung, Migrationssteuerung und Konfessionspolitik im Zeichen des Landeswiederaufbaus. Die Mark Brandenburg nach den Kriegen des 17. Jahrhunderts, Münster 2006, S. 608, 651.
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Betriebsamkeit in der Emigration mit dem Lob der Hohenzollerschen Kurfürsten und prägt so die für die hugenottische Erinnerungskultur typische Verbindung von Historiographie und Hagiographie. Einen ersten Höhepunkt erreicht die hugenottische Erinnerungskultur in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als die Akkulturation der einstigen Minderheit so weit vorangeschritten ist, dass die unteren Schichten der Berliner Französischen Kolonie durch Sprachwechsel, Mischehen und Übertritte zu deutschreformierten oder lutherischen Gemeinden in der Berliner Mehrheitsbevölkerung aufgehen. Eine zweite Zäsur lässt sich 100 Jahre später, ab den 1860er/70er Jahren ausmachen, als die nur noch eine Handvoll Familien zählende Kolonieoligarchie diverse Aktivitäten unternimmt, das in Berlin verblichene Bewusstsein für die einstige Französische Kolonie zu revitalisieren. Im 19. Jahrhundert ist noch viel stärker als im 18. das Bemühen zu beobachten, die Orte des kollektiven hugenottischen Gedächtnisses gleichsam zu inventarisieren.2 Das kollektive Gedächtnis nachhaltig zu stabilisieren, Geschichte, Erinnerungsorte und Mythen zu reproduzieren und zu generieren, das war – zumindest für Brandenburg ist dieses Urteil zutreffend – das Privileg der Elite der Berliner Hugenotten. Im Folgenden will ich versuchen, den Zusammenhang von Identität, kollektivem Gedächtnis und Erinnerung darzustellen, die zentralen Gedächtnisorte der Berliner Hugenotten zu rekonstruieren und vor allem ihre Transformation zu beschreiben.3
Kollektives Gedächtnis und Identität Als Identität im engeren, auch hier gebrauchten Sinne wird in der Psychologie die vom Individuum erlebte Kontinuität in Bezug auf sich selbst und seine Lebensbezüge in Vergangenheit und Zukunft verstanden.4 Die Notwendigkeit, sich über einen binären Mechanismus im Wechselspiel von Abgrenzungs- und Solidaritätsstrategien seiner Selbst zu versichern, besteht nicht nur für Individuen, sondern auch für Gruppen.5 Dass die Identität einer Gruppe, vor allem im Kontext von Migration, nicht ein für alle Mal fixiert, sondern 2
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Vgl. Barbara Dölemeyer: ‚Prendre sous notre protection‘. Die Aufnahme von Glaubensflüchtlingen in künstlerischen Darstellungen, in: Sabine Beneke, Hans Ottomeyer (Hrsg.): Zuwanderungsland Deutschland. Die Hugenotten. Ausstellungskatalog des Deutschen Historischen Museums 2005, S. 173–179, hier S. 175. Die folgenden Ausführungen beruhen auf meiner 2010 publizierten Untersuchung zu Akkulturation, Mehrsprachigkeit und Sprachwechsel der Brandenburger Hugenotten. Vgl. Manuela Böhm: Sprachenwechsel. Akkulturation und Mehrsprachigkeit der Brandenburger Hugenotten vom 17. bis 19. Jahrhundert, Berlin 2010. Vgl. Harald Haarmann: Identität, in: Hans Goebl u. a. (Hrsg.): Kontaktlinguistik. Contact Linguistics. Linguistique de contact. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. 1. Halbbd., Berlin, New York 1996, S. 218–233, hier S. 218. Zur Kritik an der simplistischen Ausweitung des Konzepts, v. a. in den Geschichtswissenschaften, vgl. ebd. S. 219. Zur theoretischen Neuformulierung des Konzepts in der feministischen und postkolonialen Theorie, vgl. Aleida Assmann, Heidrun Friese (Hrsg.): Identitäten, Frankfurt/M. 1999, S. 13. Vgl. Haarmann: Identität (wie Anm. 4), S. 222.
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durchaus wandelbar ist, dafür sind die Hugenotten das Beispiel par excellence. Wie man noch sehen wird, haben Migration, Aufnahme und Akkulturation der kollektiven Identität positive Komponenten der Zusammengehörigkeit hinzugefügt. Einig ist man sich in der Forschung darüber, dass Identität über kulturelle Symbole und diskursive Formationen generiert und befestigt wird.6 Sprache und Sprechen, aber auch Erinnern und Erzählen als zugleich vermittelnde und strukturierende Kulturtechniken sind bei der Identitätsbildung einer Gruppe in hohem Grade entscheidend. Dem Soziologen Maurice Halbwachs ist die Einsicht zu verdanken, dass kollektiv geteilte Erinnerungen eine wichtige kohäsive Kraft innerhalb von Gruppen bilden. Dieser Zusammenhang zwischen Gruppe und Erinnerung ist in beide Richtungen wirksam: Die Erinnerungen stabilisieren die Gruppe und die Gruppe stabilisiert die Erinnerung.7 Damit verweist Halbwachs auf den konstruktivistischen Charakter ihres Gedächtnisses: Erinnerungen werden immer wieder neu konstruiert und an wechselnde Bezugsrahmen angepasst, werden also reproduziert und reorganisiert.8 Diese selektive, konstruktivistische und identitätssichernde Auffassung von Erinnerung und Gedächtnis widerspricht der Auffassung von objektiver und neutraler Geschichte, wie sie die historischen Wissenschaften aus einem positivistischen Verständnis heraus formulieren.9 Das Gedächtnis braucht Orte und strebt nach Verräumlichung – darauf verweisen nicht nur die antiken Mnemotechniken, sondern auch Kulturtechniken wie Identitätsstiftung.10 Um Aufnahme ins (kollektive) Gedächtnis zu finden, muss ein Ereignis zunächst zum Objekt, also ‚greifbar’ werden. Als Topos, ‚Figur’ oder Ort kann Erinnerung konserviert werden.11 Die Identität von Gruppen konsolidiert sich um solche Gedächtnisorte, die Symbole ihrer Identität und Orientierungspunkte ihrer gemeinsamen Erinnerung werden. Solche ‚lieux de mémoire‘, als Komponenten sowohl der Geschichte als auch des Gedächtnisses, können topographischer und symbolischer Natur sein. Die vom französischen Historiker 6 Vgl. Assmann, Friese: Identitäten (wie Anm. 4), S. 12. Haarmann geht davon aus, dass Identität die Vorbedingung für die Kultur- und Sprachfähigkeit des Menschen ist. Vgl. Haarmann: Identität (wie Anm. 4), S. 222. 7 Vgl. Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, S. 131 und Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Berlin 1966, S. 7. 8 Vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1999, S. 41/42. 9 A. Assmann versucht, diesen Widerspruch aufzulösen, indem sie nicht die Dichotomie, sondern die Komplementarität von Gedächtnis und Geschichte betont und das eine als Funktionsgedächtnis und das andere als Speichergedächtnis beschreibt. Vgl. A. Assmann: Erinnerungsräume (wie Anm. 7), S. 132–142. 10 Zu Mnemotechniken, der ars memorativa, vgl. Frances A. Yates: The Art of Memory, London 1999. Zum Unterschied zwischen ars und vis memorativa, vgl. A. Assmann: Erinnerungsräume (wie Anm. 7), S. 27–32. 11 Zur Verschmelzung von Begriff und Bild, vgl. J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis (wie Anm. 8), S. 36–38. Zur ‚Redefigur‘, im ganz unrhetorischen Sinne als Verortung eines Diskurses, vgl. Roland Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt/M. 1988.
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Pierre Nora konzipierte Sammlung der Gedächtnisorte der französischen Nation geben beredtes Zeugnis von der Vielgestaltigkeit dieser Orte.12 Nora untersucht nicht, wie Halbwachs, das kollektive Gedächtnis von in raum- und zeitlicher Kopräsenz verbundenen Gruppen, sondern das von abstrakten Gemeinschaften, die sich „raum- und zeitübergreifend über Symbole“ definieren.13 Aus dem Blickwinkel Noras lässt sich nun fragen: Welche Gedächtnisorte konstituieren die hugenottische Identität im Berlin des späteren 19. Jahrhunderts?14 Die Identität der Hugenotten zieht ihre Orientierung aus zahlreichen Legenden, Geschichten, Bildern, Objekten, vor allem aber Texten, die als Gedächtnisorte noch heute unsere Bücher und Museen, vor allem aber unser historisches Bewusstsein ‚bewohnen‘.15 Dabei entspricht die Gestalt dieser Gedächtnisorte genau jenen Praktiken und Medien, die Aleida Assmann in ihrer Habilitationsschrift als materielle Stützen des kulturellen Gedächtnisses identifiziert: Bild, Schrift, Körper und Ort fundieren und strukturieren nach Assmann das kulturelle Gedächtnis und korrelieren mit den individuellen Gedächtnissen.16 Bilder würde man wahrscheinlich nicht ohne Weiteres in der Nähe der zumindest in Bezug auf sakrale Räume dezidiert bilderfeindlichen reformierten Konfession vermuten – dennoch sind es gerade Kupferstiche und Gemälde, die in der hugenottischen Erinnerungskultur sowohl die Deutung der Verfolgung in Frankreich, aber auch der Aufnahme in Brandenburg speichern und stabil halten. Einige von ihnen sind, zumindest und vor allem für das Berliner Refuge, geschichtsmächtig geworden. Sie wurden tausendfach reproduziert und man findet sie in zahlreichen Publikationen, Ausstellungen und Museen. 12
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Vgl. Pierre Nora (Hrsg.): Les lieux de mémoire. 3 Bde., 2. Aufl., Paris 1997. Die Übertragung dieses Paradigmas auf Deutschland mit einer zu Frankreich quer liegenden Kulturgeschichte und politischen Geschichte haben Hagen Schulze und Etienne François versucht. Vgl. Hagen Schulze, Etienne François: (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte. 3 Bde., München 2001. Vgl. A. Assmann: Erinnerungsräume (wie Anm. 7), S. 132. In einigen wenigen Bereichen gerieten die Gedächtnisorte ins Blickfeld der Forschung: E. François äußerte theoretische Vorüberlegungen (vgl. ders.: La mémoire huguenote en Hesse, en Allemagne et dans les autres pays du Refuge, in: Frédéric Hartweg, Stefi Jersch-Wenzel (Hrsg.): Die Hugenotten und das Refuge. Deutschland und Europa. Beiträge zu einer Tagung, Berlin 1990, S. 233–239) und P. Joutard studierte eingehend das Musée du Désert in den Cevennen als Erinnerungsort des französischen und internationalen Protestantismus (vgl. Philippe Joutard: Le Musée du Désert. La minorité réformée, in: Pierre Nora (Hrsg.): Les lieux de mémoire. Bd. 3: Les France, 1. Teilbd.: Conflit et partages, Paris 1992, S. 530–559). Jüngst wurden in einigen Studien von Frühneuzeithistorikern Topoi des (protestantischen) Märtyrerkults in Texten und Visualisierungen des 16. und 17. Jahrhunderts beschrieben, vgl. David El Kenz: Les bûchers du roi. La culture protestante des martyrs 1523–1572, Seyssel 1997; Peter Burschel: Sterben und Unsterblichkeit. Zur Kultur des Martyriums in der frühen Neuzeit, München 2004; Christine Vogel: Zwischen Gewalterfahrung und Heilserwartung. Das hugenottische Geschichtsbild in der Krise, in: Beneke, Ottomeyer (Hrsg.): Zuwanderungsland Deutschland (wie Anm. 2), S. 155–162. Zum bewohnten und unbewohnten Gedächtnis, vgl. A. Assmann: Erinnerungsräume (wie Anm. 7), S. 133. Vgl. ebd. S. 20/21.
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Darstellung von Flucht und Aufnahme der Hugenotten Die Bilder des französischen Protestantismus während der Religionskriege, der Dragonnaden und vor der Flucht aus Frankreich kreisen fast ausnahmslos um Unterdrückung, Martyrium und Widerstand. Das Beispiel par excellence für die Visualisierung der Flucht ist der Kupferstich des Niederländers Jan Luyken.17
Abb. 1: Jan Luyken, Die Flucht der Reformierten (1696)
Luyken deutet die Flucht der Protestanten als Exodus gleichsam biblischen Ausmaßes: Zu Land und Wasser, zu Pferde und Fuße sind Mühsal und Gefahren der aus Frankreich in alle Himmelsrichtungen fliehenden Menschenmassen aller sozialen Schichten dramatisch in Szene gesetzt. Kaum eine mit Abbildungen versehene Publikation über die Hugenotten kommt ohne diesen ‚zeitgenössischen Beleg’ aus. Und wohl nicht zufällig wurde er für den Umschlag des Katalogs der Hugenottenausstellung, die 2005 im Deutschen Historischen Museum Berlins zu sehen war, ausgewählt.18 17 18
Die Abbildung wurde entnommen aus Beneke, Ottomeyer (Hrsg.): Zuwanderungsland Deutschland (wie Anm. 2), S. 385. Heute befindet sich der Kupferstich im Amsterdams Historisch Museum. Die Ausstellung Zuwanderungsland Deutschland. Die Hugenotten war den Hugenotten als Konfessionsmigranten gewidmet, die eine der größten frühneuzeitlichen Migrationsbewegungen europäischen
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Drei wesentliche Komponenten prägten das Selbstverständnis der Hugenotten vor ihrer Flucht aus Frankreich: ihr Glaube, ihre Marginalisierung und ihre Verehrung für den französischen König. Die Verfolgung, die sie aufgrund ihres reformierten Glaubens in Frankreich zu erdulden hatten, veranlasste sie zur Flucht. Sie verließen ihre Heimat mit dem Bewusstsein, ein von Gott auserwähltes Volk zu sein, das sein Schicksal als Strafe und Probe ereilt und dem sie mit Glaubensfestigkeit zu begegnen hätten.19 Mit ins Refuge nahmen sie die Erfahrung demokratisch und autonom funktionierender Gemeinden und ein Verständnis von ihrer Kirche als „Bekenner-, Widerstands- und Märtyrerkirche“.20 Dieses Verständnis gründete maßgeblich auf den Erfahrungen von zunehmender Verfolgung und Marginalisierung nach dem Regierungsantritt von Ludwig XIV. im Jahre 1661. Aber trotz Bedrängnis und Verfolgung zeichnete die Hugenotten eine tiefe „Treue zur weltlichen Obrigkeit“ aus.21 Zu den drei Komponenten Glaube, Verfolgung und Loyalität kamen im Brandenburger Refuge noch drei hinzu: die französische Sprache, die Nähe zum hohenzollerschen Herrscherhaus und der preußische Patriotismus. Das Französische übernimmt im Identitätsgefüge der Réfugiés zwei Funktionen: Nach außen verweist es auf die Hugenotten als Träger der prestigereichen französischen Kultur und wird zum Merkmal einer positiv wahrgenommenen Minderheit.22 Nach innen wirkt die gemeinsame französische Sprache zunächst als ein die Gruppe konstituierendes Moment und wird im 18. Jahrhundert zum wichtigsten Identifikationselement in der Verteidigung der Privilegien.23 Die in gewisser Weise im HeiAusmaßes bewirkten. Gemeinsam mit der zeitgleich präsentierten Ausstellung Migrationen 1500–2005 dokumentierte sie die tiefen historischen Wurzeln Deutschlands als Zuwanderungsland (Ausstellungskatalog: Beneke, Ottomeyer (Hrsg.): Zuwanderungsland Deutschland (wie Anm. 2)). Der Stich wurde beispielsweise abgedruckt auf S. 85 der Sonderausgabe der französischen protestantischen Zeitschrift Réforme von 1985, auf S. 113 im Ausstellungskatalog 300 Jahre Hugenotten in Hessen (1985), in Angelika Baeumerth: 300 Jahre Friedrichsdorf 1687–1987. Aus der Geschichte der Hugenottenstadt im Taunus, Friedrichsdorf 1987, S. 9, in: Gottfried Bregulla (Hrsg.): Hugenotten in Berlin, Berlin 1988, S. 24/25, und im Bildteil von Aimé Bonifas, Horsta Krum: Les Huguenots à Berlin et en Brandebourg. De Louis XIV à Hitler, Paris 2000. 19 Vgl. Eckart Birnstiel: Gruppenidentität und Sozialverhalten der Hugenotten in Brandenburg-Preußen, in: Hartweg, Jersch-Wenzel (Hrsg.): Die Hugenotten (wie Anm. 14), S. 107–128, hier S. 118. 20 Frédéric Hartweg: Die Hugenotten in Berlin, in: Hartweg, Jersch-Wenzel (Hrsg.): Die Hugenotten (wie Anm. 14), S. 1–56, hier S. 14, 18. 21 Vgl. Birnstiel: Gruppenidentität (wie Anm. 19), S. 109, 117. Der Grundzug von Loyalität gegenüber Ludwig XIV. ist auch noch im späten 18. Jahrhundert bei den Historiographen Erman und Reclam anzutreffen, auch wenn aus der retrospektiven Sicht das Bild des französischen Königs leicht modifiziert wird. Vgl. Viviane Rosen-Prest: L’historiographie des huguenots en Prusse au temps des lumières. Entre mémoire, histoire et légende: J. P. Erman et P. C. F. Reclam, ‚Mémoires pour servir à l’histoire des Réfugiés françois dans les Etats du Roi‘ (1782–1799), Paris 2002, S. 243–248. 22 Vgl. Hartweg: Die Hugenotten (wie Anm. 20), S. 33 und Birnstiel: Gruppenidentität (wie Anm. 19), S. 111/112. Diese Fremdwahrnehmung ebnete zweifellos den Weg zur retrospektiven Selbststilisierung der Hugenotten als „messagers du bon goût“. Rosen-Prest: L’historiographie (wie Anm. 21), S. 349. 23 Vgl. Hartweg: Hugenotten (wie Anm. 20), S. 37; ders.: Influence culturelle et intégration linguistique du Refuge huguenot à Berlin au XVIIIe siècle, in: Le refuge Huguenot en Allemagne. Table ronde au C.N.R.S. Institut d’Histoire moderne et contemporaine (23 et 24 mars 1981), Paris 1981, S. 47–55,
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matland schon prädisponierte Loyalität, allerdings noch zum bourbonischen Königshaus, wandelt sich im Brandenburger Refuge zur identifikatorischen Nähe zu den hohenzollernschen Landesherren, zu deren Adoptivkindern sich die Hugenotten selbst ernennen. „Dankbarkeit“, „hugenottischer Untertanengeist“ und eine „Verehrung mit idolatrischen Zügen“ kennzeichneten das Verhältnis zwischen den Hugenotten und den Hohenzollern.24 Verehrung und Nähe zum Kurfürsten bzw. König wächst sich ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einem dezidiert preußischen Patriotismus aus.25 Die Nähe zwischen Hugenotten und Landesherren symbolisiert das Motiv des Empfangs der Migranten durch den Kurfürsten Friedrich Wilhelm. Formgebend war hierfür die
Abb. 2: Johann Jakob Thurneysen d. Ä., Empfang der Réfugiés durch Friedrich Wilhelm, Kurfürst von Brandenburg (1689)
hier S. 52; ders.: Sprache. Identität. Nation. Das Refuge, Frankreich und Deutschland, in: Manuela Böhm u. a. (Hrsg.): Hugenotten zwischen Migration und Integration. Neue Forschungen zum Refuge in Berlin und Brandenburg, Berlin 2005, S. 155–166, hier S. 155 und Birnstiel: Gruppenidentität (wie Anm. 19), S. 110–112 und ders.: Asyl und Integration der Hugenotten in Brandenburg-Preußen, in: Guido Braun, Susanne Lachenicht (Hrsg.): Hugenotten und deutsche Territorialstaaten. Immigrationspolitik und Integrationsprozesse. Les Etats allemands et les huguenots. Politique d’immigration et processus d’intégration, München 2007, S. 139–154, hier S. 141/142. 24 Hartweg: Die Hugenotten (wie Anm. 20), S. 15, Birnstiel: Gruppenidentität (wie Anm. 19), S. 118, 116. 25 Vgl. Rudolf von Thadden: Vom Glaubensflüchtling zum preußischen Patrioten, in: ders., Michelle Magdelaine (Hrsg.): Die Hugenotten 1685–1985, München 1985, S. 186–197 und Etienne François: Vom preußischen Patrioten zum besten Deutschen, in: von Thadden, Magdelaine (Hrsg.): Vom Glaubensflüchtling (wie Anm. 25), S. 198–212.
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Radierung Johann Jakob Thurneysens (d. Ä.) von 1689 nach einem Gemälde von Gregorius Brandmüller, die sich heute in der Berliner Stiftung Stadtmuseum befindet.26 Ein hohes Maß an Ikonizität erreichte dieses Motiv dann bei Daniel Chodowiecki. Zum festen Topos hugenottischer Identität wurde es nicht zuletzt dadurch, dass es das Frontispiz des wichtigsten hugenottischen historiographischen Werks des 18. Jahrhunderts, der 9-bändigen Mémoires pour servir à l’histoire des Réfugiés françois von Jean-Pierre Erman und Frédéric Reclam, bildet.27
Abb. 3: Daniel Chodowiecki, Le grand Electeur reçoit les réfugiés dans ses Etats (Kupferstich, 1784)
Bei Chodowiecki sind die Größe des Flüchtlingszuges, der auf die Porträts von Friedrich III./I., Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. deutende Chronos und der segnende Gestus des Großen Kurfürsten auffällig. Chodowiecki baut damit eine Brücke hugenottischen Gedenkens von der ikonischen Geste des segnenden Christus über den Kurfürsten bis ins
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Die Abbildung wurde entnommen aus Beneke, Ottomeyer (Hrsg.): Zuwanderungsland Deutschland (wie Anm. 2), S. 173. Zu den einzelnen Darstellungen des Motivs, vgl. auch Barbara Dölemeyer: Die Hugenotten, Stuttgart 2006, S. 179–182. Die Abbildung wurde entnommen aus Beneke, Ottomeyer (Hrsg.): Zuwanderungsland Deutschland (wie Anm. 2), S. 56.
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18. Jahrhundert.28 Im 19. Jahrhundert avanciert dieses Motiv der Empfangsszene zum preußischen Gründungsmythos, wie Barbara Dölemeyer schreibt.29 Es findet sich fortan in Gemälden der deutschen Historienmalerei, wie z. B. 1880 bei E. A. Fischer-Cörlin oder 1885 bei Hugo Vogel.
Abb. 4: Ernst Albert FischerCörlin, Empfang des Großen Kurfürsten (um 1880)
Interessanterweise hat E. A. Fischer-Cörlin, der Meisterschüler des einflussreichen Malers und Akademiedirektors Anton von Werner war, in seine historisierende Szenerie einige illustre Persönlichkeiten der französisch reformierten Berliner Gemeinde der 1870er Jahre implantiert, so den Oberkonsistorialrat Fournier, den Inspektor der französischen Gemeinden Roland, den Kirchenältesten Chartron; ganz rechts im Bild steht, hinter der Kurfürstin Sophie Dorothea – Daniel Chodowiecki.30 Das Bild hing bis ins 20. Jahrhundert hinein als eines von vier Ölgemälden im Speisesaal des 1878 von der französisch reformierten Gemeinde erbauten Hospitals auf dem Gelände der Friedrichstraße 129. Die von Hugo Vogel gestaltete Empfangsszene zeigt den Eingangsbereich des Potsdamer Stadtschlosses; im Vordergrund der Kurfürst Friedrich Wilhelm, im Hintergrund rechts die Kurfürstin und links der spätere König Friedrich I. Die größte Fläche des Gemäldes füllt allerdings die vom Chef der Französischen Kommission vorgestellte Gruppe von Réfugiés, die von ihrem Prediger angeführt wird.
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Vgl. Barbara Dölemeyer: ‚Prendre sous notre protection‘. Die Aufnahme von Glaubensflüchtlingen in künstlerischen Darstellungen, in: Beneke, Ottomeyer (Hrsg.): Zuwanderungsland Deutschland (wie Anm. 2), S. 173–179, hier S. 173/174. 29 Vgl. ebd., S. 177. 30 Vgl. Anonym, in: Die Kolonie 5, 1881, S. 25/26. Ich danke Robert Violet, dem Archivar der Französischen Kirche zu Berlin, für die freundliche Überlassung der Fotografie des Gemäldes von FischerCörlin, das sich im Besitz des Hugenottenmuseums Berlin befindet. Abbildung 5 wurde entnommen aus Beneke, Ottomeyer (Hrsg.): Zuwanderungsland Deutschland (wie Anm. 2), S. 176.
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Abb. 5: Hugo Vogel, Der Empfang der Réfugiés durch den Großen Kurfürsten
Das Motiv des Empfangs findet sich auch als Relief-Bildprogramm an Berliner Gebäuden wie dem Roten Rathaus und dem Französischen Dom. Mit der Radierung von Thurneysen beginnend, ist es vom Ende des 17. Jahrhunderts belegt und wird zum festen Bestandteil des hugenottischen und – wie vor allem an den Historienmalereien des Wilhelminismus und den Bildprogrammen an öffentlichen Gebäuden zu sehen ist – preußischen Bildrepertoires. Durch ihr sakrales Szenario, ihre Attribute und Aussagen haben diese Bilder einen hohen Grad an Ikonizität erreicht, wie man sie etwa aus der mittelalterlichen christlichen Malerei kennt. Sie betonen die direkte Zuordnung der Réfugiés zu ihrem Landesherren und transportieren die gleiche Grundidee: die Deutung von Flucht, Widerstand und Aufnahme der Hugenotten als heilsgeschichtlichen Vorgang.
Die Darstellung des hugenottischen Widerstands Schaut man auf die wechselnden Identitätskonstruktionen der Hugenotten, erscheinen sie auf den ersten Blick als gewagter Balanceakt, offenbaren aber bei genauerem Hinsehen den Vorteil effizienter Wandlungsfähigkeit: Mit einer doppelten Identität ausgestattet, verstehen sie sich ab der Mitte des 18. Jahrhunderts als privilegierte, exklusive, elitäre Gruppe von Nachfahren einstiger Flüchtlinge, deren Verfolgung und Neuanfang immer gegenwärtig blieb, die sich aber genauso erfolgreich an die deutsche Mehrheitsgesellschaft akkulturierte.31 Wie Etienne François betont, ist dieses Selbstbild Ausdruck eines starken Überlegenheitsbewusstseins.32 Die französische Muttersprache, sinnfälligsten Ausdruck der Zugehörigkeit zum hegemonialen Kulturmodell Europas im 18. Jahrhunderts, hatten die Hugenotten im Laufe ihrer Akkulturation zwar größtenteils verloren, dafür verfügten sie nunmehr über
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Zur doppelten Identität der Hugenotten am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert, vgl. Böhm: Sprachenwechsel (wie Anm. 3), S. 96–103. Vgl. François: Vom preußischen Patrioten (wie Anm. 25), S. 198.
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staatsbürgerliches Bewusstsein.33 Ihnen gelang es also, Akkulturationsphänomene wie konservativen Royalismus und Borussophilie genauso akkurat in ihre Identitätskonstruktion einzupassen wie die Renitenz und Rebellion ihrer Vorfahren. Symbol für Rebellion und Widerständigkeit wird im 19. Jahrhundert – und vermutlich nicht nur im Berliner Refuge – vor allem durch drei Topoi symbolisiert: Erstens die Kamisarden, die sich mit Radikalität und Gewalt der Verfolgung und Unterdrückung widersetzten und gegen die Truppen Ludwigs XIV. in den Cevennenkriegen einen blutigen Partisanenkrieg kämpften.34 Zum anderen wird die für 38 Jahre im Frauengefängnis der Tour de Constance in Aigues Mortes inhaftierte Marie Durand in der hugenottischen Geschichtserzählung populär, die bis heute als ‚pazifistische Variante‘ zu den Kamisarden verehrt wird und deren legendäre Unbeugsamkeit sich in der angeblich von ihr in die Gefängniswand eingeritzten Botschaft ‚Résister‘ verdichtet.35 Komplettiert wird die Trias aber erst durch die ‚Église de Désert‘, die ‚Kirche der Wüste‘. Als bekennende Untergrundkirche sicherte sie ab 1686 die Kontinuität des französischen Protestantismus, indem sie klandestin die Religion weiter praktizierte. Auch dieses Kapitel hugenottischer Geschichte ist durch ein reichhaltiges und zu Ikonen geronnenes Bildrepertoire illustriert. Eine von diesen im 18. Jahrhundert zahlreichen Darstellungen, die die Versammlung der ‚Église de Désert‘ zeigen, ist der zwischen 1780 und 1785 vom Franzosen Benoît Louis Henriquez geschaffene Stich, der angeblich die Szenerie des Steinbruchs von Lecques in der Nähe von Nîmes darstellt, wo klandestine Gottesdienste zelebriert wurden.36
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Zum staatsbürgerlichen Bewusstsein, vgl. Birnstiel: Gruppenidentität (wie Anm. 19), S. 124. Zu den Kamisarden, vgl. Philippe Joutard: La légende des Camisards, Paris 1977. Zu Marie Durand, vgl. Friedrich Wilhelm Bautz: Marie Durand, in: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon. Begründet und hrsg. v. Friedrich W. Bautz, fortgeführt von Traugott Bautz, Hamm/Westf. 1990, Sp. 1429-1431. Die ‚Kirche der Wüste‘ versammelte schon 1686 ca. 4.000 Bekenner und weitete sich von den Cevennen über das Languedoc bis ins Périgord aus. Sie konsolidierte sich um 1715 in Form eines gut organisierten Systems von Pastoren, Ältesten, Armen- und Hilfsfonds für die Galeerensträflinge und eines im Exil in Lausanne eigens für künftige Pastoren der ‚Eglise de Désert‘ gegründeten Predigerseminars. 1763 verfügte die Kirche der Wüste über 63 Pastoren, die, an wechselnden und geheim gehaltenen Orten und beständig auf der Flucht, Gottesdienste und Abendmahlsfeiern zelebrierten. Vgl. Eckart Birnstiel, Andreas Reinke: Hugenotten in Berlin, in: Stefi Jersch-Wenzel, Barbara John (Hrsg.): Von Zuwanderern zu Einheimischen. Hugenotten, Juden, Böhmen, Polen in Berlin, Berlin 1990, S. 13-152, hier S. 26-28. Die Abbildung wurde entnommen aus Beneke, Ottomeyer: Zuwanderungsland Deutschland (wie Anm. 2), S. 244. Das Original befindet sich im Besitz der ‚Société de l’histoire du protestantisme français‘ (Paris).
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Abb. 6: Benoît L. Henriquez, Réunion au Désert
Der Stich zeigt eine felsige, öde Gegend, in der sich zwischen zwei steil aufragenden Felsen eine große, mehrheitlich städtisch gekleidete Gruppe um einen Geistlichen auf tragbarer Kanzel versammelt hat, während oben auf den Felsen Wachtposten die Umgebung kontrollieren. Der Topos der Wüste war für die Hugenotten ein doppelter Verweis: Zum einen als Zeichen für die entlegenen, wüsten Orte, an denen die klandestinen Gottesdienste stattfanden, zum anderen als biblische Metapher für das von Gott auserwählte Volk Israel, dessen Flucht aus Ägypten in das Gelobte Land auch durch die Wüste führte. Die Rezeption des Motivs blieb im 18. Jahrhundert relativ begrenzt. Das ändert sich im späten 19. Jahrhundert, als es popularisiert wurde. In der Berliner Zeitschrift Die Kolonie, von der gleich noch die Rede sein wird, schreibt Bonnell 1880 über die Wiederentdeckung des Stichs: Dieses [...] Bild ist, nachdem es so manches Jahr hindurch verhältnismässig wenigen bekannt gewesen, vor nunmehr sieben Jahren seiner unverdienten Verborgenheit entrückt worden. Der Verein ‚Réunion’ liess es durch eine vortreffliche Lithographie vervielfältigen, und schon finden wir es in zahlreichen kolonistischen Familien.37 In die Berliner Kolonistenhaushalte hielt diese Darstellung im späten 19. Jahrhundert Einzug vor allem als Abbildung in der anlässlich des 200. Jubiläums des Potsdamer Edikts von Eduard Muret konzipierten und herausgegebenen Geschichte der Französischen Kolonie in Brandenburg-Preußen unter besonderer Berücksichtigung der Berliner Gemeinde, einer im Folio-Format und hoher Auflage erschienenen, reich illustrierten, bis heute weit verbreiteten, wenngleich auf unklarer Quellenbasis beruhenden Chronik.38 Interessanterweise erscheint 37 Waldemar Bonnell: Die Kirche der Wüste, in: Die Kolonie 4, 1880, S. 9. 38 Vgl. Eduard Muret: Geschichte der Französischen Kolonie in Brandenburg-Preußen unter besonderer Berücksichtigung der Berliner Gemeinde. Aus Veranlassung der 200jährigen Jubelfeier am 29. Oktober 1885, Berlin 1885, S. 11. In neueren Publikationen findet sie sich z. B. auf S. 68 der Sonderausgabe der französischen protestantischen Zeitschrift Réforme von 1985, im Ausstellungskatalog 300 Jahre Hugenotten in Hessen. Herkunft und Flucht, Aufnahme und Assimilation, Wirkung und Ausstrah-
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sowohl bei Muret als auch im Artikel von Bonnell die Bezeichnung nicht mehr in Französisch als ‚Église de Désert‘, sondern auf Deutsch als ‚Kirche der Wüste‘: Ein Hinweis darauf, dass Bilder und Inhalte die Zeit überdauern und die dazugehörigen Begriffe und Geschichten nach dem Sprachwechsel auch in die deutsche Sprache transferierbar sind. Oder anders formuliert: Die Bilder sprechen selbst – und das ist ihre eigentliche Funktion, wie Bonnell richtig erkennt, wenn er schreibt: „Es [das Bild, M. B.] wird, wenngleich stumm, doch laut genug zu uns reden von jenen Zeiten der Leiden und Drangsale, die unsere Väter zu bestehen hatten, es wird uns fester in uns selbst machen, und uns fester ketten an unsere theure Gemeinde.“39
Popularisierung und Perpetuierung des Geschichtsbildes im 19. Jahrhundert In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist es um die Erinnerungskultur der Berliner ‚theuren Gemeinde‘ schlecht bestellt. Der Sprachwechsel hat inzwischen alle Schichten der Nachfahren ereilt, die französisch reformierten Gemeinden Brandenburgs sind mehrheitlich der unierten Kirche beigetreten oder eingegangen, die Privilegien und der Koloniestatus schon seit 1809 Geschichte. Ab den 1860er Jahren ist allerdings, von Berlin ausgehend, eine Revitalisierung des hugenottischen Erbes zu bemerken. Erreicht wird die massenhafte Perpetuierung und Popularisierung bereits eingeführter Topoi vor allem durch für diese Zeit typische Aktivitäten wie Vereins- und Zeitschriftengründungen. 1868 gründet sich in Berlin der Verein ‚Réunion‘; zwölf Jahre später wird die Motivation dafür folgendermaßen begründet: Man konnte sich nicht darüber täuschen, dass der alte kolonistische Geist in der großen Masse mehr und mehr entschwinde, dass, je weiter man in eine gewisse Sphäre hinabstieg, die Spuren der Erinnerung an eine große ruhmvolle Vergangenheit immer dürftiger und seltener wurden, dass endlich das Bewusstsein eines gemeinsamen geistigen Bandes sich zum Erschrecken gelockert habe. [...] Schien es doch beinahe, als gliedere sich die Kolonie in zwei scharf getrennte Gruppen. Da waren die Mitglieder des Konsistoriums und der verschiedensten kolonistischen Korporationen [...]. In diesem Bereiche freilich hatte sich kolonistisches Wesen und Denken, das Gedächtnis an die Geschichte der Kolonie treu bewahrt. Diesem Kreise [...] stand eine große Masse gegenüber, welche die Vorteile der Gemeinschaft einheimste.40
lung. Ausstellungskatalog des Museum Fridericianum Kassel, Kassel 1985, S. 238, in: Bregulla (Hrsg.): Hugenotten in Berlin (wie Anm. 18), S. 20, und sie wurde auch 2006 in der Ausstellung des DHM Berlin gezeigt. Vgl. Beneke, Ottomeyer (Hrsg.): Zuwanderungsland Deutschland (wie Anm. 2), S. 244. 39 Bonnell: Die Kirche der Wüste (wie Anm. 37), S. 9. 40 Anonym: Die Réunion, in: Die Kolonie 4, 1880, S. 49.
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Das Milieu, bei dem man, wohl mit einiger Besorgnis, eine gewisse kollektive Amnesie in Sachen hugenottisches Gedächtnis diagnostizierte, wird hier deutlich benannt: Es waren die mittleren und wohl auch unteren bürgerlichen Schichten, auf die man sich konzentrieren wollte, und so gründet sich die ‚Réunion‘ als dezidiert bürgerliche Vereinigung des hugenottischen Mittelstandes, „freie, selbständige Bürger“ mit einem „Gefühl gemeinsamer Interessen“.41 Der Verein will die Teilnahme des Mittelstands an den Berliner hugenottischen Institutionen wie Schulen, Hospital etc. befördern, übernimmt Vormundschaften für die Zöglinge des Waisenhauses und gründet eine Fortbildungsschule, die allerdings 1878 schon wieder eingeht. Er finanziert auch maßgeblich die 1875 von Gymnasiallehrer Eduard Muret gegründete Zeitschrift Die Kolonie, die 1875–77 und 1880–82 erscheint.42 Diese Vereins- und Zeitschriftengründung kann durchaus als Versuch verstanden werden, das in der sozialen und kulturellen großbürgerlichen Elite der Hugenotten intakte Geschichts- und Identitätsbewusstsein auch auf die Mittelschicht zu übertragen. Von Anbeginn des Refuge hatte sich in Berlin eine Art Kolonieoligarchie herausgebildet, bestehend aus ca. 20 Familien, die die leitenden Positionen in Oberkonsistorium, Berliner Konsistorium und in der Kolonieverwaltung über Generationen hinweg besetzten, mit ihren überaus effektiven Netzwerken und Reproduktionsmechanismen in großer räumlicher und geistiger Nähe verbunden waren und als Kulturträger das Fundament für die Bewahrung von Kultur, Sprache und Identität bildeten. Nach 1809, als die Kolonie zwar de jure ihre Existenz eingebüßt hatte, lebte sie in religiösen und lebensweltlichen Zusammenhängen (wie Gemeinde, Schulen, Sozialfürsorge und Sozialeinrichtungen), vor allem aber in der mentalen Disposition der sich weiterhin als Hugenotten empfindenden Kolonieoligarchie weiter. Diese mentale Verfassung ist auch von der Zugehörigkeit zur reformierten Gemeinde und der Beherrschung der französischen Sprache bestimmt, vor allem aber kennzeichnet sie eine bestimmte Geisteshaltung – in obigem Zitat „kolonistischer Geist“, vom Berliner Pastor Jean Henry „Korpsgeist“43 genannt – der sich auch aus der berlinzentrierten, borussophilen Chronik Murets extrahieren lässt. Wie man sich diese Art Geistesbildung praktisch vorzustellen hat, das deutet die Beschreibung einer der Zusammenkünfte der ‚Réunion‘, wie sie an einem Tag im April 1880 stattfand, an:
41 Ebd., S. 50. Dies deckt sich mit Untersuchungsergebnissen zu Akkulturationsphänomenen wie Sprachwechsel, Mischehen, Intergenerationenmobilität, Frequenz von Gottesdienstbesuchen u. ä., die zeigen, dass in der Berliner Kolonie die Akkulturation sozial gesehen von unten nach oben verlief, vgl. Böhm: Sprachenwechsel (wie Anm. 3), S. 128–142. 42 Vgl. Ursula Fuhrich-Grubert: Hugenotten unterm Hakenkreuz. Studien zur Geschichte der Französischen Kirche zu Berlin 1933–1945, Berlin 1994, S. 97–99 und dies.: „Um die verstreuten Gemeindeglieder aus ihrer Isolierung zu vereintem Streben wieder zusammenzuführen“. Zur Geschichte zweier hugenottischer Publikationsorgane (1875–1906), in: dies., Ursula-Marianne Mathieu (Hrsg.): Die Kolonie. Die Französische Kolonie, Bad Karlshafen 2000, S. 7–17. 43 Zu doppelter Identität und Korpsgeist der Hugenotten in der Zeit der Befreiungskriege, vgl. Böhm: Sprachenwechsel (wie Anm. 3), S. 94–103.
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Da kamen nach des Tages Last die wackern Herren zusammen, suchten die Geheimnisse und Rätsel der Réglements [die Kirchenordnung der französisch reformierten Gemeinde Berlins, M. B.] zu entziffern, oder hörten mit Aufmerksamkeit von dem Märtyrium der Väter, wie sie, um die Freiheit des Glaubens zu retten, das schöne, sonnige Frankreich verlassen hätten, hinausgewandert wären in das Elend, um schließlich diese kalte, nasse, unwirtliche Niederung zu erreichen, wo die Menschen so roh, die Sitten so wild, die Äcker so unfruchtbar geschienen; wie sie hier die Fluren mit Fleiß und Mühe bearbeitet, Dörfer gebaut, Kirchen gegründet [...] – alles dies hörten unsere wackern Mitglieder der Réunion und freuten sich der Erzählung und jubelten in ihrem Herzen: ‚Ja, auch ich bin ein Kolon!‘44 Intention und Funktion des Vereins werden hier ganz deutlich: Der Terror von Dragonnaden und Zwangskonversion, die Mühsal und Not der Flucht, wie sie etwa in Luykens Kupferstich aufscheinen, werden reinterpretiert als ein Akt hegemonialen Kulturtransfers, der ein Überlegenheits- und Sonderbewusstsein begründet. Absicht und Wirkung des Vereins und seines Periodikums ist es, Reinterpretationen dieser Art zu liefern, aus der Geschichte einzelne Geschichten, ja Anekdoten selektiv herauszugreifen, diese zu popularisieren und zu perpetuieren. Die in der Zeitschrift Die Kolonie enthaltenen Rubriken und aufgegriffenen Themen entsprechen ganz diesem Sinne: Die meisten der Beiträge sind der Geschichte, vor allem der Berliner Kolonie und ihrer Institutionen, Berichten über die Geschichte und Grundsätze der Berliner Gemeindeverfassung, Rezensionen von so genannter ‚Hugenottenliteratur‘ und der Verbreitung von ‚Gemeindesachen‘ gewidmet. Dabei ist durchaus auch Kritisches zum Konsistorium und zum Umgang mit der 200-jährigen Gemeindeverfassung zu lesen, was Ursula Fuhrich-Grubert als vergeblichen Versuch, „von Seiten einer nicht qua Herkunft, sondern über ihre Bildung sozial aufgestiegenen Gruppe“ interpretiert, die „Geschicke der Gemeinde mitzubestimmen und damit in die Gemeindeelite vorzustoßen“.45 Auffällig ist auch, dass unter der Redaktion von Waldemar Bonnell von 1880–1882 der Blick auch auf andere Orte als Berlin (z. B. auf die Geschichte der uckermärkischen Ansiedlungen in Groß- und Klein-Ziethen oder Strasburg/U.) gerichtet wird. Diese Form der von der Réunion samt Zeitschrift vorgenommenen ‚Vergesellschaftung‘ des kollektiven Gedächtnisses schien wohl auch den mit den Aktivisten der ‚Réunion‘ konkurrierenden Kreisen erfolgsversprechend. Ursula Fuhrich-Grubert ist zuzustimmen, dass die ‚Réunion‘ eine zur Hugenottenelite quer liegende Initiative war und die 1871 gegründete ‚Mittwochsgesellschaft‘ wahrscheinlich als Reaktion seitens der großbürgerlichen Elite darauf erfolgte, womit dieser Verein als „Réunion-Gegenstück der ‚besseren Kreise‘“46 einzuordnen ist. Die Mitgliedsliste dieses Vereins liest sich wie ein Kompendium der Honoratiorenfamilien Berliner Hugenotten. Die ‚Mittwochsgesellschaft‘ hatte durchschnittlich zwischen 50 und 70 Mitglieder, die sich zu monatlichen Zusammenkünften in Form von 44 Anonym: Die Réunion (wie Anm. 40), S. 51. 45 Fuhrich-Grubert: Um die verstreuten Gemeindemitglieder (wie Anm. 42), S. 9. 46 Fuhrich-Grubert: Hugenotten unterm Hakenkreuz (wie Anm. 42), S. 102.
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Versammlungen, Vorträgen und Abendessen trafen. Dieser honorige Kreis, der gleichsam in Personalunion die geistliche und Verwaltungselite der französischen Kirchen Preußens bildet, ist auch maßgeblich an der Ausrichtung des 200. Jubiläums des Edikts von Potsdam 1885 beteiligt. Fuhrich-Grubert zeigt, wie dieses Jubiläum nicht nur deutschlandweit zur Kenntnis genommen wurde, sondern auch, wie es ein geändertes Geschichtsbild reflektiert: Nicht mehr der Stolz auf die Alterität ist zentral, sondern vielmehr die Interpretation des Refuge als Basis für den Aufstieg Preußens.47 Auch aus der ‚Mittwochsgesellschaft‘ geht eine Zeitschrift hervor, die 1887 gegründete Französische Colonie. Ihr Untertitel lautet: Zeitschrift für Vergangenheit und Gegenwart der französisch-reformirten Gemeinden Deutschlands und sie soll das „Gefühl der Zusammengehörigkeit“ unter den räumlich getrennten Kreisen der Mitglieder stärken, das „Band, welches sie alle umschlingt, fester und fester“ knüpfen und „das Interesse für einander und für ihre Geschichte“ aufrechterhalten und fördern.48 1889 gelingt es dem Redakteur Richard Béringuier, ganz im Sinne des hugenottischen Selbstverständnisses als ‚Preußens Adoptivkinder’,49 Kaiser Wilhelm II. dazu zu bewegen, die Zeitschrift „huldvollst anzunehmen“ und die Einsendung an die Königliche Hausbibliothek zu gestatten.50 In noch viel stärkerem Maße als Die Kolonie ist die Französische Colonie historisch ausgerichtet. Das zeigt sich nicht nur daran, dass historische Beiträge den Großteil des Blattes einnehmen, sondern vor allem an ihrem hagiographischen Charakter. Mit biographischen Skizzen und Familiengeschichten berühmter Hugenottenabkömmlinge, populärhistorischen Berichten über die Calvinisten, die Religionskriege in Frankreich, Fluchtschicksale und Koloniegründungen, aber auch Artikel über hugenottisches Brauchtum, Schilderungen des Gemeindelebens in und außerhalb Deutschlands, mit ins Deutsche übersetzten Schriftstücken, Briefen und Chroniken, aus Nachlässen und Archiven für ein breites Publikum aufbereitet, wird eine rhapsodisch-legendenhaft geprägte hugenottische Geschichte generiert. Ursula Fuhrich-Grubert ist zuzustimmen, wenn sie die Funktion der Zeitschrift darin sieht, ein „ ‚Wir-Gefühl‘ zu konstruieren, das auf historischen Ereignissen und der gemeinsamen Abstammung“ beruht.51 Angesichts der Tatsache, dass sich die Berliner Hugenottennachkommen weder in Kultur und Sprache, oftmals noch nicht einmal in ihrer Konfession von den anderen preußischen Untertanen unterscheiden, kommt dem Verweis auf ihre Abstammung eine wichtige Rolle in der Identitätskonstruktion zu. Als Beleg für den oben angesprochenen kolonistischen oder Korpsgeist dienten den Hugenottennachkommen im späten 19. Jahrhundert genealogische Filiationen, die für Eckart Birnstiel Ausdruck eines Selbstbildes als „nostalgisch verklärter Ersatzadel [...] mit sorgsam gehüteten Familien47 Vgl. ebd., S. 17. 48 Anonym, in: Die Französische Colonie, 1887, S. 1. 49 Dieser inzwischen idiomatisch verfestigte Ausdruck wird von den oben erwähnten Historiographen des brandenburgischen Refuge im 18. Jahrhundert, Erman und Reclam, aufgegriffen und populär gemacht. Vgl. Rosen-Prest: L’historiographie (wie Anm. 21), S. 33. 50 Anonym, in: Die Französische Colonie, 1889, S. 109/110. 51 Fuhrich-Grubert: Um die verstreuten Gemeindemitglieder (wie Anm. 42), S. 12.
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stammbäumen“ sind.52 Es ist also nicht verwunderlich, dass in die Zeitschriften auch die Rubrik ‚Stammbaumskizzen‘ Einzug hält. Obwohl diese Rubrik bereits in Die Kolonie eingeführt wurde, nimmt sie in der Zeitschrift Die Französische Colonie an Umfang und Bedeutung deutlich zu, und schon von der ersten Nummer an sind dort ganze Serien von Stammbaumskizzen enthalten. 1887 wird gar der Stammbaum einer als „Vollblutkolonistin“ bezeichneten Hugenottennachfahrin präsentiert, um nachzuweisen, dass es noch rein hugenottische Familien gibt, deren Blut nicht durch Mischehen und andere Bigamien verunreinigt wurde.53 Auch Richard Béringuier, Gründungsmitglied der ‚Mittwochsgesellschaft‘ und Redakteur der Französischen Colonie, der von 1899–1916 im Übrigen auch Vorsitzender des ‚Vereins für die Geschichte Berlins‘ wird, veröffentlicht 1887 die Stammbäume bedeutender hugenottischer Familien.54 Die beiden hier angeführten Vereine und ihre Periodika, aber auch öffentlich gefeierte Jubiläen wie das 200-jährige Jubiläum des Edikts von Potsdam im Jahr 1885 oder überregionale Organisationen wie der 1890 im „reizend gelegenen sauberen Städtchen“55 Friedrichsdorf im Taunus gegründete ‚Deutschen Hugenottenbund‘ wirken als Multiplikatoren der oben angesprochenen historischen Topoi der Hugenotten als religiöse Märtyrer und aufrechte, widerständige Protestanten, die, fest im Glauben, loyal, herrschernah und patriotisch, mit Fleiß und der hegemonialen Kultur ausgestattet, Preußen zum Aufstieg verhalfen. Motive wie die Kirche der Wüste, die Flüchtlingszüge oder die Empfangsszene durch den Kurfürsten sind zu Bildern geronnene Topoi dieses Geschichtsbildes. Entstanden im 17. und 18. Jahrhundert, werden sie im 19. Jahrhundert wirkmächtig und durch Nachdrucke, Lithographien und Neubearbeitung der Sujets vor allem in Zeitschriften und populärhistorischen Publikationen verbreitet. Die Kolonie enthält regelmäßig Reproduktionen von Bildern, Zeichnungen, Gemälden, die diese Topoi zeigen; in der Französischen Colonie findet sich gar eine Rubrik Illustrationen. Dort werden beispielsweise die Empfangsszene, gemalt von E. A. Fischer-Cörlin und von Hugo Vogel, die Illustrationen in Ermans und Reclams Mémoires von D. Chodowiecki und die Kirche der Wüste abgedruckt, erläutert und gedeutet.56 Zur 1890 angefertigten Reproduktion von Vogels Gemälde heißt es: „Wir empfehlen das Bild als geeignetes Weihnachtsgeschenk für eine Colonie-Familie“ und „Möge vorstehend beschriebenes Bild recht viele Wohnstuben unserer Colonie-Familien schmücken“.57 Philippe Joutard attestiert den Hugenotten einen eigentümlichen Willen zur „Imprägnierung mit Geschichte“ und ein Gedächtnis „de longue durée“.58 Das kollektive Gedächt52 Birnstiel: Gruppenidentität (wie Anm. 19), S. 127. 53 Vgl. Anonym, Die Französische Colonie 1887, S. 76. 54 Vgl. Richard Béringuier (Hrsg.): Die Stammbäume der Mitglieder der Französischen Colonie in Berlin, Berlin 1887. 55 Die Französische Colonie 1890, S. 144. 56 Die Kolonie 1881, S. 25/26; Die Kolonie 1881, S. 61; Die Französische Colonie 1887, S. 151; Die Kolonie 4, 1880, S. 9. 57 Anonym: Die Französische Colonie 1890, S. 175 58 Joutard: Le Musée du Désert (wie Anm. 14), S. 532/533.
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nis nachhaltig zu stabilisieren, Geschichte, Erinnerungsorte und Mythen zu reproduzieren und zu generieren, das war – zumindest auf das Brandenburger Refuge trifft das zu – das Privileg der Elite der Berliner Hugenotten. Die Hugenotten in den Landkolonien von Prignitz bis Uckermark, deren Akkulturationsprozess deutlich schneller ablief, waren an der Etablierung und Perpetuierung des kollektiven Gedächtnisses kaum beteiligt.59 Hatte die hugenottische Historiographie im 18. Jahrhundert noch das Erinnern innerhalb der hugenottischen Gemeinschaft und das Herkunftsland im Blick, ging es im späten 19. Jahrhundert auch darum, die Hugenotten dem allgemeinen Vergessen zu entreißen – vor allem aber, wie Etienne François betont, im Zuge der Reichseinigung die Hugenotten als unlöslich mit Preußen verbunden und somit Bestandteil der preußischen Ahnengalerie zu präsentieren. Der angebliche Ausspruch Bismarcks von den Hugenotten als den „besseren Deutschen“ gibt beredtes Zeugnis davon.60 In dem von Hagiographie und Reinterpretation geprägten kollektiven Gedächtnis der Hugenotten werden die Komplexität und Ambivalenz von Flucht, Niederlassung und Akkulturation dieser Minderheit eingedampft auf wenige Topoi und Anekdoten, die nicht nur die hugenottische Erinnerungskultur, sondern bis heute auch das Bild der Hugenotten in der nationalen Historiographie Deutschlands entscheidend mitprägen. Das Gedächtnis selbst wird zum Schöpfer von Geschichte; erst die Gedächtnisorte passen Erinnerung ein in eine Sinnkonfiguration und konstruieren so Identität. Durch ihre andauernde Reproduktion – auch im grafischen Sinne des Wortes – werden sie fixiert und Raum und Zeit überbrückt. Um das eingangs skizzierte Paradox wieder aufzunehmen, lässt sich, in Anlehnung an Pierre Noras Urteil, dass vom Gedächtnis so viel gesprochen werde, weil es keines mehr gebe, mit Aleida Assmann auf den retrospektiven Charakter der Erinnerung verweisen: Es wird erst etwas erinnert, wenn es vergangen ist.61
59 60 61
Zum Stadt-Land-Unterschied des Akkulturationsvorgangs, vgl. Böhm: Sprachenwechsel (wie Anm. 3). Vgl. François: Vom preußischen Patrioten (wie Anm. 25), S. 202. Vgl. A. Assmann: Erinnerungsräume (wie Anm. 7), S. 11.
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‚Alt-Berlin‘ im Märkischen Museum Musealisierung als Strategie der Modernisierung
In der Ausgabe des Vorwärts vom 1. Mai 1929 findet sich eine Reklameanzeige für die Zigarettenmarke ‚Josetti Juno‘, die eine Ansicht des Märkischen Museums wiedergibt. Die Unterschrift lautet: „Der Roland von Berlin beschirmt die im Märkischen Museum ruhenden historischen Schätze der Mark Brandenburg. An ihm vorüber flutet die Neuzeit, die als eine ihrer besten Gaben bietet: Josetti Juno, Berlins meistgerauchte 4 Pfennig Cigarette“. Trotz ihrer Banalität ist diese Anzeige eine genauere Betrachtung wert, schlägt sich in ihr doch eine Anordnung von Gegenwartswahrnehmung und Geschichtsbewusstsein nieder, der die unbekannten Macher dieser Werbung offenkundig populäre Überzeugungskraft zutrauten. Die Szene suggeriert großstädtisches Straßenleben. Passanten bevölkern das Trottoir, im für damalige Verhältnisse dichten Automobilverkehr sticht ein moderner Doppeldeckerbus hervor. Mitten im Trubel steht das Märkische Museum da wie eine Mischung aus mittelalterlicher Burg, Kirche und Rathaus. Der Text hebt auf diesen Gegensatz ab, wenn er die „ruhenden Schätze“ der Mark der „flutenden“ Neuzeit entgegensetzt. Das Thema der in das Mittelalter zurückreichenden älteren Stadtgeschichte wird auch durch den Berliner Bären mit der heraldischen Stadtkrone aufgerufen, der einen Job als Zigarettenverkäufer übernommen hat. Dem Bären gegenüber befindet sich eine andere Figur mit mittelalterlicher Konnotation, der Roland neben dem Haupteingang des Märkischen Museums, der laut Reklametext die Schätze der Mark beschirmt. Tatsächlich handelt es sich bei dieser Monumentalskulptur, die sich noch heute am gleichen Standort befindet, um eine 1905 gefertigte Kopie des steinernen Roland von Brandenburg an der Havel von 1474, der ursprünglich auf dem Marktplatz der Neustadt aufgestellt war und sich heute neben dem Portal des Altstädtischen Rathauses erhebt. Die Berliner Kopie des Roland warb im öffentlichen Straßenraum für den Museumsbesuch, repräsentierte die Sammlungen, bekundete den regionalgeschichtlichen Anspruch des ‚Märkischen Provinzial-Museums‘ und fügte sich optisch ein in die von Stilzitaten der Backsteingotik geprägte, der Spreeseite zugewandte Hauptfassade des Museums. Drückt das Reklamebild nun eine Entgegensetzung von Moderne und Tradition aus, wie es den Anschein hat? Oder treten die beiden Motivkreise eher in ein Verhältnis der gegenseitigen
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Abb. 1: Zigarettenreklame aus dem Vorwärts vom 1. Mai 1929
Ergänzung, der Kompensation? Und wie lässt sich, überträgt man das Werbemotiv auf die allgemeinen Fragen nach der öffentlichen Geschichtsvermittlung um 1900, die Rolle des Museums im Modernisierungsprozess der Stadt näher charakterisieren? Unter den Passanten auf der erwähnten Abbildung erkennt man eine recht große Menschenschar, die dem Haupteingang des Märkischen Museums zuströmt – ganz im Gegensatz zur heutigen Lage, möchte man bedauernd hinzufügen. Tatsächlich erfreute sich das Märkische Museum bis zu seiner kriegsbedingten Schließung 1939 außerordentlicher Beliebtheit beim Publikum, wie der seit 1926 amtierende Direktor Walter Stengel in seinen Erinnerungen mitteilte.1 Dies hatte ohne Zweifel mit der besonderen ästhetischen Ausstrahlung des Museums zu tun, die sowohl in der auf den ersten Blick historisierenden, im Grunde aber 1
Walter Stengel: Chronik des Märkischen Museums der Stadt Berlin. Im Auftrag des Senators für Volksbildung, Berlin 1953 [maschinenschriftliches Manuskript], in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte, Bd. 30, 1979, S. 7–51.
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hochmodernen Architektur der Kaiserzeit ihre Wurzel hatte, als auch in der Inszenierung der Ausstellungssäle, die zu den Höhepunkten der Museumseinrichtungen im wilhelminischen Deutschland gerechnet werden darf.2 Das 1876 als Institution gegründete Museum war zum Zeitpunkt der Josetti-Reklame erst seit zwei Jahrzehnten in dem vom Berliner Stadtbaurat Ludwig Hoffmann errichteten Neubau untergebracht, der am 10. Juni 1908 eröffnet worden war. Der Standort, das Nordufer der Spree am Kreuzungspunkt von Wallstraße und Waisenstraße, war durch die damals noch existierende Waisenbrücke mit dem Quartier um den Alexanderplatz verbundenen und befand sich damit an der Stelle des Übergangs zwischen diesem, spätestens seit Döblins gleichnamigem Roman von 1929 sinnbildhaften Ort der Metropole auf der einen, dem ruhigeren Rückzugsraum des Köllnischen Parks auf der anderen Seite. Der Architekt hat die Absichten seiner Museumsarchitektur und -inszenierung in zwei aufschlussreichen Texten dargestellt, seinen Erläuterungen zu einer 1908 in der Reihe Neubauten der Stadt Berlin erschienenen Bildmappe, die die Raumgestaltung zum Zeitpunkt der Museumseröffnung in vorzüglichen fotografischen Aufnahmen von Ernst von Brauchitsch festhielt, und in seinen 1983 aus dem Nachlass edierten Lebenserinnerungen.3 In seiner Beschreibung des Märkischen Museums schildert Hoffmann das Museum als eine Sphäre zwischen urbaner Gegenwart und nostalgischer Besinnlichkeit. So schreibt er beispielsweise über die Situation an der zum Köllnischen Park gewendeten Fassade. Einen schmalen Weg führte ich von hier seitwärts zu einem stillen Plätzchen mit einer Bank, einer ruhigen Stelle, wie sie inmitten einer Großstadt sonst wohl kaum zu finden ist. Man sitzt da unbemerkt und frei von jedem Lärm gegenüber einer mit Reben bewachsenen Wand des Museums. Ein reicher, in feinem Maßstab detaillierter Renaissanceerker schaut aus den Reben hervor. Hier in aller Ruhe, dachte ich, könne vielleicht ein Schauspieler seine Rolle lernen, ein Dichter seine Verse schmieden, oder vielleicht auch einmal ein junges Pärchen in glücklichen Zukunftsträumen schwelgen.4 In diesen Intentionen Hoffmanns verbinden sich spätromantische Motive der Zweisamkeit in der Natur mit dem Eintauchen in die Geschichte. Aus der Simulation des ‚historischen‘ Ambientes entsteht ein Schutzraum, der die moderne, urbane Erfahrung der Entfremdung 2
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Martin Engel: Kulturhistorisches Museum kontra Rumpelkammer. Das Märkische Provinzialmuseum, in: Alexis Joachimides u. a. (Hrsg.): Museumsinszenierungen. Zur Geschichte der Institution des Kunstmuseums. Die Berliner Museumslandschaft 1830–1990, Basel 1995, S. 122–141; Susanne Härth: Ein Museumsbau als Stadtemblem. Die Baugeschichte des Märkischen Museums, in: Alexis Joachimides, Sven Kuhrau (Hrsg.): Renaissance der Kulturgeschichte? Die Wiederentdeckung des Märkischen Museums in Berlin aus einer europäischen Perspektive. Im Auftrag der Richard-SchöneGesellschaft für Museumsgeschichte e. V. und der Stiftung Stadtmuseum Berlin, Dresden 2001, S. 181–195. Neubauten der Stadt Berlin [. . .], mit einem beschreibenden Text von Ludwig Hoffmann, Bd. 8, Märkisches Museum, Berlin 1909; Ludwig Hoffmann: Lebenserinnerungen eines Architekten. Hrsg. v. Wolfgang Schäche, Berlin 1983 (= Die Bauwerke und Kunstdenkmäler von Berlin, Beiheft 10). Neubauten der Stadt Berlin (wie Anm. 3), S. 174.
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Abb. 2: Ernst von Brauchitsch: Köllnischer Park mit Kapellenflügel des Märkischen Museums, 1909 (Tafel 4 aus der Mappe: Neubauten der Stadt Berlin [. . .], mit einem beschreibenden Text von Ludwig Hoffmann, Bd. 8, Märkisches Museum, Berlin 1909)
zu heilen scheint. Ganz in diesem Sinn schreibt das Berliner Tageblatt in seiner ausführlichen Besprechung anlässlich der Eröffnung des Märkischen Museums: „Inmitten der modernen Geschäftshäuser steht das neue Museum mit seinem hohen Turm da wie ein romantischer Künstlertraum, der uns in die Zeiten des Mittelalters zurückversetzen soll“.5 Hier erscheint das Museum ganz und gar als Gegenwelt zur Großstadt. Ebenso wie jedoch öffentliche Parkanlagen in der Stadt realiter ein integraler Bestandteil der Urbanität sind, so war auch das Märkische Museum nicht nur Projektion einer vormodernen Mark Brandenburg, sondern funktionales Element in dem Prozess der Metropolenbildung, der Berlin zwischen den 1860er Jahren und 1920 von der preußischen Residenz zu einer europäischen Industriemetropole verwandelt hat. Wie bei fast allen Neugründungen kulturhistorischer Museen standen auch beim Märkischen Museum bürgerliche Geschichtsvereine und gelehrte Gesellschaften Pate.6 Bereits bei seiner Gründung 1865 hatte 5 6
O. T. [Besprechung zur Eröffnung des Märkischen Museums], in: Berliner Tageblatt, 27. 5. 1908. Kai Michel: Das Museum und seine Vereine, in: Reiner Güntzer (Hrsg.): Jahrbuch Stiftung Stadtmuseum Berlin. Bd. 6, 2000, Berlin 2001, S. 62–83; Kai Michel: „In Berlin höchst wunderbar / buddelt man das ganze Jahr“. Gedanken zu Trägergruppen und Adressatenkreisen des Märkischen ProvinzialMuseums, in: Joachimides, Kuhrau (Hrsg.): Renaissance der Kulturgeschichte? (wie Anm. 2), S. 151–
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der Verein für die Geschichte Berlins die Einrichtung einer Sammlung zur Stadtgeschichte betrieben. Ähnliche Vorstellungen wurden innerhalb der Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte (AEU) gepflegt, die in der Folgezeit insbesondere unter der Führung von Rudolf Virchow am Aufbau der prähistorischen Sammlung des Märkischen Museums großen Anteil haben sollte.7 Nach der Reichsgründung 1871 schuf der Berliner Magistrat durch die Einrichtung einer Verwaltungsabteilung ‚Sammlung‘ die Voraussetzung für eine Museumsgründung, die dann am 9. Oktober 1874 förmlich erfolgte. Der Jurist und Verwaltungsfachmann Ernst Friedel, gemeinsam mit Virchow einer der führenden Köpfe im Umfeld der AEU und des Vereins für die Geschichte Berlins, wurde zum ‚Kommissarius für Archiv, Bibliotheken und Sammlungen‘ berufen, im neu errichteten Roten Rathaus wurden Räume für die Unterbringung der Sammlung geschaffen, erste öffentliche Ausstellungen schlossen sich an. Die Sammlungsgegenstände entstammten drei Quellen. Zunächst den Sammlungen des Vereins für die Geschichte Berlins selbst. Sodann handelte es sich um Kunstwerke und Gegenstände von historischem Interesse aus dem städtischen Besitz, die durch die Aufgabe bzw. den Abbruch des Köllnischen und des Berlinischen Rathauses heimatlos geworden waren und einer Unterbringung bedurften. Und schließlich stammten die Museumsobjekte aus Sammlungsaufrufen, die die Museumsleitung an Kirchengemeinden, Schulen, städtische Einrichtungen wie etwa die Feuerwehr und nicht zuletzt an Privatleute gerichtet hatte. Laut Auskunft der Verwaltungsberichte des Märkischen Museums erhielt die neue Institution bis 1883, also innerhalb des ersten Jahrzehnts, Schenkungen von über 1.500 Personen. 15 Jahre nach der Gründung belief sich der Bestand bereits auf 64.000 Gegenstände: prähistorische Funde, Gegenstände der Zünfte und des Gewerbelebens, mittelalterliche Holzskulpturen aus den Kirchen, Ansichtengrafik, volkskundliche Objekte, Dokumente, Urkunden, Memorabilia aller Art. Hierauf gestützt konnten Friedel und seine Mitarbeiter auf den Bau eines eigenen Museumsgebäudes drängen. 1896 wurde der Berliner Stadtbaurat Ludwig Hoffmann mit dem
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165; zur Geschichte des Märkischen Museums vgl. auch: Herbert Hampe: Das Märkische Museum, Berlin o. J. [1958]; Das Märkische Museum und seine Sammlungen. Festgabe zum 100jährigen Bestehen des kulturhistorischen Museums der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik im Jahre 1974, Berlin 1974; Xenia Vordank: Auswahlbibliographie zur Geschichte des Märkischen Museums, in: Jahrbücher des Märkischen Museums, Bd. 2, 1976, S. 93–99; Bd. 3, 1977, S. 101–105; Bd. 4, 1978, S. 147–152; Bd. 5, 1979, S. 149–165; Kai Michel: Die Geschichte des Märkischen ProvinzialMuseums, in: Güntzer (Hrsg.): Jahrbuch (wie Anm. 6), Bd. 2, 1996, S. 180–195; Sven Kuhrau, Kurt Winkler: Strandgut der Geschichte. Die Sammlungen des Märkischen Museums aus historischer Perspektive, in: „. . . schaut auf diese Stadt!“ Die Geschichte Berlins. Ausstellungskatalog Stiftung Stadtmuseum Berlin, Berlin 1999, S. 10–45. Brent Maner: Die Entdeckung der Vor- und Frühgeschichte. Begegnungen mit der Vorzeit durch das Märkische Provinzial-Museum, in: Joachimides, Kuhrau (Hrsg.): Renaissance der Kulturgeschichte? (wie Anm. 2), S. 166–180; Kai Michel: „Wenn uns Virchow ruft mit Macht, buddeln wir selbst in der Nacht“. Rudolf Virchow und das Märkische Provinzial-Museum, in: Güntzer (Hrsg.): Jahrbuch (wie Anm. 6), Bd. 8, 2002, S. 89–104.
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Neubau am Köllnischen Park beauftragt, der, wie erwähnt, 1908 eröffnet wurde. Damit betrat nun die Stadt Berlin die Museumsbühne und setzte den monumentalen Neubauten der königlichen Museen auf der Museumsinsel selbstbewusst einen eigenen, kommunalen Akzent entgegen. Stadt und Bürgerschaft hatten durch Sammlungsbildung und Museumsbau eine Art kollektiver und gegenständlicher Geschichts(ein)schreibung vorgenommen, die durchaus nicht deckungsgleich war mit der ‚Hochkultur‘ der fürstlichen Sammlungen und der preußischen Museen, die um 1900 noch durchaus einem dynastischen und nationalen Repräsentationsanspruch zu genügen hatten. Wie verhält sich nun die Akzentuierung der märkischen und berlinischen Geschichte im Märkischen Museum zu der eingangs erwähnten rapiden Modernisierung Berlins? Zunächst liegt es auf der Hand, dass der Abriss älterer Bausubstanz, aber auch die Verwaltungsmodernisierung und die wirtschaftliche Dynamik – etwa durch die Entwertung zünftiger Traditionen im modernen Innungswesen – Gegenstände von historischer Bedeutung aus ihrem Gebrauchszusammenhang gelöst und ins Museum ‚gespült‘ hatte. So stieß der Besucher des Märkischen Museums beispielweise auf den ‚Innungssaal‘, einen holzgetäfelten, mit Wandvitrinen und einem zentralen Schautisch von gewaltigen Ausmaßen versehenen NeorenaissanceRaum, der Zunftladen, Innungszeichen, Zunftfahnen und Willkommpokale barg.
Abb. 3: Ernst von Brauchitsch: Märkisches Museum, Innungssaal, 1909 (Tafel 46 aus der Mappe: Neubauten der Stadt Berlin [. . .], mit einem beschreibenden Text von Ludwig Hoffmann, Bd. 8, Märkisches Museum, Berlin 1909)
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Das ganze, höchst sorgfältig arrangierte Ensemble stellte ein begehbares und erlebbares Geschichtstableau dar, das dem Bewohner der modernen Industrie- und Verwaltungsmetropole Berlin das Idealbild mittelalterlich-zünftiger Ordnung vor Augen führte. Schon in der Gründungsphase des Märkischen Museums seit 1876 hatte man größten Wert auf die Gewinnung und Bergung von Sachzeugnissen der älteren und ältesten Geschichte gelegt, beginnend mit frühgeschichtlichen Bodenfunden bis hin zu Bauspolien mittelalterlicher Bauten. Aktiv kümmerte sich das Museum um Bodenfunde, die bei Fundamentierungsarbeiten, beim Chausseebau oder bei der Ausbaggerung der Wasserwege zutage traten. In erheblicher Anzahl gelangten Bauspolien – Türgewände, Bauplastik, schmiedeeiserne Gitter usw. – in die Museumssammlungen. So liest sich das vom Museumskustos Rudolf Buchholz 1890 veröffentlichte Verzeichnis der im Märkischen ProvinzialMuseum [...] befindlichen Berlinischen Alterthümer bereits wie ein Cicerone des untergegangenen Alt-Berlin.8 Auf diese Sammlungen und viele weitere Spolien, die seither aus niedergelegten älteren Bauten ins Museum gelangt waren, griff Ludwig Hoffmann bei der
Abb. 4: Ernst von Brauchitsch: Märkisches Museum, Kapelle, 1909 (Tafel 40 aus der Mappe: Neubauten der Stadt Berlin [. . .], mit einem beschreibenden Text von Ludwig Hoffmann, Bd. 8, Märkisches Museum, Berlin 1909) 8
Rudolf Buchholz: Verzeichnis der im Märkischen Provinzial-Museum der Stadtgemeinde Berlin befindlichen berlinischen Alterthümer von der ältesten Zeit bis zum Ende der Regierungszeit Friedrichs d. Großen, Berlin 1890.
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Gestaltung und Einrichtung des Museumsbaus am Köllnischen Park systematisch zurück. Insbesondere bei der Gestaltung der Gotischen Kapelle kombinierte er originale spätgotische Bauskulptur, etwa Konsolen oder Gewölbe-Schlusssteine aus der Halle des 1890 zerstörten Hauses Köllnischer Firschmarkt 5, mit Kopien von Bauskulpturen und Stilzitaten dieses und weiterer Gebäude des mittelalterlichen Berlin wie der Klausur des Franziskanerklosters oder der Heilig-Geist-Kapelle.9 Ein besonders aussagekräftiges Beispiel für Hoffmanns Strategie einer inszenatorischen Versöhnung von Geschichte und Gegenwart ist die Musealisierung der Berliner Gerichtslaube. Die lebhaften und kontroversen Diskussionen, die in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts um die Erhaltung oder den Abriss der Gerichtslaube geführt wurden, hat Felix Blankenstein 1991 im Bär von Berlin ausführlich dargestellt.10 Neben der Nikolaikirche war die vor 1300 errichtete Gerichtslaube das älteste erhaltene Bauwerk Berlins. Sie diente u.a. der Abhaltung öffentlicher Gerichtsverfahren und war daher Symbol der mittelalterlichen städtischen Gerichtsbarkeit und Selbstverwaltung. Die Gerichtslaube verkörperte also gewissermaßen die bürgerschaftliche Eigengeschichte der Stadt, eine Tradition, die auf die Zeit vor dem Machtantritt der Hohenzollern 1411 zurückging. Mitte des 16. Jahrhunderts hatte man die offenen Bogenstellungen des Erdgeschosses vermauert und damit einen geschlossenen Baukörper geschaffen, der sich in der Spandauer Straße an den westlichen Giebel des alten Berlinischen Rathauses in der Königstraße anlehnte. Ein aus dem Jahr 1867 stammendes Gemälde von Carl Graeb überliefert diese stadträumliche Situation. Für den Neubau des 1869 fertiggestellten Roten Rathauses wurde das Berlinische Rathaus abgebrochen. Übrig blieb zunächst der heruntergekommene Torso der Gerichtslaube, der nun der notwendigen Verbreiterung der Spandauer Straße im Weg stand. Das bedeutendste Zeugnis des mittelalterlichen Berlin im Bereich der Profanarchitektur war damit in einem ganz materiellen Sinn zum Modernisierungshindernis geworden. Über das weitere Schicksal der Gerichtslaube entbrannte nun eine jahrelange, erbitterte Auseinandersetzung zwischen der Stadtverwaltung bzw. der Stadtverordnetenversammlung auf der einen, den zuständigen Landesbehörden auf der anderen Seite. Dieser Behördenstreit wurde begleitet von einer lebhaften öffentlichen Debatte. Für die Erhaltung der Gerichtslaube in situ setzten sich Ferdinand von Quast, der Königlich Preußische Konservator der Kunstdenkmäler, und eine Minderheitsfraktion der Berliner Bürgerschaft ein, die sich im Verein für die Geschichte Berlins organisierte. Die von ihnen favorisierte Lösung sah vor, 9
Ich danke Peter Knüvener für den freundlichen Hinweis auf den im August 2011 erscheinenden Bestandskatalog der mittelalterlichen Bildwerke der Stiftung Stadtmuseum Berlin, in dem er diese Zusammenhänge ausführlich darstellt; vgl. auch Peter Knüvener: „. . . unsere mit besonderer Liebe gepflegte kirchliche Abteilung . . .“ Zur Geschichte der Sammlung mittelalterlicher Kunst im Märkischen Museum, in: Kurt Winkler (Hrsg.): Gefühlte Geschichte. 100 Jahre Märkisches Museum, Berlin 2008, S. 101–108. 10 Felix Blankenstein: Die mittelalterliche Berliner Gerichtslaube. Hintergründe für ihre Preisgabe durch die Stadt Berlin, in: Der Bär von Berlin 40, 1991, S. 69–88.
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Abb. 5: Carl Graeb: Das alte Berliner Rathaus mit der Gerichtslaube, Öl/Lwd., 1868 (Stiftung Stadtmuseum Berlin)
die Bogenstellungen der Gerichtslaube wieder zu öffnen und das sanierte Gebäude als Arkadengang in den Bürgersteig zu integrieren. Diese Lösung hätte allerdings noch immer die neue Spandauer Straße eingeengt und stand somit im Konflikt mit einer großzügigen, ‚modernen‘ Verkehrsplanung an dieser belebten Stelle der Innenstadt. Für den Abriss kämpften die Stadtverordnetenversammlung und nach anfänglichem Zögern auch der Magistrat, gestützt auf die Bauvorschriften des Polizeipräsidiums. Ihre Argumentation entsprach einer radikalen Modernisierungsperspektive: Die Gerichtslaube wurde schlicht als Schandfleck und Verkehrshindernis denunziert. Sogar die Intervention des preußischen Königs Wilhelm I., der sich für eine Erhaltung vor Ort einsetzte, blieb erfolglos, da die Gerichtslaube als städtisches Eigentum in der Verfügung des Magistrats stand. Die Landesbehörden konnten zwar via Denkmalrecht den Abriss untersagen, konnten aber eine Sanierung nicht erzwingen oder selbst vornehmen, womit das Gebäude dem langsamen Verfall preisgegeben schien. Nach jahrelangem Tauziehen behielten schließlich die ‚Modernisierer‘ die Oberhand. Im März 1871 erfolgte der Abbruch der Geschichtslaube. Der von Wilhelm I. betriebene Plan einer Rekonstruktion an anderem Ort unter Verwendung erhaltener Originalteile stellt schließlich die Kompromissformel dar, auf die alle Beteiligen sich verständigen konnten. So erfolgte von August 1871 bis Juli 1872 die Wiedererrichtung im Schloss-
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park Babelsberg nach Plänen von Hermann Wilhelm Blankenstein und Johann Heinrich Strack. Interessant ist die Bedeutungsverschiebung des Gebäudes im Verlauf des 19. Jahrhunderts. E. T. A. Hoffmann hatte in seiner im Berlinischen Taschen-Kalender auf das SchaltJahr 1820 erschienenen Novelle Die Brautwahl noch eine romantische Spukerscheinung in Gerichtslaube und Turm des alten Berlinischen Rathauses angesiedelt. Am Vorabend der Industrialisierung erschien hier das mittelalterliche Berlin noch als pittoreske Szenerie. Als mit dem Neubau des Roten Rathauses an dieser Stelle ein repräsentativer Bau für die moderne städtische Verwaltung der expandierenden Großstadt entstand, entbrannte die geschilderte Kontroverse. In der Stadtverordnetenversammlung polemisierte ein Befürworter der modernen Stadt gegen die „mittelalterliche Bedürfnisanstalt“; die „Traditionalisten“ konterten mit dem Begriff des „ältesten Denkmals städtischer Freiheit und Macht“.11
Abb. 6: Inventar des Märkischen Museums mit Stücken aus der Gerichtslaube (aus: Rudolf Buchholz: Verzeichnis der im Märkischen Provinzial-Museum der Stadtgemeinde Berlin befindlichen berlinischen Alterthümer von der ältesten Zeit bis zum Ende der Regierungszeit Friedrichs d. Großen, Berlin 1890)
11 Ebd., S. 77-79.
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Die Verteidiger der Gerichtslaube hatten sich im 1865 gegründeten Verein für die Geschichte Berlins zusammengefunden. Es nimmt daher nicht Wunder, dass sich auch in den Beständen des Märkischen Museums, dessen Entstehung 1876 unmittelbar mit den Aktivitäten und Initiativen des Vereins für die Geschichte Berlins verknüpft ist, Objekte mit Bezug auf die Gerichtslaube finden. Das erwähnte Inventar von Rudolf Buchholz benennt u. a. die gotische „Armsünder-Bank“, die „Armsünder-Glocke“, originale Formsteine aus dem Mauerwerk und eine Terracotta-Abformung des „Kaak“, einer grotesken PrangerFigur, deren Original in der Babelsberger Rekonstruktion der Gerichtslaube wieder Verwendung gefunden hatte.12 Eine Rekonstruktion eigener Art erfuhr die Gerichtslaube 1896 auf der Treptower Gewerbeausstellung als Teil des Nachbaus des Berlinischen Rathauses, Mittelpunkt einer historisierenden Scheinarchitektur von ‚Alt-Berlin‘. Eine Abbildung in einer zeitgenössischer Werbeschrift zeigt das Bauensemble im Mittelpunkt eines ,historischen‘ Festtreibens im Stil des 17. Jahrhunderts.
Abb. 7: Nachbildung des Berlinischen Rathauses mit Gerichtslaube auf der Treptower Gewerbeausstellung von 1896 (aus: P. Lindemann: Die Berliner Gewerbeausstellung, Berlin 1896)
12 Buchholz: Verzeichnis (wie Anm. 8), S. 20/21, 64.
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Die Gewerbeausstellung, die man getrost als eine berlinische Weltausstellung im Kleinen apostrophieren kann, war eine Leistungsschau von Industrie und Gewerbe, verknüpft mit öffentlichem Amusement, bei dem der Rückgriff auf geschichtliche Versatzstücke viel zur Popularität beitrug.13 So entbehrte es nicht einer gewissen Konsequenz, dass die Rekonstruktion der Gerichtslaube im Rahmen der Treptower Gewerbeausstellung ausgerechnet ein ‚Altberliner‘ Ausflugslokal beherbergte. Wirkte der an den Prämissen der wilhelminischen Denkmalpflege orientierte Wiederaufbau der Gerichtslaube im Babelsberger Park vor allem als Solitärbau, so integrierte Ludwig Hoffmann in seinen Neubau des Märkischen Museums eine Nachschöpfung des historischen Innenraums. Offensichtlich griff er dabei die bereits erwähnten Gemälde zurück, die Carl Graeb 1867/68 im Auftrag des Berliner Magistrats geschaffen hatte.
Abb. 8: Carl Graeb: Der untere Raum der Gerichtslaube des alten Berliner Rathauses, Öl/Lwd., 1868 (Stiftung Stadtmuseum Berlin)
13
Martin Wörner: „Todte Gestalten“ und „lebende Bilder“. Weltausstellungen und populäre Inszenierungsformen, in: Joachimides, Kuhrau (Hrsg.): Renaissance der Kulturgeschichte? (wie Anm. 2), S. 74–87.
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Diese Auftragsvergabe hatte im Kontext der Abrissplanungen gestanden und sollte durch die Dokumentation in bildlicher Form ursprünglich den Opponenten den Wind aus den Segeln nehmen. Dass Hoffmann ein Gemälde Graebs bei seiner Nachschöpfung bekannt gewesen sein dürfte, legt ein Vergleich mit einer Fotografie aus dem bereits erwähnten, zur Museumseröffnung publizierten Mappenwerk nahe, die das Interieurgemälde fast deckungsgleich wiederholt.
Abb. 9: Ernst von Brauchitsch: Märkisches Museum, Ausstellungsraum ‚Ältere Bronzezeit‘ (Nachbildung der Berliner Gerichtslaube), 1909 (Tafel 14 aus der Mappe: Neubauten der Stadt Berlin [. . .], mit einem beschreibenden Text von Ludwig Hoffmann, Bd. 8, Märkisches Museum, Berlin 1909)
Dennoch lassen sich auch charakteristische Abweichungen der Raumschöpfung Hoffmanns vom überlieferten Vorbild feststellen. Die ‚Gerichtslaube‘ im Märkischen Museum ist eine Abstraktion des mittelalterlichen Originalbaus. An die Stelle des Kreuzrippengewölbes tritt ein Kreuzgratgewölbe ohne weitere Akzentuierung. Die Mittelsäule trägt bei Hoffmann ein neoromanisches Kapitell mit umlaufendem Figurenfries des dem Jugendstil nahestehenden Bildhauers Ignatius Taschner, auch dies ein Element des immanenten Modernismus in der historisierenden Formensprache des Märkischen Museums. Der so gestaltete Museumsraum nahm nun keineswegs, wie zu erwarten gewesen wäre, die oben erwähnten originalen Mittelalter-Bestände und Spolien aus der Gerichtslaube aus der Sammlung des Museums auf. Der Saal war vielmehr den Bodenfunden der Bronzezeit vorbehalten und ordnete sich damit
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dem chronologischen Besucherrundgang unter, der im Sockelgeschoss mit den ur- und frühgeschichtlichen Bodenfunden begann. Wichtiger als die Übereinstimmung von Exponat und architektonischer Stilsprache war Hoffmann offenbar, dass ‚seine‘ Gerichtslaube ebenso wie das historische Vorbild im Erdgeschoss gelegen war und damit durch die großen Butzenscheiben-Fenster eine Blickbeziehung zum umgebenden Park möglich wurde. Armesünderbank, Armesünderglöckchen und Kaak fand der Besucher hingegen im Raum 32 im Obergeschoss, der der mittelalterlichen Rechtspflege vorbehalten war und wegen der zahlreichen darin befindlichen schauerlichen Instrumente bei den Berlinern als ‚Folterkammer‘ über einen gewissen Ruf verfügte.
Abb. 10: Ernst von Brauchitsch: Märkisches Museum, Ausstellungsraum ‚Rechtspflege‘, 1909 (Tafel 36 aus der Mappe: Neubauten der Stadt Berlin [. . .], mit einem beschreibenden Text von Ludwig Hoffmann, Bd. 8, Märkisches Museum, Berlin 1909)
Diese Abweichung vom Leitgedanken des ‚period room‘, der viele Museumsinszenierungen des 19. Jahrhunderts prägte, ist für Hoffmanns Überwindung des Historismus bezeichnend.14 Er selbst hat sich sowohl in der Praxis des Museumsbaus und der Sammlungsinszenierung als in seinen ausführlichen Schilderungen des Märkischen Museums des Anspruchs 14
Stephen Bann: Die Genealogie des Period Room, in: Joachimides, Kuhrau (Hrsg.): Renaissance der Kulturgeschichte? (wie Anm. 2), S. 57–73.
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einer historisch ‚korrekten‘ Rekonstruktion, die über das flexible Montieren von einzelnen Versatzstücken und Dekorationsformen hinausgeht, enthalten. Vielmehr zielte er auf einen Erlebniswert ab, in dem historische Empfindung und moderne Funktion sich treffen. Architekturzitate, in den Bau integrierte Spolien und die Exponate der Sammlung erscheinen im Märkischen Museum weniger als Belegstücke eines Verlustes des realen Alt-Berlin, sondern vielmehr als ästhetischer und hermeneutischer Mehrwert, insofern eine ästhetischhistorische Erfahrung konstruiert wird, die in der Wirklichkeit Berlins nicht mehr zu finden war. So war es ihm nach seinen eigenen Worten darum zu tun, die Exponate „wieder in eine Stimmung zu versetzen, die ihrem Charakter entsprach“, und „im Anschluß an die Sammlungsgegenstände späteren Generationen die Stimmungen zu übermitteln, welche äußerlich und innerlich den Gebäuden Alt-Berlins eigentümlich waren“.15 Ist diese Art der Inszenierung nicht frei von Sentimentalität, so findet sich dennoch in den Erläuterungen des Architekten zum Märkischen Museum keine eigentlich kritische Position zur Zerstörung der überkommenen Traditionen.16 Auf welche Weise wurde nun die Modernisierung der Stadt ideologisch-museologisch verarbeitet? Ist das Märkische Museum ein Schatzhaus, das die Geschichte aus der Gegenwart herausnimmt, sie vor der Gegenwart bewahrt? Oder ist das Museum selbst Teil der Modernisierung, insofern es daran mitarbeitet, den materiellen und geistigen Bestand einer Stadt so umzugruppieren, dass Fortschritt nicht nur nicht behindert, sondern sogar ermöglicht wird? Die erste Position könnte man als Kompensationsstrategie bezeichnen: Im Sinn einer kulturkritischen Distanzierung von der Gegenwart kompensiert das Museum die Modernisierungsverluste. Die zweite Position wäre hingegen als komplementäre Strategie zu begreifen: Das Museum legitimiert den Wandel nicht nur, er wird grundsätzlich positiv, als ‚Fortschritt‘, begriffen. Teil dieses Fortschritts wäre dann auch die Sorge um die überkommenen historischen Bedeutungsträger, die auf legitime Weise zu beräumen, zu deponieren und in eine neue Ordnung zu überführen sind. Hoffmann, der Architekt und Inszenator des Märkischen Museums, darf als ein für das kaiserzeitliche Berlin maßgeblicher Vertreter eines so verstandenen Fortschritts bezeichnet werden. Als von 1896 bis 1924 wirkender Stadtbaurat und Schöpfer zahlreicher Bauten der Verwaltung, des Schul- und Gesundheitswesens und der sonstigen städtischen Infrastruktur wurde er zum einflussreichsten Gestalter der modernen Metropole im Kaiserreich. Sein routinierter und flexibler Rückgriff auf historische Bauformen und Dekorationsstile darf nicht mit einer kulturkritischen Distanz zur Gegenwart, mit Rückwärtsgewandtheit verwechselt werden. Vielmehr gelingt Hoffmann im Märkischen Museum die Versöhnung von historischer Verlusterfahrung und Modernisierung über eine Strategie der Ästhetisierung von Geschichte.
15 Neubauten der Stadt Berlin (wie Anm. 3), S. VI. 16 Vgl. Kurt Winkler: Konzepte der Kulturgeschichte im Märkischen Museum, in: Joachimides, Kuhrau (Hrsg.): Renaissance der Kulturgeschichte? (wie Anm. 2), S. 124–150; Kurt Winkler: „Das markanteste Gefühl sei das der Bescheidenheit“. Zur Erstpräsentation des Märkischen Museums im Jahr 1908, in: ders. (Hrsg.): Gefühlte Geschichte (wie Anm. 9), S. 11–22.
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Autorenverzeichnis
ANNE BAILLOT geb. 1976; Studium der Germanistik an der École Normale Supérieure, 1999–2002 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Paris-8-Saint-Denis, Promotion über „Entstehung und Rezeption von Solgers ästhetischem Denken zwischen 1800 und 1830“, 2003– 2005 Stipendiatin des DAAD, 2005–2007 der DFG (Emmy Noether Programm) im Forschungszentrum Europäische Aufklärung Potsdam, 2008–2010 an der Humboldt-Universität zu Berlin, seit Juni 2010 Nachwuchsgruppenleiterin. Publikationen u. a.: Die Formen der Philosophie in Deutschland und Frankreich/Les formes de la philosophie en Allemagne et en France 1750–1830. Hannover-Laatzen 2007 (Mithrsg.). Langue, Littérature, Culture à l’épreuve de l’autre. In: Raisons, Comparaisons, Éducations. La Revue Française d’Éducation Comparée 1 (2007) (Hrsg.). Friedrich der Große: Philosophische Schriften (französisch-deutsch). Berlin 2007 (Mithrsg.). ROLAND BERBIG geb. 1954; Studium der Germanistik, Anglistik, Amerikanistik und Pädagogik in Berlin (Humboldt-Universität), 1981 Promotion, 1994 Habilitation, seit 2000 Akademischer Oberrat und Professor, Mithrsg. der Berliner Hefte zur Geschichte des literarischen Lebens. Publikationen u. a.: Theodor Fontane Chronik. 5 Bde. Berlin, New York 2010. Margret Boveri und Ernst Jünger. Briefwechsel aus den Jahren 1946 bis 1973. Berlin 2008 (Mithrsg.). Stille Post. Inoffizielle Schriftstellerkontakte zwischen West und Ost. Von Christa Wolf über Günter Grass bis Wolf Biermann. Berlin 2005. HARALD BODENSCHATZ geb. 1946; Studium der Soziologie, Politikwissenschaft, Psychologie und Volkswirtschaftslehre an der LMU München und der FU Berlin, Wissenschaftlicher Assistent und Hochschulassistent am Fachgebiet Planungstheorie des Instituts für Stadt- und Regionalplanung der TU; Habilitation an der TU Berlin über die Geschichte der Stadterneuerung seit 1871; seit 1995 Professor für Planungs- und Architektursoziologie an der TU Berlin.
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AUTORENVERZEICHNIS
Publikationen u. a.: Berlin und seine Bauten. Teil I: Städtebau. Berlin 2009 (mit Jörn Düwel, Niels Gutschow, Hans Stimmann). Städtebau 1908/1968/2008, Impulse aus der TU (TH) Berlin. Berlin 2009 (Hrsg.). Stadtwohnen. München 2007 (Mithrsg.). MANUELA BÖHM geb. 1972; Studium der germanistischen Linguistik, Literaturwissenschaft, Politikwissenschaften und Philosophie in Potsdam, Paris und Rennes, Promotionsstipendiatin der Heinrich-Böll-Stiftung, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für deutsche Sprachgeschichte des Instituts für Germanistik der Universität Potsdam, in einem DFG-Projekt zur Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert, seit 2009 an der Universität Kassel. Publikationen u. a.: Sprachenwechsel. Akkulturation und Mehrsprachigkeit der Brandenburger Hugenotten vom 17. bis 19. Jahrhundert. Berlin 2009. Hugenotten zwischen Migration und Integration. Neue Forschungen zum Refuge in Berlin und Brandenburg. Berlin 2005 (Mithrsg.). Ein gross vnnd narhafft haffen. Festschrift für Joachim Gessinger. Potsdam 2005 (Mithrsg.). OLAF BRIESE geb. 1963; Studium der Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin, Promotion im Fach Philosophie, DFG-Postdoktorand, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Habilitation am Kulturwissenschaftlichen Seminar der HU, Mitarbeit im Sonderforschungsbereich 626, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Vertretungsprofessor am Institut für Religionswissenschaft der FU Berlin. Publikationen u. a.: Die Macht der Metaphern. Blitz, Erdbeben und Kometen im Gefüge der Aufklärung. Stuttgart 1998. Konkurrenzen. Zur philosophischen Kultur in Deutschland 1830–1850. Würzburg 1998. Der Anspruch des Subjekts. Zum Unsterblichkeitsdenken im Jungen Deutschland. Stuttgart 1995. ANNA BUSCH geb. 1978; Studium der Literaturwissenschaften, Rechtswissenschaften und Linguistik in Göttingen, Kapstadt und Berlin, zweijähriger Aufbaustudiengang der Editionswissenschaften; seit 2006 Promotion an der Freien Universität Berlin zu dem Thema „Julius Eduard Hitzig. Recht und Literatur“. GILBERT CARR Dr. phil., Fellow Emeritus am Department of German Studies des Trinity College Dublin; Arbeitsschwerpunkte: österreichische Literatur, besonders der Moderne.
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Publikationen u. a.: Figures of Repetition: Continuity and Discontinuity in Karl Kraus’s Satire. In: Modern Language Review 102 (2007). Karl Kraus und „Die Fackel“. Aufsätze zur Rezeptionsgeschichte. Reading Karl Kraus. Essays on the Reception of „Die Fackel“. München 2001. Das schwierige neunzehnte Jahrhundert. Tübingen 2000 (Mithrsg.). IWAN-MICHELANGELO D’APRILE geb. 1968; Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie und Promotion an der Technischen Universität Berlin, von 2002 bis 2007 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungszentrum Europäische Aufklärung in Potsdam, seit 2008 am Lehrstuhl für Kulturgeschichte der Neuzeit am Historischen Institut der Universität Potsdam, seit 2009 Juniorprofessor. Publikationen u. a.: Aufklärung – Evolution – Globalgeschichte. Hannover 2010 (Mithrsg.). Das 18. Jahrhundert. Zeitalter der Aufklärung. Berlin 2008 (mit Winfried Siebers). Die schöne Republik. Ästhetische Moderne in Berlin im ausgehenden 18. Jahrhundert. Tübingen 2006. WALTER FÄHNDERS geb. 1944; Studium der Germanistik, Geschichte und Politik an der FU Berlin, dort Staatsexamen und 1974 Promotion mit einer Arbeit über linksradikale Literatur der Weimarer Republik, Lehrtätigkeit an der FU Berlin sowie an den Universitäten Bielefeld, Karlsruhe und Osnabrück, dort Habilitation über „Anarchismus und Literatur. 1890– 1910“. Publikationen u. a.: Metzler Lexikon Avantgarde. Stuttgart, Weimar 2009 (Mithrsg.). Dazwischen. Reisen – Metropolen – Avantgarden. Bielefeld 2009 (Mithrsg.). Nomadische Existenzen. Vagabondage und Boheme in Literatur und Kultur des 20. Jahrhunderts. Mit einer Artur Streiter-Bibliographie. Essen 2007. HUBERTUS FISCHER geb. 1943; Prof. Dr., Germanist und Historiker, Lehrstuhl für Ältere deutsche Literatur an der Universität Hannover, bis 2011 Vorsitzender der Theodor Fontane Gesellschaft. Publikationen u. a.: Politik, Porträt, Physiologie. Facetten der europäischen Karikatur im Vor- u. Nachmärz. Bielefeld 2009 (Mithrsg.). Theodor Fontane, der „Tunnel“, die Revolution: Berlin 1848/49. Aufsätze und Vorträge. Berlin 2009. Ritter, Schiff und Dame. Mauritius von Craûn: Text und Kontext. Heidelberg 2006.
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RÜDIGER GÖRNER geb. 1957; seit 30 Jahren in Großbritannien, Professor u. a. an der Universität Aston (Birmingham), seit 2004 am Queen Mary College der University of London, wo er Direktor des Centre for Anglo-German Cultural Relations, von 1999 bis 2004 Direktor des Institute of Germanic Studies der University of London. Publikationen u. a.: Die Pluralektik der Romantik. Studien zu einer epochalen Denk- und Darstellungsform. Köln 2010. Form und Verwandlung. Ansätze zu einer literaturästhetischen Morphologie. Heidelberg 2010. Londoner Fragmente. Eine Metropole im Wort. Literarische Streifzüge. Düsseldorf, Zürich 2003. JOST HERMAND geb. 1930; Studium der Literatur, Philosophie, Geschichte und Kunstgeschichte in Marburg, Professor für Neuere deutsche Literatur und deutsche Kulturgeschichte an der University of Wisconsin, Madison, Honorarprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin, zahlreiche Gastprofessuren als Literatur-, Musik- und Kunstwissenschaftler an amerikanischen und deutschen Universitäten. Publikationen u. a.: Fünfzig Jahre Germanistik. Oxford 2009. Der Kunsthistoriker Richard Hamann. Eine politische Biographie (1879–1961). Köln u. a. 2009. Glanz und Elend der deutschen Oper. Köln 2008. ASTRID KÖHLER geb. 1965; Studium der Germanistik in Jena, Promotion 1994 an der FU Berlin, 1993– 1995 DAAD-Lektorin am Gonville and Caius College der University of Cambridge, seit 1995 Dozentin am Queen Mary College der University of London, verantwortlich für die literarische Sektion des Centre for Anglo-German Cultural Relations. Publikationen u. a.: Brückenschläge. DDR-Autoren vor und nach der Wiedervereinigung. Göttingen 2007. So noch nicht gezeigt. Uwe Johnson zum Gedenken. Göttingen 2006 (Mithrsg.). Salonkultur im klassischen Weimar. Geselligkeit als Lebensform und literarisches Konzept. Stuttgart 1996. ANDREAS KÖSTLER Studium der Kunstgeschichte, klassischen Archäologie und mittelalterlichen Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München, am Courtauld Institute London und an der Universität Hamburg, wissenschaftlicher Mitarbeiter am DFG-Projekt „Lothringische Skulptur des 14. Jahrhunderts“ in Saarbrücken, Promotion an der Universität Marburg, Habilitation an der Universität Hamburg; seit 2005 Professor für Kunstgeschichte im Institut für Künste und Medien der Universität Potsdam.
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Publikationen u. a.: Einführung in die Kunstwissenschaft. Berlin 2005 (mit Thomas Hensel). Place Royale. Metamorphosen einer kritischen Form des Absolutismus. München 2003. Die Ausstattung der Marburger Elisabethkirche. Zur Ästhetisierung des Kultraums im Mittelalter. Berlin 1995. GERTRUD LEHNERT 1984–1990 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Bonn, 1985 Promotion, 1994 Habilitation an der Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt/M., 1999–2002 Geschäftsleitung des Sonderforschungsbereichs „Kulturen des Performativen“ an der FU Berlin; seit 2001 Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Gründungsdirektorin des Instituts für Künste und Medien der Universität Potsdam. Publikationen u. a.: Herzanker. Dichterinnen und die Liebe. Berlin 2011. Raum und Gefühl. Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung. Bielefeld 2010 (Hrsg.). Schnellkurs Mode. 4., aktualisierte Auflage. Köln 2008. GÜNTHER LOTTES geb. 1951; Studium der Geschichte, Anglistik und Politikwissenschaft in Erlangen, Promotion 1977 über „Politische Aufklärung und plebeijsches Publikum“, Habilitation 1984 mit der Arbeit „Aufklärung und konservatives Denken. Studien zur Frühgeschichte des Konservativismus in Frankreich und England“, 1986-1993 Professor an der Universität Regensburg, seit 1993 Professor für Neuere Geschichte (Frühe Neuzeit) an der Universität Gießen, 1999–2007 Direktor des Forschungszentrums Europäische Aufklärung, Potsdam, Professor für Kulturgeschichte der Neuzeit am Historischen Institut der Universität Potsdam. Publikationen u. a.: Hofkultur und aufgeklärte Öffentlichkeit. Potsdam im 18. Jahrhundert im europäischen Kontext. Berlin 2006 (Mithrsg.). Politische Aufklärung und plebejisches Publikum. Zur Theorie und Praxis des englischen Radikalismus im späten 18. Jahrhundert. München 1977. ANNA-DOROTHEA LUDEWIG geb. 1976; Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, Buchwissenschaft, Rechtswissenschaften, Musikwissenschaft und Italienischen Philologie in Mainz und Bonn, seit 2007 Mitarbeiterin des Moses Mendelssohn Zentrums für europäischjüdische Studien, Potsdam, Geschäftsführerin der Gesellschaft für Geistesgeschichte, Kollegiatin und Stipendiatin, dann Koordinatorin des Graduiertenkollegs „Makom. Ort und Orte im Judentum“.
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Publikationen u. a.: Zwischen Czernowitz und Berlin. Deutsch-jüdische Identitätskonstruktionen im Leben und Werk von Karl Emil Franzos, 1847–1904. Hildesheim u. a. 2008. Karl Emil Franzos: Eine Auswahl aus den Werken. Zwei Teile in einem Band. I: Kulturund Reisebilder. II: Literaturhistorische Schriften und andere Feuilletons. Hildesheim u. a. 2008 (Mithrsg.). Spuren eines Europäers: Karl Emil Franzos als Mittler zwischen den Kulturen. Hildesheim u. a. 2008 (Mithrsg.). GÜNTER OESTERLE geb. 1941, Studium der Germanistik, Geschichte, Politik und Philosophie an den Universitäten Tübingen, Freiburg und Gießen, 1969-1974 Wissenschaftlicher Assistent an der Bayrischen Ludwig-Maximilians-Universität; seit 1974 Professor in Gießen, seit 1997 Leiter eines Projekts innerhalb des Sonderforschungsbereichs Erinnerungskulturen, von 1999 bis 2003 Sprecher des Sonderforschungsbereichs. Publikationen u. a.: Die Wiederkehr des Virtuosen? Wilhelm Hauffs Anschluss an das Eklektizismus-Konzept der Pariser Zeitschrift „Le Globe“. In: Andrea Polaschegg u. a. (Hrsg.): Wilhelm Hauff oder Die Virtuosität der Einbildungskraft. Göttingen 2005, S. 83–99. „Laß Rom Rom seyn ... singe Berlin!“ Stadtpoesie in Prosa. Ludwig Tieck – Ludwig Robert – Heinrich Heine. In: Iwan-Michelangelo D’Aprile u. a. (Hrsg.): Tableau de Berlin. Beiträge zur „Berliner Klassik“ (1786–1815). Hannover 2005, S. 289–306. Juden, Philister und romantische Intellektuelle. Überlegungen zum Antisemitismus in der Romantik. In: Athenäum. Jahrbuch für Romantik (1992) S. 55–89. HELMUT PEITSCH geb. 1948, Studium der Germanistik, Politologie und Philosophie an der FU Berlin, Staatsexamen, Wissenschaftlicher Assistent und Privatdozent am Fachbereich Germanistik der FU Berlin, Lecturer in Leeds und Swansea, Professor an der New York University und an der University of Wales, Cardiff, seit 2001 in Potsdam für Neuere deutsche Literatur. Publikationen u. a.: Brüche und Umbrüche. Frauen, Literatur und soziale Bewegungen. Potsdam 2010 (Mithrsg.). Nachkriegsliteratur 1945–1989. Göttingen 2009. „No Politics“? Die Geschichte des deutschen PEN-Zentrums in London 1933–2002. Göttingen 2006. AGNIESZKA PUFELSKA Studium der Kulturwissenschaften, Promotion an der Viadrina-Universität in Frankfurt/O., 2005/2006 Gastwissenschaftlerin am Forschungszentrum Europäische Aufklärung Potsdam, 2007/2008 Junior-Fellow am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald, 2009/
AUTORENVERZEICHNIS
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2010 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Institut der Universität Potsdam, seit 2011 DFG-Projekt zum polnisch-preußischen Kulturtransfer in der Zeit der Aufklärung. Publikationen u. a.: Die Dynamik der europäischen Rechten. Geschichte, Kontinuitäten und Wandel. Wiesbaden 2011 (Mithrsg.). Die „Judäo-Kommune“ – ein Feindbild in Polen. Paderborn 2007. WOLFGANG RASCH geb. 1956; Studium der Germanistik, Philosophie und Geschichte in München und Berlin, 1996 Promotion; seit 2010 Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Theodor Fontane-Arbeitsstelle an der Georg-August-Universität Göttingen. Publikationen u. a.: Karl Gutzkow. Erinnerungen, Berichte und Urteile seiner Zeitgenossen. Eine Dokumentation. Berlin, New York 2011. Karl Gutzkow: Briefe und Skizzen aus Berlin (1832–1834). Bielefeld 2008. Theodor Fontane Bibliographie. Werk und Forschung. 3 Bde. Berlin, New York 2006. HEINZ REIF Studium der Geschichte, Literaturwissenschaft und Soziologie an den Universitäten Bochum, Münster und Bielefeld, 1973 bis 1983 wissenschaftlicher Mitarbeiter und Wissenschaftlicher Assistent an der Universität Bielefeld, Promotion bei Jürgen Kocka, Habilitation bei Jürgen Kocka, Hans-Ulrich Wehler und Christoph Kleßmann; seit 1986 Professor für Neuere Geschichte an der TU Berlin, Leiter des Center for Metropolitan Studies, u. a. Mitglied des Schinkelzentrums der TU, der Historischen Kommission zu Berlin. Publikationen u. a.: Adel im 19. und 20. Jahrhundert. München 1999. Die verspätete Stadt. Industrialisierung, städtischer Raum und Politik in Oberhausen, 1846–1929. 2 Bde. Brauweiler 1993. Westfälischer Adel 1770–1860: vom Herrschaftsstand zur regionalen Elite. Bielefeld 1977. HUGH RIDLEY geb.1941, PhD, MRIA, Dr.h.c., emeritierter Professor der Germanistik am University College Dublin; Arbeitsschwerpunkte: deutsch-amerikanische Kulturbeziehungen im 19. Jahrhundert, Vormärz, Wagner, Thomas Mann. Publikationen u. a.: Thomas Mann. Paderborn 2009. ‚Relations Stop Nowhere‘. The Common Literary Foundations of German and American Literature 1830–1917. Amsterdam, New York 2007. Sentimente, Gefühle, Empfindungen. Würzburg 2003.
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ERHARD SCHÜTZ geb. 1946; Studium der Germanistik, Wissenschaft von der Politik und Philosophie in Gießen und Würzburg, seit 1996 Lehrstuhl für Neuere deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Publikationen u. a.: Text der Stadt – Reden von Berlin. Literatur und Metropole seit 1989. Berlin 1999 (Mithrsg.). Städtebilder zwischen Literatur und Journalismus, Wien, Berlin und das Feuilleton der Weimarer Republik. Wiesbaden 1999 (Mitautor). Glänzender Asphalt. Berlin im Feuilleton der Weimarer Republik, Berlin 1994 (Mithrsg.). BERND SÖSEMANN geb. 1944; Studium der Geschichte, Deutschen Philologie und Pädagogik, Promotion zum Thema „Liberale Publizistik in der Endphase der Weimarer Republik“, Professor für Geschichte der öffentlichen Kommunikation an der Freien Universität Berlin, Gründungs-Direktor des Instituts für Kommunikationsgeschichte und angewandte Kulturwissenschaften (IKK), Direktor bis 2006, Mitglied der Preußischen Historischen Kommission, Berlin. Publikationen u. a.: Theodor Wolff: Tagebücher, 1914–1919. Hrsg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. 2 Bde. Boppard/Rh. 1984. Demokratie im Widerstreit. Die Weimarer Republik im zeitgenössischen Urteil. Stuttgart 1980. Das Ende der Weimarer Republik in der Kritik demokratischer Publizisten. Theodor Wolff, Ernst Feder, Julius Elbau, Leopold Schwarzschild. Berlin 1976. INGO STÖCKMANN geb. 1968; Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Publikationen u. a.: Naturalismus. Lehrbuch Germanistik. Stuttgart, Weimar 2011. Ernst Jünger und die Bundesrepublik. Ästhetik – Politik – Zeitgeschichte. Berlin, New York: de Gruyter 2011 (Mithrsg.). Der Wille zum Willen. Der Naturalismus und die Gründung der literarischen Moderne 1880–1900. Berlin, New York 2009. HARTWIG SUHRBIER geb. 1942, stammt aus Mecklenburg; Studium von Germanistik und Geschichte in Bonn, 1969 Magister-Arbeit über Arno Schmidt, Arbeit als Zeitungs-Korrespondent und Hörfunk-Redakteur bis 2005.
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Publikationen u. a.: Der andere Fritz Reuter. Neues zu Werk und Wirkung. Rostock/Bargeshagen 2010. El Hor/El Ha: Die Schaukel/Schatten. Prosaskizzen. Göttingen 1991 (Hrsg.). Friedrich der Große: Das Buch Blaubart. Eine Satire. Mit dem Essay Der König als Satiriker. Frankfurt/M. 1987. KURT WINKLER geb. 1956; Studium der Kunstgeschichte und Philosophie in Würzburg und an der Freien Universität Berlin, seit 1984 Ausstellungskurator und wissenschaftlicher Mitarbeiter an verschiedenen Museen, u. a. an der Berlinischen Galerie, am Deutschen Historischen Museum und an der Stiftung Stadtmuseum Berlin, deren amtierender Generaldirektor von 2004 bis 2006, seit 2008 geschäftsführender Direktor des Hauses der BrandenburgischPreußischen Geschichte in Potsdam. RÜDIGER ZILL geb. 1958; Studium der Philosophie, Geschichte und Soziologie in Berlin und London, 1994 Promotion an der Freien Universität Berlin, freier Autor für Rundfunk und Zeitungen, 1994–1997 Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Technischen Universität Dresden, seit 1997 Wissenschaftlicher Referent am Einstein Forum, Potsdam. Publikationen u. a.: Ganz Anders? Philosophie zwischen akademischem Jargon und Alltagssprache. Berlin 2007. Gestalten des Mitgefühls. Berlin 2006. Hinter den Spiegeln. Zur Philosophie Richard Rortys, mit Erwiderungen von Richard Rorty. Frankfurt/M. 2001(Mithrsg.).
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Personenverzeichnis
Abegg, Julius 153 Achard, Carl Salomon 262, 263 Adam, Adolph-Charles 197 Adler, Julius 289 Ahlwardt, Hermann 239 Alberti, Conrad 230 – 232, 240, 381, 412, 418 Alexis, Willibald 49 – 56, 59, 60, 333, 334, 343, 344 Ancillon, Charles 473 Anders, Günther 285, 286 Andree, Christian 115 Anna Amalia von Weimar 79 – 82 Arendt, Hannah 70, 72 Arndt, Emil 329, 332 Arndt, Ernst Moritz 41, 112, 149 Arnim, Achim von 225 Arnim, Bettina von, geb. Brentano 5, 35, 39, 81, 84, 88, 159, 179 – 188, 225, 386, 435 Arnim-Boitzenburg, Adolf von 41, 186 Arnold, Matthew 89 Asche, Matthias 473 Ascher, Saul 122, 123, 125 Assmann, Aleida 476, 490 Aubert, Daniel 197 Auer, Ignaz 236 August von Sachsen-Gotha 82 August Ferdinand von Preußen 31 Augusta (dt. Kaiserin) 33, 272, 287 Auguste Victoria (dt. Kaiserin) 287 Babeuf, François Noël 24 Bäumer, Konstanze 185 Baginski, Max 310 Baginski, Richard 310 Bahrs, Erhard 130
Bailly, Jean-Sylvain 20 Ballanche, Pierre Simon 174 Balzac, Honoré de 1 Barlach, Ernst 50 Baudelaire, Charles 330 Bauer, Bruno 35, 180, 187 Becker, Nikolaus 201 Beer, Amalie 172 Beethoven, Ludwig van 190, 273 Begas, Reinhold 211 Behrend, Fritz 324, 326, 327 Behrendt, Walter Curt 247 Behrens, Peter 278, 282 Bellini, Vincenzo 197 Bendix, Regina 377 Benjamin, Walter 6, 8, 95, 319 Bennigsen, Rudolf von 236 Berbig, Roland 381 Bereza, Eugeniusz 42, 43 Berg, Leo 310 Béringuier, Richard 488, 489 Bernstein, Carl 71 Bernstein, Felice 71, 276 Bertuch, Friedrich Justin 82, 96, 104 Bestelmayer, German 256 Beta, Heinrich 116 Bezold, Gustav von 290 Bierbaum, Otto Julius 310, 312 Biester, Johann Erich 79 Birnstiel, Eckart 488 Bismarck, Otto von 23, 47, 94, 211, 224, 229, 237, 242, 288, 384, 452, 457, 458, 490 Blankenstein, Felix 498 Blankenstein, Hermann Wilhelm 500 Blanqui, Louis-Auguste 24, 25, 27, 28
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PERSONENVERZEICHNIS
Blauert, Elke 247 Bleibtreu, Karl 310, 422 Bleichröder, Gerson 279 Blomberg, Hugo von 206, 208, 212 Blum, Robert 194 Blumenthal, Oskar 231 Bode, Wilhelm 246, 247, 252 – 256, 280 Bodelschwingh, Ernst von 26 Bodenhausen, Eberhard von 277, 281, 282 Boeckh, August 136, 147 Bölsche, Wilhelm 310, 312 – 318, 407 – 419 Boetticher, Carl 289 Böttiger, Karl August 79, 82, 85 Boileau, Nicolas 236 Bonnell, Waldemar 484, 485, 487 Bormann, Karl 206 Born, Stephan 445 Botticelli, Sandro 34, 37 Bouché, Carl David 158 Boucher, Alexandre-Jean 194 Bourdieu, Pierre 402 Brahm, Otto 310, 312 Brandes, Georg 383, 384 Brandmüller, Gregorius 480 Brauchitsch, Ernst von 493 Bredow, Gottfried Gabriel 139 Brentano, Bettina siehe Arnim, Bettina von Brentano, Clemens 179, 451 Brinckmann, Gustav 83, 163 Bronnen, Arnolt 457 Brückner, Alexander 44 Brugsch, Heinrich 3 Bucher, August Leopold 115, 118 Bucher, Lothar 115 Buchholz, Friedrich 121 – 133 Buchholz, Rudolf 497, 501 Buddensieg, Tilmann 246, 247 Büchner, Georg 69 Bülow-Cummerow, Ernst von 108 Bunsen, Georg von 94, 275 Bunsen, Marie von 272, 277 Buonarotti, Filippo 24 Burckhardt, Jacob 351 Burgsdorff, Wilhelm von 83, 84 Burke, Edmund 23 Busch, Dietrich Wilhelm Heinrich 147
Calder, Alexander 286, 296 Campe, Joachim Heinrich 14 Capa, Robert 365 Caran d’Ache 237 Cassirer, Bruno 281 Cassirer, Paul 271, 278, 281, 282, 283 Catalani, Angelica 195 Cavaignac, Louis-Eugène 437, 444 Cepl, Jasper 247 Cervantes, Miguel 230 Chamisso, Adelbert von 3, 42, 149, 150, 333, 351 Chapman, John 89 Chartron, Jean David 481 Chateaubriand, François-René 174 Chézy, Helmina von 149 Chézy, Wilhelm von 149 Child, Francis James 376 Chodowiecki, Daniel 78, 480, 481, 489 Chopin, Fryderyk 30 – 32, 39 Cieszkowski, August 43 Clary, Fürstin von 41 Clausewitz, Carl von 31 Cölln, Friedrich von 125 Cohen, Philippine 148 Cohn, Emil 223, 225 Conrad, Michael Georg 312 Contessa, Karl Wilhelm Salice 149 Cornelius, Peter 35, 250, 251, 354 – 356 Cosmar, Alexander 333, 335 Cotta, Georg von 341 Cotta, Johann Friedrich 123, 124, 127 – 129, 340, 344 Courths-Mahler, Hedwig 456 Cremer, Wilhelm Hubert 223 Cumberland, Friederike von 41, 42 Curtius, Ernst 275, 276 Dahn, Felix 396 Daumier, Honoré 370, 444 Dauthendey, Max 310 Dehio, Georg 290 Dehmel, Richard 281, 315, 316 Delacroix, Eugène 27, 366, 370 Devrient, Eduard 148 Devrient, Ludwig 41 Devrient, Wilhelm 147
PERSONENVERZEICHNIS
Deycks, Vinzenz 40 Diderot, Denis 164 Dieffenbach, Johann Friedrich 147 Dilthey, Wilhelm 275, 381 Dischner, Gisela 186 Döblin, Alfred 493 Dölemeyer, Barbara 481 Dönhoff, Fräulein von 31 Dönhoff, Graf 281 Dohm, Christian Wilhelm 65 Dohm, Ernst 281 Dohm, Hedwig 276 Dominik, Hans 457 Donizetti, Gaetano 193, 197 Donnersmarck, Guido 277 Dorn, Heinrich Ludwig 197 Dorothea Sophie (Kürfürstin) 481 Drewitz, Ingeborg 179, 180, 184, 185 Dreyfus, Alfred 240 Dronke, Ernst 5, 271 Droysen, Johann Gustav 275 Du Bois-Reymond, Emil Heinrich 94, 275, 282 Duncker, Alexander 208 Duncker, Franz 276 Duncker, Lina 276 Durand, Marie 483 Durieux, Tilla 271, 278 Eberstadt, Rudolf 301 Ebner-Eschenbach, Marie von 381 Eckert, Carl 193 Eggers, Friedrich 206 – 209, 211 – 214, 351, 357 Eggers, Karl 206 Eichendorff, Joseph von 451 Eichhorn, Johann Albrecht Friedrich 144, 353 Eiermann, Egon 296 Einsiedel, Friedrich Hildebrand 82, 84 Eisner, Lotte 8 Eliot, George 87 – 89, 91, 93, 94, 452 Elisabeth von Bayern (Prinzessin) 339 Eloesser, Arthur 8 Elsner, Karl Friedrich Moritz 115 Engel, Helmut 271 Engels, Friedrich 311, 375, 376
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Erhard, Johann Benjamin 125 Erman, Adolf 275 Erman, Jean-Pierre 480, 488, 489 Erman, Paul 147 Ernst, Paul 311, 312 Ersch, Johann Samuel 156 Esser, Heinrich 193 Ettlinger, Joseph 422, 423, 429 Eulenburg, Philipp 240, 241 Evans, Marian siehe Eliot, George Evans, Mary Ann siehe Eliot, George Fałat, Julian 45 Falk, Johannes Daniel 84 Falkenhausen, Susanne von 366 Fernow, Karl Ludwig 79, 82, 84 Fetting, Hugo 193 Fichte, Johann Gottlieb 138, 139, 148, 149, 159 Fidus 310 Fikenscher, G. W. 156 Finckenstein, Karl von 84 Firdusi 91 Fischart, Johann 235 Fischer, Bernhard 121 Fischer, Samuel 281, 310 Fischer-Cörlin, Ernst Albert 481, 489 Flotow, Friedrich von 197 Förster, Friedrich 35 Fohrmann, Jürgen 169 Fontane, Theodor 50, 64, 69, 111, 203 – 207, 209 – 214, 281, 323, 324, 333, 335, 350 – 352, 356, 359, 381 – 384, 391, 403, 451 Forsberg, Eduard 435 Fouqué, Friedrich de La Motte 148 – 150, 333, 334 Fournier, Auguste 481 François, Etienne 482, 490 Franzos, Heinrich 65, 66 Franzos, Karl Emil 63, 65 – 73 Frenssen, Gustav 457 Frese, Julius 88 Freytag, Gustav 69 Fried, Michael 371 Friedel, Ernst 495 Friedrich I./III. (König in Preußen) 480
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PERSONENVERZEICHNIS
Friedrich II. (König v. Preußen) 49 – 53, 55, 58, 75, 77, 81 – 83, 90, 110, 124, 143, 191, 192, 253, 363, 480 Friedrich III. (dt. Kaiser) 252, 289 Friedrich der Große siehe Friedrich II. Friedrich, Werner 135 Friedrich Wilhelm von Brandenburg (‚Große Kurfürst‘) 2, 479, 481 Friedrich Wilhelm I. (König in Preußen) 49 – 53, 480 Friedrich Wilhelm III. (König v. Preußen) 31, 33, 34, 127, 165, 182, 338, 339 Friedrich Wilhelm IV. (König v. Preußen) 26, 28, 35, 39 – 41, 110, 181, 182, 185, 191 – 195, 197, 339, 353, 358, 361 – 363 Fritsch, Karl Wilhelm von 84 Fröhlich, Carl 201 Fürstenberg, Carl 271, 280 Fuhrich-Grubert, Ursula 487, 488 Gärtner, Eduard 363, 447 Gailus, Manfred 438 Ganghofer, Ludwig 457 Gans, Eduard 4, 41, 161, 163 – 168, 171 – 178 Gansauge, Major von 434 Garnier, Tony 257 Garve, Christian 4, 95 Gause, Carl 290 Geibel, Emanuel 349, 357 Geiger, Abraham 71 Geiger, Ludwig 71 Gentz, Friedrich 83, 84, 122, 124, 167 Gerlach, Ernst Ludwig von 108 Georg Friedrich Karl von Sachsen-Meiningen 82 Gerson, Hermann 262, 277 Gilly, Friedrich 260 Glasewaldt, Heinrich 442 Glasewaldt, Wilhelm 366, 442 Glaßbrenner, Adolf 194 Gluck, Christoph Willibald 90, 94 Gneisenau, August Neidhardt von 31, 373 Gneist, Rudolf von 279 Göchhausen, Luise von 82 Görner, Rüdiger 181, 187 Goethe, Catharina Elisabeth 182, 183, 185
Goethe, Johann Wolfgang 31, 79, 81 – 84, 87, 149, 153, 182, 185, 242, 273, 333, 339, 450, 451 Goldammer, Leo 323 Grabbe, Christian Dietrich 41 Gradmann, Johann Jakob 156 Graeb, Carl 498, 502, 503 Graefe, Carl Ferdinand von 147 Grenander, Alfred 245 Gries, Johann Diederich 84 Grillparzer, Franz 69 Grimm, Herman 179, 207, 208, 381 Grimm, Jacob 181 Grimm, Wilhelm 181 Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel von 236 Grolmann, Wilhelm von 165 Gropius, George 148 Gropius, Martin 245, 289 Grote, George 146 Gruppe, Otto Friedrich 87, 89, 91 – 94 Gualtieri, Peter 83 Gubitz, Friedrich Wilhelm 42 Günderode, Karoline von 180 Günzburg, Carl Siegfried 42 Guizot, François Pierre Guillaume 143 Guthmann, Hugo 239, 240 Gutzkow, Karl 6, 172, 207, 333, 337 – 348, 380, 386 Habel, Robert 247 Haberland, Georg 303, 304 Habermas, Jürgen 4, 122 Häring, Georg Wilhelm Heinrich siehe Alexis, Willibald Hahn, Barbara 163, 166, 167, 172 Halbe, Max 310 Halbwachs, Maurice 475, 476 Hamberger, Georg Christoph 156 Hansemann, David J. L. 263, 265, 277, 279 Hansson, Ola 310 Harden, Maximilian 229 – 243, 422 Hardenberg, Karl August von 124 – 133, 136, 137, 347 Hardt, Richard von 291 Hart, Julius 310, 313, 314, 316, 407 Hartleben, Otto Erich 310
PERSONENVERZEICHNIS
Hartmann, Eduard von 47, 455 Hauff, Hermann 344 Hauff, Wilhelm 332 Hauptmann, Gerhart 418, 423 Hauptmann von Köpenick 241 Hauser, Heinrich 457 Haussmann, Georges-Eugène 307 Hebbel, Friedrich 69, 377 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 2, 42, 43, 92 – 94, 147, 158, 159, 165, 170 – 172, 174, 176, 252, 340, 408 Hegeler, Wilhelm 310 Hegemann, Werner 297, 306 Heim, Ernst Ludwig 147, 148 Heine, Heinrich 42, 43, 54, 69, 93, 94, 165, 167, 176, 338, 351, 354, 357, 358, 384, 439, 451 Heinrich IV. (König v. Frankreich) 20, 93 Held, Hans von 125 Helmholtz, Anna von 275, 276 Helmholtz, Hermann von 275, 282 Henkell, Karl 310 Henriquez, Benoît Louis 483 Henry, Jean 486 Herder, Gottfried 82 Herder, Johann Gottfried 79, 82 Herloßsohn, Carl 196 Hermann, Georg 8 Herodot 433 Herrmann, Eduard Heinrich 371 Herwarth, Wilhelm 397 Herz, Henriette 81, 83, 167 Hessel, Franz 319 Heyden, Adolf 293 Heyden, August von 204, 206, 210, 293 Heydt, August von der 277 Heyse, Paul 208, 350, 357 Hille, Peter 310 Hillenbrand, Rainer 351, 353, 357 Hintze, Johann Heinrich 368 Hitler, Adolf 285, 286 Hitzig, Clara 351 Hitzig, Friedrich 261 – 265, 267 Hitzig, Julius Eduard 147 – 154, 156 – 160, 172 Hobein, Eduard 462 Hobrecht, James 298, 306
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Hohenhausen, Elise von 41 Hoffmann, E. T. A. 41, 148 – 150, 451, 500 Hoffmann, Ludwig 248, 255, 256, 271, 493, 495, 497, 498, 502 – 505 Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich 199 Hofmannsthal, Hugo von 281 Hofmeister-Hunger, Angela 121, 133 Holtei, Karl von 85, 86, 328 Hollaender, Felix 310 Holz, Arno 310, 312, 314, 407 Horn, Ernst 147 Howard, Ebenezer 318 Howes, David 97 Hülsen, Botho von 197 Hufeland, Christoph Wilhelm 147 Hugenberg, Alfred 219 Hugo, Victor 28, 54, 212 Humann, Carl 256 Humboldt, Alexander von 1, 3, 29 – 33, 88, 147, 167, 186 Humboldt, Wilhelm von 3, 31, 83, 84, 92, 147, 149, 150, 167, 347, 353 Huret, Jules 269, 270, 273 Ihne, Ernst Eberhard von Isokrates 146
248, 252 – 254, 256
Jachmann-Wagner, Johanna 90 Jacob, Julius 397 Jacobi, Emil 328 Jacobowski, Ludwig 312 Jacobs, Monty 383 Jacoby, Johann 186 Jaencke, J. D. 156 Jagow, Kurt 31 Jahn, Friedrich Ludwig 149 Jansen, Hermann 269 Jarocki, Feliks Paweł 30 Jean Paul 326 Joel, Karl 428, 429 John, Wilhelm 330 Jordan, Max 251 Joutard, Philippe 489 Jouy, Étienne 52 Jünger, Ernst 457 Jüngken, Johann Christian 147
522
PERSONENVERZEICHNIS
Jürgensburg, Pjotr Jakob Clodt von Julius, Gustav 435 Justi, Ludwig 251
363
Kaletta, Ehrenfried 351 Kalisch, David 221 Kampffmeyer, Bernhard 310 Kampffmeyer, Paul 310, 312 Kant, Immanuel 92, 154 Kapp, Friedrich 141 Kapp, Wolfgang 118 Karamsin, Nikolai Michailowitsch 3 Karl X. (König v. Frankreich) 22, 23, 366 Karl der Große 290, 460 Karl August von Weimar 79, 86 Karl Friedrich von Weimar 84 Karpeles, Gustav 71 Katharina die Große 33 Kauffmann, Angelika 78 Kaulbach, Wilhelm von 34, 35, 90, 208 Keil, Ernst 221 Keller, Gottfried 377, 381 Kellermann, Bernhard 457 Kerr, Alfred 294-296 Kessler, Harry 275, 277 – 279, 281 – 283 Kingsley, Charles 88 Kiß, August 35 Kläbe, Johann Gottlob August 156 Kleist, Ferdinand von 110, 111 Kleist, Heinrich von 121, 122, 148 Kleist, Hermine von 110 Kleist-Schmelzin, Ewald von 117 Kleist-Warnin, Gutsherr von 118 Klemm, Mischa 276 Klenze, Leo von 249 Knebel, Karl Ludwig von 84 Knepler, Georg 189 Knobelsdorff, Georg Wenzeslaus von 50 Knobloch, Heinz 383 Köchy, Karl 41 Könen, Ludwig Ernst 147 Köppen, Carl Friedrich 191 Koppe, Johann Christian 156 Korff, Gottfried 242 Koschnick, Leonore 351, 357 Kossak, Wojciech 45 Koszyk, Kurt 229, 240
Kotzebue, Otto von 3, 148 Kracauer, Siegfried 287 Kraus, Georg Melchior 82 Kraus, Karl 230, 237, 239 – 243 Kremer, Józef 43 Kretzer, Max 314, 391, 392, 394, 396 – 398, 400, 401, 403 – 405, 412, 418 Kücken, Friedrich Wilhelm 193 Kügelgen, Gerhard von 84 Kürschner, Joseph 234 Küstner, Karl Theodor 192, 193, 197 Kugler, Franz 6, 35, 52, 191, 204, 206, 208, 290, 349 – 360 Kuranda, Ignaz 172, 173 Kyllmann, Walter 293 Land, Hans 310 Landauer, Gustav 310 – 313 Landfester, Ulrike 179, 186, 187 Langbehn, Julius 312 Lange, Karl Julius 121, 122, 125 Lassalle, Ferdinand 208, 383 Lauster, Martina 378 Lavater, Johann Caspar 76 Lazarus, Moritz 71, 204, 206, 211, 213, 214, 279 Ledebour, Georg 310 Ledebur, Albertine von 111 Ledebur, Carl von 111 – 113 Ledebur, Ernst von 110 Ledebur, Ferdinand von 111, 113 Ledebur, Henriette von 110 Ledebur, Leopold von 109, 110, 113, 114, 116 Ledebur, Theodor von 113 Ledebur, Wilhelm von 110 Ledebur, Wilhelmine von 110 – 114, 117, 118 Legras, Jules 3 Lenin, Wladimir Iljitsch Uljanow 24 Lenné, Peter Jospeh 261, 271 Leoncavallo, Ruggiero 273 Leonidas I. 433 Leopold Friedrich Franz von Dessau 82 Lepel, Bernhard von 206, 359, 381 Lepsius, Richard 275 Lerminier, Eugène 164, 174 Lesser, Ludwig 332
PERSONENVERZEICHNIS
Lessing, Gotthold Ephraim 65, 70, 90, 159 Levetzow, Konrad 85 Levin, Rahel siehe Varnhagen, Rahel Levy, Sara 148 Levysohn, Arthur 224, 225 Levysohn, Wilhelm 225 Lewald, Fanny 276 Lewes, George Henry 87 – 89, 91, 94 Lewisohn, Ludwig 8 Libelt, Karol 38 – 40, 43 Lichtenstein, Hinrich 3, 29, 30, 147 Lichtwark, Alfred 281, 371 Liebermann, Adolf 277, 280 Liebermann, Max 71, 283 Limburg-Stirum, Friedrich zu 236 Lind, Jenny 192 Lindau, Paul 281, 391, 392, 404, 422 Lindner, Rolf 379 Link, Heinrich Friedrich 147 Lissauer, Ernst 8 List, Joel Abraham 42 Liszt, Franz 195 Loevinson, Moritz 201 Löw, Martina 270 Löwe, Carl 328, 335 Loos, Adolf 243 Lortzing, Albert 192, 194, 196 – 198, 388 Louis Ferdinand von Preußen 31, 83, 84, 163, 172 Louis-Philippe I. (König v. Frankreich) 23, 25, 465 Lowell, James Russell 376 Luca, Ignaz de 156 Lucae, Richard 206, 208 – 211 Luckhardt, Wassili 286, 296 Ludecus, Johann August 84 Ludwig II. (König v. Bayern) 17 Ludwig XIV. (König v. Frankreich) 473, 478, 483 Ludwig XVI. (König v. Frankreich) 20 – 23, 27 Ludwig XVIII. (König v. Frankreich) 23 Lübke, Wilhelm 206, 208, 290 Luhmann, Niklas 169 Luise von Preußen (Königin) 148, 182 Luise von Preußen (Prinzessin) 31 Lukács, Georg 241
523
Lux, Joseph August 302 Luyken, Jan 477, 487 Mackay, John Henry 310, 312 MacLean, Lauchlan 208 Maeterlinck, Maurice 279 Malaparte, Curzio 24 Maltitz, August von 42 Manet, Edouard 370 Mann, Heinrich 239, 421 – 425, 427 – 430 Mann, Thomas 230 Marcinkowski, Karol 38 Marheinecke, Philipp Konrad 147 Marholm, Laura 310 Maria Theresia von Österreich (Kaiserin) 55 Marr, Wilhelm 186 Marx, Karl 24, 165, 176, 187 Matzdorff, Carl August 126 Maupassant, Guy de 423 Mauthner, Fritz 92, 310, 312, 391, 392 Mebold, Karl August 341 Mecklenburg-Strelitz, Karl von 31 Mehring, D. G. C. 156 Mehring, Franz 115 Meier-Graefe, Julius 281 Meissonier, Ernest 280, 370 Mendelssohn, Moses 64, 65, 70 Mendelssohn, Peter de 215 Mendelssohn-Bartholdy, Felix 30, 195 Menzel, Adolph 35, 52, 191, 204 – 206, 210 – 212, 231, 280, 281, 361 – 363, 370 – 372 Menzel, Elisabeth 276 Menzel, Wolfgang 340, 341 Mercier, Sebastien 49 Merckel, Wilhelm von 206 Messel, Alfred 245 – 248, 255, 256, 268, 271 Metternich, Klemens Wenzel Lothar von 194, 201 Meusel, Johann Georg 156 Meyen, Eduard 154 Meyer, Babette 276 Meyer, Conrad Ferdinand 381 Meyer, Heinrich 82 Meyerbeer, Giacomo 191 – 193, 195, 197 Michelet, Karl Ludwig 43 Mickiewicz, Adam 38
524
PERSONENVERZEICHNIS
Mierosławski, Ludwig 39, 40 Mies van der Rohe, Ludwig 250 Milnes, Richard Monckton 88 Mirbach, Ernst von 287, 289 – 291, 293 – 295 Mitscherlich, Eilhard 147 Mohl, Robert von 176 Molière 237 Moltke, Kuno von 241 Mommsen, Theodor 94, 281 Mosse, Emil 222, 223 Mosse, Markus 220 Mosse, Paul 221 Mosse, Rudolf 215, 219 – 226 Mosse, Salomon 221 Mosse, Theodor 221 Mozart, Wolfgang Amadeus 94 Mühler, Heinrich von 208, 327 Mühsam, Erich 310 Müller, Adam 122, 124 Müller, Johannes 122, 136, 142, 147 Müller, Lothar 428 Munch, Edvard 310 Muret, Eduard 484 – 486 Napoleon III. 257 Napoleon Bonaparte 19, 22, 30, 33, 85, 125, 433 Naunyn, Franz Christian 200 Neander, Johann August Wilhelm 147 Neumann, Wilhelm 149, 150 Nicolai, Friedrich 79 Nicolai, Otto 196, 197 Nicolovius, Ludwig 149 Niebuhr, Barthold Georg 31, 149 Nietzsche, Friedrich 94, 312, 384 Nohl, Hermann 170 Nolte, Ernst 23 Nora, Pierre 476, 490 Nostitz, Alfred von 282 Nostitz, Helene von 277 Oelsner, Konrad Engelbert 125 Oesterle, Günter 383 Oettinger, Eduard 326 Oldenburg-Januschau, Elard von 118 Oriola, Maximiliane von 276 Orth, August 248, 252
Otto, Ulrich 202 Overbeck, Johann Friedrich
35
Paganini, Niccolò 195 Panwitz, Sebastian 121 Pawlowna, Maria 85 Pehnt, Wolfgang 247, 256 Perl, Joseph 42 Perthes, Friedrich Christoph 152 Pfuel, Ernst von 26, 115 Piereth, Wolfgang 121 Pietsch, Ludwig 212, 213 Pless, Fürst von 277 Poselger, Friedrich Theodor 147 Prescott, William Hickling 145 Prittwitz, Karl Ludwig von 26 Proudhon, Pierre Joseph 24 Przybyszewski, Stanisław 44, 310, 312 Pückler-Muskau, Hermann von 159 Püschel, Ursula 187 Quandt, Johann Gottlob von 85 Quast, Ferdinand von 290, 498 Quidde, Ludwig 233 Raabe, Wilhelm 60, 62 Rabelais, François 236 Raczyński, Atanasy 33 – 37, 39 Raczyński, Eduard 33 Radziwiłł, Anton 31 – 33, 37, 111 Radziwiłł, Elise 32 Ramler, Karl Wilhelm 58 Raschdorff, Julius 289 Rath, Anna vom 275, 276 Rathenau, Walther 390, 426 Rauch, Christian Daniel 35, 90, 91, 94, 172 Raumer, Friedrich von 135 – 146, 147 Raumer, Karl Georg von 140 Raupach, Ernst 149, 333 Rausch, Helke 373 Récamier, Juliette de 172 – 175 Reclam, Pierre Christian Frédéric 478, 480, 488, 489 Reger, Erik 457 Reicha, Antonin 190 Reichenbach, Eduard von 114 Reichenbach-Brustawe, Heinrich von 115
PERSONENVERZEICHNIS
Reimer, Georg Andreas 149 Reinbeck, Georg 84 Reinhold, Otto 241 Reischach, Hugo von 278 Rellstab, Ludwig 191 – 193, 339 Renfner, Johann Heinrich 127, 130 – 132 Reuss, Jeremias David 156 Reuter, Fritz 7, 461– 467, 469– 471 Richter, Cornelie 276, 279, 282 Richthofen, Bernhard von 292 Rick, Carl 196 Riegelmann, Gotthold 291 Riehl, Wilhelm Heinrich 375, 376 Riemerschmidt, Richard 278, 282 Rimpler, Otto 28 Ring, Max 6, 164, 375 – 380 Ritter, Carl Georg 147 Robert, Ludwig 149, 333, 334 Rochau, Ludwig von 356 Rodenberg, Julius 6, 271, 272, 381 – 390 Roland, Charles Frédéric Auguste 481 Rollenhagen, Georg 234 Roquette, Otto 206 Rossini, Gioacchino 193, 197 Rotteck, Karl von 340 – 342 Rudolf von Österreich-Ungarn 68 Rust, Johann Nepomuk 147 Sablé, Madeleine de Souvré de 89 Sachs, Hans 236 Said, Edward 97 Saint-Marc-Giradin 142, 143, 145, 173 Sainte-Beuve, Charles-Augustin 174 Sand, George 39 Sander, Johann Daniel 123 Sander, Sophie 148 Saphir, Moritz Gottlieb 324 – 328, 333, 334 Saß, Friedrich 5 Savigny, Friedrich Carl 35, 49, 147, 149, 165 Schaden, Adolph von 42 Schadow, Wilhelm 35, 356 Schadow, Gottfried 85 Schäche, Wolfgang 261, 262 Schäffer, August 193 Scharnhorst, Gerhard von 347 Schaudt, Emil 290 Scheerbart, Paul 310
525
Scheerer, Carl Johann August Theodor 328 Scheffler, Karl 256, 426 Scherenberg, Christian Friedrich 212, 323 – 326 Scherl, August 215, 217 – 219, 226 Scherr, Johannes 422 Schickele, René 283 Schiller, Friedrich 69, 79, 90, 148, 273, 329, 333, 469 Schinkel, Karl Friedrich 34, 35, 209, 249, 257, 328, 355 Schippel, Max 312 Schladen, Friedrich Gottlieb von 110 Schlawe, Fritz 229 Schlegel, August Wilhelm 84, 148 Schlegel, Friedrich 83, 84, 148, 418 Schleiermacher, Friedrich 84, 85, 137, 140, 142, 143, 147, 149, 158, 166, 167, 170 – 174, 176, 177 Schlesier, Gustav 164 Schleucher, Kurt 81 Schlüter, Andreas 49 Schmidt, Erich 275 Schmidt, Hartwig 265 Schmidt, Julian 212, 452, 463, 470 Schmidt, V. H. 156 Schmidt-Weißenfels, Eduard 155 Schnaase, Karl 290 Schneider, Louis 327, 328, 334, 335 Schöller-Schwedes, Oliver 421 Schöne, Richard 252 Schönrock, L. 141 Scholem, Gershom 64 Scholtz, Julius 370 Schopenhauer, Adele 86 Schopenhauer, Arthur 76, 81, 86, 455 Schopenhauer, Heinrich Floris 75, 78 Schopenhauer, Johanna 75 – 86 Schoppe, Julius 147 Schütze, Stephan 84 Schultz, G. P. 156 Schultz, Hartwig 185 Schumann, James 346 Schwechten, Franz 245, 289, 290, 295 Schwerin-Putzar, Maximilian von 41 Schwind, Moritz von 35 Scott, Walter 56, 334
526
PERSONENVERZEICHNIS
Scribe, Eugène 191 Seckendorff, Karl Siegmund von 82 Sehring, Bernhard 248 Senden, Oberregierungsrat von 113 Sengle, Friedrich 325 Sennett, Richard 3 Shakespeare, William 236, 451, 454 Siemens, Georg von 280 Siemiradzki, Henryk 32 Siemann, Wolfram 121 Sieveking, Karl 149 Simmel, Georg 4, 5, 95, 177, 315, 318, 401, 421 – 423, 426 – 430 Singer, Wolf 7 Sinsheimer, Hermann 220 Sittenfeld, Julius 108 Skarbina, Franz 281 Smidt, Heinrich 327, 333 – 335 Sösemann, Bernd 121 Solger, Karl 138 – 140, 144 Solmar, Henriette 172 Sontag, Henriette 193, 328, 329 Spender, Stephen 285 Speyer, Wilhelm 319 Spielberg, August 289 Spielhagen, Friedrich 7, 281, 396, 449 – 454, 457, 458 Spinoza, Baruch de 89 Spitzemberg, Hildegard von 279 Spohr, Louis 192 Spohr, Wilhelm 310 Spontini, Gaspare Luigi Pacifico 30, 191 Sprengel, Peter 325 Springer, Robert 4 Staël, Germaine de 3, 76, 77, 80, 86, 148 Staegemann, Elisabeth von 148 Stahr, Adolf Wilhelm Theodor 90, 186 Stanhope, Philip Henry 145 Stein, Julius 115 Stein, Karl vom und zum 31, 347 Stein zum Altenstein, Karl vom 165 Stein, Lorenz von 176 Steiner, Rudolf 310 Stendhal 1 Stengel, Walter 492 Stern, Günther siehe Anders, Günther Stern, Julius 282
Sternberg, Alexander von 163 Stieglitz, Charlotte 159 Stirner, Max 312 Stoecker, Adolf 46, 293 Storm, Theodor 69, 206, 381, 396 Strack, Johann Heinrich 35, 36, 248, 249, 500 Strauß, David Friedrich 89, 440 Strauss, Richard 202 Streckfuß, Adolf 26, 149, 224, 435, 440 Streim, Gregor 243 Strindberg, August 310 Stüler, Friedrich August 248 – 251, 289, 368 Stumm, Carl Ferdinand 236 Sudermann, Hermann 279, 281 Sue, Eugène 378 Szymanski, Norbert 261, 262 Taschner, Ignatius 503 Taubert, Carl Gottfried Wilhelm 193, 197 Teistler, Hermann 310, 312 Tenbruck, Friedrich 162 Tergit, Gabriele 8 Theoderich 290 Thurneysen (d.Ä.), Johann Jakob 480, 482 Tiaden, Enno Johann Heinrich 156 Tieck, Friedrich 83 Tieck, Ludwig 83 – 85 Tiele-Winckler, Graf von 277 Tocqueville, Alexis de 174 Tönnies, Ferdinand 177 Tortarolo, Eduardo 121 Treitschke, Heinrich von 1, 3, 33, 46, 214, 281, 383 Trosiener, Christian Heinrich 75 Trotzki, Leo 24 Tschech, Heinrich Ludwig 199 Tschirch, Otto 130 Tschudi, Hugo von 71, 251 Tuczek, Leopoldine 192 Türk, Julius 310, 312 Turgenew, Iwan 174 Twain, Mark 1 Uechtritz, Friedrich von Ullstein, Franz 220 Ullstein, Hans 220
41
PERSONENVERZEICHNIS
Ullstein, Hermann 220 Ullstein, Leopold 215, 217, 219, 220, 226 Ullstein, Louis 220 Ullstein, Rudolf 220 Unger, Friederike Helene 123 Unger, Johann Friedrich 123 Valentin, Veit 107, 114 Varnhagen, Rahel geb. Levin 41, 72, 81, 83 – 86, 148, 159, 163, 167, 168, 172, 173 Varnhagen von Ense, Karl August 33, 41, 85, 87 – 91, 132, 133, 149, 150, 159, 163, 165, 167, 172, 173, 178, 187, 333, 439 Velde, Henry van de 242, 278, 282 Virchow, Rudolf 115, 495 Vischer, Friedrich Theodor 95, 458 Vogel, Hugo 481, 489 Vogt, Karl 207 Voltaire 15, 78, 235 Vordtriede, Werner 184 Vulpius, Christiane 83 Waagen, Gustav Friedrich 35 Wagner, Richard 17, 193, 194, 196 – 198, 202, 273, 377, 455 Wallot, Paul 234, 368 Weber, Carl Maria von 193 Weber, Max 4 Weerth, Georg 467 Weidner, Albert 310 Weisbach, Werner 271 Weiss, Christian Samuel 147 Weiz, Friedrich August 156 Weller, Bernd Uwe 237, 239, 242 Werner, Anton von 231, 251, 481 Werner, Zacharias 84, 150 Westphal, Karl Friedrich 94 Wiedemann, Conrad 215 Wieland, Christoph Martin 79, 82, 84 Wildenbruch, Ernst von 281
527
Wilhelm I. (dt. Kaiser) 32, 200, 201, 286, 287, 289, 291, 292, 499 Wilhelm II. (dt. Kaiser) 45, 232, 233, 237, 242, 251, 253, 273, 289, 291, 426, 488 Wilhelmy, Petra 275, 276 Wille, Bruno 310 – 312, 315, 316 Willisen, Emilie von 179, 180 Willisen, Karl Wilhelm von 112 Winckelmann, Johann Joachim 90 Wittekind 462 Wöllner, Johann Christoph 131 Wöniger, August 40 Wolden auf Wusterbarth, Heinrich von 116, 118 Wolf, Friedrich August 123 Wolff, Fritz 248, 256 Wolff, O. L. B. 338 Wolff, Theodor 225 Wolff, Ulrike 220 Wolffenstein, Richard 223 Wolfskehl, Henriette von 82 Woltmann, Karl Ludwig 122 Wolzogen, Ernst von 310 Woolf, Virginia 88 Wrangel, Friedrich von 28, 202, 371 Wranitzky, Paul 190 Wülfing, Wulf 325 Xerxes I.
433
York von Wartenburg, Ludwig
115
Zahn, Wilhelm 389 Zelter, Carl Friedrich 30, 31, 85 Zeune, Johann August 149 Zinna, Ernst 366, 442, 443 Zöllner, Karl 206, 208, 210 Zola, Émile 376, 384 Zolling, Theophil 281