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German Pages [580] Year 1961
MARGRET DIETRICH EUROPÄISCHE DRAMATURGIE IM 19. J A H R H U N D E R T
MARGRET DIETRICH
EUROPÄISCHE
DRAMATURGIE
IM 19. JAHRHUNDERT
1961
H E R M A N N B Ö H L A U S N A C H F. / G R A Z - K Ö L N
Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Unterricht und des Kulturamtes der Stadt Wien auf Antrag des Notringes der wissenschaftlichen Verbände Österreichs (Vorschlag der Gesellschaft für Wiener Theaterforschung).
Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 1961 by Hermann Böhlaus Nachf., Graz In der Borgis Garamond gedruckt bei G. Gistel & Cie., Wien III Buchbinder: H. Scheibe, Wien III
INHALTSÜBERSICHT Seite
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Vorwort I. Die Situation der Dramaturgie am Beginn des 19. Jahrhunderts
13
II. Weltüberwindung und Lebensironie (Die Dramaturgie der deutschen TLomantik) 15 1. Der Mensch im dualistischen Sein 15 2. Auferstehung, Katastrophe und Himmelfahrt des Menschen in der Tragödientheorie 20 3. Mensch und Welt im ironischen Übermutsspiegel der Komödie 27 4. Vorbilder und Wahlverwandtschaften 42 Das „unheilige" Menschenbild der Antike (44) — Das StatischMechanische des Menschenbildes im spanischen Drama (50) — Das Tragisch-Dynamische des Menschenbildes bei Shakespeare (58) — Das unperspektivische Weltbild — Das akausale Weltbild — Die dramatische Gerechtigkeit — Die Dissonanz des Weltbildes — Die Polarität des Komischen und des Tragischen — Die Harmonie des Weltbildes. III. Die Gleichberechtigung der Gegensätze im Drama dramaturgisches Welt- und Menschenbild)
(Schellings 83
1. Freiheit und Notwendigkeit in den dramaturgischen Betrachtungen von Schiller und Schelling 83 2. Das Tragische und die Identität der Gegensätze im Absoluten der Vernunft 88 IV. Das Drama der Darstellung des dialektischen Weltprozesses (Hegels dramaturgisches Welt- und Menschenbild) 97 1. Gegenstand der dramatischen Kunst: die Existenz als dialektischer Prozeß 97 2. Das substantielle Pathos des dramatischen Helden als Exponenten des Weltgeistes 100 3. Die dramatischen Gattungen im System der Kunstlehre . . . . 105 Die Tragödie: Substantiality (105) — Die Komödie: Subjektivität (107) — Das Schauspiel: Individualität ohne existentielle Gefährdung (116). V. Das Drama als Widerspruch des Willens zum Leben hauers dramaturgisches Welt- und Menschenbild)
(Schopen124
1. Das Drama als Spiegel der Welt: Tragik der Individualität. . . 125 2. Die Wirkungsaufgabe der dramatischen Kunst: Erziehung des Menschen zur Resignation 130
6
Inhaltsübersicht VI. Der Held in der Eisregion des Weltprozesses (Hebbels turgisches Welt- und Menschenbild) 1. 2. 3. 4. 5. 6.
drama133
Heroischer Pessimismus Der Weltprozeß als Weltgesetz im Drama Die „Ideen" im Drama Die Schwellen- und Krisenzeit-Theorie Existentielle Sittlichkeit in Hebbels Auffassung Das zeitgemäße, aktuelle Drama
133 139 144 148 151 152
VII. Der Mensch in der Begegnung mit dem Unbegreiflichen (Grillpar^ers dramaturgisches Welt- und Menschenbild) 154 1. Die poetische Anschauung und der Schicksalsbegriff 154 2. Der bedrängte Mensch in der inkommensurablen Existenz . . . 160 3. Das historische Drama und das rein Menschliche: Der Dichter der letzten Dinge 163 VIII. Bühnenwirklichkeit und Lebensdarstellung (Weltschenbild in der Dramaturgie der englischen Romantiker)
und
Men172
1. Coleridge: Die Imagination und ihr Anteil am Schaffen von Seinswirklichkeit im Drama 172 2. Charles Lamb: Seinswirklichkeit und Spielwirklichkeit der Bühne. „To play under or beside the life" 184 3. William Hazlitt: Das Drama als Spiegel der Zeit und ihrer Menschen 194 Es gibt keine objektiven Kunstregeln (195) — Bedingungen für die Kunst, Komödien zu schreiben (203) — Die Katharsiswirkung im Drama als Erleichterung des Herzens (208). IX. Lasaulx: Das Drama als homöopathisches Heilungsmittel. . . 2 1 0 X . Abgrundwissen und Wahrheit des menschlichen Herzens (Welt- und Menschenbild in der Dramaturgie der französischen Romantik: Victor Hugo und Alfred de Vigny) 215 1. Das Profil der französischen Romantik 215 2. Kunstform und dramatisches Weltbild bei Victor Hugo . . . . 2 1 8 3. Zwiespaltbewußtsein, Melancholie und Kridzismus als Wurzelboden des romantischen Dramas in Frankreich 222 4. Die christliche Weltsicht als Voraussetzung für das polare Erfassen des Erhabenen und des Grotesken im Drama 224 5. Das Originalgenie und die Individualität des Gestalteten . . . 228 6. Das menschliche Herz und seine Passionen auf der Bühne: Alfred de Vigny 231 XI. Jungdeutsches Zwischenspiel: Bekenntnis zum Leben . . . . 1. 2. 3. 4.
235
Kunst und Leben als Inseparabeln 235 Werdet Volksdichter! 242 Das dramatische Bild der Gesellschaft in der Gegenwart . . . 245 Dualismus und monistisches Weltbild im Drama: Die freie P e r s ö n l i c h k e i t u n d die W e l t o r d n u n g
253
7
Inhaltsübersicht
XII. Sozialrealistische Dramaturgie: Wendung zu aktuellen Fragen des sozialen Lebens (Alexandre Dumas fils) 260 1. Sozialfragen in der französischen dramaturgischen Diskussion des 19. Jahrhunderts 260 2. Soziale Anliegen und Fragen in der Dramaturgie von Alexandre Dumas fils 263 XIII Kampf gegen Dumas fils und seine aktuellen Sozialthesen (Francisque Sarcey) 269 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Les piices bien faites Ablehnung der klassischen Dramaturgie Es gibt keinen Archetypus des Dramas Das Publikum als Wirkungsfaktor Die Kollektiv-Emotionen Die Einheit der Wirkung und die Kontrast-Affekte
269 272 275 277 281 284
XIV. Der poetische Realismus im Leidenschafts drama (Otto wigs dramaturgisches Welt- und Menschenbild) 1. 2. 3. 4.
Lud-
Das Drama der Existenz des Menschen Das innere Drama der Leidenschaft Gestalt und Gehalt Der poetische Realismus
X V . Leiderfahrnis und Leidbewältigung gisches Welt- und Menschenbild)
(Kierkegaards
288 288 294 304 317
dramatur321
XVI. Der Dramatiker und sein Held als Erlöser der tragischen Individuation (Nietzsches dramaturgisches Welt-und Menschenbild) 348 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
Neuentdecktes Griechentum und deutsche Zukunftsträume . . Das Apollinische und Dionysische Die Kunst als Naturtrieb Die Rechtfertigung der Welt als ästhetisches Phänomen . . . . Der Urschmerz der Musik als Rhythmus apollinischer Visionen Die Geburt der Tragödie aus dem dionysischen Chor Die Tragödie im Wandel des Kulturstufenprofils Kritik der Auf klärung: Die Wiedergeburt der Tragödie . . . Die „Geburt der Tragödie" als Theodizee des leidenden Menschen
XVII. Gustav Freytags „Technik des Dramas" 1. Die Definition der Elemente 2. Der Bau des Dramas XVIII. Polti und die 36 Situationen des Dramas X I X . Emile Zola 1. Die Theorie des naturalistischen Dramas 2. Exempel: Therese Raquin 3. Die trostlose Realität X X . Arno Holz
348 352 357 359 362 364 366 373 377 383 383 392 401 412 412 418 422 425
8
Inhaltsübersicht XXI. Brunetiere
438
1. La Loi du Thdätre 2. Der Held als Willensträger XXII. Neue Impulse der englischen Dramaturgie (Pinero
438 440 — Η. A.
Jones — Shaw)
442
XXIII. Paul Ernst
466
X X I V . Gerhart Hauptmann
487
X X V . Strindbergs Vorwort zu „Fräulein Julie"
503
X X V I . Maeterlinck und Hofmannsthal 1. Der Weg nach Innen — La vie interieure 2. Weisheit und Bestimmung — Sagesse et Destinee 3. Am Rande des Tragischen — Die Landschaften der Seele . . .
514 514 525 531
Bibliographie
555
Register
573
VORWORT „The proper study of mankind is man." Dieser Satz Popes gilt auch für das Theater in allen Zeiten. Immer ist es das Bild des Menschen, das von der Bühne herabgespiegelt wird vor das Auge und das Erleben der Zuschauer. Der Mensch in der Welt wird gezeigt, der Mensch in einer Welt, die zu Entscheidungen drängt, die Haltung abfordert, die bewältigt sein will. Wie soll das Drama, das Theater aussehen, das den Menschen in seiner dramatischen Stellung innerhalb der Welt gestaltet, um ihn zu zeigen, zu beschwören, um ihm Symbolbedeutung und Wirklichkeitsspiegelung zu geben? Zweitausend Jahre lang haben sich Denker und Dichter, Theoretiker und Praktiker des Theaters in dramaturgischen, ästhetischen und philosophischen Werken mit dieser Frage beschäftigt. Heute, in unserer Gegenwart, in der erneut die Frage nach dem Menschen in der Welt mit brennendem Interesse gestellt wird, ist es wohl nur natürlich, wenn sich eine Untersuchung über die Dramaturgie eines Zeitalters vorwiegend mit deren Menschen- und Weltbild befaßt. Verfasserin legte vor fast zehn Jahren eine Darstellung vor, die dem Wandel des Menschen- und Weltbildes in der europäischen Dramaturgie von der Antike bis zur Goethezeit zugewandt war l). In der Zwischenzeit sind die Forschungen zur „Europäischen Dramaturgie des neunzehnten Jahrhunderts" entstanden, die ein kompliziertes, vielfältiges Geflecht der geistigen Bezüge und Gestaltungsvorstellungen zu durchleuchten versuchen. Auch hier gilt ihr Hauptinteresse dem Menschen- und Weltbild in den dramaturgischen Schriften des vergangenen Saeculums. Aber die Materie, die sich ihr bot, brachte ganz verschiedene Voraussetzungen mit für die Art, sie darzustellen. Konnte die frühere Arbeit eindeutige Kategorien des Welt- und Menschenbildes als typisch für bestimmte Zeiten in den Werken über das Drama herausstellen, so war dies in der vorliegenden Untersuchung aus mehrfachen Gründen nicht mehr möglich. Der Überblick über die dramatischen Werke von der Antike bis zur Goethezeit umspannte viele Jahrhunderte, in denen ein typologischer Wandel des Welt- und Menschenbildes klar ersichtlich war. Barocke, manieristische und klassische Prägungen in ihrer Eigenart lösten — als Dominanten erfaßt — einander ab. Charakteristische Vertreter der Grundeinstellungen konnten als Repräsentanten ') Europäische Dramaturgie. Der Wandel ihres Menschenbildes von der Antike bis zur Goethezeit, Wien 1952.
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Vorwort
ihrer Zeit begriffen werden. Der Blick auf das Fernliegende ergab konturierte Perspektiven. All dies trifft für das neunzehnte Jahrhundert nicht mehr zu. Der Abstand zu der behandelten Zeit ist geringer; der Aspekt ist dem Näherliegenden zugewandt; die Gegenstände werden also in ihrer Individualität deutlicher erfaßt als in ihrer erst perspektivisch festzustellenden Typik. Die einzelnen Vertreter unter den Dramaturgen des neunzehnten Jahrhunderts können nicht mehr in dem für frühere Zeiten gültigen Sinne als Repräsentanten „ihres" Zeitalters aufgefaßt werden, denn dieses Jahrhundert ist in sich so vielfältig und gegensätzlich, daß es uns Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts kaum als Einheit erscheint. Niemand würde wagen, „ d e n " Geist oder „ d i e " Kulturform des neunzehnten Jahrhunderts unter einen Nenner zu bringen, ohne sich dabei bewußt zu sein, die Erscheinungen zu vergewaltigen. Wie ein dichter Zopf mit vielen Strähnen, wie ein unregelmäßiges Gewebe mit vielerlei typischen und auch ausgesprochen individuellen Mustern breitet dieses Jahrhundert sein Geistes- und Gefühlsleben vor dem Auge des Betrachtenden aus. Manche Gestalten unter den Dramaturgen sind mit ihrem Blick nach rückwärts gerichtet und scheinen Denk- und Erlebnisformen der vorangegangenen Epochen umgestaltend weiterzuführen oder Entwicklungen abzuschließen. Manche von ihnen bilden ihrer Zeit „gemäße" Ansichten und Forderungen an das Drama aus. Andere aber stehen wie erratische Blöcke in großer Einsamkeit in ihrer Zeit, heben sich vom Durchschnittsdenken ab und weisen in eine Zukunftsferne, deren Aspekte sich den Zeitgenossen und auch Späteren oft kaum erschlossen. Rationale Theorien über das Drama stellen sich neben irrationale, realistische neben romantische, eng an Zeitfragen gebundene neben solche, die immer wieder nach dem Allgemein-Gültigen fragen, eklektizistische neben organische. Die Schichtverhältnisse der Gestaltungs- und Erlebnisformen überlagern sich. Der Sinn für die mimische Komponente der Ausdrucksarten tritt im allgemeinen zurück; hart stehen nebeneinander teleologische und irrational-mythische Grundeinstellungen der Weltsicht und des Begreifens vom Menschen in einem enger gesehenen soziologischen oder einem weiter gesehenen ontisch-metaphysischen Lebensraum. Wie könnte man da zur Kennzeichnung des Jahrhunderts mit Kategorien arbeiten, die sich für die Charakterisierung früherer Epochen als brauchbar erwiesen haben? Hier, im neunzehnten Jahrhundert, liegen die Erscheinungen, die frühere Jahrhunderte und Kunstepochen als ein organisches Ganzes zu charakterisieren scheinen, nebeneinander, ineinander verflochten, einander durchdringend. Nur mit der Darstellung der einzelnen Strähnen des Geisteslebens und der einzelnen Gestalten unter den Dramaturgen läßt sich die Vielschichtigkeit und Vielfalt dieses Jahrhunderts erfassen. Der methodische Weg der vorliegenden Arbeit ergab sich also induktiv aus dem darzustellenden Stoff. Lassen sich Romantik und Jungdeutsche Bewegung noch als Gruppenphänomene erfassen, so gilt das für spätere
Vorwort
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Entwicklungen nicht mehr in dem Maße. Einzeldarstellungen verlangten ihr Recht und selbst im sogenannten Naturalismus, in der Neuromantik, im Neuklassizismus sind die Individualitäten so ausgeprägt, daß es nur gewaltsamer Darstellung gelingt, mit generalisierenden und nivellierenden Formulierungen „Stile" des Denkens, des Erlebens, der Anschauungsund Ausdrucksformen zu exemplifizieren. Den einzelnen wurde daher, je näher die dargestellte Zeit an unsere Gegenwart heranrückt, die Aufmerksamkeit zugewandt, auch dort, wo diese einzelnen im Rahmen größerer geistiger Bewegungen verstanden werden müssen. — Dennoch ergibt sich ein erregendes Gesamtbild für die dramaturgische Welt- und Menschenschau des neunzehnten Jahrhunderts, erregend vor allem dadurch, daß sich in diesem vergangenen Saeculum Prozesse anbahnten und abspielten, die heute keineswegs als erledigt oder historisch vergangen angesehen werden können. Die Impulse der Problemsichtungen im neunzehnten Jahrhundert reichen weithin noch in die unmittelbare Gegenwart herein, selbst dort oft, wo generationsbedingte Empfindlichkeiten das Vergangene als ein „Gestriges" kennzeichnen möchten. Je mehr wir uns der Gegenwart nähern, desto umfassender wird in unserer Quellensichtung die Berücksichtigung heischende Literatur, desto zahlreicher werden die Namen der Denker und Dichter, die sich mit dramaturgischen Fragen befaßten; denn aus ihrer Reihe hat weder die vieles verschlingende Zeit noch die wertende Geschichtsschreibung Erscheinungen ausgewählt, übersehen, übergangen oder totgeschwiegen. Wichtiges und Unwichtiges auf dem Gebiete der Dramaturgie sind aus den letzten hundert Jahren noch ungesondert vorhanden, stehen noch in mehr oder weniger anspruchsvollen Bänden in den Bücherkästen und Bibliotheken nebeneinander, dem Wert nach kaum durch neuere Forschungen geschieden. Dennoch kann und will es nicht Aufgabe dieser Untersuchung sein, in Form einer Dramaturgiegeschichte all diese vielen Erscheinungen zu berücksichtigen oder gar zu werten. Hier soll es sich bei der Darstellung nur darum handeln, einige wichtige Marksteine für die Sichtung des Wandels im Welt- und Menschenbild, wie er aus den Dramaturgien des neunzehnten Jahrhunderts sichtbar wird, herauszustellen, wesentliche Richtpunkte zu kennzeichnen, nicht aber darum, historische Vollständigkeit in der Erarbeitung der Quellen zu erzielen und eine Unsumme von Namen zu nennen, die im neunzehnten Jahrhundert auf der Liste der Dramentheoretiker erscheinen. Die in reichem Ausmaß vorhandene, immer wieder mit stereotypen Formulierungen arbeitende Schulästhetik (Leitfäden zur Ästhetik usw.) wurde nicht berücksichtigt. Das Kriterium für die Einschätzung des Wesentlichen ergab sich großteils aus dem Standort des Forschers in der Gegenwart. Diese subjektive Ambition glaubt die Verfasserin dadurch verantworten zu können, daß ihre Arbeit nicht musealen Zielen, sondern dem Lebenden dienen soll.
Vorwort
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Nach reiflicher Überlegung wurde eine Reihe längerer Zitate aus vielen heute nur noch selten benutzten, für viele kaum noch zugänglichen Quellenschriften übernommen, um die Originaltexte in bezeichnenden Auszügen festzuhalten. Die alte Schreibung wurde orthographisch getreu übernommen, um das Fluidum, die Wort-, Satz- und Formulierungsatmosphäre der Quellenwerke nicht zu zerstören. Statt einer Interpretation der dramaturgischen Ansichten Strindbergs wurde das meisterhafte Nachwort des Dichters zu „Fräulein Julie" aufgenommen, das mehr als jede Deutung des Strindbergschen Welt- und Menschenbildes auszusagen vermag und die Quintessenz der Strindbergschen Anschauungen über das Dramatische auf der Bühne enthält. An den Abschluß der Arbeit wurde sehr bewußt Hofmannsthal gestellt, diese Gestalt, deren Denk- und Erlebniswelt aus mehr als 2000 Jahren europäischer Kultur gespeist ist, in den besten Kräften der Vergangenheit tiefe Wurzeln geschlagen hat, diese Gestalt, die herüberreicht in unsere Zeit, der sie ihre Reife und ihren Reichtum im Zeichen eines neuen Adels der dramatischen Weltbewältigung anbietet. Wien, im Frühjahr 1961 Margret Dietrich
I. DIE SITUATION DER D R A M A T U R G I E A M BEGINN DES 19. J A H R H U N D E R T S Am Beginn des neunzehnten Jahrhunderts stehen die umfassenden Systeme der k l a s s i s c h e n und der r o m a n t i s c h e n Dramaturgie. Schillers Verkündung vom Sieg der moralischen Natur über die Physis, vom Sieg der Freiheit über die Notwendigkeit steht — wenn man in die Geschichte der Dramaturgie zurückschaut — wie das Schwert des Erzengels an einer Schwelle, deren Torflügel sich für das komplizierte neunzehnte Jahrhundert verschlossen zu haben scheinen. Dieses neunzehnte Jahrhundert, das seine dramaturgischen Kriterien mit der Milieu- und der Vererbungstheorie aufputzte, mußte sich an Schillers Idealismus reiben, einem Idealismus, der eher als Abschluß einer Epoche verstanden werden will, denn als Beginn. Goethes Organismusdenken sogar, das in der Urpolarität aller Erscheinungen ein ausgewogenes Pendel für die Erfassung der Lebensvorgänge fand, es stieß im neunzehnten Jahrhundert auf eben die gleichen Abwehrkräfte, die sich verbittert gegen die Weimarer Ideale wandten. Das idealische Bildungsziel der Klassik, das auch Wilhelm von Humboldt für das Dramatische in Anspruch nahm, war dem neunzehnten Jahrhundert fremd. Zu zahm, zu edel und ausgewogen, zu glatt erschien ihm diese Meisterung der Lebenskonflikte und der dramatischen klassischen Formen, in die sie eingebettet waren. Daß hinter diesem klassischen Ideal auch eine harte Selbstzucht, eine bitter errungene Leidüberwindung und ein tiefes Bewußtsein der Notsphäre des Lebens ruhten, das wollte das unruhige, unausgewogene junge Jahrhundert nicht wahrhaben, das k o n n t e es nicht wahrhaben wollen, gemäß dem Gesetz, nach dem es angetreten. Daß die Klassik so sehr zu einem gerundeten Ganzen in Stil und Lebenshaltung, in Kunstausdruck und Weltbild gewachsen war, das brachte ihr gleichzeitig die geschlossene Phalanx der Gegner ein, deren Stimmen sich ein ganzes Jahrhundert im Kampf gegen den Weimarischen Geist — wie sie ihn verstanden — nicht genug tun konnten. Mit der klassischen Dramaturgie daher als Wurzelform der Dramaturgie des neunzehnten Jahrhunderts zu beginnen, wäre nicht sehr glücklich. Sie wird, soweit sich das Jahrhundert mit ihr auseinandersetzt und sich an ihr befruchtend reibt, immer wieder herangezogen werden. Anders ist das mit der Romantik, deren Dramaturgie zwar ebenfalls aus dem Wurzelboden des achtzehnten Jahrhunderts wächst, die aber mit ihren dramaturgischen Anschauungen weit und wirksam hinüberragt in das neunzehnte Jahrhundert, dem sie beste Kräfte schenkt.
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I. Die Situation der Dramaturgie am Beginn des 19. Jahrhunderts
Die schon im achtzehnten Jahrhundert ausgebildeten Grundlagen des Irrationalismus, die dann in die Romantik einmünden, sie bilden im neunzehnten Jahrhundert die polaren, ständig wirkenden Gegenkräfte zu dem immer heftiger vordringenden Geist des Rationalismus, des Materialismus und des Naturalismus. Gestalten wie Lenz muten wie Verwandte Grabbes und Büchners an. Der Shakespeare-Enthusiasmus der Stürmer und Dränger, der Goethe des Götz-Stadiums und Schillers Räuber-Periode — sie stehen dem neunzehnten Jahrhundert näher als der Goethe des „Tasso" und der Schiller des „Wallenstein". Lenzens Aufruf, im Drama „Kerle" zu gestalten, er ragt hinüber zu den reifen Werken Grabbes, die der Romantik der „Größe" huldigen, zu den prometheischen Helden Hebbels, die an den überpersönlichen Mächten zugrunde gehen. Den direkten und unmittelbaren Boden aber für die Dramaturgie des neunzehnten Jahrhunderts, die dem tragischen Lebensgefühl eine stark intellektuelle Note beigesellt, bildet die vielgeschichtete und struktumotwendig uneinheitliche Romantik. In ihr mit vielen Fasern organisch wurzelnd, entwickelt das neue Jahrhundert sein Weltbild und entsprechend seine Theorie vom Drama. Freilich gab es auch hier bald Differenzen und Gegenbewegungen gegen manche Züge der Romantik, doch reichen die Einflußsphären, die von der Romantik ausgehen, dank ihrer inneren Vielgestaltigkeit, durch das ganze neunzehnte Jahrhundert hindurch bis in unsere Zeit herein. Eines allerdings muß hier gleich klargestellt werden: Was hier mit der Romantik als dem Nährboden der Dramaturgie und der Geisteswelt des neunzehnten Jahrhunderts bezeichnet wird, hat nichts zu tun mit dem Traum von der blauen Blume, mit Mondscheinliedern und der Begeisterung am Wunderbaren, nichts mit der Naturmythologie und all dem, was man sich angewöhnt hat, unter Romantik zu verstehen. Die Geisteswelt des neunzehnten Jahrhunderts ruht vielmehr, soweit sie sich an die Romantik anschloß — in dem Weltbegriff der Romantik, die das Sein als tragische Existenz auffaßte und damit den Boden zu einer neuen Auffassung von Tragödie und Komödie schuf. Der romantische Ironiebegriff ging in das neunzehnte Jahrhundert ein, Hand in Hand mit der romantischen Lebensskepsis. Wenn auch das neunzehnte Jahrhundert die Lösungsversuche und die Überwindungsformen für die Lebensprobleme, die die Romantik für sich fand, nicht akzeptierte, so steht es doch auf dem gleichen Grund, von dem die Romantik ausging, und der in dem Wort des jungen Friedrich Schlegel einen erschütternden Ausdruck fand: „In allen Dingen sind wir endliche Wesen, nur in einem macht Gott uns unendlich, in der Zerrüttung."
II. WELTÜBERWINDUNG UND LEBENSIRONIE
Die Dramaturgie der deutschen Romantik 1. DER MENSCH IM DUALISTISCHEN SEIN In der Klassik und in der Romantik i) spielt die Auffassung von S c h e i n und S e i n der Welt bei der Formulierung der Forderungen für das Drama eine bedeutsame Rolle. Sie nimmt eine zentrale Stellung ein, von der aus sich dann leicht die Begriffe der romantischen Tragödie und Komödie entwickeln lassen. Ja, Tragödie und Komödie haben primär in ihren Gehaltsaussagen die Aufgabe, Schein und Sein der Welt zu entlarven und zu entdecken, wo die wirkliche Wahrheit liegt. Die Klassik löst diese Frage im Sinne eines idealischen Realismus, der von den Realformen her auf das Typologische weist; die Romantik aber im Sinne des Idealismus, der in der Realität nur die tragische Zufälligkeit der Erscheinungsformen sehen kann; die wahre Wirklichkeit aber nur in der absoluten Idee, im Absoluten selbst sieht. Fritz Strich gibt in seinem Werk „Deutsche Klassik und Romantik" eine glänzende Gegenüberstellung dieser Rolle, die Schein und Sein in der Kunst, insbesondere im Theater der Klassik und Romantik spielen: „ . . . die Wirklichkeit, von der die klassische Dichtung sich abgrenzen wollte, war: die zeidiche Welt, das Erlebnis des zeitlichen Menschen, die Geschichte. Die klassische Dichtung wollte die zeidose Welt und den zeidosen Menschen offenbaren und mußte darum den Anspruch auf jede Illusion von Wirklichkeit weit von sich weisen. Sie wollte Ewigkeit, nicht Zeit gestalten, Notwendigkeit, nicht Zufall, Freiheit, nicht aufgezwungenes Schicksal, und Ideal, nicht Realität. Ja, nicht einmal die Wirklichkeit des Ideals. Denn jeder Anspruch auf Realität, so sagte Schüler, versetzt das Ideal schon in die Zeit. Es ist so lange nur Ideal, als es ganz ohne Interesse und also auch ohne Interesse an seiner Verwirklichung ist. Die Kunst soll nicht den Schein der Wahrheit im Sinne der Wahrscheinlichkeit besitzen, sondern nur den ästhetischen Schein, der darin besteht, daß er nur Schein, nicht Wahrheit ist, nur Form, nicht Stoff, nur Spiel, nicht Wirklichkeit. Es ist also die klassische Form, welche der ungeformten Wirklichkeit gegenübersteht, die zeidos-dauernde, und die Form war es auch, durch welche sich die klassische Dichtung von aller stofflichen Wirklichkeit abgrenzte. Das Theater war der falschen Forderung nach Illusion — die die Klassik ablehnt — besonders ausgesetzt; und auf der Weimarer Bühne führte denn auch die Klassik ihren Kampf gegen Iffland und Kotzebue. Sie machte das Theater wieder zum ästhetischen Schein und Spiel." !) Fritz Strich, Deutsche Klassik und Romantik oder Vollendung und Unendlichkeit, München 1922, S. 219f.
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II. Weltüberwindung und Lebensironie
Dagegen stellt Strich nun die Charakteristik der Romantik: „Auch die Romantik . . . wollte die Dichtung als Schein und Spiel, aber nicht als ästhetischen Schein und ästhetisches Spiel der Klassik. Denn Schein und Spiel stand hier nicht als reine Form gegen die stoffliche Wirklichkeit und nicht als zeitlose Dauer gegen die Zeit. Sondern der romantische Schein — der an sich das wahre Sein kennzeichnet — steht gegen die Wirklichkeit des Raumes — die an sich Trug und Unzulänglichkeit ist — und will ihn ganz in Traum und Phantasie verwandeln." Der romantische Schein — meint Strich — „steht gegen alles äußere, vom schöpferischen Geiste losgelöste Dasein, und will es in das innere Bewußtsein zurücknehmen, wo es nicht zeitlos, doch unendlich dauern kann. Die Romantik wollte sagen: seht, dies ist nur Schein und nicht Erscheinung, nur Einbildung, nicht Bild, und alle Vorstellung auf dem Theater nur Verstellung. Dies ist aber nicht Lüge, sondern höchste Wahrheit selbst, denn alle Wirklichkeit ist ja in Wahrheit doch nur Schein und Traum des Geistes. Nur hat die Schöpfung ihren Schöpfer so bezwungen und gefesselt, daß er zu ihrem Sklaven wurde und sie als Schicksal auf sich nehmen mußte." Das heißt, er kann dieser tragischen und trügerischen Wirklichkeit nicht entfliehen. „Die Dichtung aber hat die Sendung der Erlösung und befreit ihn wieder von dem aufgezwungenen Joch der Wirklichkeit und macht ihn wiederum zum Schöpfer seiner Welt und frei und grenzenlos. Denn in der Dichtung ist die Welt nur Spiel und magische Schöpfung des Geistes" 2 ).
In der Dramentheorie der Klassik wurde das Sein keineswegs als grundsätzlich tragische Tatsache aufgefaßt. Erst wo Wille und Pflicht, Wollen und Sollen auseinandergehen, dort nimmt das Sein dann einen vorübergehend tragischen oder zumindest konflikttragenden Charakter an. In der Dramentheorie der Romantik aber ist das erste und alles andere bestimmende Bekenntnis zum Sein als tragischer Grundgegebenheit ausgesprochen. Das Sein steht zum Absoluten wie das Besondere zum Allgemeinen. Durch Loslösung vom Absoluten hat sich das Sein gebildet. Seine Besonderheit (Individuation) strebt wieder zum Allgemeinen zurück, das Sein will sich im Absoluten wieder auflösen. Das gelingt durch Vernichtung, Zerstörung der Besonderheit, durch Aufhebung der Individuation. In der Katastrophe des Helden, die ihn physisch als Individuum vernichtet, liegt also zugleich die Erlösung aus der tragischen Individuation und das Wiederaufgenommenwerden des Besonderen in den Bereich des Absoluten. Um diesen Prozeß darzustellen, fordert Fr. Schlegel die philosophische Tragödie, die er der ästhetischen Tragödie der Klassik gegenüberstellt. Die Formproblematik der Klassik wird hier zugunsten der Gehaltsproblematik der Romantik ausgeschaltet. Die philosophische Tragödie soll das Absolute als das Ziel allen Werdens hinstellen, als die wahre Wirklichkeit; das Besondere aber als das zu Überwindende, als die zufällige Wirklichkeit 3). Die romantische Tragödie stellt das Verhältnis von Individuum und Universum dar. Individuum und Universum sind getrennte Größen, die zu einer Wiedervereinigung drängen, und zwar auf Kosten des Individuums. Diesen Prozeß darzustellen, ist Aufgabe 2) Fritz Strich, a.a.O.
3) Athenäums Fragmente 1798-1800.
Tragische Endlichkeit
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der Tragödie. Und um nichts anderes als darum, diesen kosmischen Prozeß zu zeigen, geht es. Die romantische Tragödie will nicht den Helden im Lichte der Bildungsideale der Klassik zeigen oder, wie Schiller es will, ihn mit der Gloriole des moralischen S i e g e s über die zweckwidrige Natur umgeben in seinem Untergange. Sie will ihn auch nicht als notwendiges Opfer im Vollzug höherer Gesetzmäßigkeiten zeigen, denen der Held sich dienend beugt und damit seinen Untergang bejaht, erhabene Größe ausstrahlend. Nein, die romantische Tragödie will den Untergang als solchen, da der Untergang die tragische Trennung von Endlichem und Unendlichem aufhebt. Adam Müller und Zacharias Werner nennen darum die Katastrophe das „Himmelfahrtsmoment" der Tragödie. Friedrich Ast verlangt in seinem „System der Kunstlehre" 4 ), daß die Tragödie den Kampf und den zuletzt erfolgenden Übergang des Endlichen in das Unendliche, des Unendlichen in das Göttliche positiv darstelle, als sich selbst gebärende Harmonie. Die Klassik sah das Problem des Subjekt-Seins als eine Bildungsfrage an, als eine Frage, die im Diesseits gelöst werden konnte, sei es korrektiv — sei es im Untergang des Subjekts bei gleichzeitigem Sieg des moralischen Ich oder seiner menschlichen Würde. Die Romantik aber sieht Sein in jedem Falle als tragisch an, da Sein immer Loslösung vom All ist. Es gibt als Erstrebenswertes nur den Untergang aller Eigenheit und ein Aufgehen des Subjektiven in der höheren Realität des Absoluten. Ihr kommt es nicht darauf an, w i e der Held untergeht, sondern daß er untergeht, daß er somit alle Disharmonie auflöst in der großen Harmonie des Absoluten, letztlich in der Liebe Gottes. Sie will zeigen, wie das Ewige aus dem Untergang des Irdischen hervorgeht. Ast formuliert dies folgendermaßen: „Die Tragödie ist die unmittelbare Darstellung einer Handlung, als einer Verknüpfung von Thaten und Ereignissen, in welcher der Kampf zwischen der Freyheit, als der Eigenheit, und dem Schicksale, als der Wesenheit, obwaltet, und entweder in Harmonie aufgelöst, oder auch nur aufgehoben wird durch den siegreichen Untergang der Eigenheit. Das Unendliche oder Göttliche nemlich erscheint im Gegensatze zum Menschlichen als Unbedingtheit, Allmacht und absolute Vorherbestimmung, d. h. als Schicksal, und in sofern es die Freyheit des Menschen beschränkt, als Nothwendigkeit und Verhängniss; die Eigenheit aber, das dem Absoluten entgegenstehende Element, stellt sich als positive Freyheit dar im Kampfe mit der Nothwendigkeit" 5).
Je stärker nun der Mensch in seiner Eigenheit ist, desto sicherer und notwendiger kommt er mit dem Absoluten in Konflikt. Dabei darf bei der Gestaltung der Eigenheit, des Subjektiven, nichts Zufälliges oder gar Schrulliges bestimmend sein, ebensowenig, wie bei der Gestaltung des Absoluten dieses als Zufall oder blindes Geschick dargestellt werden 4) Friedrich Ast, System der Kunstlehre, Leipzig 1805, S. 213. 5) Friedrich Ast, a. a. O., S. 214. Vgl. auch denselben, Grundlinien der Ästhetik, Landshut 1813, §§ 54ff. 2 Dietrich, Dramaturgie
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II. Weltüberwindung und Lebensironie
darf. Die romantische Tragödie zeigt den freien Menschen schlechthin, dessen Leben einem Urdualismus verhaftet ist. Wie steht es nun mit der Freiheit der Entscheidung des Helden in dieser Tragödie? Ast äußert sich dazu: „Harmoniert die That des Menschen mit der Gesammtheit der Dinge, so erkennt er die Vorherbestimmung seiner Handlung, indem sich die Widersprüche, die sich seiner That entgegensetzten, durch Dazwischenkunft des Schicksals auflösen; so sieht er ein, dass er mit eingebildeter Freyheit handelte, da seine That vorherbestimmt war; mit Anerkennung der höheren Macht unterwirft er sich freiwillig dem Schicksale, und tritt über in die Allheit, nachdem sich seine Eigenheit mit der Wesenheit des Unendlichen versöhnt hat, von welcher er sich — angesichts der Schwierigkeiten, die sich ihm entgegensetzten — losgerissen glaubte: die reale, vollendete Harmonie des Menschlichen und Göttlichen tritt ein. Harmoniert aber nicht die That des Menschen mit dem Schicksale, so wird er gezwungen, er, der Einzelne, der Allmacht des Unendlichen sich zu unterwerfen; seine Freyheit geht zugleich mit seiner That unter, und seine Büssung ist die Vernichtung seiner Eigenheit und seines Wesens durch das höhere Verhängniss. Die ursprüngliche Schuld selbst des tugendhaftesten Menschen, dessen Handlung der Tragiker darstellt, ist demnach die Einbildung einer absoluten Freyheit und Losgerissenheit v o m Universum, der Glaube, dass er mit absolutem Vermögen handele, dass sein Wille das absolut Bestimmende und Allmächtige sey, da doch die Freyheit des Menschen als Absolutheit nur Schein ist, und auf der Lostrennung v o m realen Absoluten b e r u h t . . . Die einzige und höchste Lehre der Tragödie ist sonach die wahre, göttliche Freyheit" 6 ).
Die Freiheit des Menschen also als tragische Hybris zu zeigen — als notwendige Überheblichkeit —, das ist die Aufgabe des Tragikers. Diese Hybris, diese Einbildung einer als absolut auftretenden Freiheit findet natürlich im Rahmen des Endlichen, Irdischen, Individuellen leicht statt. Die Endlichkeit verwickelt den Menschen, wenn er sich durch eine freie Tat erproben will. Das Schicksal führt die Auflösung herbei, indem es, als universelles Gesetz, dem der Mensch unterworfen ist, die „freie" Tat des Menschen prüft, ihn freispricht oder verwickelt. — Persönlichkeit sein heißt: den Schranken des Endlichen ausgeliefert sein, wie Friedrich Schlegel es in seinen „Philos. Untersuchungen" 7) aus-
spricht. „Ermorden möcht' ich mich, daß meine Seele in den Himmel schwebe", ruft Brentano mit Ponce aus. Daß das Leben Fessel im Endlichen ist, soll die Tragödie zeigen. Dasein des Menschen allein schon ist Schuld, die nur mit dem Tode zu sühnen ist. Der Tod aber ist keine Strafe, keine wirkliche Sühne, der Tod ist Aufgang, ist Tor zu neuem Leben, ist Eingang in das Unendliche. Er ist Versöhnung und Synthese über allem Streit. Er bindet alles Getrennte wieder und ist das Ziel der Sehnsucht. Friedrich Schlegel spricht es aus: „Sterben ist nicht ein Einschlummern, sondern ein Erwachen des Geistes." Das Bewußtsein von den irdischen Schranken «) Friedrich Ast, a.a.O., S. 217ff. Fr. Schlegel, Philosophische Untersuchungen, hrsg. von Windischmann, Bd. II. Bonn 1936, S. 92.
Dasein ist Schuld: das Menschheitsdrama
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befreien, heißt viele kleine Tode erleben und schließlich den einen großen Tod. Nicht unbedingt der Tod des Helden bildet den Schluß der Tragödie, sondern der Tod seines Egoismus, seiner Eigenheit, deren höchste Steigerung schließlich dann allerdings die Katastrophe und den leiblichen Tod nach sich zieht. Der Held leidet den Tod im Augenblick seiner Anerkennung schuldhaften Eigenseins, im Augenblick der Rückkehr zur Wesenheit. Alles andere kann dann nur noch Marter sein, die das Mitleid vergrößert. Auf diesem Boden gedeiht das Märtyrerdrama, das freilich nur ein Pseudomärtyrerdrama ist; denn die wirkliche Katastrophe, die Auflösung der Individuation ins Unendliche, geht der Marter voraus. A. W. Schlegel bekennt es freimütig: „Die Freudigkeit, womit die Märtyrer in Qual und Tod gingen, war nicht Unempfindlichkeit, sondern der Heldenmut der höchsten Liebe: sie mußten zuvor in unaussprechlich schmerzlichen Kämpfen den Sieg über jede irdische Anhänglichkeit erringen." In diesem Kampfe lernt der Held von dem Irdischen abzusehen, in vielen kleinen Toden, die glückhaft das Jenseits ahnen lassen, die dämonischen Kräfte im Inneren des Menschen zu überwinden, w e n n diese aus dem eingebildeten Eigensinn hervorwachsen, an die scheinhafte, an die endliche Realität anschließen und dabei gegen die göttliche Führung rebellieren — wie Eichendorff es darlegt. Jeder Tod ist neue Versöhnung des Kampfes durch die Liebe. Leben ist stetes Zurückstreben nach dem Unendlichen, ist stete Reibung, stete Überwindung des Scheins. Tod ist Auflösung der Reibung, ist Eingehen in die Harmonie, Weilen im Ewigen. Der Tod ist keine Strafe, keine Schande, keine Niederlage — sondern vielmehr eine Belohnung, eine Gnade, eine Erlösung. Er trifft nicht den Sünder, sondern den Überwinder, den Überwinder des Endlichen, der Besonderheit, der Individualität. Adam Müller spricht nur vom „höheren Todesmoment". „Das Göttliche der menschlichen Natur" soll das Drama bei Solger zeigen, „wie es ganz aufgegangen ist in dieses Leben der Widersprüche" und durch die Vernichtung der Scheinwirklichkeit zu seinem Ausgang zurückkehrt. Diese Rückkehr des Göttlichen zu sich selbst als Synthese über den Widersprüchen ist Thema des Dramas. Selbstschöpfung und Selbstvernichtung, Differenzierung und Einigung, Trennung und Rückkehr sind die ewigen rhythmischen Wechsel alles Lebenden, alles Seins, ist das Gesetz des Göttlichen Lebens. Christus selbst wird zum Symbol des „Menschheitsdramas": Christus ging in die Widersprüche alles Menschlichen durch seine Menschwerdung ein und vernichtete gleichzeitig allen Schein, vernichtete den Widerspruch durch seinen Tod — so legt Solger seine Gedanken über das Drama der Menschwerdung Christi vor. Die Messe wird von Zacharias Werner als ursprünglich göttliche Tragödie bezeichnet. Adam Müller nimmt aus dem Vergleich mit der Menschwerdung Christi seine terminologischen Bestimmungen für einzelne Stadien des Dramas: „Tod", „Auferstehung" und „Himmelfahrt". „Jede Tragödie" — sagt er — „ist nun die Darstellung 2*
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II. Weltüberwindung und Lebensironie
irgendeines erhabenen irdischen Gegenstandes, einer Tat, einer Person, einer Geschichte — die — wiedererweckt, erhöht, und unendlich der Unvergänglichkeit und dem Himmel übergeben wird." Zacharias Werner verklärt das Auferstehungsmoment nach dem Tode des Helden. Schelling empfindet das Trennende zwischen Antike und Christentum darin, daß in der Antike das Endliche etwas für sich gilt, im Christentum aber nichts für sich gilt: „Unterordnung des Endlichen unter das Unendliche ist also Charakter einer solchen Religion", und in diesem Sinne soll die romantische Tragödie gestaltet werden. EichendorfF sieht das Tragische des Menschen, wie es im Drama gezeigt werden soll, in seinem Dasein als Bürger zweier Welten, der Welt des empirischen Daseins, der vergänglichen Werte, und der Welt des Göttlich-Absoluten, des im Christentum Offenbarten. Zwischen beiden verbinden nur Liebe und Gnade. Die Romantik muß das klassische Drama als fatalistisch empfinden, da dort der Mensch untergeht, indem das Gesetz ihn vernichtet. Dort wird der Untergang als Sieg des höheren Gesetzes gefeiert, in der Romantik aber als Eingang in das All. Tragisch kann daher dieser Untergang in der Romantik, trotz der tragischen Konzeption der Prämissen, kaum bezeichnet werden. Tragisch ist nicht der Tod, sondern das Leben, der Egoismus, das Selbstseinwollen, die Individualität. Irdische Stufen ihrer Überwindung in Vereinigungsakten der Freundschaft, der Liebe, bringen der Auflösung ins All, der Harmonie des Göttlichen näher. 2. AUFERSTEHUNG, KATASTROPHE UND HIMMELFAHRT DES MENSCHEN IN DER TRAGÖDIENTHEORIE Die Romantik faßte das Sein als ursprünglich tragisch auf; Sein ist schuldlose Schuld, denn Sein als Existenz des einzelnen und der Welt ist Losgelöstsein vom Absoluten, dem es in ständigen Seinsüberwindungsprozessen wieder zustrebt. Sinn der Tragödie ist, diesen Überwindungsprozeß zu zeigen und im Untergang des einzelnen Besondern den strahlenden Sieg des Absoluten vorzuführen. So fordert Fr. Schlegel zunächst die philosophische Tragödie, später aber die religiöse Tragödie, die nach Ausdrücken von Adam Müller und Zacharias Werner in der Katastrophe des Helden das „Himmelfahrtsmoment" vorführen soll. Adam Müller prägte diesen Terminus 1806, als er in Dresden Vorlesungen „Über die dramatische Kunst" h i e l t D i e schöne und so bezeichnende Stelle aus seinen Vorlesungen, die heute kaum noch jemandem — außer der engeren Fachwissenschaft — bekannt sind, verdient, in ihrem vollen Wortlaut abgedruckt zu werden, besonders, da sie gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit Goethe ist. !) Veröffentl. 1 8 1 2 in Wien in: „Adam Müllers vermischte Schriften über Staat, Philosophie und Kunst," II. Theil.
Dramatischer Schmerz und religiöse Tragödie
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„Wer kennt nicht Göthes Elegie Euphrosyne? Der frühe Tod einer jungen Schauspielerinn, die Göthe für die Bühne erzogen, hatte den Meister in innigen Schmerz versenkt. Lange hatte er geschwiegen: der Kummer des Dichters schien durch die Zeit schon besänftigt zu seyn, als plötzlich jene Elegie, vielleicht die Frucht einer unwillkührlich lebhaften Erinnerung erschien, und auf diese Weise das allzufrüh abgekürzte Leben der Schülerin, dessen die vergessliche Welt kaum noch gedachte, der Unsterblichkeit übergeben wurde. Auf einem nächtlichen Spaziergange folgt ihr Schatten dem Dichter: manche Ahndung des ewigen Lebens der Kunst, die der Meister in dem jugendlichen Leben entwickelt hatte, findet sie getäuscht: sie ist hinuntergekommen in die Schattenwelt, niemand hat sie gekannt oder genannt; nun fleht sie den Dichter an, er möge ihr Gedächtniss verewigen, damit sie würdig treten möge neben Antigone, Polyxena, Elektra und Penelopeia, die alle der tragischen Kunst die Unsterblichkeit verdanken. Viel erinnert sie ihn an die Unerbittlichkeit des Schicksals, an das leicht verflatternde Leben der Sterblichen, die gleichsam die Blüthen alles Irdischen, deshalb am leichtesten verweht sind vom Sturme des Schicksals, während der Stamm und die Krone, das minder Edle und Schöne, länger dauert und nach festerem Gesetze zu bestehen scheint; so müsse die Kunst gerade das schöne Vergängliche berühren: dem die Natur nur kurze Dauer vergönne, grade das könne fordern die Verewigung der Kunst. — Diese ihre Rede, ihre Bitte, ihr Verschwinden stellt der Dichter dar: er erhört die Bitte, indem er sie wiederholt; nach ihrem Verschwinden seinen Schmerz laut ausweint, und endlich sich und den Hörer mit einem einzigen Worte wunderbar beruhigt: „XJnbe^wingliche Trauer befällt mich, entkräftender Jammer, und ein moosiger Fels stützet den Sinkenden nur, Webmuth reisst durch die Saiten der Brust, die nächtlichen Thränen fließen und — über dem Wald kündet der Morgen sich an." Was macht allen Schmerz des Lebens so besonders herbe? eine gewisse Dumpfheit, Unbestimmtheit, Namenlosigkeit: wie ein Nebel, der selbst unsichtbar, unergreifbar alle Gegenstände der Natur in allgemeine Gestaltlosigkeit auflößt. Wisse deinen Schmerz erst zu erkennen, dann zu betrachten, dann darzustellen, kurz ihn zu nennen, im vollen Sinne des Worts, und du hast ihn schon halb überwunden. Beym Verlust eines geliebten Menschen brechen zuerst Nebel und Nacht ein, die die ganze Welt der Seele verhüllen, bis diese endlich wieder fähig wird, das Verlorene ruhig und deutlich zu erkennen: es entwindet sich nun aus der allgemeinen Nacht ein verklärtes Bild des Verschwundenen; nicht, wie es in einzelnen Momenten war, erscheint es jetzt wieder, sondern vollständig, geschlossen, ins Göttliche veredelt, ein wahres Kunstwerk. — Das ist eine gemeine Seele, die mir einwenden könnte, diess ist blosse Erinnerung, Gedankenspiel, ein Bild vom blossen Geist des Verstorbenen! Je edler der Leidtragende, der Zurückgebliebene ist, umso mehr wird er fühlen, dass diess Bild Körper und Geist hat, beydes in einem schöneren, reineren Verein, als das wirkliche Leben es je aufzubringen vermochte. Lassen Sie uns den Moment, in welchem dieses Bild entsteht, den Auferstehungsmoment nennen. Durch dieses verklärte Bild ist der Schmerz nun zwar nicht unterdrückt, aber verwandelt; der monologische — d. h. der das Bild einheitlich empfindende — Schmerz ist jetzt erhöht zum dramatischen: die verklärte Gestalt wandelt unter uns her immer lebendiger, immer namhafter, immer gestalteter, greift in unser fortschreitendes Leben ein, ersetzt immer mehr die leere Stelle, die der Todte hinterlassen, bis wir des Bildes nicht mehr bedürfen, und wir das theure Verlorne in der ganzen Natur fortlebend fühlen I nun kann sich das Bild uns entziehn, aller Schmerz ist überwunden, wir fühlen uns durch den Schmerz erhöht; die Ehre, die wir dem Todten erweisen,
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II. Weltüberwindung und Lebensironie
ist uns zugleich selbst widerfahren; indem wir i h n verklärten, haben wir zugleich uns selbst verklärt, diess nenne ich den Himmelfahrtsmoment. An welches Höhere, unendlich Höhere, diese Worte erinnern möchten, darüber lass ich den Schleier hängen und beziehe bloss meine Rede auf Tragödie! Denken Sie sich die ganze Vergangenheit als einen einzigen grossen verstorbenen Freund; das Schicksal hat das Vergangene hoffnungslos dahingerissen; wirklicher Umgang, im Sinne des gemeinen Lebens, mit diesem grossen verstorbenen Freunde, bleibt Ihnen ewig versagt. Tausend vergangene Dinge, die Sie gern fortbesessen hätten, sind losgerissen von Ihnen: einzelne längst verstorbene Heroen möchten Sie zurück rufen, leben mit ihnen, aber vergebens. So ergreift Sie ein unbestimmtes Gefühl des Schmerzes eben über die Unerbittlichkeit des Schicksals; dieses dauert bis das Kunstvermögen in Ihnen wieder rege wird, das Verlorene sich darstellt, und den Auferstehungsmoment herbeyführt. Nun hebt in Ihrer Seele eine Art von Drama an, der Schmerz wird nun genannt; ein höherer Kreislauf des verlorenen Lebens beginnt: dieses dergestalt erweckte Lebendige ist nun nicht mehr blosser Bürger eines bestimmten Landes, blosser Bewohner eines bestimmten Körpers; es ist zugleich Glied, und reinigt sich immer mehr zum Gliede einer unvergänglichen Welt, welche es am Schlüsse des Dramas, eben durch den von mir s. g. Himmelfahrtsmoment in sich aufnimmt. Jede Tragödie ist nun die Darstellung irgend eines erhabenen irdischen Gegenstandes, einer That, einer Person, einer Geschichte, die auf die hier beschriebene Weise wieder erweckt, erhöht, und endlich der Unvergänglichkeit und dem Himmel übergeben wird . . . Wer bei den Darstellungen der Tragödie einwenden kann, diess sey nur ein Gedankenbild, eine Erinnerung an das vergangene Grosse auf Erden, wie weit ist der noch von der religiösen Bedeutung der Tragödie entfernt, von der Einsicht, dass die Vergangenheit noch edler und schöner, noch gegenwärtiger werde, als sie es je gewesen, durch die Berührung der religiösen Kunst. Sollte die schöne Mythe vom Orpheus, der mit dem Klange seiner Leier die Unterwelt erreicht, einen anderen Sinn haben als diesen? Trete deinen Gang in die Oberwelt nur an, aber sieh nicht zurück auf Eurydicen, die dir folgt. Wenn du deiner herrlichen Kunst gewiss bist, ohne dich umzusehn, musst du wissen, dass sie dir folgt! Hätte der Sänger widerstanden, er hätte sie oben wiedergefunden, in Berg und Thal, in den Quellen und in den Wäldern. Alles grosse Vergangene lässt sich aus der Unterwelt wieder heraufführen: nur die meisten Menschen können dem Vorwitz und der Neugier nicht widerstehen: sie fühlen es, dass Wallenstein wieder heraufsteigt, aber sie müssen sich umsehn, nach dem wirklichen Wallenstein in der Geschichte, und vergleichen, und kritisiren, so geht an ihnen alle Gewalt der Kunst verlohren, während die frömmeren Seelen sich in dem Anschauen unvergänglicher Grösse und durch wirkliche Auferweckung einer anscheinend vergangenen Heldenzeit belohnt finden."
Die Deutung des Orpheus-Mythos als künstlerischem Inbildungsprozeß ist ein Gedanke, der unserer Gegenwart des zwanzigsten Jahrhunderts wieder sehr nahe liegt. In Reaktion auf den Naturalismus des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts stellte sich unsere Zeit erneut und oftmals die Frage nach dem Schaffensvorgang und der ästhetischen Realitätsebene der Kunst. Sie beantwortete diese Frage aus den Perspektiven des Psychorealismus und der Psychoanalyse zeitweise mit den Stilforderungen des Expressionismus und des Surrealismus. Es ist auffällig, daß die Orpheusgestalt auf der Bühne unserer Zeit wieder verlebendigt w u r d e und daß eine bemerkenswerte Faszination, die von
Immer ist es Orpheus, der singt.
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dieser Gestalt gegenwärtig ausgeht, auch zur Erneuerung der alten Orpheus-Opern führte. Diese Erscheinung darf vielleicht — will man sie im Sinne Adam Müllers deuten — symbolhaft aufgefaßt werden als Weg von den „Bildern" des Naturalismus einerseits, vom „monologischen" Impressionismus anderseits und vom ekstatischen Expressionismus dritterseits zum dramatischen Inbild des Bühnenkunstwerks der Zukunft. Adam Müller fährt fort: „In der oben erwähnten Elegie führt Göthe, ein neuer Orpheus, Euphrosynen aus der Unterwelt herauf, vielmehr sie sucht ihn auf, sie klagt ihm, sie habe keinen Namen, er möge sie nennen, damit sie gestaltet, einzeln dem Chor der Heroen zugesellt werden könne. Indem nun sie genannt, betrachtet, erkannt wird, ihre Rede gesprochen, scheint sich, eben durch diese Auferstehung ihres verklärten Körpers, der erste dumpfe, trübe, namenlose Schmerz des Dichters in einen bestimmten dramatischen zu verwandeln. Endlich hat sie ausgesprochen und Hermes ruft sie ab. Nun fällt auch der bestimmte Schmerz mit bestimmter Gewalt über ihn her, doch — über dem Wald kündet der Morgen sich an. Der ewige Geist der Natur erwacht, der Himmelfahrtsmoment ist vollendet: die Natur hat die Wunde, die sie geschlagen, auch selbst wieder geheilt. Auch der neue Orpheus hat sich nach ihr umgesehen, nach der Eurydice, die er aus dem Orkus heraufbrachte: wie würde ihn sonst so unbezwingliche Trauer, so entkräftender Jammer befallen; aber nicht aus Neugier; er wollte es; zum zweytenmal, auch in der verklärten Gestalt, mußte sie sterben, auf dass er mit einem einzigen Worte, mit einem einzigen Hinzeigen nach dem aufdämmernden Morgen, sie zugleich erwecken und zum Himmel erheben konnte. — So läßt der tragische Dichter seinen Helden zum zweytenmal sterben, um die ewig belebende Gewalt der Kunst in ihrer ganzen Fülle zu offenbaren." Den Schmerz, der den Orpheus-Dichter dazu bringt, sich umzuschauen, das Bild zu gewinnen, nennt Müller den monologischen Schmerz. Den Schmerz aber, der sich einstellt nach dem Prozeß des Inbildens, nennt er den dramatischen Schmerz. Der dramatische Schmerz erst ist in der Lage, zu verklären und zu erhöhen, und er ist der einzige, aus dem die rechte Tragödie erwachsen kann. Wie der monologische Schmerz dem Besonderen und Einzelnen verhaftet ist — so der dramatische Schmerz dem Allgemeinen und Absoluten. Er führt in den Bereich der höheren, überindividuellen Gesetzlichkeit und rechtfertigt erst den Anspruch der Tragödie, als wahre, erfüllte Kunst zu gelten. „Ich habe schon früher bemerkt" — fährt Müller fort —, „dass der dramatische Todesmoment des Egmont dahin fällt, wo ihm Ferdinand beweiset, dass alle Wege, ihn aus dem Gefängnis zu befreyen, abgeschnitten sind, wo Egmont mit dem Fusse stampfend ausruft: Keine Rettung, keine? und nun auch ihm, wie dem Dichter der Euphrosyne, Wehmuth durch die Saiten der Brust reisst, und die nächtlichen Tränen fliessen. Süsses Leben ruft er aus u. s. f. Hierauf bricht Ferdinand, Albas Sohn, der Zeuge seines dramatischen Todes, in noch unmässigeren Schmerz aus: er verliere sein Vorbild, düster und leer sey nun sein Leben. In dem Augenblick fühlt Egmont den Contrast zwischen seinem dramatischen und Ferdinands monologischen Schmerz: nun hat Egmont überwunden, er fühlt den Einfluss seines Lebens auf die Freunde, auf die Niederlande, auf die Welt, er fühlt sich unsterblich und Siegessymphonien begleiten seine Himmelfahrt.
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II. Weltüberwindung und Lebensironie
Jetzt können wir sagen, dass das Drama zu vollständiger Beruhigung allseitig geschlossen sey. Jede historische Tragödie hat demnach drey vor allen Dingen zu beachtende Hauptpunkte: 1.) den Auferstehungsmoment oder den Anfangspunkt, den Eingang, 2.) die Catastrophe, deren höheren Todesmoment, den Wendepunkt, den ich am Egmont dargestellt habe, 3.) den Himmelfahrtsmoment oder den Endpunkt. Vom Anfang bis an die Catastrophe erscheint der Held in allmählicher immer dichterer Verwicklung seiner Schicksale, die Natur, die Nothwendigkeit führt ihn ein in das Labyrinth: von der Catastrophe bis ans Ende erhebt sich seine Freyheit, oder was dasselbe sagen will, die Freyheit des Dichters wieder, und das Ende ist da, wo das Gleichgewicht wieder hergestellt ist, die Nothwendigkeit und die Freyheit in ein göttliches Verhältniss, oder vielmehr in eine göttliche Vereinigung treten, indem sie gegenseitig einander unterworfen erscheinen. Nun ist der grosse Gegenstand der Tragödie, es sey ein einzelner Held, oder die gemeinschaftliche That erhabener Charaktere, ein Glied des ewigen und unendlichen Ganzen, der Kunst oder der Natur, wie man will: und vollständig beruhigt, und mit unserm ganzen Wesen, mit unserem Gesichtskreis und Wirkungskreis zugleich erhoben, verlassen wir das Theater. — Nicht ganz so, wie es hier dargestellt, war es mit der antiken Tragödie, sie war etwas weniger heilig als die hier dargestellte, und so bleibt uns mit unserm ganz profanen wirklichen Theater der glänzende Ersatz, die Idee einer viel höheren, religiöseren Bühne, als selbst die Griechen erreichen konnten" 2 ). Überblicken wir die Theorie der Tragödie von Adam Müller, so wird sehr klar, daß sie von einem philosophischen und zugleich religiösen Impetus gelenkt wird, einem Impetus, den Müller in der antiken Tragödie nicht zu finden vermochte. Zwar erkennt er an, daß „das individuelle Leiden, die Verfolgung des Schicksals gegen e i n z e l n e . . . erhoben worden ist . . . zu einem allgemeinen Gefühl vom Walten des Schicksals über alle, über die Götter, Heroen und Menschen, aber der niederschlagende Gedanke des Schicksals selbst ist" — nach Müllers Urteil — „unversöhnt geblieben, dem Gefühle der Freyheit ist kein Weg eröffnet worden, sich religiös geltend zu machen", so daß immer noch ein leichter Stachel zurückbleibe im Zuschauer. Das soll bei der romantischen Tragödie nicht der Fall sein. Auch sie soll zeigen, wie das Schicksal den Helden quält und verfolgt, aber dieses Schicksal soll nicht als Beender des Lebens wirken, sondern als Begründer des Lebens, als dasjenige, was erst frei macht von aller irdischen Enge und ins Ewige sieghaft eingehen läßt. „Der Zuschauer oder Egmont selbst" — meint Adam Müller — „erkennt, dass die Mauern des Gefängnisses die Seele zusammenpressen müssen, damit sie sich gewaltiger entbinde; dass der Gang durch den unterirdischen Kerker aufs Schafot grade der Weg sey, der zur allerhöchsten Freyheit, zur Überlegenheit des Gemüths über Welt und Schicksal, zum Allerherrlichsten, nämlich zum Gefühl des Sieges über den Tod führe." Im antiken Drama sieht er nur Todesverachtung, nicht Todesbesiegung. Versöhnlicher als das antike Drama erscheint ihm das romantische Drama, das in dem Glauben ruht, daß jenseits des Todes das Leben erst beginnt und der Untergang des Helden in seiner Überantwortung an das 2) Adam Müller, a.a.O., S. 142ff.
Tod ist Lebens Anfang, strahlender Beginn
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Unsterbliche, an den Himmel, seinen letzten Höhepunkt finde. Das Schicksal in der romantischen Tragödie kann, von der Liebe zum Leben und zum Sein aus gesehen, nur negativ erscheinen; vom Glauben und von der Offenbarung aus gesehen aber ist es der Begründer des idealen Lebens. Nur durch Vernichtung des Endlichen kann das Unendliche, das höhere Gesetz sich offenbaren. Die Wertwelt der Romantik war in ihrer Weise gewiß nicht weniger real als die der Klassik; während die Klassik aber dem Menschen, dem Diesseits volle Realität ihm Rahmen höherer Gesetzlichkeit zuspricht, während sie das Endliche als Feld der Bildung und somit als Aufgabe zur Erfüllung ansah, erhebt die Romantik nur für das Göttliche, das Jenseits, das Wesenhafte Anspruch auf wirkliche Realität, während das Diesseits, die ungeordnete Welt der eingebildeten Freiheiten, als Trug und Schein dargestellt wird. Die echte Freiheit wächst bei ihr erst aus der Katastrophe, aus der sich der Held durch sein freies Bekenntnis zum Untergang, durch den dramatischen Schmerz und Tod, wie ein Vogel Phönix erhebt und damit den Weg in die Unsterblichkeit antritt. In der Katastrophe liegt der Keim zur Himmelfahrt. Die gleiche negative Einstellung, die Piaton aus der Welt eine dunkle Höhle machen ließ, aus der die Seele sich intuitiv in das Reich der Ideen aufschwinge, spricht aus den Tragödientheorien der Romantiker. Was den Menschen in der Vision der Romantik mit dem Jenseits verbindet, ist ein unermeßliches Vertrauen auf die Übereinstimmung von Schicksal und göttlicher Fügung, Vertrauen auf den höheren Sinn alles unbegreiflich Notwendigen, das sich im Schicksal offenbart, ist sein Glaube. Das wird besonders an Achim v. Arnims Tragödientheorie deutlich. Auch Friedrich Schlegel fordert in seinen Wiener Vorlesungen 18123): „Die Tragödie soll das Rätsel des Daseins nicht bloß darlegen, sondern auflösen, sie soll das Leben aus der Verwirrung der Gegenwart heraus und durch dieselbe hindurch bis zur letzten Entwicklung und endlichen Entscheidung führen. Dadurch greift ihre Darstellung ein in die Zukunft, wo alles Verborgene klar und jede Verwicklung gelöst wird, und indem sie den sterblichen Schleier lüftet, läßt sie uns das Geheimnis der unsichtbaren Welt in dem Spiegel einer tief sehenden Phantasie erblicken, und stellt der Seele klar vor Augen, wie sich das innere Leben in den äußeren Kämpfen gestaltet und in welcher Richtung und Bedeutung und wie bezeichnet das Ewige aus dem irdischen Untergang hervorgeht. Es ist dies freilich noch etwas ganz anderes, als was man gewöhnlich die Katastrophe im Trauerspiel nennt."
Aus allem Tod und Leiden will auch Fr. Schlegel ein neues Leben und die Verklärung des inneren Menschen herauswachsen lassen. Leiden ist nur das Mittel der Verklärung. Das Dasein wird für nichtswürdig erachtet. Es ist nur ein Reflektor, die innere Göttlichkeit des Menschen und das Aufgehen-Können des Menschen im Göttlichen desto heller 3)
Friedrich Schlegels Geschichte der alten und neuen Litteratur, Vorlesungen gehalten zu Wien im Jahre 1812, 2 Bde., Wien 1815.
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II. Weltüberwindung und Lebensironie
erstrahlen zu lassen. Die Tragödientheorie der Spätromantik ist eine Verklärung des Göttlichen im All. Der Mensch spielt dabei nur die Rolle eines Negativs. Das Sein als solches und das Sein des Menschen werden tief skeptisch betrachtet. Dem Menschen kann nur die allumfassende Liebesfähigkeit, die die Gnade auf sich herabzieht, helfen, das irdische Getrenntsein vom Göttlichen zu überstehen, die Wirklichkeit des irdischen, endlichen Lebens zu ertragen, den Scheinwert der Welt zu durchschauen. Der Glaube und die unmittelbare Liebe zum Göttlichen, die Sehnsucht, aus dem Dualismus des Irdischen zur Einheit des Göttlichen zu finden, stellen schon im Leben eine Verbindung mit dem Jenseits her und geben den Maßstab, geben die Kraft, zur echten Freiheit zu kommen. Das Unendliche — schreibt Friedrich Schlegel — ist in jeder wahren Liebe mit eingeschlossen. Diese Liebe aber zieht die Gnade auf sich herab. So kommt Schelling dazu, das Gnadendrama zu fordern, in dem Gott selbst dem Menschen sein Schicksal zukommen läßt, um die Kraft der Gnadenmittel an ihm zu erweisen. Wie anders — und wohlgemut — stellt sich diese tiefe Gläubigkeit der Spätromantik der erschütternden Schwermut des Aischylos (Niobe) gegenüber, die aus den Versen spricht: „Gott selbst den Menschen Schuld entstehen läßt, wenn er ihr Haus von Grund auf niederwerfen will." Nach Brentano ist es der letzte Sinn der romantischen Tragödie und ihre eigentliche Aufgabe, die Zuschauer aus dem Geiste und Erlebnis christlicher Liebe zu Verstehenden und Sehenden, mit den göttlichen Gesetzen und höheren Notwendigkeiten Vertrauten zu bilden. In diesem Sinne schuf Zacharias Werner sehr bewußt das christliche Trauerspiel, Tieck das christliche Legendenspiel. Strich charakterisiert Werners Schaffen sehr treffend in diesem Sinne 4 ): Werners Dramen „sind von der — typisch romantischen — Idee getragen, daß schon das Leben selbst ein Abfall von der unendlichen Einheit Gottes in die trennende und endende Form des Raumes und der Zeit — also des Irdischen — sei und aus der Ursünde und Erbschuld der Ichsucht entstanden. Sie zeigen, wie der Mensch als lebendige Form zerbrochen werden muß, damit er wieder in die Einheit Gottes eingehe. Dies geschieht durch die Liebe und durch den Tod. Wie in den Zeiten des Barock sind Heilige und Märtyrer und solche, deren Rückkehr zu Gott eine Bekehrung ist, die Helden dieser Dramen." Gegen den letzten Satz müssen allerdings Einwände angemeldet werden; denn für die Gestaltung der Märtyrer und Heiligen des Barock waren noch ganz andere Kräfte mit am Werke als in der Romantik. Eine wissenschaftliche Untersuchung, die die Märtyrer und Heiligen im Drama 0) Ebd.
11) Ebd.
12)
Ebd., S. 29.
Ebd.
Existenzschuld und Weltmysterium
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mögen uns dem Guten oder dem Bösen zuwenden, das Maaß können wir dort überschreiten wie hier. Das höchste Drama hat es nur mit ihr zu thun und es ist nicht bloß Gleichgültigkeit, ob der Held an einer vortrefflichen oder einer verwerflichen Bestrebung zu Grunde geht, sondern es ist, wenn das erschütterndste Bild zustande kommen soll, nothwendig, daß jenes, nicht dieses geschieht" 14). Hebbel will seinen Schuldbegriff nicht mit einem dürftigen, billigen Sündenbegriff verwechselt wissen. Die Schuld, in die seine Helden fallen, ist eine notwendige und unausweichliche Schuld — so wie er sie zum Beispiel auch in der Antigone von Sophokles dargestellt findet^). Eine solche Schuld kann in ihrer letzten Tiefe nicht ergründet werden, wenn sie auch durch den Untergang des Helden gesühnt werden muß. Darin liegt seine Tragik. Dennoch wehrt Hebbel sich dagegen, daß Heiberg ihm vorwirft, er sehe als Ziel des Dramas an, die Dissonanz zu setzen. „Das Drama, wie ich es construire, schließt keineswegs mit der Dissonanz, denn es löst die dualistische Form des Seins, sobald sie zu schneidend hervor tritt, durch sich selbst wieder auf, es stellt, wenn ein Gleichnis erlaubt ist, die beiden Kreise auf dem Wasser dar, die sich eben dadurch, daß sie einander entgegen schwellen, zerstören und in einen einzigen großen Kreis, der den zerrissenen Spiegel für das Sonnenbild wieder glättet, zergehen. Aber es läßt allerdings eine Dissonanz unerledigt, und zwar die ursprüngliche Dissonanz, die es von Anfang an überging, indem es die Vereinzelung, ohne nach der causa prima zu forschen, als mit und ohne Creation unmittelbar gegebenes Factum hinnahm, es läßt daher nicht die Schuld unaufgehoben, wohl aber den inneren Grund der Schuld unenthüllt. Doch dies ist die Seite, wo das Drama sich mit dem Weltmysterium in eine und dieselbe Nacht verliert"16). Den letzten Urgrund dieses Dualismus kann das Drama also nicht aufdecken. Es muß ihn als Gegebenheit hinnehmen und die Tragik des Individuums diesem Mysterium anvertrauen — ohne eine Erklärung dafür zu finden. Das Höchste, was das Drama nach Hebbels Meinung erreicht, ist, daß es den Weltprozeß in seinem Vollzug zeigt, ist, daß es die Notwendigkeit des Weltprozesses bejaht, ist, wie er es nennt, „die Satisfaction, die es der Idee durch den Untergang des ihr durch sein Handeln oder durch sein Dasein selbst widerstrebenden Individuums verschafft"Π), eine Satisfaction, die Hebbel dann als unvollständig ansieht, wenn „das Individuum trotzig und in sich verbissen untergeht und dadurch im Voraus verkündigt, daß es an einem andern Punct im Weltall abermals kämpfend hervortreten wird" 18), die dann aber vollständig ist, wenn „das Individuum im Untergang selbst eine geläuterte Anschauung seines Verhältnisses zum Ganzen gewinnt und in Frieden abtritt" 19). Doch dies genüge auch im zweiten Fall nur halb — meint Hebbel — „denn wenn der Riß sich auch wieder schließt, warum mußte der Riß geschehen ? Hierauf habe ich nie eine Antwort gefunden, und Keiner wird sie finden, der ernstlich frägt" 20). it) Ebd., S. 29 f. 16) Ebd., S. 31. ι«) Ebd.
υ ) Ebd., S. 30. π) Ebd. if) Ebd. 20) Ebd., S. 32.
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VI. Der Held in der Eisregion des Weltprozesses
3. DIE „ I D E E N " IM D R A M A Hebbel spricht verschiedentlich von der „Idee", der „höchsten Idee", die er im gesamten Geschichtsverlauf wirksam sieht. Dennoch wehrt Hebbel sich dagegen, das Drama als nichts anderes anzusehen, als etwa als geeignetste Kunstform, in deren Macht es liegt, die Idee des Absoluten in die Erscheinung treten zu lassen, um sie zu veranschaulichen. Er will im Drama kein „allegorisches Herausputzen der Idee", das könne nur ein abstrakter Theoretiker fordern, der die vermessensten Theorien ausspinne, wie Heiberg, und nicht danach frage „ob auch Flachs um den Rocken sitzt", an dem er spinnen will, und der zufrieden sei, wenn „das Rad schnurrt und der Finger die Bewegung des Fadenziehens macht" i). Nur das Drama in seiner Totalität könne wirken, es sei kein trockener Lehrsatz. „Es ist und war von je her, die lockende Arabeske um eine Chiffre von Geisterhand", eine Arabeske, „die sich nur darum so farbig-bunt, so neckischverzogen um die geheimnisvolle Schrift herum schlingt, damit der Mensch, der am Gastmahl des Lebens schwelgende Belsazar, während er sich an den schnörkelhaft-putzigen Umrissen erfreut, auf denen sein trunkenes Auge mit Wohlgefallen ruht, zugleich auch unbewußt und unwillkührlich das dunkle Warnungswort gewahre und entziffere, das ihn über seine Natur und sein Geschick belehrt" 2 ). Nur mit dieser — unmittelbar im Leben aufgehenden, in der Welt lebendigen Idee hat es das Drama zu tun; es ist — nach Hebbels Formulierung — kein spekulatives „kaltes allegorisches Puppenspiel, das sich um eine äußere Angel dreht" 3), sondern eine „in sich selbst ruhende Schöpfung voll warmblütiger, lebendiger Gestalten" 4 ). Hebbel mußte sich hier gegen einen Vorwurf wehren, der ihm später noch verschiedentlich gemacht wurde. Hermann Bahr, einer der ersten Kritiker, die die Bedeutung Hebbels sehr klar erfaßten, rühmte gerade an Hebbel dieses absolut theatralische Element, das bei ihm wirksam sei — und ihn immer wieder von der Spekulation fort trage in die theatralische Totalität, zu den ewigen Gesetzen der Bühne 5). „Als Goethe mit Schiller versuchte, eine deutsche Bühne zu bilden, schienen sie es leicht zu haben. Was Schröder in Hamburg mit so vieler Mühe, indem er die .Gesellschaft der Theaterfreunde' begründete, sich langsam allmählich erst erziehen mußte, bot ihnen der Hof: ein kunstverständiges und kunstempfindliches Publicum. Kenner und Liebhaber des Schönen waren da, fähig, .jedes Experiment mit Achtung aufzunehmen, ein Werk aus seinen Absichten zu ergänzen, Versuche sinnig zu begleiten, und wenn ja einmal die Laune der guten Bürger ein Bißchen ungeberdig wurde, so wußte dem der Gebieter der Stadt, dann mehr Minister als Dichter, strenge zu wahren, wie in jener Vorstellung des Ion, da er aufstand und rief: man lache nicht I Solche Zucht mußte, sollte man denken, der Kunst doch nützen, und die Kunst darf sich auch in der That nicht beklagen . . . die Schönheit der Geste, der Klang der Rede wurden gei) Ebd., S. 33. 2) Ebd., S. 34. 3) Ebd. *) Ebd. 5) Kritik Bahrs, die er anläßlich der Aufführung von Maria Magdalene am Burgtheater am 4. Mai 1895 niederschrieb.
Idee und Individualisierung
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fördert, Malerei, Musik gewannen. Nur eines war auf diesem Theater vergessen, das Theatralische war vergessen. Was Goethe selbst einst das .Menschengeschick Aufregende und Bezwingende' genannt, wich einem feinen, klugen, geistreichen, aber kühlen und behutsamen Spiel für Kenner und die .Hauptsache' wurde, wie Goethe über den Alarcos an Schiller schrieb, ,daß wir diese äußerst obligaten Silbenmasse sprechen lassen und sprechen hören'. Das war, philologisch und auch ästhetisch, wahrscheinlich sehr nützlich. Aber es war gewiß nicht mehr Theater. Die ästhetische Bildung mochte es fördern. Die dramatische Wirkung förderte es nicht. Es war eben alles da zum Gedeihen der Kunst. Aber eines fehlte zum Gedeihen des Theaters. Es fehlte jene harte und unerbittliche Controlle, die das Theater nicht missen kann. Es fehlte der Pöbel, der dunkel, aber untrüglich, instinctiv den schönen Gedanken und die lebendige Kraft trennt. Die Romantiker trieben es dann noch ärger. Indem sie das Theater immer literarischer machten, machten sie es zuletzt so untheatralisch, daß es seine eigene Caricatur werden mußte, wie im .Gestiefelten Kater', im ,Blaubart' oder in den Immermannischen Experimenten. Sie wollten das Besondere, das Aparte, das Curiose und das Drama soll das Allgemeine, das Gesetzliche, das Ewige. Sie suchten eine Kunst für wenige und so konnten sie das Theater nicht finden, das die Kunst für alle ist. Und so trieben sie so lange Literatur in die Theater hinein bis sie am Ende das Theater aus der Literatur vertrieben. Sie haben manche Schönheit gebracht, dem Theater haben sie nur geschadet, ja sie haben so sehr den dramatischen Sinn bethört und verstört, daß das Wesen der Bühne, was sie denn überhaupt soll und wie sie es soll, später wie eine unerhörte Neuerung erst wieder entdeckt werden mußte. Das hat zuerst Friedrich Hebbel gethan. Es ist thöricht, ihn deswegen zur Moderne zu rechnen. Er war nicht moderner als Lessing oder Schröder. Er hat keine neuen Wahrheiten, er hat nur die alten aus ihrer Verschollenheit gefunden. Er wußte das selbst und tröstete sich gern damit, daß es nicht gilt, ,das elfte Gebot zu erfinden, sondern die zehn vorhandenen zu erfüllen'. Das war sein Wunsch und es ist ihm beinahe gelungen. Er hat die ewigen Gebothe der Bühne erkannt, die so lange vergessen waren, und redlich getrachtet, ihnen nach seinen Kräften zu dienen. So darf ihn, was er über das Drama gedacht und geschrieben, kritisch wohl neben Lessing stellen" 6). Selbstverständlich nimmt die „Idee", nach Hebbels Auffassung, eine zentrale Stelle im Drama ein — aber sie ist nicht der Zweck, dessentwillen es geschrieben wird. „Den dramatischen Dichter macht vor allem, wenigstens in der modernen Welt, die Kunst zu individualisiren, das heißt auf jeden Punct der Darstellung Allgemeines und Besonderes so ineinander zu mischen, daß eines das andere niemals ganz verdeckt, daß das nackte Gesetz, dem alles Lebendige gehorcht, der Faden, der durch alle Erscheinungen hindurch läuft, niemals nackt zum Vorschein kommt und niemals, selbst in den abnormsten Verzerrungen nicht, völlig vermißt wird"'). Hebbel betont, daß es nicht darum gehe, eine philosophische Idee herauszuputzen, daß der Dichter vielmehr „an die unmittelbar ins Leben verlegte Dialectik denken muß" 8) und daß er „sich jedenfalls eher der Gestalten bewußt werden wird, als der'Idee, oder vielmehr des Verhältnisses der Gestalten zur Idee" 9). Hebbel sieht daher den Ausgang und «) „Wiener Theater, 1892-98", erschienen bei S. Fischer, Berlin 1899, S. 270ff. 7 ) Besprechung von Schillers Briefwechsel mit Körner (Werke I, 11, S. 139f.). 8) Werke I, 11, S. 46. Ebd., S. 47. 10
Dietrich» Dramaturgie
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VI. Der Held in der Eisregion des Weltprozesses
Zweck der Tragödie darin, die Tragik der Menschen zu zeigen, das Leid der Individuen in der Totalität des Lebens: und in der Darstellung der „Idee" den Sinn dieser Totalität, auch des Leides, durchscheinen zu lassen, so daß von ihr Erklärung und Trost ausgeht. „Die Ideen" — schreibt Hebbel noch in einer Tagebuchnotiz vom 1. April 1845 — „sind im Drama dasselbe, was der Kontrapunkt in der Musik: nichts an sich, aber Grundbedingung für alles" N>). „Nur dadurch, daß es — das Drama — uns veranschaulicht" — führt Hebbel weiter aus — „wie das Individuum im Kampf zwischen seinem persönlichen und dem allgemeinen Weltwillen, der die That, den Ausdruck der Freiheit, immer durch die Begebenheit, den Ausdruck der Nothwendigkeit, modificirt und umgestaltet, seine Form und seinen Schwerpunkt gewinnt und daß es uns so die Natur allen menschlichen Handelns klar macht, das beständig, so wie es ein inneres Motiv zu manifestiren sucht, zugleich ein widerstrebendes, auf Herstellung des Gleichgewichts berechnetes äußeres entbindet, nur dadurch wird das Drama lebendig" n).
Gibt — meint Hebbel — die zugrunde gelegte Idee den Ring ab — so ist dies doch nur der Ring, in dem es nur die Totalität des Lebens und der Welt darzustellen gilt. Aber dieser Ring (das Problem) ist notwendig, da er das Dargestellte zusammenhält — auf den einzigen Nenner bringt, der der Würde der dramatischen Kunst entspricht, beziehungsweise den Nenner, der ihr den Rang der Würde verleiht. „Ich sage Euch, Ihr, die Ihr Euch dramatische Dichter nennt, wenn Ihr Euch damit begnügt, Anecdoten, historische und andere, es ist gleich, in Scene zu setzen, oder, wenn's hoch kommt, einen Charakter in seinem psychologischen Räderwerk auseinanderzulegen, so steht Ihr, Ihr mögt nun die Thränenfistel pressen oder die Lachmuskeln erschüttern, wie Ihr wollt, um nichts höher als unser bekannter Vater aus Thespis her, der in seiner Bude die Marionetten tanzen läßt. Nur wo ein Problem vorliegt, hat Eure Kunst Etwas zu schaffen" 12).
Das Drama hat mit der Philosophie gemeinsam, daß es die Problematik des Lebens darstellt, daß es „zwischen der Idee und dem Welt- und Menschenzustand vermitteln soll" !3), aber nicht mit den Mitteln der Philosophie — sondern mit denen der dramatischen Kunst. Es muß lebendige Gestalt annehmen und damit die Lebenstotalität zum Ausdruck bringen; daß es dies kann, stellt das Drama in seiner Aussagemächtigkeit über die Philosophie. Dramen zu schreiben ist keine Spielerei — sondern Sache höchster Verantwortlichkeit. Und Kant habe sich in seiner Anthropologie sehr kunstfremd gezeigt — meint Hebbel — da er allen Ernstes erklärte, daß das poetische Vermögen, von Homer an, nichts beweise, als eine Unfähigkeit zum reinen Denken 14). Das reine Denken als Mittel des Philosophen hat aber mit den Erlebnisgehalten des Dramatischen nichts zu tun. Wenn eine Dichtung, ein Drama, nichts will, als philosophische Spekulationen und Ideen ausbreiten, dann hat es seine wahre Aufgabe verfehlt, denn dies vermag die Philosophie klarer Tgb. IV, S. 136. 12) Werke I, 11, S. 45.
ii) Werke I, 11, S. 4. 13) Ebd., S. 57.
" ) Ebd.
Philosophie — Geschichtsschreibung — Dramatik
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und bestimmter. Wenn philosophische Gedanken und Reflexionen die Hauptsache in einem Drama ausmachen, „um das sich das übrige Schnörkelwesen von Figuren und Gestalten ungefähr so herum schlinge, wie auf einem kaufmännischen Wechsel die Arabesken, Merkur und seine Sippschaft, um die reelle Zahl" 15), dann freilich ist das Drama nicht Fisch und nicht Fleisch; es ist nur verspielte Philosophie und ungekonnte Dramatik. Das Drama aber ist „realisirte Philosophie" 16), eine Erlebnisform der Idee, und hat eine Lebensrealität, über die die Philosophie nie von sich aus verfügen kann. Die künstlerische Gestaltung der Idee ist eine ganz eigene und hat mit der der Philosophie nichts gemeinsam. Über das Zergliedern hinaus geht sie zum Erleben vor. Vom Menschen erfährt man mehr, wenn man mit dem Vermögen der Kunst die Lebenstotalität als solche zum Erlebnis bringt, als wenn man Kopf, Brust und Bauchhöhle des Menschen öffnen würde, um in der Analyse sein Wissen zu bereichern 17). Darum geht es eben im Drama um die dem Dramatischen ureigensten Gesetze, lebendige Gestalten zu bieten, zu denen die Idee nur den Kontrapunkt bilden kann. Ohne Idee und Problem freilich ist das Wesen des Dramas ebensowenig erfüllt. Der Kontrapunkt der Idee gehört zum Drama so notwendig wie die Nacht zum Tag, wie die Sonne zum Mond. Ohne diesen Schwerpunkt bliebe nichts als eine Anekdote, eine Geschichte aus dem Leben, gegen die Hebbel sich verwahrt. Ebenso wie Hebbel sein lebendiges Welt- und Lebensdrama vom philosophischen Bühnenstück absetzt — ebenso setzt er es ab gegen die historischen Stücke, die nichts weiter wollen, als historische Begebenheiten der Anonymität und Vergessenheit entreißen. Auch wo verdienstvolle Taten eines Individuums vorliegen im Laufe der Geschichte, ist ein solches doch nicht zugleich dazu geeignet, als Dramenheld in einem Drama behandelt zu werden. Denn die Bühne ist kein „großer Kirchhof mit seinem Immortalitäts-Apparat, den Leichensteinen und Kreuzen und ihren Inschriften" 18), sondern bei ihr geht es um Wesentlicheres. Die Leichensteine, Kreuze und Inschriften, die Gedächtnisreden und Gedenktafeln vermag die Geschichtsschreibung besser zu errichten, als die Bühne, wenngleich das Drama „den höchsten Gehalt der Geschichte" i') in sich aufnehmen kann, wenn es ihm nützlich scheint. Aber wenn es historische Begebenheiten gestaltet, verfolgt es damit andere, und nur der dramatischen Kunst eigene Ziele. Dies sieht Hebbel deutlich an den Geschichtsdramen Shakespeares: „denn Shakespeare scheuerte nicht etwa die alten Schaumünzen mit dem Kopf Wilhelms des Eroberers oder König Ethelreds wieder blank, sondern mit jenem großartigen Blick für das wahrhaft Lebendige" 20) stellte er dar, was an Problemen der Geschichte noch jeden Engländer seiner Zeit bewegte — und, weil es Probleme sind, alle 15) E b d . is) E b d . , S. 59.
10«
ι«) E b d . , S. 56. i«) E b d . , S. 60.
17) E b d . 20) E b d .
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Zeiten bewegen wird. Hebbel wehrt sich heftig gegen den Trödelkram von Kaiserhistorien, die mit dem Historismus des 19. Jahrhunderts in die Mode gekommen waren. „Ist es denn so schwer — fragt er — zu erkennen, daß die deutsche Nation bis jetzt überall keine Lebens-, sondern nur eine Krankheitsgeschichte aufzuzeigen hat, oder glaubt man allen Ernstes, durch das In-Spiritus-Setzen der Hohenstaufen-Bandwürmer, die ihr die Eingeweide zerfressen haben, die Krankheit heilen zu könn e n ? " 2 1 ) Das, meint er, sei Sache des Romans, der sich mit traurigen Geschichten abgeben könne — nicht aber Sache des Dramas, in dem es um das Wesentliche des historischen Weltprozesses gehe, um die gesunden und normalen Probleme, die dem Sein zugrunde liegen, um das Ethos des Seins, um die wahrhaft großen Ideen. 4. DIE SCHWELLEN- UND KRISENZEIT-THEORIE Hebbel fragt nun weiter, in welchen Situationen des Lebens die Tragödie am besten anzusiedeln sei und kommt hier zu seiner berühmten „Krisenzeit-" oder „Schwellenzeit"-Theorie. In Zeiten historischer Krisen, wenn ein Weltzustand in einen neuen übergeht, auf der Schwelle von der alten zur neuen Welt ist die Tragödie zu Haus. Schon oben ist ausgeführt, daß Hebbel das Wesen der Tragödie in der geschichtlichen Entfaltung des Tragischen sah, daß er sie an die Darstellung des Werdenden verwies. Die Tragödie ist für Hebbel ihrem Wesen nach geschichtlich, denn sie stellt das Tragische ja im Weltprozeß dar; der Dualismus kann nur im zeitlichen Ablauf, im Geschehen, das heißt in der Geschichte akut werden. Wo nun Schwellen und Krisen in der Geschichte sind, wo alte und neue Zeit zusammenprallen, wo eine Lebensform abgedankt wird und eine neue aufblüht, wo das Leben in seiner „Gebrochenheit" 1) auftritt, dort kann von dramatischen Gegensätzen gesprochen werden, dort ist der Humus für die Tragödie. „Die Geburtswehen der um eine neue Form ringenden Menschheit" 2 ) soll die Tragödie vorführen. Der Held des Dramas nun — wird zwischen den beiden Welten wie zwischen Mahlsteinen zerrieben. — Als Gehender zerbricht er an der neuen, oder als Kommender zerbricht er an der alten Welt. Nur wo eine „entscheidende V e r ä n d e r u n g " 3) im Weltprozeß vor sich geht — kann der Held daher tragisch gezeigt werden, kann die Tragödie ihren Stoff finden. „Bis jetzt hat die Geschichte erst zwei Krisen aufzuzeigen, in welchen das höchste Drama hervortreten konnte, es ist demgemäß auch erst zwei Mal hervorgetreten: einmal bei den Alten, als die antike Welt-Anschauung aus ihrer ursprünglichen Naivität in das sie zunächst auflockernde und dann zerstörende Moment der Reflexion überging, und einmal bei den Neuern, als in der christlichen eine ähnliche Selbst-Entzweiung eintrat. Das griechische Drama entfaltete sich, als der Paganismus sich überlebt hatt', und verschlang ihn, es legte Ebd., S. 60f. i) Werke I, 11, S. 46.
21)
2) Ebd., S. 42.
3) Ebd., S. 40.
Dramatische Veränderungen im Weltprozeß
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den durch alle die bunten Götter-Gestalten des Olymps sich hindurchziehenden Nerv der Idee bloß, oder, wenn man will, es gestaltete das Fatum. Daher das maaßlose Herabdrücken des Individuums, den sittlichen Mächten gegenüber, mit denen es sich in einen doch nicht zufälligen, sondern nothwendigen Kampf verstrickt sieht, wie es im ödip den Schwindel erregenden Höhepunkt erreicht. Das Shakespearesche Drama entwickelte sich am Protestantismus und emancipirte das Individuum. Daher die furchtbare Dialectik seiner Charaktere, die, so weit sie Männer der That sind, alles Lebendige um sich her durch ungemessenste Ausdehnung verdrängen, und so weit sie im Gedanken leben, wie Hamlet, in ebenso ungemessener Vertiefung in sich selbst durch die kühnsten entsetzlichsten Fragen Gott aus der Welt, wie aus einer Pfuscherei, herausjagen mögten" 4 ). Das Drama zeigt also nicht nur die historischen Krisen — sondern es entsteht auch nur in solchen Krisenzeiten in seiner wahrsten Form. Das Drama zeugt von den Grundproblemen der eigenen Zeit: es ist in diesem Sinne ein Zeitstück. In Krisenzeiten können Krisenzustande empfunden und gestaltet werden — und infolgedessen kann in solchen Zeiten die Tragödie entstehen. Hebbel hat seine eigene Zeit als eine solche Schwellen- und Krisenzeit empfunden; wenn er als Dichter also diesem Zeitempfinden entsprechenden Ausdruck geben wollte, mußte er die Tragödienform wählen — wie „es in einer ähnlichen Krisis Äschylos, Sophocles, Euripides und Aristophanes" 5) getan hatten — oder wie Shakespeare zu seiner Zeit. Was sah Hebbel nun als Krisis in seiner Zeit an? Er spricht davon, daß schon seit Goethes Zeit „die Geburtswehen der um eine neue Form ringenden Menschheit" 6 ) eingesetzt hätten, und für diese Wehen sei der „Faust" ein Beweis. Die Geburt aber sei noch nicht vollzogen. Goethe habe „die große Erbschaft der Zeit wohl angetreten, aber nicht verzehrt", er habe „wohl erkannt, daß das menschliche Bewußtsein sich erweitern, daß es wieder einen Ring zersprengen will" 7), aber er habe kein „gläubiges Vertrauen" zur Geschichte gehabt und — fährt Hebbel fort — „da er die aus den Übergangszuständen, in die er in seiner Jugend selbst gewaltsam hineingezogen wurde, entspringenden Dissonanzen nicht aufzulösen wußte, so wandte er sich mit Entschiedenheit, ja mit Widerwillen und Ekel von ihnen ab. Aber diese Zustände waren damit nicht beseitigt, sie dauern fort bis auf den gegenwärtigen Tag, ja sie haben sich gesteigert, und alle Schwankungen und Spaltungen in unserem öffentlichen, wie in unserem Privat-Leben, sind auf sie zurück zu führen, auch sind sie keineswegs so unnatürlich, oder auch nur so gefährlich, wie man sie gern machen mögte, denn der Mensch dieses Jahrhunderts will nicht, wie man ihm Schuld giebt, neue und unerhöhrte Institutionen, er will nur ein besseres Fundament für die schon vorhandenen, er will, daß sie sich auf Nichts, als auf Sittlichkeit und Nothwendigkeit, die identisch sind, stützen und also den äußeren Haken, an dem sie bis jetzt zum Theil befestigt waren, gegen den inneren Schwerpunct, aus dem sie sich vollständig ableiten lassen, vertauschen sollen. Dieß ist, nach meiner Überzeugung, der welthistorische Proceß, der in unseren Tagen vor sich g e h t . . ." 8 ). Es geht also u m ein neues sittliches Zentrum, das nicht v o m eman4) Ebd., S. 40. 7) Ebd., S. 43.
5) Ebd., S. 43. 8) Ebd.
«) Ebd., S. 42.
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VI. Der Held in der Eisregion des Weltprozesses
zipierten Individuum aus bestimmt wird, sondern das die Dialektik in der Idee selbst wirksam sieht und das Individuum von hier aus neu bewertet. Bis jetzt wurde das emanzipierte Individuum in der neueren Dramatik in den Mittelpunkt gestellt, zum Beispiel bei Shakespeare, der den Widerspruch in das Ich hinein verlegte. Es geht aber in der zeitgenössischen Krise darum, über diese emanzipierte Individualität hinaus vorzustoßen zu einem neuen absoluten sittlichen Zentrum, über die subjektive Sittlichkeit zu einer Sittlichkeit hin, die Hebbel mit der Notwendigkeit als identisch erwiesen sehen will. Es geht also darum, das Ich in seiner Individualität in eine neue Beziehung zum Außer-Ich in seiner Absolutheit zu setzen. Der Weg hiezu kommt Hebbel so vor, wie das Betreten einer kalten Region, in der das Blut zu gefrieren anfange. Immer wieder spricht er ja von der Kälte, die den bedeutenden Menschen, die Persönlichkeit umfange — und er selbst sieht sich diesem Eiswind stets ausgesetzt. Goethe — meint er — sei auf dem Gipfel wieder umgekehrt, mit Widerwillen habe er sich aus der Eisregion zurückgezogen, denn ihm sei es unsympathisch gewesen, die Dissonanzen als solche bestehen zu lassen — mit anderen Worten: der tragischen Ausweglosigkeit der individuellen Situation ins Auge zu sehen. Daher habe er im Faust „als er zwischen einer ungeheuren Perspektive und einem mit Katechismus-Figuren bemalten Bretter-Verschlag wählen sollte, den Bretter-Verschlag vorgezogen und die Geburtswehen der um eine neue Form ringenden Menschheit" 9 ), die er im ersten Teil so großartig anlegte, im zweiten Teil nicht zur Konsequenz geführt; denn im zweiten Teil zeige er diese Geburtswehen nur als Krankheits-Momente des Individuums, das er durch einen „nothdürftig-psychologisch vermittelten Act" zu kurieren suche. In Wirklichkeit aber gehe es hier gar nicht um Krankheitssymptome, sondern um einen sehr gesunden, wenn auch schmerzhaften Entwicklungsprozeß des Bewußtseins. Es darf kein Cachieren der ausweglosen Tragik der individuellen Situation geben. Erst aus dieser Tragik kann ein neues Ethos wachsen, das Ethos der dialektischen Idee. Dieses Ethos zu gewinnen und zu gestalten ist — nach Hebbel — die Aufgabe der in seiner Zeit wieder möglichen Tragödie. Das Wort „Idee" hat bei Hebbel einen metaphysischen Charakter, wobei er dieses Metaphysische anders faßt als Goethes mystische Lösung im Faust II. Der Ring, den das menschliche Bewußtsein in der neuen Krise zu zersprengen sucht — begrenzt das Subjektiv-Individuelle. Das Individuum soll nach der Sprengung dieses Ringes metaphysisch neu visiert und eingeordnet werden. Die Tragödie der Hebbelzeit soll zeigen, wie der Ring zersprengt wird, wie eine neue Sittlichkeit über die alten Zustände zu Gericht sitzt. 9) Ebd., S. 42.
In der Eisregion der dialektischen Idee
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5. EXISTENTIELLE SITTLICHKEIT IN HEBBELS AUFFASSUNG Hebbel sieht diese existentielle Sittlichkeit nach drei Stufen geordnet: an höchster Stelle steht ihm die Sittlichkeit der Idee, sie gilt ihm als die reinste und unbedingteste Form der Sittlichkeit, als das alles Sein bedingende sittliche Zentrum, die absolute Sittlichkeit. Neben ihr gilt die Sittlichkeit der praktischen Welt- und Menschenzustände, also der Gesellschaft, des Staates, der Familie, der Geschlechter usw. Endlich ist da die Sittlichkeit des Individuums. Der Weltprozeß wird nun darin sinnfällig, daß der einzelne, die Sittlichkeit des Individuums, mit der Sittlichkeit des jeweiligen Weltzustandes in Konflikt kommt. Einen absoluten Maßstab nun für die Bewertung der gegensätzlichen sittlichen Rechtsansprüche bietet ihr Verhältnis zur Idee, die die absolute Sittlichkeit vertritt. Die Idee kann als absolutes sittliches Zentrum bei der Darstellung des Weltprozesses gelten, da die Dialektik ja in die Idee verlegt ist. Die dialektische Idee tritt ihrem Wesen nach als Geschichte in Erscheinung, ihre Dialektik konzentriert sich in den Krisenstadien. Der Kampf aber, den das Drama darstellen soll — entspinnt sich zunächst zwischen dem Individuum und der Gesellschaft. Beide haben — von der höchsten Sittlichkeit der Idee aus gesehen — gleichviel Recht und Unrecht. Recht, weil in diesem Kampfe das Leben und die Geschichte erst ermöglicht werden, und weil in der Geschichte sich ja die Idee erst offenbaren kann — und Unrecht, weil beide gleich weit von der absoluten Sittlichkeit entfernt sind. Freilich — in seiner Frühzeit hegte Hebbel mehr Sympathie für das Individuum — später dann galt seine Betonung und persönliche Neigung mehr der Gesellschaft, dem Staate vor allem. Beiden aber spricht er den gleichen Rechtsanspruch zu — in ihrem Konflikt fördern sie die Bewegung der Welt, die Entwicklung der Geschichte, und sie lassen somit die dialektische Idee evident werden. Das Mühlrad der Geschichte, die Mahlräder der in Erscheinung tretenden dialektischen Idee werden in Bewegung gehalten durch ständige Untergänge — durch Krisen und Neuformierungen. Bei Hebbel also wird das dem Ich Gegenüberstehende durch die Gesellschaft oder den Staat, durch die Familie oder den Gegensatz der Geschlechter repräsentiert. Spezifisch seiner Dramentheorie eigen ist die historische Fassung der Existenzproblematik, womit er aber nicht von der Existenzproblematik als solcher abweicht, sondern lediglich einen Modus derselben bevorzugt. Diese historische Fassung der Existenzproblematik mag man als zeitbedingt begreifen, wenngleich Hebbels Schwellen- und Krisentheorie im Zusammenhang mit seiner Visierung des dialektischen Weltprozesses eine große Anziehungskraft auf die Folgezeit ausübte. Man darf die an das dialektische Denken gebundene Einseitigkeit seines Standpunktes nicht übersehen.
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VI. Der Held in der Eisregion des Weltprozesses 6. DAS ZEITGEMÄSSE, A K T U E L L E D R A M A
Es ist wichtig, sich mit Hebbels Aktualitätsbegriff auseinanderzusetzen. Was versteht Hebbel darunter, wenn er sagt, ein Drama solle zeitgemäß und aktuell sein? Er äußert sich dazu in sehr launiger Form in seinem Vorwort zur „Maria Magdalene" in dem er sich beschwert, daß die Kritik seine „Genoveva" nicht begriffen habe. Sie habe nur die Gestalten ins Auge gefaßt, ohne die Idee wahrzunehmen, diese Idee, die er eben als das Zeitproblematische ansieht. Im Vorwort zur „Genoveva" hatte Hebbel seine Dramen als „künstlerische Opfer der Zeit" l) bezeichnet und wollte sie im Sinne der dargestellten Idee als zeitgemäß aufgefaßt wissen. „Der erste Recensent, den meine Genoveva fand, glaubte in jener Bezeichnung meiner Dramen eine der Majestät der Poesie nicht würdige Concession an die Zeitungspoetik unserer Tage zu erblicken und fragte mich, wo denn in meinen Stücken jene Epigrammatic und Bezüglichkeit, die man jetzt zeitgemäß nenne, anzutreffen sei. Ich habe ihm hierauf nichts zu antworten, als daß ich die Begriffe der Zeit und des Z e i t u n g s b l a t t s nicht so i d e n t i s c h finde, wie er zu thun scheint. . . Ich weiß übrigens recht gut, daß sich heut' zu Tage eine ganz andere Zeitpoesie in Deutschland geltend macht, eine Zeitpoesie, die sich an den Augenblick hingiebt, und die, obgleich sie eigentlich das Fieber mit der Hitzblatter, die Gährung im Blut mit dem Hauptsymptom, wodurch sie sich ankündigt, verwechselt, doch, insofern sie dem Augenblick wirklich dient, nicht zu schelten wäre, wenn nur sie selbst sich des Scheltens enthalten wollte. Aber, nicht zufrieden, in ihrer zweifelhaften epigrammatisch-rhetorischen Existenz tolerirt, ja gehegt und gepflegt zu werden, will sie allein existiren, und giebt sich, polternd und eifernd, das Ansehen, als ob sie Dinge verschmähte, von denen sie wenigstens erst beweisen sollte, daß sie ihr erreichbar sind. Man kann fn keinem Band Gedichte, denn gerade in der Lyrik hat sie das Quartier aufgeschlagen, mehr blättern, ohne auf heftige Controversen gegen die Sänger des Weins, der Liebe, des Frühlings u.s.w., die todten, wie die lebendigen, zu stoßen, aber die Herren halten ihre eigenen Frühlings- und Liebeslieder zurück, oder produciren, wenn sie damit auftreten, solche Nichtigkeiten, daß man unwillkürlich an den Wilden denken muß, der ein Klavier mit der Axt zertrümmerte, weil er sich lächerlich gemacht hatte, als er es zu spielen versuchte. Liebe Leute, wenn Einer die Feuerglocke zieht, so brechen wir Alle aus dem Concert auf und eilen auf den Markt, um zu erfahren, wo es brennt, aber der Mann muß sich darum nicht einbilden, er habe über Mozart und Beethoven triumphirt. Auch daraus, daß die Epigramme, die Ihr bekannten Personen mit Kreide auf den Rücken schreibt, schneller verstanden werden und rascher in Umlauf kommen, als Juvenal'sche Satyren, müßt Ihr nicht schließen, daß Ihr den Juvenal übertroffen habt; sie sind dafür auch vergessen, sobald die Personen den Rücken wenden oder auch nur den Rock wechseln, während Juvenal hier nicht angeführt werden könnte, wenn er nicht noch nach Jahrtausenden gelesen würde" 2). An den äußerlichen Alltag soll sich nach Hebbels Meinung das Drama nicht binden — es soll wohl Spiegel der tieferen Lebensprinzipien der Zeit, Spiegel des Jahrhunderts und der Menschheit im Allgemeinen sein, nicht aber Spiegel des Tags und der Stunde 3). Zeitgemäß soll es sein 1) Werke 11, 1, S. 48.
2) Ebd., S. 48f.
3) Ebd., S. 51.
Zeitproblem und Zeitungspoesic
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dadurch, daß es der latenten Krise Ausdruck gibt —, dadurch, daß es den Weltprozeß in seinem gegenwärtigen Zustand widerspiegelt — nicht aber im Anschließen an die zufälligen Gegebenheiten des Gegenwartslebens, die nur Anekdote bleiben können. Wie das Vergangene als Anekdote das Drama nicht interessieren kann — so auch das Gegenwärtige in einer anekdotischen Fassung. Man muß vom Drama mehr als dieses Anekdotische verlangen, es muß in tiefere Lebensbereiche hinabsteigen. „Am allerschlimmsten aber" — wendet sich Hebbel gegen die Kritiker seiner Zeit — „kommt das Drama weg . . . Es soll bloß amüsiren, es soll uns eine spannende Anecdote, allenfalls, der Piquantheit wegen, von psychologischmerkwürdigen Characteren getragen, vorführen, aber es soll bei Leibe nicht mehr thun: was im Shakspeare (man wagt, sich auf ihn zu berufen) nicht amüsirt, das ist vom Nebel, ja es ist, näher besehen, auch nur durch den Enthusiasmus seiner Ausleger in ihn hinein phantasirt, er selbst hat nicht daran gedacht, er war ein guter Junge, der sich freute, wenn er durch seine wilden Schnurren mehr Volk, wie gewöhnlich, zusammen trommelte, denn dann erhielt er vom Theater-Director einen Schilling über die Wochen-Gage und wurde wohl gar freundlich in's Ohr gekniffen" 4). Mit Verbitterung macht sich Hebbel hier über die Shakespeare-Einschätzung seiner Zeit Luft — und geht mit diesen Vorwürfen gegen das — nach seiner Meinung — oberflächliche und von Außen getragene Aktualitätsstreben des Jungen Deutschland an. In deren Sinne lehnt Hebbel die Aktualität ab —; tiefer muß das Zeitgemäße in seinem Drama begründet sein: es ruht mit seinen festen Wurzeln in der Existenz der Welt und des Lebens, einer Existenz, deren dialektische Entfaltung ihm den Anhaltspunkt, die Haken und Ösen bietet, in denen er das Zeitgemäße für seine Situation befestigt findet. Der dialektische Weltprozeß ist das Schachbrett auf dem Hebbel die Figuren seiner Dramen aufstellt, er ist zugleich der Motor ihrer Bewegungen — er drängt den Bauern ins Verderben, stürzt die Türme und setzt die Könige matt. Schon wartet aber das neue Spiel in seinem neuen Entfaltungsabschnitt, um wiederum einem neuen Untergang und neuem Werden entgegen zu gehen, denn das Drama ist — nach Hebbel ·— an die Darstellung des Werdenden gewiesen. Das Seiende mit seinen Zuständen ist ihm nur Voraussetzung für die Darstellung des sittlichen, ewig währenden Weltprozesses. t) Ebd., S. 51 f.
VII. DER MENSCH IN DER BEGEGNUNG MIT DEM UNBEGREIFLICHEN
Grillparzers dramaturgisches Welt- und Menschenbild 1. DIE POETISCHE ANSCHAUUNG UND DER SCHICKSALSBEGRIFF Grillparzers Denk- und Erlebniswelt, die sich in seinen dramaturgischen Schriften widerspiegelt, liegt außerhalb jener Entwicklungsreihen, die wir bisher in ihren Zügen von den Schlegels bis Tieck, und von Schiller über Schelling, Hegel, Schopenhauer bis zu Hebbel verfolgen konnten. Mögen auch manche Fäden Grillparzer mit den schon behandelten Geisteswelten verbinden, so steht er doch als ein Einzelner und Einsamer im Beginn dieses Jahrhunderts; und eben dieses Saeculum zu seinen reifsten dichterischen Äußerungen führend; ein Ahnender, wo die anderen sich als Wissende fühlten; mit seinem nervösen Bewußtsein der Gefährdung des Menschen sensitive Reaktionen des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts vorwegnehmend; bei allem leidgesättigten Empfinden dieser Gefährdung aber immer ein Ehrfürchtiger, die Hybris ebenso Scheuender wie das Mutloswerden. Ein tiefer Pessimist und doch kein Verzweifler, ein Verächter und doch ein Liebender des Lebens, ein in sich selbst Gespaltener und doch in seinem Wesen von einer pflanzenhaft organischen Einheit, ein in quälenden Dissonanzen des Empfindens Getriebener und doch ein im Letzten gläubig Vertrauender und an sittlichen Ordnungen des Lebens Festhaltender. Benno von Wiese sieht das Wesen Grillparzers weitgehend bestimmt durch das „erbitterte Gegeneinander von Phantasie und Verstand": „Die Glut der Phantasie wird durch die Kälte des Verstandes ernüchtert"!), und das eigene Ich wird als Abgrund erfahren, „in den er rettungslos zu versinken" drohte, wenn er nicht immer wieder auch die bewahrenden Kräfte in sich wach riefe, mögen diese ihm auch aus der scheuen Zurückgezogenheit, in dem „Verkriechen vor dem andrängenden Leben" erwachsen. Bei dieser menschlichen Konstitution, in der man ausgeprägt österreichisches Wesen erblicken darf, hier bis zum Subtilsten gesteigert und verfeinert — nimmt Grillparzer eine durchaus eigenartige Stellung unter den Dichtern in seinen Dichtungen und in seiner Dichtungstheorie ein. ») A.a.O., II, S. 144.
Die Gren2en des rationalen Erkennens
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Seine Theorie ist durchdrungen v o m Wissen um die Grenzen des rational Aussagbaren, vom Glauben an den Wahrheitsgehalt des intuitiv Poetischen, von der Überzeugung, daß die Verzerrung der Welt durch den begriffebildenden Verstandesakt nur im ahnungsvollen Bereich der Poesie zu überwinden ist. Diese Überzeugung hat Grillparzer sich von seiner frühen Schaffensperiode, in der die „Ahnfrau" im Mittelpunkt steht — bis hin zu seinem Altersschaffen am „Bruderzwist" bewahrt. V o n der Anschauung, nicht v o m Denkprozeß soll die Poesie ausgehen — und in der Anschauung sind alle Kräfte der Ahnung wirksam. 1849 schreibt Grillparzer jenes erschütternde Geständnis nieder, worin er sich selbst des Verrates an dem ihm wesentlichsten Zuge des Poetischen anklagt: des Verrates an der Anschauung als Gestaltungsmovens. „Da ich aber mit meiner Ansicht in den letzten zwanzig Jahren so ziemlich allein stand, so war es mir nicht möglich, die Anschauung immer lebendig und rein zu erhalten, um so weniger, als ich, durch die traurige Lage der Welt und meines Vaterlandes vielfach zerstreut und gestört, die Ausführung — meiner Werke — nicht mehr so in einem Zuge vollenden konnte, als für ein solches Verfahren unter solchen Umständen durchaus notwendig wäre. Der nackte Gedanke mußte zu Hilfe gerufen werden, der dann die Anschauung, sowie die Anschauung den Gedanken störte. Zwischen dem Anfang und der Beendung des goldenen Vließes starb meine Mutter, und ich machte die Reise nach Italien. Dann kam jener schändliche Geistesdruck in Österreich, den ich darum nicht weniger empfand, weil mir nicht jedes Mittel recht war, ihn abzuschütteln. Hero und Leander, Weh dem, der lügt: zwei meiner liebsten Stoffe und von vorn herein ganz naiv gemeint, sind nicht das geworden, was sie hätten werden sollen, und nach dem Vorgange meiner früheren Arbeiten auch hätten werden können, und ein paar andere Stücke in meinem Pulte werden, solange ich lebe, das Licht des Tages nie erblicken, weil ihnen jenes Lebensprinzip fehlt, das nur die Anschauung gibt und der Gedanke nie ersetzen kann. Damit will ich mich nicht rechtfertigen und meine Schuld auf die Zeit und die Verhältnisse schieben. Ein wahrer Dichter hätte sich über alles das hinweggesetzt und einen Mittelpunkt in seiner Begeisterung gefunden. Aber eine zu berührbare Natur, mit einer hypochondrischen Anlage und einem entschiedenen Widerwillen gegen die Öffentlichkeit konnte unter den gegebenen Umständen sich nicht viel anders nehmen und fassen" 2 ). Man spürt hier den Bruch in Grillparzers Wesen und Leben, aber in seinem eigenen Bewußtsein dieses Bruches wiederum jene Einheit wirksam, die ihn auszeichnet. V o n seinem ungebrochenen Glauben an die Wahrheit, die aus der Anschauung in der Poesie erwächst mit allen Konsequenzen, die die Anschauung als poetisches Movens mit sich bringt — gibt eine ganze Reihe von Äußerungen über das Drama Auskunft, die Grillparzer in seinen ästhetischen und literarischen Studien — im Verlauf seines ganzen Lebens niederschrieb. Daß er mit diesen Ansichten zu den herrschenden Auffassungen im 2)
Franz Grillparzer, Studien zur Literatur, hrsg. von F. Stein, Wien, o. J. (1913), S. 232; Krit. Ausg.: Tagebücher II, 11, S. 198.
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VII. Der Mensch in der Begegnung mit dem Unbegreiflichen
damaligen Österreich in Gegensatz treten mußte, ist sehr einsichtig. Im Jahre 1819 schreibt er: „Die heidnische Weltansicht ist die Naturansicht, drum zieh ich sie vor für die Poesie. Die christliche beruht auf Suppositionen. Sie ist daher ihrem Wesen nach bedingt und beschränkt. Wer weiß, ob sie in 300 Jahren noch gilt. Die heidnische wird gelten, solange die Welt steht und Menschen Menschen sind" 3).
Dem entspricht der kleine Vierzeiler über „Das Schicksal" 4 ): „Das Schicksal war nur für die Griechen wahr? Warum aber, christliche L,eute, Wenn wahr es allein für jene war, Erschlittert ödip auch noch heute?" In diesen paar Versen kennzeichnet Grillparzer seine Einstellung zum Schicksalsproblem im allgemeinen, wie er es im Drama gestaltet sehen will. Am Schicksalsproblem im Drama entwickelt er die Bedeutung, die er der Anschauung für die Poesie beimißt. Diese Anschauung, als Grundfaktor der Poesie, ist es, die ihn in Konflikt kommen läßt mit den zeitgenössischen Ansichten, mit der Vernunftgläubigkeit seiner Zeit. Hier enthüllt sich uns das gigantische Ringen eines christlichen Dichters um eine tragische Weltschau — oder besser: eines tragisch veranlagten Dichters um eine christliche Weltanschauung, 1817, also als 26jähriger, schreibt Grillparzer einen Kommentar zur Ahnfrau in seinem „Zweiten Brief: Über das Fatum"5). Grillparzer betont in diesem Brief „Über das Fatum", daß man den Schicksalsbegriff bei den Griechen nicht eindeutig feststellen könne. Von seinen Zeitgenossen sähen manche in der Antike das Schicksal als reine Naturnotwendigkeit an, andere als strafendes Weltgericht, wieder andere als feindselig einwirkende Macht. Und wenn man die antiken Tragödien lese, so trete das Schicksal tatsächlich in der verschiedensten Gestalt auf: bald als ausgleichende Gerechtigkeit, bald als Vorherbestimmung, bald als rächende Nemesis. „Alles dieses muß uns auf den Gedanken bringen, daß wohl die Griechen selbst mit dem Worte Fatum, keinen bestimmten, genau begränzten Begriff verbanden, daß es ihnen erging, wie uns mit den Worten Zufall, Glück und andern, die wir gebrauchen, um gewisse Erscheinungen zu bezeichnen, die da sind, ohne daß wir sie erklären könnten, Worte, die jedermann versteht, wenn sie auch niemand begreift. Und so ist es auch, die Griechen nannten Schicksal die unbekannte Größe = x, die den Erscheinungen der moralischen Welt zu Grunde liegt, deren Ursache unserm Verstände verborgen bleibt, ob wir gleich ihre Wirkungen gewahr werden"«).
Die Poesie nun hat es mit diesen Wirkungen zu tun, die sie in der Anschauung erfaßt. Die hinter diesen Wirkungen liegenden verursachenden Gründe kennt sie nicht, bzw. kann sie mit ihrem Mittel der Anschauung nicht begreifen. Infolgedessen bildet sie jenen Begriff für eine unbekannte 3) Krit. Ausg., Tgb. II, 7, S. 240. ). Merkwürdig ist der Rückbezug, den von Lasaulx auf das Leben des Heiligen Augustinus nimmt, der auch durch eine heilsame Krisis habe hindurchgehen müssen, um aus der Krankheit zur Gesundheit zu gelangen. „Die Gefahr, das drohende Übel, die innere Entzweiung, ist der Durchgangspunkt, durch welchen die Seele hindurch muß, wenn sie dem Übel entgehen will; wie die Krankheit erst ihren Höhepunkt erreichen, überschreiten, sich erschöpfen muß, ehe die Gesundheit und innere Identität des Organismus sich wiederherstellen kann"!'). Auch f ü r die Komödie nimmt von Lasaulx diese reinigende und heilende Wirkung in Anspruch. Die Überlegenheit des Menschen als einzigem unter allen lebendigen Wesen, das die Fähigkeit hat, lachen zu können, sieht von Lasaulx schon durch Aristoteles und andere Große der Vergangenheit entdeckt i 2 ). Diese Auszeichnung aber — lachen zu können — ermöglicht nach Lasaulx' Auffassung, jenen anderen Weg der „Reinigung und Verklärung der menschlichen Natur", den die Kunst der Poesie gehen kann: den der Komödie. Lachend verfolge auch sie in letzter Instanz „sittliche Zwecke"! 3 ) und erreiche damit — wie durch den tragischen Schmerz in der Tragödie — nun „durch den komischen Scherz eine gewisse Reinigung und Befreiung der Seele". Freilich, bei der Komödien-Definition gelingt es von Lasaulx weniger gut, von den physiologischen Vorgängen her die Aspekte zu beleuchten; dennoch faßt er zusammen: 9) Ebd. 10) Ebd., S. 187. i i ) Ebd., S. 189. 12) Bergson hätte auf eine Reihe von Vorgängern für seine diesbezüglichen Formulierungen hinweisen können; schon von Lasaulx führt folgende Stellen an: „Aristoteles De part, animal. III, 10 p. 673, A, 8: μόρον γελάν των ζώων αν&ρωπον. Clemens Alex. Strom. VII, 6 p. 927, 8: αν&ρωπος έατϊ το ζφον γελαατικόν. Nemesius De nat. hom. 1, p. 53: ωσπερ Ιδιον εστί της ουσίας του άν&ρώπου το γελαατικόν, ebenso Zacharias Mityl. Dial. p. 126, und mit Berufung auf Aristoteles der Dichter Calderon, Comedias torn. I p. 365, A : y solo permitiö darle risa al hombre, y Aristoteles pasible animal le hace, por definicion perfecta". 13) E b d . , S. 192.
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IX. Lasaulx: Das Drama als homöopathisches Heilungsmittel
„Die hellenische Tragödie und Komödie, aus dem Gottesdienst geboren und mit ihm innig verwachsen, ist ein Versuch dasjenige was anderswo durch die Religion zu bewirken versucht wird, eine Reinigung und Verklärung der menschlichen Natur, durch die Kunst der Poesie zu erreichen, nach den Worten des Dichters: .Weltpoesie ist Weltversöhnung'." Viele dieser Gesichtspunkte u n d F o r m u l i e r u n g e n weisen klar u n d deutlich auf Nietzsche hin.
X. ABGRUNDWISSEN UND W A H R H E I T DES MENSCHLICHEN HERZENS
Welt- und Menschenbild in der Dramaturgie der französischen Romantik: Victor Hugo und Alfred de Vignj 1. DAS PROFIL DER FRANZÖSISCHEN ROMANTIK Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts entwickelte sich auch in Frankreich eine literarische Bewegung, die man mit dem Namen „Romantik" bezeichnete. Getragen wurde sie von jener Generation, die — in den Revolutionsjahren geboren — in der Napoleonischen Ära aufgewachsen war und sich den Idealen der Freiheit und Rousseauischen Lebenshaltung verschrieb. Noch in seinem späten Roman (der 1873 erschien) „Quatrevingt-treize" bekennt sich Victor Hugo, das literarische Haupt jener Romantikergruppe in Frankreich, zu dem Geist der Revolution, dem er unter anderem auch in seinem Werk über „Shakespeare" ein ehrenvolles Denkmal setzte. Er verteidigt hier die literarische Gruppe „93" mit den Worten: „Das erstemal sprach Gott selbst: Es werde Licht; das zweitemal ließ er es sagen. Durch wen? Durch das Jahr 1793. Rechnen wir Menschen des 19. Jhdts. die Beschimpfung „von 93 zu sein" uns zur Ehre. — Aber man bleibe dabei nicht stehen. Wir sind so gut von 89 wie von 93. Die Revolution, die ganze Revolution, ist die Quelle der Literatur des 19. Jhdts. . . . Die Revolution hat die Trompete gefertigt, das 19. Jhdt. bläset sie. . . . Die Denker dieser Zeit, die Poeten, die Schriftsteller, die Geschichtsschreiber, die Redner, die Philosophen, alle, alle stammen von der französischen Revolution her. . . . Die Menschen des 19. Jhdts. stammen von 89 und 93. Das Eine ist ihre Mutter, das Andere ihr Vater, . . . Die Freiheit saß an ihrer Wiege"!).
Freilich — meint er — sei inzwischen die Generation der Revolutionäre der Tat durch die Revolutionäre des Gedankens abgelöst worden. Aber es sei ihr Ruhm, Nachfolger der Revolutionäre der Tat zu sein. Welche Bedeutung für die literarische Entwicklung Victor Hugo der französischen Revolution beimaß, geht aus seiner Nebeneinanderstellung von Homer, Shakespeare und seiner Gegenwart hervor: „Beide, Homer und Shakespeare, schließen die beiden ersten Pforten der Barbarei, die antike und die gothische, das heißt mittelalterliche... Die dritte große 1) Victor Hugo, William Shakespeare, dt. von A. Diezmann, Leipzig 1864, S. 287f.
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X. Abgrundwissen und Wahrheit des menschlichen Herzens
menschliche Krisis ist die französische Revolution; es ist die dritte Riesenpforte der Barbarei, welche sich in unserer Zeit schließt"2). Victor Hugo sah in den Revolutionen die — im Sinne der Menschheitsentwicklung — gesunden Metamorphosen der Völker, in denen das natürliche und einfache Leben sich erhebt gegen die steril gewordenen Gesellschaftformen, und so verkündet er gläubig: „Unsere Väter haben die Revolution von Frankreich gesehen, unsere Söhne werden die Revolution von Europa erleben"^). Es war der Geist Rousseaus, auf den die junge französische Revolution sich berief, der Geist Rousseaus, der auch die französische Revolution inspiriert hatte. Rousseau hatte die programmatischen Worte: Freiheit, Gefühl und Natur, einfaches Leben — in das als unfrei empfundene, rationale, unnatürliche und komplizierte, ettiquettebewußte achtzehnte Jahrhundert hineingeschleudert wie ein weithinwirkendes Feuerzeichen, an das sich die revolutionären Bewegungen des ausgehenden Jahrhunderts klammerten und an dem sich nun der Geist der französischen Romantik entzündete. Madame de Stael und Chateaubriand trugen diese Ideale, die dem Kult des Gefühls in der Kunst huldigten, über die Jahrhundertschwelle der neuen literarischen Richtung zu. Madame de Stael, die genaue Kennerin der deutschen Literatur, stellte überdies den Franzosen die deutsche Romantik vor, der sie ja durch ihre Freundschaft mit A. W. Schlegel eng verbunden war 4). Es war vor allem ihr Buch „De l'Allemagne" (1810), das stark auf die junge Dichtergeneration in Frankreich wirkte; darin war ein eigenes Kapitel: „De l'art dramatique", in dem sich die dramaturgischen Ansichten der Gruppe um die Schlegels spiegelten. Die Begeisterung für Shakespeare drang damit auch in den französischen Raum ein. Die Empfindsamkeit, die sich auch in Frankreich in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts ausgebreitet hatte, bot auch hier einen guten Boden für das Shakespeare-Verständnis der Romantiker. ,,Ossian"5) und „Werther" 6 ) bildeten ebenso wie in Deutschland den Nährboden für den französischen Sturmund Drang. In diesem Irrationalismus fand die Romantik einen guten Humus für ihre eigenen Ideen. Goethe aber war längst nicht mehr nur als Verfasser des „Werther", als Stürmer und Dränger in Frankreich bekannt, sondern 1823 wurde auch sein „Faust" ins Französische übersetzt, der „Faust", der in Deutschland wie in Frankreich als romantisches Werk kat'exochen angesehen 2) Ebd., S. 67. 3) Literatur und Philosophie in vermischten Aufsätzen. Von Victor Hugo, dt. von Friedr. Seybold, Stuttgart-Leipzig, 1836, S. 310. Auf diesem Wege wurden auch die Ideale der dt. Romantik in Italien bekannt, wo Berchet zum Bannerträger der romantischen Kunstrichtung wurde. Seine Untersuchungen beziehen sich aber vorwiegend auf die Ballade. 5 ) Zwischen 1762 und 1777 erschienen die ersten französ. Übersetzungen. ) 1 7 7 6 u n d 1 7 7 7 e r s c h i e n e n 3 f r a n z ö s . Ü b e r s e t z u n g e n .
Erben der Revolution
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wurde 7 ). Vor allem aber wirkte Ε. T. A. Hoffmann mit seinen romantisch-skurrilen, tragikomischen Erzählungen in Frankreich stärker als sonst einer der deutschen Romantiker. Von ihm ausgehend entwickelten die französischen Romantiker ihre psycho-ästhetische Theorie, nach der es jedem einzelnen Dichter absolut freistehen solle, die Welt so zu schildern, wie er sie in seiner Seele individuell erlebe. Während die deutschen Romantiker nach einer ästhetischen Norm strebten, deckten sich für die Franzosen die Begriffe: Romantik und Individualismus zur Gänze. Dabei beriefen sie sich auch auf die eigene französische Tradition. Sainte-Beuve, der berühmte Kritiker und Historiker der Romantik, stellte in seinem Werk „ T a b l e a u . . . de la poesie fran^aise et du theatre fran5ais au XVIi siecle" fest, daß die Romantik in bezug auf ihre psycho-ästhetische Theorie einen Vorgänger in der Plejade habe, die ganz ähnliche Ansichten vertreten hätte wie seine Gegenwart. Wenn die französischen Romantiker es auch ablehnten, Schulen mit festen Systemen zu bilden, so fanden sich doch „Cenacles" zusammen, literarische Kreise, in denen Gleichgesinnte einander trafen. Charles Nodier wurde zum Mittelpunkt des ersten Cenacle, das seit 1823 in seinem Hause zusammentraf. An der Spitze eines zweiten Cenacle stand bald Victor Hugo. Um ihn scharten sich Alfred de Vigny, Alfred de Musset, Theophile Gautier, Alexandre Dumas pere und Sainte-Beuve. In einem freilich waren sich alle Romantiker einig: in ihrem Kampf gegen die Klassik, gegen die Regeln, gegen die Norm. Henri Beyle, der sich nach Winckelmanns Geburtsort später Stendhal nannte, eröffnete diesen Kampf gegen die Klassik. Er weilte 1823/25, als seine Schrift „Racine et Shakespeare" erschien, in Italien — und entsprechend sieht seine Kampfschrift, die er einer Akademierede Augiers entgegenhält, etwas anders aus als die Auffassungen der jüngeren Romantiker. Für ihn ist jedes Kunstwerk, jedes Drama „romantisch", wenn Landschaft, Klima und Zeitgeist darin zu inniger Einheit verschmolzen sind. Darum bezeichnet er auch Racine als einen „Romantiker", wenngleich ihm Shakespeare in noch weit vollendeterem Maße „romantisch" erscheint. „Romantisch" ist für ihn die Literatur der jeweils Jungen, die neue Ideen vortragen und neue Formideale haben; als Klassizismus aber gilt ihm der Wille, „die Jugend mit dem zu langweiligen, was dem Geschmack der Väter entsprach." Von diesem Standpunkt aus gesehen, ist Voltaire natürlich der Erzklassizist, eine Meinung, in der Beyle sich mit den jungen Romantikern in Frankreich traf. Weniger konnten diese zufrieden sein mit seiner Kennzeichnung Racines als Romantiker; denn ihnen ging es nicht nur um die Ablehnung der vorangegangenen Generation der Dichter, sondern vielmehr um die Auflehnung gegen jede Regelmäßigkeit, gegen die Einheiten und gegen die Formkälte der Klassiker. 7)
Übersetzung von Gerard de Nerval, die Goethe selbst anerkannte und bewunderte.
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X. Abgfundwissen und Wahrheit des menschlichen Herzens
2. KUNSTFORM UND DRAMATISCHES WELTBILD BEI VICTOR HUGO Das Vorwort Victor Hugos zu seinem „Cromwell" (1827) wirkte wie ein Manifest der jungen französischen romantischen Bewegung. Mit Enthusiasmus wurde es von allen Gegnern der Klassik aufgenommen. Theophile Gautier erinnert sich später noch begeistert der Wirkung, den es auf das Cenacle gemacht hatte: „Das waren wunderbare Zeiten 1 Das Vorwort zu ,Cromwell' strahlte vor unseren Augen wie die Tafeln des Gesetzes vom Berge Sinai. Die gegenwärtige Generation kann sich nur schwer den Zustand des Geistes in dieser Epoche vorstellen. Es bildete sich ein Gefühl ganz ähnlich dem der Renaissance"!). Das Drama „Cromwell" wirkte weit weniger auf die Zeitgenossen als dieses Vorwort, durch das der französischen Romantik die Marschroute gegeben wurde. Der Name Victor Hugos als Dramatiker trat dann erst eigentlich in das Bewußtsein der Zeit ein, als sich drei Jahre später anläßlich der Erstaufführung von „Hernani" in der Comedie Framjaise die berühmte „Bataille d'Hernani", die Theatersaalschlacht um „Hernani" ereignete2), in der die Anhänger der klassischen Richtung im Orchester und der romantischen Dichtung im Parterre und auf den Galerien recht handgreiflich gegeneinander wurden. Neununddreißig Mal wurde Hernani in der Saison gespielt, jeden Abend war der gleiche Tumult, aber die Kassen füllten sich und das romantische Drama hatte sich durchgesetzt. „Hernani" ist das meistgespielte Drama Victor Hugos. Es steht noch heute im Spielplan der Comedie Fran^aise und lebt im Bewußtsein der Franzosen als lebendiges Drama fort. Die Zeit seiner Handlung ist 1519. Die Handlung spielt im ersten, zweiten und fünften Aufzug zu Saragossa, im dritten Aufzug in einem Schloß in den arragon'schen Gebirgen, nahe bei Saragossa, im vierten Aufzug in den unterirdischen Gewölben des Doms zu Aachen. Also ist das Geschehen auf weit entfernt liegende Räume verteilt, ganz anders als die an einem Ort spielenden, klassischen französischen Dramen. Auch die Einheit der Zeit ist gesprengt. Betrachtet man das Gefälle der Handlung dieses Dramas, so weicht es ebenso stark von der Handlungsführung und damit der Menschengestaltung im klassischen Drama ab. Ein ständiges Auf und Ab der Handlungen und Geschehnisse kennzeichnet dieses romantische Drama — während die Motive, die inneren Vorgänge konstante Linien zeigen, die sich zum Schluß hin vereinfachen. 1) Th. Gautier, Histoire du Romantisme, Paris 1874, S. 5. 2 ) Vgl. Jean Valmy-Baysse, Naissance et vie de la Comddie-Frangaise, Paris 1945; vgl. auch: Maurice Descotes, Le Drame Romantique et ses grands Crdateurs, Presses Universitaire de France, o. J., (ca." 1950); dort ausführliches Lit. Verz. z u m T h e a t e r d e r R o m a n t i k in F r a n k r e i c h .
Erzielen von Affekten und Spannung
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Auf die Führung der Handlung ist größte Kunst verwendet; sie wird von Auftritt zu Auftritt vorangetrieben, vollzieht sich in ständigen Umschlägen; überrascht in jeder Szene durch unerwartete neue Wendungen, die sich durchaus nicht immer aus dem Charakter der Personen mit Notwendigkeit ergeben; bis zum vierten Akt bleibt es ζ. B. offen, ob Carlos sich als ein guter, gnädiger Herrscher erweist. Der Geist des Carolo magno, der zwar nicht persönlich erscheint, aber doch auf Carlos, den neuen Kaiser überströmt, erscheint hier fast als Deus ex machina. Bis zum fünften Akt bleibt es offen, ob Gomez sich als Edler erweist oder nicht. Sein Charakter ist im Grunde viel mehr auf ein edles Verhalten angelegt, so daß seine Wendung zu Mißgunst und Rache am Schluß in Erstaunen setzt. Doch lesen wir in den „Vermischten Aufsätzen zur Literatur und Philosophie" von Victor Hugo 3 ), was der Dichter über das Theater schreibt, dann begreift man die Effekte, die er hier, höchst kunstvoll in ihrer Art, erreichen will und erreicht: „Theatralische Handlung nennt man den Kampf zweier sich feindlich entgegengesetzter Kräfte. Je mehr diese Kräfte sich im Gleichgewicht erhalten, desto ungewisser wird der Ausgang des Kampfes, desto stärker der Wechsel von Furcht und Hoffnung, desto höher steigt das Interesse. Man darf jedoch dieses Interesse, das aus der Handlung erwächst, nicht mit einem anderen Interesse verwechseln, welches der Held einer jeden Tragödie einflößen soll, und welches in nichts anderem besteht, als in einem Gefühl von Schrecken, von Bewunderung, oder von Mitleiden"·»).
Victor Hugo unterscheidet hier also zwei Interessen des Zuschauers: erstens das Interesse für die Handlung, deren möglichst häufige Umschläge Furcht und Hoffnung erwecken und damit das Spannungselement bilden, und zweitens das Interesse an der Person des Helden, dem sich die Empfindungen des Zuschauers zuwenden: mit Mitleid, Schrecken oder Bewunderung. Dieses letztere Interesse genügt aber nicht für sich im Theater. Es muß die dramatische Spannung dazutreten, das Interesse, das aus der Handlung und ihren Umschlägen erwächst. „Wäre dem nicht so, müßte eine Schreckenszene umso schöner seyn, je länger sie dauerte und das erhabenste Sujet der Tragödie wäre der Graf Ugolino, wie er mit seinen Söhnen in jenem Thurme eingeschlossen dem Hungertode entgegenschmachtet, eine Scene voll monotonen Schreckens, die nie Glück machen konnte, selbst in Teutschland nicht, dem Lande tiefer, angestrengter und beständiger Denker" 5 ).
Zum Dramatischen also genügt keineswegs der Held in einer tragischen Lage — es muß vielmehr der Zuschauer durch das Geschehen in ein möglichst intensives Maß von Furcht und Hoffnung gebracht werden. Das gelingt nicht leicht, wenn man den Bogen von Furcht und Hoffnung nur einmal spannt. Setzt man dagegen immer wieder zur Katastrophe neu an, 3) A.a.O., S. 205 (1836). t) Ebd., S. 205f. s) Ebd., S. 206.
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X . Abgrundwissen und Wahrheit des menschlichen Herzens
dann macht man diesen Bogen von Furcht und Hoffnung erst zu dem tüchtigen Instrument, das intensivstes Erleben der Katastrophe am Ende ermöglicht. In diesem ständigen Hin- und Hergeworfensein zwischen Furcht und Hoffnung sieht Victor Hugo das wesentlichste Wirkungsmoment der Tragödie, des Trauerspiels, des Dramas. Darum ist das Handlungsgefälle in seinem „Hernani" auch so vielgliedrig und so umschläglich. Dennoch ist das Ganze in der Art der Steigerung zu einer einheitlichen hochdramatischen Kurve angelegt, deren erster Kulminationspunkt im dritten Akt liegt. Der zweite, im fünften Akt, bringt dann die Katastrophe. Während die deutschen Theoretiker der Romantik sich fast immer nur Gedanken machten um das Problem im Drama, um die philosophische Art des Gegenstandes, um Schuld und Sühne des Helden oder um sein schuldloses Untergehen — also um die Problemlage, die sogenannten „inneren Vorgänge" im Drama, wendet sich die französische Theorie der Romantik auch sehr sachlich dem Formalen des Dramas zu. Sie fragt nicht, welche Gegenstände stelle ich dar, welcher Art müssen die Helden als Problemträger sein, sondern sie fragt: wie bringe ich ein gutes Drama zustande? Sie stellt die Frage nach der Kunstform und Wirkung des Dramas. Während nun Boileau als Exponent der Theorie von der klassischen Kunstform gilt, dürfen wir in Victor Hugo den Exponenten der Theorie der romantischen Kunstform sehen. Von der Kunstform aus gelangt der Theoretiker dann zum Menschenbild — denn anders muß der Held im strengen, einheitlichen klassischen Drama angelegt sein, und anders im umschläglich dynamischen romantischen Drama. Im Vorwort zum „ C r o m w e l l " 6) hat Victor Hugo die Theorie des romantischen Dramas niedergelegt — eine Theorie, ohne die ζ. B. Büchners Auffassungen und Schaffen gar nicht zu begreifen wären; Büchner hat dieses Vorwort gut gekannt. Er war so vertraut mit dem Schaffen Victor Hugos, daß er die „Marie Tudor"?) und die „Lucretia Borgia" ins Deutsche übersetzte. Das, was Büchner dann mit mehr Glück als Victor Hugo im Drama gestaltete, war die Bindung von Komik und Tragik in der Komödie und in der Tragödie: dramatische Formen, die Hugo zum Gegenstand einer ausführlichen Untersuchung in seiner Preface machte. Hugo unterscheidet in der Menschheitsentwicklung drei Phasen: die Primitive — die Antike — die Moderne. Jede der drei Entwicklungsstadien hat ihre eigene Form der dichterischen Aussage gehabt: 6)
Benützte Ausgabe in: Romanische Texte, hrsg. von E. Lommatzsch und M. L. Wagner, Berlin 1920 (liegt M. Souriau's Ausgabe zugrunde). 7 ) 1835 von Immermann in Düsseldorf aufgeführt und von Grabbe besprochen.
Kunstform und Wirkungselemente sozial-genetisch bedingt
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„Im Zeitalter der Primitive erwacht der Mensch in einer Welt, die eben geboren ward; die Poesie erwacht mit ihm." Ihre Kunstform ist die Hymne. Der Mensch „ist noch so nahe bei Gott, daß alle seine Gedanken ekstatisch sind, daß seine Träume Visionen sind. Seine Lyra hat nur drei Klänge: Gott, die Seele und die Schöpfung." „Au temps primitifs, quand l'homme s'eveille dans un monde qui vient de naitre, la poesie s'eveille avec lui. En presence des merveilles qui l'eblouissent et qui l'enivrent, sa premiere parole n'est qu'un hymne. II touche encore de si pres ä Dieu que toutes ses meditations sont des extases, tous ses reves des visions . . Sa lyre n'a que trois cordes, Dieu, l'ame, la creation" 8).
In dieser Zeit führt der Mensch ein Hirten- und Nomadenleben. Es gibt nur Familien, noch keine Völker, keine Kriege. Es gibt Väter, keine Könige. Der Mensch läßt alles gehen, wie es kommt: „II se laisse faire, il se laisse aller. Sa pensee, comme sa vie, rassemble au nuage qui change de forme et de route, selon le vent qui le pousse. Voilä le premier homme, voilä le premier poete. II est jeune, il est lyrique. La priire est toute sa religion: L'ode est toute sa poesie. . . . Ce poeme, cette ode des temps primitifs, c'est la Genese" 9).
Die große Dichtung der Frühzeit sieht Victor Hugo in der Genesis, also dem ersten Buch Mosis, in der Entstehungsgeschichte der Schöpfung. Er nennt sie die Ode der Primitive. Das zweite große Weltalter ist die Antike: Im weiteren Entwicklungsgang der Welt entstehen nun die Völker, die Königreiche, die Städte. Der theokratischen Gesellschaft folgt die patriarchalische Gemeinde, der König \ind Priester vorangingen. Der Nomadengeist weicht dem Sozialgeist. Aber auch Kriege entstehen und Völkerwanderungen mit den Kriegen. Die Poesie bemächtigt sich dieser großen Ereignisse. Sie singt von den Taten der Helden, der Völker; sie wird episch; sie bringt Homer hervor. Homer ist der Prototypus der Dichtung in der Antike. Das Epos ist seine poetische Gattung. Auch das Drama der Antike ist episch. Was die Rhapsoden sangen, deklamieren die Schauspieler: „Ce que chantaient les rhapsodes, les acteurs le d6clament; voilä tout" ίο). Der Chor spielt hierbei eine wichtige Rolle, die den Charakter des Epischen unterstreicht: „Le choeur commente la tragedie, encourage les heros, fait des descriptions, appelle et chasse le jour, se rejouit, se lamente, quelquefois donne la decoration, explique le sens moral du sujet, Hatte le peuple qui l'ecoute. Or, qu'est-ce que le choeur, ce bizarre personnage place entre le spectacle et le spectateur, sinon le poete completant son epopee?" u )
Das Theater der Antike ist wie ihr Drama: groß, feierlich, episch. Es bot Platz für 30.000 Zuschauer. Man spielte unter freiem Himmel; den ganzen Tag lang. Die Schauspieler verstärkten ihre Stimmen, maskierten ihre Gesichter, erhöhten ihre Statur. Sie wurden Riesen, wie ihre Rollen. Majestätisch und monumental war dieses Theater, in dem Helden 8)
Romanische Texte, a. a. O., S. 6. ») Ebd.. S. 6. io) Ebd., S. 8.
Ebd., S. 8.
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X. Abgrundwissen und Wahrheit des menschlichen Herzens
und Götter dargestellt wurden. Kult und Geschichte vermählten sich hier. Die ersten Schauspieler waren Priester. Die ersten szenischen Darstellungen sind religiöse Zeremonien, nationale Feste. 3. ZWIESPALTBEWUSSTSEIN, MELANCHOLIE UND KRITIZISMUS ALS WURZELBODEN DES ROMANTISCHEN DRAMAS IN FRANKREICH Als drittes großes Weltalter bezeichnet Hugo die Moderne: An Stelle der heidnisch-weltlichen, materiellen und äußerlichen Religion tritt eine geistige Religion; sie lehrt den Menschen, daß es zweierlei Art des Lebens gibt, das Diesseits und das Jenseits, Erde und Himmel. Sie lehrt ihn, daß er eine doppelte Bestimmung hat, daß in ihm Tier und Geist, Körper und Seele lebendig sind. Sie lehrt ihn, sich selbst als Schnittpunkt zu verstehen, als gemeinsames Glied der beiden Ketten, die die Welt zusammenhalten, die Kette des materiellen Seins und die des unkörperlichen Seins; die eine geht vom Stein aus und reicht bis zum Menschen; die andere beginnt beim Menschen und endet in Gott. Im Menschen treffen beide zusammen; das macht das Wesen seiner Lage aus. „Et d'abord pour premieres verites, eile enseigne ä l'homme qu'il a deux vies k vivre, l'une passagere, l'autre immortelle; l'une de la terre, l'autre du ciel. Elle lui montre qu'il est double comme sa destinee, qu'il y a en lui un animal et une intelligence, une äme et un corps; en un mot, qu'il est le point d'intersection, l'anneau commun des deux chaines d'etres qui embrassent la creation, de la serie des etres materiels et de la Serie des etres incorporels, la premiere, partant de la pierre pour arriver ä l'homme, la seconde, partant de l'homme pour finir ä Dieu" 1).
In der Antike ist alles Metaphysische materiell gedacht: Die Götter kleiden sich in Wolken, sie trinken, essen, schlafen; man verletzt sie und ihr Blut fließt. Jupiter trägt den Mond als goldene Kette; die Sonne steigt auf einen Wagen mit vier Pferden; die Hölle ist im Innern der Erde und ihr Eingang ist geographisch festgelegt. Der Himmel ist ein hoher Berg. Die Menschen sind den Göttern sehr nahe. Ihre Helden gleichen den Göttern. Das Sein ist eine Einheit. Erst das Christentum stellt einen Abgrund zwischen Seele und Körper, zwischen Mensch und Gott: „II met un abime entre l'äme et le corps, un abime entre l'homme et Dieu"2). Mit dem Wissen um diesen Abgrund tritt ein ganz neues Lebensgefühl in Erscheinung, das der Primitive und der Antike ganz unbekannt war und das es nur in der Moderne gibt: ein Gefühl, das mehr ist als tiefer Ernst und weniger als Trauer: die Melancholie. „A cette epoque . . . nous ferons remarquer qu'avec le christianisme, et par lui, s'introduisait dans l'esprit des peuples un sentiment nouveau, inconnu des ») Ebd., S. 9.
Ebd., S. 11.
Das dritte Weltalter: die dualistisch-christliche Moderne
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anciens et singuliferement developpi chez les modernes, un sentiment qui est plus que la gravite et moins que la tristesse: la melancolie"3).
In dieser Zeit des sterbenden römischen Weltreiches, das in der Agonie lag, entwickelte sich noch etwas anderes neben der Melancholie des Christentums: nämlich der rhetorisch-analytische, der kritische Geist. Grammatiker, Rhetoren, Sophisten wurden groß; sie setzten sich wie Fliegen auf den Kadaver der Vergangenheit und begannen, ihn zu sezieren, zu analysieren und auszusaugen. Neben das Genie der Melancholie trat der Dämon der Analyse und der Kontroverse, neben Augustinus stellte sich Longinus. „Des que ce monde fut mort, voici que des nuees de rheteurs, de grammairiens, de sophistes, viennent s'abattre, comme des moucherons, sur son immense cadavre... Ainsi, nous voyons poindre ä la fois et comme se dormant la main, le genie de la melancolie et de la miditation, le demon de l'analyse et de la contro verse" 4 ).
Auf diesem zwiespältigen Boden wächst die moderne Poesie aus dem Geist der Melancholie und der wissenschaftlichen Analyse. In der Antike war das Sein so gestaltet, wie der Mensch es sich vorstellte : anthropomorph. Das Christentum aber führt die Poesie zur Realität des Seins, zur Wahrheit, nicht wie der Mensch sie sich vorstellt und denkt, sondern wie sie in Wahrheit ist: es entdeckt, daß das Häßliche neben dem Schönen steht, das Formlose neben dem Graziösen, das Groteske dem Erhabenen gegenüber, das Schlechte neben dem Guten, Schatten neben dem Licht. „Le christianisme amene la poesie ä la verite. Comme lui, la muse moderne verra les choses d'un coup-d'oeil plus haut et plus large. Elle sentira que tout dans la cr6ation n'est pas humainement beau, que le laid y existe ä cöte du beau, le difforme prfes du gracieux, le grotesque au revers du sublime, le mal avec le bien, l'ombre avec la lumiere"5).
Diese Realität des Seins in ihrer Zwiespältigkeit wird aber auch durch die moderne Philosophie entdeckt. Die älteren Analytiker, die Geister des anatomischen Sezierens, sind im Fortschritt der Moderne abgelöst worden durch die kritischen Philosophen. In der Stunde nun, in der die christliche Melancholie und die kritische Philosophie gleich stark nebeneinanderstehen, in dieser Stunde wird die romantische Poesie geboren. Diese Geburtsstunde der romantischen Poesie vergleicht Victor Hugo einem Zittern der Erde, das das Gesicht der ganzen intellektuellen Welt verändert. Die romantische Poesie will so vorgehen wie die Natur. Sie will in ihren Schöpfungen den Zwiespalt des Seins zeigen, den Gegensatz von Schatten und Licht, von Körper und Seele, von Animalischem und Geistigem im Menschen. Hierzu bedient sich die romantische Poesie der ureigensten Form der 3) Ebd., S . l l .
4) Ebd., S. 12.
5) Ebd., S. 13.
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X. Abgrundwissen und Wahrheit des menschlichen Herzens
Dichtung, in der die Gegensätze zum Ausdruck gebracht werden: des Dramas. Und zwar jenes Dramas, in dem das Groteske und das Erhabene innig miteinander verbunden auftreten; denn dieser Gegensatz des Grotesken und des Erhabenen macht das eigentliche Moderne des romantischen Dramas aus. 4. DIE CHRISTLICHE WELTSICHT ALS VORAUSSETZUNG FÜR DAS POLARE ERFASSEN DES ERHABENEN UND DES GROTESKEN IM DRAMA Mit dem Christentum und seiner Zweiweltenlehre — meint Victor Hugo — ist der Sinn für das Gegensätzliche in der Realität des Seins entwickelt, mit dem Christentum tritt das Erlebnis des Seins als dramatischer Kampf in den Vordergrund: Das Drama ist die Kunstform der Moderne: und zwar nicht die Tragödie für sich — und nicht die Komödie für sich — sondern Tragödie und Komödie zu einem einheitlichen Ganzen verbunden. Der Sinn für das Groteske, das dem Sublimen gegenübersteht, wird durch das „genie moderne" geboren. Zwar hat auch die Antike schon Dramen, sie kennt die Komödie und das Groteske; aber — meint Victor Hugo — diese Kunstarten steckten doch damals noch in den Kinderschuhen; das Groteske habe in der feierlich gestaltenden Antike nur eine kleine Rolle gespielt. Die Kunst der Antike war das Epos; die Kunst der Moderne ist das Drama, und speziell das Groteske im Drama. In der Moderne nun spielt das Groteske eine immense Rolle. Victor Hugo findet es schon in der Kunst des Mittelalters wieder, in den Märchen und Sagen von den 100.000 Wesen, die zwischen Himmel und Erde grotesk ihr Wesen treiben; in den Bildern der vielen Teufel mit Hörnern, Bockfuß und Schwänzen. Er findet das Groteske bei Dante und Milton, bei Michelangelo und bei Callot. Er findet es in der Commedia dell'arte, in den genialen Phantasien der Harlekine, Crispins und Scaramouches. Er findet es im Don Juan und im Mephisto des Faust. Er findet es aber auch bei Shakespeare, den er über alles bewundert. Und er nennt diese ganze Gesellschaft grotesker Wesen von den Gnomen des Mittelalters bis zu den Teufeln des Dante, den Hexen Shakespeares bis zu Don Juan und Mephisto: „baroque". Er lehnt das Schöne als Ideal ab. Das Schöne kann immer nur eine Gestalt haben, nur eine Lösung erfahren. Das Wahre aber hat Tausende von Gestalten, unter denen nur eine schön ist, tausende aber sind häßlich. Also hat das Häßliche und Groteske mehr Recht, gestaltet zu werden als das Schöne, wenn man nach der Realität fragt. Das Erhabene und das Groteske gehören zusammen, wie Seele und Leib. Während das Sublime die Seele repräsentiert, stellt das Groteske das Animalische dar. Julia, Desdemona, Oph£lia — sie stellen das Geistige,
Geburt des Grotesken durch das „genie moderne"
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Seelische, Sublime dar — in der gleichen Gesellschaft aber leben die Narren, Falstaff, Scapin, Figaro oder die Bösen: Jago, Tartuffe, Basilio, Polonius, Harpagoni). Sie zusammenzufügen zu einem Ganzen heißt: die Harmonie der Gegensätze herzustellen; heißt: ein Bild des Lebens zu geben, in der Ungeschlossenheit seines Gefüges. Das ist romantische Kunst! Das ist barocke Kunst! Das ist gotische Kunst! Sie findet ihren sinnfälligsten Ausdruck in den mittelalterlichen Kathedralen, die das Heilige mit dem Teuflischen umgeben, die in jede Ecke eine Groteskfigur stellen, die ganze Höllen und Fegefeuer an den Portalen der Kirchen anbringen; das Groteske zog in diesen modernen Zeiten nicht nur in die Kirchen ein, die in erster Linie getragen vom christlichen Geist Sinn für das Gegensätzliche zeigten; es drang auch in das Leben selbst, in die Sitten und Gebräuche ein. Der Narr an den Höfen des Barock, der Typus des spanischen Gracioso — sie alle zeugen vom Grotesken, das im Leben und in der Kunst seinen Niederschlag findet. „La Belle et la Bete" 2 ), sie stehen nebeneinander und zusammen in der christlichen Kunst des Abendlandes; Ariosto in Italien, Cervantes in Spanien, Rabelais in Frankreich — sie sind die „trois Homeres bouffons de la poesie moderne" 3 ), sie sind die bezeichnenden Repräsentanten der frühen Romantik. Das Groteske dominiert bei ihnen über das Sublime. Wie im Fieber steckt es ihnen im Blut. In der reifen Romantik aber — und ihr größter Repräsentant ist Shakespeare — stellt sich wieder ein ausgewogenes Verhältnis zwischen dem Sublimen und dem Grotesken her. Das Schöne tritt wieder gleichberechtigt neben das Häßliche; „la Belle et la Bete" werden in einem Weltganzen gestaltet. „Shakespeare, c'est le drame" 4 ), das Drama, das im gleichen Atem das Groteske und das Sublime gestaltet, das Schreckliche und das Komische, Tragödie und Komödie. Und diese Art des Dramas ist die Form des romantischen Dramas, des aktuellen Dramas. Was die Klassik in ihrer Antikebewunderung dramatisch gestaltete, entspricht in keiner Weise dem modernen Zeitgeist. Es ist nicht wahrheitsgetreu, es ist einseitig, es ist spröde. Niemals hätte die Antike la Belle et la Bete gestaltet, viel weniger noch hätten dies je ihre Nachgestalter, die Klassiker getan, meint Victor Hugo, der mit den Klassikern gründlich abrechnet. Folgendes Schema zeichnet sich also bei Victor Hugo ab: Die Poesie hat drei Zeitalter, deren jedes einer sozialen Epoche entspricht. Die Zeit der Ode, die Zeit des Epos, die Zeit des Dramas. Die primitiven Zeiten sind lyrisch, die Antike ist episch, die Moderne dramatisch. Die Ode singt von der Ewigkeit, das Epos feiert die Geschichte, das Drama malt das Leben. i ) E b d . , S . 19. 15
Dietrich, Dramaturgie
2) l'bd., S. 21.
3) Rbd., S. 21.
") Ebd., S. 22.
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X. Abgrundwissen und Wahrheit des menschlichen Herzens
Der Charakter der frühesten Art der Poesie ist naiv, der Charakter der zweiten Art ist „la simplicitd" (betrachtet die Welt als Einheit, ist einfach, nicht zwiespältig, ist anthropomorph); der Charakter der dritten Art aber ist auf „la verite", die Wahrheit, das Leben in seiner Realität gerichtet. Die primitive Zeit singt, was sie träumt, sie ist die Kindheit, das Jugendalter der Poesie. Die Antike erzählt, was geschieht, die Heroentaten und die Geschichte, sie bildet das reife Mannesalter der Poesie. Die Moderne aber, „la vieillesse de la poesie", das Altersstadium der Poesie, setzt sich hin und malt, was sie denkt; was sie denkt, angesichts der Realität des Lebens, angesichts des Zwiespalts im Sein. Ihre Aussage ist also keineswegs naiv, oder einfach, simple, wie es der Lyrik oder dem Epos entspricht, sondern sie ist kompliziert, begreift alle Gegensätze; sie ist tief durch die Abgründe über denen der moderne Mensch steht. Sie ist dramatisch dadurch, daß sie die Welt in ihren „qualitees les plus opposees", in ihren Widersprüchen erfaßt und gestaltet. Victor Hugo findet sehr schöne Bilder 5), um das Wesen dieser drei Phasen der Poesie zu kennzeichnen: Der Morgen — meint er — sei wie die Lyrik; köstlich frisch steigt er aus der Nacht herauf und begrüßt hymnisch den Tag. Der Mittag aber finde den Menschen kraftvoll im Tagwerk; das Epos beschreibe die Taten des rüstigen Tags. Der Abend aber sei wie das Drama, reif und schwer vom Tage; in ihm kämpfe der Tag mit der Nacht, das Leben mit dem Tode. Sonnenaufgang aber und Sonnenuntergang hätten manches gemeinsam. Auch im Drama der Spätzeit sei das lyrische Element sehr lebendig. Aber was sich in der Frühzeit, in der Primitive naiv gezeigt habe, das sei nun in der Spätzeit der Moderne schwer von Melancholie. In einem anderen Bild 6) vergleicht er die Lyrik einem lieblichen See, in dem Wolken und Sterne sich spiegeln; das Epos einem Fluß, der durch mancherlei Landschaften dahinzieht; das Drama aber dem tiefen Ozean. Wie der See der Lyrik kann der Ozean, wenn das Wetter ruhig ist, den Himmel spiegeln. An seinem Rande ziehen sich die Küsten hin, wie die Ufer am Fluß (das Epos). Aber, es macht sein Wesen aus, daß er, der Ozean, ohne Grund ist, daß seine Tiefe nicht ausgelotet werden kann, daß er über dem Abgrund Hegt — und daß die Stürme über ihn wegpeitschen. Victor Hugo ist nicht so blind, daß er nicht sieht, daß es auch in der Primitive schon das Epos gab, in der Antike schon das Drama und in der Gegenwart, in der Moderne eine reiche Lyrik und Epik. Wenn er diese Phasen der poetischen Entwicklung kennzeichnet, so betont er selbst, daß er damit nur die Dominanten feststelle. Das Drama nun dominiert nach seiner Auffassung in der Moderne. 5) Ebd., S. 23.
«) Ebd., S. 25.
Entpathetisieren des Erhabenen
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„Du jour ou le christianisme a dit i l'homme: ,Tu es double, tu es composd de deux fitres, l'un pdrissable, l'autre immortel, l'un charnel, l'autre 6th6r6, l'un enchaine par les appetits, les besoins et les passions, l'autre emportd Sur les ailes de l'enthousiasme et de la reverie, celui-ci enfin toujours courbd vers la terre, sa m£re, celui-lä sans cesse Üanc6 vers le ciel, sa patrie', de ce jour le drame a έίέ αέέ"τ).
Und nun folgen die Thesen, die die Quintessenz der romantischen Dramaturgie in Frankreich ausmachen: „La poesie nee du christianisme, la poesie de notre temps est done le drame; le caract£re du drame est le reel; le r6el resultate de la combinaison toute naturelle de deux types, le sublime et le grotesque, qui se croisent dans le drame, comme ils se croisent dans la vie et dans la creation. Car la podsie vraie, la podsie compete, est dans l'harmonie des contraires" 8).
Komödie und Tragödie dürfen nicht getrennte Gattungen sein. Sie zu isolieren heißt, unwahr, unnatürlich gestalten. Das war der große Fehler der Klassik, die entweder mit ihren Tragödien nur Tränen hervorlockte oder mit ihren Komödien nur Lachen einheimste. Wie aber der Mensch aus Körper und Seele besteht, so müssen im Drama Komik und Tragik gemischt sein. Es zeugt — meint er — von der Größe und Souveränität eines Menschen, wenn er in Augenblicken höchster Gefahr und Tragik dem Komischen und Grotesken zuneigt, wenn er das ErhabenPathetische vermeidet und es unter dem Scherz, unter dem ProsaischKleinen verbirgt. Der tierische Ernst in großen Dingen ist für ihn keine Vollendung menschlicher Kultur. Erst wo das Erhabene und Große in taktvoller Selbst-Ironie entpathetisiert werden, da sieht er echte Kultur am Werk. „Car les hommes de genie, si grands qu'ils soient, ont toujours en eux leur bete qui parodie leur intelligence. C'est par lä qu'ils touchent a l'humanite, car c'est par lä qu'ils sont dramatiques. «Du sublime au ridicule il n'y a qu'un pas»" 9) — diesen Ausspruch Napoleons führt Hugo als Resume der romantischen Erkenntnis und Auffassung des Lebens an. Es ist Grundforderung der Romantik, im Drama diese Nähe von Groteske und Tragik in ständigem Wechselspiel zu zeigen. Es scheint Victor Hugo auch bezeichnend zu sein, daß die Dichter komplementär schaffen. Die Dichter, die die heitersten Spiele schrieben, die die Zuschauer am meisten zum Lachen brachten, waren immer tiefe Melancholiker. Er sagt von Beaumarchais, er sei „morose", mürrisch, griesgrämig gewesen; Moliere habe sich durch düstere Depressionen bedrückt gefühlt und Shakespeare sei durchaus melancholisch gewesen — Setzt man diese Reihe fort mit den Namen von Lenz, der sich an Plautus begeisterte, von Büchner, Grillparzer, Raimund, Nestroy — dann bestätigt sich seine Auffassung. 7) Ebd., S. 26. 9) Ebd. S. 28. 15*
8) Ebd. io) Ebd.
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X. Abgrundwissen und Wahrheit des menschlichen Herzens
Betrachtet man Victor Hugos genetische Entwicklungstheorie der poetischen Gattungen — so mutet manches vertraut, manches befremdend an. Sicherlich teilen wir auch heute noch seine Auffassung einer organischen Entwicklung der Gattungen, in der Lyrik, Epos und Drama aufeinander folgten. Fremd dagegen wirkt auf uns seine weiträumige Perspektive: Lyrik: Primitive; Epik: Antike; Drama: Moderne. In rascherem Rhythmus sehen wir die Entwicklungen: Die Antike hat alle drei Stadien durchlaufen und jedes einzelne zu höchster Reife gebracht. Auf dem Weg von den Troubadouren über die Ritterepen bis zum Drama der Shakespearezeit, der französischen Klassik wiederholt sich dieser Wellenschlag. Fremd mutet seine Relation zwischen dem Christentum und der Geburt des Dramas an; war es nicht gerade das Christentum, das das echt Tragische im Drama des Abendlandes in Frage stellte? War nicht die Antike der ausweglosen Zwiespältigkeit und Gegensätzlichkeit des Seins weit mehr aufgeschlossen als das Christentum, das im Jenseits immer eine Trostwelt, eine Verheißung, den eigentlichen Zweck sieht? Prallten nicht Erhabenes und Komisches in der Antike viel krasser aufeinander, wenn den hohen Tragödien das Satyrspiel folgte, oder wenn die grotesken Dickbäuche Götter- und Heldentravestien auf die Bühne stellten? Hugo führt als Vollender des romantischen Dramas Shakespeare an. War Shakespeare ein ausgesprochen christlicher Dichter? Bringt Hamlet oder Othello ein christliches Thema? Müssen wir diesen Auffassungen Hugos, daß mit dem Christentum das echte Drama erst möglich geworden sei, daß mit dem Christentum die Fähigkeit Groteskes zu gestalten erst recht erwacht sei, als zeitgebunden auch sehr kritisch betrachten: Zwei Grundgedanken bleiben doch aus diesen Theorien Hugos bestehen, die unzweifelhaft auch heute noch gültig sind: erstens, daß das Dramatische aus dem Wissen um den Zwiespalt alles Existierenden, aus dem Wissen um die Unvereinbarkeit der Gegensätze erwächst, und zweitens, daß es ein Zeichen der Reife einer Kultur ist, wenn im Drama das Groteske dem Erhabenen, das Komische dem Tragischen nahe gezeigt wird. Reife Kulturen kennen hier die messerscharfe Scheide — auf der diese beiden Hemisphären zusammentreffen können. Versuchen unreife Kulturen, ihre Kunst auf diesen schmalen Grat zu stellen, dann entsteht das Ehrfurchtslos-Abstoßende, das Niedrige, das Zersetzende. 5. DAS ORIGINALGENIE UND DIE INDIVIDUALITÄT DES GESTALTETEN Im zweiten Teil seiner Abhandlung behandelt Hugo die drei Einheiten. Kraß lehnt er die klassischen Regeln von Raum und Zeit ab. Die Antike könne hier nicht als Autorität gelten, denn sie gehe von ganz
Das Genie schafft organisch
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anderen Voraussetzungen der Bühnenpraxis und Bühnenrealität aus mit ihrem Einraum-Prinzip, dem ständig anwesenden Chor und der entsprechenden Teichoskopie der Botenberichte. Die französische Bühne dagegen habe doch ganz andere technische Möglichkeiten der Bühnenveränderung und des raschen Szenenwechsels. Wie ein Schuh nicht für alle Füße passe, so dürfe der französischen Dramatik die Regel von Zeitund Ortseinheit nicht zum Käfig, nicht zum Prokrustesbett werden. Die „Schikanen" der Klassiker will Hugo durch eine organische Behandlung von Ort und Zeit ersetzt wissen, die der Gestaltung der Menschen und ihrer Schicksale im Drama der Romantik auf der Bühne entspräche. Der Einwand, daß häufiger Wechsel der Dekoration störe und ermüde, kann nach Hugos Auffassung kaum berechtigt erscheinen, wenn die Einheit der Handlung nur so intensiv geführt und beachtet werde, daß sich zwangsmäßig und sozusagen ohne daß man es merkt, die Dekorationswechsel, Raumveränderungen und Zeitsprünge ergeben. Die Einheit der Handlung gilt ihm daher als einzige Regel; sie bestimme über Ort und Zeit des Geschehens. Einheit der Handlung ist ihm nun aber nicht mit Einschichtigkeit des Geschehens gleichbedeutend. Die Einheit der Handlung kann auch in mehreren Schichten des Geschehens vor sich gehen; aber diese Schichten des Geschehens müssen perspektivisch einander zugeordnet sein: „L'unitd d'ensemble est la loi de perspective du theatre." Weder die Vielheit der Räume, noch die Dauer der Zeit, noch die Schichten der Handlung dürfen vom Dichter mit Willkür behandelt werden; die Nebenhandlungen dürfen nicht als Arabesken, sie müssen als Lebensnerv der Haupthandlung erscheinen. Sie münden in die Haupthandlung ein und bilden von dieser einen integrierenden Bestandteil. „Suivez les regies!"? — Nein — antwortet Hugo auf diese alte Forderung der Klassiker: das Genie sei es, das die Regeln aufstelle — nicht die Befolgung bestimmter Regeln könnte jemals ein Genie bilden; wenngleich das Genie nach festen, strengen, verbindlichen Regeln arbeite. Aber seine Regeln wachsen aus dem Inneren des Dichters, sie sind keine äußeren Formen. „Imitez les anciens I" ? — Nein, — antwortet Hugo. Es gibt für ihn nur ein Modell: die Natur! „ . . . Le gdnie, qui devine plütot qu'il n'apprend, extrait, pour chaque ouvrage, les premiferes de l'ordre g6n6ral des choses, les secondes de l'ensemble isold du sujet qu'il traite; non pas k la fa$on du chimiste qui allume son fourneau, souffle son feu, chauffe son creuset, analyse et ditruit; mais k la maniere de l'abeille, qui vole sur ses ailes d'or, se pose sur chaque fleur, et en tire son miel, sans que le calice perde rien de son eclat, la corolle rien de son parfum."
Weder Corneille noch Moliere noch Shakespeare könnten daher vorbildlich für ein Originalgenie sein und sollten nicht kopiert werden, so groß und bewundernswert sie seien. Wie die Biene vielmehr, müsse das Originaltalent zu den Quellen des Lebens und der Welt zurück. Die
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X . Abgrundwissen und Wahrheit des menschlichen Herzens
Natur nähre ja viele Arten des Genies, so wie der Wald vielen BaumArten Nahrung gewähre. Aber jeder Dichter müsse nun auch ein Baum mit eigenen Früchten sein — nicht mit erborgten. Und große Bäume seien dem Sturm am stärksten ausgesetzt. Nur die Mediokrität schmarotze von der Geborgenheit im Schutz und Schatten der Großen. — Aber auch seine Zeitgenossen sollen keinen neuen Moliere oder Corneille erwarten. Das Neue, das Wachsende mögen sie mit wachen Augen wahrnehmen und aufnehmen. Das Kommende habe ein eigenes Recht. Diese Heutigen, Wachsenden, Kommenden aber wollten nicht mehr die Maßstäbe, Normbegriffe und Formkriterien der Alten. Was jenen Natur, sei den Heutigen völlige Unnatur und Künstlichkeit. Die romantische Kunst fasse das wahre Wesen der Natur in einem Drama, das die weite Landschaft des Lebens wie ein konzentrierender Spiegel wiedergebe: „Le poete doit choisir dans les choses!" Das Gesetz für die Optik auf der Bühne ist ein anderes — führt Hugo aus —, als das für die Optik des Lebens. Wie die Bühne niemals mit realer Sonne, wirklichen Bäumen, massiven Häusern auf der Szene arbeiten könne, sondern sich der Kulissen und Versatzstücke bediene, so dürfe auch im Drama nicht die reale Optik des Lebens bestimmend sein, wenn wahres und echtes Leben eingefangen werden solle. Auch Victor Hugo bewegen — wie die englischen romantischen Theoretiker — die Fragen nach den Beziehungen von Kunststil und Natur, Bühnenrealität und Lebens realität. Kunst und Natur seien zweierlei, und Kunst sei nicht Leben, sondern stelle Leben dar mit ihren eigensten künstlerischen Mitteln; sie biete nicht Geschichte, nicht einfaches Spiegelbild, sondern sei selbst Schöpfung in der Wiedergabe der Natur. In vielfachen Dimensionen arbeite dabei der Dramatiker — führt Hugo aus: er zeige nicht nur das Äußere, sondern auch das Innere des Menschen; zeige nicht nur das Aussehen, sondern auch das Sein, das Herzstück der Natur; wie der Saft, der im Baum aufsteige, dem Baum die Kraft und Lebensfähigkeit gebe, so sei der dargestellte Mensch ohne diese inneren Wirkungsmächte nicht begreifbar. Und diese inneren Mächte sieht Hugo sehr individuell wirksam. So kommt es ihm darauf an, daß der Dichter das Eigenleben und die eigene Atmosphäre einer jeden Gestalt in ihrer Besonderheit und ihrem Charakteristischen zeigt, auch dort, wo sie häßlich und sogar vulgär sei. Die Kunst, die Bühne, der dramatische Dichter, haben ja alle Mittel in der Hand, auch die Gestaltung des Häßlichen und Vulgären ästhetisch verbindlich zu bringen und damit in der Wirkung das Ekelerregende als ein psychisch Belastendes auszuschalten. Einen bedeutenden Faktor zur Erreichung dieser ästhetischen Ziele sieht Hugo in der Versform, die er für die dramatische Sprache fordert. Der Vers, als lebendiger Sprachleib, als edelste Form der Natur, sei es, der
Der „vers libre" als lebendiger Sprachleib
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das Drama vor dem Allgemeinen und Gemeinen, sowie vor der Hohlheit der Konventionen bewahre. Freilich, nicht der artistisch gekonnte Alexandriner ist Victor Hugos Idealbild — ihn schickt er mitsamt der gestrigen Welt in den Orkus des Überwundenen und Verbannten —, vielmehr ist es der „vers libre", der freie Vers, den er meint. Dieser allein biete das akustische Gewand des Gedankens in vollendeter Natürlichkeit. Wie der Gürtel das Kleid halte und ihm die natürliche Grazie des Faltenwurfs gebe, die echte Schönheit der körperlichen Natur hervortreten lasse, so verhalte sich der Vers zum Gedanken, den er ausdrücken soll. Der „Vers libre" sei natürlicher und schöner als die einfache und plumpe Prosa. Wie diese dem Getränk des Wassers vergleichbar sei, so gleiche jene dem Wein. Wein aber dürfe nicht in den Schläuchen und Flaschen bleiben — getrunken müsse er werden. Wer den Vers habe (und könne), müsse ihn brauchen und weiterbilden; denn Rasten sei auch in der Sprache Rosten. Die Elemente der Sprache aber seien auch zu seiner Zeit durchaus dem Bild der Natur und der Wahrheit gewachsen; der Alexandriner habe dem Begriff von Natur in der vergangenen Epoche entsprochen; der Vers libre sei dem Empfinden und den Begriffen der neuen Zeit gemäß. Jedes Jahrhundert aber, jedes Zeitalter habe das Recht, seine poetischen Ausdrucksformen im Drama zu gestalten. Vom Stil der Sprache bis zur Struktur des Aufbaus, bis zur Gestaltung der Charaktere und Figuren änderten sich diese von Generation zu Generation, von Dichter zu Dichter. Das Originalgenie schaffe die Einheit, die Regel und den Stil. 6. DAS MENSCHLICHE HERZ UND SEINE PASSIONEN AUF DER BÜHNE: ALFRED DE VIGNY Im gleichen Sinne, aber noch stärker auf die Ausdrucksformen des Individuellen hinweisend, noch klarer das Bild des einzelnen Menschen in seiner Seinsverflochtenheit in den Vordergrund stellend, schrieb zwei Jahre nach Hugos Manifest Alfred de Vigny seine Lettre preface zu „Le More de Venise — Othello" i), zu diesem Drama, in dem er versuchte, Geist und Gehalt des Shakespeare-Werkes seiner Zeit nahezubringen, ohne eine sklavische Übersetzung vorzunehmen. Ja, Shakespeare, c'est un drame!, das war auch Vignys Meinung, aber doch das Drama der Shakespearezeit, wie Molifcre das Drama seiner Zeit schrieb. Das allgemein Menschliche, die Natur des Individuums Betreffende, das habe Shakespeare unübertrefflich schön und zeitlos gültig gestaltet; denn die Natur des Menschen ändere sich nicht: — „mais ce qui est philosophie divine ou humaine doit correspondre au besoin de la societe oü vit le pofete; or, les socidtes avancent"2). Die Shakespeare-Renaissance seiner 1) In: Oeuvres competes, Bd. Thdätre complet, Paris, benutzte Ausgabe: 1864, 8. Auflage. 2) Ebd., S. 279.
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Zeit sei nicht in dem Sinne zu verstehen, daß man Shakespeare unbesehen als Vorbild hinstelle, sondern so, daß man Shakespeares Vorbildlichkeit in bezug auf die Poesie und Beobachtung der menschlichen Natur nun bereichere um „le resume ou les sommites de ce que notre temps a de philosophic, et de ce que notre socidte a de sciences acquises" 3 ). Das gelte nicht nur für die Übersetzungen und Bearbeitungen von Shakespeare, sondern vor allem für die gesamte neuere Dramatik, die Vigny im Zeichen dieser Shakespeare-Renaissance sieht. „L'inflexible loi du progres vers un but, helas! inconnu?" 4 ), erlaube es dem Dichter, Shakespeare in diesem Sinne zu bearbeiten — und gebiete ihm, in seinem eigenen Schaffen die Vorzüge Shakespeares mit den Forderungen und Ansprüchen der eigenen Zeit in Übereinstimmung zu bringen. Den vergangenen Gesellschaftszustand der Politesse und die ihr gemäße „Ecole polie" der französischen Dramatik bekämpft Vigny mit dem ganzen Pathos seiner natur-sehnsüchtigen Jugend. Wie langweilig harmonisch seien deren Menschen im Drama gewesen: blasse VestibuleFiguren mit ihren Seufzern und ihren unverbindlichen, dahingeplauschten Gesprächen, ihren vagen Parolen, durch die sie gefälligen Passionen Ausdruck gegeben hätten, um dann am Ende einen graziösen Tod zu finden: ,,Ombres d'hommes dans un ombre denature!" 5 ). Diese Politesse der Gesellschaft aber habe nivellierend auf die Menschen gewirkt, alle wahren, starken Gefühle aplaniert nach der Devise: „ni trop haut ni trop bas!". Von Shakespeares Macbeth aber müsse man das Motto nehmen: „Come high or low!"6); denn der Dichter seiner Zeit — und er selbst, Vigny, — sei nicht mehr Politesse-Dramatiker und als solcher nicht mehr „imitateur de fantomes"; solche Dichter habe Piaton zu Recht aus seinem Staat ausgewiesen; der heutige Dramatiker wolle an Stelle jener Gesellschaftsschemen, deren schöner Untergang in der Folge einer Intrigenverwicklung gezeigt worden sei — den Menschen gestalten als: „image d'une vraie creature de Dieu. Je l'aime parce qu'elle est, et je la reconnais ä sa marche, ä son langage, ä tout son air, pour un etre vivant jete sur le monde, ainsi que moi, comme päture ä la destinee; mais que cet etre soit, ou si non je romps avec lui"?). Der Held soll nicht m e h r sein, als er ist: ein Mensch mit einem menschlichen Herzen, mit den Eigenschaften und Leidenschaften seiner Persönlichkeit; das genügt längst, um ihn zum Gegenstand des menschlichen Dramas zu machen. Alles, was darüber hinausgehe, sei ein Weniger. Der Mensch — steht für Vigny im Mittelpunkt des Dramas, ist sein Gegenstand und sein brennendstes Interesse; und zwar der Mensch als Individuum und Persönlichkeit, nicht als Gattungswesen, nicht als Exponent einer Idee oder eines praktischen Ordnungsgefüges (Staat, Weltprozeß usw.). 3) Ebd., S. 280.
t) Ebd., S. 281.
«) Ebd., S. 271.
η Ebd.
5) Ebd., S. 270.
Nicht Phantome, sondern Lebensfüllc
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Der Mensch mit den Keimen der Leidenschaft im Herzen, in dem allein die großen Ereignisse sich vorbereiten: das ist für Vigny der Gegenstand des modernen, zeitgemäßen Dramas. Einen solchen Menschen, der auf diese Weise die Möglichkeit zu einem Schicksal in sich trage, müßten nun die Geschehnisse verstricken; „puis lorsque l'heure en sera venue et seulement alors, sans que l'on sente que son doigt la hate, il (der Dichter) montrera la destinee enveloppant ses victimes dans des noeuds inextricables et multiplids" 8 ). So, im eigenen Innern verankert, komme dem Helden sein Schicksal zu bis zur Katastrophe; diese Katastrophe sei freilich nicht der Katastrophe der vergangenen Dramatik in der Führung der Schicksale zu vergleichen. Bei dem „Ex-systeme" der Tragödie habe sich der Vorhang nur heben zu brauchen, damit man beobachte, wie der Ring sich schließe um einen Helden, dessen Schicksal von vornherein festlag, dessen Untergangsreife bereits vom ersten Wort angezeigt worden sei. Vigny dagegen verlangt, die lebendige Verknüpfung der Schicksale, das Werden und Entstehen der Konflikte auf der Bühne zu sehen — und zwar in einem breiten Gemälde des Lebens: „D'abord il prendra dans sa large main beaucoup de temps et y fera mouvoir des existences entieres; il creera l'homme non comme esp£ce, mais comme individu, seul moyen d'interesser a l'humanite; il laissera ses creatures vivre de leur propre vie, et jettera seulement dans leur coeur ces germes de passions par oü se preparent les grands evenements" 9). Statt Rollen will Vigny Charaktere, statt Abstraktionen persönliche Leidenschaften und Eigenschaften auf der Bühne gestaltet haben. Jeder Mensch sei ein Wesen eigener Art und nicht das Sprachrohr des Autors. Ein jeder sei auf eine eigene Weise sensibel oder unempfindlich, angreifbar durch ein Schicksal oder schicksalslos; niemals würden verschiedene Menschen „agites au meme degre par le me me evenement" 10). Jeder Mensch sei aber auch nicht von Beginn bis Ende eines Stückes vom gleichen Gefühl beherrscht, in seiner Stimmung nicht ständig ein Ausweis seiner Schicksalsbezogenheit. Jeder Mensch spreche seine eigene Sprache, habe seine Lieblingsworte und Lieblingsformulierungen gemäß seiner Erziehung, seinem Beruf, Geschmack, seiner Familie, seinem Temperament und vieler anderer Faktoren, die nur auf ihn allein eingewirkt hätten und nur in ihm daher wirksam sein könnten n). Die Politesse aber habe — führt Vigny aus — all dies Individuelle von der Bühne verbannt, die wahren Charaktere als grob und plump bezeichnet; die einfache Sprache als trivial verurteilt; die Leidenschaften extravagant und die Poetik bizarr gescholten 12 ). Eine ganze Reihe nun solcher Individuen brauche der moderne Dichter, 8) Ebd., S. 269. π) Ebd., S. 272.
9) Ebd. io) Ebd., S. 270. 12) Ebd., S. 270.
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X. Abgrundwissen und Wahrheit des menschlichen Herzens
um das, was ihn bewege, auf die Bühne zu bringen; genügend Herzen, um alle seine Empfindungen auszudrücken; dann erst werde man sein wahres Interesse, seine Seele, seinen Atem im Ganzen durchspüren. Die Einheit dieses Interesses ist für Vigny die einzige Einheit, die im modernen Drama Geltung habe. Dieses Interesse aber ist darauf gerichtet, ein wahres Menschen- und Lebensbild zu geben; Individuen in ihrer Eigenheit und in ihrer Lebensverflochtenheit zu zeigen, das sei die Aufgabe des modernen dramatischen Dichters. „Alors, bien loin de trouver des personnages trop petits pour l'espace, il gemira, il s'ecriera qu'il manque d'air et d'espace; car l'art sera tout semblable ä la vie, et dans la vie une action principale entraine autours d'elle un tourbillon de faits necessaires et innombrables" 13). Hart im Räume stoßen sich so die Seinsweisen des Menschen, wachsen die Passionen, verwunden sich die Herzen, und die Taten geschehen, die den Menschen zeigen als ein „etre vivant jete sur le monde comme päture ä la destine." Bezeichnend nun ist es auch für Vigny, daß er sich — wie Victor Hugo — für den Versgebrauch im Drama entscheidet. Zwar verdammt er den Alexandriner nicht als solchen von der Bühne: nur in seinem bisherigen glatten, kühlen und harmonischen Charakter empfindet er ihn als veraltet. Es sei nötig — meint er — „detendre le vers alexandrin jusqu'a la ndgligence la plus familiere (le recitatif), puis le remonter jusqu'au lyrisme le plus haut (le chant)"! 4 ). In dieser weiten, elastischen Form könne die französische Verssprache dann den unnachahmlichen poetischen Möglichkeiten der englischen Dramatik entsprechen, in der Blankvers und Reim und Prosa in höchster Kunstwirkung abwechselten und „high and low" eben auf diese Weise nebeneinandertreten könnten ohne die Einheit und Ganzheit zu stören. Reine Prosa — meint auch Vigny — könne diese Wirkung im Französischen nie erreichen. Wechselten aber im französischen Drama — das hatte schon Victor Hugo festgestellt — Prosa mit lyrischen Verspartien, so entstehe ein sehr heterogenes Sprachgebilde, aber kein einheitliches Kunstwerk. Der Vers dagegen, legt Vigny dar, schmiege sich jeder Aussage leicht an; wenn er schwebe, wundere man sich nicht; und wenn er einfach dahergehe, fühle man, daß er Flügel habe 15). Man spürt in all diesen Ausführungen Vignys, daß hier schon Abstand gewonnen wird zu den überschäumend extremen Anschauungen des barock-romantischen Welt- und Menschenbildes Victor Hugos. Das Strukturdenken Hugos wird hier bei Vigny vom plastischen Organismusdenken abgelöst. Viel Gleiches verbindet natürlich die beiden Romantiker. » ) Ebd., S. 269.
14) Ebd., S. 276.
« ) Ebd.
XI. JUNGDEUTSCHES ZWISCHENSPIEL: BEKENNTNIS ZUM LEBEN
1. KUNST UND LEBEN ALS INSEPARABELN Wienbarg war es, dessen „Hand den fröhlichen und hoffnungsreichen Namen: junges Deutschland auf die Fahne der jungen Literatur stickte"!), als er „dem jungen Deutschland" seine streitbaren „Ästhetischen Feldzüge" 2 ) widmete. In dem Jungdeutschen Kreis, der mehr durch Verbote und politische Unterdrückung zu einer Gruppe zusammenwuchs als durch persönliche Sympathie seiner Mitglieder untereinander, der sich mehr in der Opposition gegen das Alte Deutschland zusammenfand als durch ein von vornherein klar gefaßtes literarisches oder ästhetisches Konzept 3), wurden — auf der Basis des ihnen allen gemeinsamen Lebensgefühls — auch dramaturgische Fragen lebhaft diskutiert, das alte Drama einer leidenschaftlichen Kritik unterworfen und Wege zu einem neuen dramatischen Welt- und Lebensbild gesucht; denn zu der geistigen Erneuerung des Lebens im sozialen, politischen und ethischen Bereich konnte — nach ihrer Meinung — kaum eine literarische Gattung so sehr beitragen wie das Drama. Das Drama stellte ja unmittelbar das Leben selber dar, mit allen von der Gegenwart empfundenen Bedrängnissen des Menschen. Und so sah das Junge Deutschland in der Bühne ein Forum, dem Leben, der Gesellschaft, der Natur, „dem Jahrhundert und dem Körper der Zeit" einen Spiegel vorzuhalten, „den Abdruck seiner Gestalt zu zeigen" 4), und es berief sich hier auf Shakespeares Worte im „Hamlet". Für seine Gegenwart sah das Junge Deutschland in der Bühne also einen Ort, den neuen Menschen zu zeigen in seiner neuen Welteinstellung, in seiner revolutionären Opposition zur bestehenden Gesellschaft, zum Philistertum und zum Feudalismus. Das Bild des neuen 1) L. Wienbarg, Menzel und die jg. Literatur, Mannheim 1835, S. 21. L. W., Ästhetische Feldzüge, Hamburg 1834; zwar hatte Laube den Ausdruck „Ia jeune Allemagne" schon ein Jahr vorher in einem Brief an Max v. Oer (28. 4. 33) gebraucht, doch wurde er erst durch Wienbarg literarisches Schlagwort zur Kennzeichnung der neuen Generation, ähnlich der „jeune France". Vgl. zur Begriffsdefinition und Geschichte des jg. Dtschl.: Fr. Kainz, Art. Jg. Dtschl., Reallex. d. dt. Lit. gesch. v. Merker-Stammler, II, S. 41 ff. 3 ) Hugo v. Kleinmayr, Welt- und Kunstanschauung des „jg. Dtschl.", Wien — Leipzig 1930; Fr. Kainz, a.a.O., ders., Euph. X X V I , 1925, S. 388ff. «) Theodor Mündt, Dramaturgie, Berlin 1848, I., S. 71. 2)
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XI. Jungdeutsches Zwischenspiel: Bekenntnis zum Leben
Menschen, aus dem Schoß des Lebens geboren, ohne Verunstaltung durch Doktrinen und Prinzipien, durch hohle Traditionen und Vorurteile, es sollte von der Bühne her den Geist und den Willen der jungen Generation verkörpert zeigen und wirksam bildend den ganzen Lebensbereich beeinflussen, mit an der Revolutionierung der Gesellschaft und des gesamten Lebensstiles tätig sein. Kraft und Natürlichkeit, echte Sitte und Tatenfreude, männliches Wesen und Innerlichkeit, Vergeistigung und Gefühlsstärke — all diese Züge sollten es auszeichnen an Stelle jeder falschen Romantik, jeder klassizistischen Spießbürgerlichkeit, jedes vertrockneten, gelehrten Ofenhockertums und jeder kraftlosen, politischen Ergebenheitshaltung; Züge, die die Voraussetzung zu gesunder Lebensbewährung boten, wie sie die neue Zeit erforderte; Züge, die im Kampf gegen das allgemein verbreitete Gefühl des Epigonentums und politischer Indolenz heraufbeschworen wurden, sich im Selbstwert zu begreifen, zu eigenen Taten zu kommen und mit diesen eigenen Taten das Gesicht der Zeit zu prägen; alles, was faul war im Staat und im Leben, zu stürzen und durch das Gesunde, das Freiheitsliebende und wahrhaft Humanitäre zu ersetzen 5). Es waren vor allen anderen Wienbarg und Gutzkow6), Mündt 7 ), Willkomm 8 ) und Laube 9), die sich an dieser dramaturgischen Diskussion beteiligten. Heine und Börne schufen als Vorläufer mehr die kritischen Voraussetzungen, auf denen der engere Kreis der Jungdeutschen dann weiter aufbaute. Es muß festgehalten und in Erinnerung gebracht werden, daß es beim Jungen Deutschland um eine politisch gesellschaftliche Zielsetzung zur Erneuerung des Lebensstiles geht, die dann auf dem Gebiet des literarischen Programms ihre Kritik ansetzte und ihre Konsequenzen suchte 10). Die Muttermilch dieser ganzen Generation waren — wie bei den französischen Romantikern — die Ideen der französischen Revolution, ihr Kronautor J. J. Rousseau mit seinem Entwurf eines natürlichen Lebens im „Emile". „Diderot und Rousseau hießen die beiden unsterb5) M. Bartholomey, L. Wienbarg, ein pädagog. Reformer des Jg. Dtschl. (Pädagog. Mag. H. 437, 1912); J. Proelss, Das Jg. Dtschl., 1892; G. Brandes, Die Lit. des 19. Jhdts. in ihren Hauptströmungen, Bd. VI, 1891; F.Wehl, Das Junge Dtschl., 1886, Η. H. Houben, Jgdt. Sturm und Drang, 1 9 1 1 ; H. Kindermann, Romantik und Realismus (Dt. Vjschr. f. Litwiss. und Geistesgesch. IV, 4, S. 651 ff.). e ) J. Dresch, Gutzkow et la Jeune Allemagne, 1904. 7 ) O. Draeger, Theodor Mündt und seine Beziehungen zum Jg. Dtschl. (Beitr. z. dt. Litwiss. 10) 1909; W.Prinz, Th. Mündt als Literarhistoriker. Diss. Halle 1912. 8) F. Hinnah, E. Willkomm, Diss. Münster 1915. 9) A . v. Weilen, Theaterkrit. und dramaturg. Aufsätze von Laube (Sehr. d. Ges. f. Theatergesch.), 1906. 10) Vgl. H. Kindermann, Die literar. Entfaltung des 19. Jhdts. (Germ. Rom. Monatsschr., XIV, 1926, S. 35ff.)
Ist Theater Müßiggang?
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liehen Männer, die sich aus der Unnatur ihres Jahrhunderts zuerst herausrissen. Rousseaus Emil legte den Grund zu einer neuen Erziehung der europäischen Jugend, sein contrat social den Grund zur französischen Revolution, dem Todesstoß der europäischen Tyrannis in Kunst, Sitte und Staat" n). Zum großen Kummer der Jungdeutschen hatte nun aber gerade Rousseau eine eindeutige Stellung gegen die dramatische Poesie und die Schauspielkunst eingenommen, mit der sich Mündt in seiner Dramaturgie eingehend auseinandersetzt !2). Wie Piaton, so hatte auch Rousseau mancherlei Bedenken, die sich aus praktischen Lebensaspekten gegen das Theater richteten und die er in einem Brief an d'Alembert 13) niederschrieb. Drama und Theater widersprächen der Natur des Menschen, führt Rousseau hier aus; das eigentliche Vergnügen des Menschen sei es, tätig zu sein. Nur im Müßiggänger entstehe das Bedürfnis nach fremden Vergnügen, wie das Theater sie biete. „Wenn man sein Herz an das Theater hänge, zeige man schon, daß man sich in seinem eignen Innern übel befinde. Man glaube, im Theater eine Vereinigving zu finden, aber gerade dort isoliere man sich, man vergesse Freunde, Nachbarn, Verwandte, Frau und Kinder, um sich für Fabeln zu interessiren, das Unglück der Todten zu beweinen und auf Kosten der Lebenden zu lachen" 14). Die gleichen Argumente wie Piaton bringt auch Rousseau vor: die Darstellung ungezügelter Leidenschaften, die das Theater vorführe, sei ein schlechtes Beispiel für das Leben, das Selbstbeherrschung verlange. Auch errege das Drama Mitleid am falschen Ort. Mündt skizziert Rousseaus Einstellung: „Indem wir über Dichtungen weinen, glauben wir leicht schon alle Pflichten der Menschlichkeit erfüllt zu haben, ohne daß wir etwas von dem Unsrigen hinzugethan. Dagegen würden die wirklich in Person Unglücklichen von uns Sorgfalt, Unterstützung, Trost, Mühe verlangen können, was uns beunruhigen, unsrer Indolenz etwas kosten würde, während wir beim Anschauen des Dramas eher die frohe Empfindung haben, von solchen Pflichten befreit zu sein" l s ). Die Gründe — meint Mündt —, die Rousseau hier anführe, seien schwerwiegend, da sie aus „thatsächlicher Humanität" vorgebracht würden und auch „in der heutigen Zeit wieder manchen Anklang finden möchten", wenn er nicht die Kunstebene mit der Lebensrealität „auf eine unlogische Weise" durcheinanderwerfen würde. Damit schneidet π) L. Wienbarg, Aesth. Feldzüge, S. 82. 12) Rousseau, Lettre ä Mr. d'Alemberg; Mündt bezieht sich auf die Ausgabe „Oeuvres complettes de R., Melanges, Tom. III, pag. 119-303, 1782; Theodor Mündt, Dramaturgie oder Theorie und Gesch. der dramatischen Kunst, Berlin 1848, I, S. 23ff. 13) In d'Alemberg sah Rousseau den Verfasser eines Artikels der Pariser Encyclopedie, in der der calvinistischen Stadt Genf ihre Theaterfeindschaft vorgehalten und das Bild der guten Einwirkungen, die vom Theater ausgehen können, vorgestellt wurde. Η) Mündt, a.a.O., I, S. 25. 15) Mündt, a.a.O., I, S. 26.
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XI. Jungdeutsches Zwischenspiel: Bekenntnis zum Leben
Mündt ein Generalthema der jungdeutschen Bemühungen an: Kunst und Leben in eine neue, positive und fruchtbare Relation zu bringen. Diese organische Relation von Kunst und Leben habe weder zu Piatons Zeiten noch zu denen Rousseaus bestanden. Der gleiche pathologische Zustand, der seine Zeit charakterisiere, habe auch damals den Zwiespalt von Kunst und Leben verursacht. Es sei unbillig von Piaton, vom Dramatiker zu verlangen, er solle selbst erst einmal Feldherr oder Held sein, bevor er Feldherren oder Helden in seinen Dramen gestalte, den Dramatiker und Schauspieler aus seinem Staate zu verweisen, da er dieser Forderung nicht genügen könne. Ein anderes sei es, Feldherrn zu gestalten, als Feldherr zu sein. Aber das Tun des Dichters schließe die Lebens-Verbundenheit und Wirkung auf das Leben nicht aus. — Im Gegenteil, auf diese Verbundenheit und Wirkung komme es an. Der Dramatiker sei einem Staatsmann zu vergleichen: „Ein Minister ζ. B., der Theologen anzustellen h a t , . . . hat darum immer noch das Recht, selbst ein schlechter Theologe oder gar keiner zu sein. Er hat nur mit einem aus der allgemeinen Staatsidee heraus darüberstehenden Takt gewissermaßen den Bedarf des Landes zu decken, und er wird darin eben als ein ächter Staatsmann verfahren" 16 ). D'Alembert verteidige sich zwar schlecht gegen Rousseau 17), aber immerhin bringe er ein bemerkenswertes Argument vor, von dem aus die organische Bindung von Leben und Kunst zu beleuchten sei: „Die Art, wie d'Alembert die Schauspiele von Seiten des Vergnügens betrachtet, und sie als den Menschen nothwendige Spielzeuge, gewissermaßen wie man leidenden Kindern dergleichen zugesteht, deduciren will, ist freilich nicht sehr geistreich, aber er berührt doch wenigstens die höhere ethische Natur des Drama's, indem er es die in Handlung gesetzte Moral der Menschheit nennt" i 8 ). Das Theater sei kein Zeitvertreib, keine Ablenkung vom Leben — wie Rousseau es sehe; es mache nicht lebensuntüchtig, wie Piaton es hinstelle; es sei aber auch kein notwendiges Spielzeug, wie d'Alembert es kennzeichne — es gehöre vielmehr zum Leben, zum Ernst des Lebens, in dem es große Aufgaben zu erfüllen habe. Freilich könne es diese Aufgaben nur erfüllen, wenn es im Leben stehe und tätig am Geist der Zeit und an der Lebenswirklichkeit mitwirke. So wird das Drama in den Dienst an der Zeit und am Leben gestellt. Die „höhere ethische Natur des Dramas" ist sein Streben, die Gerechtigkeit zu verwirklichen. Die „Moral der Menschheit" zu zeigen, gehört zu den organischen, lebenverbundenen Tendenzen des Dramas. Wenn Rousseau also — der durch die Jungdeutschen viel Berufene — 16) Mündt, a.a.O., I, S. 20. 17) D'Alembert, Supplement k la collection des Oeuvres de J. J. Rousseau, 1782, I, S. 31 ff. 18) Mündt, a.a.O., I, S. 35f.
Kritik an Piatons und Rousseaus Ablehnung der Bühne
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Drama und Theater abgelehnt habe, so darum, weil in seiner Zeit diese Künste neben dem Leben gepflegt wurden und nicht im lebendigen Lebensprozeß standen. So sahen Piaton und Rousseau die Beziehungen von Kunst und Leben unter dem Aspekt, den ihnen die Gesellschaft ihrer Zeit, der pathologische Zustand ihres Lebens bot — kein Wunder, wenn sie da das Theater ablehnten. J a , selbst bei Goethe, dem auch die Gesellschaft seiner Zeit nicht gegeben habe, was sein Genie verdient hätte, entdeckt Mündt ähnliche Verwirrungen, die ihm durch das Auseinanderfallen von Kunst und Leben in seiner Zeit erwachsen seien. So habe Goethe in den „Lehrjahren" zwar ein Bekenntnis abgelegt zum Theater als einem eigentümlichen „Culturelement zur höheren und freieren Bildung der Persönlichkeit, ja, als einer vermittelnden Kraft zur Emancipation des deutschen Lebens" 1 9 ); in den Wanderjahren dagegen habe er die Bühne verworfen: „ I n jener geheimnisvollen Erziehungsprovinz nämlich, in der ein neues Gesellschaftsleben keimen soll, und das uns bald an den platonischen Staat, bald an Rousseau's Naturzustand, bald an Fourier'sches Phalanstere 20) erinnert, findet sich kein Theater und keine Anstalt zur Förderung der dramatischen Poesie. Die Vorsteher dieser Provinz äußern sich darüber folgendermaßen: «Verhehlen dürfen wir nicht, daß in unserer ganzen Provinz keine Anstalt für dramatische Poesie anzutreffen sei, denn das Drama setzt eine müßige Menge, vielleicht gar einen Pöbel voraus, dergleichen sich bei uns nicht findet.»" Man müsse hier freilich — meint Mündt — die Müdigkeit und Resignation Goethes angesichts seiner, in dieser Zeit von ihm als unbefriedigend empfundenen Tätigkeit auf dem Theater mit in die Waagschale werfen. Auch Wienbarg versucht verständlich zu machen, daß Goethe nur durch die Zustände seiner Zeit gehindert worden sei, in seiner Dichtung immer seinem eigenen Grundsatz gerecht zu werden, daß Poesie und Leben Inseparabeln seien, das Weibchen sich zu Tode härme, wenn das Männchen von ihm getrennt werde: wer die Poesie vom Leben trenne, trenne das Leben von der Poesie 2 1 ). Gerade auf diesen Grundsatz Goethes beruft er sich, ihn habe Goethe als Samenkorn in die Literaturen des neunzehnten Jahrhunderts gestreut. Möge der Minister Goethe dann auch in seinem Werk seiner Zeit Zugeständnisse gemacht, „das Götterroß vor den Wagen der gemeinen Alltäglichkeit, ja vor den Leichenwagen der gesellschaftlichen Entartung" gespannt haben, so gehe es doch nicht an, daß Menzel sein Genie „ s o fratzenhaft,. . . von diesem Koloß nur die dickverkürzten Beine" z e i g e 22). ι») Mündt, a.a.O., I, S. 50. 20) Charles Fourier (f 1835), entwarf in seinen sozialen und ökonomischen Untersuchungen einen kommunistischen Idealstaat; Oeuvres compl., 6 Bde., Paris 1840-45. 21) L. W., Goethe und die Weltliteratur ( = Zur neuesten Literatur, Hamburg 1838, II., S. 5). 22) Ebd., S. 12.
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XI. Jungdeutsches Zwischenspiel: Bekenntnis zum Leben
Goethe sei die Muse nur als Begleiterin, nicht als Leiterin des Lebens 23). Dieses Leben sei zu Goethes Zeit aber trivial gewesen, und so habe er die Poesie zur Begleiterin der Trivialität erniedrigt 24). Diesen Vorwurf habe ihm schon Novalis gemacht und später auch Börne. Goethe habe — wie Shakespeare — Poesie und Leben verbunden. Aber zu Shakespeares Zeiten habe nach Goethes eigenen Worten „in den Gesinnungen seiner Landsleute Größe, in ihren Empfindungen Tiefe und in ihren Handlungen Stärke und Consequenz" geherrscht. „Welche von diesen Eigenschaften, die den National-Autor bilden, traf Goethe unter seinen Landsleuten? Verhüllen wir uns die Augen und seufzen: keine" 25). So seien seine „Gesellschaftsdichtungen so peinlich wie die Gesellschaft seiner Zeit selber g e w o r d e n " 26). Es liege also an dem Gesellschaftszustand der damaligen Zeiten, daß so revolutionäre Geister wie Piaton und Rousseau ein Verdikt über das Drama und die Bühne ausgesprochen hätten, ja daß sogar Goethe, der Goethe-Prometheus und Goethe des „Götz", der die Sturmfahnen der Jugend seiner Zeit vorangetragen habe, später vor seiner Zeit die Segel gestrichen und im Boot seiner Zeit mitgefahren sei. Goethe, immer wieder und vor allem ist es Goethe, mit dem die Jungdeutschen sich auseinandersetzten: in leidenschaftlicher Befehdung des Fürstendieners, in Bewunderung des prometheischen Geistes 27). Hat Goethe seine Pflicht getan?, fragt Börne in seinem Tagebuch 1830 28). Die Pflicht seiner Zeit gegenüber? Voltaire, Rousseau, Milton, Swift, Byron und viele andere, sie verwirklichten ihre soziale Gesinnung im Leben und im Werk. Goethe aber? „Nie hat er ein armes Wörtchen für sein Volk gesprochen", die Niedrigkeit nicht beschämt, das Recht nicht verteidigt, nur glücklich sei er gewesen und als glücklich habe er sich erkannt. Das genüge aber nicht. Was habe Goethe aus dem Leben und mit dem Leben gemacht? „Goethe ummauert nicht bloß sich, daß ihn die Welt nicht überlaufe; er zerstückelt auch die Welt in lauter Ichheiten und sperrt jede besonders ein, daß sie nicht herauskönne, ihn nicht berühre, ehe er es haben will. Hätte er die Welt geschaffen, er hätte . . . jede Landschaft in einen Rahmen gesperrt, daß es ein Gemälde werde, und jede Blume in einen Topf gesetzt, sie auf den Tisch zu stellen. Was in der That wäre auch nebulistischer, als das unleidliche Durcheinanderschwimmen auf einer Wiese I . . . Alle Empfindungen fürchtet er als wilde muthwillige Bestien und sperrt sie, ihrer Meister zu bleiben, in den metrischen Käfig ein" 29). Goethe habe — meint Börne — nicht des Lebens, der Welt, der anderen Menschen wegen geschrieben, um am Entwicklungserschienen
23) Ebd.,S. 3f. 24) Ebd., S. 13. 25) Ebd., S. 15. 26) Ebd., S. 16. 27) O. Kanehl, Der jg. Goethe im Urteil des Jg. Dtschld., Diss. Greifswald 1913. 28) L. B., Aus meinem Tagebuch, Soden 18. Mai 1830. Ges. Sehr., HamburgFrankfurt 1862, III., S. 386 f. l i b d . . Frankfurt 4. Mai, III, S. 328f.
Goethe: Fürstendiener oder Opfer der Zeit?
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weg der Zeit tätig mitzuwirken, sondern, wie er selbst bekenne, um sich von der Welt und dem Leben und den Empfindungen, die sie einflößen, zu befreien. „Lieber nicht leben, als solch einer hypochondrisch-ängstlichen Seelendiät gehorchen!" seufzt Börne. „Sendet dazu der Himmel der dürstigen Menschheit seine Dichter, daß sie trinken, sie mit den Königen?" 30), daß sie sich, wie Goethe und Schiller, an den Tisch der Fürsten setzen und auf das Volk verächtlich herabschauen? Daß sie ihren Genius in den Dienst feudaler Cliquen stellen und sich selbst bewahren? Der Kreis um Wienbarg und Gutzkow wird Goethe gerechter und sucht die Schuld in der Zeit, erkennt vor allem an, daß Goethe und Schiller nicht nur als große Menschen in den „Inventarien der Vergangenheit" 31) geführt würden — im Gegensatz zu Voltaire und Lessing, die nach Börne im „Inhaltsverzeichnis der Zukunft" 32) erschienen —, sondern daß auch von Goethe und Schiller mancher Samen gesät sei, der nach ihrem Tode, im neunzehnten Jahrhundert erst aufgehe und Blüten auch für die Jungdeutschen zeitige. Eine solche Blüte sei Goethes Auffassung von Kunst und Leben als Inseparabeln. Wienbarg beklagt, daß Goethe nicht ewige Jugend zuteil wurde; denn hätten die Dramen Goethes schon zu seiner Zeit einen innigen Zeitkontakt gehabt, wie würde er dann die Zeit der Jungdeutschen in seinen Dramen erst ergriffen und gespiegelt h a b e n 33). Verbinde doch die Jungdeutschen das gleiche revolutionäre Ziel mit den Jugenddramen Goethes, in denen der „Schrei der Natur" sich gegen „die Ketten der Konvenienz", gegen „die Schwäche und Unnatur" seines Zeitalters auflehne. Faust stehe als genialer Denker „dem Nachbetertroß der Wagner" gegenüber, „und aller der tausend und aber tausend Gewohnheitsmenschen, die vor einem selbständigen Gedanken, vor einer frischen und freien That erschrecken und sich lieber für ihr ganzes Leben wie Ungeziefer auf dem Kadaver der Vergangenheit ernähren, als den Muth fassen, die Geburtswehen einer neuen Zeit auszuhalten und diese mit ihrem Mark und Blut groß zu s ä u g e n " 34). Wienbarg feiert im Goethe des „Götz" und des „Faust" den „ersten Dramatiker der Neuzeit", den „geistigen Befreier der Deutschen". Und habe Goethe auch als „Vertreter des Hof- und Fürstenlebens", als „politischer Aristokrat das große geschichtliche Element der Völker von einem so kleinen höfischen Standpunkt betrachtet", so habe er doch „das religiöse, sittliche und wissenschaftliche Leben mit den Blicken eines Adlers" übersehen, von einem Standpunkte, „den Gott weiß, welche Generation unserer Urenkel erst mühsam erklettern wird. 30) 31) 32) 34)
Ebd., Soden 18. Mai, III, S. 372ff. Ebd., Soden 18. Mai, S. 374. Ebd. 33) Ästh. Feldz., S. 250 ff. Ebd., S. 270.
16 Dietrich, Dramaturgie
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XI. Jungdeutsches Zwischenspiel: Bekenntnis zum Leben
Goethe war der Luther seines Jahrhunderts, dessen Bibel die Natur und dessen Schüler und Anhänger die Jahrhunderte selbst sind, die nach ihm kommen" 35). 2. WERDET VOLKSDICHTER! Wie aber soll das Drama im Leben der Jungdeutschen Gegenwart stehen? Wie soll es einerseits auf das Leben einwirken — wie soll es anderseits vom Leben durchpulst, selbst Leben gestalten? Wirken soll es vor allem dadurch, daß es durch die Aufführungen das Volk zum Richter aufruft über die vorgeführten Konflikte und Katastrophen. Nicht als angenehme Gesellschaftsunterhaltung soll es auftreten, sondern als Herausforderung zu Urteil und Stellungnahme in der Darstellung des Lebensprozesses, die seine Aufgabe ist 1 ). Das Drama soll einen Kampfplatz der unmittelbaren Gegenwart eröffnen und „dazu das ganze Volk zum Streitgenossen" einladen 2). Es „faßt das Wesen der Menge, die es um sich versammelt, zugleich unter dem höchsten Volksbegriff zusammen, es vergöttert das Volk, indem es dasselbe zum ausschließlichen Richter der ihm vorgeführten Lebenshandlung bestellt und ihm dadurch auf dem Boden des Geistes die Gottesstimme einräumt, die ihm als Volksstimme auf anderen Gebieten noch so oft bestritten worden und durch deren Ausübung dem Drama gegenüber es zugleich eine ideale Läuterung in sich vollzieht" 3). Um das ganze Gewicht dieser „Volksstimme" zu begreifen, muß man sich die hohe Schätzung vor Augen halten, die das Junge Deutschland dem „unverdorbenen, natürlichen Volk mit seinen Naturinstinkten" widerfahren ließ im Gegensatz zu seiner Bekämpfung der „entarteten feudalistischen Gesellschaft" mit ihrer sozialen Immoralität und ihrer dekadenten Ästhetik. Wienbarg 4 ) ruft die Dramatiker seiner Zeit auf, „Volksdichter" zu werden: Das frei spielende dramatische Talent soll sich nicht den „trägen Angewöhnungen der Bühnenwelt und den philisterhaften Bedürfnissen eines Publikums . . . unterwerfen, das sich vor einem acht tragischen Drama ärger fürchtet, wie vor der Pest. Dem Unpoetischen nirgends eine Concession, das Poetische, das euch beseelt und durchglüht, nackt und kühn vor die Augen des Volkes hingestellt, in großen leuchtenden Frakturgedanken, die gesehen und erkannt werden können von der dunkeln Höhe der Gallerie. Wendet euch an das Volk und Alles, was noch frisch und kernhaft fühlt unter den Gebildeten und im Mittelstande — und deren sind Viele — wird euch seinen Beifall nicht versagen . . . Werdet Volksdichter! . . ."5). Denn das Volk — meint er — liebe auch heute noch, wie vor 1000 Jahren „mächtige Aufregungen der Phantasie, 35) Ästh. Feldzüge, S. 273f. i) Mündt, a.a.O., I, S. 76 f. 2) Ebd., I, S. 79. 3) Ebd., I, S. 77. 4 ) V. Schweizer, L. Wienbarg, Beitr. zu einer Jungdeutschen Ästhetik, 1897. 5) L. W., Raupach und die dt. Bühne ( = Zur neuesten Literatur, Hamburg 1838, II, S. 82).
Lebensprozesse, der Kritik des Volkes vorgeführt
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kühne Bilder, rasche Thaten, starke Gegensätze von Glück und Leid, starke ungebrochene Charaktere, Humor, der es in guter Laune erhält, Schicksale, die ihm das Herz beben machen, ja, was das letztere betrifft, so sagen wir's geradezu und ohne Furcht vor Mißverständnissen des gebildeten Hochmuths, das Volk hat ein feineres Ohr für den leisen schauerlichen Schritt des nächtigen Schicksals und ein religiöses Grauen vor den Helden des Leides und der Tragödie, denen das Schicksal auf dem Fuße nachfolgt, und einen Rückenstoß vom Gipfel des Sieges und der Nacht in den Abgrund zudenkt" 6 ). In Deutschland sei eine Kluft zwischen Gebildeten und Volk. „Auch heute noch aber" — fährt er begeistert fort — „ist dieses Volk der gänzlich verwilderte Grund und Boden uralter deutscher Poesie, dem auch die größten Dichter der neueren Zeit Ursprung, Saft und Kraft verdanken, ohne sich mit der Abtragung ihrer Schuld eben große Mühe zu machen. Wir sagen, das Volk ist das rohe, verwilderte, aber schöpfungskräftige Urelement des National-Poetischen, so weit dieses noch nicht untergegangen. Es ist die granitene Unterschicht der Nationalität, über welcher sich die späteren Culturformationen der Staatsgesellschaft gelagert haben. Es gleicht dem kraftkeimenden Chaos der Pythagoräer, das nach der Lehre dieses Philosophen die gebildete Welt von allen Seiten umgibt und ihre Lücken und Abschleißungen ersetzen muß. Leider fällt aber kein bildender Lichtstrahl zurück in dieses Chaos, und die gebildete Welt beschränkt ihre Dankbarkeit auf schulmeisterliche Bemühungen, und behält ihre Poeten, die wahren Schöpfer und Bildner für sich. Die poetischen Kräfte, die dem Herzen des Volks entwachsen und in den Kreis der Bildung übertreten, verläugnen sehr bald ihre Herkunft. Das ist ein Unglück für die Poeten und ein Unglück für das Volk. Sie werden entweder die Leibpoeten des Philistertums, das unmittelbar über dem Volk lagert und die breite Oberfläche des Lebens einnimmt, oder sie werden die Poeten der Gebildeten, d. h. verschiedener unter sich streitiger Cliquen, welche die gesellschaftlichen Culminationen der Macht, des Geistes, der Gelehrsamkeit usw. repräsentieren" ">). Diese Hochschätzung des Volkes, als des kernhaften, unverdorbenen Humus des Kulturlebens, wurde allerdings auch bei den Jungdeutschen mit einschränkenden Warnrufen kritisiert. Der sonst so demokratische Gutzkow 8 ) trat für eine ausgesprochen aristokratische Literatur ein, ohne damit die Dichtung in den Hafen der gesellschaftlichen Oberschicht führen zu wollen. Dieser Volksbegriff darf nicht verwechselt werden mit dem Begriff der ungebildeten Masse, die die Straßen beherrscht. Die Dichter — meint er —, die mit der Masse gehen, könnten die Masse niemals erheben: „das wäre eine jämmerliche Literatur, die das Journal zu ihrem Culminationspunkt nimmt" 9). Menzel warne vor einer aristokratischen Literatur; aber: „Ich meine, man sollte nur vor einer Literatur warnen, die den Massen schmeichelt. Wir würden weit kommen, wenn die Literatur nur dazu diente, einem Handschuhmacher sein Conto zu entwerfen, das er lithographieren läßt, oder die Aufforderungen zu stylisieren, welche an die Bürger ergehen, um einen «) Ebd., S. 76 f. 7) Ebd., S. 78 f. 8) L. Maenner, K. Gutzkow und der demokrat. Gedanke (Histor. Bibl. 46, 1921). 9) K. G., Nation und Literatur, in: Die dt. Revue, von K. G. u. L. Wienbarg hgg., 1835 (abgedruckt in: Dt. Literaturdenkmale des 18. u. 19. Jhdts.) Vorwort u. Ausg. von J . Dresch, Berlin 1904. 16*
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XI. Jungdeutsches Zwischenspiel: Bekenntnis zum Leben
Gemeinderath zu erwählen. Ich nenne hier nur das Äußerste; aber eine Literatur, welche die Masse portraiticrt, wie sie ist, eine Literatur, welche in Versen oder Prosa niemand anders ist, als du selbst, führt so weit. Es ist unmöglich, man kann die Musen nicht bei den Bürgern verdingen und den Pegasus zur Vermittelung unseres täglichen Brods in den Pflug des Bauers spannen" 10 ).
Man könne nicht in einem Atem über Goethe und eine Ständeversammlung sprechen. Es sei elend — meint er — „die einzelnen Phasen im poetischen Gährungspro2eß unserer Zeit abzulauschen und sie noch ganz warm herauszutragen vor das versammelte Volk, das immer bereit sein wird, goldene Himmelsgestalten in Nachttöpfe umzuschmelzen" n). Dieser scharfe Angriff, der gegen Menzels „Stuttgarter Morgenblatt" erschien, richtete sich gegen Menzels Charakterisierung des Jungen Deutschland, das krank und entnervt aus dem Bordell, worin es seinen neuen Gottesdienst gefeiert habe, herbeiwanke 12 ). Daß Gutzkow und Wienbarg 13) hier gereizt reagierten, kann kein Wunder n e h m e n 14). Dennoch richtet sich Gutzkows Ablehnung einer Literatur, die um die Massen buhle und sich daher durch die Gassen treibe, nicht gegen den hohen Volksbegriff der Jungdeutschen. Volk war hier ja nicht als Masse gemeint, die die Straße beherrsche und dem Jahrhundert zum Verhängnis werde, sondern als naturnahe Schichte des Gemeinschaftslebens, die nicht von der Schminke der sogenannten Gesellschaft verdorben sei. Wienbarg feiert Shakespeare und Schiller als solche Volksdichter, die die Sprache des Volkes ihrer Zeit gesprochen hätten, die aus dem Lebendigen geschöpft und vom Volke seien verstanden worden. Wenn seine Gegenwart frage, woher diese Fülle von Leben und Kraft stamme, „die uns an Shakespeare entzückt und seine dichterischen Gebilde so lebensderb, so kühn, so unübertrefflich macht", da könne nur die Antwort lauten: „das hat er nicht auf seinem Stübchen zusammengedichtet, das hat er nicht aus dem Stegreif phantasiert, das hat er gelernt und herausgeschaut aus dem wildbewegten, großartigen Leben, das seine Jugendträume umflatterte und ihn später als Jüngling und Mann in seine Mitte nahm" 15). Volk und Leben und Natur stehen für die Jungdeutschen auf einer Ebene. Auf der anderen Seite stehen die Gesellschaft, die philiströse Gelehrtheit und die Unnatur. In Shakespeare sahen sie den Volksdichter im wahrsten Sinne des Wortes. Menzel aber sei ein Zuckerwasserpoet für das Volk, und ein Philisterfänger für die Gesellschaft mit seiner „bierschäumigen Prahlerei von deutscher Kraft, deutscher Tugend und Sitte" 16). Der letzte große Volksdichter sei Schiller gewesen, der mit Leidenschaft das Große und Ungeheure in Schicksalen, Tugenden und io) Ebd., S. 32. i i ) Ebd., S. 35. 12) Stuttg.; Morgenblatt, Okt. 1835. ι 3 ) L. W., Menzel und die jg. Literatur, Mannheim 1835. it) E. Harsing, W. Menzel und das J g . Dtschld., Diss. Münster 1909. 15) Ästh. Feldzüge, S. 82 f. 16)_L. Wienbarg, Menzel und die jg. Lit., a.a.O., S. 3 f.
Dennoch: Kunst ist aristokratisch
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Verbrechen gestaltet habe, vor allem als Jüngling in den „Räubern" und später als reifer Mann im „Wallenstein". Freilich sei diese sehr achtbare Zuhörerschaft der Zeit Schillers von der Art gewesen, daß sie „sich ungern den tragischen Dolch geradezu auf die Brust setzen" ließ, „wenn sie ihn nicht durch den Knauf schöner Phrasen und Redensarten unschädlich gemacht" 17) gesehen habe, die bei Schiller in so reichem Maße entsprechend vorhanden seien. Seine Zeit — meint Wienbarg — sei prosaischer geworden. Der zeitgenössische Dichter der Jungdeutschen könne nicht mehr in Schillers Fußstapfen treten: „Andere Sterne winken der Zeit, andere Ziele thun sich ihr auf" 18). 3. DAS DRAMATISCHE BILD DER GESELLSCHAFT IN DER GEGENWART Diese anderen Ziele, die der Zeit winken, versuchte E. Willkomm l) in einer unvollendet gebliebenen Abhandlung über „Das moderne Gesellschaftsleben und die sociale Tragödie" 2) konkret zu zeichnen. Schon zwei Jahre vorher (1837) hatte er in einem Aufruf „An die Nation" 3) von den Zielen der neuen Jugend pathetisch geschwärmt: Taten sollten auf der Bühne gezeigt werden, Taten der Vergangenheit und der Gegenwart „in künstlerischem Gewände, umflort vom Schimmer der Freiheit", Taten, die wieder zur Tat der Zukunft begeistern sollten. Aus dem müden Chaos der Untätigkeit solle die „Herrlichkeit einer neuen Welt" erschaffen werden, mit dem Mut des jugendlichen Geistes: „Darum wollet ferner nicht mehr scheiden, Ihr Deutschen, das Leben und die Kunst" Euer Drama war ein künstlich geborenes, wie Euer Leben" . . . Es sitze zwar das deutsche Drama, wie ein geblendeter Simson „noch immer in der Halle der Philister . . . Möchte aber doch der Zorn den gezähmten Riesen erfassen und er, sich rächend für die angethane Schmach, die Schwibbogen über sich zusammenstürzen! Dann würde aus den rauchenden Trümmern ein junger Held sich erheben und in seinen Armen würde das Leben ruhen. Dieser Held wäre das Drama der modernen Welt, geboren aus Schmerz und Gram, aus Freud und Lust der Vergangenheit wie der Zukunft." Einem solchen Drama müsse die „Oriflamme des Lebens" vorangetragen werden.
Sehr viel konkreter als in diesen jugendlichen Phrasen wird Willkomm in seinen Ausführungen über die soziale Tragödie. Hier wendet er seine Aufmerksamkeit ganz dem zentralen Anliegen der Jungdeutschen zu und untersucht, wie es möglich sei, die alle bewegende Unnatur der sozialen Verhältnisse, den Gegensatz von Gesellschaftsmoral und echt π) Ästh. Feldzüge, S. 79f. 18) Ebd., S. 81; A. Ludwig, Das Urteil über Schiller im 19. Jhdt., 1905. 1) Vgl. F. Hinnah, E. Willkomm, Diss. Münster 1915. E. W., Das moderne Gesellschaftsleben und die sociale Tragödie ( = Jahrbücher für Dramaturgie und Theater, hrsg. v. E. W. und A. Fischer, Leipzig 1839, II. Bd., S. 105 ff.). 3) Jahrbücher, 1. Bd. 1837, Leipzig, S. Iff.
2)
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menschlicher Sittlichkeit in den Katastrophen des Alltags zu kennzeichnen und im Spiegel der sozialen Tragödie auf der Bühne zu zeigen. Zwar setzt er sich ab von den radikalen Formulierungen des Saint-Simonismus, der in der Frühzeit der Jungdeutschen durch Heine und den jungen Laube eine große Rolle gespielt hatte 4 ) — findet sich aber auf einer Ebene mit Gutzkow 5 ), der die „Emanzipation des Fleisches" auf eine „Wiedereinsetzung des Natürlichen auf allen Lebensgebieten" reduzierte 6 ). Um dieses Natürliche, das im Gegensatz zur gesellschaftlichen Convenienz gezeigt werden soll, das seine Katastrophen erleidet durch die von der Natur abgefallene Gesellschaft, geht es bei Willkomms Programm der Tragödie. Die die Kultur in Anspruch nehmende Gesellschaft seiner Zeit sei an Intellektualismus erkrankt, und damit in ihrer Moral faul geworden. Um der Gesellschaft zu einer Heilung zu verhelfen, genüge es nicht, sie „aufzukitzeln"; eine Radikalkur sei das einzig mögliche: die Salons zu entvölkern und die ganze „unzufriedene Gesellschaft in Wälder und auf Berge, in die freie Luft" zu schicken. Hier steht Rousseau dem Gedanken Pate. In der Überwertung des Intellekts und dem Mangel an natürlichem Empfinden in der Gesellschaft (Börne hatte seine Zeit schon charakterisiert: „Wir mit unseren Winterherzen") 7 ) liegt nach Willkomm „der Grund unseres sozialen Elends. In ihm keimt die soziale Tragödie, die in einzelnen Momenten bereits laut aufschreiend ins unmittelbare Leben trat, in der Regel aber nur heimlich, in der tiefsten Stille der Häuser ihre Katastrophen webt" 8). Wienbarg sieht in Kant und in den Kantianern die Erscheinung kat'exochen, die für diese Krankheit seiner Zeit und ihrer Gesellschaft typisch sei. Die Kantsche Philosophie vergleicht er einem „schauerlich hohen einsamen Wipfel,. . . wo kein Vogel mehr singt, und wo an den dürren Ästen die scholastisch-deistischen Beweise für das Daseyn Gottes aufgeknüpft hangen wie Armesünder"9). In den „Ästhetischen Feldzügen" führt er — am Beispiel Schillers 1 0 ) — aus, wie Kant mit seinem Intellektualismus und seinem kategorischen Imperativ das natürliche Empfinden der Zeit verdorben habe. Schiller bringe Konflikte zwischen natürlichen Leidenschaften und moralischen Imperativen und entscheide sich dabei für die sogenannte Moral. „Man liebe nicht ohne kategorischen Imperativ!", so läßt er — die Formulierung unterschiebend — Schiller denken. Schillers Konfliktfall: darf man eine un4)
5) 6) 7) 8) ίο)
E. Bergmann, Die ethischen Probleme in den Jugendschriften der Jungdeutschen, Diss. Leipzig 1906. Vgl. A . Caselmann, K . Gutzkows Stellung zu den religiös-ethischen Problemen seiner Zeit, 1900. F. Kainz, a.a.O., II, S. 60. L. B., Fragmente und Aphorismen (in: Ges.· Sehr., Hamburg-Frankfurt 1862, 7. Bd., S. 16f.). E. W., Jahrbücher, 1834, II, S. 106. L. W., Heinrich Heine (in: Zur neuesten Literatur, a.a.O., S. 127). A.a.O., S. 154ff.
Der Intellektualismus als kalte Leidenschaft
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glückliche Geliebte glücklich machen durch Aufopferung einiger moralischer Bedenklichkeiten, den Schiller klar zugunsten des Sieges der Moral mit nein beantwortet — entscheidet Wienbarg ganz entgegengesetzt und will an erster Stelle das „rein Menschliche, die Natur" sprechen lassen: es sei doch der „moralische Lehrsatz" nicht nur dürr und lebensfern, intellektuell und meist im Mantel des ethischen Egoismus, sondern darüber hinaus selbst oft eine kalte Leidenschaft: „es ist mir von einem Kantianer erzählt, der mit einer Art kaltphilosophischer Wuth alle Blumen der Lust und Poesie aus seinem Herzen riß und nach den Trommel- und Taktschlägen des Kantischen Moralprinzips so eifrig, wie ein neuangeworbener Rekrut, auf dem Felde der Sittlichkeit sich einexerzirte. . Wo die Moral nicht aus dem Herzen wachse, nicht der innersten Natur des Menschen zugehöre, dort nur könne sich der Apparat der „Moralsätze" und Imperative entfalten, der ein Zeichen sei, daß die Natur eines Menschen, einer Zeit, nicht intakt sei. Auch das Christentum sei durch seine fanatische Leidenschaft zu Moralsätzen jenseits der menschlichen Natur „in die blindeste Befangenheit trauriger Irrthümer gestürzt" n ) . „ J e armseliger und nackter das Innere, desto prachtvoller ist der moralische Apparat, den man nach außen aufthürmt. . desto scheinheiliger verdammt man die nackte Natur . . . Nun trägt die arme Sinnlichkeit alle Schuld, nun ist die Schönheit selbst, die nicht lebendig mehr im Herzen lebt, die Verführerin, das Gewissen aber der Pilatus, der sich die Hände in Unschuld wäscht und alle Schuld auf die unbändigen Triebe w i r f t . . . So wird unsere Seele dann vorgestellt als der Kampfplatz aller möglichen widerstrebenden Kräfte und Neigungen und über dem Gewühl und Wellen der ruhig ernst kategorische Imperativ, der quos ego donnert. Eine solche Vorstellung schickt sich in der That für solche Zeiten, die wir erlebt; aber sie ist Gottlob nicht die natürliche und wahre, sie gehört dem Gebiete an, woraus sie stammt, dem Gebiet der Schwäche und Unnatur. Schafft uns ein kräftiges Geschlecht, sprengt die Bande, die den Krafterguß schöner Neigungen und Triebe sündhaft gefesselt halten, befreit die Welt von den Sünden der Schwäche, und dann seht, wie viele Ruderer eurer jetzigen Pflichtenlehre sich in der Umgestaltung des Lebens erhalten werden, und um wie vieles kürzer und bündiger das Kapitel von den Kollisionsfällen zwischen Moral und Trieb ausfallen wird" 1 2 ).
Der ethische Monismus, der hier zutage tritt — und der der Generallinie des Jungen Deutschland entsprach — ist sozialkritisch und religionskritisch gewonnen. E r richtet sich gegen die Gesellschaftskonventionen des Feudalstaates ebenso wie gegen die Dogmen der orthodoxen Religiosität 13). Im Gegensatz zu Schiller sieht Wienbarg Goethes Verhalten stehen, das er mit solchen kategorischen Imperativen nicht in Einklang zu bringen vermag: diese „kernhaft schöne Natur", die dem ethischen Dualismus fern gestanden, die das Individuum aus der Ganzheit der Persönlichkeitsentfaltung begriffen habe, sei nie durch intellektuell konstruierte Gegenii) Ebd., S. 154ff. 12) Ebd., S. 161 ff. 13) Vgl. Kleinmayr, a.a.O., S. 205 ff.
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XI. Jungdeutsches Zwischenspiel: Bekenntnis zum Lebeft
sätze zwischen schöner Tat und kategorischem Imperativ beschwert gewesen. An diesem Dualismus aber, sozialer, ethischer und methaphysischer Art, aus dem die Vorurteile und Conventionen wachsen, sieht das Junge Deutschland seine Zeit und seine Gesellschaft erkrankt. Nur aus einer monistischen Lebensauffassung könne eine neue Sittlichkeit des natürlichen Menschen, des freien Individuums, das seiner Bestimmung folgt und ihr gemäß handelt, entstehen 14). So bilde sich eine „männlichere und edlere Moral" im Schöße der Zeit heran — meint Wienbarg 15) — und Willkomm stellt seine soziale Tragödie unter den Aspekt dieser Auffassung: „Die moderne Gesellschaft in ihrer Abgefallenheit von der urewigen Reinheit der Natur stellt sich sonach als die Schöpferin der socialen Tragödie heraus" 16). Die moderne Literatur als „Schildträger der Zivilisation", das moderne Drama als „Spiegel der Zeit" soll diese tragischen Prozesse im Gesellschaftsleben wiedergeben. Weder historische Tragödie, noch Lustspiel, noch bürgerliches Trauerspiel können dieser Aufgabe genügen. Die historische Tragödie — führt Willkomm an — könne für veraltet gelten. Es fehle „dem Volke immer der Sinn für Alles, was nicht aus ihm selbst herauswächst, und wir Deutsche können ja doch nur Geschichte lehren und lernen, nicht sie machen und erleben" 17). Resigniert Willkomm hier? Er hatte sich doch zwei Jahre vorher an den großen Taten der Vergangenheit begeistert, die neu gestaltet auf die Bühne kommen sollten: als Tat der Gegenwart, die zu Taten in der Zukunft begeistern sollte. Wienbarg begeisterte sich an Uhland als dem geschichtlichen Genius deutscher Poesie in seiner Abhandlung „Die Dramatiker der Jetztzeit" 18), in der er Uhlands Drama „Ludwig der Baier" rühmt; er feierte Schillers „Wallenstein" als historisches Nationaldrama. Es war nicht das historische Drama an sich, das die Jungdeutschen ablehnten; sie wollten nur die Bühne nicht zum „Katheder der Geschichte" machen, eine Methode, die sie in Raupachs Werken abschreckend gestaltet fanden 19). Sie lehnten sich gegen den feudal-historischen Geist auf, der die Gegenwart „bei lebendigem Leibe ans Kreuz der Geschichte nageln will" 2 0 ), gegen all die Konventionen, die aus dem handwerksmäßigen Wissenschaftsbetrieb und der feudalistischen Geschichtsauslegung desselben in das Gesellschaftsleben der Zeit hinüberwirkten und dort Sanktionierungen schüfen, mit denen sich die mannigfaltigen Manifestationen des Lebens nicht vertrügen und die der freien Entfaltung alles Lebendigen und Natürlichen entgegenständen. Auch die Hegeische Systematisierung des Historischen war ihnen ein Dorn im Auge, je mehr sie sich einem 14) 16) 17) 19)
Vgl. Kainz, a.a.O., S. 61. « ) Ästh. Feldzüge, S. 170. Das moderne Gesellschaftsleben . . a . a . O . , S. 106. Ebd., S. 107. ι») Altona 1839, S. 20. L. W., Raupach und die dt. Bühne (in: Zur neuesten Literatur, a.a.O., S. 65ff.).
20) L . W i e n b a r g , Ä s t h . F e l d z ü g e , a . a . O . , S. 34.
Die Gelehrsamkeit hält Leichenschau: das Historiendfama
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empirischen Realismus zuwandten. „Wir sind krank an unserer Historie" — seufzt Wienbarg —21) und meint damit den historischen Wissenschaftsbetrieb der Zeit, der die Historie als Wissensmasse sammle und damit ein immer größer werdendes Reservoir von Fakten toter Gelehrsamkeit sammle, das sich nur als Ballast auswirken könne, oder zu Vorurteilen und Systemzwang führe, die dann von der intellektuellen Gesellschaft zu ihrem Vorteil benützt würden. So sehnt er sich, unter solchen „geschichtslosen Menschen", wie die Griechen es waren, zu leben, „die nichts hinter sich sehen als ihre eigenen Fußstapfen und nichts vor sich als Raum, freien Spielraum für ihre Kraft" 22 ). Dennoch lehnt er die Geschichte nicht ab, wo sie im Zusammenhang mit dem Leben begriffen wird. Als Historisches will er das „Ewige der Menschennatur, das in jedem Zeitalter Ergreifende . . . zum Gegenstand der Dichtung" gewählt wissen 23). Erst wenn das Leben stirbt und die Gelehrsamkeit Leichenschau halte — wie am Ausgang der Antike — dann entstehe jene Art der Historie, deren trockene, unlebendige und philiströse Art er in den meisten historischen Dramen seiner Zeit finde. „Wir haben uns herausstudiert aus dem Leben, wir müssen uns wieder hineinleben" 24 ). Nicht die nationalhistorischen Stoffe könnten ein Nationaldrama ergeben, sondern der Geist, mit dem sie ergriffen und gestaltet würden. Schiller habe seinen Wallenstein — meint Wienbarg — nicht als Stoff gewählt, weil dieser national oder historisch, sondern weil er tragisch war 25). Und ebenso Goethe mit seinem „Götz"; dieser verdanke „seinen Ursprung einem Reflex des damaligen jugendlichen Zeitgeistes am Spiegel der blankgeharnischten Vergangenheit. Goethe schnallte sich den Harnisch des letzten deutschen Ritters um die Brust, und holte mit der eisernen Faust rechts und links einige sausende Quarten aus, freilich ohne Ziel und gleichsam nur als Kraftproben, um Philistern und Schwächlingen zu zeigen, daß deutsche Kraft und Naivität noch nicht erloschen sey und Thaten fordere" 2 6 ). Nicht als historisches Geschehnis habe Goethe den Götz behandelt, sondern als Kristallisation einer Geisteshaltung. Die Historie im Drama müsse durch ihre gegenwartsnahe Symbolik lebendig sein. In diesem Sinne faßt auch Mündt die Historie und das historische Drama auf: der Geschichtsgeist der Menschheit ist für ihn eine auf das Substantielle eingestellte Kategorie, die das ewige Schaffen hinter dem Wechselbild der Erscheinungen sieht 27). Einen solchen Geschichtsgeist findet er auch dort, wo es im Drama nicht um Historie im Kostüm der Vergangenheit gehe, sondern wo die unmittelbare Gegenwart auf die Bühne gestellt wird: 21) 23) 24) 25) 26)
Ästh. Feldzüge, a.a.O., S. 37. 22) Ebd., S. 35. Die Dramatiker der Jetztzeit, a.a.O., S. 32. Ästh. Feldzüge, a.a.O., S. 74. Raupach und die dt. Bühne, a.a.O., S. 72. Ebd., S. 72. 27) Dramaturgie I, S. 70.
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dann erfaßt sich die Zeit selbst als geschichtlich, als Lebensprozeß, als Geschehen im Bewegungszustand. Im Drama komme es darauf an, zum Geist des Geschehens vorzudringen, „in die lebendigen und persönlichen Quellpunkte der Ereignisse hinabzusteigen . . . und dort neue Zusammenhänge aufzuzeigen", die sich dem reinen Historiker nie erschlössen, die vielmehr „aus dem göttlichen Recht, welches die Poesie an die Wirklichkeit hat" ihre Glaubwürdigkeit und ihren Wahrheitsanspruch erhielten 28). So sieht also das „Aktualitätsbewußtsein" der Jungdeutschen aus, durch das sie von der Literaturgeschichte allzuoft und allzuleicht im Sinne einer tagespolitischen Sensation plakatiert und etikettiert wurden. Ja, sie wollten das Aktuelle, aber nicht als Eintagseffekt oder Sensation, sondern als Ewig-Menschliches; sie wollten die Geschichte existentiell, lebendig begreifen und nicht als Museum. Im historischen Drama wollten sie keine Leichenschau einer nationalen Vergangenheit — sondern das sprühende Leben nationalen Geistes. Als Hebbel sich so gereizt mit ihrer Auffassung des Aktuellen auseinandersetzte, ließ er den Jungdeutschen, von denen er sich lebhaft distanzierte, in diesem Punkte keine Gerechtigkeit widerfahren. In diesen Auseinandersetzungen stand Willkomm, als er die historische Tragödie für veraltet erklärte. Er meinte damit das museale Historiendrama. Die bittere Bemerkung über die Deutschen, die nur Geschichte lehren, sie aber nicht machen und erleben können, ist ein ironisch-kritischer Reflex der fehlgeschlagenen Hoffnungen und Enttäuschungen, die den öffentlichen Weg der Jungdeutschen seit den ersten Verboten 1835 begleitet hatten. Der von Gutzkow 29) entdeckte und geförderte Büchner war aus Deutschland in die Schweiz geflüchtet und inzwischen gestorben (Febr. 1837). Sein Drama „Dantons Tod" war 1835 in Frankfurt erschienen, hatte aber in den Jungdeutschen gemischte Empfindungen ausgelöst. Gutzkow machte sich zum Anwalt Büchners, ohne sein Drama auf der Bühne unterbringen zu können. Die „Jahrbücher" von Willkomm und Fischer 30) kennzeichnen die ganze schwierige Situation, in die diese „dramatischen Bilder" gesetzt waren und sehen in Büchner einen zweiten Danton, einen revolutionären Geist, der jedoch Frankfurt mit Paris verwechselt habe, „als ob in Frankfurt am Main, dessen Kellner so berühmt sind, wie seine Küche, eine große vaterländische Revolution losgehen könne"} 1 ). So habe der junge, geniale Hitzkopf „den gemessenen Fortschritt der Revolution von 1830 verderben" 32) geholfen zum Unglück seiner selbst und zum Unglück der Revolution. „Dantons T o d " — wird hier ausgeführt — sei ein Denkmal, das aus „ordnungslos übereinandergeschichteten Bau- und Hausteinen" bestünde, „ein genial dialogisiertes Fragment eines geschichtlichen Zeitabschnitts, welcher in seinen Tiefen 28) Ebd., S. 120. 29) Beiträge zur Geschichte der neuesten Literatur, Stuttgart 1836, S. 181 ff. 30) J g . 1 8 3 7 , S . 1 6 0 f f .
Ebd.
" )
Ebd.
Eine neue Gattung: die Soziale Tragödie
251
und Schlüchten allerdings dramatisches Material, das gar nicht zu erschöpfen ist, einschließt" 33). Das Drama gewähre keinen Kunstgenuß, sondern den „Genuß des Schwindels" 34). Die neue Forderung einer historischen Tragödie sah das Junge Deutschland hier also ebensowenig erfüllt wie in den historischen Dramen Grabbes, der im gleichen Jahr gestorben war (Sept. 1837). Wienbarg sah in Grabbe nur die „geniale Mißgeburt" eines national-historischen Dramatikers 35). Die jungdeutsche eigene Produktion historischer Tragödien stand damals erst vor der Tür. Um 1840 reifte ihre Zeit. Wie aber steht es nun mit dem Lustspiel und dem bürgerlichen Schauspiel? Können das Lustspiel oder das bürgerliche Schauspiel die Probleme der Gesellschaft widerspiegeln? Willkomm sieht in seiner Abhandlung über „die moderne Gesellschaft und die soziale Tragödie" das „Lustspiel in höchster Bedeutung" so vielen gesetzlichen Beschränkungen (Zensur) unterworfen, „die ihm die Seele niederhalten", daß es vorerst ausschaltet. Das bürgerliche Schauspiel sieht er durch Iffland und Kotzebue in Mißkredit gebracht 36). Zwischen dieser „zerfallenen Dreieinigkeit" von historischer Tragödie, Lustspiel und bürgerlichem Schauspiel will Willkomm nun eine neue dramatische Form ansiedeln, die die Vorzüge des bürgerlichen Schauspiels mit denen der historischen Tragödie vereint: die soziale Tragödie. An Stoffen für diese Gattung dünkt ihn „die Gegenwart so unendlich reich, daß der willkürlichste Griff mitten in die Begebenheiten der Tagesgeschichte die trefflichsten Elemente dazu liefern müßte. Ich wünschte, es träte ein jugendlicher, kräftiger und noch unverdorbener Geist auf, der aber bewandert sein müßte in der höfischen Unnatur unserer socialen Verhältnisse, damit ihm die glühendsten Farben für sein Gemälde nicht entgingen" 37). „Nicht auf dem abgetriebenen Klepper der Intelligenz mit dünn geriebenen philosophischen Floskeln", die die „naturarme Geisteskargheit" der Intellektuellen auspolstere, dürfte dieser Dichter auftreten, sondern „mit der Keckheit eines genialen Naturkindes" müsse er die Gegensätze begreifen und leidenschaftlich lebendig darstellen. Er müsse die Welt aufklären über die Wurzeln des sozialen Elends, die im Abfall der Gesellschaft von der Natur lägen. Die Verfeinerung derselben sei zu einer Last geworden, die Überkultur zu einem Unglück. „Die moderne Gesellschaft muß die Mutter der neueren Tragödie werden, die wir denn immerhin die sociale nennen können" 38). Die Unnatur, der die moderne Gesellschaft aus Sitte, Gewohnheit und Bequemlichkeit huldige, müsse als Schminke gekennzeichnet werden. Natürlich sei es schwer, mit den Gewohnheiten zu brechen, sogar in einer Zeit, die ahne, wie die betrüge33) Ebd. 34) Ebd. 35) Raupach und die dt. Bühne, a.a.O., S. 68. 36) Jahrbücher 1839, S. 107. 37) Ebd., S. 107. 38) Ebd., S. 108.
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rische Zivilisation sie um ihre Gesundheit prelle und die sich darum von aller Schminke reinigen wolle. „Eher bricht ein Staat zusammen und erhebt sich von neuem aus dem alten Schutt, als die festgefügten, überaus künstlich zusammengekitteten Grundpfeiler dieses wundersamen Gebäudes, das Gesellschaft und Gesellschaftsleben heißt, sich erschüttern lassen" 39). Eine Verletzung der Mode, der Convenienz, der Gesellschaftsmoral, die geradezu ein sittliches Monstrum bilde, sei in einem solchen Gefüge des Zusammenlebens der Menschen gefahrbringender als die schreiendste Verletzung des natürlichen und religiösen Sittengesetzes. Diese unmoralische „Moral" der Gesellschaft habe „hohe Autoritäten für sich, ist alt hergebracht, verjährt, ehrwürdig, wie ein altadeliges Wappen, und schützt sich selbst durch die Willfährigkeit, mit der man sich ihr fügt" 4 o). Die Gegenwart wisse, daß es notwendig sei, diese Zustände zu stürzen, die Klugheit aber halte sie davon zurück. „Und solchergestalt laufen durch die ganze civilisierte Welt ewig geschieden, haarscharf neben einander zwei Sittengesetze, die sich gegenseitig nur in den Herzkammern der Menschen befeinden" 4 !). Warum vermeide der gesittete Mensch diesen aufreibenden Kampf nicht? „Weil er dem socialen Leben angehört!" — antwortet Willkomm. Und hier beginne die soziale Tragödie, die die Dramatik zum Gegenstand wählen müsse. Durch solche Gemälde auf den Bühnen erwartet er, daß ein „segensreicher Einfluß auf die Veredlung des Lebens selbst, das den Stoff dazu herlieferte" ausgehe 42 ). Der geringste Stoff dieser Art könne zu einem „Stück Weltgeschichte" werden, denn diese Tragödien des Individuums erwüchsen durch das Typische ihrer Erscheinung zur Allgemeinheit. Auch hier, im Einsatz des Aktuellsten, ist das Junge Deutschland bemüht, das Allgemeine herauszuschälen und die zur Zeit scharf heraustretende Kluft zwischen Gesellschaftsmoral und natürlich-individueller Sittlichkeit aus dem doppelten Beheimatetsein des Menschen, bei sich selbst als Individuum und in der Gemeinschaft der anderen, zu erklären und damit auf das existentielle Problem hinzuweisen, von dem sie sich, wenn auch keine Lösung, so doch einen modus vivendi erwarten in ihrem Zukunftsbild einer Welt mit Menschen, die wie „organische Monaden" 43), in sinnlich-geistiger Einheit, auf dem Boden des Natürlichen zusammenleben. Die Jungdeutschen waren viel zu sehr Schüler Hegels, den sie gleichzeitig scharf bekämpften, um nicht in der Polarität: Individuum und Sozietät einen existentiellen Gegensatz zu sehen, den sie freilich — vor allem in der Frühzeit — in ihren utopischen Entwürfen eines idealen Weltbildes aufzuheben hofften. Wienbarg spricht von zwei Stufen der Geschichte des Menschengeschlechts, in denen eine — im monistischen Sinne — prädestinierte Harmonie das Zusammenleben der Menschen 4 0 ) Ebd. 39) Ebd. 4i) Ebd. « ) Ebd. 43) L. Wienbarg, Ästh. Feldzüge, a.a.O., S. 126.
Gesellschaftsmoral und Sittlichkeit
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glücklich geordnet habe: das einemal im Paradiese, von dem die Sage berichte; und das anderemal bei den alten Griechen, bei denen Persönlichkeit und Staat, einzelner und Gemeinschaft „in plastischer Harmonie" zusammengefügt gewesen seien. Eine „verborgene Einheit" habe bei ihnen das aktiv Individuelle gezügelt, so daß das Ganze nicht in Anarchie ausgeartet sei 44 ). Die Verwirklichung einer dritten Stufe solch harmonischen Lebens sieht er als Zukunftsaufgabe des Jungen Deutschland an. Die Gegenwart lebe in einem noch „verpuppten Zustand" 45). Man fühle sich „unwohl in seiner eigenen Haut" und „lüge sich daher die Haut voll. Das Herz kann man sich nicht belügen". Er bezeichnet seine Zeit als „Übergangsepoche" und spricht vom „Schmerz, der die edelsten Geister durchdringt, der in so vielen Stunden die Hoffnung übertäubt und die Unruhe, die Zerrissenheit, den Zweifel erzeugt, Plagegeister der Menschheit, wenn sie nächtlich mit neuen Geburten schwanger geht. Dennoch sollte die Hoffnung größer sein als die Furcht" 4). Er träumt von einem „europäischen Griechentum" 4?), das mit der Sinnlichkeit und Erdverhaftung der Griechen die Vergeistigung des Lebens verbinde, die das Christentum dem Abendlande als Fortschritt gewonnen habe: „Dem germanisierten Europa bleibt die dritte Entwicklungsstufe vorbehalten, in der das Sinnliche durchgeistigter wie bei den Griechen, das Geistige durchsinnlichter wie bei den Christen zur Erscheinung kommt" 48). Die Gegenwart aber zeitige alle Schmerzen, die der Wiedergebärung des echten, natürlichen, freien und zwanglosen Lebens vorangehen 49). Gutzkow spricht von der Poesie Laubes als einer Dichtung „des Schmerzes und der Zerrissenheit . . . welche im gegenwärtigen Augenblicke das Übergewicht in Deutschland bekömmt und sich wahrscheinlich zu einer literarhistorischen Epoche gestalten wird" 50). 4. DUALISMUS UND MONISTISCHES WELTBILD IM DRAMA: DIE FREIE PERSÖNLICHKEIT UND DIE WELTORDNUNG Angesichts dieser utopischen Hoffnungen, die im Jungen Deutschland lebendig sind, und die es beflügeln, gegen die Zustände der Gegenwart zu protestieren und diesen Protest programmatisch als Ziel der dramatischen Produktion zu setzen, muß noch eingehender die Frage untersucht werden, inwieweit das Junge Deutschland den angefochtenen Dualismus der Lebensform als existentiell betrachtete oder inwieweit es ihn aus der Perspektive eines organischen Monismus in der Realität zu überwinden für möglich hielt. Stand es doch hier vor allem in der Auseinandersetzung mit Hegel, dessen spekulatives Systemdenken es ablehnte. 44) Ästh. Feldzüge, S. 104ff. 45) Ebd., S. 115f. 47) Ebd., S. 125. 48) Ebd., S. 126. 50) Nation und Literatur, a.a.O., S. 37.
Ebd., S. 116. 4«) Ebd., S. 30. 46)
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Das Junge Deutschland legte den größten Wert auf das „Bedeutende" des dramatisch Gestalteten, auf seine existentielle Symbolkraft, die in jedem Besonderen das Allgemeine, in jedem Vordergründigen den tieferen existentiellen Sachverhalt mitspiegeln sollte, und es berief sich hierbei auf Goethe. War nun aber der Kampf gegen die entartete Gesellschaft von „tragischer", das heißt existentieller Bedeutung? Wo begann hier das Tragische, das sich für das Drama eignete, und wo hörte die Attacke gegen veränderbare Zustände auf, die nur der Zeit, nicht der Existenz angehören, und die sich für das Drama infolgedessen nicht eigneten? Konnte man sich von Hegels „Intellektualismus", von seinen spekulativen Abstraktionen auf Goethes Organismusdenken zurückziehen? Konnte man Hegels Dialektik für Leibniz' prästabilierte Harmonie fruchtbar machen und so einen Monismus retten, der aus der „verborgenen Einheit" der Gegensätze entwickelt wurde? War die Entartung der Gesellschaft nur ein Mißbrauch der natürlichen polaren Zwiespaltprozesse, in denen sich die Lebensbewegung vollzog und die Existenz sich verwirklichte? In diesem Fall konnte die soziale Tragödie, die Willkomm forderte, zu „tragischer Bedeutung" gelangen, von existentieller Symbolkraft werden, wenn hinter diesem Mißbrauch das existentielle Problem sichtbar wurde. Es sind unzählige Einflüsse, die in der Monismus-DualismusAuseinandersetzung der Jungdeutschen zutage treten — von Piaton, Leibniz, Shaftesbury, Goethe, Kant, Spinoza, Hegel, vor allem aber von dem Schelling der Frühromantik bis zu den französischen Philosophen und Ästhetikern der Jahrhundertwende, die in zahlreichen Rezensionen diskutiert wurden. Hugo v. Kleinmayr legt dieses Gewebe in der ganzen Vielfalt der Fäden in seinem Buch über „Welt- und Kunstanschauung des «Jungen Deutschland»" i) sehr klar und feingliedrig auseinander. Auf die Darstellung dieser Einfluß-Wege kann daher in diesem Zusammenhang verzichtet und gleich die Frage in Angriff genommen werden: wie spiegelt sich diese Monismus-Dualismus-Auseinandersetzung in der jungdeutschen Dramaturgie? Theodor Mündt, anfänglich Schüler Hegels und später einer seiner schärfsten Opponenten, beschäftigte sich am klarsten und eindringlichsten mit diesen Fragen und zwar in seiner „Dramaturgie" 2 ), die im Jahr der 48er Revolution erschien, also in einem Stadium, in dem die Jungdeutschen ihren Sturm- und Drang bereits überwunden und manches hatten reifen lassen und klären können, ohne aber die Ideale der Jugend aufzugeben. Was die Jungdeutschen ganz konkret unter dem Einheitsprinzip des Lebens verstanden, läßt sich schwer definieren. Es ist mehr eine Gefühlsvorstellung, aus der heraus sie den Begriff der Einheit und Ganzheit des Lebens gewinnen. Sie sprechen von der Idee des Lebens, von der ideellen 1) Wien-Leipzig 1930. 2) Dramaturgie oder Theorie und Geschichte der dramat. Kunst, Berlin 1848, 2 Bde.
Die Freiheiten münden irrational in die Notwendigkeiten
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Einheit des Seins, die sich ihnen mit Harmonie und Schönheit verbindet 3). Auch das Verhältnis Ich-Welt, Geist-Materie, Idee-Endlichkeit usw. ist in diese Vorstellung einer existentiellen Einheit, Ganzheit und Harmonie einbegriffen. Wie nun aber entsteht die tragische Entzweiung, die als „Existenzbruch" 4 ) in Erscheinung tritt? Da sie nicht im existentiellen Dualismus Hegelscher Prägung begründet aufgefaßt wird, muß der Einbruch der Entzweiung des Seins als Störung der Einheit einen jeweils bestimmten Ansatzpunkt haben, der durch das Verhalten einer der Seinskomponenten gesetzt wird. Soll dieses Verhalten tragisch sein, so muß ihm Notwendigkeit anhaften. Mündt entwickelt ein sehr modernes Bild der dramatischen Bewegung im Leben und in der Kunst. Das Leben wird von ihm als „ideelle Einheit" empfunden und dargestellt. Machtvolle Potenzen sind innerhalb dieser Einheit tätig; sie beruhen auf dem Prinzip der Freiheit der Einzelentwicklungen, die in ihrem Zusammenschluß in die Notwendigkeiten des Ganzen einmünden. So bezeichnet er ζ. B. auch den Zufall als „Unterwegs zur Notwendigkeit" 5). Der Zusammenschluß von Freiheit und Notwendigkeit in der Einheit des Ganzen ist irrational. Er kann intellektuell nicht erfaßt werden und seine Grundlagen entziehen sich der logischen Erkenntnis. Die Einheit wird im Lebensbewußtsein als Wirkung dieses Zusammenschlusses erlebt, in der Anschauung „gebildet". Mündts Formulierung: „ich bin ein Bild" (der Welt) 6) gibt diesen Erfahrungsvorgang wieder. Durch die Freiheit der Einzelentwicklungen können nun aber Gegensätze entstehen, die zum Konflikt führen; der „Existenzbruch" tritt ein und verlangt eine Ausgleichung der Konflikte unter dem Aspekt der Integrität der ideellen Einheit und Harmonie des Seins. Diese „Restitutio in integrum"7) der „ewigen und unverrückbaren Idee des Lebens" 8 ) spielt sich in der Tragödie wohl auf den Trümmern der endlichen, bestehenden Verhältnisse ab, verherrlicht aber die Freiheit und Sittlichkeit des einzelnen, wo dieser sich gegen Unrechte Zustände erhebt und an den Schranken der Welt leidvoll zugrunde geht, oder sie feiert die sittliche Weltordnung, wo sich der einzelne durch falsches Wollen geleitet, aus der Harmonie des Seins löst, seine Freiheit mißbraucht und — zur Genugtuung der Betrachtenden — untergeht. In jedem Fall entsteht das Erlebnis der ideellen Einheit des Seins, der „göttlichen Ordnung der Dinge" 9), in denen der Mensch „geborgen" i°) ist, auch wenn er zerschmettert wird; oder aus der er — bei Mißbrauch seiner Freiheit — herausfällt und dann, dem Recht der ewigen Weltordnung verfallen, zugrunde geht. Sinn und Zweck des Dramas ist — führt Mündt aus —, den Menschen 3) s) 7) 9)
Mündt, Dramaturgie, a.a.O., I, S. 349ff. 4) Ebd., S. 351. Ebd., S. 88. 6) Bei Kleinmayr, a.a.O., S. 93 zitiert. Mündt, a.a.O., I, S. 404. 8) Ebd., S. 350. Ebd., S. 352. io) Ebd.
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in seiner Selbstverantwortlichkeit für sein freies Handeln zu zeigen. Wie immer er seine Freiheit braucht, ob zum Sittlichen, Schönen und Guten, das mit der höheren Weltordnung identisch ist, oder ob zum Schlechten, Häßlichen und Unsittlichen, womit er sich aus der höheren Harmonie löst, er bezeugt zunächst die Freiheit des Menschen — und da er für sein Handeln verantwortlich ist, kennzeichnet er das Format seiner Persönlichkeit und spricht sich sein Urteil. Die höchsten Momente des Seins, und die echt dramatischen, entstehen, wenn der Mensch seine Freiheit in Entscheidungen und Handeln unter Beweis stellen kann, das heißt, wenn ihm Konflikte erwachsen entweder „mit sich selbst und seinen sinnlichen und sittlichen Beweggründen, oder mit den ihm gegenüberstehenden thatsächlichen und gegebenen Verhältnissen, mit denen er sich durch sein handelndes Auftreten eben so sehr zu überwerfen als auszugleichen hat" 1 1 ). Zeitliche Bedingung und ideale Bestimmung des Menschen können zu Gegensätzen werden, und „das Handeln unter diesem Widerspruch ist der ächt dramatische Prozeß, der in dem Durcheinanderwirken der beiden entscheidenden Lebensmächte, der realen und der idealen, die ihm eigenst zugehörige Verwicklung, Katastrophe und Auflösung findet"12). Das Drama, das diesen Lebenskampf als Selbstbefreiungsprozeß 13 ) darzustellen zur Aufgabe habe, bezeichnet Mündt als „reifste und schönste Blüthe der menschlichen Darstellungskraft" I 4 ), in ihm könne der Künstler auf die Höhen der echten Lebenswirklichkeit hinaustreten, und es treffe auch den innersten Lebenspunkt der Zuschauer, der „die Rätsel und Kämpfe seines eigenen Daseins hier entscheidend durchgefochten und geschlichtet" !5) sehe. Aufgabe des Dramas ist also, den frei handelnden Menschen in der Selbstverwirklichung zu zeigen, die auf den Höhe- und Gipfelpunkten des Lebens ein Konflikt ihm gestattet; den Menschen vorzuführen, der nicht nach Konventionen und Maximen lebt, sondern gemäß seiner eigensten Bestimmung, in seiner Freiheit verantwortlich nur vor sich selbst, und der dafür die Konsequenzen seines Handelns in der Katastrophe auf sich nimmt und sich damit vollendet. Mündt spricht von einem „freien Erlösungsprinzip der modernen Welt", das in „die tragische Kunst der neueren Völker diese auf ihre eigene Verantwortung gestellte Selbstbewegung der Individualität gebracht" habe 16 ). „In dem die moderne Welt bestimmenden Begriff der Erlösung lebt tiefinwendig das Prinzip der freien Persönlichkeit, die aus ihren eigenen innersten Gründen heraus das Recht gewonnen hat, sich auf der Wahlstatt des Lebens im eigen gewählten Kampf zu vernichten und in freier Selbsthervorbringung Untergang und Tod zu Ubergangsmomenten der ewigen Idee zu erheben" 17 ).
In den modernen Tragödien, wo das Individuum sich aktiv und initiativ verhält, sei das Schicksal „in den Menschen selbst hineingestiegen" 11) Ebd., I, S. 68. is) Ebd.
12) Ebd., S. 68f. ") Ebd. S. 354.
» ) Ebd., S. 76. ") Ebd.
") Ebd., S. 69.
Die freie Persönlichkeit realisiert die Idee
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und walte „nicht anders als in den innersten, individuellen Gründen und Conflicten seines Daseins." In der Antike habe das Schicksal sich von außen her dem Individuum genähert, wie ein Netz hätten die Götter es ausgelegt, damit der Mensch sich in ihm verfange. Die Moderne aber lege das Prinzip der Entzweiung 1 8 ) in das Innerste des Menschen, der gemäß seiner individuellen Kraft und (tragischen) Bestimmung frei handelnd „die sittliche Weltordnung im wahrhaftesten Sinne erst aus sich hervorbringt und sie als eine reale setzt, weil sie sonst, wenn der Mensch sich nicht mit der Freiheit seiner Person an ihr bethätigt, nur eine abstrakte oder bloß conventionelle Macht sein würde" 19). Das Real-Werden der Idealität geht also vom Menschen aus, sowie der Vollzug der Einheit des Seins im Individuum vor sich geht. Die Idee des Lebens wird durch die Persönlichkeit realisiert. Sie tritt in ihrer ganzen Erhabenheit und tragischen Schönheit besonders deutlich zutage, wenn sie in den Gewittern und Stürmen der Konflikte und Katastrophen erscheint. „Je bedeutungsvoller das menschliche Dasein sich hebt und bewegt, desto nothwendiger tritt in ihm das Moment einer tiefinneren Entzweiung des Lebens hervor, welche in dem Kampf um die höchsten Formen der Existenz weder geistig noch thatsächlich ausbleiben kann. Dies ist die Entzweiung des Menschen mit seiner Bestimmung, die auf doppelte Weise erfolgen und ihn aus der Harmonie des ruhigen Fortbildens seiner Zustände und Kräfte herausschleudern kann. Der Mensch überwirft sich mit dieser grundsätzlich bestehenden Harmonie des Daseins, entweder weil sein Streben und Wollen größer, schöner und umfassender ist als die thatsächlichen Umstände, die es tragen sollen, in welchem Falle die objective Welt als die unübersteigliche Schranke für die Freiheit des Individuums erscheint, oder er überwirft sich, weil in sein eigenes Streben und Wollen falsche und einem verdorbenen Lebenskeim entsteigende Richtungen eingedrungen sind, die ihn verführen, sich selbst in seiner Willkür und Eigenheit als Zweck der ganzen Welt zu setzen, die ihn aber zugleich an den nothwendigen Schranken der sittlichen und materiellen Weltordnung anprallen und sich daran vernichten lassen" 20). In dieser tragischen Entzweiung also entstehen die Gipfel und Höhepunkte des menschlichen Lebens, in denen „aus dem innersten Wesen der Freiheit und Sittlichkeit" 21) die Integrität der Weltordnung sichtbar wird. „In der ersten Spaltung — führt Mündt fort —, wo das Tragische aus den thatsächlichen Umständen und ihrer das Individuum preisgebenden Verkettung entsteht, gestaltet sich die Tragödie auf die einfachste und natürlichste Weise zur Verherrlichung der kämpfenden und ringenden Persönlichkeiten. Sie müssen erliegen, weil sie sich in einer unheilbaren und nicht wieder einzurenkenden Stellung zur Welt befinden, aber sie erreichen im Untergang ihr Ziel, indem sie eben deshalb sterben, weil sie frei geblieben und den Kern ihres Strebens und ihres Glücks unantastbar gerettet haben. Denn hätten sie diesen Kern preisgegeben und wegwerfen wollen, so würden sie ihr Leben erhalten haben, aber in sich selbst zugleich unfrei geworden sein, unfrei, weil sie der wahren Idee ihres Lebens untreu wurden. Wenn Romeo und Julia auf ihre Liebe hätten verzichten und sie den schlechten Feindseligkeiten ihrer Familien unterordnen wollen, so würden sie nicht zu Grunde gegangen sein. Aber indem sie sich an is) Ebd., S. 349. 17
» ) Ebd., S. 73.
Dietrich, Dramaturgie
20) Ebd., I, S. 348f.
21) Ebd., S, 350.
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den Schranken ihres Verhältnisses vernichteten, retteten sie den süßen Kern ihrer Liebe, und im Tode das Glück und die Freiheit, welche acht menschliche Dialektik der Grundcharakter alles wahrhaft Tragischen ist" 22 ).
Auch in der zweiten Spaltung — führt Mündt aus — handle es sich um „die Ausgleichung eines Existenzbruches" 23 ), die durch den Untergang des Individuums eintrete. Hier werde die allgemeine menschliche Genugtuung der Freiheit noch stärker und umfassender, da gezeigt werde, daß der Mensch nur durch sich selbst, durch seine Freiheit (in diesem Fall durch Mißbrauch seiner Freiheit) aus der Geborgenheit der göttlichen Ordnung herausfallen könne. Während aber im ersten Fall die „zurückbleibende Welt . . . werthlos im bleichen Schimmer ihres Unrechts und ihrer Unwürde" 24 ) dastehe und die Toten die einzig Beneidenswerten seien — würden im zweiten Fall das Individuum und die zurückbleibende Welt „auf das Maaß der ewigen unerschütterüchen Lebensidee zurückgeführt" 25 ). In diesem Kampfe, durch seine falsche Anmaßung unterliegend, erfülle der Held die Gesetze, die er habe zerstören wollen und er werde durch die Sühne seines Unterganges wieder „in den unversieglichen Quell ewiger Freiheit und Liebe . . . hineingerettet. Die Welt aber, die über ihm zusammenschlägt, zeigt sich in der Glorie ihres unverletzten wahrhaften Inhalts"2^). In all diesen Ausführungen — in deren Rahmen sich Willkomms Forderungen einer sozialen Tragödie sehr wohl einfügen lassen — wird deutlich, wie sehr Mündt, und mit ihm das ganze Junge Deutschland, im Realismus idealistisch sind, und wie weit sie von den Ansichten der SaintSimonisten entfernt waren. Die Verkündung der Freiheit der Persönlichkeit als innerstem Prinzip des Lebens durch die Jungdeutschen ist nicht in einem Atem zu nennen mit den vielfach materialistischen Richtungen der Zeit. Sahen diese im materiellen Genußleben und freier Triebentfaltung die Ziele einer sozialen Revolution — so haben die Jungdeutschen eine notwendige Vergeistigung des Lebens bei allem Realismus nie in Frage gestellt. Ihre monistische Weltanschauung sah das Wirken des Unendlichen im Endlichen. Ihre Freiheit der Persönlichkeit war nicht Willkür, Anarchie, sondern Recht des einzelnen auf seine tiefere und eigenste Bestimmung. In dieser Freiheit zur eigenen Bestimmung betritt der Mensch, „unbeschadet seiner Würde und Größe, das höhere Gebiet der Notwendigkeit, und es liegt darum auch im wahrsten Wesen des dramatischen Helden, daß er keineswegs thun und lassen kann, was er will" 27 ). Er kann in seiner Freiheit nur das vollführen, „was in ihn gelegt ist und in ursprünglichen Keimen Zweck und Ziel seines Daseins begründet"^). Die Freiheit des Individuums mündet so an den bestimmenden „Wendepunkten der Existenz" in die Notwendigkeit ein. Das Bild eines Menschen, der seine Freiheit nach Willkür brauche — meint Mündt —, könne keinen dramati22 )
Ebd., S. 350f. 26) Ebd.. S. 353.
23) Ebd. 27) Ebd., S. 86.
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