Humanismus: Ein buddhistischer Entwurf für das 21. Jahrhundert 3534253833, 9783534253838

Gibt es einen universalen Humanismus, der Brücken zwischen Kulturen schlagen kann? Daisaku Ikeda, der asienweit bekannte

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German Pages 200 [198] Year 2018

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Table of contents :
Front Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort
Anmerkung des Herausgebers
Teil I: Bildung – Impulse für die Zukunft
Schöpferisches Leben
Leonardos Weltsicht und das Parlament aller Menschen
Herrlicher Kosmos
Gedanken zur Erziehung von Weltbürgern
Teil II: Kultur – Dimensionen und Wirkungen
Geschichte machen
Auf dem Weg zu einem neuen globalen Bewusstsein
Das Überwinden der Dunkelheit und die faustische Agonie: Licht für die Zivilisation des 21. Jahrhunderts
Teil III: Religion – Ihr Beitrag zur Moderne
Eine gottlose Zivilisation
Das bleibende Selbst
Ethos der Symbiose
Mahayana-Buddhismus und die Zivilisation des 21. Jahrhunderts
Hommage an das Sagarmatha des Humanismus: Die lebenden Lektionen des Gautama Buddha
Teil IV: Frieden – Die unbedingte Aufgabe
Das Zeitalter der Soft Power und einer vom inneren Bedürfnismotivierten Philosophie
Radikalismus – neu bedacht
Frieden und Sicherheit für die Menschen: Eine buddhistische Perspektive für das 21. Jahrhundert
Makiguchis lebenslanges Streben nach Gerechtigkeit undmenschlichen Werten
Gedicht
Für die jungen Menschen Deutschlands
Anmerkungen
Glossar
Stichwort- und Namensregister
Back Cover
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Humanismus: Ein buddhistischer Entwurf für das 21. Jahrhundert
 3534253833, 9783534253838

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Daisaku Ikeda

Humanismus Ein buddhistischer Entwurf für das 21. Jahrhundert

Copyright © Daisaku Ikeda English Translation Copyright © Soka Gakkai German Translation Copyright © Soka Gakkai International Deutschland e. V.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2012 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Lektorat: Tina Koch Satz: SatzWeise, Föhren Einbandabbildung: © AlexMax – istockphoto.com Einbandgestaltung: Peter Lohse, Heppenheim Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-25383-8

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-73126-8 eBook (epub): 978-3-534-73127-5

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Anmerkung des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil I: Bildung – Impulse für die Zukunft Schöpferisches Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Leonardos Weltsicht und das Parlament aller Menschen . . . . . . .

22

Herrlicher Kosmos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32

Gedanken zur Erziehung von Weltbürgern . . . . . . . . . . . . . . .

42

Teil II: Kultur – Dimensionen und Wirkungen Geschichte machen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

Auf dem Weg zu einem neuen globalen Bewusstsein . . . . . . . . .

57

Das Überwinden der Dunkelheit und die faustische Agonie: Licht für die Zivilisation des 21. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . .

65

Teil III: Religion – Ihr Beitrag zur Moderne Eine gottlose Zivilisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Das bleibende Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

84

Ethos der Symbiose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

92

Mahayana-Buddhismus und die Zivilisation des 21. Jahrhunderts . . 101 Hommage an das Sagarmatha des Humanismus: Die lebenden Lektionen des Gautama Buddha . . . . . . . . . . . . . 113

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Inhalt

Teil IV: Frieden – Die unbedingte Aufgabe Das Zeitalter der Soft Power und einer vom inneren Bedürfnis motivierten Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Radikalismus – neu bedacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Frieden und Sicherheit für die Menschen: Eine buddhistische Perspektive für das 21. Jahrhundert . . . . . . . . 144 Makiguchis lebenslanges Streben nach Gerechtigkeit und menschlichen Werten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156

Gedicht Für die jungen Menschen Deutschlands

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Stichwort- und Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195

Vorwort Humanismus – der Titel mag skeptisch stimmen, gerade wenn er aus der „religiösen Ecke“ kommt. Haben sich nicht viele Humanisten westlicher Prägung deutlich von der Religion distanziert? Daisaku Ikeda ist im ostasiatischen Kulturkreis aufgewachsen. Dort speisen sich menschliche Werte aus der konfuzianischen Tradition und aus dem Buddhismus – beides nicht-theistische Philosophien. Man darf also neugierig sein, welche humanistischen Impulse aus diesem Gedankengut entstehen. Darüber hinaus reflektiert Daisaku Ikeda beide Ansätze des Humanismus – den westlichen und den östlichen – und versucht, sie miteinander zu verweben. Was sind die Kennzeichen des Humanismus, den Ikeda vertritt? Er beruht auf drei Säulen, wie es Olivier Urbain in seinem Buch Daisaku Ikedas Philosophy of Peace (London, 2010) treffend analysiert hat:

1. Selbst-Transformation Ikeda beschreibt die Notwendigkeit eines Wandels vom kleinen, eigensüchtigen Selbst zum großen, mitfühlenden Selbst, und nennt die Ressourcen, die für eine solche Entwicklung in jedem Menschen vorhanden sind. Er sieht den gegenwärtigen konsum-orientierten Individualismus kritisch, bejaht jedoch uneingeschränkt die Entfaltung des Individuums. Ihm geht es um den Aufbau eines viel stärkeren Selbst, das lebensschädigende Impulse – egal ob von innen oder außen kommend – eindämmen oder gar positiv verwandeln kann. Menschen mit einem solchen Selbst lassen sich weder korrumpieren noch einschüchtern. Sie setzen sich voller Energie für das Wohl aller Menschen ein und finden vor allem eines: den Weg zu einem produktiven, liebenden und erfülltem Dasein.

2. Dialog Ein direktes Mittel, zu diesem großen Selbst zu gelangen, ist die aufrichtige Auseinandersetzung mit Menschen, die anders sind als wir. Dialoge bereichern unser Selbst und führen zu einer umfassenderen Wahrheit. Dialoge vernetzen die

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Vorwort

Menschheit und verwandeln Konflikte in Kreativität. Für Daisaku Ikeda ist das produktive Gespräch der Königsweg zum Frieden auf allen Ebenen. Für ihn selbst ist der Dialog eine Lebensform: Der weitaus größte Teil seines schriftstellerischen Werkes besteht aus Dialogen interreligiöser und interdisziplinärer Art. Früh war es ihm ein Anliegen, mit anderen zu etwas Neuem aufzubrechen und gemeinsam die Weisheit für ein friedliches Zusammenleben zu finden.

3. Weltbürgertum Weltbürgertum im Sinne Ikedas hat nichts mit polyglotten, weitgereisten Eliten zu tun, sondern zeichnet sich durch die Fähigkeit aus, die ganze Menschheit im Herzen zu tragen. Wer sein Mitgefühl so weit ausdehnen kann, der denkt, fühlt und handelt als Weltbürger. In diesem Sinne kann jeder ein Weltbürger sein, auch wenn er sein Dorf nie verlassen hat. Nur wenn es ausreichend viele solcher Weltbürger gibt, können wir ethnische, nationale, religiöse und wirtschaftliche Zentrismen überwinden und den Weltfrieden Wirklichkeit werden lassen. Neben der Transformation des Selbst erkennt Ikeda auch den Bedarf an neuen Strukturen und Institutionen – deutlich wird dies in seinem Eintreten für eine Reform der Vereinten Nationen oder in seinem Engagement für die Abschaffung aller Atomwaffen oder im gesellschaftlichen Gestaltungswillen der SGI, der buddhistischen Laienorganisation, deren Präsident er ist. Selbst-Transformation, Dialog und Weltbürgertum – diese drei Elemente sind in jeder der vorliegenden Reden erkennbar. Sie stärken sich gegenseitig und bilden ein produktives, offenes System, das dem 21. Jahrhundert den Weg in eine menschengerechte, lebensbejahende und friedvolle Zukunft weisen kann. Der Buddhismus, insbesondere die Schule des Reformators Nichiren Daishonin, ist die Inspirationsquelle für Ikedas Denken, Handeln und seiner Vision einer humanistischen Weltgesellschaft. Der Buddhismus, so wie er ihn versteht und lebt, ist zwar eine eigenständige, impulsgebende Religion, doch seinem Wesen nach offen und integrierend: Jede andere Religion, Philosophie oder Denk-Tradition kann und muss ihren Beitrag zum Weltfrieden leisten. So überrascht es nicht, dass Ikeda von vielen westlichen Denkströmungen ebenso inspiriert ist wie von seiner Heimatphilosophie. Dabei verknüpft er unterschiedliche Sichtweisen miteinander, baut Brücken zwischen Gegensätzlichem und belebt vergessene Ideale neu. In seinen Dialogen mit Menschen aus anderen Denk- und Glaubenstraditionen entwickelt er seine Ansichten weiter – hin zu einer universalen Sichtweise. Kurz: Ikedas humanistischer Entwurf speist sich zwar aus dem Buddhis-

Vorwort

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mus, doch man muss kein Buddhist sein, um ihn zu verstehen und – so hoffe ich – attraktiv zu finden. In Ikedas Werk finden wir beides: Eine große Vision und wohldosierte, konkrete Schritte. Letztere entwickeln sich immer weiter, wie in seinen jährlichen Friedensvorschlägen an die Vereinten Nationen. Auch in diesem Buch wird beides sichtbar: Eine Zukunft zum Erhoffen und eine Zukunft zum Gestalten. Mögen die hier beschriebenen Ansätze es viele weitere gute Gespräche auslösen und Menschen zusammenbringen. Leonardo Duricic Generaldirektor der SGI-D

Anmerkung des Herausgebers Die Texte in diesem Band waren ursprünglich Vorlesungen, die Daisaku Ikeda in der Zeit von 1980 bis 1996 an verschiedenen Universitäten und Forschungsinstituten dieser Welt gehalten hat. Seit 1975 hat er über dreihundert Ehrendoktorund Ehrenprofessorwürden erhalten, dementsprechend zahlreich sind seine Reden an akademischen Einrichtungen. Mit dieser Auswahl möchten wir Ikedas Weltsicht einem möglichst breiten Lese-Publikum in Deutschland näher bringen und haben daher die Reden und Vorlesungen behutsam bearbeitet: Die Begrüßungen und Schlussworte, wie bei Vorlesungen und Reden üblich, haben wir weggelassen. Die damals aktuellen Zeitbezüge haben wir entweder gekürzt oder durch allgemeine Wendungen ersetzt, wodurch ohne Ablenkung deutlicher wird, dass die Texte heute noch genauso aktuell sind wie damals. Des Weiteren stützt sich dieser Band auf die redaktionelle Bearbeitung der englischen Ausgabe A New Humanism aus dem Jahr 2010.

Teil I: Bildung – Impulse für die Zukunft

Schöpferisches Leben* Tief, ganz tief auf fernem Meeresgrund liegt eine gewaltige Quelle, deren reine Wasser unablässig strömen, voller und blauer als jeder See, zusammen mit zarter, wunderbarer Musik. Von diesem reinen Strom, der seit Anbeginn der Zeiten unauslöschlich fließt, können wir, sofern wir ihn berühren, an der ewigen Kraft des Lebens teilhaben; trinken wir von ihm, wird er in uns die grenzenlose Kraft des Schöpferischen nähren. Diese Quelle, die aus den Tiefen des Kosmos hervorquillt und in das weite Meer des Lebens strömt, diese Quelle, die der geheimnisvolle Grund des Universums ist, lässt aus dessen unendlicher Tiefe das große Meer allen Lebens aufsteigen, und die unendliche Melodie der Geschichte tönt von dort. Diese feierliche und heilige Musik, ist sie nicht der innere Rhythmus der Menschheit, die Sprache, die von Männern und Frauen gesprochen wird? Hören wir sie nicht, die reinen Noten dieser heiligen Sinfonie? Sehen wir ihn nicht, den pulsierenden Rhythmus, der den Tiefen des Geistes entspringt, diesen so tiefen, diesen unbegreiflichen Quell der Schöpfung?

*

Rede Daisaku Ikedas an der Académie des Beaux-Arts am Institut de France, Paris, Frankreich, 14. Juni 1989.

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Teil I: Bildung – Impulse für die Zukunft

Verbindende Kraft Kunst ist der unzähmbare Ausdruck menschlicher Spiritualität. Das ist heute so, und so war es schon immer. In jede der Myriaden von Gestalten, die Kunst annimmt, ist das Symbol der höchsten und letzten Realität eingeprägt. Das Erschaffen eines Kunstwerks findet innerhalb bestimmter räumlicher Grenzen statt. Doch durch den Schöpfungsprozess sucht sich die Seele des Künstlers mit der höchsten Realität zu vereinen, die man als das kosmische Leben bezeichnen könnte. Das Leben selbst ist ein lebendiges Kunstwerk, geboren aus der dynamischen Verbindung des Selbst (dem Mikrokosmos) mit dem Universum (dem Makrokosmos). Kunst ist für den Geist das, was Brot für den Körper ist. Durch Kunst gelangen wir zur Einheit mit dem Transzendenten, atmen dessen Rhythmus und nehmen die Energie auf, die wir zur spirituellen Erneuerung brauchen. Kunst dient auch dazu, das innere Wesen zu reinigen und den geistigen Aufbruch zu bewirken, der von Aristoteles als Katharsis bezeichnet wird. Was aber ist diese Eigenschaft der Kunst, die bewirkt, dass sie eine so grundlegende und noch andauernde Rolle im Leben der Menschen einnimmt? Ich glaube, es ist ihre Fähigkeit zur Integration; ihre Fähigkeit, die Ganzheit aller Dinge zu enthüllen. In einer frühen Szene im Faust lässt Goethe den Faust verzückt ausrufen, „wie alles sich zum Ganzen webt, / Eins in dem andern wirkt und lebt!“ (Zeile 447, 448). Wenn wir uns diese wunderbare Feststellung aneignen, dass alles Lebendige miteinander verbunden ist, dann wird Kunst zum elementaren Mittel, durch welches die Menschen ihre Verbundenheit mit anderen Menschen entdecken – und die Menschheit ihre Verbundenheit mit der Natur und mit dem Universum. Sei es nun Dichtung, Malerei oder Musik: Jedes Juwel wahrhaft künstlerischen Ausdrucks kann in uns einen unbeschreiblichen Impuls auslösen, der uns rasch durch den Lichthimmel trägt; er lässt uns diese Erfahrung mit anderen teilen, wobei sich dessen Wirklichkeit nochmals bekräftigt. Diese Kraft der Kunst zu integrieren – sie wirkt in den Menschen, indem sie dem Endlichen den Weg zur Unendlichkeit öffnet und der Besonderheit einer bestimmten Erfahrung die universelle Bedeutung zukommen lässt. Immer schon hat Religion durch Kunst es vermocht, die Einheit mit dem Universum herzustellen, wie wir an der Verflechtung von Kunst und religiösem Ritus im antiken Drama erkennen können. Die englische Schriftstellerin Jane E. Harrison schreibt, dass es „ursprünglich derselbe Impuls“ war, der die Menschen „in die Kirche und ins Theater“ brachte. 1 Laut einer Anekdote, die ich einst hörte, verspürte ein japanischer Autor diesen Impuls, als er vor Jahren eine Reise nach Europa unternahm. Bei einem Besuch im Louvre wurde er, nachdem er eine ganze Reihe von Meisterwerken der

Schöpferisches Leben

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westlichen Kunst betrachtet hatte, nach seinen Eindrücken befragt. Seine unmittelbare Beobachtung war: „Alles ist so christlich!“ Eine solche Reaktion, mag sie auch übertrieben sein, enthüllt dennoch die ehrliche Überraschung darüber, wie gründlich die Kunst des Westens vom Christentum genährt wurde. Die Feststellung, wie „christlich“ doch die Kunst schien, war vielleicht die Art und Weise, auf die der asiatische Besucher, mitten in die westliche Kunst versetzt, diese Begegnung mit der höchsten Wirklichkeit, die er an jenem Ort spürte, in Worte zu fassen versuchte. Die Kathedralen in Paris und Chartres, diese architektonische Zusammenfassung der Weltsicht des mittelalterlichen Christentums – sie verkörpern die Ehrfurcht gebietende Fähigkeit der Kunst, die Wirklichkeit der Welt in die höchste Wirklichkeit zu integrieren. Und in der Verschmelzung dieser beiden Sphären begaben sich die Menschen auf eine leidenschaftliche Suche nach einem erfüllenden Leben.

Räumliche Verbindung Verglichen mit dem rigorosen Monotheismus des Christentums ist Japans religiöse Tradition in vielen Bereichen eher unbestimmt. Doch gibt es eine starke ästhetische Ausrichtung in der Religion Japans, die die Verbindung zum Universum herstellt. Der französische Schriftsteller André Malraux, einer der großen Denker der Nachkriegszeit, hat diese Dimension begriffen. Er empfand, die traditionelle japanische Ästhetik sei anders als die des Westens, und nannte sie eine „innere Realität“. Diese Einsicht zeigt sein klares Gespür für die religiöse Grundlage der japanischen Wahrnehmung von Einheit, von gemeinsamem Leben in Natur und Kosmos. Paul Claudel hat die westliche mit der japanischen Ästhetik verglichen; von der letzteren sagte er, sie sei eher darauf aus, eins mit der Natur zu werden als sie zu beherrschen. Das Bestreben, die Ganzheit zu erreichen, ob nun bewusst oder unbewusst, durchdringt in der Tat die gesamte Kultur Japans. Schon seit einiger Zeit hat die Integrationskraft, die einst Kunst und Religion in der westlichen wie in der östlichen Kultur durchströmte, in dem Maße abgenommen, wie die Modernisierung uns eingeholt hat. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts haben entsprechend sensible Menschen Warnungen ausgesprochen, die ich hier nicht wiederholen möchte. Wenn aber die Menschen sich von der Natur und vom Universum abschneiden, schrumpfen auch ihre Bande untereinander und sterben schließlich ab. Als Folge davon sind die Menschen isoliert und allein; und schlimmer noch: Diese Situation ist so „normal“ geworden, dass sie nicht einmal als Problem erkannt wird. Auch das Umfeld der Kunst hat sich stetig verändert, so wie die moderne Zeit

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Teil I: Bildung – Impulse für die Zukunft

voranschreitet. Man denke nur an das zeitgenössische Theater im Vergleich zum klassischen Zeitalter des griechischen Dramas, als das Publikum, im Amphitheater um die Bühne herum versammelt, zuweilen enthusiastischer bei den Aufführungen mitwirkte als die Schauspieler selbst. Wenn heute jedoch ein einzelner Künstler sich einem leeren Blatt Papier oder einer weißen Leinwand gegenübersieht – wie kann er oder sie sich auf diese Weise mit dem unbekannten Publikum verbinden? Gleichgültig wie talentiert der Künstler ist: Die Umwelt bietet uns heute keinen Ort der gegenseitigen Begegnung, keine organische Interessengemeinschaft mehr, wo die integrierende Kraft der Kunst uns mit der höchsten Wirklichkeit verbinden könnte. Manche Menschen wollen eine untergegangene, prähistorische Dynamik retten und die starke Lebenskraft antiker Völker wieder auffinden. Andere träumen von einer wilden Natur, frei von aller Modernisierung. Der Kampf um eine neue Ganzheit nimmt viele Formen an. Andererseits scheint es seit dem späten 19. Jahrhundert manchmal so, als hätten gerade die größten Probleme eines jeden Zeitalters eine ganze Galaxie von Sternen hervorgebracht, die als prächtige Parade brillanter Geister an uns vorbeiziehen. Während wir heute mehr Möglichkeiten zu Freiheit und künstlerischer Vielfalt als je zuvor haben, sehen wir gleichzeitig die Fähigkeit schwinden, das Sichtbare zu transzendieren und auf diese Weise tiefer in die Wirklichkeit einzudringen, und die Sehnsucht, die unverbundenen Geister zu heilen, versiegt.

Verbunden mit der Totalität Die Idee der Integration wird mit dem buddhistischen Begriff Kechi-en ausgedrückt (wörtlich: sich einer Verbindung anschließen; es bezeichnet eine kausale Beziehung oder eine Funktion, welche das Leben mit seiner Umgebung verbindet). Diese Idee stammt aus der Theorie des „bedingten Entstehens“, einem seit der Zeit Shakyamunis wichtigen buddhistischen Konstrukt. Die Idee des bedingten Entstehens besagt, dass jedes Phänomen, gesellschaftlich oder natürlich, das Ergebnis seiner Verbindung mit etwas anderem ist. Nichts kann in vollständiger Isolation existieren; alles steht miteinander in Verbindung. Meist denken wir in räumlichen Begriffen, was die Interaktionen angeht. Die buddhistische Vorstellung ist aber mehrdimensional und schließt auch die Zeit mit ein. Am Grund des japanischen Bewusstseins der Empathie und der Koexistenz mit der Natur, das Claudel und Malraux so sehr ansprach, liegt ein primitiver Animismus, oder viel mehr eine Auffassung, die im buddhistischen Konzept des bedingten Entstehens wurzelt.

Schöpferisches Leben

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Traditionelle Kunstformen wie die Teezeremonie, das Blumenstecken, die Gärten, dekorierte Schiebetüren oder das Papierfalten sind nicht dazu geschaffen, inhärente Werte oder eine Bedeutung an sich zu haben. Ihre volle Bedeutung erlangen sie nur und erst, wenn sie ihren „Raum“ im Zentrum des gewöhnlichen Alltagslebens bekommen. Ihr Wert hängt von Kechi-en ab, von der Verbindung, die sie mit dem Raum um sich aufnehmen. Auch traditionelle Formen der japanischen Dichtung wie etwa Renga (verbundene Verse) und Haiku wären niemals ohne den Raum entstanden, in welchem sich viele Menschen versammeln und wortwörtlich Verbindungen zwischen dem Ort, sich selbst und ihren Versen hervorbringen konnten. Im Mahayana-Buddhismus beschreibt der Ausdruck Ku¯ (zuweilen als Leere bezeichnet) die Realität aller Dinge als aus dem Kechi-en entstehend. Noch heute gibt es die Tendenz, die Idee des Ku¯ mit der Vorstellung des Nichts zu assoziieren. Dafür ist zum guten Teil der Buddhismus selbst, besonders der HinayanaBuddhismus, verantwortlich. Das Hinayana-Denken lässt eine Art Nihilismus zu, indem gelehrt wird, dass Erleuchtung durch die Verneinung weltlicher Werte erstrebt wird. Der Mahayana-Buddhismus setzt dagegen die Idee des Ku¯ in einen vollständig anderen Rahmen als das erstgenannte statische, nihilistische Verständnis. Der Mahayna-Buddhismus sieht die Realität im ewigen Fließen; es ist die fließende Bewegung des Lebens selbst. Die Philosophie Henri Bergsons, in welcher die Realität eher in der Kontinuität aller Phänomene denn in ihrem ewigen Charakter angesiedelt ist, ist in der Tat näher am Ideal des Mahayana, als dies für den Hinayana-Buddhismus gilt. Die Dynamik, die unablässig durch die Mahayana-Vorstellung des Ku ¯ strömt, nenne ich das „schöpferische Leben“. Das schöpferische Leben ist vollständig der Überwindung des individuellen Selbst gewidmet, indem beständig die Grenzen von Raum und Zeit auf der Suche nach dem universellen Selbst überschritten werden. Das schöpferische Leben bringt einen neuen Durchbruch, führt jeden Tag zur Selbst-Erneuerung und ist stets auf den ursprünglichen Rhythmus des Universums eingestellt. Dadurch bewirkt es eine vollständige Umwandlung. Vor einiger Zeit wurde ein Buch mit Gesprächen veröffentlicht, die ich mit René Huyghe von der Académie Française geführt hatte. Dabei traf Huyghe ins Zentrum des Mahayana-Buddhismus, indem er dessen Wesen als „spirituelles Leben“ bezeichnete, was er so erklärte, dass „wir mit der Totalität“ verbunden seien und „vereint mit dem schöpferischen Handeln der Zukunft, auf welches das Universum sich hinbewegt“. 2

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Teil I: Bildung – Impulse für die Zukunft

Das Sutra dieser Welt Das Lotos-Sutra, das Herz der Lehre des Mahayana, beschreibt die Dynamik des schöpferischen Lebens auf vielfältige Weise und ermöglicht damit ein umfassendes Verständnis dieses Begriffs. Einerseits ist das schöpferische Leben frei von allen Begrenzungen durch Zeit und Raum; es hat die Freiheit, sich auszudehnen und zu wachsen. Gleichzeitig ist dieses schöpferische Leben in all seiner Ausdehnung in jedem einzelnen Moment jedes individuellen Lebens enthalten. Der erste Teil des Lotos-Sutra erklärt, wie alle Phänomene von einem fundamentalen Gesetz regiert werden (der wichtigsten Wirklichkeit des Universums). Wenn wir eins werden mit dem Gesetz, können wir erkennen, dass alle Phänomene innerhalb unseres Lebens zusammengefasst sind, und zu gleicher Zeit durchdringt unser Leben das Universum. Im letzten Teil des Sutra wird der Buddha als ohne Anfang und Ende geschildert, wodurch die ewige Natur des Lebens enthüllt wird. Zudem sind Vergangenheit und Zukunft im gegenwärtigen Augenblick enthalten (da die Gegenwart die Wirkung der ursächlichen Vergangenheit ist und zugleich Wirkursache für das Zukünftige). Als Ganzes erklärt das LotosSutra die Dynamik des schöpferischen Lebens, die, da sie keine Grenze oder Beschränkung kennt, frei ist von den Fesseln von Raum und Zeit. Was unsere alltäglichen Aktivitäten angeht, so bringt uns die schöpferische Energie zur ungehemmten Verwirklichung der Selbst-Vervollkommnung. Was das Lotos-Sutra von anderen Sutras unterscheidet, ist sein unmittelbarer Fokus: Es setzt das Streben, den Weg des Bodhisattva im Hier und Jetzt zu verwirklichen, direkt in die unruhige, profane Welt. Das bringt uns dazu, uns selbst zu erheben, unser „kleineres Selbst“ zu transzendieren und das universelle Gesetz hier und jetzt, inmitten der gewöhnlichen Realität, zu behaupten. Das Lotos-Sutra ist reich an malerischen, dramatischen und literarischen Bildern. Der Mittelteil enthält eine Beschreibung der Zeremonie in der Luft, worin ein gewaltiger Juwelenstupa, geschmückt mit sieben Kostbarkeiten (einschließlich Gold, Silber, Lapis Lazuli und Perlen) am Himmel erscheint. Ins Universum aufsteigend, symbolisiert er die Größe und Würde des Lebens. Im Kapitel „Die Lebensspanne des Tatha¯gata“ wird die friedliche Welt als ein Land beschrieben, das „allzeit“ bevölkert ist von Göttern und Menschen; ein Land „mit Gärten, Hainen und Pavillons, die geschmückt sind mit verschiedenen Juwelen, voller Juwelenbäume mit zahlreichen Blüten und Früchten, und die Lebewesen wandeln darin voller Glück; die Götter rühren die göttliche Trommel und führen viele Musikdarbietungen auf; es regnet Ma¯nda¯rava-Blüten, die sich über den Buddha und die große Versammlung verteilen.“ 3 Malerei, Musik und poetische Bilder wetteifern miteinander, um eine wahr-

Schöpferisches Leben

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lich wundervolle Welt entstehen zu lassen. Es gibt Zeiten, in denen Kunst und Religion sich durchaus als Gegenspieler verhalten. Im Lotos-Sutra aber harmonisieren sie miteinander und ergänzen einander.

Die Tanz-Metapher Die Entfaltung des schöpferischen Lebens umfasst gemäß des Lotos-Sutra alle Bereiche des menschlichen Lebens – in Begriffen Kierkegaards die religiöse, ethische und die ästhetische Dimension. Sie kommen zueinander, um ein Ganzes, ein dynamisches kosmisches Fließen zu bilden, das wieder und wieder veredelt und geläutert wird und das Bild eines vielfarbigen Kreisels evoziert, der sich immer schneller dreht, bis sich am Ende alle Farben zu einem einzigen, atemberaubenden Schimmer vereinen. Ein kurzer Absatz fasst die Essenz des Lotos-Sutra in diese schlichten und schönen Worte: „Auch wenn ihr nicht der verehrungswürdige Maha¯ka¯shyapa seid, solltet ihr doch alle einen Tanz aufführen. Auch wenn ihr nicht Sha¯riputra seid, solltet ihr aufspringen und tanzen. Als Bodhisattva Hervorragender Lebenswandel aus der Erde aufstieg, geschah das nicht im Tanz?“ 4 Maha¯ka¯shyapa und Sha¯riputra, die als Personifikationen der Intelligenz gelten, gehörten zu Shakyamunis ersten Schülern. „Tanz“ ist hier die Metapher für die Freude, die sie spürten, als sie die Lehren des Lotos-Sutra vernahmen. Sie ließen die Lebensfreude aufkommen, die dann erscheint, wenn man die höchste Wirklichkeit des Universums erfasst und den höchsten Wert der Menschheit. Bodhisattva Hervorragender Lebenswandel stand an der Spitze unzähliger Bodhisattvas, und Shakyamuni rief sie aus der Erde, als er das Lotos-Sutra erklärte; diese Unzähligen, die beauftragt waren, das Gesetz nach Shakyamunis Tod zu verkünden. „Alle führen einen Tanz auf“, „springt auf und tanzt“, „tanzend aufsteigen“ sind starke künstlerische Bilder voller buddhistischer Symbolik, die das kraftvolle Leben und die Energie jener Bodhisattvas beschreiben, die aus der Erde erscheinen. Sie drücken die lebhafte Dynamik des schöpferischen Lebens aus. Wenn ich den Begriff „Symbol“ benutze, habe ich dabei die herrliche Tradition der französischen symbolistischen Literatur im Sinn. Auch im Lotos-Sutra, das ja als Drama des individuellen Lebenszyklus gelesen werden kann, soll die TanzMetapher weniger ein konkretes Bild als vielmehr die Erhabenheit des schöpferischen Lebens aufscheinen lassen. Daher symbolisiert das Bild von regelrechten Wellen hervorspringender Bodhisattvas die höchste Freude bei dem zutiefst menschlichen Streben, in Harmonie zu sein mit dem fundamentalen Gesetz des

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Teil I: Bildung – Impulse für die Zukunft

Universums, und es symbolisiert die Erfüllung, gewonnen aus dem ständigen Bemühen, zur menschlichen Gesellschaft beizutragen. Die schlichte Schönheit der Tanz-Metapher ruft uns einen Abschnitt eines Dialogs Der Tanz und die Seele (1924) von Paul Valéry (1871–1945) ins Gedächtnis. Dort greift Valéry eine Bemerkung Sokrates’ auf, nachdem er eine tanzende Frau erblickt hat. „Während diese Entzückung und Schwingung des Lebens, während diese unübertreffliche Spannung, dieses Hingerissensein in die höchste Beweglichkeit, deren man fähig ist, die Eigenschaften und Kräfte der Flamme besitzt; und dass alles, was Schande ist, Überdruss, Nichtigkeit, und der ganze eintönige Unterhalt des Daseins sich darin aufzehrt, so dass in unseren Augen der Glanz des Göttlichen sich spiegelt, das in einer Sterblichen Platz hat.“ 5 Dieser Abschnitt von Valéry befindet sich in einem gänzlich anderen Genre als das buddhistische Sutra. Dennoch benutzen beide die Tanz-Metapher als Möglichkeit, eine derart unaussprechliche Reinheit der Bewegung in Worte zu fassen und somit ein Bild von der göttlichen Natur der Kunst zu liefern.

Spirituelle Revolution Wir leben in einer Zeit von beispiellosen Schwierigkeiten und Veränderungen. In solchen Zeiten beginnen die Menschen, nach innen zu schauen, und genau das geschieht heutzutage. Gegen Ende seines Lebens und verfolgt vom Trampeln der Armeestiefel über Frankreich und den Rest Europas versuchte Valéry eine „spirituelle Liga“ von Menschen zu gründen, die höheren Zielen geweiht sein sollte. Auch André Malraux war sich sicher, die Zeichen einer spirituellen Revolution zu spüren, die im kommenden Jahrhundert stattfinden würde. Beide sahen das Flimmern dessen, was wir als schöpferisches Leben bezeichnet haben, jene Kraft also, die anwachsen und dann in eine klar artikulierte Bewegung übergehen wird. Durch die innere Revolution der Menschen wird diese Revolution weitergehen, getragen von dem Imperativ hinter der „spirituellen Liga“ und der „spirituellen Revolution“: Gemeint ist das Streben nach der höchsten Wirklichkeit. Ich glaube, dass dies der Quell der Energie ist, die jegliches menschliche Streben antreibt, einschließlich der Kunst. So möchte ich mit einem weiteren Gedicht von mir schließen; es wurde zu Ehren der Kunst verfasst.

Schöpferisches Leben

Kunst, du göttliches Licht, unvergänglicher Abdruck aller Kulturen! Hymne an das Leben, an Freiheit, Schöpfung und Freude! Inbrünstiges Gebet, tiefste Harmonie mit der fundamentalen Wirklichkeit! Forum der Freundschaft, wo Millionen von Lebenden sich verbinden, grüßen und einander anlächeln. Ein Schriftsteller erklärte im Westen: „Ost ist Ost und West ist West, doch wenn beide Riesen einander begegnen, dann werden Grenzen und Nationalitäten verschwinden.“ Zu gleicher Zeit schrieb im Osten ein großer Dichter: „Ost und West müssen sich vermählen auf dem Altar der Menschheit.“ Und hier ist die Kunst, sie lädt die Seele ein, indem sie die Hand ausstreckt einem beruhigenden, heiteren Hain entgegen, hin zu einem Garten, wo die Fantasie über dem Himmel lodert; sie lädt die Seele ein zum Adelsstand der Weisheit und führt sie zum fernen Horizont der universellen Zivilisation.

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Leonardos Weltsicht und das Parlament aller Menschen*

Während des 13. und 14. Jahrhunderts strömten Studenten aus ganz Europa nach Bologna, angezogen vom exzellenten Ruf der Universität. Auf diese Weise entstand eine weltoffene, freie Universitätsstadt. Auf die Drohungen Friedrichs II (1194–1250), die Universität einzunehmen, antworteten die Studenten: „Wir sind nicht wie das schwankende Schilfrohr im Sumpf, das durch einen einzigen Windstoß geknickt wird. Sollten Sie hierher kommen, werden Sie das erleben.“ 1 Diese überragende Geisteshaltung ist beispielhaft. Sie bildet damals wie heute das Rückgrat des Weltbürgertums.

Die Vereinten Nationen (UNO) unterstützen Die Soka Gakkai International (SGI) hat sich als Nichtregierungsorganisation (NGO) an zahlreichen Aktivitäten der Vereinten Nationen beteiligt und diese unterstützt. Seit 1982 haben wir mehrere Ausstellungen der Vereinten Nationen in Dutzenden von Städten rund um die Welt gesponsert:  Nuklearwaffen. Bedrohung für unsere Welt  Krieg und Frieden: Von einem Jahrhundert des Krieges zu einem Jahrhundert der Hoffnung  Für ein Jahrhundert des Lebens: Umwelt und Entwicklung Diese Ausstellungen sollten das Augenmerk auf die Notwendigkeit richten, dass wir unsere Weisheit bündeln müssen, um Lösungen für die drängenden globalen Probleme zu finden. Darüber hinaus haben wir Ausstellungen zum Thema Menschenrechte unterstützt. Im Dezember letzten Jahres erinnerten wir mit der Ausstellung Annäherung an ein Jahrhundert der Menschlichkeit. Ein Überblick über die Menschenrechte in der heutigen Welt im Büro der Vereinten Nationen in Genf an den 45. Jahrestag der weltweiten Erklärung der Menschenrechte. Sie wurde im darauf folgenden

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Vortrag Daisaku Ikedas an der Universität Bologna, Italien, 1. Juni 1994.

Leonardos Weltsicht und das Parlament aller Menschen

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Februar ein weiteres Mal zur Sitzung der UN-Menschenrechtskommission gezeigt und war bis Mai 1994 in London zu sehen. Die Soka Gakkai Frauenfriedens- und Kulturkonferenz sponserte ebenfalls Veranstaltungen, die sich mit Fragen rund um unsere Jugendlichen befassten, den Erben des 21. Jahrhunderts. Ihre Ausstellungen über die Menschenrechte der Kinder und UNICEF und die Kinder dieser Welt fanden weithin Anerkennung. Die jungen Männer und Frauen unserer Organisation beteiligten sich an mehreren Hilfskampagnen für Flüchtlinge. Zum Beispiel sammelten sie annähernd 300.000 Radios für Kambodscha, um dort die United Nations Transitional Authority (UNTAC) bei ihren Anstrengungen zu unterstützen, die Bevölkerung über die allgemeinen Wahlen zu informieren. Ich persönlich habe Vorschläge zu drei Sondersitzungen der Vereinten Nationen zur Abrüstung unterbreitet. Außerdem habe ich zahlreiche Empfehlungen für Frieden und Abrüstung sowie zur Reform der Vereinten Nationen vorgelegt. Die Soka Gakkai International ist keine politische Organisation, noch ist sie einfach nur eine soziale Gruppierung. In erster Linie ist sie eine Bewegung, die auf der Basis der buddhistischen Philosophie versucht, die innere Wandlung des Menschen zu fördern. Daher möchte ich mich heute weniger mit Vorschlägen für konkrete Reformen der Vereinten Nationen beschäftigen, sondern auf die Ideale eingehen, nach denen sie streben sollten, auf das geistige Fundament, von dem aus dieses „Parlament aller Menschen“ revitalisiert werden kann, und auf das Ethos, das die Weltbürger, denen diese Aufgabe zufällt, leiten kann. Das globale System der UNO basiert auf Dialog und Zusammenarbeit. Beides sind Mittel der Soft Power, wie ich sie nenne. Soft Power bezieht ihre Durchsetzungskraft aus geistigen und ideellen Komponenten. Zwar mag es Situationen geben wie im Fall Bosnien, als man in letzter Konsequenz doch auf Hard Power setzte. Aber die primäre Mission der UNO besteht darin, ihre Ziele mit den Mitteln der Soft Power zu erreichen. Schließlich ist die UNO noch eine sehr junge Organisation: 1995 feierte sie den fünfzigsten Jahrestag seit ihrer Gründung. Im Vergleich zum langen Dasein der Menschheit ist sie gerade erst geboren. Doch wenn wir den kurzen und unglücklichen Verlauf ihrer Vorgängerorganisation, des Völkerbundes betrachten, begreifen wir, dass ihr fünfzigjähriges Bestehen eine großartige Leistung ist. Seit dem Ende des Kalten Kriegs sind die Erwartungen an die Vereinen Nationen gestiegen, eine aktivere Rolle für die Sicherung des Friedens in der Welt zu spielen. Tatsächlich scheint diese internationale Organisation allmählich im Geiste ihres Gründungsauftrages zu funktionieren. Nun liegt es an uns allen,

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die guten Willens sind, diese Entwicklung mit ganzer Kraft in das hoffnungsvolle 21. Jahrhundert zu tragen.

Kosmischer Humanismus Fünf Jahrzehnte sind vergangen, seit der Präsident der Vereinigten Staaten, Franklin D. Roosevelt, maßgeblich an der Gründung der Vereinten Nationen mitwirkte. Er hatte sich das Vermächtnis Thomas W. Wilsons 2, einer seiner Amtsvorgänger und Schlüsselfigur in der Errichtung des Völkerbunds, zu eigen gemacht. Roosevelt besaß wie Wilson eine idealistische, globale und humanitäre Vision, die den Gründungsgeist dieser neuen Weltorganisation bestimmte und schließlich zu ihrer entscheidenden Antriebskraft wurde. Roosevelt konnte den sowjetischen Staatsführer Josef Stalin und den englischen Premier Winston Churchill schließlich von der Notwendigkeit globaler Sicherheit überzeugen. Roosevelt strebte nach einem Humanismus im breitesten Maßstab. Einige Historiker belächelten dies als „kosmischen Humanismus“. Gewiss, viele wichtige Funktionen der UNO waren während des Kalten Kriegs buchstäblich außer Kraft gesetzt. Heute jedoch drängen Menschen auf der ganzen Welt darauf, die UNO solle zu ihrem Gründungsgedanken zurückkehren und nochmals die Verwirklichung von allumfassender Sicherheit und Weltfrieden anstreben. Angesichts dieses Bedürfnisses erscheint ein Humanismus von kosmischem Ausmaß nicht mehr als reiner Idealismus. Als ich über diese Fragen nachdachte, erinnerte ich mich an den großen Künstler der Renaissance, Leonardo da Vinci. Der Brückenschlag zwischen ihm und den Vereinten Nationen mag zuerst etwas überspannt scheinen. Doch Leonardo scheint auf seinem Lebensweg, der sich durch innere Gelassenheit und Unabhängigkeit auszeichnet, alle weltlichen Konventionen seiner Zeit hinsichtlich dessen, was gut oder böse ausmacht, überwunden zu haben. Die Vereinten Nationen hingegen bleiben, so wie sie gerade beschaffen sind, im endlosen Gezerre sich widerstreitender nationaler Interessen verstrickt. Doch ich denke, wir müssen die langfristige und die kurzfristige Perspektive im Auge behalten. Karl Jaspers schrieb einmal: „Leonardo und Michelangelo sind zwei Welten, zwischen denen es kaum Berührungspunkte gibt: Leonardo ein Kosmopolit, Michelangelo ein Patriot.“ 3 Diese Beobachtung zeigt die Dimension von Leonardos Sichtweise – und sie hat einen Bezug zu den Vereinten Nationen. Sie legt nahe, dass kein Zeitalter vor uns die Sichtweise Leonardos so nötig hatte wie das unsrige. Eine Lektion, die wir von Leonardo lernen sollten, ist die Wichtigkeit der

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Selbstbeherrschung. Er war ein völlig freies und unabhängiges Individuum; nicht nur frei von den Zwängen der Religion und der gesellschaftlichen Wertvorstellungen, sondern auch von Bindungen an Nation, Familie, Freunde und Bekannte. Er war ein echter Weltbürger, uneinnehmbar, unübertroffen. Leonardo wurde als uneheliches Kind geboren und er blieb selbst sein ganzes Leben lang unverheiratet. Man weiß nur wenig über seine familiären Verhältnisse. Seine Verbundenheit zum Ort seiner Geburt, der Republik Florenz, war eher schwach ausgeprägt. Ohne zu zögern, siedelte er nach seiner Lehrzeit in Florenz nach Mailand über, wo er fast 17 Jahre unter dem Patronat von Herzog Ludovico Sforza arbeitete. Nach dessen Fall stand Leonardo für kurze Zeit in den Diensten von Cesare Borgia, dem mächtigen Herzog der Romagna. Später führten ihn seine Projekte und Interessen nach Florenz, Rom und Mailand. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er auf Einladung von Franz I in Frankreich, wo er auch verstarb. Leonardo war bei alledem kein gefühlloser Mensch, noch fehlte ihm die Moral; sein Leben war vielmehr durchdrungen von der Würde eines Nonkonformisten, der klar und konzentriert seiner Berufung folgte. Wie auch immer seine Lebensbedingungen waren oder mit welchen Projekten er sich beschäftigte: Leonardo zeigte wenig Interesse an haarspalterischen Diskussionen über Themen wie Vaterlandsliebe, Feind oder Freund, gut oder böse, schön oder hässlich, Gewinn und Verlust. Er strebte vielmehr nach einem Lebenszustand, der es ihm erlaubte, die Dinge aus einer gewissen Distanz zu betrachten. Ruhm oder Reichtum lockten ihn nicht, doch auch der Obrigkeit widersetzte er sich nicht. Seine kompromisslose einzigartige Widmung galt den eigenen Interessen, seinen vielfältigen Forschungen. Dabei berührten ihn weltliche Verhaltensnormen nicht im Geringsten. Leonardo malte die geheimnisvoll lächelnde Mona Lisa ebenso wie die erbittert kämpfenden Soldaten der Schlacht von Anghiari. Derselbe Leonardo, der sich der Hydrodynamik widmete, untersuchte die Physiologie von Pflanzen, analysierte den Vogelflug und zeigte auch großes Interesse an der menschlichen Anatomie. Unabhängig von dem, was über Leonardo gesagt wird: Sein Genie war viel zu gewaltig, als dass man es an gesellschaftlichen Normen messen sollte. Die innere Freiheit, mit der er sich über weltliche Belange erhob, bietet uns einen Einblick in das Wesen eines wahrhaft befreiten Weltbürgers. Leonardos Leben offenbart die einzigartige Freiheit und Kraft der italienischen Renaissance. Wie konnte Leonardo eine solche Freiheit erlangen? Offenbar durch die Beherrschung seines Selbst. So schrieb er: „Du kannst weder eine größere noch eine geringere Herrschaft besitzen als die über dich selbst.“ 4 Dies war sein erster und

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oberster Grundsatz, auf dem alle anderen basierten. Die Selbstbeherrschung gestattete ihm, flexibel auf alle Realitäten zu reagieren. Die Konventionen seiner Zeit – wie Loyalität, Güte, Schönheit – waren für ihn nur zweit- oder drittrangig. Dem entsprechend hatte Leonardo keinerlei Bedenken, die Einladung des französischen Königs anzunehmen, obwohl dieser für den Sturz seines früheren Mäzens, Ludovico Sforza, verantwortlich war. War dies ein Verrat oder mangelnde Integrität? Ich sehe darin eher einen weiten geistigen Horizont und Großzügigkeit.

Leonardo und die buddhistische Philosophie Leonardos Fähigkeit, gesellschaftliche Konventionen hinter sich zu lassen, erinnert an das buddhistische Prinzip Shusseken – aus der Welt (der Begierden) heraustreten. Seken bedeutet Unterschiede. Shusseken heißt also die Unterschiede, die Unterscheidungen zwischen Gewinn und Verlust, Liebe und Hass, schön und hässlich, gut und böse zu überwinden und sich aus der Abhängigkeit von ihnen zu befreien. Das Lotos-Sutra, die höchste Lehre des Buddhismus, spricht davon, „die Lebewesen zu leiten und sich von ihren Anhaftungen trennen lassen“. 5 In einem der wichtigsten Kommentare dazu heißt es, „das Wort ‚trennen‘ sei im Sinne von ‚erkennen‘ zu lesen.“ 6 Es genügt also nicht, sich einfach von seinen Anhaftungen zu trennen; wir müssen sie auch klar und sorgfältig betrachten, um sie als das zu erkennen, was sie sind. Daher bedeutet „aus der Welt (der Begierden) heraustreten“ den Aufbau eines starken Selbst, das in der Lage ist, mit jeglicher Anhaftung richtig umzugehen. Friedrich Nietzsche war ein weiterer Mensch, der die Konventionen von Gut und Böse ignorierte. Von Leonardo sagte er einst: „Leonardo kannte den Osten“ – eine Bemerkung, die meines Erachtens auf die Ähnlichkeit zwischen Leonardos Geist und der östlichen Philosophie hinweist. Das Sutra und Leonardo sind gewissermaßen wie ein rein polierter Spiegel: Beide strahlen eine Lebenseinstellung aus, die das Weltlich-Gewöhnliche übersteigen und beide können die Realität klar wiedergeben. 7 Die Leonardo-Biografie des russischen Schriftstellers Mereschkowski enthält eine unvergessliche Textstelle, in der Leonardos Freiheit von jeglicher Anhaftung überzeugend Gestalt annimmt. Der Künstler beobachtet zusammen mit seinem Lieblingsschüler (Francesco Melzi) auf einer Anhöhe, wie die von seinem Herrn Ludovico Sforza geführte Armee durch die französischen Truppen geschlagen wird:

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„Alles, was Du hier siehst, Francesco, war einst der Meeresboden jenes Ozeans, der den größten Teil Europas, Afrikas und Asiens bedeckte. […] Wieder fiel sein Blick auf die Rauchwölkchen in der Ferne und das Aufblitzen der Kanonenfeuer. Sie erschienen ihm jetzt im rosigen Schein der Abendsonne, so unendlich klein, so friedlich, dass ihm der Gedanke, sie rührten von einer Schlacht, in der Menschen sich gegenseitig hinmordeten, schwerfiel. […] Es ist doch ganz einerlei, wer den anderen besiegt. […] Vaterland, Politik, Ruhm, Krieg, Untergang der Reiche, Aufruhr der Völker, alles, was den Menschen groß und mächtig dünkt, gleicht es nicht dem im Abendrote glänzenden Wölkchen Pulverrauches inmitten der Klarheit des ganzen Weltalls?“ 8 Jemandem, der Selbstbeherrschung erlangt hat, kann die Realität des Krieges nur kleingeistig erscheinen. In seiner Beschreibung von Leonardos Losgelöstheit gelingt es Mereschkowski, ein Bild des „kosmischen Humanismus“ einzufangen. Die Soka Gakkai International basiert auf den buddhistischen Lehren von Nichiren. In unserer Philosophie der menschlichen Revolution hallt Leonardos Geist der Selbstbeherrschung kräftig wider. Weil wir unsere Überzeugungen leben wollen, unterstützen wir die Vereinten Nationen und engagieren uns auf vielfältige Weise für die Förderung von Frieden und Kultur. Durch diesen Einsatz hoffen wir, einen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten. Gleichzeitig jedoch betonen wir sehr stark die innere Transformation des Einzelnen – wir nennen dies die menschliche Revolution. Wir nähern uns dem Ende dieses unruhigen 20. Jahrhunderts, das gerade in den letzten Jahren von tragischen ethnischen Konflikten gezeichnet war. Offensichtlich funktioniert der bisherige modus operandi mit seinem Fokus auf die äußeren Ursachen von Systemen und Ereignissen nicht wirklich zu unserem Wohl. Daher glaube ich: Wenn wir die anstehenden Probleme lösen wollen, müssen wir eher eine Haltung wie die von Leonardo kultivieren – eine Haltung, die von Selbstbeherrschung bestimmt ist.

Kein Werk vermag mich zu ermüden Leonardo träumte davon, dass Menschen eines Tages wie Vögel fliegen könnten. Natürlich konnte er diesen Traum nicht verwirklichen, doch sein eigener Geist befand sich lebenslang auf einer Art Höhenflug. Seine außergewöhnliche Energie, sein enormes Durchhaltevermögen zeigt sich in seinen Schriften: „Sie werden sich in ihrer Jugendzeit über alle Maßen anstrengen“ oder „So wie das Eisen außer Gebrauch rostet und das stillstehende

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Wasser verdirbt oder bei Kälte gefriert, so verkommt der Geist ohne Übung“ oder „Lieber Tod als Erschöpfung“ und „Kein Werk vermag mich zu ermüden“. 9 Während Leonardo Das letzte Abendmahl schuf, arbeitete Leonardo manchmal von Sonnenaufgang bis Mitternacht, ohne etwas zu essen oder zu trinken. Dann wieder vergingen drei oder vier Tage, an denen er sich gar nicht mit dem Gemälde befasste, sondern in Gedanken versunken rastlos hin und her lief. Aber trotz seiner erstaunlichen Konzentration und seiner unermüdlichen Schaffenskraft vollendete er nur relativ wenige Werke. Die meisten seiner Bilder, obwohl sorgfältig geplant und skizziert, blieben unvollständig. Leonardo, dieses Multi-Genie, beschäftigte sich neben der Malerei auch mit Bildhauerei, mit mechanischen Erfindungen, militärischen Waffen und dem Bauingenieurswesen. Überall zeigen sich seine erstaunliche Vielseitigkeit und sein breit angelegtes Interesse. Aber wie seine Flugmaschine, die er nie realisierte, verblieb der größte Teil seiner Arbeiten im Ideenstadium oder in der Planungsphase. Interessanterweise störte das Leonardo nicht. Offenbar waren seine unvollendeten Werke für ihn keine Misserfolge und damit auch kein Grund zur Frustration. Er war stets auf merkwürdige Weise losgelöst von seinen Projekten, oft ging er zum nächsten über, bevor er das alte zu Ende gebracht hatte. Vielleicht war das, was für andere als unvollendet erschien, für ihn bereits vollendet. Andernfalls wäre die Diskrepanz zwischen seinem unaufhörlichen Schaffensdrang und seinen unzähligen unvollendeten Arbeiten kaum zu überbrücken. Vielleicht entsprang seine Schaffenskraft aus der Synergie von Vollständigkeit und Unvollständigkeit. Wenn das so ist, wäre die Vollständigkeit des Unvollständigen zugleich die Unvollständigkeit des Vollständigen. Der Geist der Renaissance habe, wie beschrieben, eher das Ganze, Umfassende, Universale im Blick als das Teilstück. Zweifellos hat Leonardo seine Welt auf diese Weise wahrgenommen. Jaspers bezieht sich darauf, wenn er sagt: „Er [Leonardo] betrachtete sein Werk als ein Ganzes und vertrat, dass alle seine Einzelwerke diesem Ganzen unterzuordnen seien.“ 10 Gleich, ob es sich um Gemälde, Skulpturen, die Erfindung von Maschinen und Apparaten, um Architektur oder Technik handelte: Sein Schaffen war ein Prozess, in dem Leonardo die Welt des Ganzen und Allgemeingültigen unter Einsatz seines gesamten Könnens in einem Teilstück abzubilden trachtete. Das heißt, es ging ihm um das Sichtbarmachen der unsichtbaren Welt. Daher kann ein auch noch so gelungenes und vollendetes Werk doch unvollkommen sein, solange es ein Phänomen innerhalb eines Teilbereichs der Welt darstellt. Wir Menschen können aber nicht dort stehen bleiben, sondern sind dazu bestimmt,

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unaufhörlich weiter zu fliegen und immer wieder zur nächsten Schöpfung vorzudringen. Die letzten Worte, die der Buddha hinterließ, lauteten: „Alle Phänomene sind vergänglich. Arbeitet ohne nachzulassen weiter an der Vervollkommnung eurer Ausübung.“ Die wesentliche Lehre des Mahayana-Buddhismus fordert: „Verstärken Sie Ihr Vertrauen Tag für Tag und Monat für Monat. Sollten Sie in Ihrer Entschlossenheit auch nur ein wenig nachlassen, werden Dämonen sich das zunutze machen.“ 11 An anderer Stelle heißt es: „[Solange jemand in Illusionen lebt, nennt man ihn ein gewöhnliches Wesen, doch ist er erleuchtet, nennt man ihn einen Buddha.] Dies lässt sich mit einem blinden Spiegel vergleichen, der wie ein Juwel glänzt, sobald er poliert wird. Der Geist, momentan umwölkt von Illusionen aus der angeborenen Dunkelheit, ist wie ein blinder Spiegel. Doch poliert man ihn, wird er ganz sicher zu einem klaren Spiegel, der die wahre Natur allen Daseins und das wahre Wesen der Wirklichkeit zeigt.“ 12 Diese Worte drücken die tiefste Wahrheit des Lebens aus. Von der Vollständigkeit der Unvollständigkeit zur Unvollständigkeit der Vollständigkeit – die Synergie aus diesen zwei Perspektiven ist die Quelle der unendlichen Kreativität des Lebens, ist die Dynamik des Daseins.

Sprache als Gefahr, Sachverhalte zu verdinglichen Leonardo bezeichnete sich selbst als Empiriker und strebte danach, die Wirklichkeit genau so zu sehen, wie sie ist, ohne jedes Vorurteil. Er war misstrauisch, ja sogar feindselig gegenüber der Verdinglichung durch die Sprache, wenn sie Erfahrungen zu erfassen versucht und sie als feststehend wiedergibt. Seine Betonung des Visuellen und seine Skepsis gegenüber dem Wahrheitsgehalt von Sprache zeigen Ähnlichkeiten mit Nagarjuna, dem großen Denker des MahayanaBuddhismus aus dem 2. oder 3. Jahrhundert n. Chr. In seiner Mittleren Lehre hinterfragte Nagarjuna die Tendenz der Sprache, unsere Erfahrungen zu verdinglichen und dem Substanz zu geben, was von seiner Natur her keine Substanz hat. Nagarjuna bezog sich auf das buddhistische Konzept des bedingten Entstehens (jap. Engi) und der Substanzlosigkeit (jap. Ku¯) und erklärte: „Der Buddha lehrte, dass die Natur des bedingten Entstehens nicht ausgelöscht und nicht geschaffen wird, weder vorübergehend noch ewig besteht, nicht einzeln und nicht zusammengesetzt ist; sie kommt nicht und sie geht nicht; sie überschreitet den Hochmut der Worte und ist die letztendliche Glückseligkeit.“ 13

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Die Eigenschaft der Sprache, Phänomene zu verdinglichen, zerstört die dynamische Synergie von Vollständigkeit und Unvollständigkeit und erschafft die Illusion, dass ein vorläufiger Zustand stabil und ewig sei. Sowohl Leonardo als auch Nagarjuna warnten, dass diese falsche Vorstellung von Stabilität oder Sicherheit eine Selbstgefälligkeit fördere, die den Weg des geringsten Widerstands sucht. Leonardos warnende Worte, dass „Ungeduld die Mutter der Torheit“ sei 14, offenbaren ihre tiefgründige Wahrheit, wenn man sie in diesem Licht betrachtet. Es bringt auch die Gefahren des Radikalismus ans Licht, der dann entsteht, wenn Ideale mit Substanz verwechselt werden. Ohne die wahre Natur von beidem zu verstehen, werden dann in aller Hast Überzeugungen umgesetzt. Der Radikalismus in Politik und Gesellschaft ist heute ein großes Problem. Radikalismus hat nichts zu suchen bei den Bemühungen, Institutionen wie die Vereinten Nationen neu zu beleben. Die gestiegenen Erwartungen speisen sich aus einem allzu großen Optimismus angesichts dessen, welche Rolle eine solche Organisation zur Lösung von Konflikten spielen kann. Dies kann sich leicht in Misstrauen verwandeln, wenn die Ereignisse auch nur ein wenig den Erwartungen zuwiderlaufen. Dann bestünde die Gefahr, dass wir das Kind mit dem Bade ausschütten. Um Enttäuschung zu vermeiden, sollten wir uns an Leonardos Warnung erinnern: „Ungeduld ist die Mutter aller Torheit“. Der renommierte Schweizer Kulturhistoriker und Kenner der Renaissance Jacob Burckhardt (1818–1897) schrieb: „Der große Mann ist ein solcher, ohne welchen die Welt uns unvollständig schiene.“ 15 Leonardo da Vinci war ein solcher Mann, der die italienische Renaissance mit unvergänglichem Licht erfüllte. In chaotischen Übergangzeiten wie dieser brauchen wir mehr Menschen, die so erhaben und unabhängig sind wie Leonardo. Die Entwicklung einer neuen Weltordnung, in deren Mittelpunkt die Vereinten Nationen stehen, wird schließlich davon abhängen, an wie viele solcher wahren Kosmopoliten wir appellieren können, diese gewaltige Aufgabe zu vollbringen. In der ersten Zeile der Charta der Vereinten Nationen heißt es: „Wir, die Völker der Vereinten Nationen …“ Die Völker, also die Menschen, sind am wichtigsten, wenn es darum geht, Wege für Frieden und Stabilität zu finden. Alles hängt letztendlich von den Menschen selbst ab. Daher müssen die Vereinten Nationen die aktive Unterstützung aller Bürger dieser Erde gewinnen, wenn sie zu einem „Parlament der Menschheit“ werden sollen, vor dem jede Stimme Gehör findet. Was ist Leben? Was ist der Wert eines Menschen? Was ist das Wichtigste beim Aufbau von Freundschaften zwischen Nationen und Völkern? Wenn wir diese Fragen angehen wollen, muss ein neuer Humanismus unseren Umgang

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miteinander bestimmen. Ein Humanismus, der die Entwicklung von Kultur nährt und den Austausch zwischen den Kulturen vertieft, bei gleichzeitiger Anerkennung ihrer einzigartigen Unterschiede. Dies ist das Ideal, das in der Magna Charta der europäischen Universitäten verkündet und von allen höheren Bildungseinrichtungen in der ganzen Welt unterzeichnet wurde. Als Buddhist bin ich entschlossen, das Erbe Leonardos weiterzutragen. Zusammen können wir es schaffen, in eine neue Morgendämmerung der Menschheitsgeschichte einzutreten.

Herrlicher Kosmos* Im Januar 1994 äußerten sich Studenten der Moskauer Staats-Universität bei einem informellen Treffen des amerikanischen Präsidenten Bill Clinton mit den Bürgern Moskaus. Dieses Treffen wurde im japanischen Fernsehen ausgestrahlt wie vielleicht anderswo auch. Eine Studentin, die perfekt englisch sprach, meinte, sie sähe große Reserven an spiritueller Energie in Russland. Und sie gab ihrer Überzeugung Ausdruck, dass ihre Nation in naher Zukunft ein kulturelles Zentrum von internationaler Ausstrahlung sein würde. Dies war in der Tat ein beeindruckendes Zeugnis des Vertrauens in die andauernde Größe ihres Landes.

Das Credo von Michail Lomonossow Der Begründer der Moskauer Staats-Universität, Michail Lomonossow (1711– 1765), verfasste die folgenden edlen Zeilen unmittelbar vor seinem Tode: Wenn unser schönes und weiträumiges Land / von Unglück heimgesucht wird, / dann ist die Zeit, / dass Russland / eine tapfere, intelligente Jugend hervorbringt, meine Nachkommen, / die den Fußspuren folgen, die ich hinterließ. 1

Als ich 1974 meine erste Reise nach Russland vorbereitete, stellten viele Menschen in Japan meine Entscheidung dazu in Frage. „Warum reist ein buddhistischer Pädagoge in eine Nation, deren Ideologie die Religion zurückweist?“, fragten sie. Meine Antwort war, ich führe dorthin, „weil Menschen dort leben“. Heutzutage ist es in einer post-ideologischen Welt noch wichtiger, dass unser Fokus auf Menschen und auf den rechten Lebensweg gerichtet bleibt. Wie es der große, zeitgenössische russische Schriftsteller Alexander Solschenizyn so beredt ausgedrückt hat: „Die Staatsordnung ist zweitrangig gegenüber der Atmosphäre der menschlichen Beziehungen. Wenn die Menschen im Wohlstand leben, tolerieren sie jede intakte Staatsordnung. Wo Gereiztheit und Eigennutz vorherrschen, wird auch

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Rede Daisaku Ikedas an der Lomonossow-Universität, Moskau, Russland, 17. Mai 1994.

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die freiheitlichste Demokratie unerträglich. Wenn Rechtlichkeit und Ehrenhaftigkeit fehlen, zeigt sich dies in jeder Staatsordnung.“ 2 Menschen sind der Anfang und das Ende all unserer Anliegen. Doch wie auch Tolstoi erkannte, bleiben die Menschen das größte Geheimnis. Seit undenklichen Zeiten hat die Frage, was es heißt, ein Mensch zu sein, das ausdauerndste und tiefste Denken beansprucht. Doch auch nach Jahrtausenden des Nachdenkens über diese Frage entzieht sich uns die Antwort. Wir wissen, dass beispielsweise menschliches Glück nicht allein in wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Begriffen gemessen werden kann. Auch bemerken die meisten von uns, dass das große geistige Erbe, das uns die Vergangenheit hinterlassen hat, womöglich nicht so benutzt wird, wie es die heutige Gesellschaft tun sollte. Im späten 19. Jahrhundert schienen wir von einer dicken und dunklen Wolke so verhüllt zu sein, dass jedes Licht, welches in der Lage gewesen wäre, die conditio humana zu erhellen, tatsächlich von einer sehr hellen inneren Quelle hätte herrühren müssen.

Meister seiner selbst sein „Bleibe deinem eigenen Leben treu!“, lautete der Aufruf meines Mentors Josei Toda, dem zweiten Präsident von Soka Gakkai. Zwei Jahre überlebte er während des Zweiten Weltkrieges im Gefängnis und nach seiner Freilassung trat er noch entschiedener für den Frieden ein als zuvor. Nach Japans Niederlage schienen die traditionellen Werte ausgelöscht oder auf den Kopf gestellt. In dieser Zeit der spirituellen Trostlosigkeit lehrte Toda, dass die Menschen ganz an den Anfang zurückkehren und ihre eigene innere Revolution erneuern müssten. Seine Lehre belebte Shakyamunis Beobachtung neu, wonach wir alle unsere eigenen Meister sind, so wie kein anderer es je sein könne; wenn wir uns nur recht disziplinierten, würden wir einen Meister bekommen wie keinen anderen. Dies könnte man in unserer Zeit durchaus als menschliche Revolution bezeichnen. Dimitri Mereschkowski (1865–1941), ein begabter russischer Autor, machte eine ähnliche Bemerkung: „Gott gebot dem Menschen, dass er frei sei.“ 3 Diese Worte werden am Anfang seines Romans Peter und Alexej dreimal wiederholt. Die Frage „Wie kann man Meister seiner selbst werden?“ durchfließt die spirituelle Geschichte der russischen Nation. Mir scheint, das russische Volk war mit dieser Frage während der Vormoderne leidenschaftlicher beschäftigt als zu jeder anderen Zeit in seiner Geschichte. Das Bemühen, Meister seiner selbst zu sein, ist ein durchgehendes Thema im Leben Peters des Großen (1672–1725). Für Historiker war es so gut wie unmöglich, einen Konsens bezüglich des Lebens dieser überragenden Gestalt zu erzie-

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len. Einerseits hatte Peters Einführung westlicher Ideen und Technologien die Wirkung, dass Russland modernisiert und entwickelt wurde. Andererseits brachten seine Reformen dem damaligen russischen Volk sehr viel Bedrängnis, vor allem als sie durch Peters autoritäres Regime brutal unterdrückt wurden. Daher betrachten manche Historiker Peter zum Teil als Teufel, während andere in ihm so etwas wie einen Heiligen sehen. Eines aber ist klar: Peter der Große war ein gewaltiger Mann, der sein Leben der Suche nach einer Antwort auf die umfassende Frage nach Selbst-Beherrschung widmete. Alexander Puschkin (1799–1837) pries Peter als schicksalhaften Herrscher, während Alexander Herzen (1812–1870) ihn als den ersten freien Menschen der russischen Geschichte beschrieb. Wie Atlas, der die Pfeiler des Himmels trug, trug Peter sein eigenes Schicksal auf der einen Schulter, das von ganz Russland auf der anderen. Seitdem jedoch hat sein Land versucht, mit dem alles durchdringenden Einfluss der modernen westlichen Zivilisation klar zu kommen. Russland ist nicht das einzige Land, das mit der Komplexität des westlichen Einflusses auf die Gesellschaft zu kämpfen hat. Man spürt ihn meist zunächst in den militärischen und wirtschaftlichen Systemen, wo er zuweilen eine vollständige Umwandlung der Kriegs-Technologie bewirkt. In der Folge mag dann die Kultur selbst betroffen sein, bis sie endlich in ihrer Identität bedroht ist und das Gespür der Menschen für das Selbst erschüttert wird. Das Bemühen um Identität scheint oft im Werk Natsume Sosekis (1867– 1916) auf, einem der beliebtesten modernen japanischen Schriftsteller. Soseki versuchte, während der kulturellen Verwirrung im Zuge der umfassenden Veränderung eine japanische Identität zu definieren, nachdem Japan seine Tore für die Verwestlichung geöffnet hatte. Er erinnerte sich an ein Gefühl der Ohnmacht während seiner Jugend, als er das Chaos um sich beobachtete, und schrieb: „Ich fühlte mich, als wäre ich in einem Sack verschnürt gewesen und konnte nicht entkommen.“ 4

Niedergang der Spiritualität Obwohl Japan sich dramatisch in dem Jahrhundert verändert hat, seitdem Soseki diese Worte schrieb, bezweifele ich dennoch, dass Japans heutige Jugend wirklich glücklicher ist oder auch nur zufrieden mit dem status quo. Es ist ein Fehler, Glück mit Reichtum gleichzusetzen. Die Freude, die materieller Erfolg bringt, ist immer vergänglich. Die meisten jungen Menschen in Japan sind entfremdet und ohne Ehrgeiz. Sicherlich haben sie mehr Freiheit als je zuvor, doch oft fehlt ihnen ein klares Gespür für Ziele und viele von ihnen sind verwirrt und unsicher.

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Manche leben nur für den Moment und für die unmittelbare Befriedigung. Kürzliche Umfragen unter Oberstufenschülern aus aller Welt besagen, dass im Vergleich mit anderen Ländern die japanischen Schüler dazu neigen, keine Hoffnung in die Zukunft zu setzen und mit ihrer Situation zufrieden zu sein, solange sie bequem ist. Obgleich Japan sich zumindest zeitweilig eines noch nie da gewesenen wirtschaftlichen Reichtums erfreut, scheint das spirituelle Leben eher zu stagnieren. Junge Menschen trachten nicht mehr danach, ihr Schicksal zu meistern. Natürlich sind manche Menschen aktiv, motiviert und auf ein Ziel ausgerichtet. Noch verfügt Japan über junge Menschen, die über ihre eigenen Belange hinaussehen und dabei ein Gespür sowohl für Ziele wie auch eine klare Perspektive für ihre eigene Gesellschaft haben. Es gibt solche, die für den Weltfrieden arbeiten, und andere, die sich mit existenziellen Fragen abmühen, etwa, wie die Menschen leben sollten. Diese Jugendlichen, die sich deutlich von ihren apathischen Gleichaltrigen unterscheiden, lassen mich auch weiterhin hoffen, dass eine neue Philosophie entsteht, die die Menschheit in Richtung des Guten, des Konstruktiven und des Schöpferischen führt. Wie aber sollen wir zum Meister unserer selbst werden? Auf der Suche nach einer Antwort auf diese Frage dienen mir die Gedanken des großen Philosophen Nikolai Berdiajew (1874–1948) als Leitfaden. „Ich habe nicht nach Isolierung meiner Persönlichkeit, nicht nach Abgeschlossenheit in mir selber und nicht nach Selbstbehauptung gestrebt, sondern danach, im Universum aufzugehen, erfüllt zu sein von universalem Gehalt, Umgang zu haben mit allen. Ich wollte ein Mikrokosmos sein, was ja auch der Mensch seiner Idee nach ist.“ 5 Berdiajew beschreibt die offensichtliche Befriedigung, die er spürte, nachdem er es geschafft hatte, sein eigener Meister zu sein. Diese Idee, dazu die Beschwörung des grenzenlos ausdehnungsfähigen Zustands, eins zu sein mit dem Universum, haben sehr viel gemein mit den Vorstellungen des MahayanaBuddhismus. Der Mahayana-Buddhismus diskutiert drei Stadien des Übergangs im Leben jedes einzelnen Menschen wie auch in der Entwicklung des menschlichen Charakters. Diese sind: „das Erwachen“, „die vollkommene Ausstattung“ und „die Revitalisierung“. Ich möchte sie näher erläutern, da sie mit den Vorstellungen von fundamentaler Ordnung, Universalität und Selbsterneuerung einhergehen. Gleichermaßen möchte ich den Fokus auf die starke Strömung des russischen Humanismus richten, der einen höheren Lebenszustand anstrebt.

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Fundamentale Ordnung des Lebens Das erste Stadium, das Erwachen, bezieht sich auf die Entwicklung eines Bewusstseins für die fundamentale Ordnung des Lebens. Der Buddhismus lehrt, dass jeder von uns die Buddha-Natur besitzt; das heißt, den Samen oder das Potenzial, sich in einen idealen Menschen zu verwandeln. Diese Natur ist ihrem Wesen nach hart wie ein Diamant und unzerstörbar, rein und unbefleckt. Wird sie aufgedeckt, wird sie zum Kern des Lebens, der unser Glück bestimmt, indem er uns in die Lage versetzt, Meister unserer selbst zu werden. In unserem täglichen Leben aber ist die Buddha-Natur tief unter Täuschungen verborgen, also unter falschen, befangenen und verfehlten Ansichten. Damit die Buddha-Natur durchbrechen und zu voller Blüte kommen kann, müssen wir einen Weg durch die mannigfachen und dicken Schichten der Täuschung schlagen. Gelingt uns das, werden wir zur fundamentalen Ordnung erwachen, die jedem von uns innewohnt. Die höchste Lehre des Mahayana-Buddhismus, das Lotos-Sutra, enthält eine Reihe von Gleichnissen. Sie wenden sich an jene, die irrtümlich glauben, der Buddha sei eine Art fernes, mythisches Wesen und sie selbst besäßen nicht die Buddha-Natur. Eines dieser Gleichnisse liest sich so: „Einst besuchte ein armer Mann das Haus eines reichen Freundes. Während sie sich unterhielten und amüsierten, fiel der arme Mann in Schlaf. Sein Freund, der um das Wohl des armen Freundes besorgt war, nähte heimlich einen kostbaren Edelstein in das Futter der Kleidung seines Freundes, während der schlief. Als der Arme am nächsten Morgen erwachte und sich verabschiedete, hatte er keine Ahnung davon, dass ein Edelstein in seine Kleidung eingenäht worden war. Sein Leben in Armut ging weiter. Etliche Jahre später traf der reiche Mann seinen Freund zufällig wieder und war erstaunt, als er sah, dass sein Freund noch immer in ärmlichen Umständen lebte. Als er ihm von dem in seine Kleidung eingenähten Edelstein erzählte, frohlockte der arme Mann.“ Der Edelstein ist die Buddha-Natur, die wir alle besitzen, ob wir dessen gewahr sind oder nicht. Sie stellt die fundamentalste Ordnung der menschlichen Existenz dar, einen Hebel, so fest wie der, auf den sich der griechische Mathematiker Archimedes bezog als er sagte: „Gib mir einen festen Punkt, auf dem ich stehen kann, und ich werde dir die Erde aus den Angeln heben.“ 6 Diese fundamentale Ordnung allen Seins anzuerkennen heißt beispiellose Stärke zu erlangen. Der Roman Anna Karenina (1877) ist ein Meisterwerk Leo Tolstois (1828– 1910), eines meiner Lieblingsautoren. Lewin, der für den Autor spricht, sucht nach dem Sinn des Lebens, nach der wesentlichen Natur der Existenz. In einer berühmten Szene wird er durch das Wort eines Bauern belehrt:

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„Die einen denken nur an ihr eigenes Wohl wie Mitjucha, der sich den Wanst vollschlägt, der alte Fokanytsch aber ist eine ehrliche Haut, hat Gott vor Augen und lebt für sein Seelenheil.“ 7 Diese Worte eines gewöhnlichen Bauern treffen Lewin ins Herz wie ein Blitz. In dieser Szene hat Tolstoi eine der bewegendsten und denkwürdigsten Beschreibungen der Weltliteratur geliefert, die die Erweckung eines Geistes durch einen anderen zeigt. Wie sehr stimmt es doch: Wenn man zur fundamentalen Ordnung des Universums erwacht, wie hier als „Denken an sein Seelenheil“ beschrieben, dann enthüllt sich eine vollkommen neue und unerwartete Welt in all ihrer Kraft und Herrlichkeit. Tolstoi schreibt häufig über das Drama der Wandlung vom Dunklen zum Licht und von der Täuschung zum Erwachen. Nur ungefähr ist dies in seinen frühen Werken beschrieben wie etwa in den Kosaken (1863), deutlicher entwickelt dann im Nachsinnen Pierres in Krieg und Frieden (1865–1869) und eben in der Figur des Lewin. Die frischen und bewegenden Beschreibungen der großen menschlichen Gefühle, die so plötzlich Tolstois Protagonisten überkommen, hallen in den Herzen der jungen Menschen überall wider. Tolstoi war außerdem mit den Lehren des Buddhismus vertraut, und die Lebensenergie, die er in seinen Werken beschrieb, hat vieles gemeinsam mit der dynamischen Sichtweise der Existenz, wie sie im Lotos-Sutra gelehrt wird. Beide sind ein Lobgesang auf die Herrlichkeit des Lebens. Sind wir doch alle „denkende Schilfrohre“ wie Blaise Pascal (1623–1662) schrieb. Der Beweis unserer Menschlichkeit liegt in der Konstruktion unserer eigenen festen Ansichten über das Leben, die Gesellschaft und das Universum. Das Glück ist dann erreicht, wenn wir unsere eigenen Ziele setzen und sie nach unseren besten Fähigkeiten zu erreichen suchen. So werden wir unser Leben ohne Reue führen.

Das Prinzip der „vollkommenen Ausstattung“ Das buddhistische Prinzip der „vollkommenen Ausstattung“ stellt sicher, dass die fundamentale Ordnung, zu der wir erwachen, nicht partiell oder befangen ist, sondern allumfassend und nicht nur alle Menschen betrifft, sondern die Natur und das ganze Universum. Es bezieht sich auf die Universalität und die dem Leben zugrunde liegende Harmonie, und zwar in einer Dimension, die vollkommen anders ist als die von Wissenschaft oder Verstand. Letztere sind abstrakte Begriffe; abgeschlossen, unpersönlich und strukturiert. In ihrem eigenen Bereich haben sie die gewaltige Macht, unsere Lebensweise mit unglaublicher Geschwindigkeit umzustülpen. Nachdem wir aber die Tragödien des 20. Jahrhunderts mit

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ihren Millionen von Toten erlebt haben, können wir nicht länger hoffnungsfreudig bleiben, was den ungeprüften Einsatz von Wissenschaft und Verstand angeht. Nach buddhistischem Denken ist Universalität eine symbiotische Ordnung, worin Menschheit, Natur und der Kosmos koexistieren, worin Mikrokosmos und Makrokosmos zu einer einzigen lebendigen Einheit verwoben sind. Im Buddhismus wird die Idee der Symbiose durch die Vorstellung des „bedingten Entstehens“ (jap. Engi) ausgedrückt. Gleichgültig, ob es sich um eine menschliche Gesellschaft oder das Reich der Natur handelt: Nichts existiert für sich, alle Phänomene unterstützen einander, sind wechselseitig miteinander verbunden und bilden einen lebendigen Kosmos. Hat man dies einmal begriffen, dann kann man die angemessene Rolle des Verstandes festlegen. Nach dieser Sichtweise ist Lewins Sensibilität einzigartig. Im Grase auf dem Rücken liegend und den wolkenlosen Himmel betrachtend, denkt Lewin: „Weiß ich denn nicht, dass dieser Himmel ein unendlicher Raum und kein begrenztes kreisrundes Gewölbe ist? Aber ich kann meine Augen zusammenkneifen und meine Sehkraft bis zum äußersten anstrengen – immer wird mir der Himmel rund und begrenzt erscheinen, und trotz meines Wissens um den endlosen Raum habe ich doch unbestreitbar Recht, wenn ich ein fest umrissenes blaues Gewölbe sehe, ja noch mehr Recht, als wenn ich alle meine Kräfte zusammennehmen und darüber hinausblicken könnte.“ 8 Lewin kehrt nicht zur primitiven Astronomie zurück. Er bringt durch seinen fein geschliffenen und subtilen Geist eine weitsichtige Kritik der Moderne zum Ausdruck. Lewin nimmt das Universum nicht als ein ödes Gebiet wahr, beherrscht von klarem Rationalismus. Für ihn ist es voll pulsierenden Lebens, mit all der menschlichen Wärme, die aus Freude und Trost, Liebe und Hingabe, Mitleid und Sympathie entsteht. Tolstois Beharren auf der Universalität ist besonders relevant für die Probleme der heutigen Menschheit. Es fordert die Engstirnigkeit jedes ausgeprägten ethnischen Bewusstseins heraus, eine der Hauptursachen für Konflikte innerhalb von Nationen und zwischen diesen. Lewin gießt kaltes Wasser auf die selbstzerstörerische ethnische Leidenschaft, die den serbisch-türkischen Krieg als heroisch erscheinen ließ: „Aber man opfert sich nicht bloß, sondern schlägt die Türken tot […]. Das Volk bringt Opfer, es ist dazu um seines Seelenheils willen bereit; aber es ist nicht bereit zu morden.“ 9 Ohne einen universellen Geist wie Tolstoi werden wir niemals das Heraufziehen eines neuen Zeitalters der Humanität und der Globalisierung erblicken. Der „russische Geist“, von dem Dostojewski (1821–1881) sprach, hat Anteil an

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dieser Universalität. Beide sind empfänglich für humanistische Ziele und beide spiegeln den Glauben wider, dass alle Menschen in Harmonie leben können und sollten. Das Streben nach wahrem Glück ist vergebens, wenn es nicht in diesem Geiste geschieht. Ich glaube, dass das Leben nur dann wahrhaft erfüllend sein kann, wenn man selbstlos für das Wohl der anderen arbeitet. Gleichzeitig kann auch der innere Frieden nur erlangt werden, wenn man sein Bewusstsein erweitert und das „geringere Selbst“ von den Fallstricken des Egoismus befreit, um das „größere Selbst“ aufzuwecken, was eins sein wird mit dem Leben des ganzen Universums.

„Revitalisierung“ und „Selbst-Erneuerung“ Die Vorstellung der „Revitalisierung“ bezieht sich auf die Entfaltung der schöpferischen Dynamik des Lebens, die es uns ermöglicht, jeden Tag neu geboren zu werden und die einen Menschen davon abhält, still zu stehen und unbeweglich zu werden. „Alles ist Veränderung“, wie der antike griechische Philosoph Heraklit (ca. 540–480) sagte. 10 Der Buddhismus lehrt zudem, dass nichts auch nur einen Augenblick im selben Zustand verharrt. Der härteste Stein wird am Ende zu Staub zermahlen sein; alles muss am Ende zerstört werden. Vor allem die menschliche Gesellschaft verändert sich ständig. Das Geheimnis der Revitalisierung besteht darin, die Hülle der Trägheit zu durchbrechen, worin wir so bequem in der Gegenwart zu verweilen suchen. Stattdessen müssen wir sorgsam auf den Rhythmus der Veränderung hören, der tief innen schlägt. Die buddhistische Philosophie Nichirens lehrt, dass man durch „das Durchleben des Kreislaufs von Geburt und Tod den Weg in das Land der Dharma-Natur findet, der Erleuchtung, die dem eigenen Selbst innewohnt“. 11 Mit dieser Feststellung meint er, dass die Fähigkeit der steten Verjüngung für alle Zeiten in uns wohnt. Eine solche Revitalisierung ist eine andere Bezeichnung für Selbst-Erneuerung. Die Selbst-Erneuerung, die Nichiren beschreibt, ist für den religiösen Glauben wesentlich. Ohne sie wird der Glaube anfällig für Dogmatismus. Lewin denkt über die Manifestierung des Göttlichen nach, die er in sich spürt. Er nimmt es wahr als höchstes Glück und fragt: „Warum beschränkt sie sich [die Offenbarung] auf die christliche Kirche? […] die Juden, die Mohammedaner, die Konfuzianer, die Buddhisten – wie steht es mit denen?“ 12 Lewins Frage ist eine, der man nicht ausweichen darf, andernfalls wird Religion in Fanatismus verfallen. Zweifel dieser Art sind Ausdruck für die innere

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Kraft, die das Selbst Tag für Tag durch den Prozess der Selbst-Reflexion neu erschafft. Sie sind der Quell der Demut und Geistesgröße, welche seit alters her den Kern des ethischen Verhaltens ausmachen. Wenn Religion den Prozess der Selbst-Reflexion ignoriert, riskiert sie, tyrannisch und arrogant zu werden, und allzu oft liefert sie dann Menschen den Grund, einander Schaden zuzufügen. Die fundamentale Ordnung im Universum liefert den Grund, auf dem ein Mensch sein Leben bauen kann. Sie fördert inneres Vertrauen und Gelassenheit zutage. Doch der Ausblick, den sie bietet, muss durch jene Art von ständiger Innenschau gefestigt werden, wie sie Lewin demonstriert – nur so bleibt sie eine lebendige, schöpferische Kraft. Anders betrachtet: Die Wahrnehmung von einer universellen Ordnung, die keine ethischen Werte wie Demut und Großzügigkeit hervorbringt, muss als falsch und trügerisch erkannt werden. Ein erhabener menschlicher Charakter kann nur dann entstehen, wenn das Bewusstsein von der fundamentalen Ordnung Hand in Hand geht mit dem Prozess der Selbst-Erneuerung. Daher gilt: Je stärker man ist, desto bescheidener wird man; je sicherer man seiner Überzeugungen ist, desto großzügiger wird man. Die wahre Mission der Religion besteht darin, die Charakterbildung zu fördern und die Menschen zu ermutigen, Meister des eigenen Selbst sein zu wollen. Daher legen buddhistische Schriften so viel Gewicht auf die Selbst-Reflexion und fordern uns auf, Motivation aus dem eigenen inneren Bewusstsein zu ziehen. Tatsächlich war das wichtigste Ziel in Shakyamunis Leben, den vollkommenen und edlen, innerlich motivierten Charakter zu kultivieren. Diesem Zweck war seine Übung geweiht.

Ein humanistischer Wettbewerb In unserem Streben nach globaler Einheit wird der Bildungs- und Kulturaustausch über die Grenzen von Religion, Rasse und Nationalität hinweg immer wichtiger. Wettbewerb, einmal konstruktiv betrachtet, regt den Fortschritt an. Daher lässt sich meiner Meinung nach die Einheit der Welt und der Frieden am besten erreichen, wenn alle Nationen auf jenen Gebieten miteinander wetteifern, die wahrhaftig Charakter ausbilden. Anstatt sich in den Wettbewerb zu stürzen, wer die größte militärische Stärke hat, sollten die Länder beispielsweise darin wetteifern, starke „Weltbürger“ hervorzubringen. Der Gründer und erste Präsident von Soka Gakkai, Tsunesaburo Makiguchi (1871–1944), bekämpfte den Militarismus Japans und starb im Alter von 73 Jahren im Gefängnis. Er begann seine Arbeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts und bestand darauf, dass die menschliche Rasse sich nicht länger in militärischem,

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politischem und wirtschaftlichem Wettbewerb verstricken, sondern stattdessen ein Klima fördern sollte, in dem die Gesellschaften um den Humanismus wetteifern. Ich hoffe, dass die Studenten der Moskauer Universität einmal zu Vorkämpfern in diesem humanistischen Wettbewerb des 21. Jahrhunderts werden. In dieser Rede habe ich mich auf buddhistische Weisheit bezogen und auf die Werke von Tolstoi, als ich die Art und Weise skizzierte, auf die wir die Meisterung des Selbst erlangen können. Es liegt nun an uns, in Zukunft das Chaos in Harmonie zu verwandeln. Religion, Philosophie, Kultur und Politik müssen sich allesamt auf diesen Versuch konzentrieren. Ich hoffe, alle Menschen mit ähnlichen Überzeugungen werden ihre Kräfte mit mir vereinen – auf unserer gemeinsamen Reise auf dieser Straße der Erneuerung. Ich möchte mit einem schönen Gedicht aus Russland schließen, dem Land der Dichtung: Am offenen Himmel sei mutig! / In der Freude erwache zu deiner Mission. / Sieh! Der Sonne Strahlen / färben den Himmel einen Augenblick golden / und sind im nächsten verborgen in Wolkenfetzen. / Der Silbermond gleitet, / die Schönheit des Frühlings schießt auf in den Wiesen. / Die Rosenknospe schwillt, / ein klarer Strom fließt im Tal. / Die Trauben scheinen auf dem Hügel, / und goldener Weizen wogt auf den Feldern. / In der Stille ist das Seufzen des Windes Atem. / Das alles ist dein. / Mit Freuden pflücke die Blumen des Lebens. / Friedlich nimm an den Segen des Himmels. / Unsere Welt ist kein Jammertal. / Mein Freund! Sei glücklich! / Verliere nicht deinen Weg. / Vergiss nie den Quell der täglichen Vergnügen des Lebens. / Respektiere Wahrheit und Gesetz. / Tue anderen Gutes. / Dann wirst du alle Unbeständigkeit hinter dir lassen, ohne Furcht, / und dann, im Dunkeln wirst du der Dämmerung vertrauen.“ 13

Dieses Puschkin zugeschriebene Gedicht versichert uns: Je tiefer die Dunkelheit, desto näher ist die Dämmerung. Solange die Hoffnung existiert, wird das Glück scheinen. Gemeinsam wollen wir voll Zuversicht und Hoffnung dem Heraufziehen einer neuen Zivilisation entgegensehen.

Gedanken zur Erziehung von Weltbürgern* Mein eigenes Interesse an Erziehung geht auf Erfahrungen während des Zweiten Weltkriegs zurück. Meine vier älteren Brüder waren vom Militär einberufen worden. Der älteste starb bei einem Einsatz in Burma. Nach Kriegsende kehrten die drei anderen Brüder einer nach dem anderen aus China zurück. In ihren zerlumpten Uniformen boten sie einen erbärmlichen Anblick. Meine Eltern waren damals schon alt, sodass mir der Schmerz meines Vaters und die Trauer meiner Mutter das Herz zerrissen. Nie werde ich den Ekel und die Wut meines ältesten Bruders vergessen, als er uns während seines Heimaturlaubes von den unmenschlichen Gräueltaten des japanischen Militärs in China berichtete, die er mit eigenen Augen gesehen hatte. Ich entwickelte einen tiefen Hass auf den Krieg, seine Grausamkeit, seinen Wahnsinn, seine Vergeudung. Im Jahr 1947 begegnete ich Josei Toda, einem hervorragenden Pädagogen. Toda war während des Krieges zusammen mit seinem Mentor, Tsunesaburo Makiguchi, inhaftiert worden, weil sie sich den Invasionskriegen der japanischen Militärregierung widersetzt hatten. Makiguchi starb noch im Gefängnis, Toda hingegen überlebte die Torturen seines zweijährigen Gefängnisaufenthaltes. Als ich mit 19 Jahren davon erfuhr, wusste ich intuitiv, dass ich diesem Menschen vertrauen konnte. Dafür sprach ganz eindeutig sein Verhalten. Ich beschloss, ihm als Schüler zu folgen. Toda plädierte sehr konsequent und leidenschaftlich für einen Weg, wie die Menschheit den Krieg überwinden könne: Die künftigen Generationen müssten so unterstützt und gefördert werden, dass sie vom tiefen Respekt für die Heiligkeit des Lebens geradezu durchdrungen sind. Aus diesem Grund stand für Toda die Erziehung junger Menschen an vorderster Stelle. Erziehung und Bildung sind ein einzigartiges, menschliches Privileg. Sie sind eine Quelle der Inspiration. Sie ermöglichen uns, vollständig und wahrhaftig menschlich zu werden, um gelassen und zuversichtlich eine nutzbringende Lebensaufgabe zu erfüllen. Die Massenvernichtungswaffen markieren den Endpunkt einer Entwicklung, *

Vortrag Daisaku Ikedas am Teachers College, Columbia University, New York, USA, 13. Juni 1996.

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in der sich Wissen völlig von den Belangen der Menschen losgelöst hat. Auf der anderen Seite hat der Erwerb von Wissen den Menschen aber auch ein komfortableres Leben ermöglicht und Produktivität und Wohlstand in die Gesellschaft gebracht. In Anbetracht dieses Widerspruchs müssen Bildung und Erziehung vor allem gewährleisten, dass Wissen dem menschlichen Glück und dem Frieden zu dienen hat und die treibende Kraft für eine sich ewig entfaltende Suche nach Menschlichkeit ist. Erziehung ist aus diesem Grund für mich zum letzten und entscheidenden Vorhaben meines Lebens geworden. Ich stimme mit Präsident Levine in dem Punkt völlig überein: Erziehung mag vielleicht das langsamste Mittel sein, das zu sozialem Wandel führt, aber es ist letztendlich auch das einzige Mittel. Die globale Gesellschaft steht heute vor zahllosen, ineinandergreifenden Krisen. Dazu gehören kriegerische Auseinandersetzungen, Umweltzerstörung, Probleme des wirtschaftlichen Nord-Süd-Gefälles und Konflikte zwischen den Völkern aufgrund ethnischer, religiöser und sprachlicher Unterschiede. Die Liste all dieser Probleme ist lang und allen vertraut. Der Weg, der zu Lösungen führen könnte, ist entmutigend lang. Die Wurzel der oben genannten Probleme liegt jedoch meiner Meinung nach in unserem kollektiven Versagen, den Menschen, beziehungsweise das menschliche Glück konsequent zum Ziel unseres gesamten Strebens zu machen. Der Mensch selbst ist der Punkt, zu dem wir einerseits zurückkehren, von dem wir aber auch wieder aufbrechen müssen. Wir müssen uns transformieren, uns menschlich revolutionieren. Im Denken von Makiguchi und Dewey finden sich viele Gemeinsamkeiten. Beide waren zutiefst davon überzeugt, dass neue Wege für eine Erziehung erforderlich seien, die den Menschen in den Mittelpunkt stellen. Dewey drückte dies folgendermaßen aus: „Alles, was spürbar menschlich ist, ist gelernt.“ 1 Dewey und Makiguchi waren Zeitgenossen. Auf den entgegengesetzten Seiten der Welt rangen sie inmitten der Probleme und sozialen Verwerfungen ihrer erst vor kurzem ins Industriezeitalter eingetretenen Gesellschaften mit der Aufgabe, einen Weg in eine hoffnungsvolle Zukunft zu bahnen. Durch Deweys Ideen beeinflusst, erklärte Makiguchi, das Ziel der Erziehung sei das lebenslange Glück des Lernenden. Ferner war er davon überzeugt, dass wahres Glück in einem werteschaffenden Leben zu finden sei. Einfach gesagt bedeutet die Erschaffung von Werten, den Sinn des eigenen Lebens zu finden, um damit die eigene Existenz zu verbessern und unter allen Umständen zum Wohl der anderen beizutragen. Makiguchis Philosophie der Werteschaffung entwickelte sich aus seinen tiefen Einsichten in die Gesetzmäßigkeiten des Lebens, die ihm das Studium der buddhistischen Philosophie ermöglichten.

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Sowohl Dewey als auch Makiguchi blickten über nationale Grenzen hinweg auf neue Horizonte der menschlichen Gemeinschaft. Beide, so könnte man sagen, hatten eine Vision von Weltbürgertum, eine Vision von Menschen, die in der Lage sind, auf globaler Ebene Werte zu erschaffen.

Was sind dann die Voraussetzungen für ein solches Weltbürgertum? In den letzten Jahrzehnten hatte ich das Privileg, mich mit vielen Menschen aus allen Bereichen des Lebens auszutauschen. Meine Gedanken kreisten immer wieder um das Weltbürgertum, und was einen Weltbürger ausmacht. Ich habe viele Freunde, die man durchaus als normale Bürger bezeichnen könnte. Doch das, was sie auszeichnet, ist eine Art innerer Adel. Die meisten von ihnen sind noch nie weit gereist. Dennoch sorgen sie sich aufrichtig um den Frieden und den Wohlstand in der Welt. Weltbürgerschaft wird also nicht ausschließlich durch die Anzahl der Sprachen bestimmt, die man beherrscht oder dadurch, wie viele Länder man bereist hat. Die grundlegenden Elemente des Weltbürgertums sind aus meiner Sicht:  die Weisheit, die Verbundenheit allen Lebens wahrzunehmen  der Mut, Unterschiede weder zu fürchten noch zu leugnen; vielmehr gilt es, Angehörige verschiedener Kulturkreise zu respektieren, sie zu verstehen und durch Begegnungen mit ihnen menschlich zu wachsen  ein so großes Mitgefühl, das über die eigene unmittelbare Umgebung hinausreicht und sogar in der Lage ist, sich mit Menschen zu identifizieren, die auch fernab von uns großes Leid erfahren Die allumfassenden Wechselbeziehungen, die den Kern der buddhistischen Weltsicht ausmachen, können, denke ich, die Grundlage für die konkrete Umsetzung der oben genannten Qualitäten von Weisheit, Mut und Mitgefühl bilden. Das folgende Gleichnis aus dem buddhistischen Kanon bietet eine schöne Metapher für die Wechselbeziehung und die gegenseitige Verflechtung aller Phänomene. Über dem Palast von Indra, dem altindischen Schöpfer- und Fruchtbarkeitsgott, befindet sich ein riesiges Netz. An jedem Knotenpunkt dieses Netzes ist ein funkelnder Juwel befestigt. Blickt man in einen dieser Juwelen, spiegeln sich alle anderen darin wider. Alle Juwelen zusammen lassen das Netz in seiner Gesamtheit erstrahlen. Wenn wir begreifen, was Thoreau mit der „unendlichen Ausdehnung unserer Beziehungen“ 2 meint, dann erfassen wir, wie sich Leben gegenseitig unterstützt, welche unsichtbaren Fäden zwischen allem Leben gespannt sind. Wir können die

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glitzernden Juwelen unserer globalen Nachbarn entdecken. Der Buddhismus strebt danach, jene Weisheit zu kultivieren, die auf dieser mitfühlenden Resonanz aller Lebensformen basiert. Aus buddhistischer Sicht sind Weisheit und Mitgefühl eng miteinander verbunden, sie verstärken sich gegenseitig. Mitgefühl im Buddhismus bedeutet nicht, unsere natürlichen Gefühle, Vorlieben und Abneigungen zu unterdrücken. Vielmehr lässt uns Mitgefühl erkennen, dass sogar uns unsympathische Menschen Qualitäten haben, die unser Leben tragen und uns ermöglichen, unsere eigene Menschlichkeit zur Blüte zu bringen. Weiterhin erfüllt uns der Wunsch, wie man etwas zum Wohle anderer beitragen kann, mit grenzenloser Weisheit. Der Buddhismus lehrt, dass Gutes und Böses in jedem Menschen gleichermaßen vorhanden sind. Mitgefühl besteht darin, mutig das Gute in einem Menschen zu suchen, egal wer er ist und wie er sich verhält. Mitgefühl bedeutet, immer danach zu streben, die positiven Eigenschaften in sich und in anderen zu kultivieren. Solch ein Engagement erfordert allerdings auch Mut. Bringt man diesen Mut nicht auf, ist Mitgefühl nichts weiter als ein Gefühl. Im Buddhismus nennt man eine Person, die diese Qualitäten von Mut, Weisheit und Mitgefühl verkörpert und ständig für das Glück anderer kämpft, einen „Bodhisattva“. Man könnte also sagen, dass ein Bodhisattva von jeher der Wegbereiter und das moderne Beispiel eines Weltbürgers ist. Im buddhistischen Kanon findet sich die Geschichte von Srimala, einer Laien-Gläubigen, die zur Zeit Shakyamunis lebte. Sie lehrte andere, dass die Ausübung des Bodhisattva darin bestehe, mit geradezu mütterlicher Fürsorge das höchste Potenzial in allen Menschen hervorzurufen. Ihr Gelübde ist wie folgt überliefert: „Wenn ich einsame Menschen sehe, Menschen, die zu Unrecht eingesperrt wurden und ihre Freiheit verloren, Menschen, die Krankheit, Katastrophen oder Armut erleiden: Ich werde sie nicht im Stich lassen. Ich werde ihnen geistigen und materiellen Trost spenden.“ 3 Konkret tat sie Folgendes:  sie ermutigte andere durch ihre Güte und Fürsorge und durch den freundlichen Umgang in Worten (sanskrit priyavacana)  sie gab Almosen oder versorgte Menschen mit dem, was sie brauchten (skt. dana)  sie ergriff Maßnahmen für gemeinsame konstruktive Aktivitäten (skt. arthacarya)  sie bemühte sich um Gleichheit durch gemeinsames Essen, Wohnen usw. unabhängig von der Kaste oder Klasse (skt. samanartha)

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Durch diese Bemühungen versuchte sie, die positiven Aspekte der Menschen zum Vorschein zu bringen. Die Ausübung des Bodhisattva wird von dem tiefen Glauben an die innewohnende Güte des Menschen getragen. Wissen hat die Aufgabe, dieses kreative und positive Potenzial freizusetzen. Diese Entschlossenheit ist vergleichbar mit der Fähigkeit, die präzise funktionierenden Instrumente eines Flugzeuges zu nutzen, um sicher und unfallfrei ein Ziel zu erreichen. In diesem Zusammenhang ist unser Scharfsinn wichtig, um das Böse, welches Zerstörung und Trennung verursacht, als gleichberechtigten Teil der menschlichen Natur zu erkennen. Die Ausübung des Bodhisattva ist eine furchtlose Auseinandersetzung mit dem, was der Buddhismus als die fundamentale Dunkelheit des Lebens bezeichnet. 4 „Güte“ hingegen bewegt uns zu einem harmonischen Zusammenleben mit anderen, zu Empathie und Solidarität. Die Natur des Bösen aber versucht zu trennen: Menschen von Menschen, die Menschheit vom Rest der Natur. Die Pathologie des Trennenden treibt die Menschen dazu, entgegen aller Vernunft an Unterschieden festzuhalten, und macht uns blind für die Gemeinsamkeiten, die wir als Menschen teilen. Dieses Phänomen beschränkt sich nicht nur auf einzelne Personen, sondern es bildet das tiefenpsychologische Fundament eines kollektiven Egoismus, der seine zerstörerischsten Ausdrucksformen in einem vergifteten Ethnozentrismus und Nationalismus findet. Es ist ein innerer Kampf, sich über solche Formen des Egoismus zu erheben und stattdessen in einem Geist zu leben, der das große Ganze besser erkennen und mehr zu ihm beitragen will. Dieser Kampf bildet den Kern der BodhisattvaAusübung. Erziehung sollte auf dem gleichen altruistischen Geist wie dem des Bodhisattva beruhen. Die Aufgabe derer, die so eine Erziehung genießen durften, sollte darin bestehen, dem Leben jener Menschen unmerklich zu dienen, die eine solche Chance nicht hatten. Bisweilen richtet sich der Fokus von Erziehung und Bildung zu stark auf Rang und Titel und auf das Ansehen, das damit verbunden ist. Erziehung hat jedoch in erster Linie die Funktion, eine geistige Haltung zu entwickeln, die es uns ermöglicht, das Leben anderer wertzuschätzen und zu bereichern. Erziehung sollte uns den jeweiligen Anstoß liefern, unsere Schwächen zu überwinden, sie sollte uns inmitten der harten Realität der Gesellschaft zu innerem Wachstum führen und neue Siege für die Zukunft der Menschheit hervorbringen. Die Arbeit, Weltbürger heranzubilden, die konzeptionellen und ethischen Fundamente eines Weltbürgertums zu legen, betrifft uns alle. Wir alle sind Teilnehmer dieses wichtigen Projekts und tragen gemeinsam die Verantwortung für

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sein Gelingen. Um nachhaltig zu sein, sollte die Erziehung zum Weltbürgertum als integraler Bestandteil unseres täglichen Lebens in unseren Gemeinden stattfinden. Wie zuvor Dewey konzentrierte sich auch Makiguchi auf die lokale Gemeinschaft als Ort, an dem Weltbürger herangebildet werden. Im Jahr 1903 erschien sein Werk The Geography of Human Life. In dieser bahnbrechenden Schrift der Sozialökologie betonte Makiguchi die Bedeutung der Gemeinde als Ort des Lernens. So schrieb Makiguchi: „Die Gemeinde ist, kurz gesagt, die Welt im Kleinen. Wenn wir Kinder ermutigen, die komplexen Zusammenhänge zwischen den Menschen und dem Land, zwischen Natur und Gesellschaft zu beobachten, dann werden sie die Gegebenheiten ihres Zuhauses, ihrer Schule und ihres Wohnortes erfassen und die Welt darüber hinaus verstehen.“ 5 Dies stimmt mit Deweys Beobachtung überein: Diejenigen, die diese Erfahrungen, das Verständnis für Nachbarschaft und Nachbarn zu vertiefen, nicht gemacht haben, werden außerstande sein, auch im Hinblick auf Menschen in entfernten Ländern zu handeln. 6 Unser Alltag bietet alle möglichen Gelegenheiten, uns im Zusammenspiel mit anderen Menschen zu entwickeln. Jede einzelne unserer Interaktionen mit anderen, ob im Dialog, Austausch oder in der Anteilnahme, ist ein unschätzbarer Anlass, um Werte zu erschaffen. Wir lernen von Menschen – weshalb die Menschlichkeit des Lehrers auch den Kern der pädagogischen Erfahrung verkörpert. Die humanistische Erziehung, also eine Erziehung, die zur Charakterbildung beiträgt, sei, so Makiguchi, eine transzendente Fertigkeit, die man auch als Kunstfertigkeit bezeichnen könne. Makiguchi machte seine ersten Erfahrungen als Lehrer in einer abgelegenen ländlichen Gegend Japans. Dort unterrichtete er in einer Art Einzimmerschulhaus. Die Kinder waren arm – ihre ärmlichen Familienverhältnissen hatten raue Manieren hervorgebracht. Makiguchi verteidigte sie mit den Worten: „Sie sind alle gleichermaßen Schüler. Welch einen Unterschied könnte es aus dem Blickwinkel der Erziehung zwischen ihnen und anderen Schülern geben? Auch wenn sie dreckig und schmutzig sind, der bewundernswerte Kampf ums Überleben strahlt durch ihre verschmutzte Kleidung. Warum macht niemand den Versuch, dies zu erkennen? Nur der Lehrer allein steht zwischen ihnen und der grausamen Diskriminierung durch die Gesellschaft. 7 Der Lehrer ist das wichtigste Element im pädagogischen Umfeld, so Makiguchi. Diese Überzeugung bestimmt nach wie vor den Geist der Soka-Erziehung.

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An anderer Stelle schreibt er: „Lehrer sollten von ihrem Thron herabsteigen, auf dem sie sich als Ziel der Verehrung niedergelassen haben. Sie sollen Staatsdiener werden und diejenigen begleiten, die den Thron des Lernens besteigen wollen. Sie sollten keine Meister sein, die sich als Vorbilder anbieten, sondern Partner bei der Entdeckung neuer Modelle.“ 8 Was Schule ausmacht, ist in erster Linie ein Lehrer, der sich der Aufgabe widmet, dem Schüler zu dienen. Vor kurzem kam mir folgende Ansicht eines Erziehers zu Ohren: „Das Leben der Schüler ändert sich nicht durch Vorträge, sondern durch Menschen. Daher sind die Interaktionen zwischen Schülern und Lehrern von größter Bedeutung.“ Was mich betrifft, habe ich meine Ausbildung durch Josei Toda, meinem Mentor, erhalten. Etwa zehn Jahre lang unterrichtete er mich jeden Morgen vor der Arbeit in Geschichte, Literatur, Philosophie, Wirtschaft, Naturwissenschaften und Organisationstheorie. Sonntags begann der Einzelunterricht morgens und dauerte den ganzen Tag. Er stellte mir ständig Fragen, oder besser ausgedrückt, er fragte mich über meine Lektüre aus. Vieles eignete ich mir durch sein Vorbild an. So behielt er ein Leben lang sein leidenschaftliches Engagement für den Frieden bei, ein Engagement, das auch während seiner Gefangenschaft ungebrochen blieb. Von dieser Haltung und seinem tiefen Mitgefühl, das charakteristisch für all seine Interaktionen war, lernte ich am meisten. 98 Prozent dessen, was mich heute ausmacht, hat er mir beigebracht. Das Soka- oder werteschaffende Erziehungssystem wurde aus dem Wunsch heraus gegründet, zukünftigen Generationen die Gelegenheit zu geben, die gleiche Art humanistischer Ausbildung zu erfahren. Es ist meine größte Hoffnung, dass die Absolventen der Soka-Schulen Weltbürger werden, die die Geschichte für die Menschheit neu schreiben. Die Handlungen solcher Bürger können nur dann wirkungsvoll sein, wenn sie koordiniert werden. In dieser Hinsicht können wir das wichtige Potenzial der Vereinten Nationen nicht ignorieren. Wir haben eine Ebene erreicht, auf der die Vereinten Nationen nicht nur versuchen, zentral die „Handlungen der Nationen“ zu harmonisieren 9, sie spielen auch eine zentrale Rolle bei der Erschaffung von Werten durch die Erziehung von Weltbürgern, welche ihrerseits eine friedliche Welt schaffen können. Haben bisher nationalstaatliche Interessen die Debatten der Weltorganisation dominiert, so hat sich nun zunehmend die Energie von „Wir, das Volk …“ bemerkbar gemacht, womit hauptsächlich die Aktivitäten der Nichtregierungsorganisationen (NGO) gemeint sind. In den letzten Jahren hat der globale Diskurs zu solch kritischen Themen wie

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Umweltschutz, Menschenrechte, Ureinwohner, Frauen und Bevölkerungswachstum unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen stattgefunden. In Abstimmung mit den laufenden Bemühungen der Vereinten Nationen in dieser Richtung hoffe ich, dass diese Themen als integraler Bestandteil der Erziehung auf allen Ebenen eingebunden werden. Zum Beispiel:  Friedenserziehung; junge Menschen sollen zur Verankerung der Praxis der Gewaltlosigkeit über die Grausamkeit und den Wahnsinn des Krieges lernen  Umwelterziehung, zur Auseinandersetzung mit den aktuellen ökologischen Realitäten und zum Schutz der Umwelt  entwicklungspsychologische Bildung, welche die Aufmerksamkeit auf Fragen der Armut und globaler Gerechtigkeit richtet  Menschenrechtserziehung, um das Bewusstsein zu wecken für Gleichheit und Würde Es ist seit langem meine Überzeugung, dass Erziehung und Bildung nie politischen Interessen unterworfen werden dürfen. Deswegen sollte dem Bildungswesen innerhalb der staatlichen Gewaltenteilung ein ähnlicher Status verliehen werden, wie ihn die Legislative, Exekutive und Judikative genießen. Dieser Vorschlag entspringt den Erfahrungen meiner Vorgänger, den beiden ersten Präsidenten der Soka Gakkai. Sie haben konsequent dagegen gekämpft, dass der Erziehungs- und Bildungsbereich der politischen Kontrolle unterliegt. Ich hoffe, dass wir in den kommenden Jahren einen Weltgipfel realisieren können, an dem nicht nur Politiker, sondern auch Pädagogen teilnehmen können, denn nichts ist wichtiger für die Zukunft der Menschheit als die transnationale Solidarität der Pädagogen. Zu diesem Zweck sind wir entschlossen, den pädagogischen Austausch von jungen Leuten zu fördern. Makiguchi stellte fest: „Pädagogische Bemühungen, die auf einem klaren Verständnis und einer klar definierte Zielsetzung basieren, haben die Macht, die Widersprüche und Zweifel, die Pest der Menschheit, zu überwinden und zu einem ewigen Sieg für die Menschlichkeit zu führen.“ 10

Teil II: Kultur – Dimensionen und Wirkungen

Geschichte machen* Spiegel und Quelle des Lichts Wenige Länder können mit China gleichziehen, was die Tiefe seines Geschichtsbewusstseins betrifft. Indien legt beispielsweise einen relativen Mangel an Interesse für dieses Thema an den Tag. Die Chinesen aber waren immer schon fast fanatisch bei ihren Bemühungen, historische Ereignisse zu beachten und aufzuzeichnen. Die umfangreiche Literatur, die daraus resultierte, wird mit der kräftigen Formulierung Hanniu Chongdong treffend umschrieben; diese Formulierung bedeutet so viele Bücher, dass sie „die Ochsen schwitzen machen, die sie transportieren, und das Haus, in dem sie aufbewahrt werden, füllen bis zum Dachfirst“. Über all die Jahrhunderte hat das chinesische Volk zwei Sprichworte in Ehren gehalten: „Studiere das Alte, um das Neue zu begreifen“ und „Borge beim Altertum, um das Gegenwärtige zu erklären“. Gemeinsam drücken diese beiden Sprichworte die traditionelle Überzeugung aus, dass Geschichte ein Spiegel ist, der die Gegenwart reflektiert: ein Leuchtturm, der unsere Zeit erhellt. Obgleich ich wenig darüber weiß, welche Weltsicht gegenwärtig in China vorherrscht, haben sich seit der Chinesischen Revolution wohl alle gesellschaftlichen Bereiche auf die Rolle des gewöhnlichen Volkes konzentriert. Der verstorbene Vorsitzende Mao sagte einst, dass „das Volk und nur das Volk die bewegende Kraft ist, die die Geschichte erschafft“. Diese Worte stehen für ein Geschichtsverständnis, das den gewöhnlichen Menschen und seine Interessen ins Zentrum rückt. Eine derartige Sichtweise stellt einen klaren Bruch mit dem tradierten, von Konfuzius inspirierten Geschichtsverständnis dar, die sich auf die Rolle des Herrschers konzentrierte und deren höchste Ideale durch Yao, Shun und andere mythische weise Herrscher des Altertums verkörpert wurden. Wie auch immer man über das konfuzianische Geschichtsverständnis urteilt – es ist zutiefst in mehrere Jahrtausende chinesischer Tradition eingewoben und lässt sich folglich nicht so leicht aus den Angeln heben. Zweifellos ist das der Grund, weshalb der moderne chinesische Schriftsteller Lu Xun, für den ein solches Geschichtsverständnis Kannibalismus war, es für wichtig hielt, dass die *

Rede Daisaku Ikedas an der Universität in Fudan, China, 9. Juni 1984.

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Teil II: Kultur – Dimensionen und Wirkungen

Menschen eine Revolution ihres Denkens durchmachten. Auch wenn er erkannte, wie schwierig dies zu erreichen sei, war Lu Xun dennoch überzeugt davon, dass die Menschen sich von alten Denkweisen befreien mussten. Geschichte wurde traditionell zutiefst respektiert; die historische Erfahrung wurde als Spiegel und als Quelle des Lichts empfunden, das die Gegenwart erhellt und in die Zukunft führt. Ich bin der Überzeugung, dass dieses positive Erbe im heutigen China noch immer sehr lebendig ist. So benutzen die Chinesen in ihren Reden und Schriften oft Zitate aus der klassischen Literatur. Geschichte scheint eine mächtige Bedeutung zu besitzen und in der Gegenwart eine lebendige Realität zu sein. Die chinesische Sichtweise auf die Geschichte ist ganz anders als die, die in Europa seit dem 18. Jahrhundert vorherrscht. In Europa hat vor allem der Einfluss des Historismus im 19. Jahrhundert die Unterschiede beider Sichtweisen herausgestellt. Sicherlich hat der Historismus seine eigenen Beiträge geleistet, indem er Objektivität und die Notwendigkeit betonte, Behauptungen und Theorien mit Tatsachen zu belegen. Ein noch wichtigerer Effekt dieser Annäherungsweise ist indes die Objektivierung der Geschichte selbst gewesen. In einer Schule der Geschichtsschreibung herrschte die Ansicht, Geschichte sei ihren eigenen Gesetzen unterworfen, ihre lebendigen Wechselbeziehungen mit den Menschen hat man aber davon getrennt.

Solidarität der Weltbürgerschaft Friedrich Nietzsche, der die Krise der modernen europäischen Kultur so klar voraussah, sagte: „Wir brauchen sie [die Historie] zum Leben und zur Tat, nicht zur bequemen Abkehr vom Leben und von der Tat, oder gar zur Beschönigung des selbstsüchtigen Lebens und der feigen und schlechten Tat.“ 1 Ich glaube, wir können in dieser Aussage das Wort „Leben“ durch den Begriff „Mensch“ ersetzen. Sein ganzes Leben lang kämpfte Nietzsche gegen die Unterwanderung der Werte beim Blick auf die Geschichte, der keine Rücksicht auf den Menschen nahm, auch wenn er die treibende Kraft innerhalb der historischen Entwicklung ist. Im Gegensatz dazu haben die Chinesen traditionell die Geschichte als Hilfe bei der Erschaffung eines besseren Heute und Morgen gesehen, als Nahrung für das Leben und den Menschen. Die chinesische Geschichts-Auffassung wird vielleicht am besten durch das Werk des alten Historikers Sima Qian symbolisiert. Statt Geschichte als kalten, unpersönlichen Prozess zu erkennen, der eigenen Gesetzen unterworfen ist, näherten Sima Qian und andere sich ihr mit leidenschaftlicher Subjektivität und moralischem Anspruch. Sie suchten nach Unterweisung, wie die Menschen am besten leben sollten.

Geschichte machen

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In einem berühmten Abschnitt aus seinem umfangreichen Werk kommentiert Sima Qian die Beziehung zwischen Literatur und menschlichem Leid. Es ist ein Abschnitt, der mich stets aufs Neue bewegt und mir Mut macht: „Einst, als King Wen, Oberhaupt des Westens, in Youli eingekerkert war, verbrachte er seine Zeit damit, in das Buch der Veränderungen einzudringen. Konfuzius war zwischen Chen und Cai in Bedrängnis und schrieb Frühling und Herbst des Lu Buwei. Als Qu Yuan verbannt wurde, schrieb er sein Gedicht „Begegnung mit der Sorge“. Nachdem Zuo Qui sein Augenlicht verlor, verfasste er die Erzählungen aus den Staaten. Als Sunzi sein Fuß amputiert wurde, legte er die Kunst des Krieges dar. Lu Buwei wurde nach Shu verbannt, doch sein Lü-lan wurde durch die Zeiten hindurch weitergereicht. Als Han Feizi in Qin gefangen gehalten wurde, schrieb er Die Schwierigkeiten des Streitgesprächs und Die Sorge, alleine zu stehen. Die meisten der dreihundert Gedichte im Buch der Oden wurden geschrieben, als die Weisen und Ehrwürdigen ihre Wut und Unzufriedenheit vorbrachten.“ 2 Sima Qian führte diese geschichtlichen und literarischen Werke an, um die Rolle von Leid und Verfolgung bei der Entstehung großer Schriften zu zeigen. Historische Schriften wie die genannten handeln vom Glück und Unglück der Menschen, von Freuden und Sorgen, von guten und bösen Taten. Sie stellen die Natur des menschlichen Schicksals als Ganzes in Frage und bezeugen eine Suche, die direkt ins Herz der conditio humana trifft. Dieses Motiv durchzieht auch Sima Qians Aufzeichnungen des Historikers. Wenn Geschichte als Erforschung des menschlichen Schicksals wahrgenommen wird, kann die Chronik vergangener Ereignisse niemals unabhängig vom Menschen sein, sondern muss ihn stets mit einbeziehen. Ein solches Geschichtsverständnis ist im Wesentlichen die Lebensgeschichte eines einzelnen Menschen. Im Buddhismus gibt es den Ausspruch: „Alle vierundachtzigtausend Sutras sind das Tagebuch meines eigenen Lebens“. Mit vierundachtzigtausend ist hier nicht eine konkrete Zahl, sondern eine Unzahl gemeint. Die „vierundachtzigtausend Sutras“ stellen die Gesamtheit aller Lehren dar, die Buddha Shakyamuni in seinem Leben gepredigt hatte. Die kolossale Summe aller Sutras wird hier als „das Tagebuch meines Lebens“, d. h. als Wirkungen des Lebens eines einzelnen Menschen begriffen. Wie das chinesische Geschichtsverständnis postuliert auch die buddhistische Sicht den autarken Menschen, der sich nicht von Lob oder Tadel beeinflussen lässt, sondern seinem Schicksal beherzt entgegentritt. Der Fluss der Geschichte hört niemals auf. In den Worten von Li Bai (auch als Li Po bekannt), einem der größten Dichter Chinas: „Himmel und Erde sind ein Wirtshaus für die zehntausend Dinge der Schöpfung; Zeit ist der Reisende der Hundert Zeitalter.“ Die Zeit ist nun für die Menschen angebrochen, sich nicht

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mehr damit zufrieden zu geben, nur eine passive Rolle in der Geschichte zu spielen. Wir müssen die Bedeutung des freien und unabhängigen Menschen beim Erschaffen von Geschichte anerkennen – und gleichzeitig den Menschen mit dem Menschen in vereinten Bewegungen verknüpfen, welche die gesamte Bürgerschaft des Globus zusammenführen. Mit dem raschen Vergehen der Zeit wird die Welt in jeder Hinsicht zu einem einzigen Gebilde. China, Japan oder auch jedes andere Land hat eine eigene Geschichte, doch heute sind wir allesamt Passagiere des Raumschiffes Erde und sehen uns einem gemeinsamen Schicksal gegenüber. Von nun an ist die Geschichte jedes Einzelnen die der ganzen Welt. Um der Zukunft mit Hoffnung und Zuversicht zu begegnen, müssen wir, wie unvorhersehbar der Fluss der Ereignisse auch sein mag, ein für alle Mal lernen, die Geschichte als menschliches Drama zu begreifen, in welchem die Menschen die entscheidende Rolle spielen. Zugleich müssen wir erkennen, dass wir als Mitglieder der Weltgemeinschaft einen Sinn für Solidarität brauchen, der den Bürgern einer geeinten Welt angemessen ist.

Auf dem Weg zu einem neuen globalen Bewusstsein* Macao – das offene Fenster Seit dem 16. Jahrhundert war Macao ein Umschlaghafen für den portugiesischen Handel mit China und Japan. Seither spielt es eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, den Osten mit dem Westen zu verbinden. Auch am sino-japanischen Handel hatte Macao wesentlichen Anteil und diente darüber hinaus als Japans Fenster zum Westen, mit dessen Hilfe Japan viele seiner frühen Kontakte mit der europäischen Zivilisation aufbaute. Bis heute bilden hier in Macao traditionelle chinesische Bauwerke und typisch portugiesische Gebäude ein harmonisches Ganzes. Diese Stadt ist der lebendige Beweis dafür, dass Kulturen des Westens und des Ostens tatsächlich harmonisch Seite an Seite bestehen und einander dabei ergänzen können. Ich bin überzeugt, dass Macao im Zeitalter der Globalisierung weithin als wertvolles Beispiel gelten wird, dass unterschiedliche Kulturen in Harmonie miteinander existieren können. Damit wird Macao ein Zeichen für eine Annäherung setzen, die nun die ganze Erde umspannt. Nach dem Ende des Kalten Krieges hat die Welt noch nicht zu einer neuen Ordnung gefunden, die die bisherige bipolare Dominanz der USA und der Sowjetunion ersetzt. Eine neue Struktur, die den Weg zur spirituellen Vereinigung der Menschheit ebnen könnte, ist nicht in Sicht. Die Ideologien, die so lange eine gewisse Identität, einen gewissen Zusammenhalt gestiftet haben, sind zusammengebrochen. Stattdessen beobachten wir seither in vielen Teilen der Welt einen steilen Anstieg nationalistischer Bewegungen. Die meisten Menschen halten Nationalität oder ethnische Zugehörigkeit für wichtig bei der Bildung von bestimmten Identitäten, doch keine kann für den Aufbau einer neuen globalen Ordnung wirklich wegweisend sein. Norman Cousins1 nannte einst als oberstes Bildungsziel, die Menschen zu einem Denken zu erziehen, das nicht mehr „stammesbewusst“ ist, sondern „menschenbewusst“. Stammesdenken oder Nationalismus mögen in unseren unbewussten Schichten noch wirken, doch sie müssen ersetzt werden. Wir brauchen ein Bewusstsein, das universell ausgerichtet ist und sich der Menschheit als Gan*

Vortrag Daisaku Ikedas an der University of East Asia, Macao, China, 30. Januar 1991.

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zes widmet. Bildung, Philosophie und Religion sind hierbei die Mittel, mit denen wir diesen Wandel schaffen können. Ohne dieses Bewusstsein können keine neuen Strukturen entstehen, die globale Stabilität gewährleisten. Angesichts dieser Herausforderung muss ich an den Sinn für Ordnung und Harmonie denken, der sich wie ein unterirdischer Fluss durch 3.000 Jahre chinesischer Kultur zieht. Derselbe spirituelle Strom durchzieht auch die fünf Haupttugenden des Konfuzianismus: Menschlichkeit, Gerechtigkeit, ethisches Verhalten, Weisheit und Redlichkeit 2. Japan und auch Schwellenländer wie Südkorea, Taiwan und Hongkong legen in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung ein beachtliches Tempo vor und rücken in den Fokus der Weltöffentlichkeit. Der wirtschaftliche Erfolg hat wiederum das Interesse an den Religionen, Gedankenwelten und anderen Aspekten der asiatischen Kulturen geweckt. Diese Länder und Gebiete werden zusammen mit Festlandchina als „asiatischer Kulturkreis“ oder „Sinosphäre“ bezeichnet. Ganz offensichtlich übersteigt die Bedeutung der asiatischen Kultur das rein Wirtschaftliche und sollte im Gesamtkontext einer umfassenden Zivilisationsgeschichte verstanden werden.

Individualismus und Liberalismus Anfang der 80er Jahre hat William Theodore de Bary 3 eine Vorlesungsreihe veröffentlicht, die er ursprünglich an der chinesischen Universität von Hongkong gehalten hat 4. Ihr Titel lautet Die liberale Tradition Chinas. In diesem Werk analysiert er zentrale Ideen der chinesischen Kultur wie das Lernen zum Zweck (der Vervollkommnung) des Selbst 5, die Selbstbeherrschung, die Rückkehr zu Anstand, die Übernahme der moralischen Verantwortung für sich selbst und die Selbstverwirklichung. Obwohl der Neo-Konfuzianismus von Zhu Xi 6 gemeinhin als ideologische Grundlage für den Feudalismus gilt, kommt de Bary zu dem Ergebnis, dass der Neo-Konfuzianismus tatsächlich Elemente enthält, die Analogien zum modernen europäischen Individualismus und Liberalismus aufweisen. Die Häufung des Wortes „selbst“ in diesem Zusammenhang ist kein Zufall. Denn es gibt eine logische Entwicklung zwischen der Festigung des Selbst und der Freiheit: Der Grundtenor all dieser Ausdrücke ist die Selbstbestimmtheit, die darauf beruht, sich selbst zurückzunehmen, sich in Zurückhaltung zu üben. So beschreibt zum Beispiel die Vorstellung vom „Lernen für die Vervollkommnung des Selbst“ alles andere als das Zwangslernen, das unter dem klassischen Prüfungssystem in China üblich war 7. Vielmehr ist es gegründet auf einer Rückkehr zu sich selbst, auf Selbsterkenntnis und dem Verständnis seiner selbst. Durchgängig sehen wir hierin Selbstprüfung und Selbstbetrachtung am Werk.

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Auch wenn de Bary es nicht zur Sprache bringt, so hat diese Idee der Autonomie des introspektiven, sprich des sich selbst prüfenden, in sich hineinschauenden Individuums etwas sehr kartesianisches an sich. Inmitten des philosophischen Chaos, das durch den Zusammenbruch der mittelalterlichen Scholastik entstand, kam Descartes zu seiner berühmten Maxime „Ich denke, also bin ich“ (cogito ergo sum). Dies gelang ihm durch einen eindringlichen Prozess der Selbstbetrachtung. Diese wesentliche Erkenntnis sollte die Grundlage werden für die Struktur seiner gesamten Philosophie 8. Beeindruckend ist dieses Bild von Descartes, der, Herr seiner selbst, beherzt den von ihm selbst gewählten Weg geht. Es gibt jenen Recht, die ihn später den Vater der modernen europäischen Philosophie nennen sollten. Man muss jedoch beachten, dass der Kartesianismus zwar den Boden für die ungehinderte Autonomie des Individuums bereitet hat, dass er aber fast ganz frei ist von einer Bezugnahme auf einen „Anderen“. In diesem Punkt weicht er stark von der Vorstellung des Individualismus oder Liberalismus ab, welche die chinesische Philosophie geprägt hat. In den chinesischen Maximen von Selbstbeherrschung und Rückkehr zu Anstand sehen wir zum Beispiel, wie das introspektive „Selbst“, vermittelt durch das Medium gesellschaftlicher Rituale, klar und bejahend Bezug nimmt auf „das Andere“. Die liberalen und individualistischen Strömungen im chinesischen Gedankengut unterscheiden sich insofern von ihren europäischen Entsprechungen, als sie das Bestehen der Gesellschaft, die dem Leben und den Aktivitäten des Einzelnen einen Rahmen bietet, immer voraussetzen. Anders gesagt: Leben und Aktivitäten des Einzelnen sind außerhalb der Gesellschaft nicht denkbar. In dieser Hinsicht bewundere ich den nüchternen Sinn für Harmonie, wie er sich im traditionellen chinesischen Denken zeigt. Dieser Pragmatismus beschreibt weiterhin ein Pflicht- und Verantwortungsgefühl des Einzelnen, das darauf gerichtet ist, zu Wohlergehen und Gedeihen von Mensch und Gesellschaft beizutragen. In diesem Zusammenhang sagt de Bary: „Hier wird ein radikaler Individualismus ausgeschlossen, und es vollzieht sich das, was ich einen konfuzianischen Personalismus nenne. Dabei geht es um eine Idee des Menschen, der seinem Selbst erst dann wahrhaft treu ist, wenn er ganz und gar in der Gemeinschaft mit anderen Menschen aufgeht.“ 9 Mit diesem „radikalen Individualismus“ ist hier offenbar der europäische Individualismus gemeint, dessen ihm innewohnende Begrenzungen zunehmend sichtbar geworden sind, je weiter die Entwicklung der Gesellschaft voranschreitet. Dies hat auch die Aufmerksamkeit westlicher Wissenschaftler geweckt, die sich für den Aufstieg von Nordostasien interessieren. Léon Vandermeersch 10 schreibt in seinem Werk Le nouveau monde sinisé über

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die schädlichen Tendenzen im westlichen „Ultra-Individualismus“, wie er ihn nennt. Er wollte damit die Menschen der westlichen Welt darin bestärken, ihr Bewusstsein und ihre Selbstprüfung zu entwickeln. Dies war sein erklärtes Ziel. All dies soll nicht im Geringsten die große historische Bedeutung und die Errungenschaften des europäischen Individualismus leugnen oder auch nur schmälern. Ohne die Idee der Menschenrechte, wie sie in der „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ niedergeschrieben ist, ohne den Geist des Individualismus, auf die diese Menschenrechtserklärung gegründet ist, gäbe es unser gegenwärtiges Konzept der Menschenrechte nicht. Mit dieser Erklärung, die vor mehr als zweihundert Jahren in Frankreich abgegeben wurde, sollte die Würde des Menschen vor den Übergriffen der autoritären Staatsmacht geschützt werden. Was die Menschenrechte anbelangt, so bleibt zumindest Japan in seinem Bewusstsein hierfür bislang hinter dem Westen zurück. Doch wenn der schutzlose und verletzbare Mensch gegen den Staat ausgespielt wird, können die Rechte des Menschen unter Umständen auch zu stark gewichtet werden. Im Extremfall kann hierdurch das gewachsene soziale Umfeld destabilisiert werden, das der Mensch doch braucht, um überhaupt tätig sein zu können. Darin liegt meines Erachtens die zentrale Schwäche dieses „radikalen Individualismus“ oder „Ultra-Individualismus“ des Westens. Die Französische Revolution hat beispielhaft gezeigt, wie eine ausufernde Konfrontation von Staat und Individuum tatsächlich die kleinen und mittleren Gemeinschaften zerstört, die zwischen diesen beiden Polen bestehen. Dieser Trend ist schon in vielen Gesellschaften zu beobachten gewesen, in denen die Staatsgewalt erstarkt ist, indem sie ihren Einflussbereich erweitert und die Verwaltungsstrukturen zentralisiert hat. Es geschieht allerdings recht selten, dass der Einzelne und der Staat direkt in Konfrontation zueinander treten. Die meiste Zeit verbringen wir in Situationen in „kleinerem Maßstab“ – zuhause, am Arbeitsplatz oder in der örtlichen Gemeinschaft. Dies ist die Umgebung für unseren aufrichtigen Dialog mit anderen, von Angesicht zu Angesicht, und es ist die Umgebung, in der wir uns selbst entdecken, denn hier spüren wir die Wirklichkeit unseres Daseins und schätzen die Freuden des Lebens. Werden jedoch Menschen aus unsicherem gemeinschaftlichen Umfeld zu direkter Konfrontation mit dem Staat gezwungen, dann lösen sich entweder soziale Normen, Regeln und die gemeinschaftliche Ordnung auf, oder die Menschen lassen sich von totalitären Systemen in den Bann ziehen, deren Anziehungskraft eben darauf beruht, dass sie das zuvor entstandene Vakuum füllen. Wir sind im Laufe dieses Jahrhunderts mehr als einmal Zeuge dieses Phänomens geworden.

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Die Fünf Haupttugenden Eine bekannte Anekdote über den legendären Kaiser Yao 11 erzählt davon, wie gewöhnliche Menschen in einem idyllischen Staat in Frieden und Zufriedenheit leben. Sie wirft ein Schlaglicht darauf, wie tief greifend anders man politische Führung begreifen kann, als es aktuellen Gepflogenheiten in aller Welt entspricht. Gemäß dieser Anekdote war Kaiser Yao besorgt darüber, ob seine Regierung seinem Volk auch wirklich Glück bringe, und er beschloss, sich selbst ein Bild zu machen. Also verkleidet er sich eines Tages als normaler Bürger und geht in die Stadt. Zunächst trifft er auf eine Gruppe Kinder, aus deren Singreim Zufriedenheit mit ihrem Leben spricht. Später trifft er auf einen alten Bauern. Der tätschelt sich seinen Bauch, dreht einen Holzkreisel und freut sich sichtlich seines Lebens. Um ihn herum stehen einige Leute, die sein Wohlsein mit den Worten kommentieren: „Unser Kaiser Yao ist wirklich ein guter Kaiser.“ Darauf entgegnet der Alte: Bei Sonnenaufgang stehe ich auf, bei Sonnenuntergang geh ich zur Ruh. Grabe ich einen Brunnen, so habe ich zu trinken, pflüge ich die Felder, so habe ich zu essen. Was kann mir die Macht des Kaisers anhaben? 12

Welch wunderbar natürliche, fröhliche Lebensbejahung steckt in dieser Geschichte! Für mich atmet diese rustikale Erzählung den Geist, dem die hervorragende Tradition des chinesischen Liberalismus und Individualismus entstammt. Dieser Aspekt des chinesischen Denkens war durch den Lauf der Geschichte lange verschüttet gewesen und wurde nun durch westliche Gelehrte ausgegraben. Doch warum konnte diese Tradition sich nie volle Geltung verschaffen, obwohl sie den Samen so vieler liberaler Elemente enthält? Diese Frage verdient unbedingt weitere Aufmerksamkeit und Untersuchung. Nichtsdestotrotz kann die Existenz dieses geistigen Erbes nicht geleugnet werden. Der Sinn für Harmonie, der die dreitausend Jahre chinesischer Geschichte durchdringt, und der Ordnung in den menschlichen Geist bringt, steigt empor in die Dimensionen eines kosmopolitischen Geistes. Man ist versucht, dies das „ursprüngliche Bewusstsein des chinesischen Volkes“ zu nennen. Diese einmalige Spiritualität spiegelt sich im chinesischen Buddhismus und im japanischen Mahayana-Buddhismus eindeutig als die allumfassende und innig bejahende „perfekte Lehre“ (jap. Engyo) wider. Dieser Aspekt des chinesischen Denkens hat de Bary und Vandermeersch offensichtlich wichtige Hinweise geliefert, wie wir

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einen Ausweg aus der Sackgasse finden können, in der unsere an Europa orientierte Gesellschaft stecken geblieben ist. Sun Yatsen 13 verbrachte einen Teil seiner Jugend in Macao. Seinen Worten zufolge geht es bei der Frage, wie wir das Bestehen der Menschen und des Landes dauerhaft sicherstellen, letztlich stets um die Sittlichkeit. Echte Sittlichkeit oder Moral ist unbedingt notwendig, wenn wir den Fortbestand des Landes sichern wollen. Diese Art Moral erreicht man jedoch nicht, indem man die Höflichkeit und die Rituale, die in der chinesischen Gesellschaft Geltung beanspruchen, rein formalistisch praktiziert. Vielmehr gelangt man zu dieser echten Sittlichkeit, indem man sich eingehend mit dem befasst, was ich „ursprüngliches Bewusstsein“ genannt habe – mit dem Glauben an eine größere Ordnung oder Harmonie. Auf ähnliche Weise wird den fünf Haupttugenden, die das Motto der Universität Macao bilden – Menschlichkeit, Gerechtigkeit, ethisches Verhalten, Weisheit und Redlichkeit – neues Leben eingehaucht. Wenn sie im Licht der großartigen chinesischen Tradition interpretiert werden, bekommen sie einen neuen Sinn und werden zu Richtlinien für das 21. Jahrhundert. Der Buddhismus äußert sich eindringlich zur Bedeutung dieser Tugenden. Aus dieser Perspektive möchte ich sorgfältig prüfen, welche Rolle und Bedeutung diese fünf Tugenden in der heutigen Zeit haben können. Menschlichkeit deutet auf ein Erwachen von Humanismus und humanitärem Handeln hin; im weiteren Sinne umfasst Menschlichkeit die Liebe, die auf die gesamte Menschheit ausgerichtet ist. Gerechtigkeit setzt da ein, wo egoistische Impulse überwunden werden. Zwar treten wir dafür ein, dass Länder gegenseitig ihre nationale Souveränität respektieren. Dennoch ist es wichtig, sich über einen übermäßigen und beschränkten Nationalismus zu erheben und nach der Souveränität der Menschheit und dem Wohl der gesamten Menschheitsfamilie zu streben. So ist die Überwindung von egoistischen Impulsen genau die Grundvoraussetzung dafür, ein Weltbürger zu werden. In diesem Sinne befinden wir uns derzeit in einer Übergangsphase. Ethisches Verhalten bedeutet, das Dasein anderer anzuerkennen und zu respektieren. Unsere Welt ist eine Ansammlung vieler verschiedener Völker und Nationen, jede mit ihren eigenen Kulturen und Traditionen. Diese bilden den Kern ihrer jeweiligen nationalen Identität. Der Ausgangspunkt einer friedlichen Koexistenz liegt darin, verschiedene Kulturen anzuerkennen und zu versuchen, sie zu verstehen und zu respektieren. Die Tugend der Weisheit ist die Quelle aller kreativen Bemühungen. Wir müssen uns von starren Denkweisen befreien und frische Quellen der Weisheit anzapfen, die uns beflügeln, flexibel und anpassungsfähig zu werden. Diese

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Weisheit müssen wir entwickeln und nutzen, um die schrecklichen Bedrohungen der menschlichen Existenz abzuwenden. Die letzte der fünf Haupttugenden ist die Redlichkeit. Auf die Redlichkeit kommt es an, wenn wir Misstrauen in Vertrauen, Feindseligkeit in Verständnis und Hass in Mitgefühl verwandeln wollen. Vertrauen und Freundschaft können nicht „strategisch“ kultiviert werden. Echtes Vertrauen ist unabdingbar, wenn die Menschen ihre Herzen und ihre Gedanken für einander öffnen.

Zhou Enlai und Wen Tianxiang Ein Mensch, der diese Tugenden auf schlichte und natürliche Weise gezeigt hat, war der chinesische Premierminister Zhou Enlai. Ich hatte die besondere Ehre, ihn auf meiner zweiten Chinareise zu treffen. Das war im Dezember 1974, etwa ein Jahr vor seinem Tode. Auch seine Witwe, Deng Yingchao, hat mir später ihre Freundschaft geschenkt. Premier Zhou strahlte in seiner ganzen Haltung, in Gebaren und Sprache eine unerschütterliche Selbstbeherrschung aus. Unsere Begegnung fand in einem Hotelzimmer in Peking statt, wo er sich von einer Krankheit erholte. Trotz seiner Gebrechlichkeit bestand er darauf, aufzustehen und zur Tür zu kommen, um mich persönlich zu begrüßen und zu verabschieden. Noch heute erinnere ich mich lebhaft daran, wie mich seine Höflichkeit gerührt hat. Das Zimmer, in dem wir uns begegneten, war spärlich möbliert. Er räumte offen ein, dass „China heute nicht wohlhabend ist“. Sodann sprach er darüber, welche Aussichten die Freundschaft zwischen Völkern habe, die sich auf der Grundlage von Gleichberechtigung und beidseitigem Nutzen über Generationen erstrecken würde. Während wir sprachen, spürte ich eine bewundernswerte Bescheidenheit und den Nachdruck, den er auf Harmonie und Zurückhaltung legte. Dies ging einher mit einem ausgeprägten Willen, für seine Überzeugungen zu leben, und mit einer sofort erkennbaren Selbstbeherrschung in allem, was er sagte oder tat. In einem bekannten Gedicht beschreibt Wen Tianxiang (1236–1282), der zur Zeit der ausgehenden Südlichen Song-Dynastie lebte, die Weite des Meeres um Macao. Wen hatte die klassischen Prüfungen für den Staatsdienst mit Auszeichnung bestanden, und war ein sehr intelligenter und mutiger General. Trotz seiner Bemühungen, der Invasion der Mongolen 14 Einhalt zu gebieten, wurde er schließlich gefangen genommen. Doch bewunderten die Mongolen sein Talent und seinen Charakter und sie versuchten, ihn für sich zu gewinnen, was er jedoch ablehnte. Das Gedicht, das er drei Jahre vor seinem Tod schrieb, lautet:

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Über das Meer von Lingding Wie mühevoll war meine Kindheit, als ich das Buch der Wandlungen studierte, und wie verzweifelt die Jahre des Kampfes gegen den Feind; nun sind Berge und Flüsse verwüstet, wie windzerzauste Weidenkätzchen. Dem Auf und Ab des Lebens ausgesetzt wie Wasserlinsen im strömenden Regen, erfüllt mich die Niederlage am Ufer der Schrecken bis heute mit Furcht. Von aller Welt verlassen, beklage ich auf den Weiten des Meeres von Lingding meine Einsamkeit. Seit Menschengedenken ist jeder dem Tod geweiht, so möchte ich ein Zeichen hinterlassen, das meine Treue zum Reich erstrahlen lässt.15

Mit diesem Gedicht brachte Wen Tianxiang seine Weigerung zum Ausdruck, seine Loyalität zum alten Kaiserhaus aufzugeben und sich in den Dienst der Mongolendynastie zu stellen. Ihm war vollkommen klar, dass er seine Weigerung mit dem Leben würde bezahlen müssen. Dennoch blieb er standhaft. So wurde er schließlich hingerichtet. Wens Name leuchtet noch immer als der eines großen Helden, der bis zuletzt für seine Überzeugungen lebte. Dieses Ereignis bewegt uns bis heute, weil es die Gefühle wahrer, allgemeingültiger Menschlichkeit ausdrückt, die über die einzelnen Umstände hinausgehen. Diese Gefilde von Macao sind wahrlich ein Ort, wo die Jugend zu ihren Idealen und Lebenszielen erwachen kann: diese Gefilde, die aufs Meer hinausblicken, und von denen Wen Tianxiang schrieb, als er seine Entschlossenheit zum Ausdruck brachte, für eine ehrenhafte Sache zu leben und zu sterben; dieses Land, wo Sun Yat-sen sich der Reform des feudalistischen China widmete. Vor meinem inneren Auge sehe ich junge Studenten hier an der Universität von Macao. Als Pioniere, die beseelt sind von dem neuen Bewusstsein der Menschlichkeit, brechen sie von diesem „Hafen der weltumfassenden Weisheit“ auf, in den großen Ozean eines friedlichen 21. Jahrhunderts.

Das Überwinden der Dunkelheit und die faustische Agonie: Licht für die Zivilisation des 21. Jahrhunderts* Das faustische Ego Die Welt befindet sich in einem Zustand des kompletten Chaos. Zuerst schien der Zusammenbruch des Kommunismus wie das Klingeln im Theaterfoyer vor einer Premiere: Ein neues Stück kündigte sich an, das, wie alle dachten, die Demokratie auf die Bühne der Weltpolitik brächte. Innerhalb weniger Jahre aber, ehe das Stück überhaupt richtig begonnen hatte, wurde die Bühne schon wieder dunkel. Seither bedecken düstere Wolken die Welt. Kriegerische Auseinandersetzungen mit ethnischem oder religiösem Hintergrund treten ununterbrochen auf, und selbst kulturelle und zivilisatorische Vielfalt, die ja das unerlässliche Kennzeichen des Menschseins darstellt, kann heute zum Auslöser von grausamen Konflikten werden. All unsere Hoffnungen und Erwartungen werden untergraben, und so hat das Ende des Kalten Krieges kein Ende des Unfriedens gebracht, sondern eine neue Büchse der Pandora geöffnet, mit weiteren Furien. Wie sollten wir uns angesichts dieser Situation auf die Zukunft vorbereiten? Dabei hat eine Ansicht viele Kontroversen losgetreten, nämlich die Annahme, dass die Gesellschaft die nächsten hundert Jahre auf demselben Weg weiterziehen wird, den die wissenschaftlich-industrielle Zivilisation der Moderne angelegt hat. Doch so dürfen wir nicht denken. Ist es doch unleugbar klar geworden, dass die Menschheit früher oder später verschwinden wird, wenn wir diesen Weg weitergehen und die Massen-Produktion, den Massen-Konsum, die WegwerfKultur – allesamt Kennzeichen der modernen industriellen Revolution – weiter entwickeln und ausdehnen. 1992 haben die Teilnehmer der UN-Konferenz zu Umwelt und Entwicklung (UNCED) in Rio de Janeiro versprochen, die nachhaltige Entwicklung als oberstes Ziel zu verfolgen. Das war ein guter Ausgangspunkt, der die besten Geister für *

Rede Hiromasa Ikedas im Namen seines Vaters im Ateneo de Santander, Spanien, 26. Juni 1995.

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den weltweiten Umweltschutz und eine bessere Zukunft mobilisieren kann. Als Buddhist meine ich, wir sollten dabei gründlich den Geist unseres Zeitalters untersuchen – also das in Europa ausgebildete Ethos der modernen Zivilisation. Wir müssen die Tiefen dieses Ethos ausleuchten, damit wir dessen enge Grenzen durchbrechen und Alternativen zum gegenwärtigen Leben entdecken können. Denke ich an die großen Themen der Menschheitsgeschichte, komme ich oft auf die Einsichten des bedeutenden spanischen Philosophen Luis Díez de Corral zurück. Dr. Corral besuchte Japan vor ungefähr dreißig Jahren als Mitglied einer spanischen Kulturmission. Durch seine vielen Vorträge hinterließ er einen starken Eindruck, und man erinnert sich an ihn voller Respekt und Zuneigung. Corral hatte einige Denkanstöße zum Ethos der modernen Zivilisation geliefert. Seiner Ansicht nach definiert sich dieses Ethos nicht so sehr durch die Oberflächen-Phänomene, beispielsweise der Politik und der Gesetze während der Französischen Revolution, sondern vielmehr durch „einen neuen Sinn für die menschliche Würde“ und durch ein „unvorstellbares Vertrauen des Menschen in seine eigenen Kräfte“. Das bedeutet die „effektive und akkurate Herrschaft über seine irdische Wohnstätte“. 1 Damit ist das übertriebene faustische Ego gemeint, das oft Thema in Poesie, Drama, Musik und natürlich in Goethes tragischem Porträt des Faust war. Man findet dieses Ego im Zentrum des modernen Geistes, wo es die Gier nach Wissen, Handlung und Kontrolle nährt und das moderne Europa dazu gebracht hat, den Rest der Welt zu beherrschen. Gewiss bildet dies jenen Teil des modernen Geistes, des Ethos der modernen Zivilisation, der ihre Großartigkeit und ihr Licht ausmacht. Doch gibt es noch einen weiteren Teil, und zwar einen negativen: den Schatten. Dieser Teil ist nun in einer tiefen Sackgasse gelandet und offenbart seine Grenzen. Corral vergleicht die moderne Zivilisation mit dem erschöpften Faust, nachdem er das „schwere Fegefeuer durchwandert“ hat. 2 Geschichte auf diese Weise zu betrachten interessiert mich – nicht weil dieser Ansatz die Grundlagen der modernen Zivilisation herausfordert, sondern weil er zutiefst dialektisch ist. Nun, da die Dunkelheit am Ende des Jahrhunderts immer dichter wird, wächst auch der allgemeine Widerstand gegen unsere Zeit und gegen die Modernisierung und nimmt – wie die Ausbreitung von Kulten in der Industriegesellschaft zeigt – immer unterschiedlichere Formen an. Wir brauchen unbedingt eine dialektische Geschichtsbetrachtung; einer Betrachtung, die uns rigoros unterscheiden lässt zwischen Licht und Schatten innerhalb der modernen Zivilisation, zwischen dem Positiven und dem Negativen. Mit dieser Klarsicht können wir sicherstellen, dass die Zukunft nur das Licht und das Positive übernimmt. Eine gründliche Analyse der Geschichte aus diesem dialektischen Blickwinkel

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sollte demnach zeigen, welcher Teil des Ethos der modernen Zivilisation den zukünftigen Generationen weitergegeben werden sollte. Zu den wertvollen Stücken dieses Erbes gehören die ewigen und universellen Eigenschaften der menschlichen Natur, die wir mit Begriffen wie Fortschritt und Kreativität, Herausforderung und Pioniertat, Spontaneität und Handlung und dergleichen belegen. Dieses Erbe ist nichts weniger als der entschlossene, dynamische Ausdruck des menschlichen Lebens, der Wille, das Selbst zu erneuern wie auch die Umwelt neu zu beleben, während wir dabei mit der Gesellschaft und der Natur in Wechselwirkung stehen und auf sie einwirken, Tag für Tag, Stück für Stück. All das zu übernehmen ist hilfreich bei der Bestimmung dessen, was das Ethos des 21. Jahrhunderts sein soll. Selbst wenn wir wirklich das Licht und das Positive an die Zukunft weiterreichen wollen, bleibt dennoch das Problem, wie wir das berichtigen, umleiten und vielleicht neu bilden, was die schattigen, negativen Bereiche der modernen Zivilisation ausmacht.

Drei Ansätze für eine neue Umlaufbahn der Zivilisation Der Buddhismus hatte zwei Jahrtausende Zeit, ein tiefes und zeitloses spirituelles Erbe anzuhäufen, und ich bin der Meinung, dass dieses Erbe eine enorme Hilfe sein kann, wenn wir die Themen herausarbeiten, die die Zivilisation in Zukunft betreffen. Daher möchte ich gern einige Gedanken über die buddhistische Sichtweise vorstellen und sie anhand von drei Konzepten untersuchen: Autonomie, Symbiose und innere Kultivierung. Wenn wir wirklich die gegenwärtigen Zustände verbessern und die Zivilisation in eine positivere Umlaufbahn lenken wollen, dann müssen wir uns vielleicht zuallererst mit unserem Mangel an Selbstbeherrschung auseinandersetzen. Fausts Agonie bestand in seiner Unfähigkeit, mit seinem Los zufrieden zu sein. Seine Tragödie bestand in seinem Scheitern, die Meisterschaft über das Selbst zu erlangen und sein Verlangen zu besiegen, das gesamte Erfahrungsspektrum des Menschen zu kennen. Als er zu Mephisto spricht, beschreibt er sein rastloses Streben, mehr spüren und begreifen zu wollen: Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist Will ich in meinem innern Selbst genießen, Mit meinem Geist das Höchst und Tiefste greifen, Ihr Wohl und Weh auf meinen Busen häufen, Und so mein eigen Selbst zu ihrem Selbst erweitern, Und, wie sie selbst, am End’ auch ich zerscheitern. 3

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Er schließt einen Pakt mit Mephisto und wird verwandelt. Später, unbesiegbar und arrogant, kommt er zur Überzeugung, dass er zwar Autonomie erlangt hat, am Ende jedoch bezahlt er mit Blindheit und Tod – und hat zudem seine Seele verloren. Die Geschichte von Faust ist eine sorgfältig gearbeitete dramatische Tragödie aus dem 19. Jahrhundert. Sie handelt davon, was geschieht, wenn ein Mensch glaubt, er könne alle gewöhnlichen menschlichen Zwänge abwerfen. Im 20. Jahrhundert hat der bedeutende spanische Philosoph Jose Ortega y Gasset in seinem bissigen, kritischen Werk Vom Aufstand der Massen uns eine Welt von ruderlos umhertreibenden Menschen vor Augen geführt, die unfähig zur Selbst-Kontrolle sind. Er wies darauf hin, dass unser Zeitalter zwar viele Fortschritte erzielt habe, die Menschen jedoch in ihrem eigenen Überfluss „verkümmern“. 4 Ortega machte diese Beobachtung vor mehr als einem halben Jahrhundert und seither gibt es kein Anzeichen dafür, dass sich die Situation gebessert hätte. Die moderne Zivilisation hat ihre Wurzeln auch in der europäischen Trennung von ziviler Gesellschaft und kirchlicher Autorität. Nachdem sie sich aus der Umklammerung der Kirche befreit hat, erreichte diese Zivilisation ihren Höhepunkt im 20. Jahrhundert. Das gleiche gilt für Faschismus und Kommunismus. Wie überwältigend die Ironie, dass genau diese Autonomie, einst errungen durch die Befreiung von religiöser Herrschaft, in jenem Jahrhundert derartig kompromittiert wurde durch gewalttätige Ideologien, die selbst eine quasi-religiöse Autorität beanspruchten.

Der wahre Sieg – über dich selbst Im buddhistischen Denken sind geistige Zustände wie Frieden, Befreiung und meditative Konzentration außerordentlich wichtig. Ein jeder Zustand hat eine andere Bedeutung, doch sie alle lehren uns, wie wir unsere innere Welt ordnen sollen. Die buddhistische Vorstellung von Autonomie im Sinne von „Selbst-Ordnung“ ist daher – als Verhaltensweise – die wichtigste aller möglichen Lebensweisen. Ohne die Autonomie eines kontrollierten Selbst ist alles, was man tut, wie eine Burg, die auf Sand gebaut wurde. Die Sutras enthalten zahllose Passagen, die darauf anspielen, wie etwa die folgende: „Verhalte dich stets so, wie du andere sich zu verhalten lehrst. Nur derjenige, der sein eigenes Verhalten kontrollieren kann, kann das Verhalten der anderen kontrollieren. Und es ist schwer, das eigene Selbst zu kontrollieren.“ 5 „Größter Sieger ist nicht der, der eine Million Feinde im Kampf schlägt, sondern der, der sich selbst überwindet.“ 6

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Die Absicht dieser und vieler anderer ähnlicher Lehren ist, Autonomie oder „Selbst-Ordnung“ zu fördern. Dieses buddhistische Konzept ist ein wenig anders als das moderne Ethos, das entstand, als der Bann der Religion in der europäischen Kultur gebrochen wurde. Wie das moderne Ethos ermutigt auch die buddhistische Lehre die Selbst-Sicherheit und die Selbst-Beherrschung. Doch gibt es einen deutlichen Unterschied zwischen dem faustischen Dünkel und dem, was man als buddhistisches Modell für Autonomie bezeichnen könnte. Shakyamuni fasste dieses Modell vor allem in seinen späteren Jahren in Begriffe wie ‚Sich-Verlassen auf das Selbst‘ und ‚Sich-Verlassen auf das Gesetz‘. Eine der letzten Lehren Shakyamunis liest sich so: „Sei selbst eine Sandbank und stütze dich auf dich selbst, nicht auf andere. Mach das Gesetz zur Sandbank und verlasse dich darauf, nicht auf andere.“ 7 Man muss, mit anderen Worten, sich auf das eigene unbeugsame Selbst verlassen, um das Selbst zu ordnen. Dabei soll man unbeeinflusst sein von anderen Menschen oder Ereignissen. Um ein festes, unbeugsames Selbst zu errichten, muss man Arroganz und Dogmatismus abwerfen und sich einzig auf das Gesetz verlassen. Dann wird, gemäß der buddhistischen Anordnung aller Dinge, auch Autonomie möglich. Der wichtigste Punkt ist hier, dass das Gesetz in der buddhistischen Lehre in allen Menschen, vom ersten bis zum letzten, als anwesend erkannt wird. Weil das Gesetz immanent ist, hängt sein Wirken in unser aller Leben davon ab, wann und ob überhaupt wir das Selbst-Bewusstsein erreichen. Der Buddha wird manchmal der Erleuchtete genannt, oder der mit dem höchsten Selbst-Bewusstsein. Und Selbst-Bewusstsein ist fast synonym mit Autonomie. Daher war es für den Buddha, den mit dem höchsten Bewusstsein, eine wahrhaft schmerzliche Frage, ob es für die zahllosen, verlorenen, gewöhnlichen Menschen möglich wäre oder nicht, Selbst-Bewusstsein zu erlangen. Und selbst wenn es möglich wäre, würden sie dann in der Lage sein, dies im rohen Durcheinander des menschlichen Lebens beizubehalten? Genau aus diesem Grund zögerten Shakyamuni und Nichiren, nachdem sie die Erleuchtung erlangt hatten, oft, gewöhnlichen Menschen das Gesetz zu lehren. Sie fürchteten, es könnte eine unmögliche Mission sein. Die innere Verwirklichung des Gesetzes ist in der Tat immer schon eine große Aporie in der Menschheitsgeschichte gewesen. Nimmt man dagegen an, das Gesetz wäre den Menschen nicht immanent, sondern etwas Äußeres, dann würde es sehr schnell die Natur einer heteronomen Autorität annehmen, die den Menschen auferlegt wird, und der Weg zu wahrer Autonomie wäre verschlossen. Tatsächlich haben viele Gruppen, religiöse wie politische, immer wieder versucht, Systeme von außen aufzuzwingen und ihnen Gesetzeskraft zu verleihen, wodurch sie die Autorität missbrauchten, die sie zu

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repräsentieren beanspruchten. Als Ergebnis wurden die Menschen im Namen irgendeines Gesetzes auf das Niveau von Sklaven degradiert. Der Beweis dafür liegt vor uns: In den blutigen Spuren, die eng dogmatische und ausgrenzende Religionsgruppen hinterlassen haben. So war es wundervoll für mich, den folgenden Abschnitt des großen spanischen Linguisten Ramón Menéndez Pidal zu lesen, der die inneren Normen der Selbst-Beschränkung und des Selbst-Vertrauens – Autonomie also – beschrieb, die Spaniens Geschichte eine so schöne Spiritualität verliehen haben. „Der Spanier, unbezwingbar, was das Erdulden von Not angeht, trägt das sustine et abstine [Sei im Widerstand fest und im Verzicht stark] in sich, die Norm der Weisheit, welche die Menschen durch alles Ungemach trägt; er führt einen besonders instinktiven und elementaren Stoizismus mit sich; hat den Geist Senecas angeboren.“ 8 Das zweite Konzept, die Symbiose, handelt vom gemeinsamen Leben in einer Beziehung, die von wechselseitiger Unterstützung geprägt ist. In der Überlegung, mit dem Goethes Stück beginnt, sinniert Faust, „wie alles sich zum Ganzen webt, Eins in dem andern wirkt und lebt!“ 9 Hier ist er von der pulsierenden Symbiose in Bann gezogen, die alles in der Natur miteinander verbindet. Faust ist eingeschüchtert durch die Art, wie alles ineinander wirkt, voneinander abhängt und sich unablässig in feinster Harmonie bewegt. Er spürt seine eigene Entfremdung von der gewaltigen und freigiebigen Weite des Lebens, die einen tief atmen und das eigene Sein mit der Natur und dem Universum teilen lässt. Wie Faust aber sind die modernen Menschen zutiefst von der wahren Fülle des Lebens entfremdet. Von Beginn an ist die moderne Zivilisation von der Annahme durchzogen, dass Natur und Menschheit in Opposition zueinander existieren; die Natur ist ein von den Menschen zu eroberndes Objekt und muss kontrolliert werden. Doch Isolation und Entfremdung der Menschen sind vielleicht die Folgen der dämonischen Seite des faustischen Ego. Wie sehr viele nachdenkliche Menschen beobachtet haben, ist es dringend notwendig, dass diese Ansicht über Natur und Universum revidiert wird – wenn wir einen neuen Horizont mit einem Zukunftsversprechen schaffen wollen. Daher steht die Idee der Symbiose zunehmend für unsere Zukunftshoffnung. Der Buddhismus mit seiner unveränderlichen Zusicherung, dass der Mensch eine unzerstörbare Einheit mit seiner Umgebung bildet – also mit Gesellschaft, Natur, Universum – bietet meiner Meinung nach das perfekte Mittel, um eine all-umfassende Symbiose zu fördern.

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Den Weg eines Bodhisattva leben Untersuchen wir nun dieses als Esho¯-Funi bekannte Prinzip. Kurz gesagt, umfasst es die Idee der vollkommenen Symbiose. Esho¯ ist eine Kombination von Sho¯-ho¯, was unser eigenes Selbst bezeichnet, und von E-ho¯, was unsere Umgebung bedeutet, die Natur inbegriffen. Funi bedeutet wörtlich „kann nicht zwei sein“, also Einheit. Zusammen bedeutet Esho¯-Funi also die Untrennbarkeit der beiden Teile, des Lebens und seiner Umgebung, die eine harmonische Beziehung als Einheit eingehen, während sie untereinander agieren und einander beeinflussen. Dies ist ein fundamentales Prinzip des Buddhismus. Ich brauche kaum hinzuzufügen, dass es zugleich einen bestimmten Standpunkt repräsentiert, der immer mehr zu einem bedeutenden Paradigma der postmodernen Erkenntnistheorie wird. In der buddhistischen Sichtweise ist die Harmonie zwischen Mensch und Natur keine statische. Vielmehr ist es eine aktive, dynamische Welt, voller Leben, pulsierend und schöpferisch. Ihre dynamische Kraft ist ausgreifend genug, um alle aktive Energie der hellen, positiven Seite des modernen Ethos zu umfassen, die das Erbe für das gegenwärtige Jahrhundert bilden sollte: seinen Geist des Fortschritts, des Schöpfertums, der Herausforderung, des Pioniergeists und dergleichen mehr. Die dynamische Beziehung zwischen Sho¯-ho¯ und E-ho¯ wird von Nichiren beschrieben als „[…] ohne Leben keine Umwelt. Auf gleiche Art wird das Leben von seiner Umwelt geformt“. 10 Der erste Teil bedeutet, dass, wenn ein Einzelner stirbt, dennoch die Menschheit nicht aufhört zu sein. Vielmehr gilt, dass selbst dann, wenn alle Menschen ausgestorben sind, das Universum nicht enden würde. Gleichwohl gilt auch, wie uns der zweite Teil sagt: Insofern schon die Existenz der Umwelt in den Menschen enthalten ist, kann es keine Umwelt ohne Leben geben. Das ist weniger eine objektive Darstellung als vielmehr ein Bekenntnis zu einer festen, persönlichen Bindung, die auf offensichtlicher religiöser Wahrheit beruht, auf der Untrennbarkeit von Mensch und Natur. Die Grundlage für ein subjektives Urteil ist Ichinen (der Geist oder das Leben in einem einzigen Augenblick) oder der feste Glaube an den Buddhismus. Zu sagen, dass Sho¯-ho¯ nicht ohne E-ho¯ existieren kann, unterstellt, dass Ichinen sich über die grenzenlose, riesige Ausdehnung des „größeren Selbst“ erstreckt, welches das Universum füllt, ohne jegliche Grenzen von Raum oder Zeit. Die Bedingung für Ichinen ist, dass wir durch die Lehren des „größeren Selbst“ leben, dies im Gegensatz zu den Anforderungen des „kleineren Selbst“ oder Ego. Vor allem im Mahayana-Buddhismus werden wir dazu aufgerufen, eben jenen Lebensweg einzuschlagen, der dem Weg des Bodhisattva entspricht. Ein subjektives Urteil muss jedoch sehr sorgsam gefällt werden, denn ohne

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Teil II: Kultur – Dimensionen und Wirkungen

angemessenen Boden kann es zur Wurzel von Dogmatismus oder haltloser Spiritualität werden oder gar von faustischem Selbstbetrug. Der zweite Teil der Lehre, „das Leben wird von seiner Umwelt geformt“, erklärt die Unmöglichkeit einer solchen Entwicklung, indem ein Gleichgewicht zwischen dem Leben und seiner Umwelt errichtet wird, womit das eingeführt wird, was im Prinzip die ökologische Idee der Symbiose ist. In diesem Sinne präsentiert sich die Idee des Esho¯-Funi als höchst modern. Beziehen wir die Umwelt mit ein, so können wir in der ziemlich rigorosen Aussage lesen, dass „ohne Leben keine Umwelt“ sei, und erkennen, wie dies zum Aufruf zu einer wirklichen Symbiose wird, worin die Menschen und ihre Umwelt in einer dynamischen, gegenseitigen Beziehung verflochten sind, die auf beide gleichermaßen einwirkt. Man kann kaum umhin, hier eine bemerkenswerte Parallele zwischen Esho¯Funi und einer der wirkungsvollsten Ideen Ortega y Gassets festzustellen, dass ich nämlich ich bin und mein Umstand; „und wenn ich ihn nicht rette, so rette ich auch mich selber nicht“. 11 Dieser Gedanke impliziert die Erhebung und Ausdehnung vom Ego zum „größeren Selbst“, so wie in „ohne Leben keine Umwelt“. Und der zweite Teil von Ortegas Feststellung ähnelt auffällig der Aussage, das Leben werde „durch seine Umwelt geformt“. Beide verweisen auf Symbiose. Hören wir Ortega: „Zivilisation ist in erster Linie Wille zur Gemeinschaft.“ 12 Hören wir auch die Worte des Philosophen Miguel de Unamuno: „Der starke Mensch, derjenige, der ursprünglich stark ist, kann niemals ein Egoist sein. Ein Mensch mit großer Kraft teilt diese Kraft mit anderen.“ 13 Jeder teilt auf seine Weise mit uns seine Einsicht in seinen Anteil am Ethos der Symbiose, ein weltbürgerliches Ethos, das mehrere Jahrhunderte lang den geistigen Ozean von Spaniens Geschichte durchzogen hat, seit der Zeit der Entdeckungen. Dieses symbiotische, weltbürgerliche Ethos findet einen starken Widerhall im Weg des Bodhisattva, dem Kern des Mahayana-Buddhismus. Mein dritter Punkt betrifft das Kultivieren des Innenlebens, welche Charakterbildung, Disziplin und Übung einbezieht. Ich will dabei verweilen, weil ich der Meinung bin, dass die moderne Zivilisation diesen Wert verschleudert und dadurch eine ernsthafte Lücke hinterlassen hat. Unsere Zivilisation hat seit den Jahrhunderten ihres Aufkommens mit höchster Anspannung materielle Wohltaten, Zweckdienlichkeit, Komfort und Effizienz erstrebt. Dies brachte eine nie dagewesene Wohlstandssteigerung hervor, die es zumindest in materieller Hinsicht den gewöhnlichen Menschen der Industriegesellschaften erlaubte, besser zu leben als der Adel in früheren Zeiten. Dafür waren aber hohe Kosten zu entrichten, in Form schwerwiegender sozialer und anderer Probleme. Die gravierendsten werden zuweilen als „Trilemma“ bezeichnet, als ein Bündel von Problemen, die jedes industrialisierte Land plagen. Gemeinsam bilden sie eine ineinander grei-

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fende Struktur von drei größeren Themen, die aufeinander einwirken und einander verschärfen. 1. Ökonomische Entwicklung für immer weiter anwachsende Bevölkerungen 2. Erschöpfung von natürlichen Ressourcen und Energie 3. Zerstörung der Umwelt Ich behaupte, es gibt eine noch gefährlichere Folge aus dem Vormarsch der industriellen Zivilisation: die Erosion der Lebenskraft und die Zerstörung der inneren Welt der Menschen. In der Moderne, vor allem im 20. Jahrhundert, gab es die Tendenz, sich an den Werten von materiellem Nutzen und immer größerer Bequemlichkeit festzuklammern. Diese Tendenz hat eine Geisteshaltung hervorgebracht, die nur allzu leicht Lösungen, Abkürzungen und Oberflächlichkeit rationalisiert und dabei unklugerweise die Bedeutung der inneren Übung vernachlässigt. Auf bestimmte Weise scheinen die früheren sozialistischen Länder mehr als andere zu leiden, weil sie die Charakterbildung auf Eis gelegt haben. Der ehemalige Präsident der UdSSR, Michail Gorbatschow, und ich führten einen Dialog für eine meinungsbildende japanische Zeitung. Im Verlauf unserer Unterhaltungen kam er oft auf dieses Thema zurück und sprach in diesem Zusammenhang von den Fallstricken des Radikalismus. Er sagte zum Beispiel: „Der Extremismus ist so zählebig wie das Streben nach leichten Lösungen. Wie viele Menschen sind im 20. Jahrhundert Opfer übereilter Entschlüsse, des naiven Glaubens geworden, es gäbe Lösungen, die alle Schwierigkeiten mit einem Schlag hinwegfegen!“ Auf dieselbe Art nimmt er manche bequemen alten Auffassungen auseinander: „Als falsch erwiesen hat sich das Denken der Menschen im 19. und 20. Jahrhundert, das sich von den radikalsten und revolutionärsten Aktionen die größten Erfolge versprach.“ 14 Nachdem er die Französische Revolution kritisch beobachtet hatte, warnte Goethe: „Alles, was unseren Geist befreit, ohne uns die Herrschaft über uns selbst zu geben, ist verderblich.“ 15 Dieser Prozess der inneren Übung ist das Kultivieren der eigenen inneren Welt. Zu anderen Zeiten und mit anderen Akzenten haben andere Menschen ähnliche Ängste vor institutionellen Reformen ausgedrückt, die bereits stattfinden, bevor die Menschen sich einem geistigem Training, einer Disziplin unterzogen haben. So schrieben beispielsweise der englische Philosoph Edmund Burke über die Französische und der französische Sozialhistoriker Alexis de Tocqueville über die Amerikanische Revolution. Mahatma Gandhi sorgte sich um die Russische Revolution und Sun Ya-Tsen um die Chinesische von 1912. Die Geschichte hat bewiesen, dass solche Ängste nicht grundlos waren. Heutzutage sind sozialistische und freie Gesellschaften gleichermaßen getränkt von Materialismus, sie leiden unter der Fixierung aufs Geld und unter dem Zusam-

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Teil II: Kultur – Dimensionen und Wirkungen

menbruch der Moral. Das Zeitalter des sogenannten „zufriedenen jungen Herrn“, 16 das Ortega y Gasset vor mehr als 60 Jahren beschrieb, scheint sich heute materialisiert zu haben.

Menschliche Revolution ist Charaktertraining Die traditionelle Art des Charaktertrainings konzentriert sich auf Stärke und Ausdauer. Shakyamunis letzte Worte waren: „Versäume nicht, deine innere Übung zu vervollständigen.“ Die Ausbildung der inneren Person war immer schon eine hauptsächliche Aufgabe des buddhistischen Lebensweges. Viele von Nichirens Aussagen sprechen dieses Thema direkt an. „Wenn Eisen in den Flammen erhitzt und geschlagen wird, entsteht ein hervorragendes Schwert.“ 17 Und: „Dies lässt sich mit einem blinden Spiegel vergleichen, der wie ein Juwel glänzt, sobald er poliert wird. Der Geist, momentan umwölkt von Illusionen aus der angeborenen Dunkelheit, ist wie ein blinder Spiegel. Doch poliert man ihn, wird er ganz zu einem klaren Spiegel, der die wahre Natur allen Daseins und das wahre Wesen der Wirklichkeit zeigt. Entwickeln Sie starkes Vertrauen und polieren Sie Ihren Spiegel gründlich bei Tag und bei Nacht.“ 18 Ferner: „Und dennoch bin ich nicht entmutigt. Das Lotos-Sutra ist wie der Same, der Buddha wie der Säende und die Menschen sind wie das Feld.“ 19 Bemerkenswert ist dabei: Jede dieser Empfehlungen, wie das innere Selbst verbessert werden könne, wurde als Gleichnis gefasst, indem konkrete Dinge verwendet wurden – Schwert, Spiegel, ein Feld bepflanzen. Die Welt von bäuerlicher und manueller Arbeit ist anders als andere Welten, etwa die des gedruckten Wortes. Um mit Erfolg das Korn wachsen zu lassen und Arbeit mit den Händen zu leisten, darf man bei der Arbeit nicht knausern, keine Schnellverfahren anwenden oder zu billigem Ersatz für mühselige Vorgänge greifen. Das Anpflanzen von Reis beispielsweise hat 88 Arbeitsschritte, bis die Ernte eingefahren und gelagert ist. Nur einen dieser Schritte auszulassen, könnte sogar weniger als unbefriedigende Resultate zu Folge haben. Das gleiche gilt für das Härten eines Qualitätsschwerts oder das Polieren eines Spiegels. Mit der gleichen Logik können wir an das Kultivieren von Charakter und Disziplin herangehen, an das Kultivieren unserer inneren Welt. Es ist ein anspruchsvoller Prozess, der keine Auslassungen oder Abkürzungen duldet. Und doch haben die „selbst-zufriedenen“ Kinder, die die moderne Zivilisation hervorgebracht hat, dem weisen Imperativ der inneren Kultivierung den Rücken zugekehrt. Da es so leicht ist, bequem zu leben, immer den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen oder zu eilen, um zu schnellen Ergebnissen zu

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kommen, scheinen diese Kinder manchmal von anderer Art zu sein: Menschen, deren Leben in vollständiger Gleichgültigkeit stattfindet gegenüber dem, was Ortega y Gasset als „herkulische Geschäfte“ beschrieb, die den Menschen mit reichen und disziplinierten inneren Welten zufallen. 20 So gilt nun, dass sowohl die früheren sozialistischen Länder wie auch die Länder der freien Welt, die vordergründigen Gewinner im alten Kampf der Ideologien, in ein gedankenloses Zeitalter abgetrieben sind, wo es keine Philosophie außer Zynismus und Geldgier gibt. Irgendwo in den tieferen Schichten der Menschen und ihrer Geschichte gibt es, da bin ich ganz sicher, einen Zusammenhang zwischen der unausgebildeten, schlaffen inneren Welt der modernen Menschen und dem geistbetäubenden, völkermordenden Schrecken, den dieses Jahrhundert in der äußeren Welt erlebt hat. Aus diesem Grunde sind wir von Soka Gakkai so unnachgiebig, was die Bedeutung der menschlichen Revolution angeht, ist sie doch nur eine andere Bezeichnung für die innere Kultivierung. Wir segeln auf unerforschtem Kurs der Morgendämmerung eines neuen „Jahrhunderts der Menschlichkeit“ entgegen. Um es noch einmal zusammenzufassen: Ich habe Ihnen drei Hauptthemen vorgestellt, die wahrscheinlich ausschlaggebend werden, wenn wir das 21. Jahrhundert hell und positiv gestalten wollen. Es sind dies Autonomie, Symbiose und die innere Kultivierung. Einzig die Geschichte wird beurteilen können, ob diese Eigenschaften einen Hoffnungsstrahl auf die faustische Agonie im Fegefeuer geworfen haben. Was auch immer geschieht: Kein Schritt kann getan werden ohne den ersten. Für mich als Anhänger des Buddhismus und als Mensch dieser Zeit, geboren, um die Prüfungen der Geschichte zu ertragen, gibt es keine andere Wahl als mit jedem zusammenzuarbeiten, der sich den gleichen Zielen verschrieben hat, und alles zu tun, um bei dieser völlig neuen Aufgabe zu helfen, die da vor uns liegt.

Teil III: Religion – Ihr Beitrag zur Moderne

Eine gottlose Zivilisation* Dr. Kojiro Yoshikawa, eine herausragende japanische Autorität auf dem Gebiet der chinesischen Literatur, sagt in einem seiner Bücher, China sei im Besitz einer „gottlosen Zivilisation“. Sicher entspricht keine Vorstellung innerhalb der chinesischen Zivilisation oder Kultur dem transzendenten jüdisch-christlichen oder islamischen Gottesbegriff. Und während andere asiatische Länder einschließlich Japans und Indiens einen gewaltigen Korpus alter Mythen bewahrt haben, scheint China eines der ersten Länder zu sein, das sich seiner Mythen entledigt hat. Konfuzius (um 551–480), so berichten es seine Gespräche, sprach „nie von Wundern, Kraftakten, Unregelmäßigkeiten oder geistigen Wesen“; 1 und die gleiche erdgebundene Ausrichtung scheint die chinesische Zivilisation als Ganze zu durchlaufen. Im konfuzianischen Sinne scheint mir der Ausdruck „gottlose Zivilisation“ außerordentlich angemessen.

Eine besondere Annäherung an das Universelle Welche Sichtweise hat die chinesische Zivilisation auf die Menschen und die Welt, in der sie leben? Um aus meiner unangemessenen Kenntnis dieses Themas etwas Allgemeingültiges abzuleiten, behaupte ich, dass das „Sehen des Universellen im Lichte des Besonderen“ die chinesische Annäherung kennzeichnet. Als Beispiel für das, was ich meine, führe ich an, dass Sima Qian (Ssu-ma Ch’ien, um 145–190) zu Beginn des biografischen Abschnittes von Shiji (Aufzeichnungen des Historikers) den populären Glauben zitiert, dass es der Weg des Himmels sei, keine Lieblinge zu haben, sondern immer auf der Seite des guten Menschen zu sein. Sima Qian zeigt dann, wie die Geschichte diese Ansicht untergräbt und führt Beispiele von guten Menschen an, die vernichtet wurden, und von bösen Menschen, die aufblühten. Seine eigene Reaktion darauf ist in den berühmten Worten überliefert: „Ich bin vollkommen verwirrt. Ist der sogenannte Weg des Himmels richtig oder falsch?“ Auch japanischen Lesern ist dieser kleine Absatz wohlbekannt. Ich habe indes nicht die Absicht, mich hier genauer auf die Bedeutung des *

Rede Daisaku Ikedas an der Universität Peking, China, 22. April 1980.

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Teil III: Religion – Ihr Beitrag zur Moderne

Begriffes „Weg des Himmels“ einzulassen. Zweifellos spiegelt er die konfuzianische wie auch die taoistische Philosophie wider, doch vom Standpunkt unserer Zeit aus hat er den Beigeschmack feudalistischer Ideologie. Gleichzeitig bezeugt die bloße Existenz eines solchen Konzepts die Sehnsucht der Menschen in alter Zeit nach einer Definition von universellen Prinzipien. Und dieses Verlangen, das universelle Gesetz oder Prinzip zu entdecken, das den Menschen und der natürlichen Welt zugrunde liegt und sie miteinander verbindet, ist ganz gewiss nicht nur den Chinesen eigentümlich; es ist vielmehr allen menschlichen Gesellschaften gemein. In dem zitierten Absatz stellt Sima Qian die Gültigkeit des „Weges des Himmels“ als universelles Prinzip in Frage; im Lichte bestimmter historischer Ereignisse hält es nicht stand. Der Historiker sprach zudem von seiner persönlichen Erfahrung. Ein enger Freund, Li Ling, war ein General, der im Kampf zur Kapitulation gezwungen wurde, was den Kaiser erzürnte. Als Siam Qian sich zur Verteidigung seines Freundes in Anwesenheit des Kaisers erhob, wurde er zur Kastration verurteilt. Die Li-Ling-Affäre und deren Konsequenzen bedeuteten einen schweren Schicksalsschlag. Die Bitterkeit und die Missstimmung, die bei Sima Qian als Ergebnis seiner Bestrafung aufkamen, spiegeln sich in vielen seiner Schriften wider. Vor allem aber zwang ihn dieses höchst schmerzhafte Ereignis, eine persönliche Einschätzung von gut und böse, richtig und falsch vorzunehmen. Bei der Frage, die den Weg des Himmels betraf, standen nicht Zweifel an dem Prinzip als Ganzem an, sondern daran, ob sein eigener, persönlicher „Himmelsweg“ – die Tragödie, die ihn als Individuum befallen hatte – rechtens war. In diesem Sinne bietet uns Siam Qian ein Beispiel für die chinesische Tendenz, das Universelle im Lichte des Besonderen zu sehen. Im Gegensatz dazu tendieren Gesellschaften, in denen der Gottesbegriff den Grundstein der Philosophie darstellt, zum Sehen des Besonderen im Lichte des Universellen. Gott lenkt das Schicksal der Welt von einem Bereich aus, der weit entfernt von den Menschen ist, und wir können beobachten, wie die absolute, universelle Gottheit die göttliche Vorsehung umsetzt, wollen wir sie in der Welt finden, in der wir leben. Die Beziehung von Gott und Mensch ist einseitig, insofern die Rolle des Menschen strikt passiv ist. Innerhalb eines solchen Systems ist es undenkbar, die Natur des „Himmelsweges“ in Frage zu stellen, so wie Sima Qian es tat. Ein solches In-Frage-Stellen wurde in Europa erst in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts akzeptiert, als der „Tod Gottes“ öffentlich verkündet wurde. Dementsprechend sahen die Europäer, als sie die Welt der Menschen und der Natur betrachteten, diese unvermeidlich auf analytische Weise: Sie betrachteten sie durch die Brille der Gottes-Vorstellung. Die Idee Gottes als Medium, durch

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welches man die Welt betrachtet, ließ sich in Kulturen mit anderen Historien und Traditionen indes nicht gut umsetzen. So griffen die Europäer zu Zwang und Nötigung, als sie versuchten, ihren Gott anderen aufzuzwingen, was einen aggressiven und rassistischen Kolonialismus zur Folge hatte, der nur sehr fadenscheinig hinter dem Schleier des religiösen Eifers versteckt war.

Ein ökumenisches Erbe Wegen ihrer Tendenz, das Universelle in Begriffen des Besonderen zu sehen, konnten die Chinesen ohne jede vermittelnde Vorstellung wie etwa die des Monotheismus auskommen. Sie haben versucht, grundlegende Prinzipien von universeller Gültigkeit direkt aus der Wirklichkeit abzuleiten. In seinen späteren Jahren sagte der britische Historiker Arnold J. Toynbee voraus, dass China eine zentrale Kultur innerhalb der Weltgeschichte würde, gestärkt durch die ökumenische Haltung, die das chinesische Volk über tausende von Jahren entwickelt hätte. Toynbee, der dem Christentum kritisch gegenüberstand, sah in der verehrungswürdigen chinesischen Tradition einen zart knospenden Kosmopolitismus, der den ganz anderen und aggressiven Universalismus Europas zu überholen verspricht. Ich will die harte Realität der chinesischen Geschichte nicht schönreden. Auch China hat inneren Dissens, Revolten, fremde Aggression, immer wieder Überflutungen und Dürren und dergleichen mehr erfahren. All das hat unsägliches Elend über die Menschen gebracht. Die revolutionären Bewegungen, die in China im 20. Jahrhundert aufkamen und ebenfalls auf ihre Art schmerzlich verliefen, waren nicht nur Versuche, die koloniale Herrschaft abzuwerfen, sondern sollten auch die Nation vom alten Feudalsystem befreien, das wie eine andauernde Krankheit die Herzen und Köpfe vieler Generationen von Chinesen vergiftet hatte. Das spirituelle Erbe des chinesischen Volks hat sich über viele Jahrhunderte hinweg entwickelt. Doch ist es weder leicht noch überhaupt ratsam zu versuchen, das tief verwurzelte Ethos eines Volks zu ändern. Vielmehr sollte dieses Ethos sorgsam in konstruktive und wohltätige Kanäle geleitet werden, sofern China helfen soll, eine lichte Zukunft für sich selbst, für Asien und für die Welt zu erschaffen. Schaue ich Porträts des Schriftstellers Lu Xun an (1881–1936), dann spüre ich die Klarheit des Blickes, mit dem er in den grundlegenden Charakter des chinesischen Volkes hineinschaute. Er versuchte, jedes vermittelnde Medium beiseitezulassen, um die Wirklichkeit so zu beobachten, wie sie ist. Als er die Men-

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Teil III: Religion – Ihr Beitrag zur Moderne

schen beschrieb, zog er alle Täuschungen und oberflächliches Beiwerk ab, um so ein wirkliches Bild der Menschen zu bekommen. Als begeisterter Leser seines Werks bewegt mich vor allem das Ende von A Madman’s Diary [Tagebuch eines Verrückten], das von der Schamlosigkeit handelt, mit der die Menschen einander zerstören. Lu Xun vergleicht diese Zerstörungsakte mit dem Kannibalismus. „Vielleicht gibt es noch Kinder, die keine Menschen gegessen haben? Rettet diese Kinder“ 2, ruft der Protagonist der Geschichte aus. Das moralische Gewicht trifft tief in das Herz des Lesers. Und in seiner True Story of Ah Q [Die wahre Geschichte von Ah Q], die von der untersten Stufe des Bauernstandes erzählt, schreibt er: „Doch war unser Held [Ah Q] nicht ohne Rückgrat. Immer frohlockte er. Das mag ein Beweis für die moralische Überlegenheit Chinas über den Rest der Welt sein.“ 3 Dieser schlichte Absatz ist ein eindringliches Porträt der wahren Natur gewöhnlicher Menschen, die, obwohl verstrickt in Unwissen und Armut, sich ihren eigenen Weg durch das Leben schlagen wie durch dichtes Unkraut. Die Stärke und angeborene Aufrichtigkeit von Lu Xuns Charakteren erinnert mich an den jungen Pariser Verbrecher in Les Misérables [Die Elenden] von Victor Hugo (1802–1885). Darin zeichnet Hugo eine Art von Unbestechlichkeit, die aus jenen Ideen hervorging, die zu Hugos Zeit in Paris im Schwange waren. Von Lu Xuns literarischer Bewegung kann nicht gesagt werden, sie wäre auf ganzer Linie erfolgreich gewesen. Doch ich bin sicher, dass die Aufgaben, die ihn zeitlebens beschäftigten, im heutigen China sorgsam aufgegriffen werden. Der Romancier Ba Jin, den in Japan zu treffen ich unlängst Gelegenheit hatte, erklärte, „ich schreibe, um meine Feinde zu schlagen“. Weiter sagte er damals: „Wer sind meine Feinde? Alle alten, traditionellen Auffassungen, jedes irrationale System, das den gesellschaftlichen Fortschritt und die Ausbreitung des menschlichen Geistes hemmt, alles, was die Liebe zerstört.“ Ba Jin war tatsächlich ein Kämpfer, wie Lu Xun, im Kampf gegen jeden oder alles, was den Menschen Schaden zufügen konnte.

Eine neue Art von Menschen „Dient dem Volk!“ und „Sei ein Diener des Volkes!“ gehören zu den Wahlsprüchen, die so oft in China seit der Revolution von 1949 aufgetaucht sind. Für mich sind sie das Versprechen einer neuen Art von Menschen, die eine neue Seite der Geschichte aufschlagen. Ein weiterer Wahlspruch, shishi qiuchi (Die Wahrheit in der Wirklichkeit suchen), erinnert an die chinesische Tendenz, das Universelle im Lichte des Be-

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sonderen zu sehen. Die dem zugrunde liegende Logik scheint demselben Muster zu folgen wie Sima Qians Erkundung, wie der Weg des Himmels in Wirklichkeit verlief. Beide stehen zutiefst in Beziehung zu einem der köstlichsten Elemente des geistigen Erbes Chinas: Der Überzeugung, dass man der Wirklichkeit direkt begegnen und auf dieser Grundlage entscheiden soll, wie die Wirklichkeit am besten wiederhergestellt werden kann. Wir leben in einer Zeit des grundlegenden Wandels und des Umbruchs. Der verstorbene Premier Zhou Enlai (1898–1976) sah voraus, dass das letzte Viertel des 20. Jahrhunderts eine Zeit von entscheidender Bedeutung sein würde. In Zeiten wie diesen müssen die Menschen auf der ganzen Welt Bande knüpfen, die nationale Grenzen überbrücken, wenn die Völker nicht noch einmal von den Schrecken des Krieges heimgesucht werden sollen. Wie Joseph Needham in der Einführung zu seinem monumentalen Werk Science and Civilization in China [Wissenschaft und Zivilisation in China] sagt: „Wir leben in der Morgendämmerung eines neuen Universalismus. Sofern die Menschheit die Gefahren überlebt, die daraus entstehen, dass unverantwortliche Menschen die Kontrolle über bis dato unvorstellbare Mächte haben, wird dieser Universalismus die arbeitenden Menschen aller Rassen in einer ebenso vielseitigen wie kooperativen Gemeinschaft vereinen.“ 4 Wir brauchen eine neue Art von Menschen, ein neues Bild des Menschen, der die führende Rolle bei der Entwicklung dieses Universalismus einnimmt. Ich glaube fest daran, dass China mit seiner langen Geschichte und seinem Fokus auf die Wirklichkeit über die unbegrenzte Energie verfügt, die man braucht, um diese neue Ära einzuläuten.

Das bleibende Selbst* Der Weg der Mäßigung Arnold J. Toynbee, Historiker und Philosoph, ist zutiefst beunruhigt über das künftige Schicksal der Menschheit. In den letzten fünf Jahren hatte ich Gelegenheit, eine ausgedehnte Reihe von Dialogen mit diesem großen Denker zu führen. Unsere Diskussionen waren mir eine Quelle der persönlichen Bereicherung und intensiver intellektueller Auseinandersetzung. 1 Toynbee gibt der jüngeren Generation ein anspruchsvolles Beispiel für Fleiß. Mit seinen 85 Jahren steht er allmorgendlich um 6.30 Uhr auf, ist um 9.00 Uhr an seinem Schreibtisch im Arbeitszimmer und macht sich an die Arbeit. Einst sah ich ihn am Schreibtisch sitzen und war betroffen von der Schönheit seines hohen Alters. Toynbee erzählte mir eine Episode um den fleißigen römischen Kaiser des dritten Jahrhunderts, Lucius Septimius Severus (146–211), der am Tage seines Todes, schwer krank zwar, aber dennoch seine Truppen in der Kälte Nord-Englands kommandierend, seinen Leuten als Motto das Wort laboramus ausgab: Lasst uns arbeiten. Der britische Historiker hat sich dieses Motto zu eigen gemacht, wie er mir sagte. Das, so dachte ich, war das Geheimnis seiner andauernden Energie und der Entschlossenheit, seine Arbeit fortzuführen. Toynbee hat jene Art von Schönheit, die von seinem lebenslangen intellektuellen Kampf und seiner ständigen Gewissensprüfung herrührt. Unsere Gespräche betrafen einen gewaltigen Bereich, einschließlich Themen wie Zivilisation, Leben, Lernen, Erziehung, Literatur, Kunst, Wissenschaft, internationale Angelegenheiten, die modernen Gesellschaft, die Natur des Menschen und Frauen. Toynbee war außerordentlich besorgt darüber, welchen Lauf die Ereignisse nach seinem Tod nehmen würden. Ihm war sehr daran gelegen, eine inspirierende Botschaft all denen zu hinterlassen, die nachfolgen würden. Sein heftiger Wunsch, zukünftigen Generationen beizustehen, war das beherrschende Thema unserer Diskussionen. Ich hoffe, dass mein Leben, wenn es zu Ende geht, keine geringere Hingabe an das Wohlergehen der Nachwelt offenbaren wird. Nach Toynbee hat der Technikrausch des 20. Jahrhunderts zur Vergiftung unserer Umwelt geführt und die Möglichkeit geschaffen, dass die Menschheit *

Rede Daisaku Ikedas an der University of California, Los Angeles, USA, 7. April 1974.

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sich selbst zerstört. Er glaubt, dass jede Lösung der gegenwärtigen Krise von der Selbst-Kontrolle abhängt. Die Meisterung des Selbst jedoch kann weder durch extreme Genusssucht noch durch extreme Askese erlangt werden. Die Menschen des 21. Jahrhunderts müssen lernen, den Mittelweg zu beschreiten, den Weg der Mäßigung. Ich finde diese Anweisung besonders sympathisch, weil die Ideale der Mäßigung und des mittleren Weges auch durchgängig Elemente des MahayanaBuddhismus sind. In diesem Sinne verweist die Mäßigung auf eine Lebensweise, die eine Synthese aus Materialismus und Spiritualismus ist. Der Weg der Mäßigung ist die einzige Antwort auf die gegenwärtige Krise der Zivilisation. Um diesem Weg zu folgen, braucht die Menschheit einen verlässlichen Führer. Toynbee und ich sannen auch über einige methodologische Probleme nach, kamen aber überein, dass die vorherrschende Beschäftigung mit Technik uns nirgendwo hinführen wird. Auf der Suche nach der Führung, derer wir heutzutage bedürfen, müssen wir zu solch grundlegenden Dingen wie zur Natur der Menschheit und zum Sinn der Existenz zurückkehren, die beide notwendig zur Frage nach der wesentlichen Qualität des Lebens führen. Zu wissen, was wir wirklich sind, was das Leben ist, ist fundamental für das Verständnis von Kulturen und Zivilisationen. Wenn die Menschen des 21. Jahrhunderts die wahre Natur des Lebens zu begreifen in der Lage sind, wird die Menschheit von der Vernarrtheit in Technologie wegkommen und eine Zivilisation erschaffen, die im reichsten und vollsten Sinne des Wortes human ist. Eine der grundlegenden Lehren des Buddhismus besteht darin, dass das menschliche Leben eine Anhäufung von Sorgen ist: die Last der Geburt, das Leid, alt zu werden, die Mühsal der Krankheit, der Kummer um den Tod derer, die wir lieben, letztlich der um den eigenen Tod. Dies sind die grundlegenden Leiden, doch es gibt noch weitere. Angenehme Zeiten sind flüchtig; wir alle müssen uns der Betrübnis aussetzen, sie enden zu sehen. In der heutigen Gesellschaft gibt es viele Gründe zum Unglücklichsein; etwa das Vorhandensein von rassischer und ethnischer Diskriminierung und die immer größer werdende Kluft zwischen arm und reich. In unserem Leben treten Kummer und Schmerz aus vielen Gründen auf, doch was ist die Ursache für das Leid an sich? Die buddhistische Antwort darauf lautet, dass nichts im Universum beständig und Leid das Ergebnis der menschlichen Unfähigkeit ist, eben dieses Prinzip zu begreifen. Die vergängliche Natur aller Phänomene ist offensichtlich. Der junge Mensch muss alt werden, der gesunde krank, alle lebendigen Geschöpfe müssen am Ende sterben, und das alles hat letztlich Verwesung zur Folge. Wie Heraklit vor fast zweieinhalb Jahrtausenden sagte, sind alle Dinge im steten Fluss; nichts im Universum bleibt dasselbe,

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sondern alles gleitet von Augenblick zu Augenblick dahin wie der Strom eines mächtigen Flusses. Trotz all dem, was unsere Sinne uns weismachen wollen, ist nichts unveränderlich. Zudem ist es ein grundsätzlicher Lehrsatz des Buddhismus, dass das Festhalten an der Illusion der Beständigkeit der Grund für die Leiden des menschlichen Geistes ist.

Anhaftung an das Vergängliche Auf Beständigkeit zu hoffen ist nur allzu menschlich. Wir alle wollen, dass Schönheit und Jugend auf immer andauern. Arbeiten wir, um gute Dinge für die Welt zu erwerben, dann bauen wir darauf, dass jeglicher Reichtum, den wir anhäufen, auch von Dauer sein wird. Und doch bemerken wir, dass, gleichgültig wie hart wir arbeiten und wie sehr unser Bankkonto anwächst, wir dennoch nicht, wie die Redewendung es besagt, diese Dinge mit uns nehmen können. Auch wenn wir das begreifen, fahren wir dennoch mit der Arbeit fort, um die Wohltaten unseres Verdienstes zu genießen, und natürlich wollen wir sie so lange wie möglich genießen. Dies aber ist eine der Quellen für das Leid: Wir können die Früchte unserer Arbeit nicht für immer behalten. Das gleiche gilt für unsere menschlichen Beziehungen. Gleichgültig, wie groß die Liebe ist, die wir fühlen, oder wie sehr man wünscht, sie möge andauern: Der Tag der Trennung muss kommen. Der Verlust eines geliebten Menschen – Ehegatte, Frau, Eltern, Kind, Freund – hat das größte geistige Leiden zur Folge, das wir aushalten müssen. Das Anhaften an Menschen führt zu Kummer; das an Dinge und das gierige Verlangen nach materiellen Gütern können zum Quell von Konflikten werden; das Anhaften an Macht führt oft zu Krieg. Das zu große Anhaften an das eigene Leben kann den Abstieg in einen Morast aus Ärger und Furcht zur Folge haben. Die meisten von uns ärgern sich ja nicht ständig über das Bevorstehen des Todes. Ganz im Gegenteil: Wir durchleben unseren Alltag und sind mehr oder weniger davon überzeugt, dass wir eine unbestimmte Zukunft lang noch weiterleben. Es gibt aber Menschen, die unfähig sind, diese optimistische Haltung blind anzunehmen. Besessen vom rasenden Verlangen, so lange wie möglich zu leben, werden sie von der Furcht vor Tod, Alter und Krankheit zerfressen. Was wir auch immer tun, das menschliche Leben verändert sich stets. Unser Körper, diese physische Manifestation der unaufhörlichen Verwandlung des Universums, muss eines Tages sterben. Um unser Leben gesund und sinnerfüllt zu führen, müssen wir unserem Schicksal gelassen und ohne Furcht gegenübertreten. In buddhistischen Begriffen kann der Pfad zur Erleuchtung nicht ohne das Anerkennen der ständigen universellen Veränderung beschritten werden.

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Es wäre indes falsch, die Nützlichkeit des Anhaftens an Dinge ganz von der Hand zu weisen, auch wenn sie unbeständig sind. Solange wir leben und Menschen sind, ist es vollkommen natürlich, dass wir danach streben, das Leben zu bewahren, die Liebe anderer wertzuschätzen und die materiellen Wohltaten dieser Erde zu genießen. Zu bestimmten Zeiten und Orten hat man buddhistische Lehren so verstanden, als träten sie für den Abbruch aller Verbindungen mit den Leidenschaften und Begierden dieser Welt ein. Man hat diese Lehren auch als Gegensatz zum oder doch zumindest als Hindernis für zivilisatorischen Fortschritt gesehen. Der Buddhismus ist in der Tat tief in die japanische Kultur und Psyche eingedrungen. Es mag sein, dass der Mangel an fortschrittlicher Technologie in manchen buddhistischen Nationen zum Teil der Lehre der Vergänglichkeit zuzuschreiben ist; das aber ist nur ein Aspekt der Philosophie. Wesentliche buddhistische Lehren drängen nicht auf den Bruch mit allem diesseitigen Begehren oder auf Trennung von allen Bindungen. Sie predigen weder Resignation noch Nihilismus. Buddhistisches Denken ist im Kern eine Lehre des unveränderlichen Gesetzes, des wesentlichen Lebens, der unveränderlichen Essenz, die unter aller Vergänglichkeit des Gegebenen liegt, das, was alle Dinge vereint, ihnen Rhythmus gibt und die Begierden und Anhaftungen des menschlichen Lebens hervorbringt. Wir alle bestehen aus einem niedrigeren und einem höheren Selbst. Von den Umständen der Gegenwart geblendet und von unmäßigem Begehren gepeinigt zu sein heißt, einzig für das niedrigere Selbst zu existieren. Für das höhere Selbst zu leben heißt, das universelle Prinzip hinter allen Dingen anzuerkennen und, dieserart erleuchtet, sich über die Vergänglichkeit der weltlichen Phänomene zu erheben. Was aber ist dieses größere Selbst? Es ist das grundsätzliche Prinzip des gesamten Universums. Gleichzeitig ist es das Gesetz, das die unendlichen Manifestationen und Aktivitäten des menschlichen Lebens hervorbringt. Arnold Toynbee, der das höhere Selbst als höchste geistige Realität des Universums beschreibt, sieht die buddhistische Vorstellung vom Gesetz näher an der Wahrheit als die Idee eines anthropomorphen Gottes. Für das höhere Selbst zu leben bedeutet nicht, das niedrigere Selbst aufzugeben, denn dieses kann nur handeln aufgrund der Existenz des höheren Selbst. Die Wirkung dieser Beziehung besteht darin, das Begehren und Anhaften, das allen Menschen gemein ist, anzuregen, damit die Zivilisation fortschreiten kann. Wäre Reichtum nicht attraktiv, würde wirtschaftliches Wachstum nicht stattfinden. Hätten die Menschen nicht darum gekämpft, die natürlichen Elemente zu besiegen, wäre die Naturwissenschaft nicht erblüht. Ohne die gegenseitige Anziehung und die Auseinandersetzungen, die für die Beziehung der Geschlechter

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charakteristisch sind, wäre die Literatur eines ihrer lyrischsten und langlebigsten Themen beraubt. Manche Zweige des Buddhismus haben zwar gelehrt, die Menschen müssten sich von Begierden befreien oder manchmal gar das Selbst-Opfer als Weg der Befreiung von diesem Leben hinnehmen, doch ein solcher Ansatz ist trotzdem nicht repräsentativ für die höchsten Bestandteile des buddhistischen Denkens. Begierden und Leiden sind wesentliche Aspekte des Lebens; man kann sie nicht auslöschen. Begierden und alles, was darin eingeschlossen ist, sind fruchtbare, antreibende Kräfte. Dennoch muss das Verlangen (sowie das niedrigere Selbst, welches davon betroffen ist) richtig ausgerichtet sein. Im Streben, das höhere Selbst zu entdecken, besteht der wahre buddhistische Ansatz darin, das geringere Selbst nicht zu unterdrücken oder auszulöschen, sondern es zu kontrollieren und anzuleiten, damit die Zivilisation auf eine bessere, höhere Stufe gehoben wird.

Jenseits von Leben und Tod Der Buddhismus lehrt, dass alle Dinge vergehen werden und man dem Tod mit offenen Augen gegenübertreten muss. Trotzdem war der Buddha kein Prophet des Verzichts, sondern vielmehr ein Mensch, der das volle Verständnis des Gesetzes der Unbeständigkeit erlangt hatte. Er lehrte die Notwendigkeit, dem Tod und aller Veränderung ohne Furcht gegenüberzutreten, weil er wusste, dass das unveränderliche Gesetz der Quell alles Lebens und aller Werte ist. Keiner von uns kann dem Tod entkommen, und der Buddhismus lehrt uns zu sehen, dass hinter dem Tod das ewige, unveränderliche, höhere Leben ist – das wir als „Gesetz“ bezeichnen. Geborgen im absoluten Glauben, dass dies die Wahrheit ist, können wir sowohl unserem eigenen Tod wie auch der Unbeständigkeit aller weltlichen Dinge mit Mut begegnen. Nach dem buddhistischen Gesetz, und weil das Leben selbst ewig und universal ist, sind Leben und Tod bloß zwei Aspekte derselben Sache. Keiner ist auf eine wie auch immer geartete Weise dem anderen untergeordnet. Der japanische Ausdruck Ku¯ hilft uns, das höchste, ewige Leben zu verstehen, das unser individuelles Leben und Sterben regiert. Ku¯ transzendiert die Vorstellung von Raum und Zeit, weil es unbegrenzte Möglichkeiten bezeichnet; es ist die Essenz, aus welcher alle Dinge manifest wurden und zu welcher alles zurückkehrt. Weil es ewig und all-durchdringend ist, überwindet es den Rahmen von Raum und Zeit. In unseren vielen Diskussionen über die Ewigkeit sagte Toynbee, er spüre in der Idee des Ku¯ eine Annäherung an das, was er die höchste spirituelle Wirklichkeit nennt.

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Unmöglich kann man in so kurzer Zeit der Idee des Ku¯ Gerechtigkeit widerfahren lassen, dennoch möchte ich gerne einige Anmerkungen machen. Zunächst einmal ist Ku¯ nicht die Nichtexistenz. Tatsächlich ist es weder Existenz noch Nichtexistenz. Diese beiden Begriffe sind menschliche Interpretationen der Realität, die auf den Raum-Zeit-Achsen beruhen, mit denen wir gewöhnlich unsere Erfahrungen und unsere Umgebung bemessen. Ku¯ ist tiefer, wesentlicher; es ist die fundamentale Realität. Seine Natur kann mit Verweis auf die universellen Erfahrungen der menschlichen Entwicklung illustriert werden. Die psychischen und physischen Veränderungen, die stattfinden, wenn das Individuum von der Kindheit zur Reife wächst, sind so groß, dass die gesamte Person wie verwandelt scheint. Doch während dieses Prozesses gibt es ein Selbst, das Geist und Körper vereint und dabei relativ konstant bleibt. Nicht immer sind wir uns dieses Selbst bewusst, das sowohl auf körperlicher wie auf geistiger Ebene manifest ist, dennoch ist es die fundamentale Wirklichkeit, die jenseits des Bereiches von Existenz und Nichtexistenz liegt. Gemäß buddhistischer Philosophie ist dieses bleibende Selbst direkt mit dem großen Gewebe des kosmischen Lebens verbunden, daher ist es auch imstande, ewig zu wirken, hier in der Phase des Lebens, dort in der des Todes. Daher betrachtet der Buddhismus Leben und Tod als Einheit. Weil das geringere Selbst im höheren Selbst umschlossen ist, hat jeder von uns Teil am unveränderlichen kosmischen Leben, während wir in der Welt von Vergänglichkeit und Veränderung leben.

Die Bande der Begierden zerbrechen Leider scheinen moderne Gesellschaften fast vollständig vom den Begierden des geringeren Selbst beherrscht zu sein. Die menschliche Gier hat ein immenses, ausgeklügeltes technologisches System geschaffen, das verheerende Kosten verursacht hat wie durch die Vergiftung der Umwelt und den Raubbau der natürlichen Ressourcen des Planeten. Das Anhaften an Dingen, Begierden und Leidenschaften hat zur Erschaffung riesiger Bauwerke, wuchernder Transportsysteme und bedrohlich machtvoller Waffentechnik geführt. Wenn die Haltungen, die diese Dinge haben entstehen lassen, ungeprüft weiter bestehen bleiben, scheint die Selbst-Zerstörung der Menschheit unvermeidlich. Dennoch bleibe ich voller Hoffnung, dass die gegenwärtige weltweite Tendenz, über das nachzudenken, was in der Gesellschaft passiert, und menschliche Werte zu fordern, ein Zeichen dafür sind, dass wir endlich danach suchen, was uns als Menschen eigentlich ausmacht.

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Ganz gleich, wie hervorragend die eigenen intellektuellen Fähigkeiten sind: Ein Mensch ist nicht mehr als ein Tier, wenn er vollständig von Leidenschaften und dem Streben nach dem Unbeständigen beherrscht ist. Es ist nun die Zeit für alle Menschen gekommen, auf die andauernden Aspekte des Lebens zu schauen und dieserart ein Leben zu führen, das wahre menschliche Werte hervorbringt. Wie kann das bewerkstelligt werden, jetzt und in Zukunft? Noch einmal schlägt Arnold Toynbee einen Weg vor. Er bezeichnet die Gier und die Begierden des niedrigeren Selbst als diabolisches Verlangen; der Wille aber, eins zu werden mit dem höheren Selbst, ist liebendes Begehren. Toynbee behauptet, dass die Menschen nur dann das Erstere kontrollieren und dem Letzteren die freie Herrschaft einräumen könnten, wenn sie stete Wachsamkeit und Selbst-Beschränkung an den Tag legen. Ich hoffe, dass die menschliche Zivilisation sich zukünftig vom Gefesseltsein an das niedrigere Selbst befreien und fortentwickeln wird, mit dem Verständnis für das andauernde Selbst, welches hinter der dahineilenden Existenz der materiellen Welt fortbesteht. Dies ist der einzige Weg, der uns bleibt, wollen wir unserer Menschlichkeit würdig bleiben und soll die Zivilisation eine wahrhaft humane werden. Die Zukunft sollte dem Respekt für das Leben im weitesten Sinne gewidmet sein, denn das Gesetz hinter dem Universum ist das Leben selbst. Auf welcher Grundlage die Menschen zu handeln sich entschließen – dies wird Erfolg oder Misserfolg in der Zukunft bestimmen. Entscheiden wir uns, im Morast der selbstsüchtigen Begierden und der Gier zu zappeln? Oder werden wir sicher auf dem festen Grund der Erleuchtung wandeln, im vollen Bewusstsein des höheren Selbst? Die Verwirklichung der Träume für das Wohlergehen und das Glück aller Menschen hängt gänzlich von unserer Bereitschaft ab, uns auf die unveränderliche, gleichbleibende, mächtige Wirklichkeit zu konzentrieren, die das Gesetz ist und das höhere Leben. Wir sind an dem Punkt angelangt, da diese Entscheidung getroffen werden muss. Unsere Zeit ist eine Zeit, in der wir alle uns entscheiden müssen, ob wir menschlich im reichsten und vollsten Sinne des Wortes werden wollen. Auch wenn es sich extrem anhören mag: Mir scheint, dass die Menschen in der Vergangenheit sich kaum besonders weit über das Stadium eines intelligenten Tieres erhoben haben. Vor 700 Jahren schrieb Nichiren, der Gründer jener religiösen Gruppe, deren Mitglied ich bin, vom „begabten Tier“. Betrachtet man die Taten der Menschen in der modernen Welt, werden seine Worte besonders bedeutungsvoll. Es ist meine feste Überzeugung, dass wir mehr werden müssen als nur ein intelligentes oder begabtes Tier. Es ist Zeit, dass wir im spirituellen Sinne aktiv werden, während wir uns bemühen, ein Verständnis für das höhere Selbst und das kosmische Leben zu erlangen.

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Jeder Mensch muss für sich den Weg finden. Ich fand den meinen im Buddhismus, und voller Vertrauen in seine Lehre habe ich mich vor langer Zeit an Bord begeben zur Reise des Lebens. Die jungen Menschen heute sind in der Lage, vieles zum Guten der Menschheit zu bewirken. Nachdem ich einige Fragmente der Weisheit des Buddhismus dargeboten habe, würde ich mich glücklich schätzen, wenn das, was ich gesagt habe, ihnen eine Hilfe wäre, wenn sie ihren Weg in die Zukunft suchen.

Ethos der Symbiose* Die Bedingungen in aller Welt werden immer chaotischer. Der verstorbene chinesische Premier Zhou Enlai sagte voraus, die Welt würde bald großen Veränderungen unterworfen sein, und ganz offensichtlich haben sich seine Worte bewahrheitet. Seit dem Zusammenbruch des Kalten Krieges, dessen Weltordnung durch die Rivalität zwischen den USA und der Sowjetunion zementiert war, hat sich die globale Situation so schnell verändert, dass wir nicht einmal eine Sekunde wegzublicken wagen. Eine Entwicklung aber war stetig und setzt sich weiter fort, und das ist das neue Interesse an Ostasien – an China, Japan, Nord- und Südkorea, an Taiwan und Hongkong. Der wesentliche Grund für die wachsende Aufmerksamkeit ist die beeindruckende Wirtschaftsleistung dieser Region. Zuerst hat Japan, kürzlich dann haben auch die sogenannten Tigerstaaten ein bemerkenswertes wirtschaftliches Wachstum an den Tag gelegt. Diese Leistung und dazu die enorme Vitalität Chinas machen deutlich, dass Ostasien im 21. Jahrhundert ein wichtiges Zentrum der Weltwirtschaft sein wird, welche Unsicherheiten auch immer bleiben mögen. Doch der neue Fokus auf Ostasien erfasst weit mehr als nur die Wirtschaft. Es besteht auch ein sehr großes Interesse an den Aspekten der Kultur, die zur Erfolgsgeschichte Ostasiens beigetragen haben oder sie erklären können. Die einer Region gemeinsamen Kulturelemente bilden einen „kulturellen Bereich“. In Japan trifft man zurzeit oft auf Begriffe wie „konfuzianischer Kulturbereich“, und der Begriff „chinesisch-ideographischer Kulturbereich“ wird in Diskussionen wie auch in Druckschriften benutzt. Analytiker aus den Industrienationen des Westens legen einen besonderen Eifer an den Tag, diese kulturellen Elemente zu studieren. Insgesamt halte ich die Aussage für gerechtfertigt, dass das Hauptgewicht bei der Annäherung an Ostasien sich von der „Hardware“ zur „Software“ der Entwicklung verlagert.

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Rede Daisaku Ikedas an der Chinesischen Akademie für Gesellschaftswissenschaften, Peking, China, 14. Oktober 1992.

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Das „Wir“ über dem „Ich“ Wie lassen sich ostasiatische Kultur und Spiritualität am besten beschreiben, jene flüchtigen Elemente, die den Herzschlag dieser Zivilisation ausmachen? Eine einfache Antwort darauf gibt es natürlich nicht. Sollte ich aber eine Weltsicht vorstellen, die von der ganzen Region geteilt wird, würde ich das „Ethos der Symbiose“ hervorheben. Dabei spreche ich von jener Mentalität, die die Harmonie dem Gegensatz vorzieht, die Einheit der Teilung, das „Wir“ dem „Ich“. Praktisch wird es in der Vorstellung ausgedrückt, dass die Menschen in Harmonie miteinander und mit der Natur leben sollten. Dadurch, dass man einander gegenseitig unterstützt, erblüht die Gemeinschaft als ganze. Diese Überzeugungen gedeihen vor dem Hintergrund des eher gemäßigten asiatischen Klimas und seiner schönen Natur. Es kann keinen Streit darüber geben, dass der Konfuzianismus eine wichtige Quelle des Ethos der Symbiose ist. Doch müssen wir zwischen traditionellen konfuzianischen Lehrsätzen wie etwa den „drei Grundregeln“, den „fünf Haupttugenden“ 1 und der allgemeinen konfuzianischen Bevorzugung der Gruppe vor dem Individuum unterscheiden. Die ersteren, eher spezifischen Lehren sollen die Beziehungen und das Verhalten regulieren und tendieren dazu, den status quo sozialer Hierarchien zu sanktionieren, was jedoch eine Gesellschaft starr werden lässt und zum Stillstand führt. Es war daher nur natürlich, dass die Bewegung des 4. Mai eine solche feudalistische Ideologie angriff. Diese negativen Auswirkungen des Konfuzianismus können bis auf seine Einsetzung als offizielle Ideologie während der Han-Dynastie (202–105) zurückgeführt werden, was auf Drängen von Dong Zhongshu (179–104) geschah und sie fast zur nationalen Religion machte. Wie aber auch die Geschichte des römischen Katholizismus zeigt, verliert eine Religion, sobald sie sich weltlichen Autoritäten unterordnet und zum Werkzeug der herrschenden Klasse wird – womit sie sich vom Leben des Volkes abschneidet – ihre Wurzeln und damit den Quell ihrer Frische und Lebendigkeit. Was aber kann ein solches Relikt, umgeben von der stillen Aura einer längst vergangenen Zeit, zur Zivilisation des 21. Jahrhunderts beitragen? Dieser negative Aspekt des Konfuzianismus ist ein Grund dafür, dass ich gegenüber Japans erstaunlichem und laut heraus trompeteten wirtschaftlichem Wachstum der letzten Jahrzehnte gewisse Vorbehalte habe. Japans Leistung, getragen von einer Philosophie, die auf Lehren aus früheren Zeiten beruhten, hat große persönliche Opfer und Beeinträchtigungen individueller Menschenrechte bedeutet. Das ist eine Kritik, die von westlichen Beobachtern Japan gegenüber oft vorgebracht wird und für die es handfeste Gründe gibt. Die Doktrin der absoluten Vorherr-

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schaft „der Firma“ wird unterstützt durch eine feudalistische, exklusive Denkungsart, die oberflächlich einem Ethos der Symbiose ähnelt, in Wirklichkeit aber doch etwas ganz anderes ist: ein Gesetz, welches das Selbstopfer über alles andere stellt. Das lebendige, wirkliche Ethos der Symbiose, das die Völker Ostasiens beherzigen, ist weder beschränkt auf, noch definiert durch solche Verhältnisse, wie sie die „drei Grundregeln“ postulieren. Es ist vielmehr eine universelle Haltung, die durch Offenheit und Dynamik charakterisiert ist und flexibel auf die sich verändernden Zeiten reagiert. Als Ethos unterscheidet es sich sowohl vom Nicht-Sein und dem uranfänglichen Chaos des taoistischen Denkens wie auch von den Normen, die Gesellschaft und Individuen einschränken. Der bedeutende französische Sinologe Léon Vandermeersch machte die weitsichtige Beobachtung, dass „der Konfuzianismus mit der alten Gesellschaft nur untergehen konnte. […] Doch genau dann, wenn der Konfuzianismus vollständig abgestorben ist, kann sein Vermächtnis in neue Denkformen gebracht werden, ohne dabei den verschiedenen Faktoren seiner Entwicklung zu widersprechen.“ 2 Vielleicht kann die Wieder-Einsetzung des konfuzianischen Vermächtnisses als Gegenmittel zum exzessiven Individualismus der westlichen Zivilisation dienen und somit bei der Verwirklichung eines universellen „Weges der Menschlichkeit“ helfen. Einen solchen universellen Weg zu finden und ihm zu folgen ist eines der wichtigsten Ziele für die Zivilisationen der Zukunft. Das Ideal des Datong oder der „großen Einheit“ war ein wichtiger Begriff im späten konfuzianischen Denken in China, und es war ein Schritt in Richtung eines Ethos der Symbiose. Als Professor Kong Fan von der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften Japan im Jahre 1990 besuchte, gab er eine sehr erhellende Darstellung, worin er auf den zutiefst affirmativen Kern der späten konfuzianischen Philosophie hinwies. Dies ist die Philosophie der großen Einheit, in Worte gefasst von Kang Yuwei (1858–1927) und Tan Sitong (1865– 1898) und weiter entwickelt von Sun Yat-sen (1866–1925). Tan Sitong stellte die Anschaulichkeit und Allgemeingültigkeit der Idee der großen Einheit heraus, indem er sie sehr performativ darstellte. In allen Bereichen der Elemente unseres Daseins, im leeren Raum und den empfindungsfähigen Wesen, ist sie etwas außerordentlich kultiviertes und subtiles. Sie lässt alles anhaften, dringt in alles ein und verbindet alles, so dass alles von der großen Einheit durchdrungen ist. Die Idee dieser großen Einheit scheint mir der Traum des chinesischen Volkes von einer idealen Gesellschaft zu sein, eine große Utopie, die auf dem Ethos der Symbiose beruht.

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Richtigstellung der Begriffe Eine der Quellen der utopischen Vision ist der leidenschaftliche intellektuelle Kampf von Konfuzius (ca. 551–480). Mehrere berühmte Abschnitte seiner Gespräche zeigen die genaue und ausbalancierte Haltung, die Konfuzius zwischen menschlichem Wissen und menschlichen Handlungen hier und transzendenter Weisheit dort einnahm: „Was man weiß, als Wissen gelten lassen, was man nicht weiß, als Nichtwissen gelten lassen: das ist Wissen.“ 3 „Wenn man noch nicht den Menschen dienen kann, wie sollte man den Geistern dienen können?“ 4 „Wenn man noch nicht das Leben kennt, wie soll man den Tod kennen?“ 5 Diese gewichtigen Aussagen, die an Sokrates’ „Weisheit des Unwissens“ erinnern, konnten nur von einem Geist herrühren, der ebenso ausgezeichnet wie demütig war. Konfuzius’ Aussagen sind in Aphorismen gefasst, weil ihr semantischer Gehalt im Medium der chinesischen Schriftzeichen klar und überzeugend ist. Der intellektuelle Kampf aber, der der Ausbildung dieser schlichten Feststellungen vorausging, entspricht dem der umfangreichen eindringlichen Dialoge und Debatten, in die Sokrates verwickelt war und die ihn letztlich das Leben kosteten. Der vielleicht archetypische Ausdruck von Konfuzius’ intensiver Suche nach der Seele ist die von Zi-lu aufgeworfene Frage, die für die Entwicklung der Theorie von der „Richtigstellung der Begriffe“ entscheidend werden sollte. Zi-lu sagte: „Der Fürst von Wei wartet auf den Meister, um die Regierung auszuüben. Was würde der Meister zuerst in Angriff nehmen?“ Der Meister sprach: „Sicherlich die Richtigstellung der Begriffe.“ Zi-lu sprach: „Darum sollte es sich handeln? Da hat der Meister weit gefehlt! Warum denn deren Richtigstellung?“ Der Meister sprach: „Wie roh du bist [, Yu]! Der Edle lässt das, was er nicht versteht, sozusagen beiseite. Wenn die Begriffe nicht richtig sind, so stimmen die Worte nicht; stimmen die Worte nicht, so kommen die Werke nicht zustande; kommen die Werke nicht zustande, so gedeihen Moral und Kunst nicht; gedeihen Moral und Kunst nicht, so treffen die Strafen nicht; treffen die Strafen nicht, so weiß das Volk nicht, wohin Hand und Fuß setzen. Darum sorge der Edle, dass er seine Begriffe unter allen Umständen in Worte fassen kann und seine Worte unter allen Umständen zu Taten machen kann. Der Edle duldet nicht, dass in seinen Worten irgendetwas in Unordnung ist. Das ist es, worauf es ankommt.“ 6 Hier entspricht die Feststellung „Der Edle lässt das, was er nicht versteht, sozusagen beiseite“, dem früher zitierten Absatz: „Was man weiß, als Wissen

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gelten lassen, was man nicht weiß, als Nichtwissen gelten lassen: das ist Wissen“. Diese rigorose, asketische Haltung gegenüber der Sprache scheint ein Kennzeichen aller großen Intellektuellen zu sein, früherer wie heutiger. Hier geht es um die Entsprechung von Sprache und Wirklichkeit oder der von Name und Sache. Im Mittelalter trugen die europäischen scholastischen Philosophen fruchtlose und scheinbar endlose Debatten um Realismus und Nominalismus aus. Zu Zeiten großer Umbrüche, wenn die Krisenstimmung generell ansteigt, wenden große Denker ihre Aufmerksamkeit gerne der Neudefinition der Terminologie zu. Das galt schon für Sokrates, auch für Descartes (1596–1659), den „Vater der modernen Philosophie“. Descartes lebte in einer chaotischen Zeit, nach dem Zusammenbruch der scholastischen Hierarchie. Ehe er auch nur zu der einen Aussage „Ich denke, also bin ich“ kommen konnte, hatte er eine ganze Pilgerreise von erstaunlicher Dauer und unablässiger Selbst-Befragung unternehmen müssen. Das gleiche Anliegen erkennen wir im schmerzlichen Bekenntnis des Konfuzius: „Ich möchte lieber nichts reden“ 7, das seinen Schüler Zigong so überraschte. Viele Jahrhunderte später reklamierte Tan Sitong – kennzeichnend für die Krisenstimmung der späten Qing-Dynastie in China –, dass „Begriffe ein Hindernis“ seien, wenn man „die Menschheit verstehen“ wolle. In seinem Schrifttum beklagte er die Schwäche des menschlichen Urteils, das sich so sehr an Begriffe klammert. Das heutige lebhafte Interesse an Sprache, im Westen wie im Osten, weist damit auch auf die tiefe Dunkelheit hin, welche die heutige Zeit bedeckt. Wichtig ist die Erkenntnis der absoluten Radikalität von Konfuzius, der im Bestreben, Riten, Musik und Strafen als Grundprinzipien der Herrschaft und als Grundlagen der gesellschaftlichen Hierarchie zu harmonisieren, die Richtigstellung der Begriffe zum Fixpunkt seiner Politik machte. Sicher wird sein gedanklicher Austausch mit Zi-lu ein politischer Disput um die Thronfolge gewesen sein; eine Diskussion darüber, wer sich selbst einen Herrscher nennt und wer verdient, sich selbst einen Herrscher zu nennen. Doch die Radikalität von Konfuzius’ Denken geht weit über dessen mögliche Anwendung auf die Politik hinaus. In seinem Versuch, Sprache und Realität zu vereinen, kämpft Konfuzius um eine höhere spirituelle Reinheit. Sein Denken antizipiert die Suche nach dem letzten Urgrund der Ordnung, nach der kosmischen Achse, wie sie zuweilen beschrieben wird. Seit alters her haben die Denksysteme, die die Bezeichnung „Philosophie“ oder „Religion“ verdienen, eine allumfassende Weltsicht mit zumindest zwei Dimensionen entwickelt. Deren erste ist eine Theorie des Wertes, eine Ethik, die sich darauf bezieht, wie das Leben der Menschen sein sollte. Die zweite ist eine Theorie des Seins, eine Ontologie, die die Struktur der Existenz oder der Welt

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postuliert. Oft hat man bemerkt, dass das Denken von Konfuzius, Mencius und anderen frühen konfuzianischen Gelehrten, ontologisch gesehen, ärmer war, wenn man es mit seinem Reichtum an ethischem Gehalt verglich. Doch in des Meisters Aussage, wenn etwas zuerst getan werden müsse, dann „sicherlich die Richtigstellung der Begriffe“, kann man einen Fingerzeig auf die Ontologie des Song-Konfuzianismus erkennen, der sich späterhin zu einem verfeinerten System entwickeln sollte, angereichert durch den Buddhismus und andere Denkschulen. Die Behauptung, dass es zuerst um die Richtigstellung der Begriffe gehe, verdichtet die zentripetale Kraft der Hierarchie zur knappen Präzision der Worte, welche die prophetische Qualität ihres Inhalts erklärt. Das mag der Grund sein, dass die einzigartige Philosophie, der es um die Sprache zu tun ist und die als Richtigstellung der Begriffe bekannt ist, sich so weit verbreitete, wie es tatsächlich der Fall war. Mit Sicherheit ging der Einfluss der Philosophie weit über ihre Zeit und ihren Ort hinaus und weitete sich von einer einzigen Bemerkung, welche der Richtigstellung der Begriffe den Vorrang einräumte, in die Welt des Denkens aus.

Buddhismus und Konfuzianismus Es mag unpassend scheinen, dennoch möchte ich diese Bemerkung des Konfuzius mit der von Tiantai Zhiyi (538–597) vergleichen, die aus dem Hokke Gengi (Tiefe Bedeutung des Lotos-Sutra) stammt: „Am Anfang des Kalpa [des Weltzeitalters] der Fortdauer hatten die verschiedenen Dinge in der Welt keine Namen. Der Weise beobachtete die Prinzipien, die sie regieren, und auf dieser Grundlage gab er ihnen Namen.“ 8 Während Konfuzius die Ordnung durch die Richtigstellung der Begriffe sucht, spricht Zhiyi von der Erschaffung von Namen, um Ordnung zu bewirken. Wenn sie auch in Nuancen differieren mögen, so unterstreichen doch der Konfuzianismus und der chinesische Buddhismus die Bedeutung von Namen, den letzten Aspekt der Hierarchie, die aus allen bestehenden Dingen gewoben und aufgebaut ist. Dies hat eine sehr „chinesische“ Qualität. Innerhalb der großen Tradition des Mahayana-Buddhismus finden wir den indischen Meister Na¯ga¯rjuna, der in seinem Chu¯ Ron (Die Mittlere Lehre) sich von der phänomenalen Welt der durch Namen bewirkten Abgrenzung und der Unterschiede hin zu einer Welt der Nicht-Abgrenzung und der Nicht-Unterschiede bewegt. Er legt das Gewicht auf das Fortschreiten von irdischer Existenz zum jenseitigen Reich. Im Gegensatz dazu kehrt Zhiyi, obgleich er sich vom Stadium der Erlösung von der Welt hin zum transzendenten Reich bewegt, am Ende zurück zur weltlichen Realität. Der

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Weg von der irdischen zur transzendenten Existenz ist bei ihm umgekehrt. Obwohl Zhiyi sie auf typisch buddhistische Weise sucht, entwickelt er die Vorstellung der Universalität auf solche Weise, dass er sie, anders als Na¯ga¯rjuna, in der konkreten Welt der Phänomene findet. Für mich zeigt Zhiyis Ansatz den Einfluss der ostasiatischen Spiritualität. Professor Kong Fan erkannte den gleichen Einfluss: Buddhistisches Denken, so sagte er, suchte auch die Unterstützung des Konfuzianismus und konnte sich durch die Vermischung mit ihm in der chinesischen Gesellschaft entwickeln. Zhiyis Umkehr hin zur konkreten Welt stellt nicht bloß eine Veränderung der Natur des Buddhismus dar. Vielmehr bezeugt sie die Entwicklung einer Religion, welche im Übergang von einem Zeitalter zum nächsten stattfindet. Eben weil das buddhistische Denken die Bedeutung der phänomenalen Welt erkannte, konnte es das Ethos der Symbiose, das die Spiritualität Ostasiens im Grunde durchzieht, aufnehmen und vergeistigen. Hätte der Buddhismus diese Fähigkeit zur Anpassung nicht gehabt, hätte er niemals seine wesentliche Absicht erreicht, die in der Errettung aller fühlenden Wesen besteht. Im Jahre 1988 traf ich in Tokyo mit einer Gruppe chinesischer Gelehrter zusammen, die von Li Guoguang geleitet wurde, dem ersten Vizepräsidenten der Chinesischen Akademie für Gesellschaftswissenschaften. Damals sprachen wir über die Schriften von Tiantai Zhiyi und ihre grundsätzlichen Voraussetzungen. Ich hob gegenüber der Delegation hervor, dass der wahre Buddhismus nicht irgendwo außerhalb dieser Welt des steten Stromes und der Veränderung existiere. Anstatt getrennt vom Chaos der phänomenalen Welt zu sein, ist er untrennbar mit Wirtschaft, Politik, dem täglichen Leben und der Kultur verbunden. Die große Mission des Buddhismus besteht zudem darin, allen Aspekten der menschlichen Aktivität Energie zuzuführen und sie zur Verwirklichung wahrer Werte zu leiten. Die Worte Zhiyis, die ich oben zitierte, werden in der besten Mahayana-Tradition so erklärt: „Das oberste Prinzip [welches das Mystische Gesetz ist] war einst ohne Namen. Als der Weise das Prinzip beobachtete und allen Dingen Namen zusprach, bemerkte er, dass es dieses wunderbare einzige Gesetz [Myoho] ist, was zugleich Ursache und Wirkung aufweist [Renge], und er nannte es Myoho-Renge. Dieses einzige Gesetz, welches Myoho-Renge ist, schließt in sich alle Gesetze oder Phänomene ein, einschließlich der Zehn Lebenszustände und der Dreitausend Bereiche, und ihm fehlt keiner davon. Jeder, der dieses Gesetz ausübt, wird zugleich sowohl die Ursache als auch die Wirkung der Buddhaschaft erlangen.“ 9 Der erste Teil des Kommentars bezieht sich auf das Hokke Gengi und diskutiert die Bildung der Namen, während der zweite Teil eine Zusammenfassung

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von Zhiyis Ontologie des Ichinen Sanzen ist (ein einziger Augenblick des Lebens weist 3000 Bereiche auf). Er lautet: „Dieses einzige Gesetz, welches Myoho-Renge ist, schließt in sich alle Gesetze oder Phänomene ein, einschließlich der Zehn Lebenszustände und der Dreitausend Bereiche, und ihm fehlt keiner davon.“ Der abschließende Satz „Jeder, der dieses Gesetz ausübt, wird zugleich sowohl die Ursache als auch die Wirkung der Buddhaschaft erlangen“, bezieht sich natürlich auf die Kriterien, nach denen wir unser Leben führen sollten. Dieserart repräsentiert es eine Theorie, die sowohl wertvoll als auch praktikabel ist. Die starke Einbeziehung der gesellschaftlichen Aktivität, die der Kommentar an den Tag legt, ersetzen zum Teil einen Mangel des Tiantai-Buddhismus, der im Fehlen der Praktikabilität besteht, welche notwendig ist, um als Ethos bezeichnet zu werden. Der Kommentar jedoch ist eine kühne und entschlossene Aussage über eine religiöse Weltsicht, die sowohl Ontologie als auch Ethik umfasst.

Zhou Enlai Das Ethos der Symbiose, ein dauerhafter und wertvoller Ausdruck ostasiatischer Spiritualität, hat mehrere Jahrtausende als untergründiger Strom überdauert. In dieser Zeit hat es vielen späteren Entwicklungen ein einzigartiges humanitäres Element hinzugefügt, einschließlich des chinesischen Sozialismus. Hier ist nicht der Raum, um diesen Punkt weiter zu verfolgen, doch möchte ich gerne den Charakter des verstorbenen Premiers Zhou Enlai beleuchten, der, wie ich meine, ein Leben verkörperte, das nach dem Ethos der Symbiose geführt wurde. Ich traf den Premier einmal, ungefähr ein Jahr vor seinem Tode. Und unlängst hatte ich ein Gespräch mit Han Xu, dem Präsidenten der Chinesischen Vereinigung für Freundschaft mit anderen Ländern, der eine Reihe von Jahren mit Zhou Enlai im Außenministerium zusammenarbeitete. Die vielen Anekdoten, die Han Xu mir mitteilte, vergrößerten nur meinen Respekt vor Zhou, einem bemerkenswerten Mann. Zhou Enlais Sorge für die ausländischen Besucher, die er zu Gast hatte, sowie seine Aufmerksamkeit bezüglich ihres Wohlergehens waren außerordentlich. Der Premier hatte erstaunliche Gedächtniskräfte, die aus einem intensiven und ernsthaften Sinn für Pflicht herrührten. Das Verantwortungsbewusstsein dieses rastlosen Mannes schien sich nicht nur auf China auszudehnen, sondern auf die ganze Welt. Premier Zhou Enlai hatte einen Charakter, der seiner Rolle entsprach. Er war fair und gerecht, gestattete seinen Verwandten oder nahen Mitarbeitern niemals, seinen Namen oder Einfluss für ihr eigenes Wohl zu benutzen. Immer hatte er das große Bild vor Augen, doch übersah er auch die Details nicht. Er behielt eine

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feste Überzeugung in seinem Herzen, schenkte dabei der Welt ein sanftes Lächeln. Er war nicht auf sich zentriert, sondern auf andere und war zugleich ein Modell-Chinese wie auch im höchsten Maße kosmopolitisch. Mit seinem leidenschaftlichen Blick, der auf das Volk seiner Nation gerichtet war, war er zugleich eine große Seele, Erbe des Geistes von Lu Xun (1881–1936), der erklärte: „Die Revolution muss den Menschen das Leben geben, nicht es ihnen nehmen.“ Zhou war die seltene, lebende und atmende Verkörperung des Ethos der Symbiose, der die Harmonie dem Gegensatz vorzog, die Einheit der Trennung, das „Wir“ dem „Ich“. In unserer Zeit, da die Beziehungen der Menschen so tief verstört sind, war er ein Mann mit jenem Charakter, den wir dringend brauchen. Das Ethos der Symbiose ist nicht an das Reich der menschlichen Gesellschaft allein gebunden. Es ist vielmehr kosmisch, arbeitet in der Natur wie im Universum. Der buddhistische Glaube an die Wechselbeziehung von Menschheit und Natur wird durch die Aussage in Worte gefasst, dass „Berge und Flüsse, Gräser und Bäume allesamt die Buddhaschaft erlangen“. Diese spirituelle Überzeugung wird eine immer größere und wichtigere Rolle spielen, da die Probleme der Umweltvergiftung und -zerstörung, der schwindenden Ressourcen immer ernsthafter werden. Im 21. Jahrhundert wird die Welt ihre Aufmerksamkeit nicht nur dem wirtschaftlichen Auftreten Ostasiens widmen, sondern auch der Tiefe von dessen Spiritualität. Diese Region wird eine treibende Kraft in der Geschichte werden, ein Quell neuer Hoffnungen und Erwartungen für die Menschheit. Ich möchte mit einer Strophe eines Gedichts von Tao Qian (Yuan ming) (365–427) schließen: Warum müssen Freunde allesamt alte Gefährten sein? Selbst mit einer zufälligen Bekanntschaft kann man offene Worte austauschen. Hier, dieser mein Besucher anerkennt meinen Geschmack; wieder und wieder kommt er, in meinen Garten zu spähen. Unsere Gespräche sind angenehm, frei von aller Anstößigkeit; wir sprechen über die Schriften der Weisen.

Mahayana-Buddhismus und die Zivilisation des 21. Jahrhunderts*

Der griechische Philosoph Heraklit erklärte mit seinem berühmten panta rhei (alles fließt), dass sich alle Dinge im Fluss befinden und das Wesen der Wirklichkeit die Veränderung ist. In der Tat ändert sich alles ständig, von Moment zu Moment. Das betrifft die natürlichen Phänomene ebenso wie alle menschlichen Angelegenheiten. Nichts bleibt auch nur einen einzigen Augenblick lang so, wie es ist. Selbst Steine und Mineralien, mögen sie auch noch so unveränderlich und hart erscheinen, erliegen im Laufe der Zeit doch dem natürlichen Verfall. Was die Menschen angeht, so wurden sie in diesem Jahrhundert, einer Epoche der Kriege und Revolutionen, Zeugen von dramatischen sozialen Veränderungen. Der Buddhismus bezeichnet diese Natur der Wirklichkeit als „die Vergänglichkeit aller Phänomene“ (jap. Shogyo Mujo). Diese Idee erscheint in der buddhistischen Kosmologie als „sich wiederholende Zyklen von Entstehen, Fortdauer, Niedergang und Zerfall“, die von allen Planeten und Sonnensystemen durchlaufen werden. Auf unser Leben als Menschen bezogen stellt sich diese Vergänglichkeit als die „vier Leiden“ dar: das Leiden der Geburt (und die damit verbundenen Schmerzen des täglichen Lebens), das Leiden durch Krankheit, das Leiden durch Altern und schließlich das Leiden des Todes. Niemand kann sich ihnen entziehen. Es ist anzunehmen, dass es wegen dieser Leiden bereits in der Antike zur Entwicklung von philosophischen Systemen kam. Im Besonderen mag dies für den Tod zutreffen, das unausweichliche Schicksal allen Lebens. Von Shakyamuni wird berichtet, dass er zur Suche nach der Wahrheit angeregt wurde, als er zufällig an den Toren des Palastes, in dem er aufgewachsen war, diesen vier Leiden begegnete. Wahre Philosophen, so Platon, befassen sich beständig mit der Tatsache der Sterblichkeit. Nichiren, der Begründer der buddhistischen Schule, auf den sich die Aktivitäten der Soka Gakkai International gründen, mahnt uns, „sich zuerst mit dem Tod auseinanderzusetzen und danach andere Dinge zu studieren.“ 1 Der Gedanke an den Tod lastet schwer auf dem Herzen des Menschen. Er mahnt ihn an die unabwendbare Endlichkeit seiner Existenz. Denn selbst gren*

Vortrag Daisaku Ikedas an der Harvard-Universität, Boston, USA, 24. September 1993.

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zenloser Reichtum oder uneingeschränkte Macht können die Realität der eigenen Sterblichkeit nicht aufheben. Ausgehend von dieser Erkenntnis hat sich die Menschheit bemüht, die Ängste rund um den Tod zu überwinden, indem sie nach Wegen forschte, an der Ewigkeit teilzuhaben, beziehungsweise Teil derselben zu werden. In diesem Bestreben hat unsere Spezies gelernt, sich über ihre reinen Überlebensinstinkte hinaus zu entwickeln und Eigenschaften herauszubilden, die wir als „menschlich“ bezeichnen. Von diesem Standpunkt aus wird deutlich, warum die Geschichte der Religion mit der Geschichte der Menschheit einhergeht. Die moderne Zivilisation versucht, den Tod zu ignorieren. Wir haben unseren Blick von diesem grundlegenden Problem abgewandt. Der Tod wurde in den Schatten verbannt und wird nur mit Abscheu betrachtet. Für den modernen Menschen ist er lediglich die Abwesenheit von Leben, das er mit dem Guten, dem Sein, mit Vernunft und Licht assoziiert. Tod hingegen steht für Leere und Nichts, für das Böse, das Dunkle und Irrationale. Diese rein negative Auffassung vom Tod ist auf allen Ebenen vorherrschend. Der Tod kann jedoch nicht ignoriert werden – und der Versuch, dies zu tun, hat der modernen Menschheit einen schweren Tribut abverlangt. Der schreckliche und gespenstische Höhepunkt der Zivilisation war das, was Zbigniew Brzezinski als unser eigenes „Century Of Megadeath“ (Jahrhundert des millionenfachen Todes) bezeichnet. Ganz aktuell gibt eine breite Skala von Fragestellungen Anlass, die Bedeutung des Todes zu überprüfen und neu zu bewerten. Dazu gehören Fragen über Hirntod, Sterben in Würde, die Aufgabe von Hospizen, verschiedene Beisetzungsformen sowie die Forschungen von Elisabeth Kübler-Ross und anderen über Tod und Sterben. Die Menschheit scheint kurz davor zu stehen, den grundlegenden Fehler in ihrer Auffassung von Leben und Tod hinter sich zu lassen und zu erkennen, dass der Tod mehr ist als das Erlöschen von Leben, dass Tod und aktives Leben zusammengehören und die notwendige Voraussetzung für ein größeres, umfassenderes Ganzes bilden. Das umfassende Ganze, von dem ich hier spreche, ist die fundamentale Kontinuität von Leben und Tod, die wir als Individuen erfahren und die wir als „Kultur“ ausdrücken. Eine zentrale und grundlegende Herausforderung für die Zukunft wird sein, eine Kultur zu erschaffen, die auf dem richtigen Verständnis von Leben und Tod und der absoluten Ewigkeit des Lebens basiert. Eine solche Haltung würde den Tod nicht leugnen, sondern sich ihm stellen und ihm seinen korrekten Platz innerhalb eines größeren Lebenskontextes einräumen. Der Buddhismus spricht von einem immanenten Wesen (jap. Hossho), auch „Dharma-Natur“ genannt, das der phänomenalen Wirklichkeit zugrunde liegt.

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Abhängig von und reagierend auf die umgebenden Bedingungen manifestiert diese immanente Wesenheit jeweils unterschiedliche Zustände: Latenz oder Erscheinung. Alle Phänomene, auch Leben und Tod, werden als zyklisches Erscheinen in einem manifesten Zustand beziehungsweise als Rückzug in die Latenz dieser inneren Wesenheit betrachtet. Der Wechsel von Leben und Tod ist mit den aufeinanderfolgenden Phasen von Schlafen und Wachen vergleichbar. Wir können den Tod als Ruhezustand verstehen, in dem wir uns auf eine neue Existenz vorbereiten, ähnlich wie wir uns im Schlaf für die Aktivitäten des nächsten Tages rüsten. In diesem Licht betrachtet, ist der Tod etwas, das wir nicht verabscheuen, sondern als etwas Positives anerkennen sollten. Das Lotos-Sutra, das Herz des Mahayana-Buddhismus, legt dar, es sei der Sinn des Daseins – der ewigen Zyklen von Leben und Tod –, dass „die Lebewesen […] darin voller Glück [wandeln].“ 2 Es lehrt auch, dass ausdauernde Glaubensausübung es uns ermöglicht, im Tod wie im Leben tiefe und bleibende Freude zu empfinden, also „darin voller Glück zu wandeln“. Nichiren beschreibt diesen Zustand als „die größte aller Freuden.“ 3 Wenn uns die Dramen dieses Jahrhunderts der Kriege und Revolutionen irgendetwas gelehrt haben, dann diese Einsicht: Es ist töricht, die Reform äußerer Faktoren, wie die der sozialen Systeme, als einzige Determinante für menschliches Glück zu betrachten. Ich bin überzeugt, dass, inspiriert durch ein neues Verständnis von Leben und Tod, in Zukunft allergrößter Wert auf eine nach innen gerichtete Reformation gelegt werden muss. Und dies wird auch geschehen. Auf der Grundlage des oben Gesagten möchte ich über drei besondere Bereiche sprechen, in denen meiner Überzeugung nach der Mahayana-Buddhismus durch sein Konzept und seine Haltung einen Beitrag zur Zivilisation des 21. Jahrhunderts zu leisten vermag.

Dialogbereitschaft – eine buddhistische Grundhaltung Seit ihrer Begründung wurde die buddhistische Philosophie mit Frieden und Pazifismus in Verbindung gebracht. Dies ergibt sich – so denke ich – vorrangig aus ihrer konsequenten Ablehnung von Gewalt, aus ihrer ständigen Betonung von Dialog, Diskussion und Sprache als Mittel zur Lösung von Konflikten. Karl Jaspers schreibt die tiefe Trauer der Jünger Shakyamunis über seinen bevorstehenden Tod ihrer Angst zu, dass „das Wort seinen Meister verloren haben werde“. 4 Ein Sutra beschreibt Shakyamuni als einen Menschen, der anderen mit Freude begegnet, der sich ihnen mit strahlender und einladender Miene nähert. 5

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Sein Leben war vollkommen frei von Dogmen. Shakyamuni führte ein Leben des Dialogs als Ausdruck seiner geistigen Offenheit. Shakyamunis buddhistische Praxis gipfelte in einer ausgedehnten Reisetätigkeit im späten Alter. Das Sutra, das darüber erzählt, beginnt mit einer Episode, wie der Buddha die Kraft der Sprache nutzt, um eine Invasion abzuwenden. 6 Wie es in dieser Schrift heißt, ermahnte der mittlerweise 80 Jahre alte Shakyamuni den Minister von Maghada, einem großen Land, das seine Hegemonie-Ansprüche durch die Eroberung des Nachbarstaates Vajji durchsetzen wollte, nicht direkt. Vielmehr erläuterte er dem Minister mit überzeugenden Worten die Prinzipien, wonach Länder entweder erblühen oder zerfallen. Damit hielt er ihn davon ab, die geplante Invasion durchzuführen. Das letzte Kapitel des gleichen Sutra schließt mit der bewegenden Schilderung vom Sterbelager Shakyamunis: Immer wieder forderte er seine Schüler auf, ihm jede Frage zu stellen, die sie noch hinsichtlich des buddhistischen Gesetzes (Dharma) oder seiner Ausübung hätten; sie sollten es nach seinem Dahinscheiden nicht bedauern müssen, ihm wichtige Fragen nicht gestellt zu haben. Shakyamuni suchte bis zu seinem letzten Augenblick ganz aktiv den Dialog. Das Drama seiner letzten Reise wird von Anfang bis Ende vom Licht der Sprache erhellt, die dieser wahre Meister des Wortes so sorgfältig anwendet. Warum war Shakyamuni in der Lage, sich der Sprache mit solcher Freiheit zu bedienen und eine solche Wirkung zu erzielen? Was machte ihn zu einem so unvergleichlichen Meister des Dialogs? Im Wesentlichen war es die umfassende Weite seines erleuchteten Lebenszustandes, der völlig frei war von allen Dogmen, Vorurteilen und Anhaftungen. Die folgenden ihm zugeschriebenen Worte sind sehr bezeichnend: „Ich sah einen einzelnen, unsichtbaren Pfeil die Herzen der Menschen durchdringen.“ 7 Diesen „Pfeil“ könnte man als den Pfeil eines diskriminierenden Bewusstseins bezeichnen, eine unreflektierte Betonung des „Andersseins“. Indien befand sich damals in einer Phase des Übergangs und des Umbruchs, in der die Schrecken von Konflikten und Kriegen zur allgegenwärtigen Realität gehörten. Shakyamunis durchdringendem Blick blieb nicht verborgen, dass die grundlegende Ursache für diese Auseinandersetzungen darin bestand, dass man an Unterschieden wie Stammes- oder Volkszugehörigkeit festhielt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erklärte Josiah Royce, einer von vielen wichtigen Philosophen, die Harvard der Welt gegeben hat, Folgendes: „Eine Reform auf diesem Gebiet muss, wenn überhaupt, von innen kommen. […] Die Gesellschaft als Ganzes ist das [Produkt all dessen], was die verschiedenen Prozesse – zum Guten oder zum Bösen – in den Köpfen der einzelnen Individuen bestimmen mögen.“ 8

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In der Tat ist der „unsichtbare Pfeil“ des Bösen, den es zu entfernen gilt, nicht in Rassen und Klassen zu finden, die uns fremd sind. Vielmehr steckt er in unserem eigenen Herzen. Die Überwindung unserer auf Vorurteilen beruhenden Denkweise, unserer Fixierung auf die Unterschiede, das ist der Leitgedanke für einen offenen Dialog. Er ist die wesentliche Voraussetzung für die Errichtung des Friedens und die allgemeine Achtung der Menschenrechte. Weil Shakyamuni sich vollkommen von Vorurteilen befreit hatte, konnte er das Gesetz mit solcher Freiheit darlegen. Dabei passte er seine Art zu lehren genau dem Charakter und der Kapazität seines Gesprächspartners an. Ob er nun bei einem kommunalen Streit über Wasserrechte vermittelte, einen Gewaltverbrecher zur Einsicht brachte oder jemanden ermahnte, der sich gegen die Praxis des Almosenbettelns wandte, in allen Dialogen Shakyamunis erkennen wir sein Bestreben, dem anderen den „Giftpfeil des eigenen Bösen“ zu zeigen. Die Kraft dieser außergewöhnlichen Persönlichkeit veranlasste einen zeitgenössischen Herrscher zu dem Ausruf: „Diejenigen, die wir selbst mit Waffen nicht zwingen können, sich zu ergeben, die unterwirfst Du ohne Waffen.“ 9 Nur wenn es einer Religion gelingt, das Festhalten an Unterschieden zu überwinden, kann sie sich über eine im Wesentlichen stammesbezogene Perspektive erheben und eine Weltanschauung im eigentlichen Sinn anbieten. Wenn zum Beispiel Nichiren die Herrscher des japanischen Shogunats, die ihn verfolgten, mit der Bemerkung „Herrscher über dieses kleine Inselreich“ 10 zurückweist, wird klar, dass seine Vision sich auf eine Weltreligion mit universalen Werten richtet, die über die Grenzen eines einzelnen Staates hinausgeht. Bleibt noch zu erwähnen: Dialog darf sich nicht auf den Austausch von gefälligen Redebeiträgen beschränken. Manchmal muss die Sprache die Qualität eines Feuer speienden Drachens haben: dann nämlich, wenn es gilt, einen Menschen aus dem Würgegriff der Arroganz zu befreien. Es war die gelegentliche Schärfe ihrer Rede, die Nagarjuna und Shakyamuni (den wir normalerweise nur mit Milde in Verbindung bringen) von den Herrschern ihrer Zeit den Beinamen „die Allesleugner“ 11 einbrachte. Das gleiche gilt für Nichiren, der eine familiäre Verbundenheit und sanfte Zuneigung für die einfachen Menschen empfand. In seinen Auseinandersetzungen mit den Vertretern der korrupten und degenerierten Machthaber war er kompromisslos. Obwohl Bewaffnung in dem gewalttätigen Japan seiner Zeit zur Normalität gehörte, trug er selbst nie Waffen. Er verließ sich ausschließlich und unbeirrbar auf die Kraft der Überzeugung und der Gewaltlosigkeit. Die folgende Passage, die er aus der Verbannung auf eine ferne Insel schrieb, von der niemand lebend zurückkommen sollte, ist typisch für seine kämpferische Sprache. Als man ihm anbot, ihn mit absoluter Macht auszustatten, wenn er seinen Glauben

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aufgäbe, und als man ihm drohte, seine Eltern zu enthaupten, wenn er an seinen Überzeugungen festhielte, schwor er: „Ganz gleich auf welche Hindernisse ich treffe, so lange nicht weise Männer beweisen, dass meine Lehren falsch sind, werde ich niemals aufgeben.“ 12 Nichirens Vertrauen auf die Macht der Sprache kann nur als absolut bezeichnet werden. Gäbe es mehr Menschen, die entschlossen und auf gleich unbeugsame Weise Dialoge führten, fände man für die im menschlichen Zusammenleben unvermeidlichen Auseinandersetzungen bestimmt harmonischere Lösungen. Vorurteile würden zu Empathie, Krieg und Konflikt zu Frieden. In einem echten Dialog werden die gegensätzlichen Ansichten transformiert: Was die Menschen trennt oder entzweit, wird zu etwas, das die Verbindung zwischen ihnen vertieft. Im Zweiten Weltkrieg forderte die Soka Gakkai die Kräfte des japanischen Militarismus geradezu heraus. Als Folge davon wurden viele Mitglieder inhaftiert, darunter Josei Toda und der Gründer und erste Präsident Tsunesaburo Makiguchi. Dieser war ganz und gar nicht bereit, seinen Überzeugungen abzuschwören. Ganz im Gegenteil fuhr Makiguchi ohne Zögern fort, die Prinzipien des Buddhismus – genau die Gedanken, für die man ihn als „Kriminellen“ inhaftiert hatte – seinen Wärtern und den Ermittlern zu erläutern. Makiguchi starb mit 73 Jahren im Gefängnis. Josei Toda, Makiguchis direkter Schüler und Erbe seines geistigen Vermächtnisses wurde später der zweite Präsident der Soka Gakkai. Er hatte die extremen Qualen einer zweijährigen Haft überstanden, und da er an eine globale menschliche Familie glaubte, führte er überall Dialoge mit einfachen Menschen, die unter den Folgen des Krieges litten. Er übertrug uns, seinen jungen Schülern, auch die Aufgabe, eine atomwaffenfreie Welt zu schaffen. Auf dieser historischen und philosophischen Basis setzt sich die Soka Gakkai International nun für Frieden, Kultur und Erziehung ein und hat Bande der Solidarität mit Bürgern in mittlerweile 192 Staaten und Gebieten 13 geschaffen. Ich selbst widme mich dem Dialog mit Menschen auf der ganzen Welt, um so einen kleinen Beitrag zum Glück der Menschheit zu leisten.

Wiederherstellung der Menschlichkeit In einer Zeit, die sich durch ein verbreitetes Wiederaufleben der Religionen auszeichnet, müssen wir immer wieder die Frage stellen: Trägt die Religion zur Stärkung des Menschen bei oder zu seiner Schwächung? Fördert die Religion das „Gute“ oder das „Schlechte“ im Menschen? Wird der Mensch durch die Religion

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besser und weiser oder ist das Gegenteil der Fall? Dies, so glaube ich, sind die Kriterien, die wir fest im Blick haben sollten. Obwohl die Autorität von Karl Marx als sozialer Prophet durch den Zerfall des Sozialismus in Osteuropa und in der früheren Sowjetunion stark gelitten hat, enthält seine Aussage, dass Religion „Opium für das Volk“ sei, eine wichtige Wahrheit. Und obwohl zu hoffen ist, dass die Tragödie, die sich in Waco, Texas, ereignete 14, eine seltene Ausnahme darstellt, ist nicht sicher, dass alle Religionen sich von ihren „berauschenden“ Aspekten befreit haben. Auch die Tatsache, dass nicht wenige der neuen im Dämmerlicht dieses Jahrhunderts auftauchenden Weltanschauungen durch Dogmatismus und einen Trend zur Abschottung gegenüber ihrem Umfeld auffallen, gibt Anlass zu ernster Sorge. Denn gerade dies steht im Widerspruch zu der rasanten Tendenz der Vernetzung und der interkulturellen Aktionen unserer Zeit. In diesem Zusammenhang wäre zu prüfen, ob in den verschiedenen Glaubenssystemen dem Vertrauen auf die eigene menschliche Kraft einerseits sowie dem Vertrauen auf Kräfte außerhalb des Menschen andererseits im richtigen Verhältnis Bedeutung beigemessen wird; dies mag in etwa dem freien Willen und der Gnade in der christlichen Terminologie entsprechen. Wenn wir in ganz groben Strichen die Entwicklung vom mittelalterlichen zum modernen Europa nachzeichnen, bemerken wir eine ständige Bewegung weg von einem Determinismus mit Gott als Mittelpunkt, hin zu einer zunehmend stärkeren Betonung des freien Willens und der menschlichen Verantwortlichkeit. Immer stärker rücken die Kräfte des Menschen in den Mittelpunkt, wobei gleichzeitig die äußeren Einflüsse in den Hintergrund treten. Niemand wird die großen Errungenschaften von Wissenschaft und Technik in der modernen Zeit leugnen, jedoch hat ein unangebrachter Glaube an die Allmacht des Verstandes die Menschen zu der Annahme verleitet, alles liege in ihrer Macht. Diese Illusion hat unsere Zivilisation in ihre gegenwärtige offensichtliche Sackgasse geführt. Hatte das frühere Vertrauen auf eine äußere Kraft dazu geführt, dass man das Ausmaß der eigenen Möglichkeiten und unserer Verantwortung unterbewertete, so erzeugt die Überbewertung unserer Kräfte nunmehr eine gefährliche Aufblähung des menschlichen Egos. Jetzt suchen wir einen dritten Weg – ein neues Gleichgewicht zwischen dem Vertrauen in unsere eigenen Kräfte und der Anerkennung dessen, was jenseits derselben liegt. Nichiren stellt uns im folgenden Abschnitt die einfühlsame und äußerst inspirierende Perspektive des Mahayana-Buddhismus auf Erleuchtung vor: „Weder nur durch eigene Anstrengungen […] noch nur durch die Kraft von anderen.“ 15 Der Buddhismus behauptet also eindringlich, dass der größte

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Nutzen aus der dynamischen Fusion und dem Ausgleich dieser beiden Kräfte entsteht. John Dewey bestätigt in A Common Faith in ähnlicher Weise, dass „das Religiöse“ von entscheidender Bedeutung sei und nicht so sehr eine spezielle Religion. Im Gegensatz zu Religionen, die allzu schnell dem Dogmatismus und dem Fanatismus verfallen, besitzt „das Religiöse“ die Kraft, „Interessen und Energien“ zu vereinigen, „Handlungen zu leiten und die Wärme des Gefühls und das Licht der Intelligenz hervorzubringen“. „Das Religiöse“ ermöglicht gleichermaßen die Verwirklichung dessen, was Dewey als „die Werte der Kunst in all ihren Formen, also des Wissens, der Anstrengung und der Rast nach der Anstrengung, der Erziehung und Kameradschaft, der Freundschaft und Liebe, der geistigen und körperlichen Entwicklung“ beschreibt. 16 Dewey nennt keine spezifische externe Kraft. Für ihn ist „das Religiöse“ ein allgemeiner Ausdruck für das, was Menschen auf ihrem Weg, das Gute und Wertvolle anzustreben, stützt und ermutigt. „Das Religiöse“ – so wie Dewey es definiert – hilft denen, die sich selbst helfen. Wie Dewey es sah, und wie die traurigen Folgen der Selbstvergötterung des modernen Menschen zeigen, sind wir ohne Hilfe nicht in der Lage, unser volles Potenzial zu verwirklichen. Nur durch die Verbindung und die Verschmelzung mit dem Ewigen – dem, was hinter der Endlichkeit des einzelnen Menschen liegt – können wir die gesamte Skala unserer Möglichkeiten manifestieren. Und dennoch ist dieses Potenzial nichts Fremdes, denn es ist immer schon in uns und es ist Teil von uns. Ich glaube auch, dass es entscheidend für die künftige Lebensfähigkeit jeder religiösen Tradition sein wird, wie sie das Verhältnis zwischen den inneren und den äußeren Kräften definiert. Nicht nur Buddhisten, sondern alle, die sich mit Religion beschäftigen, sollten diesem Verhältnis große Aufmerksamkeit schenken, wenn sie eine Wiederholung der Geschichte verhindern wollen. Denn wenn wir nicht aufpassen, kann Religion uns durch Dogmatismus und ihre klerikale Macht versklaven. Genauso kann sie aber ein Fahrzeug zur Wiederherstellung und Neubelebung der Menschlichkeit sein. Vielleicht, weil unsere buddhistische Bewegung so menschenorientiert ist, mochte Harvey Cox von der Harvard Divinity School sie als das Bemühen bezeichnet haben, die humanistische Ausrichtung einer Religion zu definieren. Und in der Tat: Buddhismus ist nicht nur ein theoretisches Konstrukt. Er hilft uns bei der Lebensführung, indem wir tatsächlich von Augenblick zu Augenblick Kurs auf die Verwirklichung von Glück und Wert nehmen. So schreibt Nichiren: „Wenn Sie die Anstrengungen von einhundert Millionen Äonen in einem einzigen Augenblick des Lebens konzentrieren, zeigen sich

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die drei Körper des Buddha in jedem Ihrer Gedanken und in jeder Handlung.“ 17 Der Ausdruck „die Anstrengungen von hundert Millionen Äonen“ steht für eine Haltung, sich jedem eigenen Problem mit dem ganzen Sein zu stellen, zu der Gesamtheit des eigenen Bewusstseins zu erwachen und alle inneren Ressourcen zu öffnen. Wenn wir uns von ganzem Herzen und ohne Umschweife den Herausforderungen des Lebens stellen, bringen wir die in uns verborgenen „drei Körper des Buddha“ hervor. Es ist das Licht dieser inneren Weisheit, das uns in jedem Augenblick ermutigt und unsere Handlungen auf das Wahre und Richtige lenkt. Das Erklingen von Trommeln, Hörnern und verschiedenen anderen Musikinstrumenten 18 wirkt überall im Lotos-Sutra als Metapher, um den Lebenswillen der Menschen immer wieder zu wecken. Das Wesen der Buddha-Natur will uns permanent dazu aufrufen, stark, gut und weise zu sein. Ihre Botschaft ist die Wiederherstellung der Menschlichkeit.

Die Koexistenz aller Dinge Der Buddhismus liefert uns den philosophischen Unterbau für die symbiotische Koexistenz aller Dinge. Unter den vielen Bildern im Lotos-Sutra spricht eines ganz besonders an: das des Regens, der unterschiedslos und mitfühlend die ganze Erde befeuchtet und Leben aus allen Bäumen und Gräsern hervorbringt, unabhängig davon, ob sie groß oder klein sind. 19 Diese Szene entspricht mit ihrer Lebendigkeit, Erhabenheit und Schönheit ganz dem Charakter des ganzen LotosSutra. Sie steht für die Erleuchtung aller Menschen, wenn sie mit dem Gesetz des Buddha, also dessen großer und unvoreingenommener Weisheit, in Berührung kommen. Gleichzeitig ist es eine wunderbare Hymne auf die Vielfalt der menschlichen und aller anderen Erscheinungsformen des „fühlenden und nichtfühlenden Lebens“. Alle diese Erscheinungsformen zeigen ausnahmslos und gleichermaßen die ihnen eigene innewohnende Erleuchtung, wobei alle zu dem großen Konzert einer umfassenden Symbiose beitragen. Im Buddhismus wird der Begriff „bedingtes Entstehen“ (jap. Engi) benutzt, um symbiotische Beziehungen zu beschreiben. Nichts und niemand existiert unabhängig von etwas oder jemand anderem. Jedes individuelle Leben trachtet, sich eine Umgebung zu schaffen, die ihrerseits wiederum alles andere Leben aufrechterhält. Alles Dasein unterstützt sich gegenseitig, ist miteinander verbunden und bildet einen lebendigen Kosmos. Die moderne Philosophie könnte es ein „semantisches Ganzes“ nennen. Dies ist das Konzept, wie der Mahayana-Buddhismus das natürliche Universum betrachtet. Durch die Worte des Faust verleiht Goethe einer ähnlichen Sicht Ausdruck:

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„Wie alles sich zum Besten webt, eins in dem andern wirkt und lebt.“ 20 Der Dichter, dessen Erkenntnisse uns heute wegen ihrer bemerkenswerten Affinität zum Buddhismus berühren, wurde (jedoch seinerzeit) von seinem jungen Freund Eckermann mit folgenden Worten kritisiert, er lasse: „… die Bestätigung seiner Vorahnungen vermissen.“21 In den inzwischen vergangenen Jahren erhob sich ein stetig anwachsender Chor von Stimmen, die der Weitsicht Goethes und des Buddhismus zustimmten: der deduktiven Sichtweise nämlich. Nehmen wir zum Beispiel das Konzept der Kausalität, so finden wir, dass sich kausale Beziehungen im Lichte der „bedingten Entstehung“ grundsätzlich von der mechanistischen Kausalität unterscheiden, die nach Auffassung der modernen Wissenschaft die objektive natürliche Welt beherrscht, eine Welt, die von subjektiven menschlichen Belangen vollkommen getrennt existiert. Kausalität, wie der Buddhismus sie sieht, umfasst ein breites natürliches Feld, das die menschliche Existenz mit einschließt. Zur Verdeutlichung: Nehmen wir einmal an, es habe sich ein Unfall oder eine Katastrophe ereignet. Mit der mechanistischen Theorie der Kausalität kann man Untersuchungen anstellen und ermitteln, wie der Unfall zustande kam. Eine Antwort auf die Frage, warum bestimmte Individuen in dieses tragische Ereignis verwickelt waren, bleibt offen. In der Tat ist es so, dass die mechanistische Betrachtungsweise solche existenziellen Fragestellungen bewusst ausschließt. Im Gegensatz dazu zielt das buddhistische Verständnis der Relation von Ursache und Wirkung direkt auf dieses bohrende „Warum?“. Das ist übrigens an folgendem Dialog aus Shakyamunis früher Lehrtätigkeit zu ersehen. Frage: „Was ist der Grund für Altern und Tod?“; Antwort: „Die Geburt ist die Ursache für Altern und Tod.“ 22 Später entwickelte der Begründer der chinesischen Tiantai-Schule, Zhiyi, nach einem Prozess umfassenden Denkens und Forschens eine theoretische Struktur, die Konzepte enthält wie „dreitausend Bereiche in einem einzigen Lebensmoment“. Dieses besticht nicht nur durch den Umfang und die Gründlichkeit seiner Ausarbeitung, sondern entspricht auch vollkommen den Aussagen der moderneren Wissenschaft. Da ich aus Zeitgründen nicht näher darauf eingehen kann, möchte ich zumindest erwähnen, dass die Fragestellungen unserer Zeit auf vielen Gebieten – wie der Ökologie, der transpersonalen Psychologie und der Quantentheorie – in bemerkenswerter Übereinstimmung mit den buddhistischen Lehren stehen. Das betrifft sowohl ihre Herangehensweisen als auch ihre Schlussfolgerungen. Wenn der gegenseitige Bezug und die Interdependenz eine solche Betonung erfahren, dann könnte die Sorge entstehen, die individuelle Identität würde dadurch verschleiert. In diesem Zusammenhang wären folgende Zeilen aus bud-

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dhistischen Schriften zu zitieren: „Du bist dein eigener Meister. Könnte ein anderer dein Meister sein? Wenn du Herr deiner selbst bist, dann hast du einen Meister von seltenem Wert gefunden.“ 23 Und an anderer Stelle: „Seid eure eigene Lampe. Vertraut auf euch selbst. Haltet fest am Gesetz als Lampe, vertraut auf nichts anderes.“ 24 In beiden Zitaten werden wir aufgefordert, unabhängig zu leben, uns selbst treu zu sein, unbeeinflusst von anderen. Was hier unter „selbst“ zu verstehen ist, bezieht sich jedoch nicht auf das buddhistische „kleine Selbst“ (jap. Shoga), das in den Fesseln des Egoismus gefangen ist. Gemeint ist vielmehr das „große Selbst“ (jap. Taiga), das eins ist mit dem kosmischen Leben durch das alles verbindende Gewebe von Ursachen und Wirkungen in den unendlichen Weiten von Raum und Zeit. Das große, kosmische Selbst schwingt in der Tiefe mit dem einenden und integrierenden „Selbst“ zusammen, das Jung in den Tiefen des menschlichen Bewusstseins entdeckte und das Emerson als „universelle Schönheit“ bezeichnete, „zu der alle Teile und Teilchen gleichermaßen in Beziehung stehen, dem ewig Einen“. 25 Ich bin fest davon überzeugt, dass ein Erwachen auf breiter Ebene zu diesem „großen Selbst“ in Zukunft zu einer Welt der kreativen und symbiotischen Koexistenz führen wird. An dieser Stelle kommen mir folgende Zeilen Whitmans in den Sinn, in denen er das Lob des menschlichen Geistes singt: Doch wend ich mich an Dich oh Seele, mein eigentliches Ich, seh ich, dass sanft beherrschest Du die Sternenwelt, vereinst Dich mit der Ewigkeit und lächelst froh dem Tod entgegen, erfüllst und blähest auf den weiten Raum. 26

Das im Mahayana-Buddhismus erläuterte „große Selbst“ steht für eine Art von Offenheit und Weite des Charakters, der die Leiden aller Menschen als seine eigenen annimmt, der in der Realität der menschlichen Gesellschaft beständig Wege sucht, die Leiden anderer zu lindern und ihr Glück zu mehren. Ich bin sehr sicher, dass nur die Solidarität von Menschen von solch natürlichem Edelmut die Einsamkeit des modernen „Selbst“ brechen kann und neue hoffnungsvolle Ausblicke auf die Zivilisation öffnet. Der einzelne Mensch wird durch die dynamische, lebendige Bewegung dieses „großen Selbst“ in die Lage versetzt, das Leben wie auch den Tod mit der gleichen Freude zu erfahren. In den aufgezeichneten Vorlesungen Nichirens heißt es: „Wir schmücken den

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Schatzturm unseres Daseins mit den vier Aspekten (Geburt, Altern, Krankheit und Tod).“ 27 Es ist mein aufrichtiger Wunsch und mein Gebet, dass jedes Mitglied der großen Menschen-Familie im 21. Jahrhundert den natürlichen Glanz seines inneren „Schatzturms“ erstrahlen lässt, dass wir unseren blauen Planeten in die harmonischen Klänge offener Dialoge hüllen und dass sich damit die Menschheit im neuen Jahrtausend weiterentwickelt. 28

Hommage an das Sagarmatha des Humanismus: Die lebenden Lektionen des Gautama Buddha*

Ich möchte das spirituelle Erbe Gautama Buddhas, 1 dieses großen Lehrers der Menschheit, betrachten und mich dabei auf zwei Themen konzentrieren, die für seine Philosophie und seinen Charakter wesentlich sind: das durchdringende Licht seiner Weisheit und das ungeheure Ausmaß seines Mitgefühls. Betrachtet man die gegenwärtige Situation der Menschheit, die man mit einer ZwangsÜberfahrt auf unerforschter, sturmgepeitschter See vergleichen kann, dann erinnert mich das an das folgende Gedicht von Bala Krishna Sama, eines der größten Dichter Nepals: Meide jeden dummen Knabenzank, streif Zwietracht ab, erblüh’ und lass den blinden Glauben! Vertrau der Menschlichkeit, lebe und lass leben! Wetteifer soll sein, wenn es um Wahrheit geht und den Entschluss zur guten Tat. Bitte, Welt! Zerbrich des Atoms Gewalt, ehe mein letzter Atemzug entweicht, wisch fort den Namen des Krieges mit dem Gesang des ewig währenden Friedens! 2

Dieses Gedicht drückt den sehnlichen Wunsch nach Frieden in unserer von Kriegen so zerrissenen Zeit aus, so wie einer in der Wüste nach Wasser dürstet. Und diese erhabenen und schönen Gefühle werden, dessen bin ich gewiss, vom ganzen Volke Nepals geteilt. Unser Streben und unsere Sehnsucht treffen sich mit der Ansicht Gautama Buddhas, der mit all seiner überragenden Weisheit und seinem Mitgefühl als ein Sagarmatha 3 der Menschlichkeit dasteht. Sein Leben war ein schonungsloses und unaufhörliches Bemühen, der Menschheit den Genuss von Frieden und Sicherheit näherzubringen. Der erste Aspekt von Gautamas Weisheit, über den ich sprechen möchte, ist

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Rede Daisaku Ikedas an der Tribhuvan-Universität, Kathmandu, Nepal, 2. November 1995.

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sein dringender Appell, dass wir den vollen Glanz des Schatzturmes – des Juwelenstupa – aus unserem inneren Leben hervorbringen. Seit Anbruch der Moderne waren die Aktivitäten der menschlichen Gesellschaft, wie etwa die Entwicklung von Wissenschaft und Technologie sowie das industrielle und wirtschaftliche Wachstum, vom starken Glauben an den „Kult des Fortschritts“ durchzogen, wo als Maß des Fortschreitens stets die quantitative Ausdehnung angelegt wurde. Doch darin tat sich eine unvorhergesehene Falle auf. Als die Menschheit dem Fortschritt folgte, trunken vom Versprechen ihrer Träume, fanden wir die Wirklichkeit auf dem Altar der gesellschaftlichen Entwürfe geopfert, die Gegenwart auf dem der Zukunft, die Umwelt auf dem des Wachstums und der Mensch auf dem der leeren Theorie. Darin liegt die Hauptursache für die tragischen Schrecken unseres Jahrhunderts. Als Antwort auf unser gegenwärtiges Dilemma könnte Gautama Buddhas Weisheit uns dazu bringen, unseren Blick ein weiteres Mal auf die tiefste und elementarste Dimension des menschlichen Lebens zu richten. Zentral für das Saddharmapundarika oder das Lotos-Sutra, das als Herzstück der Lehren Gautama Buddhas gelten kann, ist die Erscheinung eines prachtvollen, geschmückten Juwelenstupa, auch „Schatzturm“ genannt. Dieser Juwelenstupa steht symbolisch für das riesige kosmische Leben, das in den Tiefen des Menschen ruht. Einem jeden von uns die Kultivierung dieser reichen, fruchtbaren Lebensdimension zu ermöglichen, diesen Mikrokosmos in jedem Einzelnen, der das Universum enthält – dieser Aufgabe weiht Gautama Buddha sein lebenslanges Streben. Wenn wir uns die wachsende, anhaltende Aufmerksamkeit vor Augen führen, die in den letzten Jahren die Ziele der menschlichen Entwicklung erlebten, komme ich um die Feststellung nicht umhin, dass Gautamas Vision und Einsicht darin umso heller aufleuchten. 1985 nahm ich an einem Gespräch mit dem Mitbegründer des Club of Rome teil, mit Aurelio Peccei, in dessen Verlauf er den zukünftigen Generationen folgenden Ratschlag erteilte: „In uns selbst liegt ein ungeheurer Reichtum an unentwickelten und ungenutzten Fähigkeiten, die bislang noch nie erforscht wurden […]in der Tat eine außerordentliche Quelle, eine, die sowohl erneuerbar als auch ausdehnbar ist.“ 4 Der Begriff, den Dr. Peccei und ich benutzten, um diesen Prozess der Entwicklung dieses Potenzials zu beschreiben, das dem menschlichen Leben innewohnt, war der der „menschlichen Revolution“. Selbstverständlich liegt der Schlüssel zu dieser Art Entwicklung in der Erziehung, einem Gebiet, auf dem Nepal seit langem schon wichtige Beispiele gegeben hat. Ähnlich ist Erziehung auch unabdingbar, wenn wir die Ziele der nachhalti-

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gen Entwicklung erreichen und unsere Verantwortung für zukünftige Generationen erfüllen wollen. Die Lehren des Buddha enthalten zudem die folgenden Zeilen: „Wenn Sie die Ursachen verstehen wollen, die in der Vergangenheit existierten, dann betrachten Sie die Ergebnisse, die sich in der Gegenwart manifestieren. Und wenn Sie verstehen wollen, was sich in der Zukunft zeigen wird, dann betrachten Sie die Ursachen, die in der Gegenwart existieren.“ 5 Dieser Absatz zeigt uns einen Lebensweg, der weder in den Ereignissen der Vergangenheit verfangen ist noch beherrscht ist von zu großer Angst vor der Zukunft oder zu großen Erwartungen an sie. Vielmehr belegt er die Bedeutung unserer Lauterkeit und Erfüllung im gegenwärtigen Augenblick. Absicht dieses Absatzes ist es, uns zum „Graben in der Erde, auf der wir stehen“ zu ermutigen; im Wissen, dass wir mit Sicherheit eine reiche Urquelle in den Tiefen des ewigen Augenblickes finden werden. Gautama Buddha mahnt uns, den Glanz des Juwelenstupa zuzulassen, der in eben diesem Moment in uns existiert, um mit diesem Licht die Zukunft zu illuminieren und den Weg für den wahren Fortschritt und Aufstieg der Menschheit abzustecken. Seine Worte sind die eines spirituellen Giganten, eines wahren Siegers im Leben. Der zweite Aspekt der Weisheit Gautama Buddhas, über den ich sprechen möchte, ist seine Haltung, achtsam auf die Stimmen des gewöhnlichen Volks zu hören. Mehr noch als die ewige, unveränderliche Wahrheit betont der Buddhismus die Bedeutung der lernenden Weisheit, die durch die Verschmelzung des eigenen Lebens mit dieser Wahrheit erlangt wird. Mit anderen Worten werden wir ermutigt, zu der Wahrheit zu erwachen, die immer und überall gültig und unveränderlich ist – und so eine frei fließende Weisheit hervorzurufen, die auf die unablässig sich entfaltende, uns umgebende Wirklichkeit antworten kann. Persönlich glaube ich, dass die Quelle für Gautamas ungebundene Weisheit in seiner Haltung liegt, gewöhnlichen Bürgern und dem, was sie auf dem Herzen haben, Gehör zu schenken. Stets ermutigte er die, die um ihn waren, sie mögen ihm jede Frage stellen, die ihnen wichtig wäre. Gautama Buddha verdient wahrlich, mit Sokrates als einer der großen Meister des Dialogs zu gelten. Er war ein Riese ohnegleichen auf dem Felde der humanistischen Erziehung, der die Menschen durch einen kontinuierlichen Prozess von Dialogen anleitete. Als zum Beispiel eine Mutter, die ihr geliebtes Kind verloren hatte, Gautama anflehte, ihr Kind zu retten, sagte er ihr, er könne ein Heilmittel für ihr Kind ersinnen, wenn sie ihm einige Senfsamen brächte. Doch, so fügte er hinzu, müss-

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ten diese aus einem Hause stammen, das der Tod noch nicht heimgesucht hätte. Die Mutter begann ihre verzweifelte Suche von Haus zu Haus, aber konnte natürlich kein Haus finden, in dem nie zuvor einer gestorben war. Allmählich bemerkte die grambeladene Mutter, dass sie mit ihrem Kummer nicht allein war, denn jedes Haus trug die gleiche Bürde der Trauer und des Verlusts. So beschloss sie, ihren eigenen Kummer zu überwinden und erwachte zu dem Streben, die fundamentalen Leiden der Menschen um Geburt, Älterwerden, Krankheit und Tod zu lösen. Diese Geschichte illustriert – wie viele ähnliche – die Tiefe von Gautama Buddhas Einsicht in die Herzen der Menschen, seine Weisheit und das Mitgefühl, das er an den Tag legte, als er den Menschen half, ihre Lebensumstände zu verbessern. Im Lotos-Sutra wird die Tugend, auf die Stimmen aller Menschen zu hören, in die Beschreibung des idealen Praktizierenden des Sutra gefasst: Er hört die unzähligen Arten von menschlichen Klängen / und vermag sie zu verstehen. / Er hört außerdem die Stimmen der Götter, / die wunderbaren Töne ihrer Lieder, / und er hört die Klänge von Männern und Frauen, / die Klänge von Jungen und Mädchen, /die Klänge der Kalavinka / in den Bergen und Tälern und an den Flüssen / und er hört auch alle Klänge anderer Vögel / wie die des Jı¯vakajı¯vaka; / er hört die verschiedenen qualvollen Klänge / der vielen Qualen und Höllen, / die Klänge der von Hunger und Durst getriebenen Hungergeister, / wie sie um Trinken und Nahrung flehen / [die Stimmen der Bodhisattvas und Buddhas, / von der Avı¯ci-Hölle bis zum Akanishta-Himmel,] / […] Der Lehrer des Gesetzes, hier verweilend, / hört sie alle, / […] und sein Hörsinn ist nicht geschädigt. 6

Ich denke, dies ist ein Musterbeispiel von Menschenführung, das weit über die Grenzen religiöser Praxis hinausgreift und alle Gebiete menschlichen Strebens, einschließlich der Politik, Wirtschaft, Kultur und Erziehung, umfasst. Der erste Präsident unserer Organisation, Tsunesaburo Makiguchi, war zugleich der Begründer unseres Werte schaffenden pädagogischen Systems (jap. so¯ka kyo¯ikugaku). Sein Widerstand gegen den japanischen Militarismus im Zweiten Weltkrieg führte dazu, dass er ins Gefängnis kam und sein Leben dort im Alter von 73 endete. Er war Rektor einer Grundschule, und ob er zu einem seiner Schüler oder seinen Gefängniswärtern oder einen der rüden Vernehmungsbeamten sprach, immer führte er seine Gespräche auf der Grundlage seines tiefen Gespürs für den Respekt vor der Menschlichkeit des anderen. Die bahnbrechende Weisheit in seinen Vorschlägen zu einer lebenslangen Erziehung und zu einer Umweltschutz-Erziehung auf Gemeinde-Ebene, wie auch in seinen Bemühungen,

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die Stimmen der Mütter bei der Erziehung zu berücksichtigen – diese Weisheit entstammte seinem standhaften Bemühen, stets auf die Menschen zu hören und sie in den offenen Dialog einzubeziehen. Der dritte Aspekt von Gautama Buddhas Weisheit bezieht sich auf die Frage der Wertschöpfung, denn nur die Weisheit ermöglicht uns, den vollsten Gebrauch von Wissen zu machen. Als junger Prinz, der auf das Regieren vorbereitet wurde, studierte Gautama viele Fachbereiche, darunter Astronomie, Medizin, Recht, Wirtschaft, Literatur und Kunst. „Er lernte eine Wissenschaft nicht, um bei anderen Leid zu verursachen, sondern studierte nur das Fach, das wohltätig war.“ 7 Das war offenbar die Tradition, in welcher die Könige des Shakya-Clans ausgebildet wurden. Am tiefsten beeindruckt mich an Gautamas Studien, dass er vollständigen Gebrauch von allem machen konnte, was er in seiner Jugend gelernt hatte, als er später umherzog, um die Menschen vom Leid zu erlösen. Deshalb konnte er immer, ob er mit Königen, Bauern oder Mitgliedern der damals aufkommenden Klasse der Kaufleute sprach, die geeignetsten Gleichnisse und Beweisführungsketten finden, mit denen er das Dharma erklärte. Er konnte die Weisheit seines Zuhörers erwecken, indem er in Übereinstimmung mit den Fähigkeiten der betreffenden Person lehrte. Immer verschrieb er gleichsam die richtige Medizin für die jeweilige Krankheit. Heute stehen wir an Scheidewegen, sehen uns der entscheidenden Frage gegenüber, ob unsere rapide anwachsende wissenschaftliche Kenntnis, so machtvoll symbolisiert durch die Atomenergie und die Gentechnologie, zum Glück der gesamten Menschheit eingesetzt werden wird oder dazu, den Egoismus einzelner Menschen, Völker oder Staaten zu befriedigen. Unsere heutige Welt, in der die Nuklearwaffen weiterhin der Abschaffung harren und wir immer noch Geiseln der nuklearen Abschreckung bleiben, ist in meinen Augen die traurige und erbärmliche Gestalt einer Menschheit, die unfähig ist, sich über ihre egoistische Natur zu erheben und daher den Kräften der Gewalt und des Militarismus anheimfällt. Andernorts in den Lehren des Buddha finden wir die Mahnung, dass man „eher zum Meister seines Geistes werden sollte, als dass der Geist dein Meister“ 8 werde. Das bedeutet, dass man sich weder von den negativen Einwirkungen von Gier und Gewalt beherrschen lassen noch versuchen soll, gegen jede Vernunft die natürlichen Begehren auszulöschen. Viel eher bedeutet es, als Meister seines Geistes diese potenziell destruktiven Tendenzen in Richtung auf Wertschöpfung anund umzuleiten. Meister seines Geistes zu sein, heißt die Weisheit zu kultivieren, die in den inneren Nischen unseres Lebens wohnt und nur dann im unerschöpflichen Überfluss hervorquillt, wenn wir von dem mitfühlenden Entschluss gelei-

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tet werden, der Menschheit zu dienen, den Menschen zu dienen. Mit dieser Weisheit verdient das umfassende, ozeanische Mitgefühl Gautama Buddhas unsere Aufmerksamkeit. Der erste Aspekt dieses Mitgefühls, über den ich sprechen möchte, ist die Vorstellung, dass die gemeinsame Mission der Menschheit im Kosmos in der Ausübung des Mitgefühls liegt. Für mich ist es klar, dass für Gautama das Universum selbst die Verkörperung des Mitgefühls ist. Sein eigenes Verhalten war eine stete Manifestation dieses ursprünglichen Mitgefühls. Alle Phänomene im Universum existieren innerhalb von sich gegenseitig unterstützenden Beziehungen, was der Buddhismus als „bedingtes Entstehen“ bezeichnet. Nach dieser Ansicht existiert nichts ohne Sinn und nichts wird vergeudet. Indem es diese „Fäden“ der gegenseitigen Abhängigkeit miteinander verwoben hat, hat das Universum das Leben, einschließlich des menschlichen Lebens, auf diesem Planeten entstehen und wachsen lassen. Die buddhistischen Ansichten zu diesem Thema stimmen mit denen der modernen Astronomie überein, insofern sie die weitere Existenz eines aktiven, intelligenten Lebens im Universum annehmen. Aus dieser Perspektive können wir den Kosmos als schöpferische Lebensform begreifen, als Verkörperung eines unschätzbar großen Mitgefühls. So finden wir auch Gautama auf seiner letzten Reise, die ihr Ziel vermutlich in seinem Geburtsort hatte, und wiederholt äußerte er sein Empfinden für die Schönheit und seine Freude beim Anblick der Dörfer und grünen Wälder entlang seines Weges. Das Mitgefühl des Buddha, der bei seinem lebenslangen Streben nach Frieden und Menschenglück gewaltige Gebiete durchzog, fand seinen Nachhall im ewigen Rhythmus des Mitgefühls, der dem Universum selbst innewohnt. In unserem Zeitalter kann man eine zentrale Krise, in der die Menschheit sich befindet, als Verlust des Lebenssinns bezeichnen. Wir sind ohne Antworten auf so wesentliche Fragen wie: Was ist der Mensch? Wozu leben wir? Verzehrt von unserem ungestillten Durst nach Sinn wandern wir ziellos umher, entfremdet von Gesellschaft, Natur und Kosmos. Der Buddhismus lehrt uns, dass der Zweck der Ankunft des Menschen auf der Erde darin liegt, aktive Teilnehmer am mitfühlenden Wirken des Universums zu sein und so dessen schöpferische Dynamik zu bereichern und zu erhöhen, indem wir unser Leben im umfassendsten Sinne ausleben. Mit anderen Worten ist die Botschaft Gautama Buddhas, dass mitfühlendes Handeln, welches alle Lebensformen entstehen lässt und sie zu Glück und schöpferischer Entwicklung hinleitet, eben die Mission ist, mit der wir vom Kosmos

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betraut sind. Wenn wir uns dieser Mission bewusst sind und an deren Erfüllung arbeiten, dann können wir uns der Erfahrung von echtem Sinn erfreuen. Das buddhistische Verständnis des Mitgefühls kann, dessen bin ich gewiss, dazu dienen, eine neue Kultur der Symbiose aufziehen zu lassen, die auf dem Respekt für den Menschen gründet, und sie kann eine neue Beziehung zur Natur aufkommen lassen, eine des gemeinsamen Erblühens der Menschheit und der globalen Umwelt. Außerdem ermutigt es zu jener Art von altruistischer Handlung oder Bodhisattva-Praxis, die als einzige die Menschheitsgeschichte von der Teilung zur Einheit zurückführen kann, von der Konfrontation zur Harmonie, vom Krieg zum Frieden. Der zweite Aspekt von Gautama Buddhas Mitgefühl, den ich hier betrachten möchte, liegt in seiner Mahnung, dass wir allzeit eine Himalaya-gleiche Gelassenheit und Zuversicht an den Tag legen mögen. Der Aufbau eines festen und unerschütterlichen Selbst ist die notwendige Grundlage für wahres Mitgefühl. Der weitherzige und mitfühlende Lebenszustand des Buddha, der auf das Glück aller Lebewesen ausgerichtet ist, erinnert mich an nichts weniger als die herrlichen Gipfel des Himalaya, die selbst von den wildesten Stürmen unbeeinflusst bleiben. In einer seiner Lehren sagte der Buddha: „Gute leuchten schon von ferne, wie die schneeigen Bergeshöhen; Schlechte aber sind wie Pfeile, die man nachts schießt, nicht zu sehen.“ 9 Für mich besagt dies, dass diese steil aufsteigenden Berge mit ihren schnee-bemäntelten Gipfeln in Gautamas Geist sehr präsent waren, als er sein eigenes Menschenideal ausformte. Wie viele Denker festgestellt haben, werden menschliche Gesellschaften mit allen Vor- und Nachteilen beweglicher und veränderbarer, je energischer sie sich für Freiheit und Gleichheit einsetzen. Daher ist die Ausprägung einer festen Identität und eines Ziels umso unerlässlicher. Ohne diese Arbeit kann man sich nur allzu leicht in sinnlosen Vergleichen mit anderen verlieren und der Eifersucht und Feindseligkeit anheimfallen. In jedem Zeitalter hängen Frieden und gesellschaftliche Stabilität letztlich von den Handlungen der Menschen ab, die inmitten sich verändernder Umstände ein stetes, unerschütterliches Selbst bewahren. Ich denke, dass es womöglich noch nie ein Zeitalter gab, das mehr als das unsrige danach verlangt. Daher bin ich der Meinung, dass Gautama Buddhas letzte Mahnung an seine Schüler „Vertraut auf euch selbst, vertraut auf das Gesetz“ 10 zugleich eine Botschaft an die Menschheit als ganze ist, uns aber auch ermutigt, ein unerschütterliches „größeres Selbst“ zu errichten, das mit dem kosmischen Dharma verschmilzt. Am Ende möchte ich noch einige Leitlinien für unser Handeln erörtern, die

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Gautama Buddha uns hinterlassen hat und die meiner Meinung nach durch den Satz „Suche das Glück für dich und andere“ ausgedrückt werden können. Zweifellos war die größte Errungenschaft auf dem Gebiet der Menschenrechte in der Moderne die Forderung, dass die Unverletzlichkeit des Einzelnen respektiert werden muss. Das Problem der Menschenrechte kann aber nicht allein durch institutionelle Maßnahmen gelöst werden. Vielmehr hat die zielstrebige Ausrichtung der gegenwärtigen Menschheit auf unsere persönlichen Rechte uns dazu gebracht, die Existenz der anderen zu vergessen. Und ironischerweise unterminiert dies die Grundlage unseres eigenen Seins. Gautama Buddha beschrieb die Beziehung zwischen dem Selbst und den anderen mit diesen Worten: „Die Menschen können nichts Kostbareres als sich selbst finden. Auf gleiche Weise achten auch die anderen sich selbst. So wird der, der sich selbst achtet, aus dem Wissen um die Selbst-Liebe davon absehen, anderen zu schaden.“ 11 Er erkannte, dass für die Menschen nichts wichtiger ist als man selbst. Dementsprechend können wir, sofern wir uns nur aufrichtig in die Situation anderer Menschen versetzen, naturgemäß deren Wert und Geltung begreifen. Der erste Schritt in Richtung zum Mitgefühl besteht darin, uns an die Stelle der anderen zu versetzen und voller Einfühlung die Wirklichkeit ihrer Existenz anzuerkennen. Ich glaube nicht, dass ich der einzige bin, der spürt, dass hier in der Tat die „gute Medizin“ liegt, die das tiefe Gefühl der Isolation mildern kann, welches die moderne Menschheit betrifft. Nachdem er Erleuchtung erlangt hatte, unterzog sich der Buddha einem nervenzehrenden Prozess der inneren Kämpfe und Zweifel, ob er das Dharma anderen darlegen sollte oder nicht. Er wusste: Wenn er es täte, sähe er sich ohne jeden Zweifel der Kritik und der Verfolgung ausgesetzt, die aus der Unfähigkeit der Menschen erwachsen würde, seine Botschaft zu begreifen. Er fasste daher die Möglichkeit ins Auge, still zu bleiben und in ruhiger Einsamkeit die Freuden seines erleuchteten Zustandes zu genießen. Nach der buddhistischen Tradition erschien Brahmadeva 12 vor Gautama und flehte ihn an, das Dharma zu predigen um des Heils all jener Menschen willen, die zwischen Fortschreiten und Rückzug, Glück und Sorge, Sieg im Leben und Niederlage schwankten. Dieses „Drängen Brahmadevas“ erweckte in Gautama ein Gespür für den „anderen“ und hatte die Geburt eines wirklichen Buddha zur Folge, der sich vollständig der Erschaffung eines unzerstörbaren Glücks für sich selbst und für andere widmete. An anderer Stelle finden wir die folgenden Worte: „Weil alle Lebewesen der Krankheit unterworfen sind, bin auch ich krank.“ 13 Die Schreie der Menschen, welche die Leiden von Geburt, Altern, Krankheit und Tod ertragen, hallten stets in Gautama Buddhas Ohren wieder. Seine Botschaft für uns, die Zeit und Raum

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transzendiert, lautet: „Lass den anderen in dir neu erstehen und genießt gemeinsam das größte Glück!“ Der japanische buddhistische Lehrer Nichiren, der im 13. Jahrhundert lebte, gibt uns in seiner Auslegung des Lotos-Sutra die folgende Antwort: „Man selbst und andere werden Freude empfinden an ihrer Teilhabe an Weisheit und Mitgefühl.“ 14 Diese Botschaft führt zugleich zum Konzept der Menschenrechte der dritten Generation, zu denen das Recht auf eine friedliche internationale Ordnung und auf eine gesunde natürliche Umgebung gehört. Diese Solidarität des Humanismus ist der Schlüssel – dessen bin ich sicher – zum allgemeinen Wohlstand für die gesamte Menschheit, verwirklicht durch den Aufbau und Fortschritt der so reichhaltigen und einzigartigen menschlichen Gesellschaften, die unseren Planeten schmücken. Jeder von uns hat eine tiefe Lebensaufgabe. Es ist meine Hoffnung und meine Zuversicht, dass wir, wenn wir nur die Schwingen von Weisheit und Mitgefühl ausbreiten, uns in den Himmel einer Zukunft erheben, die durch Frieden und Ehrfurcht vor dem Leben gekennzeichnet ist. Als Ausdruck meines tiefen Wunsches, dass die Zukunft voller Hoffnung, Gesundheit und Glück sein möge, möchte ich Worte des nepalesischen Nationaldichters zitieren: von Madhav Ghimire, den ich zutiefst bewundere. Sein Gedicht trägt den Titel „Jugend“: Die ersten Strahlen des Lichts auf schneebedeckten Gipfeln, und neuer, frischer Schwung kommt in des Helden Armen auf, ergreife, du Jugend, des neuen Tages Strahlen. Beginn’ durch deine Berührung eine neue Welle, und mit deinen Fingern erwecke die Welt zu neuem, pulsierendem Leben! 15

Teil IV: Frieden – Die unbedingte Aufgabe

Das Zeitalter der Soft Power 1 und einer vom inneren Bedürfnis motivierten Philosophie*

In der Vergangenheit war es die Hard Power, die in Form von militärischer Macht, politischer Autorität und Reichtum die Geschichte bestimmte. Wir konnten jedoch in den letzten Jahren feststellen, dass die Bedeutung dieser Faktoren abgenommen und der Einfluss der Soft Power – Faktoren wie Wissen und Information, Kultur, Ideen und Systeme – deutlich zugenommen hat. Dieser Trend war im Zusammenhang mit dem Golf-Konflikt von 1991 klar erkennbar: Was zunächst als klassisches Beispiel für den Einsatz von Hard Power, also Militär, erschien, wäre niemals ohne die vorherige Absicherung durch Soft Power zustande gekommen, damals in Form der Unterstützung durch die Vereinten Nationen (ein System) und der Weltöffentlichkeit, die sie repräsentieren. Meiner Überzeugung nach haben wir die historische die Pflicht, die Tendenz von Hard Power zu Soft Power zu stärken und eine Umkehrung dieser Grundrichtung zu verhindern. Meiner Ansicht nach wird es die intrinsische Motivation der Menschen sein, die den Weg zu einem Zeitalter der Soft Power freimacht. Jahrhunderte lang gelang es den Hard Power-Systemen, die Menschen unter Anwendung von Gewalt und Unterdrückung für bestimmte Ziele gefügig zu machen. Soft Power hingegen entsteht aus dem freien Willen, sie ist eine innere Energie, die durch Konsens und Verständnis unter den Menschen entsteht. Soft Power setzt die inneren Energien des Individuums frei. Seit alters her wurde sie dem Bereich der Philosophie im weitesten Sinne zugerechnet; sie wurzelt in der geistigen und religiösen Natur des Menschen. Doch wenn sich ein Zeitalter der Soft Power nicht auf eine entsprechende philosophische Grundlage stützen kann, wenn also die Stärkung der inneren Ressourcen des Menschen ausbleibt, dann gebiert ein solches Zeitalter nur einen „Faschismus mit lächelndem Antlitz“. In einer solchen Gesellschaft wären die allseits verfügbaren Informationen und Wissensschätze lediglich Werkzeuge

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Vortrag Daisaku Ikedas an der Harvard-Universität, Boston, USA, 26. September 1991.

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Teil IV: Frieden – Die unbedingte Aufgabe

der Machthaber, um die Bevölkerung geschickt zu manipulieren. Eine Bürgerschaft ohne besondere Weisheit wäre eine leichte Beute derartiger Machenschaften. Daher fällt die Bewältigung der Aufgabe, den Trend zur Soft Power zu erhalten und zu beschleunigen, in den Zuständigkeitsbereich der Philosophie.

Religion und individuelles Gewissen Ich möchte an einem Beispiel verdeutlichen, was ich mit intrinsischer Motivation meine. Der Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal (1623–1662) kritisiert in seinem Werk Les Provinciales das ausgeklügelte System der „Präzedenzfälle für das Gewissen“2, das die Jesuiten schufen, um ihnen die Missionstätigkeit zu erleichtern. Sein Urteil wirft ein klares Licht auf den grundlegenden Unterschied zwischen der eigenen inneren Motivation des Menschen und dem, was ihm von außen auferlegt wird. Bekanntlich hatten die Jesuiten ein sorgfältig ausgearbeitetes System der Verbreitung ihres Glaubens entwickelt. Es ging so weit, dass sie Christen erlaubten, als hinführendes Mittel nicht-christliche Gottheiten zu verehren, wenn es der Hinführung zum Glauben diente. Als Jansenist 3 legte Pascal einen hohen Wert auf das individuelle Gewissen. Daher verurteilte er, dass kirchliche Autorität dafür eingesetzt wurde, Normen und Vorschriften für das Gewissen aufzustellen und durchzusetzen. Pascal beschreibt die Vorgehensweise der Jesuiten folgendermaßen: „Diesem Plan folgten sie in Indien und China, wo sie es Christen erlaubten, einen regelrechten Götzendienst zu praktizieren. Dies geschah mit Hilfe einer genialen List: Sie ließen ihre Konvertiten ein Bild Jesu Christi unter ihren Kleidern verbergen, zu dem sie in Gedanken die Verehrung lenkten, die sie äußerlich dem Götzenbild (von Shakyamuni oder Konfuzius) darbrachten.“ 4 Pascal verurteilt diese Praxis selbst nicht unbedingt. Er erkennt an, dass es Zeiten geben mag, wo so etwas notwendig ist. Aber die Entscheidung für eine solche Täuschung sollte nur nach einem Prozess der Kontemplation, Selbstbefragung und Seelenprüfung getroffen werden. Dieser Prozess ist nichts anderes als das von einem inneren Bedürfnis getriebene Wirken des Gewissens. Wird ein bereits festgelegtes Verhaltensmuster oder eine von außen gerechtfertigte Ausnahmeregelung bei einer solchen Entscheidung herangezogen, so weicht man dem schmerzlichen Prozess der Entscheidungsfindung aus. Statt sich zu entwickeln, verkümmert das Gewissen und degeneriert. Was die Jesuiten „Präzedenzfälle für das Gewissen“ nannten, war für Pascal nicht mehr als die feige Kapitulation gegenüber dem Wunsch vieler nach einfachen Antworten. Für ihn bedeuteten sie den Selbstmord des Gewissens, des eigenen moralischen Lotsen.

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Pascals Kritik geht über den begrenzten Rahmen seiner Zeit hinaus und vermittelt wertvolle Einsichten zur universalen Frage, was die Natur des menschlichen Gewissens sei. Vielleicht hat das Amerika des 19. Jahrhunderts nicht den nötigen den Grad an Reinheit erreicht, der Pascal zufrieden gestellt hätte. Doch es liefert ein seltenes historisches Beispiel einer Epoche, in der die Konzentration auf das Wirken der Seele für eine gesamte Gesellschaft den Ton angab. Der französische Staatstheoretiker und Historiker de Tocqueville (1805– 1859) besuchte die Vereinigten Staaten ein halbes Jahrhundert nach ihrer Gründung. Er war vor allem von der Einfachheit der Religionsausübung der Amerikaner beeindruckt und gleichzeitig von ihrer Aufrichtigkeit und der Stärke ihres Gefühls. Er beschreibt das im folgenden Abschnitt aus Democracy in America: „es wurde mir ein Anliegen […] herauszufinden, wie es kam, dass sich die wahre Kraft der Religion durch einen Zustand verstärkte, der ihre scheinbare Kraft verringerte“. 5 Die katholische Kirche in Frankreich, mit der de Tocqueville vertraut war, hatte eine visuelle und künstlerische Wirkkraft. Kennzeichnend für sie waren komplizierte Formalitäten und komplexe Rituale, die den Geist in Fesseln legten. De Tocqueville nahm daher an, jede Minderung der „offenkundigen, sichtbaren Kraft“ der Institution Kirche, also ihre Rituale und Formalitäten, würde die Menschen von diesem äußeren Einfluss befreien und eine Schwächung ihres Glaubens zur Folge haben. Die Gegebenheiten, die er in Amerika vorfand, zeigten jedoch das genaue Gegenteil. Er schreibt: „Ich kenne kein Land, in dem das Christentum sich mit weniger Formen, Andachtsübungen und Bildern umgäbe und sich dem menschlichen Geist in klareren, einfacheren und allgemeineren Vorstellungen darböte als in den Vereinigten Staaten.“ 6 Nun könnte der Eindruck entstehen, de Tocqueville vergleiche einfach den Formalismus der katholischen Kirche in Frankreich mit dem blühenden Geist der Puritaner in Amerika. Doch bei genauerer Betrachtung denke ich, dass er eigentlich die von innen gelenkte, aus dem Inneren hervorströmende Religiosität preist, die, bis zu ihrem reinsten Zustand veredelt, zur bestimmenden geistigen Klangfarbe dieses Landes geworden ist. Zweifelsohne müssen alle Religionen, die einen dauerhaften Einfluss auf die Menschen und die Gesellschaft hinterlassen, sowohl auf der persönlichen als auch auf der institutionellen Ebene wirken. Alle großen Religionen, die sich auf ein absolutes Wesen oder eine absolute Wahrheit berufen und die Unterschiede von Rassen, Klassen oder sozialem Stand überwinden, lehren den Respekt oder die Verehrung des Einzelnen. Doch wenn sich eine religiöse Überzeugung zu einer religiösen Bewegung entwickelt, verlangt dies die Bildung einer Organisa-

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tion. Die institutionellen Aspekte einer Religion müssen sich den ständig wechselnden Bedingungen der Gesellschaft anpassen und sollten meiner Ansicht nach die individuellen, persönlichen Aspekte des Glaubens unterstützen und ihnen Vorrang gewähren. Die traurige Wahrheit ist jedoch: Nur wenige religiöse Bewegungen waren in der Lage, der institutionellen Verknöcherung zu entgehen. Denn die organisatorische Ausprägung einer Religion führt schließlich zur Fesselung und Einschränkung der Menschen, deren Interessen sie ursprünglich dienen wollte. Die äußeren Zwänge religiöser Institutionen und ihrer damit verbundenen Rituale ersticken die inneren, spontanen Glaubenskräfte, und irgendwann geht die ursprüngliche Reinheit des Glaubens verloren. Da solche Entwicklungen etwas ganz Normales sind, vergessen wir leicht, dass somit die wahre Aufgabe einer Religion völlig in ihr Gegenteil verkehrt wird. De Tocqueville hielt es für besonders erwähnenswert, dass diese Art institutionelle Missbrauch in den religiösen Gemeinden Amerikas weitgehend vermieden wurde. So wurde seiner Ansicht nach eine grundlegende Reinheit des Glaubens im amerikanischen Volk bewahrt. Diese Reinheit und die Intensität, mit der Religion als eine Angelegenheit des inneren Lebens betrachtet wurde, finden sich trefflich in der Rede des Philosophen Ralph Waldo Emerson (1803–1882), die er 1838 im „Divinity College“, Cambridge, hielt: „Das, was auf Gott in mir hinweist, stärkt mich. Das, was Gott außerhalb von mir darstellt, macht mich zu einem armen Sünder.“ 7 Es gibt Stimmen, die behaupten, dass die aufgeschlossene und optimistische Sicht der Religion, die Emerson und seine Zeitgenossen vertraten, nur ein glückliches und momentanes Aufatmen in der spirituellen Geschichte der Neuzeit darstellt. Davor lag ein Zeitalter geheimer Absprachen zwischen den etablierten religiösen und politischen Machthabern. Danach folgte ein Zeitalter der Säkularisierung, in dessen Verlauf spirituelle Fragen auf die Ebene einer rein privaten Angelegenheit zurückgedrängt und jeder Möglichkeit beraubt wurden, größere Bedeutung zu erlangen. Trotzdem tun wir nicht recht daran, diese besondere Zeitperiode und ihre Früchte vollkommen in die Vergangenheit zu verbannen. Dieses Erbe einer von innen kommenden Spiritualität lebt weiter in der Tiefe der amerikanischen Geschichte, in ihren Erkenntnissen und Erfahrungen.

Bushido und Selbstbeherrschung Wenn wir unseren Blick auf das moderne Japan richten, fällt es uns schwer, bedeutsame Beispiele für eine solche Spiritualität zu finden. Nachdem sich das

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Land Mitte des 19. Jahrhunderts der Welt geöffnet hatte, begab es sich Hals über Kopf in das Unterfangen, die westlichen Industrienationen einzuholen und zu übertreffen. Der große japanische Schriftsteller Soseki Natsume (1867–1916) traf den Kern der Sache, wenn er dies als einen von außen auferlegten Zivilisationsprozess bezeichnete. Tatsächlich kamen alle Modelle für die Modernisierung und die Zielsetzungen von außen. In ihrem Drang, ihren Rückstand aufzuholen, glaubten die Japaner damals, nicht Zeit genug zu haben, um aus sich heraus eigene Vorstellungen hinsichtlich der Moderne zu entwickeln. An dieser Stelle möchte ich Sie mit einer Episode aus dem Leben von Inazo Nitobe, einem Pädagogen der Meiji-Periode und Pionier der japanisch-amerikanischen Freundschaft bekannt machen. Bei einer Diskussion über Religion mit einem belgischen Bekannten wurde Nitobe gefragt, ob das japanische System eine religiöse Erziehung vorsähe. Nach sorgfältiger Überlegung kam Nitobe zu dem Schluss, dass „Bushido“, der Weg des Samurai, und nicht die Religion die spirituelle Entwicklung des japanischen Volkes seit Anfang des 17. Jahrhunderts bis ins 19. Jahrhundert hinein geprägt hat. Später schrieb Nitobe in englischer Sprache ein Buch mit dem Titel Bushido: The Soul of Japan (Bushido – Die Seele Japans). Ich möchte hier nicht näher auf den Inhalt des Werkes eingehen. Der Hinweis mag genügen, dass es eine Reihe von Übereinstimmungen zwischen der Spiritualität des Bushido und der Philosophie des Protestantismus und des Puritanismus gibt. Das erklärt zumindest zum Teil die Begeisterung, mit der die Schriften Benjamin Franklins im Japan der Meiji-Periode (1868–1912) begrüßt wurden. Für die heutige Diskussion ist es jedoch bedeutsamer, dass die geistig-spirituelle Entwicklung des japanischen Volkes durch „Bushido“ überwiegend selbstbestimmt war und dem inneren Bedürfnis des Einzelnen entsprach. Eigene Motivation verlangt Selbstbeherrschung und das heißt, in korrekter und verantwortlicher Weise zu handeln: Wir agieren nicht, weil wir dazu gezwungen werden, sondern spontan und aus unserem eigenen freien Willen heraus. Die Tatsache, dass es während der Edo-Periode weit weniger Verbrechen und Korruption gab als heutzutage, ist für mich ein Beweis dafür, dass die innere Spiritualität konkreten Einfluss auf das Funktionieren der japanischen Gesellschaft hatte. Das erinnert mich an einen Kommentar von de Tocqueville: „In keinem Land wird das Strafrecht mit mehr Milde gehandhabt als in den Vereinigten Staaten.“ 8 Da die Japaner jener Zeit intrinsische Motivation besaßen, konnten sie einen hohen Grad der Selbstbeherrschung erlangen. Diese Eigenschaft gehört zu den besten Ausdrucksformen der Menschlichkeit insofern, als dass sie sanftere soziale Beziehungen und weniger Angst im Umgang miteinander ermöglichte. Die

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Selbstbeherrschung als gesellschaftliches Ideal brachte eine Kultur von besonderer Schönheit hervor, die von vielen bemerkt wurde: Edward S. Morse, HarvardAbsolvent und Entdecker bedeutender archäologischer Funde, stellte eine überraschende Schönheit im Lebensstil der einfachen Japaner fest. Als Walt Whitman (1819–1892) japanische Gesandte durch die Straßen von Manhattan spazieren sah, war er berührt von der Würde, die sie ausstrahlten. Durch die wachsende wirtschaftliche Stärke Japans wurden die im Grunde immer noch freundschaftlichen amerikanisch-japanischen Beziehungen in den letzen Jahren zunehmend von Disharmonie getrübt. Die tiefere Ebene dieser Spannungen zeigte sich in den Gesprächen von 1990 im Rahmen der „Initiative zur Behebung struktureller Hindernisse“. In diesen Verhandlungen traten Störungen zutage, die eher kultureller als wirtschaftlicher Natur waren. Unterschiedliche Kulturen reagieren nicht immer freundschaftlich aufeinander. Wenn interkulturelle Begegnungen tief verwurzelte Alltagsgewohnheiten in Frage stellen, kann dies leicht ablehnende oder sogar feindselige Reaktionen hervorrufen. Nie sind Zurückhaltung und Selbstbeherrschung stärker gefordert als zu Zeiten, in denen sie mit den Verwirrungen und Spannungen konfrontiert sind, die das Aufeinandertreffen von Kulturen mit sich bringt. Eine echte Partnerschaft gelingt nur dann, wenn das Bemühen beider auf einer Selbstbeherrschung beruht, die von dieser inneren spirituellen Ebene herrührt. Die nötige intrinsisch motivierte Selbstbeherrschung fehlt im modernen Japan in auffallender Weise. Daher neigte das Land dazu, zwischen Selbstüberschätzung und Minderwertigkeitsgefühl hin und her zu schwanken. Wir konnten sehen, wie Japan in seinen Beziehungen zu anderen Staaten, insbesondere zum Westen, unverhältnismäßig unterwürfig wurde; und nun beobachten wir eine eigenartige wiederauflebende Arroganz, die sich auf nichts anderes stützt als die letzten Zahlen des Bruttosozialproduktes. Der japanische Überfall auf Pearl Harbour erinnert schmerzlich daran, welche Schrecken und Zerstörungen das Fehlen von Selbstbeherrschung anrichten kann. Übrigens spielte Nitobes Bushido eine erfreuliche Rolle bei den Friedensverhandlungen, die 1905 mit dem Vertrag von Portsmouth den Russisch-Japanischen Krieg beendeten. Kurz nach Beginn der Feindseligkeiten hatte die japanische Regierung Kentaro Kaneko, ein Mitglied des Oberhauses, in die Vereinigten Staaten gesandt, um die wohlwollende Unterstützung Präsident Roosevelts für die Verhandlungen über die Beilegung des Konflikts zu gewinnen. Kaneko war ein Mitschüler Theodor Roosevelts in Harvard gewesen. Beide hatten ihre Verbindung über viele Jahre beibehalten und noch verstärkt. Als der Präsident nach einem Buch fragte, dass ihm Aufschluss geben könnte über das, was dem japanischen Charakter und seiner spirituellen Ausprägung zugrunde lag, überreich-

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te ihm Kaneko eine Ausgabe des Bushido. Zwei Monate später sagte Präsident Roosevelt bei einem Treffen zu Kaneko, das Buch habe ihm ein klares Verständnis des japanischen Charakters vermittelt. Auf der Grundlage dieses Wissens nahm er gerne die Aufgabe als Vermittler bei den Friedensverhandlungen wahr. In der keineswegs friedvollen Geschichte der amerikanisch-japanischen Beziehungen strahlt diese Episode als erfrischendes Beispiel des gegenseitigen Verstehens. Vor uns liegt nun die Aufgabe, die inneren Energiequellen des Menschen wiederzubeleben, gerade in einer „Fin-de-Siècle-Welt“, der die eigene geistige Leere immer bewusster wird. Dies zu realisieren ist nicht einfach, weder für Japan noch für die Vereinigten Staaten. Ich denke, dass dabei die Weisheit des buddhistischen Konzepts vom „bedingten Entstehen“ einen wesentlichen Beitrag zu leisten vermag, denn es zeigt, wie tief und unentwirrbar unsere Schicksale miteinander verwoben sind.

Den Willen zur Harmonie aktivieren Bedingtes Entstehen – dieses Prinzip gehört zu den wichtigsten der buddhistischen Lehre und besagt, dass alle Wesen und Phänomene im Universum nur durch ihre Beziehungen zu anderen Wesen und Phänomenen existieren oder erscheinen. Alles ist in einem komplizierten Gewebe von Kausalität und Abhängigkeit miteinander verbunden und nichts – ob Naturereignisse oder menschliche Angelegenheiten – kann allein aus eigenem Entschluss heraus erscheinen oder existieren. Hier liegt die Betonung stärker auf den wechselseitigen Beziehungen der Einzelwesen untereinander als auf dem Individuum allein. Scharfsinnige westliche Beobachter wie Henri Bergson (1859–1941) und Alfred North Whitehead (1861–1947) stellten allerdings fest, dass eine zu starke Betonung der Interdependenz zu einem Rückzug des Einzelnen und einer verminderten Fähigkeit zu positivem Engagement in der ihn umgebenden Welt führen kann. Passivität ist tatsächlich in der Geschichte der buddhistisch geprägten Kulturen eine deutlich wahrnehmbare Tendenz. Doch das tiefere Wesen des Buddhismus geht über die Passivität hinaus und behandelt die Wechselbeziehungen auf einer Ebene, die einzigartig dynamisch und ganzheitlich ist – und im eigenen Inneren entsteht. Wie ich bei der Betrachtung über das Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen bemerkte, sind nicht alle Beziehungen freundschaftlicher Natur. Die Tatsache, dass es gegensätzliche Interessen oder sogar Feindseligkeit gibt, muss anerkannt werden. Was kann zur Förderung harmonischer Beziehungen getan

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werden? Eine Episode aus dem Leben des Buddha Shakyamuni bietet hierzu eine hilfreiche Anregung. Einst wurde Shakyamuni folgende Frage gestellt: „Es wird uns gesagt, das Leben sei wertvoll. Dennoch leben alle Menschen vom Töten und Verzehren anderer Lebewesen. Welche lebenden Wesen dürfen wir töten und welche lebenden Wesen dürfen wir nicht töten?“ Auf diese einfache Formulierung einer großen Frage antwortete Shakyamuni: „Es genügt, den Willen zu töten zu töten.“ Shakyamunis Antwort stellt weder ein Ausweichen noch eine Irreführung dar. Sie basiert auf dem Prinzip des bedingten Entstehens, von dem ich bereits gesprochen habe. Er erklärt uns, dass wir uns bei der Suche nach harmonischen Beziehungen, die der Grundidee des Respekts für die Unantastbarkeit des Lebens entsprechen, nicht auf die phänomenale Ebene beschränken dürfen, wo Konflikte und Feindseligkeit unweigerlich existieren. Die Frage an den Buddha, welche lebenden Wesen man töten darf und welche nicht, betraf Phänomene der Erscheinungswelt. Wir müssen auf einer tieferen Ebene suchen, einer Ebene, wo es tatsächlich möglich ist, „den Willen zu töten zu töten“. Diese Suche führt über die Wahrnehmung des rein Gegenständlichen hinaus zu einem Zustand des Mitgefühls, der die Unterscheidung zwischen dem eigenen Selbst und dem Anderen transzendiert. Wir müssen diese „Energie des Mitgefühls“ empfinden, die in der Tiefe des Lebens in jedem Menschen pulsiert, dort, wo sich individuelles und universales Leben vereinigen. Es handelt sich dabei nicht um die Art naiver Leugnung oder Verneinung des individuellen Selbst, die Bergson und Whitehead kritisieren. Es ist die Verschmelzung – auf der tiefsten Ebene – des Selbst und des Anderen. Gleichzeitig stellt es eine Erweiterung des begrenzten, durch das Ego gefesselten Selbst zu einem größeren Selbst dar, dessen Ausmaße so grenzenlos und unbeschränkt sind wie das Universum. In den Lehren des Nichiren-Buddhismus gibt es die Textstelle: „Ohne Leben kann es keine Umgebung geben.“ Mit anderen Worten betrachtet der Buddhismus das Leben und seine Umgebung als zwei integrale Aspekte der gleichen Entität. Die subjektive Welt des Selbst und die objektive Welt seiner Umgebung sind weder Gegensätze noch Dualität. Ihr Verhältnis zueinander ist das einer Untrennbarkeit und Unteilbarkeit. Auch ist diese Einheit des Selbst und seiner Umgebung keine statische, in der beide Bereiche als zwei voneinander getrennte Teile verschmelzen. Die Umgebung, die alle Phänomene des Universums umfasst, kann ausschließlich in einer dynamischen Beziehung mit Aktivität des Lebens existieren, die im eigenen Innern pulsiert. Für uns, um dies praktisch zu definieren, ist die wichtigste Frage, wie wir die in unserem Leben vorhandenen inneren Quellen von Energie und Weisheit aktivieren können. An dieser Stelle möchte ich ein vertrautes Beispiel zu den vorher diskutierten

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„Präzedenzfällen für das Gewissen“ anführen. Ich werde manchmal gebeten, Ehepaare zu beraten, die an Scheidung denken. Eine Scheidung ist natürlich eine rein private Angelegenheit, in der allein die beiden betroffenen Partner entscheiden können. Ich ermutige solche Paare, daran zu denken, dass es vom buddhistischen Standpunkt aus unmöglich ist, das persönliche Glück auf dem Leiden anderer zu errichten, und ich bitte sie, dies bei ihrer Entscheidung zu bedenken. Nur durch – zeitweise durchaus schmerzliches – Nachdenken und die Geduld, wie sie die Konfrontation mit solch schwierigen Situationen erfordert, kann man das innere Wirken des Gewissens stärken und disziplinieren. Pascal verstand dies nur zu gut. So könnte es den Betroffenen gelingen, die Zerstörung menschlicher Beziehungen, die ansonsten unvermeidbar wäre, gering zu halten. Nichts tut in der heutigen Gesellschaft mehr Not als eine nach innen gerichtete Spiritualität, um die eigene Selbstbeherrschung und Zurückhaltung zu stärken. Es ist eine menschliche Qualität, die den Respekt vor der Würde des Lebens vertieft. In einer Welt, wo zwischenmenschliche Beziehungen immer angespannter werden können eine stärkere Selbstbeherrschung und Selbstdisziplin zu einer Wiederherstellung, zu einer Verjüngung solch gefährdeter Tugenden wie Freundschaft, Vertrauen und Liebe beitragen – essenziell notwendige Qualitäten für lohnende und sinngebende Bande zwischen Menschen. Es ist meine Hoffnung und meine Überzeugung, dass wir ein Wiederaufleben der Philosophie, und zwar der Philosophie im weitesten, sokratischen Sinn, erleben werden. Auf der Grundlage einer solchen Philosophie wird ein Zeitalter der Soft Power seine wahren und reichsten Früchte tragen. In einer Ära, die keine Begrenzungen kennt, wird eine solche verinnerlichte Philosophie uns Menschen als Weltbürger qualifizieren. Die großen Vordenker der amerikanischen Renaissance – Emerson (1803–1882), Thoreau (1817–1862) und Whitman (1819– 1892) – vor deren Idealen ich einen unendlichen Respekt habe – sie waren, davon bin ich überzeugt, Weltbürger dieses Formats. Zum Schluss möchte ich mit Ihnen einen Abschnitt aus Emersons Gedicht „Freundschaft“ 9 teilen. In jungen Jahren zählte es zu meinen besonderen Lieblingsgedichten. O Freund, so sprach mein Herz, Durch Dich allein besteht des Himmels Wölbung, Durch Dich nur ist die Rose rot. Ein jedes Ding veredelt sich durch Dich, Und ragt weit übers Erdenrund hinaus; Das Mühlrad unseres Schicksals scheint Ein Sonnenpfad in Deinem Glanz.

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Auch hat Dein Adel mich gelehrt, Mein Zweifeln zu verwinden; Der Brunnen meines unsichtbaren Lebens, Durch Deine Freundschaft quillt er rein.

Radikalismus – neu bedacht* Neue Grundsätze der Integration Gegenwärtig scheint unsere Welt immer tiefer in Heillosigkeit und Unordnung abzugleiten. Zwar gab es in der Geschichte immer wiederkehrende Zyklen von Zusammenkommen und Auseinanderbrechen, von Integration und Zerfall, doch jetzt stehen wir vor der Gefahr, auf eine Ebene des globalen Chaos abzugleiten, von der es keinen Wiederaufstieg mehr geben könnte. Ich beziehe mich dabei auf die so mächtigen Spaltkräfte des nationalen und ethischen „Fundamentalismus“, aufgetaucht im Kielwasser des Kalten Krieges, um das Vakuum zu füllen, das nun entstanden ist nach dem Niedergang der Ideologie – jenes Ersatzprinzips, das unsere Welt so lange ordnete und zusammenhielt. Bei jedem Schlüsselmoment der jüngeren Geschichte – der Befreiung Osteuropas, der friedlichen Wiedergeburt eines wiedervereinten Deutschlands und dem Ende des Golfkrieges – haben wir Diskussionen über die Notwendigkeit einer Vision vernommen, auf der eine neue internationale Ordnung zu errichten wäre. Doch diese Träume sind sehr schnell verpufft, und immer noch tasten wir blind nach Leitlinien. Wir erreichten lediglich die allgemeine Zustimmung, dass, welche Form auch immer die neue Weltordnung annimmt, die Vereinten Nationen eine zentrale Rolle dabei spielen sollten. Unsere Welt kann man mit der verbrannten Kruste vergleichen, die nach einer alles verschlingenden Feuersbrunst bleibt. Wenn wir auf diesem trostlosen Beet die Saat für neues Wachstum ausbringen sollen, können wir uns nicht an alten Leitlinien orientieren. Wir müssen unsere gesamte Energie in die Entdeckung neuer Grundsätze für die Integration auf unserem Globus stecken. Die Völker und Nationen haben gerade erst angefangen, aus ihrer langen ideologischen Vergiftung aufzuwachen. Mehrere meiner Freunde aus der früheren Sowjetunion haben das Bild des Prokrustesbettes 1 gebraucht, um die Unterdrückung und die Schikane zu beschreiben, die auf die Menschen durch Ideologie ausgeübt wird. Wenn wir kurz innehalten, um über das enorme Opfer und den Zoll des menschlichen Leides nachzudenken, die der Preis für das Festhalten an einer Ideologie gewesen sind, dann wird klar, dass die Suche nach Prinzipien *

Rede Daisaku Ikedas am Claremont McKenna College, Kalifornien, USA, 29. Januar 1993.

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der Integration mit großer Sorgfalt betrieben werden muss. Diese Suche kann keine transzendente, sondern muss eine von gänzlich menschlichem Maßstab sein, ausgerichtet auf unser inneres Leben. Denn das Wesen unserer Suche ist die Wiederentdeckung und Erneuerung der Ganzheit und Einheit aller menschlichen Erfahrung, die gegenwärtig so katastrophal durch die zunehmende Fragmentierung ausgehöhlt wird. In einem Interview in der Seikyo Shimbun, der Tageszeitung der Soka Gakkai, bemerkte der Pionier der Psycho-Pharmakologie, Dr. Joel Elkers: „Heilung ist eine Wiederherstellung zum Ganzen hin […]. Die Worte ‚Heilung‘ [healing], ‚Ganzes‘ [whole] und ‚heilig‘ [holy] stammen alle von derselben Wurzel ab. Heilig zu sein heißt vollständig zu sein, verbunden als Person und mit anderen Personen, verbunden mit dem Planeten. Schmerz ist ein Signal, dass der Teil sich vom Ganzen gelöst hat.“ 2 Diese Beobachtung gilt nicht nur für physischen Schmerz, sondern für alles, was unsere gegenwärtige Zivilisation plagt, deren grundsätzliche Pathogenese im Zusammenbruch der menschlichen Ganzheit erkannt werden kann. Einige Zeit schon ist vergangen, seitdem Ausdrücke wie „die Ganzheit des Menschseins“ aufgehört haben, unsere Phantasie anzuregen. Die menschliche Ganzheit lässt sich als Gattungsbegriff denken, der unser Potential für Weisheit (homo sapiens), unsere unternehmerischen Geschicke (homo oeconomicus), unsere Fähigkeit, Veränderung zu bewirken (homo faber) und unsere Verspieltheit (homo ludens) umfasst. Doch das ist kaum mehr als eine Anordnung von Definitionen und als solche zu einfach, um die Essenz der menschlichen Ganzheit zu beschreiben.

Anfang mit der Sonne Auch im Schlusskapitel seines mahnenden Buches Apokalypse (1976) hat D. H. Lawrence (1885–1930) seinen oft vorgebrachten Appell zur Wiederherstellung der Ganzheit wiederholt, wobei er das Problem mit großer Klarheit dargestellt hat: „Was der Mensch am leidenschaftlichsten will, ist seine lebendige Ganzheit, sein lebendiger Gleichklang, nicht die isolierte Befreiung seiner ‚Seele‘ […]. Was wir wollen, ist, unsere falsche, unorganische Verbindung, vor allem die zum Geld, zu zerstören, und die lebendige, organische Verbindung mit dem Kosmos, der Sonne und der Erde, mit der Menschheit und der Nation und der Familie neu zu begründen. Fangen wir mit der Sonne an, und der Rest wird sich ganz allmählich einstellen.“ 3

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Was Lawrence hier so poetisch ausdrückt, hat eine bemerkenswerte Parallele in den Worten Eduard Heimanns (1889–1967), dessen makroskopische Analysen der gesellschaftlichen Dynamik den Vergleich mit Marx und Schumpeter evoziert haben. Heimann bringt die Idee vor, dass der Begriff des „organischen Wachstums“ auf jene Arten der gesellschaftlichen Entwicklung angewendet werden kann, in denen die Ganzheit der menschlichen Person und die Einheit des Lebens intakt gelassen wurden: „Der ‚Organismus‘ der Gesellschaft – wenn dieses immer gefährlichere Bild für unseren gegenwärtigen Zweck benutzt werden darf – lebt und entwickelt und ändert sich und behält bei alledem seine Identität bei.“ 4 Unnötig zu sagen, dass die moderne Gesellschaft sich weit von allem entfernt hat, was einem gesunden, idealen „organischen Wachstum“ auch nur ähnelt. Die Ganzheit des Menschen bezieht sich auf jenen pulsierenden Zustand des Seins, in dem wir die immanenten Rhythmen des kosmischen Lebens in neuen Mustern von Aktion und Aktivität aufnehmen und verkörpern können, wodurch wir der Geschichte und den Traditionen eine vitale Bedeutung geben. Die Erfahrung der menschlichen Ganzheit ist eine der tiefen Erfüllung, durch die wir Qualitäten wie Gelassenheit und Großzügigkeit, Toleranz und Rücksichtnahme entwickeln können, die seit alters her als Tugenden galten. Umgekehrt sind Menschen, die sich von Geschichte und Tradition, von anderen und vom Kosmos abschneiden, einem unkontrollierbaren Prozess der Degeneration und des SelbstVerlusts ausgesetzt, was zu nervösen Störungen, zu Instabilität und am Ende zum Wahnsinn führt. Zuweilen hört man heutzutage die Ansicht, Nietzsches „Übermensch“ symbolisiere die moderne Menschheit, doch schon dieser Gedanke ist selbst nur ein anderer Aspekt der Instabilität und des Selbst-Verlustes. Der „Übermensch“ ist alles andere als der Sieger der Geschichte. Er scheint ausweglos in den „falschen, unorganischen Verbindungen“ gefangen, vor allem denen, die mit Geld zu tun haben, wovor Lawrence warnt. Wenn das der heutige homo economicus ist: Welch langer und trauriger Abstieg ist dies von der Unabhängigkeit und der Dynamik des ursprünglichen Wirtschafts-Menschen, den Adam Smith porträtiert hat! Allein die Verwandlung in diesem einen Bereich liefert uns den unanfechtbaren Beweis dafür, dass uns die Ganzheit des Menschen, je mehr wir zur Moderne vordringen, abhanden gekommen ist. Wie können wir der conditio humana wieder die Ganzheit zuführen, ohne die Wohltaten der Modernisierung aufs Spiel zu setzen, wie zum Beispiel die Leistung, Hunger und Krankheiten weitgehend ausgelöscht zu haben? Ich bin der festen Überzeugung, dass wir durch ein ausgewogenes, allmähliches, stetiges Fortschreiten die schreckliche Eigendynamik der Desintegration zügeln und neue

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Grundsätze der Integration entwickeln können. Ein solcher Weg mag manchen als umständlich erscheinen, doch auf lange Sicht stellt er den direktesten und grundsätzlichsten Weg dar, dauerhafte Lösungen für die Krankheiten unseres Zeitalters bereitzustellen. Wenn wir die Herausforderung dieser gewaltigen Aufgabe annehmen, ist eine ganze Reihe von Punkten zu beachten. Der erste wäre zu erkennen, wie wichtig ein Weg der kleinen Schritte für große Veränderungen ist.

Plädoyer für eine allmähliche Veränderung 1991 endete das 70 Jahre währende kommunistische Experiment in der Sowjetunion mit erbärmlichem Scheitern. Manche Beobachter haben bemerkt, dass die Russen den Prozess zu Ende geführt hätten, den die Französische Revolution begonnen hatte. Mit anderen Worten untergrub die Auflösung der Sowjetunion jegliche Versuche, die Geschichte als linearen, kausalen Prozess zu sehen, nach welchem beispielsweise die bürgerliche Revolution in Frankreich unvermeidlich zur russischen proletarischen Revolution führen musste. Eine solche Diagnose des Scheiterns dessen, was man als „radikal rationalistische Geschichtsbetrachtung“ bezeichnen könnte, scheint mir sehr überzeugend. Die historiografische Voraussetzung dieser Geschichtsbetrachtung ist die apriorische Existenz einer Art Blaupause für die rationale Entwicklung und ein entsprechendes Fortschreiten der Geschichte. Es ist eine Methode, die urteilt und zugleich versucht, die Wirklichkeit nach einem einzigen Theoriemodell zu gestalten. Eine solche Vorgehensweise spiegelt den unhinterfragten Glauben an die Vernunft wider, der die Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts durchzog. Was die Frage der menschlichen Ganzheit betrifft, so verherrlicht dieser Glaube einzig die Fähigkeit zur Vernunft unter Ausschluss aller anderen. Genau dieses irrige Empfinden, die unwandelbaren Gesetze der Geschichte beherrscht zu haben, hat die widerwärtige Intoleranz und starrsinnige Arroganz hervorgebracht, die so charakteristisch für viele moderne Revolutionäre ist. Die traurige Ironie besteht darin, dass die meisten von ihnen einst von guten Absichten geleitet waren. Es gibt eine natürliche Beziehung zwischen Rationalismus und Radikalismus. Wenn man alle Ereignisse durch rationale Prozesse begreifen kann, von denen die Pläne für eine rationalistische Utopie abgeleitet werden, dann können die Ereignisse theoretisch auch beschleunigt werden, und je früher die Utopie umgesetzt wird, desto besser. Ebenfalls „natürlich“ ist der schnelle Rückgriff auf Gewalt, wenn es um die Auseinandersetzung mit konterrevolutionären Elementen geht, die sich weigern, die utopische Vision als ihre eigene zu übernehmen. Diese Art von Radikalismus ist aber nicht notwendig von allgemeiner Anzie-

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hungskraft. Man denke zum Beispiel an die Worte des kirgisischen Romanciers Tschingis Aitmatow (1928–2008), einer der führenden Leuchten der gegenwärtigen russischen Literatur. In der Einführung zu dem Band, der die Gespräche enthält, die ich mit ihm in den vergangenen Jahren geführt habe, schrieb er: „Zweitens: Ein väterlicher Rat. Berauscht euch nicht an sozialen Revolutionen. Revolution ist Aufruhr und eine Massenkrankheit. Revolution bedeutet massenhafte Gewalt und die allgemeine Katastrophe der Nation und der Gesellschaft. Wir haben das bis zur Neige ausgekostet. Sucht nach Wegen demokratischer Umgestaltungen, den Weg der unblutigen Evolution und konsequenter Reformen. Die Evolution erfordert Geduld und Kompromisse, Regelungen und Wachstum, aber nicht die gewaltsame Einführung von Glück. Ich bete zu Gott: Mögen die jungen Generationen aus unseren Fehlern lernen!“ 5 Interessanterweise gibt Aitmatows scharfe Kritik des revolutionären Radikalismus die Anklagen von Edmund Burke und Goethe wieder, die sie gegen die Jakobiner vorbrachten. Nicht nur der revolutionäre Radikalismus, sondern jede Weltanschauung, die auf „historischer Unvermeidlichkeit“ gründet, leugnet auf fundamentale Weise die menschliche Fähigkeit, durch eigene Anstrengung das Schicksal selber zu gestalten. Immer wieder müssen wir der Versuchung widerstehen, das einzelne Leben oder die Geschichte lediglich als objektive Dinge oder Fakten anzusehen. Deren Wahrheit kann nur durch aktives, lebendiges Engagement und durch Teilnahme erworben werden. Soll die Veränderung wirklich und dauerhaft sein, muss sie allmählich erfolgen und von innen inspiriert werden. Die Anwendung von äußerem Zwang wird immer irgendeinen Aspekt unserer umfassenden Menschlichkeit zerstören und die Ausgeglichenheit und Ganzheit des Lebens kompromittieren. In dieser Hinsicht findet man sehr viel Gültiges in der Analogie, die der Wirtschaftswissenschaftler Friedrich A. Hayek (1899–1992) über einen Gärtner formulierte, um die Haltung zu skizzieren, die ein wahrer Liberaler heute gegenüber der Gesellschaft einnimmt. Das Wachstum von Pflanzen ist sowohl spontan wie allmählich. Der Gärtner kann höchstens für das Wachstum günstige Voraussetzungen schaffen. Auf gleiche Weise, so Hayek, müssen wir die „spontanen Kräfte der Gesellschaft“ 6 nutzen. Zufälligerweise führt die Gärtner-Analogie uns zur Notwendigkeit, die Vielfalt innerhalb der Gesellschaft in Betracht zu ziehen. Eine der kritischsten Fragen heutzutage lautet, wie wir nach Art des geschickten Gärtners einen harmonischen Garten aus den mannigfachen menschlichen Talenten und Qualitäten erschaffen können und dabei die einzigartige und unantastbare Individualität jedes Menschen respektieren. Indem wir uns für eine allmähliche, von innen

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geleitete Vorgehensweise entscheiden, können wir Wege finden, auf denen die Vielfalt unserer Erfahrungen zum Quell schöpferischer Energie werden kann. Die Tradition und Erfahrung der Amerikaner qualifizieren meiner Meinung nach die USA für die besondere Mission, ein beispielhaftes Muster für die ganze Welt aufzuzeigen. Ich möchte auch betonen: Genauso, wie der Radikalismus seiner Natur nach dazu bestimmt ist, auf Gewalt und Terror zurückzugreifen, so ist die mächtigste Waffe des allmählich Voranschreitenden das Gespräch. In Sokrates sehen wir das unerschütterliche Bekenntnis zum Gespräch, zum verbalen Kampf, von dem es keinen Rückzug gibt, und wir erkennen bei ihm eine Intensität, die im Wortsinne fast schon todesverachtend ist. Ein solcher Dialog kann nur durch die Ressourcen der geistigen Energie und Stärke aufrecht erhalten werden, die weit größer und tiefer sind als diejenige, die man bei denen findet, die so schnell zur Gewalt greifen.

Disziplin und Dialog Nur in dem offenen Raum, den das Gespräch erschafft, ob nun mit unseren Nachbarn, mit der Geschichte, der Natur oder dem Kosmos, kann die Ganzheit des Menschen aufrecht erhalten werden. Die geschlossene Stille eines autistischen Raumes kann nur zum Ort des spirituellen Selbstmords werden. Wir werden nur im biologischen Sinne als Menschen geboren. Wir können lediglich lernen, uns selbst und andere zu erkennen, und so können wir „trainiert“ werden in der Art, wie man Mensch wird. Das geschieht durch Eintauchen in das „Meer von Sprache und Gespräch“, das durch die Quellen der kulturellen Überlieferung gespeist wird. Ich erinnere mich des schönen und bewegenden Abschnitts im Phaidon, worin Sokrates seine jugendlichen Schüler lehrt, dass Hass auf die Sprache und Ideen (mislogos) zum Hass auf die Menschen (misanthropos) führt. 7 Das Misstrauen gegenüber Sprache, das den Mislogisten entstehen lässt, ist nur die Umkehrung eines übertriebenen Glaubens an die Macht der Sprache. Beide sind verschiedene Aspekte der gleichen Sache, einer Geistesschwäche, die unfähig ist, mit den Belastungen der menschlichen Nähe fertig zu werden, die durch das Gespräch entstehen. Eine solche geistige Schwäche bringt einen Menschen dazu, zwischen übermäßiger Aufrichtigkeit und Argwohn gegenüber anderen Menschen zu schwanken, wodurch man zur leichten Beute für die Kräfte der Auflösung wird. Damit ein Dialog diese Bezeichnung verdient, müssen wir in unseren An-

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strengungen um des Dialogs willen bis zum Ende durchhalten. Den friedlichen Austausch zu verweigern und stattdessen die Gewalt zu wählen heißt, einen Kompromiss zu schließen und der menschlichen Schwäche nachzugeben; es heißt die Niederlage des menschlichen Geistes zuzulassen. Sokrates ermutigt seine jugendlichen Schüler, sich geistig auszubilden und zu stärken, die Hoffnung und Selbstbeherrschung aufrecht zu halten und mutig die Tugend vor dem materiellen Reichtum zu wählen, die Wahrheit vor dem Ruhm. Auch wenn wir die moderne Massengesellschaft nicht mit den Wertvorstellungen des alten Griechenland erfassen können, sollen wir dennoch die Unterschiede dieser beiden Gesellschaften nicht überbetonen. In seiner klassischen Studie Die öffentliche Meinung hat Walter Lippmann 1938 beispielsweise wiederholt zum sokratischen Dialog und zum sokratischen Menschen aufgerufen als Schlüssel zu einer gesunden öffentlichen Meinungsbildung. 8 Als ich kürzlich in Tokyo mit Professor Jack L. Stark und Professor Alfred Balitzer vom Claremont McKenna College zusammentraf, waren wir uns alle einig, was den Primat der Bildung unter den gesellschaftlich wichtigen Werten betraf. Bildung, die auf dem offenen Gespräch basiert, besteht aus weit mehr als dem bloßen Transfer von Information und Wissen. Sie versetzt uns in die Lage, uns über die Grenzen unserer engstirnigen Perspektiven und Leidenschaften hinwegzusetzen. Universitäten und Hochschulen haben die Aufgabe, den sokratischen Weltbürger zu fördern und bei der Suche nach neuen Grundsätzen zur friedlichen Vernetzung unserer Welt zur Speerspitze zu werden. Zufällig verbrachte Shakyamuni, der oft gemeinsam mit Sokrates als einer der großen Weltlehrer bezeichnet wird, die letzten Augenblicke seines Lebens damit, seine Schüler zum Dialog mit ihm aufzufordern. Bis zum allerletzten Augenblick nötigte er sie außerdem, ihn zu jedem Thema zu befragen, wie ein Freund es mit dem anderen tut.

Charakter und menschliche Ganzheit Mein letzter Punkt ist die zentrale Bedeutung des Charakters, eine andere Bezeichnung für die Ganzheit des Menschen, für seine Vollständigkeit. Die integrierenden Prinzipien, die ich erwähnt habe, sind nicht nur Abstraktionen, sondern etwas, das jene Menschen in ihrem Inneren suchen müssen, die nach dem Wachstum ihres Charakters streben. Denn es ist der Charakter, der das Gewebe der integrierenden Kräfte zusammenhält. Fast gleichzeitig mit der Gründung des Claremont McKenna Colleges kam mein lebenslanger Mentor und zweiter Präsident der Soka Gakkai, Josei Toda,

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nach zweijähriger Gefangenschaft durch das japanische Militärregime frei, um sogleich eine neue humanistische Bewegung in Japan ins Leben zu rufen. Bei seinen Bemühungen konzentrierte er sich stets darauf, aus der Bevölkerung Menschen von Charakter großzuziehen, einen nach dem anderen. Ich habe viele liebevolle Erinnerungen an diesen Mann, der voller Mitgefühl war und dessen Liebe zu jungen Menschen keine Grenzen kannte. Er spornte uns an, große Akteure auf der Bühne des Lebens zu werden. In der Tat ist die Macht des Charakters wie die konzentrierte Energie eines Schauspielers, der sich vollständig der Aufführung seiner Rolle überantwortet hat. Ein Mensch mit herausragendem Charakter wird immer, auch unter schwierigsten Umständen, eine Aura der Gelassenheit, Ruhe und selbst des Humors bewahren. Dies ist nichts anderes als das Erlangen seiner Selbstbeherrschung, oder das Meistern seines Selbst. Goethe, der neben seinen anderen Begabungen auch ein hervorragender Theaterregisseur war, antwortete auf die Frage, worauf er bei einem Schauspieler achte: „Vor allen Dingen, ob er sich in der Gewalt habe, denn ein Schauspieler, der keine Selbstbeherrschung besitzt und sich einem Fremden gegenüber nicht so zeigen kann, wie er es für sich am günstigsten hält, hat überhaupt wenig Talent. Sein ganzes Metier verlangt ja ein fortwährendes Verleugnen seiner selbst.“ 9 Goethes Vorstellung der Selbstbeherrschung entspricht der Idee der Mäßigung innerhalb der platonischen Philosophie. Selbstbeherrschung ist nicht allein eine wesentliche Eigenschaft von Schauspielern, sondern wohl die wichtigste Voraussetzung für die Charakterentwicklung. Eine der zentralen Lehren der buddhistischen Philosophie bezieht sich direkt auf die Frage der Charakterbildung. Der Buddhismus teilt die Zustände des Lebens, die die menschliche Erfahrung ausmachen, in zehn Lebenszustände oder Welten ein. Von der geringsten bis zur erstrebenswertesten sind dies: die Welt der Hölle, worin man in Leid getaucht ist; die Welt des Hungers, worin Körper und Geist von den wütenden Flammen der Begierde umgeben sind; die Welt der Tiere, worin man den Starken fürchtet und den Schwachen missbraucht; die Welt des Zornes, charakterisiert durch den steten Zwang, andere zu übertreffen und zu beherrschen; die Welt der Menschlichkeit, die ruhig und durch die Fähigkeit zu überlegten Urteilen gekennzeichnet ist; die Welt des Entzückens, die voller Freude ist; die Welt des Lernens, die eine des Strebens nach Erleuchtung ist; die Welt der Absorption, wo man ohne Hilfe die wahre Natur der Phänomene wahrnimmt; die Welt des Bodhisattva, eine des Mitgefühls, worin man alle Menschen vom Leid zu retten sucht; und schließlich die Welt der Buddhaschaft, eine der menschlichen Vollständigkeit und der vollkommenen Freiheit. In einem jeden dieser zehn Lebenszustände oder Welten kann gleichermaßen

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das volle Spektrum der zehn Welten gefunden werden. Mit anderen Worten enthält der Zustand der Hölle in sich jeden Zustand von der Hölle bis zur Buddhaschaft. In der buddhistischen Sichtweise ist das Leben niemals statisch, sondern in stetem Fluss, was in jedem Augenblick eine dynamische Transformation unter den Zuständen bewirkt. Der kritischste Punkt ist daher, welches dieser zehn Zustände, die ja alle im pulsierenden Fluss des Lebens existieren, die Basis für unser Leben bildet. Der Buddhismus bietet einen Lebensweg an, der auf die höchsten Zustände, die des Bodhisattva und des Buddha, zentriert ist – als Ideal für die menschliche Existenz. Gefühle – Freude und Sorge, Vergnügen und Zorn – sind die Fäden, aus denen der Stoff des Lebens gewoben ist, und wir erfahren ständig die volle Spannweite der zehn Lebenszustände. Doch diese Erfahrungen können durch die reinen, unzerstörbaren Zustände des Bodhisattva und der Buddhaschaft geformt und geleitet werden. Nichiren, dessen buddhistische Lehre die Basis unserer Organisation ist, hat mehr getan als nur diese Lehre zu predigen: Er lebte sie und gab dadurch ein bemerkenswertes Beispiel für die Zukunft ab. Als er zum Beispiel kurz davor stand, von den damaligen schändlichen Machthabern exekutiert zu werden, tadelte er seine klagenden Schüler und sprach: „Es gibt keine größere Freude!“ 10 Nachdem er die größte Belastung seines Lebens überstanden hatte, hatte er sogar Sake für die Soldaten herbeischaffen lassen, die ihn zu seiner Exekution geführt hatten. Wegen dieser Qualitäten bin ich zuversichtlich, dass der Buddhismus die Ausbildung des Charakters zutiefst beeinflussen kann, was der Schlüssel zur Wiederherstellung der menschlichen Ganzheit ist. Als praktizierender Buddhist habe ich die Hoffnung, dass wir unsere mutige Reise auf der Suche nach den neuen Prinzipien der Integration fortsetzen, die das Schicksal der Menschheit in Zukunft bestimmen werden. Gerne möchte ich nun schließen, indem ich einen Ausschnitt eines Gedichts von Walt Whitman zitiere, dessen Dichtung ich schon seit meiner Jugend liebe: Ich sehe Mann und Weib überall, Ich sehe die gelassene Bruderschaft von Denkern, Ich sehe die aufbauende Kraft meiner Rasse, Ich sehe die Früchte von Ausdauer und Fleiß meiner Rasse, Ich sehe Klassen, Farben, Barbarei, Zivilisation, ich gehe mit ihnen, ich mische mich unter sie ohne Wahl, Und ich grüße alle Bewohner der Erde. 11

Frieden und Sicherheit für die Menschen: Eine buddhistische Perspektive für das 21. Jahrhundert* Hawaii zieht alle Menschen mit seiner wunderschönen Natur in den Bann. Ost und West begegnen sich hier in Freundschaft; unterschiedliche Kulturen mischen sich hier in Harmonie; Tradition und Moderne existieren ausgewogen nebeneinander und befruchten sich gegenseitig. Hawaii ist deshalb ein besonders geeigneter Ort, um über Fragen des Friedens und des Zusammenlebens der Menschen nachzudenken – Fragen, die von grundlegender Bedeutung für die gesamte Menschheit sind. Von Hawaii aus startete ich im Jahre 1960 meine Reisen in die Welt. Hawaii war der Schauplatz für den tragischen Ausbruch des Pazifischen Krieges, der vom militaristischen Japan ausgelöst wurde. Seit meiner Jugend war es mein sehnlichster Wunsch, irgendwie dazu beizutragen, dass hier von Hawaii aus eine glanzvolle Ära des weltweiten Friedens ihren Ausgang nehmen möge. Rückblickend müssen wir feststellen, dass das 20. Jahrhundert durch die fast überall verbreitete Ermordung von Menschen durch Menschenhand besudelt wurde. Man nannte es ein Jahrhundert des Krieges und der Revolution; eine sehr treffende Bezeichnung, denn mit zwei Weltkriegen und zahllosen Revolutionen war es in der Tat eine beispiellose und blutige Abfolge von Konflikten und Unruhen. Fortschritte in Wissenschaft und Technik haben das Tötungspotenzial unserer Waffen dramatisch gesteigert. Es wird geschätzt, dass in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts 100 Millionen Menschen eines gewaltsamen Todes starben. Und seit Beginn des Kalten Krieges forderten regional begrenzte Kriege und Bürgerkriege über 20 Millionen Menschenleben. Gleichzeitig öffnet sich die Einkommenschere zwischen Nord und Süd immer weiter, derzeit leiden etwa 200 Millionen Menschen Hunger. Wir können nicht einfach die Augen vor der strukturellen Gewalt verschließen, durch die täglich zehntausende kostbare junge Menschen an Unterernährung und Krankheiten sterben. 1 *

Vortrag Daisaku Ikedas im East-West Center, Hawaii, USA, 26. Januar 1995.

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Darüber hinaus weisen viele besorgte Denker auf die spirituelle Verarmung hin, die sich im Osten wie im Westen ausbreitet und die Leere eines bloß materiellen Wohlstands aufdeckt. Was hat die Menschheit im 20. Jahrhundert auf Kosten der ungeheuren Opfer an Menschenleben gewonnen? Niemand kann bei dieser Frage ein Gefühl der Angst unterdrücken.

Hin zu einer inneren Reformation Ich fühle mich an die folgende Passage des Lotos-Sutra erinnert, die die Essenz des Mahayana-Buddhismus ausdrückt: „Die drei Welten bieten keine Sicherheit, genau wie das brennende Haus, voller Leiden sind sie und äußerst beängstigend.“ 2 Aus diesem Abschnitt spricht ein grenzenloses Mitgefühl für die von Leiden und Schrecken gequälte Menschheit. Den Blick auf dieses Panorama des Leidens gerichtet, erklärt Shakyamuni im gleichen Sutra: „Ich muss sie aus diesem Unheil des Leidens herausholen und ihnen die Freuden der unermesslichen und grenzenlosen Buddhaweisheit geben und sie sich damit vergnügen lassen.“ 3 Dieser Entschluss ist für das buddhistische Denken grundlegend. Aus ihm entsprang eine Tradition des tatkräftigen Handelns mit dem Ziel, inmitten der harschen gesellschaftlichen Realitäten eine unzerstörbare Welt der Sicherheit und des Wohlbefindens zu erschaffen. Dieses Unterfangen verlangt natürlich die innere Reformation des einzelnen Menschen und, daraus resultierend, die Revitalisierung des Lebens und das Schöpfen frischer Kräfte für den Alltag. Mein Mentor Josei Toda, der zweite Präsident der Soka Gakkai, nannte diesen Prozess „Menschliche Revolution“. Noch unter dem Einfluss des Fortschrittskultes des 19. Jahrhunderts haben wir uns fieberhaft dem Auf- und Ausbau staatlicher und gesellschaftlicher Strukturen gewidmet und sind der Illusion verfallen, dies allein sei der Weg zu menschlichem Glück. Jedoch im gleichen Maße, wie wir die grundlegende Frage umgangen haben, nämlich wie wir den individuellen Menschen erneuern und ihm frische Lebensenergie schenken können, erreichten wir mit unseren aufrichtigen Bemühungen für Frieden und Glück doch genau das Gegenteil. Dies ist meines Erachtens die zentrale Lehre, die wir aus dem 20. Jahrhundert ziehen können. Es hat mich überaus ermutigt, dass Präsident Oksenberg, eine viel beachtete Autorität in Sicherheitsfragen, ganz ähnliche Ansichten zu diesem Punkt vertritt. Als wir uns letztes Jahr im Herbst in Tokyo trafen, drückte er sich dementsprechend aus:

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„Wenn Menschen in einer spirituellen Leere leben, dann werden sie sich unsicher fühlen. Die Erfahrung von Stabilität werden sie nicht kennen. Sie werden sich nicht unbeschwert und frei fühlen können. Die Nationen und Staaten, in denen sie leben, werden ihnen deshalb auch keine wirkliche Sicherheit bieten können. Wirkliche Sicherheit setzt voraus, dass wir an mehr denken als bloß die Sicherheit des Staates; sie verlangt, dass wir auch die Sicherheit von Kulturen und die des einzelnen Menschen in Betracht ziehen.“ 4 Unsere Aufgabe ist es daher, eine feste innere Welt zu errichten, eine starke Selbstgewissheit, die selbst durch die schwierigsten Umstände und die drängendsten Widrigkeiten nicht ins Wanken gerät. Nur wenn unsere Bemühungen, die Gesellschaft zu verändern, eine Erneuerung des inneren Lebens – die Menschliche Revolution – zum Ausgangspunkt haben, werden sie uns mit Gewissheit zu einer Welt dauerhaften Friedens und wirklicher menschlicher Sicherheit führen. Dies alles vorausgesetzt, möchte ich nun einige Gedanken vortragen, die sich auf drei Bereiche beziehen, in denen ein grundlegender Wandel auf unserem Weg ins 21. Jahrhundert gefordert ist: von Wissen zu Weisheit, von Einheitlichkeit zu Vielfalt und schließlich, wie ich es nennen will, von nationaler zu „menschlicher Souveränität.“

Von Wissen zu Weisheit Die erste Veränderung, über die ich reden möchte, bezieht sich auf die Notwendigkeit, wegzukommen von unserer gegenwärtigen Überbetonung des Wissens und zu einer neuerlichen Betonung der Weisheit zu gelangen. Präsident Toda traf, denke ich, den Kern der Sache, als er sagte, Wissen mit Weisheit zu verwechseln sei der Hauptirrtum des modernen Denkens. Zweifellos hat die Menge an Information und Wissen, die der Menschheit im Vergleich zu der Zeit vor hundert oder auch nur vor fünfzig Jahren heute zur Verfügung steht, ein außergewöhnliches Wachstum erfahren. Man kann jedoch kaum behaupten, dieses Wissen habe zu jener Weisheit geführt, die dem Menschen Glück bringt. Vielmehr produziert das groteske Ungleichgewicht zwischen unserem Wissen und unserer Weisheit vorrangig Leiden. Dies zeigt sich deutlich in der Tatsache, dass die am höchsten entwickelten Früchte unserer Wissenschaft und Technologie atomare Waffen sind, aber auch durch die zwischen Nord und Süd immer weiter wachsende Entwicklungskluft, auf die ich eben schon Bezug genommen habe.

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Mit dem Anbruch einer Gesellschaft, die in immer stärkerem Maße Wissensund Informationsgesellschaft ist, wird es umso wichtiger, dass wir die Weisheit entwickeln, dieser gewaltigen Ressourcen an Wissen und Information Herr zu werden. Die gleichen Kommunikationstechnologien, die etwa eingesetzt werden können, um ganze Bevölkerungen zu Terror und Hass anzustacheln, könnten ebenso gut eine dramatische Ausweitung der Bildungschancen auf der ganzen Welt hervorbringen. Der Unterschied liegt hier ganz allein im Grad und in der Tiefe der menschlichen Weisheit und des Mitgefühls. Es ist die durchgängige Absicht des Buddhismus, die mitfühlende Weisheit zu Tage zu fördern, die in der Tiefe des menschlichen Lebens schon vorhanden ist. Nichiren, der Begründer des Buddhismus, den wir praktizieren, schrieb an einen seiner Schüler die folgenden Zeilen: „Ihre Ausübung der buddhistischen Lehren wird Sie nicht im Geringsten von den Leiden aus Geburt und Tod befreien, solange Sie nicht die wahre Natur Ihres Lebens erkennen. Wenn Sie die Erleuchtung außerhalb Ihrer selbst suchen, dann werden selbst zehntausend Ihrer Ausübungen und zehntausend gute Taten vergeblich sein. Es verhält sich damit wie bei einem armen Mann, der Tag und Nach damit zubringt, den Reichtum seines Nachbarn zu zählen, doch dabei selbst auch nicht ein halbes Geldstück hinzu gewinnt.“ 5 Ein sehr bezeichnendes Merkmal des Buddhismus und des östlichen Denkens überhaupt ist: Es beharrt darauf, jede intellektuelle Aktivität sollte nur im innigen Dialog mit solch existenziellen Fragen entfaltet werden wie: „Was ist das Selbst?“ und „Was ist die beste Lebensweise?“ Die von mir zitierte Passage steht stellvertretend für diese Art des Denkens. Heute wächst die allgemeine Besorgnis, dass der Verteilungskampf um Wasser und andere natürliche Ressourcen immer häufiger die Ursache regionaler Konflikte sein wird. Dies erinnert mich an Shakyamunis Weisheit, die er als Berater in einem Konflikt um Wasser in seinem Heimatstaat bewies. Als Shakyamuni in seiner Wanderlehrtätigkeit wieder einmal nach Kapilavastu kam, sah er, dass ein bestimmter Fluss beinahe gänzlich ausgetrocknet war. Er floss zwischen Gebieten, die von zwei unterschiedlichen Volksgruppen besiedelt waren. In der aktuellen Situation gerieten sie in Streit miteinander. Keine Seite wollte nachgeben, beide hatten zu den Waffen gegriffen und ein Blutvergießen schien unvermeidlich. 6 Shakyamuni trat zwischen die zerstrittenen Parteien und ermahnte sie mit den folgenden Worten: „Schaut sie euch an, die da kämpfen, zum Töten bereit! Angst entsteht da, wo zu den Waffen gegriffen wird und man sich anschickt, loszuschlagen.“ 7

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Gerade weil ihr bewaffnet seid, habt ihr Angst – dieses klare und einleuchtende Argument erreichte die Herzen der zerstrittenen Parteien und beide wurden sich des Wahnsinns ihrer Handlungen bewusst. Alle legten ihre Waffen ab und Freund und Feind setzten sich zusammen. Als dann Shakyamuni wieder das Wort ergriff, ging er nicht auf die Frage von Recht und Unrecht im vorliegenden Streit ein, sondern verwies auf den Schrecken des Todes. Mit großer Eindringlichkeit sprach er über die Bewältigung der allergrößten Angst des Menschen – der Angst vor dem eigenen Tod – und darüber, dass es geboten sei, ein Leben in Frieden und Sicherheit zu führen. Gewiss, verglichen mit der Komplexität zeitgenössischer Konflikte mögen diese Begebenheit und ihr Ausgang allzu einfach erscheinen. Der Krieg im ehemaligen Jugoslawien, um nur ein Beispiel zu kennen, hat Wurzeln, die fast 2000 Jahre zurückreichen. Damals war die Region Schauplatz der Aufspaltung des Christentums in eine östliche und eine westliche christliche Kirche, später dann der Eroberungsfeldzüge der osmanischen Türken, und – in jüngster Vergangenheit – der grausamen Exzesse von Faschismus und Kommunismus. Die verwickelten, auf Rasse und Religion beruhenden Feindseligkeiten haben überaus tiefe Wurzeln und wirken nach wie vor mit großer Kraft. Jede Gruppe betont ihre Einzigartigkeit, jede Gruppe beruft sich auf ihre Geschichte und bezieht daraus ihre Rechtfertigungen. Die Folge ist jene tödliche Handlungsunfähigkeit, die wir heute erleben. Aus eben diesen Gründen erkenne ich in dem Muster, das Shakyamunis mutiger Dialog uns vorführt, eine drängend aktuelle Bedeutung. Unsere Zeit verlangt nach einer integrierenden Weisheit, die, anstatt zu trennen, den Blick auf all das richtet, was wir als menschliche Wesen gemeinsam haben. Die Lehren des Buddhismus sind ein wahrer Schatz an Weisheit, die auf Frieden ausgerichtet ist. Nichiren zum Beispiel hinterließ uns die folgende tiefgründige Einsicht in den Zusammenhang zwischen den elementaren negativen Tendenzen, die dem menschlichen Leben innewohnen, und den drängenden äußeren Bedrohungen für Frieden und Sicherheit: „Wie kann es in einem Land, in dem die drei Gifte [Habgier, Ärger und Dummheit] in einem solchen Maße vorherrschen, Frieden und Stabilität geben? […] Hungersnöte erscheinen als Folge von Habgier, Seuchen als Folge von Dummheit und Krieg als Folge von Ärger.“ 8 Die Weisheit des Buddhismus ermöglicht es uns Menschen, die Schranken des „kleinen Selbst“ (jap. Shoga) zu durchbrechen, jenes privaten und abgeschotteten Selbst, das in seinen eigenen Begehrlichkeiten, Leidenschaften und Hassgefühlen gefangen lebt. Diese Lehre erlaubt es uns ferner, das tiefsitzende menschliche Bedürfnis nach einer kollektiven Identität zu befriedigen, indem wir nämlich mit überströmendem Elan das eigene Leben zu jenem „großen

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Selbst“ (jap. Taiga) hin erweitern, welches in Einklang mit der Lebensessenz des Universums steht. Diese Weisheit aber brauchen wir nicht an irgendeinem fernen Ort zu suchen; wir können sie in uns selbst finden, da, wo wir gerade stehen. Sie wohnt in dem lebendigen inneren Mikrokosmos und strömt in grenzenloser Fülle hervor, wenn wir uns mutig und mitfühlend für das Wohl der Menschheit, die Gesellschaft und deren Zukunft einsetzen. Durch diese Art der „Bodhisattva-Ausübung“ entwickeln wir die Weisheit, die Grenzen des eigenen Egoismus zu überwinden, und unser Wissen aus verschiedensten Bereichen wendet sich in dynamischer Ausgewogenheit einer blühenden menschlichen Zukunft zu.

Zur Empathie mit Andersartigkeit Die zweite Veränderung, über die ich sprechen möchte, ist der Wandel von Einheitlichkeit zu Vielfalt. Mit ihren Bemühungen, aus der Vielfalt Harmonie und Einigkeit hervorzubringen, stehen die Bürger von Hawaii in der Tat in den vordersten Reihen der Menschheit. Diese Anstrengungen werden in Zukunft von ganz außerordentlicher und bleibender Bedeutung sein. Pioniere auf diesem Gebiet können mit dem Ohia-Baum verglichen werden, der seine Wurzeln in das unfruchtbare Lavagestein senkt und wunderschöne, tiefrote Blüten hervorbringt. Wie es die Entwicklung von Wirtschaftsformen veranschaulicht, die ausschließlich auf Profitmaximierung abzielen, neigen auch die modernen Gesellschaften dazu, Unterschiede einzuebnen und Vielfalt in Natur und Menschheit der Verfolgung gigantomanischer Ziele unterzuordnen. Das Ergebnis ist die beklagenswerte globale Problematik, der wir uns heute gegenüber sehen; die Zerstörung der Umwelt bildet davon lediglich einen Teilaspekt. Wir können nicht umhin, den Weg einer „nachhaltigen menschlichen Entwicklung“ zu verfolgen, der auf einem tiefen Gefühl der Solidarität mit künftigen Generationen gründet. Eine neue Wertschätzung von menschlicher, sozialer und natürlicher Vielfalt ist wohl der einzige Weg, der gegenwärtigen Krise zu begegnen. Dies erinnert mich an die weise Aussage von Rachel Carson, einer Meeresbiologin und Vorreiterin der Umweltschutzbewegung in den Vereinigten Staaten. 1963, ein Jahr vor ihrem Tod, schrieb sie folgendes: „Ich bin fest davon überzeugt, dass unsere Generation sich mit der Natur versöhnen muss und ich denke, wir sind in einer noch nie da gewesenen Art und Weise herausgefordert, unsere Reife

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und unsere Beherrschtheit zu beweisen, nicht jedoch die Herrschaft über die Natur, sondern die Beherrschung unserer selbst.“ 9 Das wachsende Interesse, das dem Pazifischen Becken zuteil wird, ist in großem Maße mit der Hoffnung verbunden, dass dieses „Meer der Experimente“, das von einer solch bemerkenswerten ethnischen, linguistischen und kulturellen Vielfalt geprägt ist, eine führende Rolle bei der Zusammenführung der menschlichen Familie spielen wird. Hawaii ist für den pazifischen Raum ein Knotenpunkt des Austauschs und der Begegnung. Es hat eine große Geschichte der friedlichen Koexistenz vieler Kulturen. Hier ist ein Klima entstanden, das deren unterschiedliche Beiträge in sich aufnimmt und die gegenseitige Anerkennung unterschiedlicher Werte fördert. Ich bin davon überzeugt, dass Hawaii weiterhin ein zukunftsweisendes Modell für die derzeit entstehende pazifische Zivilisation sein wird. Die Weisheit des Buddhismus kann auch einen bedeutsamen und erhellenden Beitrag zur Frage der Vielfalt anbieten. Einer der grundlegenden Lehrsätze des Buddhismus erklärt, dass der Wert des gesamten Universums im Leben des einzelnen Menschen gesucht werden muss. Mit dieser Sichtweise wird jedem Versuch, Einheitlichkeit oder Uniformität zu erzwingen, von vornherein Einhalt geboten. In den Lehren Nichiren Daishonins finden wir den Satz: „Die Kirsche, die Pflaume, der Pfirsich, die Damaszenerpflaume […] ohne eine Verwandlung zu durchlaufen.“ 10 Diese Aussage bekräftigt, dass wir nicht unbedingt alle „Kirschen“ oder „Pflaumen“ werden müssen. Im Gegenteil sollte jeder Mensch die einzigartige Brillanz seines oder ihres Charakters hervorbringen. Dieses Gleichnis weist auf ein grundlegendes Prinzip der Wertschätzung von Vielfalt hin, das sich gleichermaßen auf Menschen wie auf das soziale und natürliche Umfeld bezieht. Wie der Grundsatz „die eigene innewohnende Wesensart enthüllen“ (jap. Jitai Kensho) besagt, besteht das wichtigste Anliegen des Buddhismus darin, es jedem Menschen zu ermöglichen, sein volles Potenzial zur Blüte zu bringen. Die Zufriedenheit des Einzelnen kann jedoch nicht im Konflikt mit anderen oder auf deren Kosten verwirklicht werden. Sie zu erreichen gelingt nur durch die aktive Wertschätzung von Einzigartigkeit und Unterschiedlichkeit; sind diese doch die verschiedenen Farben, die sich erst zum Blumengarten des Lebens ergänzen. In Nichirens Lehren findet sich auch das folgende Gleichnis: „Wenn Sie einem Spiegel gegenüber stehen und sich respektvoll verneigen, verneigt sich das Spiegelbild vor Ihnen.“ 11 Ich denke, dieses Bild drückt sehr schön die alles umfassende Kausalität aus, die den Kern der buddhistischen Lehre ausmacht.

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Der Respekt, den wir dem Leben der anderen entgegenbringen, fällt auf uns zurück, wie das Spiegelbild, und erhöht den Wert unseres Lebens. Das buddhistische Prinzip des „bedingten Entstehens“ (jap. Engi) 12 verweist auf eine Kosmologie, die davon ausgeht, dass alle menschlichen und natürlichen Phänomene innerhalb eines Geflechts gegenseitiger Bedingtheit entstehen. Wir sind somit angehalten, die Einzigartigkeit jeder individuellen Existenz zu respektieren, denn diese unterstützt und nährt alle Existenzen innerhalb des größeren lebendigen Ganzen. Für diese Sicht der wechselseitigen Abhängigkeit ist charakteristisch, dass sie auf einer unmittelbaren, intuitiven Erkenntnis des in allen Phänomenen immanenten kosmischen Lebens gründet. Der Buddhismus lehnt deshalb eindeutig alle Formen der Gewalt ab, als Angriff auf die Harmonie, die dem Netz des Seins zugrunde liegt und es zusammenhält. Die folgenden Worte von Anthony Marsella, Professor an der Universität von Hawaii, fassen das Wesen der bedingten Entstehung hervorragend zusammen: „Ich akzeptiere und nehme die offensichtliche Wahrheit bereitwillig an, dass die Lebenskraft, die in mir existiert, dieselbe Lebenskraft ist, die das Universum bewegt, antreibt und regiert. Und weil dies so ist, kann ich gar nicht anders, als dem Leben mit einem neuen Gefühl von Ehrfurcht zu begegnen und bescheiden zu werden vor dem Geheimnis dieser Wahrheit; gleichzeitig bin ich auch zuversichtlich und freudig über deren Bedeutung: Ich lebe! Ich bin ein Teil des Lebens!“13 Wenn wir uns auf die tiefsten und universellen Dimensionen des Lebens konzentrieren, sind wir in der Lage, unser natürliches Mitgefühl auf das Leben in seiner unendlichen Vielfalt auszudehnen. Es ist das Fehlen dieses Mitgefühls, so schreibt der große Wegbereiter der Friedensforschung, Professor Johan Galtung, was letztendlich die Gewalt möglich macht. 14 Professor Galtung und ich bereiten derzeit die Veröffentlichung unseres Dialogs vor. Eines unserer Themen war die Erziehung von Kindern und Jugendlichen und – damit verbunden – die Notwendigkeit, einen Geist des positiven Dialogs mit Menschen anzuregen, die gerade durch ihre Verschiedenheit und ihr Anderssein unsere Persönlichkeit erweitern und bereichern können. Eine solche Offenherzigkeit ermöglicht es uns, die menschliche Verschiedenartigkeit als Auslöser kreativer Aktivität zu erkennen, die Grundlage einer Zivilisation, die integriert und allseitigen Wohlstand schafft. In diesem Zusammenhang möchte ich erwähnen, dass die Bemühungen der SGI, kulturellen Austausch und Interaktionen in der ganzen Welt zu fördern, auf dieser Überzeugung und einer entsprechenden entschlossenen Zielsetzung gründen.

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Von nationaler Souveränität zu menschlicher Souveränität Der dritte Wandel, über den ich sprechen möchte, ist der von nationaler zu „menschlicher Souveränität“. Unbestreitbar haben die souveränen Staaten und die Fragen der nationalen Souveränität die Hauptrolle in den Kriegen und sonstigen Gewalttaten des 20. Jahrhunderts gespielt. Moderne Kriege, die als ein legitimes Mittel staatlicher Herrschaftsausübung betrachtet wurden, haben ganze Völker, nach deren Willen nicht lange gefragt wurde, in Tragödien und Leid von unbeschreiblichem Ausmaß gestürzt. Der Völkerbund und später die Vereinten Nationen, die beide in der bitteren Zeit nach den Weltkriegen gegründet wurden, waren gewissermaßen der Versuch, ein übergreifendes System zu schaffen, das die Souveränität der Staaten und ihre Herrschaftsausübung mäßigen und einschränken würde. Wir müssen uns jedoch eingestehen, dass dieses kühne Vorhaben heute vom Erreichen seiner ursprünglichen Ziele weit entfernt ist. Wenn die Vereinten Nationen ein wirkliches „Parlament der Menschheit“ werden sollen, müssen sie – dies ist meine Überzeugung – auf die sogenannte „Soft Power“ von Konsens und Übereinkunft setzen, die durch Dialog erreicht wird. Ferner muss die Ausweitung ihrer Funktionen begleitet werden von einer Abkehr von der traditionellen militärischen Auffassung von Sicherheit. Es ist zu hoffen, um hier nur einen Vorschlag zu machen, dass durch die Schaffung eines neuen Umwelt- und Entwicklungssicherheitsrates die Vereinten Nationen in die Lage versetzt werden, die drängenden Fragen der menschlichen Sicherheit mit neuer Kraft und Konzentration anzugehen. In diesem Bestreben ist es von entscheidender Wichtigkeit, dass wir einen Wandel in unserer Grundauffassung von Souveränität bewerkstelligen, weg von nationaler und hin zu menschlicher Souveränität. Dies ist ein Gedanke, der sehr kraftvoll in den Worten „Wir, die Völker …“ zum Ausdruck kommt, mit denen die Charta der Vereinten Nationen beginnt. Das heißt konkret: Wir müssen auf der untersten, der „Graswurzel-Ebene“ eine Bildung fördern, die Weltbürger hervorbringt, Menschen, die sich dem ungeteilten Wohlergehen der Menschheit verpflichtet fühlen, und wir müssen die Solidarität unter diesen Menschen fördern. Vom Standpunkt des Buddhismus aus gesehen, läuft die Veränderung von staatlicher zu menschlicher Souveränität auf die Frage hinaus, wie man Charaktereigenschaften entwickeln kann, welche die anscheinend überwältigende Macht der offiziellen Autoritäten mutig herausfordern und sie mit Weisheit zu mäßigen verstehen. Im Verlauf unserer Gespräche vor ungefähr 20 Jahren definierte der britische

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Historiker Arnold Toynbee den Nationalismus als eine Religion, nämlich als die Anbetung der kollektiven Macht menschlicher Gemeinschaften. Diese Definition gilt gleichermaßen für souveräne Staaten, wie auch für die Art Nationalismus ethnischer Gruppen, die heute regionale Konflikte und Bürgerkriege in der ganzen Welt schürt. Toynbee verlangte von jeder zukünftigen Weltreligion, dass sie in der Lage sei, dem fanatischen Nationalismus ebenso entgegenzutreten wie all jenen Übeln, die gegenwärtig eine ernsthafte Bedrohung für das Überleben der Menschheit darstellen. Insbesondere werde ich nie die große Erwartung vergessen, die Toynbee in den Buddhismus setzte, den er als ein „universelles System von Lebensgesetzen“ bezeichnete. 15 Der Buddhismus besitzt tatsächlich eine große Tradition des Überwindens und Relativierens der weltlichen Macht durch den Appell an und das Vertrauen auf eine innere moralische Instanz. Hierzu ein Beispiel: Shakyamuni wurde einst von einem Brahmanen namens Sela gebeten, der König der Könige zu werden, das Oberhaupt aller Menschen. Shakyamuni antwortete, dass er schon ein König sei, nämlich der König der höchsten Wahrheit. Ebenso beeindruckend ist, auf welch dramatische Weise Shakyamuni das Königreich Magadha von seinem Plan abbrachte, die vajjianischen Republiken auszutilgen. Im Beisein des Ministers von Magadha, der in der dreisten Absicht gekommen war, Shakyamuni von der bevorstehenden Invasion zu berichten, stellte Shakyamuni seinem Schüler sieben Fragen über die Vajjianer: 1. Schätzen die Vajjianer Dialog und Diskussion? 2. Schätzen sie Zusammenarbeit und Solidarität? 3. Achten sie die Gesetze und Traditionen? 4. Achten sie ihre Alten? 5. Achten sie Kinder und Frauen? 6. Achten sie Religion und Spiritualität? 7. Schätzen sie Menschen mit Kultur und Bildung, egal ob sie Vajjianer sind oder nicht? Sind sie offen für derartige Einflüsse? Die Antwort auf all diese Fragen war „ja“. Daraufhin erklärte Shakyamuni dem Minister von Magadha, dass der Staat der Vajjianer weiterhin gedeihen und nicht untergehen würde, solange seine Völker diese Werte hochhielten; solange also, wollte er damit sagen, werde es unmöglich sein, ihn zu erobern. Dies sind die berühmten „sieben Prinzipien, die den Niedergang verhindern“. Es sind gleichermaßen die sieben Regeln, nach denen Gemeinschaften gedeihen. Shakyamuni lehrte sie während seiner letzten Reisen. 16 Es ist interessant, hier auf die Parallele zu heutigen Bemühungen hinzu-

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weisen, Sicherheit nicht durch militärische Stärke, sondern durch die Förderung von Demokratie, sozialer Entwicklung und Menschenrechten zu schaffen. Die geschilderte Episode ist auch ein lebendiges Porträt der Würde Shakyamunis und seines Formats als König der höchsten Wahrheit, der sich der weltlichen Macht entgegenstellt. In demselben Geist schrieb auch Nichiren Daishonin seine berühmte Abhandlung Rissho Ankoku Ron, die er 1260 an die höchsten Autoritäten im damaligen Japan richtete und in der er ihnen vorwarf „taub zu sein für die Schreie des Volkes“. 17 Von da an bestand das Leben Nichirens aus unaufhörlichen Verfolgungen, die oftmals sein Leben bedrohten. Er selbst drückte das Bewusstsein seiner inneren Freiheit so aus: „Da ich im Herrschaftsbereich meines Herrschers geboren wurde, muss ich ihm in meinen Handlungen folgen. Aber was den Glauben meines Herzens betrifft, so bin ich nicht verpflichtet, ihm zu folgen.“ 18 An anderer Stelle: „Ich bete dafür, dass ich zuallererst den Herrscher und all jene, die mich verfolgt haben, führen und anleiten kann“ 19 und weiter: „Das Erscheinen von Verfolgungen sollte ein Gefühl von Frieden und Sicherheit hervorrufen“. 20 Sich gestützt auf das ewige, dem Leben innewohnende Gesetz, über die Macht der vergänglichen Autoritäten zu erheben und den Weg von Gewaltlosigkeit und Menschlichkeit zu beschreiten – dies ist der großartige Kampf, in dem wir einen unzerstörbaren Lebenszustand von Friede und Sicherheit erfahren können. Ich bin darüber hinaus zuversichtlich, dass diese, Nichirens Eintreten für eine überragende menschliche Würde, einen starken Widerhall in den Herzen von Weltbürgern findet, die auf dem Wege sind, die weltumspannende Zivilisation des 21. Jahrhunderts zu erschaffen. Die drei Arten von Wandel, die ich hier beschrieben habe, treffen sich in der Menschlichen Revolution, jener Erneuerung des Inneren, seiner Erweiterung und Verschmelzung mit dem größeren Selbst der Weisheit, des Mitgefühls und des Mutes. Ich bin fest davon überzeugt, dass eine grundlegende Revolution im Leben eines einzelnen Menschen den Weg öffnen kann für ein Bewusstsein und eine Solidarität, die die Menschheit aus ihrem Jahrtausende währenden Kreislauf von Krieg und Gewalt befreien können. Während des Zweiten Weltkriegs ging Tsunesaburo Makiguchi, Gründer und erster Präsident der Soka Kyoiku Gakkai (Werte schaffende Erziehungsgesellschaft) engagiert auf Konfrontation zur Militärregierung in Japan. Selbst im Gefängnis und bis zu seinem Tode – er verstarb dort mit 73 Jahren – suchte er prinzipientreu die Debatte und brachte einige von den Menschen, die über ihn

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gerichtet und ihn verurteilt hatten, dazu, den Wert des Buddhismus zu erkennen und sogar den Glauben an ihn anzunehmen. In dem Bemühen, dieses geistige Erbe anzutreten und seinem Anspruch gerecht zu werden, begann ich vor 35 Jahren hier auf Hawaii meine Dialoge mit den Bürgern der Welt. Ich habe mich entschlossen, den Rest meines Lebens einem Bemühen zu widmen, von dem ich hoffe, es mit Ihnen zu teilen: In vorderster Reihe die offenkundigen Weisheiten für die Verwirklichung des Friedens zu verkünden und damit eine neue Ära der Hoffnung und der Sicherheit zu schaffen. Ich möchte mit den Worten von Mahatma Gandhi schließen, der sich sein Leben lang den Themen, über die wir heute sprachen, gewidmet hat, und der deshalb schon seit langem meine tiefe Zuneigung und meine Hochachtung genießt. „Du musst Dich der ganzen Welt entgegenstellen, auch wenn Du ganz alleine stehen solltest. Du musst der Welt ins Gesicht sehen, selbst wenn sie Dich mit blutunterlaufenen Augen anstarrt. Fürchte Dich nicht. Vertraue diesem kleinen Etwas, das in Deinem Herzen wohnt.“ 21

Makiguchis lebenslanges Streben nach Gerechtigkeit und menschlichen Werten*

Im Januar 1993 hatte ich unmittelbar vor der offiziellen Eröffnung die Gelegenheit, das Museum of Tolerance 1 zu besichtigen. Die Geschichte des Holocaust muss als größte Tragödie bezeichnet werden, die Hass und Intoleranz je hervorgebracht haben. Als ich die Ausstellung sah, war ich sehr bewegt. Viel mehr noch war ich zutiefst empört. Doch stärker noch als diese Gefühle war die Entschlossenheit, die in mir aufkam: Niemals dürfen wir es zulassen, dass sich eine solche Tragödie wiederholt, zu keiner Zeit und in keinem Land. Wir nahmen uns die Worte Simon Wiesenthals zu Herzen, dass nämlich „die Hoffnung lebt, wenn die Menschen sich erinnern“ – und durch die großzügige Unterstützung und Kooperation des Simon-Wiesenthal-Zentrums war die SokaUniversität in der Lage, die Ausstellung „Der Mut zur Erinnerung“ (japanischer Titel: „Anne Frank und der Holocaust“) seit Mai 1994 an verschiedenen Orten Japans zu zeigen. Bei der Eröffnung der Ausstellung im Tokyo Metropolitan Government Office führte Rabbi Cooper eine hochrangige Delegation des Zentrums an, und wir genossen die Ehre der Anwesenheit des amerikanischen Botschafters Mondale sowie diplomatischer Repräsentanten aus 20 Ländern. Am 15. August 1995, dem 50. Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkrieges, wurde die Ausstellung in Hiroshima eröffnet. Damals repräsentierte Rabbi Hier das Zentrum anlässlich der Eröffnungsfeier, der außerdem viele prominente Zeitgenossen beiwohnten. „Der Mut zur Erinnerung“ reiste später nach Okinawa und wurde bislang in 19 japanischen Städten gezeigt. Durchschnittlich 5000 Besucher pro Tag besuchen sie, bislang haben ungefähr eine Million japanische Bürger sie gesehen. Viele Besucher sind Kinder und Jugendliche. Oft sehen wir, wie sie das mutige Beispiel von Anne Frank zu Tränen rührt, deren Leben in der Ausstellung gezeigt wird. Sie war ein Teenager wie sie. Auch eine endlose Reihe von Eltern hat die Ausstellung mit ihren Kindern besucht. Ich freue mich sagen zu können: „Der Mut zur Erinnerung“ dient als Ort des Lernens, an dem die Menschen zu einem unschätzbaren Gefühl für Gerechtigkeit erwachen. *

Rede Daisaku Ikedas am Simon-Wiesenthal-Zentrum, Los Angeles, USA, 4. Juni 1996.

Makiguchis lebenslanges Streben

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Bei der Eröffnung kamen mir unweigerlich die Worte meines Lehrers, Josei Toda, in den Sinn: „Man muss vom unbezwingbaren Geist des jüdischen Volkes lernen.“ In der Tat spüre ich, dass wir von der Stärke und dem Mut viel lernen können, mit denen das jüdische Volk die endlose Verfolgung und viele Tragödien über Jahrhunderte hinweg überstehen konnte. Über jede Prüfung, die ihm auferlegt wurde, hat sich das jüdische Volk erhoben, und dabei hat es gelernt, hat sich erinnert, hat seine Weisheit und geistige Kraft den nachfolgenden Generationen weitergereicht. Der Mut zur Erinnerung ist Voraussetzung dafür, Mitgefühl zu lehren. Der Hass ist erlernt worden; demzufolge muss Toleranz gelehrt werden. Der Buddhismus sagt, dass Zorn Gutes wie Schlechtes bewirken kann. Und unnötig zu sagen, dass Zorn, wenn gespeist von Egozentrik und Gier, von schlechter Natur ist. Zorn, der von Hass geleitet ist, bringt nur Konflikt und Konfrontation in die menschliche Gesellschaft. Ein Zorn jedoch, der sich gegen großes Übel richtet, gegen die Schändung der Menschheit und die beleidigende Geringschätzung des menschlichen Lebens, ist ein Zorn von großer Güte. Diese Art von Zorn reformiert und verjüngt die Gesellschaft, sie bereitet den Weg zu einer Welt des Humanismus und des Friedens. Das Gefühl endlich, das der „Mut zur Erinnerung“ in den Besuchern erweckt, ist nichts anderes als dieses Gefühl des „gerechten Zorns“. Einer der wichtigsten Probleme, vor dem die Menschheit nach dem Ende des Kalten Krieges steht, ist die Frage, wie man die Kluft des Misstrauens und des Hasses zwischen unterschiedlichen Völkern, Kulturen und Religionen überbrückt. Tief berührten mich die Worte Dr. Wiesenthals, die er in der 15. Sitzung der UN-Vollversammlung vom November 1995 sprach, einem der Höhepunkte des Jahres der Toleranz der Vereinten Nationen. Er sagte: „Toleranz ist die Grundvoraussetzung für die friedliche Koexistenz aller Völker auf dieser Erde und die einzige Alternative zum Hass, der zu den schrecklichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit geführt hat. Hass ist das böse Gegenteil von Toleranz.“ 2 Wir sollten hier festhalten, dass die Toleranz, genau wie der Zorn, ihre passiven wie auch ihre aktiven Ausprägungen hat, ihre hilfreichen wie ihre schädlichen Formen. Die Gleichgültigkeit und Apathie, die in den modernen Gesellschaften so weit verbreitet sind, können als Beispiel für passive Toleranz gelten. Anfang des 20. Jahrhunderts hat die japanische Neigung, prinzipienlose Kompromisse mit Toleranz zu verwechseln, genau die Bedingungen geschaffen, die schließlich zum Anwachsen des Militarismus und danach zu den bitteren historischen Erfahrungen führten. Im Gegensatz dazu ist aktive Toleranz untrennbar mit dem Mut zu entschlos-

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sener Opposition und Widerstand gegen alle Formen von Gewalt und Ungerechtigkeit verbunden, die die menschliche Würde bedrohen. Sie ist eine Lebensweise, die auf Empathie beruht, mit der man die Welt durch die Augen der anderen sieht und ihr Leid und ihre Freude als eigene wahrnimmt. Das Simon-Wiesenthal-Zentrum bietet ein Modell für positive Toleranz und sucht aktiv nach Gelegenheiten für den Dialog zwischen den Kulturen, wobei es das gemeinsame Lernen und gegenseitige Verstehen fördert. Ein Mensch von echter Toleranz ist zugleich ein mutiger Mensch der Tat, der daran arbeitet, die Bande der Empathie und Wertschätzung unter den Menschen zu stärken. Es ist mir eine Ehre ohnegleichen, hier im Simon-Wiesenthal-Zentrum, einem Bollwerk, das der edlen Mission des Schutzes von Frieden und Menschenrechten gewidmet ist, nun über das Leben von Tsunesaburo Makiguchi sprechen zu dürfen, den Lehrer meines Lehrers und ersten Präsidenten der Soka Gakkai. Ich möchte Ihnen die Überzeugungen nahe bringen, für die Makiguchi sein Leben gab, und konzentriere mich dabei auf die beiden Themen des „gerechten Zorns“ und der „aktiven Toleranz“. Die folgenden Zitate aus Makiguchis Schriften werden hinreichend bezeugen, bis zu welchem Ausmaß sein Denken dem japanischen Militarismus zuwiderlief, der herrschenden Stimmung jener Tage. „Das Böse zu tadeln und zu beseitigen ist fester Bestandteil dessen, das Gute anzunehmen und zu schützen.“ 3 „Wenn man kein mutiger Feind des Bösen sein kann, kann man auch kein Freund des Guten sein.“ 4 „Man soll sich nicht mit passiver Güte zufriedengeben; man muss ein Mensch des Mutes und der Standhaftigkeit sein, der aktiv für das Gute streiten kann.“ 5 Makiguchi widersetzte sich der Rolle Japans im Zweiten Weltkrieg wie auch den Restriktionen, die die japanische Regierung der Freiheit und der Religion auferlegten. Als Folge davon wurde er gefangen genommen, im Gefängnis misshandelt und starb dort im Alter von 73 Jahren. Tsunesaburo Makiguchi wurde 1871 in einem kleinen Dorf am Japanischen Meer in der Präfektur Niigata geboren. Der Name des Dorfes war Arahama, was man etwa als „Strand der rauen See“ übersetzen könnte. Makiguchi war stolz auf seine bescheidenen Ursprünge und seine Geburt in einem verarmten Fischerdorf. Die Armut seiner Familie und die Notwendigkeit, sie zu unterstützen, zwangen ihn, nach der Grundschule weitere Bildungswege abzubrechen. Gleichwohl nutzte er jede Gelegenheit zum Lesen und zum Lernen und legte ein großes Talent für die Lehre an den Tag. Wegen seiner Neigung zum Gelehrten wurde eine kleinere Geldsumme von denen bereitgestellt, mit denen er

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arbeitete, so dass er auf eine Lehrer-Akademie gehen konnte, wo er im Alter von 22 Jahren seinen Abschluss machte. Makiguchi ließ seine jugendliche Energie und Leidenschaft in die Aufgabe einfließen, für seine unterprivilegierten Schüler weitere Möglichkeiten des Lernens zu schaffen. Viele von denen, die von Makiguchi unterrichtet wurden, haben uns dankbare Beschreibungen seiner Arbeit als Lehrer hinterlassen. Als er noch ein junger Lehrer war, verfolgte Japan eine nationalistische Politik, die durch das Motto „Nationaler Reichtum und militärische Stärke“ (auf Japanisch Fukudo Kyo¯hei) ausgedrückt wurde, und beschritt den Pfad der imperialistischen Expansion. Bei der Erziehung wurde den nationalen Zielen gleichermaßen höchste Priorität zuerkannt, und alles wurde getan, den Menschen einen blinden Patriotismus einzuflößen, der nichts hinterfragte. Dagegen vertrat Makiguchi die folgende Ansicht: „Was also ist der Zweck der nationalen Erziehung? Anstatt komplexe theoretische Interpretationen zu formulieren, ist es besser, zunächst auf das liebenswürdige Kind zu schauen, das auf deinem Schoß sitzt und dich zu fragen: Was kann ich tun, um sicherzustellen, dass dieses Kind ein Leben des größtmöglichen Glücks führen kann?“6 Makiguchis Interesse galt nie dem Staat, sondern immer den Menschen, dem einzelnen Menschen. Das zeigt sein ausgeprägtes Gespür für Menschenrechte, was ihn dazu brachte, in einer Zeit, da die Priorität staatlicher Souveränität so sehr betont wurde, eindeutig festzustellen, dass „die Freiheit und Rechte des Einzelnen heilig und unantastbar sind“. 7 Anno 1903 veröffentliche Makiguchi im Alter von 22 Jahren sein tausendseitiges Werk The Geography of Human Life. Diese Veröffentlichung erschien am Vorabend des Russisch-Japanischen Krieges. Die allgemeine Stimmung jener Zeit wird durch die Tatsache verdeutlicht, dass sieben der berühmtesten Gelehrten Japans von der Kaiserlichen Universität in Tokyo die Regierung ersuchten, gegen Russland eine unnachgiebige Haltung einzunehmen, wodurch sie die öffentliche Kriegsbegeisterung noch mehr schürten. Im Gegensatz dazu sprach sich der unbekannte Schullehrer Makiguchi dafür aus, dass Japan ein Bewusstsein für die Bürger der ganzen Welt entwickeln solle, die, eingebunden in ihre örtlichen Gemeinschaften, den Fallstricken des „engstirnigen Nationalismus“ aus dem Weg gingen. Mit 42 Jahren wurde Makiguchi zum Leiter einer Grundschule in Tokyo ernannt. Die nächsten 20 Jahre hatte er dieses Amt inne, wobei er einige der bedeutendsten Grundschulen Tokyos gründete. Zu den wichtigsten Einflüssen auf Makiguchis Denken gehört der amerikanische Philosoph John Dewey, dessen Philosophie er benutzen wollte, um das japa-

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nische Erziehungssystem zu verändern. Als ausgesprochener Befürworter einer Erziehungsreform fand sich Makiguchi der ständigen Beobachtung und dem Druck der Behörden ausgesetzt. Zu seinen kontroversen Vorschlägen gehörte sein Eintreten für die Abschaffung des offiziellen Inspektionssystems, durch das die Repräsentanten der zentralen Bürokratie direkt in den Betrieb der örtlichen Schulen eingreifen konnten. Außerdem weigerte er sich, dem herrschenden Brauch zuzustimmen, nach dem die Kinder einflussreicher Familien eine besondere Behandlung erhielten. Das hatte zur Folge, dass ein führender nationaler Politiker sich einmischte und für Makiguchis Ausschaltung kämpfte. Da taten sich Schüler, Lehrer und Eltern zu Makiguchis Verteidigung zusammen und veranstalteten sogar einen Klassenboykott. An der Schule, an die Makiguchi versetzt wurde, traf er auf ähnliche Schikanen. Dieses Mal konnte er die Erziehungsbehörden dazu bringen, einen Schulhof zu renovieren, was seine Bedingung dafür war, die Versetzung zu akzeptieren. Seine Bestrebungen rufen uns die große Liebe zur Menschheit ins Gedächtnis, die sein Zeitgenosse, der außergewöhnliche jüdisch-polnische Pädagoge Janusz Korczak an den Tag legte, der bis zum bitteren Ende für das Leben seiner Schüler kämpfte, mit denen er gemeinsam während des Holocaust umkam. 1928 begegnete Makiguchi dem Buddhismus. Insofern der Buddhismus die allen Menschen innewohnende Weisheit anerkennt und zu entwickeln sucht, kann er als eine Philosophie der Volkserziehung angesehen werden. Makiguchi spürte, dass er im Buddhismus das Mittel gefunden hatte, mit dem er seine zeitlebens gehegten Ideale verwirklichen konnte: eine Bewegung der gesellschaftlichen Reform durch Erziehung. Makiguchi war bereits 57 Jahre alt, als er den Buddhismus annahm; ein Ereignis, das die dramatische Schlussentwicklung seines Lebens in Gang setzte. Zwei Jahre darauf, am 18. November 1930, veröffentlichte er gemeinsam mit seinem Schüler und Lehrerkollegen Josei Toda den ersten Band von Soka Kyo¯ikugaku Taikei (Das System der Werte schaffenden Erziehung), und diesen Tag bezeichnen wir als Gründungstag unserer Organisation. Soka ist das japanische Wort für „Werte schaffen“. Nach Makiguchis Sichtweise ist der fundamentalste und wichtigste Wert das Leben selbst. Mit Deweys Pragmatismus behauptete Makiguchi, dass „der einzige Wert im wahren Wortsinne der des Lebens selbst“ sei. „Alle anderen Werte entstehen nur aus dem Zusammenwirken mit dem Leben.“ 8 Das grundlegende Kriterium des Wertes besteht nach Makiguchi darin, ob eine Sache der conditio humana etwas hinzufügt oder abzieht, sie voranbringt oder behindert. Das höchste Ziel von Soka oder der Werte schaffenden Erziehung besteht

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darin, diejenigen Menschen von Charakter zu unterstützen, die unablässig nach dem „größten Gut“ des Friedens streben, die sich dem Schutz des Lebens verschrieben haben und in der Lage sind, selbst unter den schwierigsten Umständen Werte zu schaffen. Im Jahre 1939 wurde das tatsächlich erste allgemeine Treffen von Soka Kyo ¯iku Gakkai (Gesellschaft für Werte schaffende Erziehung) abgehalten. Es muss nicht eigens daran erinnert werden, dass dies das Jahr war, in dem der Zweite Weltkrieg mit der Invasion Polens durch Nazi-Deutschland begann. Japans Armeen zogen gleichfalls los und begingen in China und Korea schreckliche Gräueltaten. Durch diese Entwicklungen zutiefst verstört, brachte Makiguchi seine barsche Kritik am japanischen Militär-Faschismus vor. Damals unterstützen die meisten Religionen und religiösen Organisationen den staatlichen Shinto, der das philosophische und geistige Fundament zur Ausübung des Krieges bereitstellte. Doch Makiguchi stemmte sich gegen dieses Niedertrampeln der Gewissens- und Glaubensfreiheit, und er ließ nicht zu, dass seine religiöse Überzeugung von ihrem Friedenskurs abwich. Entrüstet über den Versuch, den Völkern Asiens den japanischen ShintoGlauben aufzuzwingen, schrieb er: „Die Arroganz des japanischen Volkes kennt keine Grenzen.“ 9 Seine strikte und kompromisslose Haltung in diesem Punkt entsprang seinem tiefgründigen Geist der Toleranz gegenüber dem kulturellen und religiösen Erbe anderer Völker. Im Dezember 1941 unternahmen die japanischen Truppen ihren überraschenden Angriff auf Pearl Harbour, womit der Weltkrieg in den Pazifik hineingetragen wurde. Fünf Monate darauf wurde die Zeitung von Soka Kyo ¯iku Gakkai, Kachi Sozo (Wertschöpfung), auf Befehl der einheimischen Sicherheitsbehörden gezwungen, ihre Veröffentlichung einzustellen. Nachdem sie das japanische Volk der Freiheit des Gewissens und der Religion beraubt hatten, war es für die japanischen Militärs ein Leichtes, auch die Freiheit der Rede zu unterbinden. Indem sie die Menschen ihrer grundlegenden Freiheiten beraubten, wollten die Militärs eine Masse erschaffen, die so gehorsam war wie eine Schafherde. Makiguchi aber gab seiner festen Überzeugung Ausdruck, dass „ein einziger Löwe über tausend Schafe triumphieren wird. Ein einziger mutiger Mensch kann mehr erreichen als tausend Feiglinge“. 10 Makiguchis Haltung, gegen alle Formen des Bösen und der Ungerechtigkeit direkt anzugehen, machte sein Denken zu einer potenziellen Bedrohung für die herrschenden Mächte. Man bezichtigte ihn als „Gedanken-Verbrecher“, und seine Aktivitäten wurden der ständigen Überwachung durch die Geheimpolizei unterworfen. Dennoch organisierte er weiterhin kleine Diskussionstreffen, wo er öffent-

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lich seine religiösen und moralischen Überzeugungen äußerte. Wie seine Anklageschrift belegt, besuchte er während zweier Kriegsjahre mehr als 240 solcher Treffen. In Anwesenheit der Polizei fuhr Makiguchi bei diesen Treffen fort, den Militärfaschismus zu kritisieren. Oft wurden seine Reden von den Polizisten abgebrochen. Wo selbst die Priester, die Makiguchis buddhistischen Glauben zu teilen vorgaben, vor dem Druck der Regierung kapitulierten und den Shinto-Talisman anbeteten, widerstand Makiguchi bis zuletzt. Im Juli 1943 wurden Makiguchi und Toda von der japanischen Entsprechung der deutschen Gestapo festgenommen. Sie wurden der Verletzung des berüchtigten „Friedensbewahrungsgesetzes 11 beschuldigt sowie der lèse majesté, der Majestätsbeleidigung. Makiguchi war damals bereits 72 Jahre alt und verbrachte die nächsten 16 Monate, insgesamt 500 Tage, in Einzelhaft. Doch er wich nie einen Schritt zurück. Es heißt, er hätte aus seiner Einzelzelle herausgerufen und den anderen Gefangenen angeboten, mit ihm, falls sie Langeweile hätten, solche Fragen zu debattieren wie: Gibt es einen Unterschied zwischen dem Nichttun des Guten und einer tatsächlich falschen Handlung? 12 Er war ein unübertroffener Meister der humanistischen Erziehung, der stets den gleichberechtigten und uneingeschränkten Dialog mit anderen suchte. Selbst seinen Vernehmungsbeamten und den Gefängniswärtern erklärte er geduldig und klar die Prinzipien des Buddhismus. Die offiziellen Aussageprotokolle halten seine Ansicht fest, dass ein Leben, worin man „so empfänglich ist für Lob oder Tadel aus der Gesellschaft, so dass derjenige, der, obgleich er nichts Schlechtes tut, auch das Gute zu tun versäumt“, am Ende gegen die Lehren des Buddhismus verstoße. 13 Es gibt einen berühmten buddhistischen Sinnspruch, der besagt: Wenn man ein Licht für andere entzündet, erhellt dies auch den eigenen Weg. 14 Tatsächlich war Makiguchi bis zu seinem Ende ein Beispiel für ein Leben des positiven Beitrags, der das strahlende Licht der Hoffnung für sich und andere leuchten ließ. An anderer Stelle der Verhörprotokolle lesen wir, dass er die japanische Invasion Chinas sowie den „Großen Ostasien-Krieg“ als „nationale Katastrophe“ empfand, die durch die grundsätzlich falsche geistige Orientierung der japanischen Nation verursacht worden war. Zu einer Zeit, da Japans Invasionen als „heiliger Krieg“ beschrieben wurden und die Presse und die Meinungsmacher eine regelrechte Konkurrenz austrugen, dieses Unterfangen zu verherrlichen, bezeugen Makiguchis Worte seinen einzigartigen Mut und seine Entschlusskraft. Seine Briefe aus dem Gefängnis an seine Familie sind erhalten geblieben, und darin finden wir Worte wie etwa die folgenden:

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„Gegenwärtig und angesichts meines Alters werde ich hier meinen Geist kultivieren.“ 15 „Ich kann Bücher lesen, was mir ein Vergnügen ist. Ich wünsche mir nichts. Bitte achtet in meiner Abwesenheit auf das Haus und sorgt euch nicht um mich.“ 16 „In der Einzelhaft kann ich die Dinge in Frieden abwägen, was ich ohnehin vorziehe.“ 17 Seine Briefe sind voller Sorge um und Rücksichtnahme für seine Familie. Man spürt darin seine Gelassenheit und selbst seinen Optimismus. „Sogar die Hölle hat ihre Freuden; das hängt vom eigenen Standpunkt ab“, schrieb er in einem Absatz, der von den Gefängniszensoren ausgestrichen worden war. Die Hölle der vier Wände seiner stickigen Einzelzelle, die Hitze und Kälte forderten indes von Makiguchis Alter ihren Tribut. Doch er war niemals mutlos. In seinem Herzen ging die strahlende Sonne seines Glaubens auf und blieb hoch am Himmel stehen. Voller gerechtem Zorn setzte Makiguchi seinen Kampf gegen die Staatsgewalt fort, die sich weigerte, die Menschenrechte zu respektieren. Sein Zorn aber wurde niemals von Hass beschmutzt. Schließlich brachten das Alter und die schlechte Ernährung den unvermeidlichen physischen Abstieg, und am Ende stimmte Makiguchi zu, auf das Krankenzimmer verlegt zu werden. Er zog seine normale Kleidung an, glättete sein Haar und ging ohne Hilfe, mit schwachen und dennoch entschlossenen Schritten, dorthin. Am folgenden Tag, dem 18. November 1944, dem Jahrestag der Gründung der Soka Gakkai, entschlief Tsunesaburo Makiguchi friedlich. Selbst der Schrecken des Todes konnte ihn nicht zwingen, sich zu unterwerfen. Gemeinhin gibt es wohl nichts Schrecklicheres, als ständig den eigenen Tod vor Augen zu haben. Es lässt sich sogar sagen, dass die Todesangst aller instinktiven Aggression zugrunde liegt. Der Buddhismus aber spricht von der unteilbaren Einheit von Leben und Tod und sagt, dass beide integrale Aspekte eines ewigen Kontinuums sind. Derjenige, der mit gerechter und standhafter Überzeugung lebt und ein tiefes Verständnis der wesentlichen Natur von Leben und Tod hat, kann sowohl das Leben wie den Tod als Freude erfahren. Eingesperrt in kalten Zellenwänden bewies Makiguchi die Wahrheit, dass man durch ein Leben, das vollständig menschlichen und edlen Idealen geweiht ist, den Tod ohne eine Spur von Angst, Bedauern oder Unwillen entgegensehen kann. Von anderen unerkannt vollendete er sein Leben, das durch seine Taten und seinen Geist ein großes gewesen war. Sein stiller Abschied war zugleich ein neuer Anfang, ein neuer Aufbruch. Josei Toda berichtete von seinem eigenen unerträglichen Kummer und Zorn, die ihn packten, als er zwei Monate später von einem der Richter schnöde infor-

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miert wurde: „Makiguchi ist tot“. Er sprach von seiner einsamen Klage, vom Weinen, bis keine Tränen mehr kamen. Doch aus der Tiefe seiner Verzweiflung wurde eine neue Hoffnung geboren. Toda, der Schüler, kam lebend aus dem Gefängnis, in dem sein Mentor gestorben war. Die Wut auf die Machthaber, die ihm seinen Lehrer genommen hatten, wandelte sich in das Gelöbnis und die Entschlossenheit, eine neue Volksbewegung für den Frieden ins Leben zu rufen. Im System der Werte schaffenden Erziehung hatte Makiguchi geschrieben: „Getrieben von ihrem Instinkt nach Selbst-Erhaltung, fanden sich übel gesinnte Menschen zusammen und vermehrten die Macht, mit der sie das Gute drangsalierten. Im Gegensatz dazu scheinen die Menschen guten Willens isoliert zu sein und schwach […]. Es gibt keinen anderen Weg für die Menschen guten Willens als den, sich zu vereinen.“ 18 Dies war seine tiefe Einsicht, die auf persönlicher Erfahrung beruhte. Als Schüler, der die Zielsetzung seines Lehrers zutiefst teilte, stellte Josei Toda inmitten der Nachkriegsverwüstung eine Bewegung auf die Beine, die auf der Solidarität gewöhnlicher Menschen guten Willens beruhte. Und wieder war seine Methode der Weg an die Basis – das Einzelgespräch und kleinere Diskussionstreffen. Diese Bewegung wurzelt im Grundsatz der Heiligkeit des Lebens, wie es der Buddhismus lehrt. Sie will die Menschen ermächtigen, ihre innere Weisheit zu erwecken und auf diese Weise eine Welt zu erschaffen, in der Gerechtigkeit und menschliche Werte allgemeingültigen Respekt erhalten. In seiner Theorie der Werte sagt Makiguchi, dass Religion in dem Maß eine Daseinsberechtigung hat, in dem sie das Leiden lindert und den einzelnen Menschen (Wert des Nutzens) wie auch der Gesellschaft (Wert des Guten) Glück bringt. In seinem ungetrübten Humanismus sagt er, dass die Menschen nicht dafür geschaffen seien, der Religion zu dienen; vielmehr sei die Religion dazu da, den Menschen zu dienen. Premierminister Rabin hat uns die folgenden unvergesslichen Worte hinterlassen: „Es gibt keinen größeren Sieg als den Frieden. Im Kriege gibt es Sieger und Besiegte. Im Frieden aber sind alle Sieger.“ 19 Ich bin zutiefst zuversichtlich, dass wir neue Generationen sehen werden, die der gleichen Friedensvision verschrieben sind, für die auch Rabin lebte. Und es stimmt: Erziehung ist das Licht der Hoffnung und des neuen Lebens. Makiguchis Leben war ein umfassender Kampf gegen den Faschismus, wobei er nie einen Schritt zurückwich. Seine Botschaft des Mutes und der Weisheit wird widerhallen und das Gewissen der Menschen in den kommenden Jahrhunderten wachrütteln. Er sagte, dass, egal wie edel Prinzipien oder Glaubensüberzeugungen sein mögen, sie nur durch konzertierte Anstrengung auf Graswurzel-

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Ebene Wirklichkeit werden. In diesem Geiste ruft die SGI-Charta 20 zum Dialog auf und zur Zusammenarbeit von Menschen unterschiedlichen Glaubens bei der Lösung der fundamentalen Probleme der Menschheit. Dieser Geist des ersten Präsidenten Makiguchi lebt in der Soka Gakkai weiter und nimmt durch die Projekte der SGI konkrete Gestalt an. Wir werden stets standhaft und unbeugsam bleiben gegenüber jeder Form von autoritärer Regierung und auf diese Weise Makiguchis Überzeugungen in die Zukunft tragen. Wir sind entschlossen, diese Volksbewegung weiter zu entwickeln und auszubauen, die dem Frieden, der Erziehung und der Kultur gewidmet ist, wie dies schon die Vision von Nichiren war, dem Gründer der Schule jenes Buddhismus, den wir ausüben. Für meinen Teil bin ich entschlossen, mutig für die Verwirklichung einer Ära des Friedens im 21. Jahrhundert zu wirken, solange ich lebe, für den Frieden, der den Sieg für alle verkündet. Und ich bin voller Zuversicht, dass ich noch das Vergnügen und das Privileg haben werde, dies zu erleben. Abschließend möchte ich die heutige Rede Präsident Makiguchi und all jenen widmen, die ihr Leben für die Gerechtigkeit und die menschlichen Werte gaben, aber auch der Jugend unserer Welt, die jeden Tag mit tiefer Entschlossenheit für die Zukunft lebt. Dies ist meine Überzeugung: – Menschen, Völker, die eine edle Philosophie im Herzen tragen, Menschen, aufrecht mit erhabenem Glauben – nur solche Menschen, solche Völker, die inmitten wütender Stürme würdig ihr Drama ausfechten zwischen Wirklichkeit und hohen Idealen, dabei endlosen Verfolgungen ausgesetzt – nur solch Menschen, solche Völker werden baden im Sonnenlicht von ewiger Freude, Ruhm und Sieg.

Gedicht Für die jungen Menschen Deutschlands* Schmückt Euch mit dem Lorbeerkranz des Sieges Berlin im Nieselregen, An der Mauer frische Spuren von Kugeln, an denen mein Blick hängen blieb Blumen für die, denen die Flucht misslang ein schmerzlicher Anblick für mich. Zum Rufen nah Familie, Freunde, Geliebte. Die Mauer, die zwei Monate zuvor so plötzlich errichtet wurde, trennte Menschen, zerriss glückliche Herzen. Wie niederträchtig! Miteinander zu teilen wurde verweigert; einander zu verstehen als Verbrechen verurteilt. War es verboten, Mensch zu sein? Wer hatte das Recht dazu? Dennoch waren es Menschen, die die Mauer bauten – Menschen, trunken vom Wein der Macht. *

Gedicht Daisaku Ikedas, verfasst für die Mitglieder der Jugendabteilung der SGI Deutschland, Frankfurt, 6. Juni 1991.

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Am Brandenburger Tor hielt ich an. Sie wüssten selbst den mächtigen Rhein am Fließen zu hindern. Aber den Schrei der Menschen, Mensch sein zu wollen, kann niemand ersticken. Ihr Machthaber von übermäßigem Stolz, die Ihr das Volk wie Marionetten gering schätzt, werdet das Urteil der Geschichte spüren und leiden müssen, weil die Menschen sich wehren. Noch ehe ich es bemerkte, hörte es auf zu regnen Die erhabene Abendsonne färbte das Tor tiefrot, mit einem Rand aus goldenen Wellen. Für eine Weile umhüllte der Mantel der Abenddämmerung die angespannte Stadt mit sanftem Frieden. In dieser Abendstimmung sprach ein Berliner zu mir: „Hier sagt man, ein Engel ist vom Himmel herabgestiegen.“ Nie vergesse ich diesen Tag vor dreißig Jahren, davor oder danach wurdet Ihr, meine jungen Freunde, geboren. Ich weiß, Ihr seid die Engel des Friedens, die Boten des Glücks.

Für die jungen Menschen Deutschlands

Wann schworen wir den Eid! Euch, junge Menschen, verbindet ein mystisches Band. Damals betete ich fest und stark für die Einheit, den Frieden; dafür, dass die leidgeprüften Menschen in diesem Land den glücklichsten Tag erleben werden. Ihr wart Zeugen des Augenblicks wie Euer Vaterland – für die Welt ein Symbol der Trennung – zum Symbol der Harmonie wurde. Das war der erste Schritt. Ihr hörtet die großen Schritte, mit denen sich die Geschichte auf die Einheit Europas, auf die Einheit der Menschheit zu bewegte. Euch, die Ihr Zeugen wart, bitte ich: Zerstört die restlichen Mauern der Bestialität! Erbaut auf deren Trümmern ein Forum der Menschlichkeit! Meine edlen Freunde! Das alte Jahrhundert ist gezeichnet von Blutvergießen und Reue. Auf die Leinwand des neuen Jahrhunderts malt ein Meisterwerk der Kultur und der Freude! Für dieses Ziel, meine Freunde, werdet zu neuen Menschen im neuen Jahrhundert, werdet menschliche Leiter im Jahrhundert der Humanität.

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In der Gosho heißt es: „Wenn die Wurzeln eines Baumes tief sind, wachsen die Zweige üppig.“ Deutschland, ein Land der Wälder. Die Königin des Waldes ist die Eiche. Der riesige Baum reicht tief in die Erde und greift mit sehnigen Armen zum Himmel. Eure Einigkeit ist stark und wird nicht schwanken, denn jeder einzelne von Euch ist unabhängig und frei. Sei wie die Königin des Waldes, mit Deinen Idealen erreiche die Höhe des Himmels. Senke die Wurzeln Deines Handelns in der Wirklichkeit tief in die Erde, bis zur Mitte der Erde. Ein riesiger Baum in Eurem Land der Philosophie ist Kant. Er schreibt: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“ Genau so ist es. Du bist noch großartiger, noch tiefgründiger als Du Dir vorstellst. Damit Du Du selbst werden kannst, musst Du tiefe Wurzeln im Inneren des Lebens schlagen, und emporsehen zur würdevollen Harmonie der Sternenbahnen,

Für die jungen Menschen Deutschlands

das ewige und mystische Gesetz des Universums Dein Leben lang erforschen. Die „Reise ins Innere“ und „das Handeln nach außen“ sind eins und untrennbar. Deshalb sei konsequent ein Mensch mit suchendem Geist, ein Mensch der Tat. In der Bibel steht: „Im Anfang war das Wort“: Doch hat nicht Goethe den Faust sagen lassen: „Im Anfang war die Tat“? Man sagt, der Stamm einer dreißigjährigen Eiche sei so schlank, dass man ihn mit einem Arm umfassen kann. In zweihundert Jahren indessen wächst die Eiche zu einem gewaltigen Baum heran. Es soll Bäume geben, die selbst nach tausend Jahren noch üppig wachsen. Unser Ziel ist die Dankbarkeit der Menschheit in zweihundert Jahren und das Gedeihen von ganzen Wäldern wundervollen Lebens für die nächsten tausend und abertausend Jahre. Deshalb braucht Ihr nicht ungeduldig zu sein, jeden Tag sollt Ihr Euren Sieg erringen. Euer Leben selbst sollt Ihr vervollkommnen, bereichern. Wie die Königin der Wälder, zu der Ihr emporschaut,

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entwickelt Euch, ihr jungen Frauen, Ihr jungen Männer! Seid frei durch Vernunft! Seid stark durch Selbstdisziplin! Seid großartig durch Geduld! Seid ewig durch Mut! Werdet selbstständig und unabhängig! Steht, ohne zu schwanken! Und lebt mit stolzem, dem Himmel zugewandten Gesicht! In unserem Herzen existiert die ganze Welt, unsere Entschlossenheit umfasst sogar das Land, Unsere Freunde sind die Sonne, der Mond, das Veilchenmeer im Frühling, die goldenen Bäume im Herbst, die Gipfel im Harz, Taunus und den Alpen, die Nordsee, sie alle spielen mit in der prachtvollen Sinfonie des Lebens. Der Kernpunkt des Glaubens liegt darin, das eigene Ichinen zu ändern. Die Kraft starker Entschlossenheit ist wie der Pfeil eines erfahrenen Ritters. Damit kann man alles schaffen. Ein bequemer Kompromiss, eine verführerische Ablenkung, eine angenehme Gewohnheit – Mephisto, der Teufel, der Dir ins Ohr flüstert, wohnt nicht außerhalb von Dir, sondern in Deinem Herzen. Während Ihr ihn durchschaut und vernichtet pflanzt einen Wald des Lebens, voll mit den Früchten des Sieges. Für die Menschen,

Für die jungen Menschen Deutschlands

die an ihrer Einsamkeit verzweifeln, für die Menschen, die am Leben leiden, erweitert für sie den Wald von Kultur und Philosophie, einen Wald der Ruhe und Sicherheit. In der Gosho steht auch: „Je ferner die Quelle, desto länger der Strom.“ Der Rhein hat zwölftausend Nebenflüsse. An seinen Ufern bauten die Menschen Städte, befruchteten mit seinem Wasser Felder und Acker; er beförderte Menschen, ihre Hoffnungen und Philosophien. Der Rhein gebar Deutschland; er mündet in die Weite des Meeres. Seiner großen Kraft liegt nur eines zugrunde: Quelle und Strom sind untrennbar eins. Kosen–rufu ist wie ein Strom, seine Quelle das geduldige Leben des Wahren Buddhas. Ein Beispiel: Makiguchi, mein Meister, beschützte den reinen Fluß des Wahren Buddhismus und starb den Märtyrertod. Durch seinen Kampf ist der Strom für die Ewigkeit bewahrt. Weil wir die wahre Lehre annahmen, werden wir großen Verfolgungen begegnen. Das gereicht uns zur Ehre. Victor Hugo, der den Rhein liebte, schrieb: Der Rhein habe drei Quellen. Er fließe aus dem Toma-See, speise sich aus einem Bächlein am Fuße des Lukmanierbergs,

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und rinne seit Urzeiten aus einem Gletscher hervor. Diese drei bilden die Quelle. Auch wir haben drei Quellen: Glaube, Ausübung, Studium. Sie ewig fließen zu lassen, sichert den Strom der Verbreitung des Wahren Gesetzes. Der Rhein fließt unaufhaltsam, fließt nie zurück, an schönen wie schlechten Tagen, ist Strom wie sein Name besagt. Er verändert sich ständig, ist immer neu und doch derselbe. Für ihn ist jeder Tag ein neuer Anfang. Der Buddhismus, den wir ausüben, ist „Honninmyo“, eine Lehre der ständigen Hoffnung, des Aufbaus. Es gibt keinen Grund, sich vor irgend etwas zu fürchten. Glänzendes stumpf machen, Kostbarem den Wert nehmen, das gehört zum Menschen. Doch schlagende Wellen sind der Beweis, dass ein Strom lebt und vorankommt. Leben bedeutet ewigen Kampf, unvermeidbar Wir können nur wählen, wie ein edler Ritter zu kämpfen, oder wie ein wildes Tier. Edle Menschen! Ihr seid das beste von der Natur geschaffene Meisterwerk. Meine lieben Freunde!

Für die jungen Menschen Deutschlands

Seid auch Ihr die Gestalter dieses Meisterwerks und das Werk selbst. Wie die Statuen von Schiller und Goethe, die in Weimar nebeneinander stehen, seid in enger Freundschaft verbunden ein ganzes Leben lang, fest und stark. Ein guter Freund ist wie ein zweites Ich, Leben ohne Freundschaft eine Welt ohne Sonne. Echte Freunde sind oft wichtiger als zehntausend Verwandte. Nur Menschen können Freundschaften ein Leben lang halten. Buddhismus, eine Lehre für die Menschen, hat vor allem Freundschaft zum Ziel. Seine Zuhörer nannte Shakyamuni „meine Freunde“, er mahnte sie: „Betrachtet mich nicht als einen besonderen Menschen.“ „Freunde“ – in diesem einen kurzen Wort spiegelt sich die buddhistische Ansicht von Gleichheit, glänzt der Entschluss, für eine Welt ohne Unterschiede zu kämpfen. „Freunde“ – darin liegt der Geist der Demokratie, der Geist des Bodhisattwa Fukyo, mit dem man an die eigene Buddhaschaft und die der anderen glaubt, einander lobt und die Würde des Menschen verehrt. Und darin liegt der Geist der menschlichen Revolution, der sich bewusst ist, ein ewig Ausübender, ein ewig Herausfordernder zu sein.

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„Ji“ von „Jihi“ bedeutet eigentlich wahre Freundschaft, „hi“ ist das Mitgefühl für die Leiden der Freunde. Es war der Wunsch Shakyamunis, den freien Bund der Freunde zu vergrößern. Die edle Aufgabe für Kosen-rufu sind die Schritte hin zu einer Gesellschaft von Freundschaft, Gleichberechtigung und Demokratie. Die Geschichte schreitet einer offenen Gesellschaft entgegen. Daher bitte ich Euch: Werdet Menschen mit offenem Herz und Geist, so offen wie niemand zuvor. Die Gesellschaft schreitet voran, Deiner eigenen Entwicklung folgend. Dein Ruf ist das Echo der Zukunft. Der große Komponist Beethoven sagte: „Wer den wahren Sinn meiner Musik verstehen kann, wird das Elend des Lebens überwinden.“ Seid stolz auch Ihr und sagt: „Wenn die Erde reich sein wird an unseren Sinfonien der Menschlichkeit, kann die Menschheit alles Elend meistern.“ Liebe Töchter und Söhne der Sonne, das weiße Licht der Sonne erreicht die Erde und teilt sich neu in sieben verschiedene Farben. Jeder von Euch eine eigene Farbe mit eigener Aufgabe.

Für die jungen Menschen Deutschlands

Wie wunderschön! Wie strahlend! So wie der Regenbogen, meine Freunde, schafft die Einigkeit dieser Farben. Verschiedene Körper, im Herzen eins. So wie der Regenbogen, meine Freunde, bildet die Brücke der Hoffnung zur Gesellschaft im neuen Jahrhundert! Ich wünsche mir, einst zu einem so prachtvollen Regenbogen emporzuschauen. Dort sehe ich Euch junge Menschen ganz frei und unbeschwert tanzen. Diesen Regenbogen möchte ich erblicken am herrlichen Himmel Deutschlands.

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Anmerkungen Schöpferisches Leben 1 J. E. Harrison, Ancient Art and Ritual (Oxford, 1951), S. 9. 2 R. Huyghe und D. Ikeda, Dawn after Dark, übers. v. R. L. Gage (New York, 1991), S. 224, 337 f. 3 Lotos-Sutra, übers. v. M. Deeg (Darmstadt, 2009), S. 242. 4 Nichiren, Great Evil and Great Good, The Writings of Nichiren Daishonin (Tokyo 1999), S. 1119. 5 P. Valéry, Der Tanz und die Seele, Paul Valéry, Frankfurter Ausgabe, hrsg. v. J. Schmidt-Radefeldt (Frankfurt/Main, 1990), Bd. 2, S. 111.

Leonardos Weltsicht 1 G. Zaccagnini, La vita dei maestri e degli Scolari nello Studio Di Bologna nei secoli XIII e XIV, hrsg. v. L. S. Olschki (Genf, 1926), S. 7. 2 Amtszeit von Woodrow Wilson: 4. 3. 1913 bis 3. 3. 1921. 3 K. Jaspers, „Leonardo als Philosoph“, Philosophie und Welt (München, 1958). 4 The Notebooks of Leonardo da Vinci, übers. v. E. MacCurdy, Bd. 1 (New York, 1958), S. 90. 5 Das Lotos-Sutra, übers. v. M. Deeg (Darmstadt, 2007), S. 46. 6 Nichiren Daishonin, Gosho Zenshu (Tokyo, 1952), S. 773. 7 Wer in der Begierdenwelt befangen ist, sieht nur die verzerrte Wirklichkeit. Wer im Zustand von Shusseken lebt, sieht alle Phänomene klar, vollständig und nicht verzerrt wie in einem gut polierten Spiegel. (Anm. d. Übers.) 8 D. Mereschkowski, Leonardo da Vinci (Berlin, 1920), S. 269 f. 9 The Notebooks of Leonardo da Vinci, übers. v. E. MacCurdy (New York, 1958). 10 Jaspers, a. a. O., S. 53. 11 N. Daishonin, Ausgewählte Schriften (Mörfelden-Walldorf, 2008), S. 288. 12 N. Daishonin, Ausgewählte Schriften, a. a. O., S. 87. 13 Übersetzt aus dem Mulamadhyamakakarika von Nagarjuna (Grundlegende Merkverse der mittleren Lehre). 14 The Notebooks of Leonardo da Vinci, a. a. O., S. 83. 15 J. Burckhardt, Weltgeschichtliche Reflexionen (Stuttgart, 1955), S. 211.

Herrlicher Kosmos 1 M. T. Belyavskii, Commemoration of the 275 Anniversary of the Birth of M. V. Lomonossov (Moskau, 1986), S. 109.

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Anmerkungen

A. Solschenizyn, Russlands Weg aus der Krise (München, 1990), S. 35. D. Mereschkowski, Peter und Alexej, übers. v. A. Eliasberg (München, 1924), S. 3, 5, 11. N. Soseki, Kokoro (Zürich, 976), S. 8. (Anm. d. Übers.: eigene Übersetzung) N. Berdiajew, Selbsterkenntnis. Versuch einer philosophischen Autobiographie (Darmstadt, 1953), S. 350. Vgl. Archimedes, Pappus von Alexandrien. L. Tolstoi, Anna Karenina, übers. v. F. Ottow (München, 2007), S. 1100. Tolstoi, Anna Karenina, a. a. O., S. 1108. Tolstoi, Anna Karenina, a. a. O., S. 1021. Vgl. Platon, Kratylos. The Record of the Orally Transmitted Teachings (Tokyo, 2004), S. 52. Tolstoi, Anna Karenina, a. a. O., S. 1028. Puschkin. (Anm. d. Übers.: eigene Übersetzung)

Gedanken zur Erziehung von Weltbürgern 1 J. Dewey, „Search for the Great Community“, The Public and Its Problems: An Essay in Political Inquiry (Chicago, 1946), S. 154. 2 H. D. Thoreau, „The Village“, Walden, The Selected Works of Thoreau, hrsg. v. W. Harding, Cambridge ed. (Boston, 1975), S. 359. 3 Vgl. A. Wayman und H. Wayman, Übersetzer, The Lion’s Roar of Queen Srimala: A Buddhist Scripture on the Tathagata-garbha Theory (New York, 1974), S. 65. 4 Nichiren, „Das Öffnen der Augen“, Selected Writings of Nichiren, übers. v. B. Watson u. a., hrsg. v. P. B. Yampolsky (New York, 1990), S. 50. 5 An Anthology of Tsunesaburo Makiguchi’s Works (auf Japanisch), hrsg. v. T. Tsuji (Tokyo, 1994), S. 40. 6 J. Dewey, „The Problem of Method“, The Public and Its Problems, a. a. O., S. 213. 7 Collected Works of Tsunesaburo Makiguchi (auf Japanisch), Bd. 7 (Tokyo, 1982), S. 183. 8 Collected Works of Makiguchi (1983), Bd. 6, a. a. O., S. 289. 9 Charta der Vereinten Nationen, Artikel 1. 10 Collected Works of Makiguchi (1984), Bd. 8, a. a. O., S. 365.

Geschichte machen 1 F. Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen, Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, Vorwort. 2 Aus dem Japanischen; S. Qian, Shiki, übers. v. S. Kaizuka (Tokyo, 1968), S. 35.

Auf dem Weg zu einem neuen globalen Bewusstsein 1 Norman Cousins (1915–1990), Autor, Friedensaktivist, Entdecker der Lachtherapie, Träger des Albert-Schweitzer-Preises und des Niwano-Friedenspreises. Im Jahr 1991 wurde

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der Dialog zwischen Cousins und Ikeda unter dem Titel Sekai Shimin NoTtaiwa in japanischer Sprache (auf Deutsch etwa: „Dialog zwischen Weltbürgern“) veröffentlicht. Diese fünf Leittugenden bilden das Motto der Universität Macao. Sie entsprechen gleichzeitig den fünf Haupttugenden des traditionellen Konfuzianismus: Menschlichkeit, Gerechtigkeit, ethisches Verhalten, Weisheit, Redlichkeit. Im englischsprachigen Motto der Universität von Macao lauten sie humanity, integrity, propriety, wisdom and sincerity. Professor William Theodore de Bary (geb. 1919), Sinologe, war bis zu seiner Emeritierung an der Columbia University tätig. Er gilt als Begründer der Forschungsrichtung des Neokonfuzianismus innerhalb der Sinologie. W. T. de Bary, The Liberal Tradition in China [Die liberale Tradition in China] (New York und Hong Kong, 1983). In seinem Werk Learning for One’s Self – Essays on the Individual in Neo-Confucian Thought (New York, 1991), nimmt W. T. de Bary Bezug auf konfuzianische Vorstellungen vom Studium zum Zweck und Wohl des eigenen Selbst (chin.: Wèi Jı˘ Zhi Xúe), das der Vervollkommnung der eigenen Persönlichkeit, des Selbst gewidmet ist, im Gegensatz zu Vorstellungen, die das Wohl und den Nutzenaspekt für Mensch und Gesellschaft in den Mittelpunkt stellen (chin.: Wèi Rén Zhi Xúe). Hu Xi, in Wade-Giles-Umschrift auch als Chu Hsi bekannt, lebte von 1130–1200 n. Chr. in China. Er war der bedeutendste Vertreter des Neokonfuzianismus, der während der Dynastien der Song (960–1279 n. Chr.) und der Ming (1368–1644 n. Chr.) seine Blüte erlebte. Das System der kaiserlichen Beamtenprüfungen galt in China von 606–1905 n. Chr. Dieses System bildete das Rückgrat der chinesischen Verwaltung und sollte sicherstellen, dass gebildete und fähige Kandidaten in offizielle Ämter berufen wurden. Grundlage der Prüfungen war vor allem die Kenntnis und das Verständnis der konfuzianischen Klassiker. Da das Bildungs- und Prüfungssystem zumindest theoretisch allen (Männern) offenstand, stellte es außerdem die nahezu einzige Möglichkeit zu sozialem Aufstieg auch aus den untersten Klassen der Gesellschaft dar. Das Prüfungssystem war mehrstufig angelegt und sehr streng, nur ein geringer Prozentsatz der Kandidaten bestand die Prüfungen und erwarb damit ein Anrecht auf eine Beamtenstelle. Wegen seiner Rigidität und Theorielastigkeit stand dieses System auch immer wieder in der Kritik, bis es 1905, wenige Jahre vor dem Ende des Kaiserreichs abgeschafft wurde. Als Prinzipien des Kartesianismus gelten weithin unter anderem die Selbstgewissheit des Ichbewusstseins, Klarheit und Deutlichkeit als Kriterium der Wahrheit, Dualismus von Körper und Seele, Rationalismus. W. T. de Bary, The Liberal Tradition in China, a. a. O., S. 27. Léon Vandermeersch (geb. 1928), französischer Sinologe. Sein Werk Le nouveau monde sinisé [Die neue chinesische Welt] erschien im Jahre 1986 (Paris). Kaiser Yao ist einer der legendären Urkaiser Chinas, der der Überlieferung nach im 3. Jahrtausend v. Chr. lebte. Ihm werden insbesondere große Verdienste um die Bändigung des Gelben Flusses zugeschrieben, und als weiser, moralisch vollkommener Gelehrtenkaiser galt er späteren Dynastien als großes Vorbild. Diese populäre Geschichte findet sich in der Genealogie Jahrhundert der Kaiser (chin.: Dìwáng Shìjì) von Huang Fumi (215–282 n. Chr.), einem Gelehrten, der insbesondere als Verfasser eines Grundlagenwerks der chinesischen Akupunktur und Moxa-Therapie bekannt wurde. – Neuübersetzung von mir. (Anm. d. Übers.)

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Anmerkungen

13 Sun Yat-sen (1870–1925), chinesischer Revolutionsführer, Staatsmann, erster Präsident der Republik China (1911). Er gilt heute sowohl in der Volksrepublik als auch in der Republik China (Taiwan) als Gründer des modernen China. 14 Die Mongolen unter Kublai Khan stürzten die Song-Dynastie und errichteten die YuanDynastie (1271–1368) in China. Es war die erste sogenannte „Fremddynastie“, die China regierte. 15 Übersetzung nach dem chinesischen Original von mir. Erläuterung: Das Meer von Lingding befindet sich am Flussdelta des Perlflusses, in der Nähe der Stadt Zhuhai in der Provinz Guangdong (Kanton), und damit im Grenzgebiet zu Macao und Hongkong. (Anm. d. Übers.)

Das Überwinden der Dunkelheit und die faustische Agonie: Licht für die Zivilisation des 21. Jahrhunderts 1 L. D. de Corral, Der Raub der Europa. Eine historische Deutung unserer Zeit (München, 1959), S. 282. 2 de Corral, Der Raub der Europa, a. a. O., S. 332. 3 J. W. von Goethe, Faust I, Verse 1770–1775. 4 J. Ortega y Gasset, Der Aufstand der Massen, übers. v. H. Weyl (Stuttgart, 1955), S. 106. 5 Aus dem Japanischen; übers. v. H. Nakamura, Budda no shinri no kotoba [Buddha’s Words of Truth and Inspiration] (Tokyo, 1978), S. 32. 6 Budda no shinri no kotoba, a. a. O., S. 32. 7 Aus dem Japanischen; übers. v. H. Nakamura, Budda saigo no tabi [Buddha’s last trip] (Tokyo, 1980), S. 64. 8 R. M. Pidal, Los españoles en la historia (Madrid, 1991), S. 83. 9 J. W. von Goethe, Faust I, Verse 447 f. 10 The Writings of Nichiren Daishonin (Tokyo, 1999). S. 644. 11 J. Ortega y Gasset, Meditationen über Don Quijote (Stuttgart, 1959), S. 53. 12 Ortega y Gasset, Der Aufstand der Massen, a. a. O., S. 80. 13 M. de Unamuno, En torno al casticismo (Madrid, 1961), S. 46. 14 M. Gorbatschow und D. Ikeda, Unsere Wege treffen sich am Horizont (München, 1998), S. 35. 15 J. W. von Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre, Buch 2, Betrachtungen im Sinne der Wanderer. 16 Ortega y Gasset, Der Aufstand der Massen, a. a. O., S. 158. 17 Nichiren Daishonin, Ausgewählte Schriften, (Mörfelden-Walldorf, 2008), S. 273. 18 Nichiren Daishonin, Ausgewählte Schriften, a. a. O., S. 87. 19 Nichiren Daishonin, Ausgewählte Schriften, a. a. O., S. 250. 20 Ortega y Gasset, Der Aufstand der Massen, a. a. O., (Kapitel: Das Steigen des historischen Niveaus), S. 80.

Anmerkungen

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Eine gottlose Zivilisation 1 2 3 4

The Analects of Confucius, übers. v. A. Waley (New York, 1989), S. 127. Selected Stories of Lü Hsun, übers. v. Y. Hsien-yi und G. Yang (San Francisco, 1994), S. 18. Selected Stories of Lü Hsun, a. a. O., S. 79. J. Needham, Science and Civilisation in China (Cambridge, 1954), Bd. 1, Vorwort, S. 9. (Anm. d. Übers.: eigene Übersetzung) Die deutsche Ausgabe Wissenschaft und Zivilisation in China, übers. v. R. Herbster (Frankfurt/Main, 1984) ist lediglich die Übersetzung des Buches von C. A. Ronan, der die vielbändige ursprüngliche Ausgabe Needhams für den Nichtfachmann zu einem Band zusammenfasste. Demzufolge findet sich das zitierte Originalvorwort Needhams dort nicht.

Das bleibende Selbst 1 Arnold J. Toynbee (1889–1975) lebte noch, als Daisaku Ikeda an der UCLA sprach; vgl. Choose Life (Oxford, 1989).

Ethos der Symbiose 1 Die drei Grundregeln sind die zwischen Herrscher und Minister, zwischen Vater und Sohn, zwischen Mann und Frau. Die fünf Haupttugenden sind: Menschlichkeit, Gerechtigkeit, ethisches Verhalten, Weisheit, Redlichkeit. 2 Aus dem Japanischen; L. Vandermeersch, Ajia Bunka-ken no Jidai, übers. v. T. Fukukane (Tokyo, 1987), S. 184. 3 Konfuzius, Gespräche, dt. von R. Wilhelm (München, 1979), Buch II, xvii. 4 Konfuzius, Gespräche, a. a. O., Buch XI, xi. 5 Konfuzius, Gespräche, a. a. O., Buch XI, xii. 6 Konfuzius, Gespräche, a. a. O., Buch XIII, iii. 7 Konfuzius, Gespräche, a. a. O., Buch XVII, xix. 8 The Writings of Nichiren Daishonin (Tokyo, 1999). S. 421. 9 The Writings of Nichiren Daishonin (Tokyo, 1999). S. 421.

Mahayana-Buddhismus und die Zivilisation des 21. Jahrhunderts 1 N. Hori, Herausgeber, Nichiren Daishonin Gosho Zenshu (Verehrenswerte Schriften Nichiren Daishonins) (Tokyo, 1952), S. 1404. 2 J. Takakusu, Herausgeber, Taisho (Große Lehre), Bd. 9 (Tokyo, 1925), S. 43 c. 3 Hori, a. a. O., Nr. 1, S. 788. 4 K. Jaspers, Socrates, Buddha, Confucius, Jesus (Sokrates, Buddha, Konfuzius, Jesus) (San Diego, 1962), S. 25. 5 T. W. Rhys Davids und J. E. Carpenter, Herausgeber, Sonadanda-sutta, Kutadanta-sutta in Digha-nikaya, I (London, 1889). Vgl. J. Takakusu, Herausgeber, Nanden Daizokyo, Bd. 6 (Tokyo, 1935), S. 172, 195.

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Anmerkungen

6 T. W. Rhys Davids und J. E. Carpenter, Herausgeber, Mahaparinibbanna-suttanta in Dighanikaya, II (London, 1903). Vgl. J. Takakusu, Herausgeber, Nanden Daizokyo, Bd. 7 (Tokyo, 1935), S. 27 ff. 7 D. Anderson und H. Smith, Herausgeber, Sutta-nipata 938 (London, 1913). Vgl. J. Takakusu, Herausgeber, Nanden Daizokyo, Bd. 24 (Tokyo, 1935), S. 358. N. Aramaki, Übersetzer, Daijo Butten, Bd. 7 (Tokyo, 1986), S. 324. 8 J. Royce, The Basic Writings of Josiah Royce (Die grundlegenden Schriften von Josiah Royce), Bd. 2 (Chicago, 1969), S. 1122. 9 R. Chalmers, Herausgeber, Angulimala-sutta in Maajjhima-nikaya, II (London, 1896–1898). Vgl. J. Takakusu, Herausgeber, Nanden Daizokyo, Bd. IIa (Tokyo, 1938), S. 137. 10 P. B. Yampolsky, Herausgeber, und B. Watson, Übersetzer, Selected Writings of Nichiren (Ausgewählte Schriften Nichirens) (New York, 1990), S. 322. 11 Nagarjuna, Madyamakakarika 24. 6, L. de la Vallee Poussin, Herausgeber, mit einem Kommentar P. von Candrakirti, Bibliotheca Buddhica IV, Neudruck (Osnabrück, 1970). Vgl. J. Takakusu, Herausgeber, Taisho (Große Lehre), Bd. 30 (Tokyo, 1927). 12 P. B. Yampolsky, a. a. O., Nr. 10, S. 138. 13 Stand 2010. 14 Tragödie von Waco, Texas: Während einer 51-tägigen Belagerung ihrer Siedlung Mount Carmel Center in der Nähe von Waco, Texas, durch Bundesbehörden im Jahr 1993 kamen 82 Mitglieder der Branch Davidian Gruppierung inklusive ihrem Anführer Davis Koresh zu Tode. Es handelte sich um eine Abspaltung von den Adventisten. (Anm. d. Übers.) 15 Hori, a. a. O., Nr. 1, S. 403. 16 J. Dewey, A Common Faith (Eine allgemeine Glaubenshaltung) (New Haven, 1934), S. 50– 52. 17 Hori, a. a. O., Nr. 1, S. 790. 18 Nidana-, Bhaisajyaraja-, Samanthabhadra- Kapitel. 19 Osadhi-Kapitel. 20 J. W. von Goethe, Sämtliche Werke in 18 Bänden, Bd. 5: Die Faustdichtungen (Zürich, 1950), S. 157 21 J. W. von Goethe, Gespräche mit Eckermann, Sämtliche Werke 19, hrsg. v. H. Schlafer (München, 1986). 22 L. Feer, Herausgeber, Samyutta-nikaya, II, I (London, 1888). Vgl. J. Takakusu, Herausgeber, Nanden Daizokyo, Bd. 13 (Tokyo, 1936), S. Iff. 23 V. Sumangala Suriyagoda, Herausgeber, Dhammapada 60 (London, 1914). Vgl. J. Takakusu, Herausgeber, Nanden Daizokyo, Bd. 23 (Tokyo, 1937), S. 42. 24 T. W. Rhys Davids und J. E. Carpenter, Herausgeber, Mahaparinibbana-suttanta II, 26 (London, 1903). Vgl. J. Takakusu, Herausgeber, Taisho (Große Lehre), Bd. I (Tokyo, 1924), S. 645c, 15b. 25 R. W. Emerson, Essays and Poems of Emerson (Emerson: Essays und Gedichte) (New York, 1921), S. 45. 26 W. Whitman, Leaves of Grass (Grashalme) (Garden City, 1926), S. 348. 27 Hori, a. a. O., Nr. 1, S. 740. 28 Obwohl Übersetzungen für viele der zitierten buddhistischen Begriffe und Lehrtexte vorhanden sind, basiert die vorliegende Übertragung auf dem japanischen Originaltext mit den entsprechenden Verweisen auf die Originale in Japanisch, Chinesisch und Pali sowie die in englischer Übersetzung veröffentlichten Schriften. Dies gilt insbesondere auch für

Anmerkungen

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die in den Fußnoten benannten Quellen, wie sie zur Zeit der Konzeption des Vortrages zur Verfügung standen. (Anm. d. Übers.)

Hommage an das Sagarmatha des Humanismus: Die lebenden Lektionen des Gautama Buddha 1 Gautama Buddha ist der Name mit dem Shakyamuni Buddha in Nepal benannt wird. Gautama ist Shakyamunis Familienname. 2 B. K. Sama, „Adieu, Adieu, O World“, Modern Nepali Poems (Kathmandu, 1972), S. 70. 3 Sagarmatha, der nepalesische Name für den Mount Everest, den höchsten Berg der Welt, bekannt auch unter dem tibetischen Namen Chomolungma, gelegen im Himalaya an der nepalesisch-chinesischen Grenze. 4 A. Peccei und D. Ikeda, Before it is Too Late, hrsg. v. R. L. Gage (Tokyo, 1984), S. 116. 5 Die Gosho Nichiren Daishonins, Bd. 2 (Mörfelden-Walldorf, 1991), S. 183. 6 Lotos-Sutra, übers. v. M. Deeg (Darmstadt, 2009), S. 265 f. 7 Ashvaghosha, The Buddhacarita; or, Acts of the Buddha, übers. V. E. H. Johnston (Delhi, 1992), S. 27. 8 The Writings of Nichiren Daishonin (Tokyo 1999). S. 486. 9 Dhammapada, Nachdichtung von H. Much (Hamburg, 1920), Strophe 304. 10 Vgl. The Long Discourses of the Buddha, übers. v. M. Walshe (Boston, 1995), S. 245. 11 Vgl. Fumio Masutani, Budda no Kotoba (Tokyo, 1988), S. 79. 12 Brahmadeva, sanskrit Brahma¯, japanisch Bonten. 13 The Vimalakirti Nirdesa Sutra, übers. v. L. K’uan Yü (Berkeley, 1972), S. 50. 14 The Record of Orally Transmitted Teachings (Tokyo, 2004), S. 146. 15 M. P. Ghimire, „Youth“, Modern Nepali Poems (Kathmandu, 1972), S. 229.

Das Zeitalter der Soft Power und einer vom inneren Bedürfnis motivierten Philosophie 1 Soft Power (im Deutschen auch als weiche Macht bezeichnet) ist ein von Joseph Nye geprägter politikwissenschaftlicher Begriff, der die politische Machtausübung (insbesondere die Beeinflussung der Ereignisse in den internationalen Beziehungen) auf Grundlage kultureller Attraktivität, der Ideologie und auch mit Hilfe internationaler Institutionen beschreibt. Zentrales Merkmal der Soft Power ist die Machtausübung durch die Beeinflussung der Ziele politischer Akteure, ohne dass dazu (wirtschaftliche) Anreize oder (militärische) Bedrohungen eingesetzt werden. (Wikipedia, 8. 1. 2011) (Anm. d. Übers.) 2 Mit „Präzedenzfälle für das Gewissen“ sind die ausgeklügelten moraltheologischen Verhaltensregeln der Jesuiten gemeint, die in sogenannten „institutiones morales“ abgelegt wurden; darin wurde für jede nur denkbare Situation, in der eine „Gewissensnot“ entstehen konnte, eine konkrete Verhaltensregel abgelegt; der Hauptvorwurf gegen diese Regeln war, dass hier „der Zweck die Mittel heiligt“. (Anm. d. Übers.) 3 Die Jansenisten gehen zurück auf den niederländischen katholischen Theologen Cornelius Jansen (1585–1638); der Jansenismus war eine Bewegung innerhalb der niederländischen katholischen Kirche, die eine Rückkehr zu Lehre und Kultus des frühen Christentums anstrebte; die Auseinandersetzung mit der Moraltheologie der Jesuiten, deren großzügige

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4 5 6 7 8 9

Anmerkungen

Auslegung die Jansenisten angriffen, führte zur Aufhebung des Jesuitenordens 1773. (Anm. d. Übers.) B. Pascal, Les provinciales [Briefe in die Provinz], Brief V vom 20. März 1656, Große Bücher der westlichen Welt, hrsg. v. R. Maynard Hutchins (Chicago, 1952), 33: 28. A. de Tocqueville, Democracy in America [Über die Demokratie in Amerika] (1835), übers. v. H. Reeve (New York, 1980), 1: 309. A. de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika (Stuttgart, 2004), S. 234. R. W. Emerson, The Complete Works of Ralph Waldo Emerson (New York, 1930), 1: 41. A. de Tocqueville, Democracy in America [Über die Demokratie in Amerika] (1835), a. a. O., 2: 166. Emerson, a. a. O., 2: 912.

Radikalismus – neu bedacht 1 Prokrustes war ein mythischer griechischer Räuber, der die Gliedmaßen seiner Gäste streckte oder kürzte, damit sie in sein Bett passten. 2 Aus einem Interview mit Dr. J. Elkes, Seikyo Shimbun, 8. Juli 1992, S. 3. 3 D. H. Lawrence, Apokalypse (New York, 1976), S. 125. Anm. d. Übers.: eigene Übersetzung. 4 E. Heimann, Soziale Theorie der Wirtschaftssysteme (Tübingen, 1963), S. 36. 5 T. Aitmatow und D. Ikeda, Begegnung am Fudschijama (Zürich, 1992), S. 33 f. 6 F. A. Hayek, Der Weg zur Knechtschaft (München 1971), S. 37. 7 Platon, Phaidon, 39. Kapitel / 89 c11 ff. 8 W. Lippmann, Die öffentliche Meinung (München, 1964), S. 277. 9 J. W. von Goethe, Gespräche mit Eckermann, 14. April 1825. 10 Nichiren Daishonin, Ausgewählte Werke (Mörfelden-Walldorf, 2008), S. 303. 11 W. Whitmann, Salut au Monde 10, Grashalme, übers. v. H. Reisiger (Reinbek, 1968), S. 128 f.

Frieden und Sicherheit für die Menschen: Eine buddhistische Perspektive für das 21. Jahrhundert 1 Vgl.: J. Galtung, Peace and Development in the Pacific Hemisphere [Frieden und Sicherheit für die Menschen: Eine buddhistische Perspektive für das 21. Jahrhundert] (Honolulu, 1989). 2 Das Lotos-Sutra, übers. von Max Deeg (Darmstadt, 2007) S. 90. 3 Das Lotos-Sutra, a. a. O., S. 80 f. 4 M. Oksenberg, „personal dialogue“ [persönlicher Dialog], 9. Oktober 1994. 5 Nichiren Daishonin, Ausgewählte Schriften (Mörfelden-Walldorf, 2008), S. 86. 6 Vgl.: V. Fausboll, Herausgeber, The Jataka [Die Jataka Erzählungen], Bd. 5 (London, 1963), S. 412; H. Smith, Sutta-Nipata Commentary II Being Paramatthajotika II, 2 (London, 1966), S. 566. 7 Vgl.: „Attadanda Sutta“ [Attadanda Sutra], The Sutta-Nipata, H. Saddhatissa, Übersetzer (London, 1987), S. 109; D. Andersen und H. Smith, Sutta-Nipata (London, o. J.), S. 182. 8 The Writings of Nichiren Daishonin (Tokyo, 1999, 2003), S. 989.

Anmerkungen

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9 Paul Brooks, The House of Life: Rachel Carson at Work [Das Haus des Lebens: Rachel Carson bei der Arbeit] (Boston, 1972), S. 319. 10 Nichiren Daishonin, The Record of the Orally Transmitted Teachings [Aufzeichnung der mündlich überlieferten Lehren] (Tokyo, 2004), S. 200. 11 Nichiren Daishonin, a. a. O., S. 165. 12 Vgl.: „Ho to Engi“ (Dharma and Dependent Origination) [Dharma und Bedingtes Entstehen], Works of Akira Hirakawa, Bd. 1 (Tokyo, 1988). 13 A. J. Marsella, „Five New Year’s Resolutions for the Promotion of Spiritual Perfection Through Humanistic Action“ [Fünf Entschlüsse zum neuen Jahr zur Förderung spiritueller Vervollkommnung durch humanistisches Handeln], Seikyo Shimbun, 1. 1. 1995. 14 Vgl.: J. Galtung, Bukkyo: chowa to heiwa wo motomete [Buddhism: A Quest for Unity and Peace] [Buddhismus als Streben nach Eintracht und Frieden] (Tokyo, 1990). 15 R. L. Gage, Herausgeber, Choose Life, A Dialogue: Arnold Toynbee and Daisaku Ikeda [Wähle das Leben, ein Dialog: Arnold Toynbee und Daisaku Ikeda] (Oxford, 1976), S. 317 f., 326. 16 „Sela Sutta“ [Sela Sutra], The Sutta-Nipata, [Das Sutta Nipata], übers. v. H. Saddhatissa (London, 1987), S. 65; „Maha Parinibbana Suttanta“, Dialogues of the Buddha [Dialoge des Buddha], Teil II, übers. v. T. W. und C. A. F. Rhys Davids (London, o. J.), S. 79–81. 17 „Shugo Kokka Ron“, Hori, a. a. O., S. 36. 18 Die Gosho Nichiren Daishonins, Bd. 3 (Mörfelden-Walldorf, 1993), S. 174. 19 Nichiren Daishonin, Ausgewählte Schriften (Mörfelden-Walldorf, 2008), S. 262. 20 The Record of the Orally Transmitted Teachings, S. 115. 21 M. Gandhi, All Men Are Brothers [Alle Menschen sind Brüder], hrsg. v. K. Kripalani (New York, 1990), S. 49.

Makiguchis lebenslanges Streben nach Gerechtigkeit und menschlichen Werten 1 Das Museum of Tolerance des Simon-Wiesenthal-Zentrums wurde 1993 eröffnet und widmet sich schwerpunktmäßig der Erforschung und Darstellung des Rassismus in (Nord-)Amerika und der Geschichte des Holocaust. 2 Worte Simon Wiesenthals als österreichischer Delegierter bei der Generalversammlung der UNO, 15. Sitzung, 20. November 1995. 3 Makiguchi Tsunesaburo Zenshu, Bd. 9, S. 97. 4 Makiguchi Tsunesaburo Zenshu, a. a. O., Bd. 6, S. 71. 5 Makiguchi Tsunesaburo Zenshu, a. a. O., Bd. 6, S. 180. 6 Makiguchi Tsunesaburo Zenshu, a. a. O., Bd. 4, S. 27. 7 Tsunesaburo Makiguchi, Jinsei Chirigaku (Die Geographie des menschlichen Lebens) (Tokyo, 1980), Bd. 5, S. 16. 8 Makiguchi Tsunesaburo Zenshu, a. a. O., Bd. 5, S. 232. 9 Makiguchi Tsunesaburo Zenshu, a. a. O., Bd. 10, S. 84. 10 Makiguchi Tsunesaburo Shingenshu, S. 26 f. 11 Der Friedens-Bewahrungsakt von 1925 war eines der ersten juristischen Mittel, das zur Unterdrückung aller Formen des Dissidententums eingesetzt wurde. Der Akt gegen religiöse Organisationen (1940) schloss alle religiösen Organisationen Japans unter der Führerschaft des Shinto zusammen.

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Anmerkungen

12 Aus dem Japanischen; Toda Josei Zenshu (Gesammelte Werke von Josei Toda) (Tokyo, 1988), Bd. 8, S. 463. 13 Makiguchi Tsunesaburo Zenshu, a. a. O., Bd. 10, S. 209 f. 14 The Writings of Nichiren Daishonin, Bd. 2. (Tokyo, 2006), S. 1060. 15 Makiguchi Tsunesaburo Zenshu, a. a. O., Bd. 10, S. 276. 16 Makiguchi Tsunesaburo Zenshu, a. a. O., Bd. 10, S. 278. 17 Makiguchi Tsunesaburo Zenshu, a. a. O., Bd. 10, S. 85. 18 Makiguchi Tsunesaburo Zenshu, a. a. O., Bd. 6, S. 69. 19 Aus dem Japanischen; Y. Rabin, Vorwort zu The Rabin Memoirs, hrsg. v. T. Sagara, übers. v. J. Takeda (Tokyo: 1996), S. 19. 20 Die SGI-Charta wurde 1996 in der Vierteljahreszeitschrift der SGI abgedruckt.

Glossar unterstrichene Begriffe verweisen auf weitere Glossareinträge abhängigen Entstehung, Gesetz der (Sanskrit: Pratytia-Samutpada; Jap.: Engi) Buddhistisches Prinzip: Alle Wesen und Phänomene existieren nur in Beziehung zu anderen Wesen und Phänomenen, d. h. nichts kann aus sich selbst heraus existieren. Dies gebietet den Respekt gegenüber der Einzigartigkeit einer jeden Existenz, weil sie alles innerhalb des großen, lebendigen Ganzen unterstützt. Bodhisattva Im Buddhismus ein Mensch, der die Qualitäten von Weisheit, Mut und Mitgefühl verkörpert. Er strebt ständig danach, andere zu Glück und Erleuchtung zu führen Buddha Gautama Geburtsname: Siddharta Gautama. Auch Buddha, Buddha Shakyamuni oder Shakyamuni genannt. Der historische Begründer des Buddhismus und dessen größter Denker. Bushido Traditioneller Kodex der japanischen Samurai, betont Mut, Loyalität, Selbstdisziplin und Einfachheit. Dharma 1) die Lehren des Buddha, 2) das Lebensgesetz, 3) alles Seiende Dharma-Natur (Jap.: Hossho) Buddhistisches Konzept von der intrinsischen Natur oder dem Wesen des Universums Edo-Periode Die Periode von 1603–1868, als Japan vom Edo- oder Tokugawa-Shogunat regiert wurde.

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Glossar

Esho ¯-Funi Buddhistischer Begriff: Bezeichnet die Untrennbarkeit vom Leben und seiner Umgebung. Beide Elemente stehen in einer Wechselbeziehung zueinander und bilden eine Einheit. Dabei wirken sie ständig aufeinander ein. großes Selbst, siehe Taiga Hossho siehe Dharma-Natur Gosho Die gesammelten Schriften Nichirens. Das Grundlagenwerk des NichirenBuddhismus. Ichinen Buddhistischer Begriff. Die Geistesverfassung oder der Lebenszustand in einem einzigen Lebensmoment. Ikeda, Daisaku (1928–) der dritte Präsident der Soka Gakkai und Gründungspräsident der Soka Gakkai International (SGI) Kalpa Eine sehr lange Zeiteinheit in der altindischen und buddhistischen Kosmologie. Etwa 16 Mio. Jahre. kleines Selbst Siehe Shoga Ku ¯ Begriff aus dem Mahayana-Buddhismus: Bezeichnet eine Leere mit unendlichem Potential. Es ist die Essenz, aus der sich alle Dinge manifestieren und zu der alle Dinge zurückkehren. Lotos-Sutra (Sanskrit: Saddharma-Pundarika-Sutra) Eine der einflussreichsten buddhistischen Schriften oder Sutras. Ihre Hauptbotschaft lautet, dass die Buddhaschaft – jener Zustand des absoluten Glücks, der Freiheit von aller Angst und Illusion – in jedem Leben angelegt

Glossar

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ist. Durch die Entwicklung dieses Zustands können alle Menschen ihre Probleme überwinden und ein erfülltes, aktives Leben führen – in tiefer Verbundenheit mit anderen und der Gesellschaft. Mahayana-Buddhismus Eine Form des Buddhismus, die sich im 1. Jahrhundert u. Z. ausprägte. Er vertritt eine liberalere, zugänglichere Interpretation des Buddhismus als der traditionelle Theravada-Buddhismus. Mahayana-Buddhisten sind der Überzeugung, die Erleuchtung sei innerhalb einer einzigen Lebenszeit für jeden Menschen erreichbar. Makiguchi, Tsunesaburo (1871–1944) Mitbegründer und erster Präsident der Soka Kyoiku Gakkai. Er war ein Pädagoge und Gelehrter, der eine eigenständige Pädagogik entwickelte, gespeist aus seiner langjährigen praktischen Erfahrung als Lehrer und Grundschulrektor. Laut seiner Philosophie ist Zweck aller Bildung und Erziehung das Erschaffen von Werten, die zu einem glücklichen Leben beitragen. Meiji-Periode Die 45-jährige Herrschaft des Meiji-Kaisers vom 23. Oktober 1863 bis zum 30. Juli 1912. In dieser Zeit modernisierte sich Japan radikal und wurde Teil der entwickelten Welt. Na¯ga¯rjuna (ca. 150–250) Gründer der Schule des Mittleren Weges (Madhyamika) des Mahayana-Buddhismus. Einer der einflussreichsten buddhistischen Denker nach Buddha Gautama. Nichiren (1222–1282) Buddhistischer Mönch aus Japan und Lehrer. Gründer des Nichiren-Buddhismus. Nichiren-Buddhismus Eine buddhistische Bewegung aus Japan in der Tradition des Mahayana. Sie unterscheidet sich von anderen buddhistischen Schulen durch eine starke Diesseits-Orientierung. Ihr zentrales Anliegen ist, dass die Menschen als Individuen die Verantwortung übernehmen können, sich selbst und ihr Leben zu verbessern.

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Glossar

Shakyamuni (Buddha) Siehe Buddha Gautama Shoga Konzept des „kleinen Selbst“ im Mahayana-Buddhismus – eine Sichtweise, die von egoistischen Belangen und Begierden geprägt ist. Sein Gegenstück ist das „große Selbst“, siehe Taiga. Shogyo Mujo Buddhistischer Begriff – bezeichnet die Vergänglichkeit aller Phänomene. Soka Kurzform des japanischen Begriffs Kachi Sozo (Erschaffen von Wert). Er bezeichnet die Fähigkeit, unter jeder gegebenen Voraussetzung Sinn zu finden, die eigene Existenz zu bereichern und zum Wohlergehen der anderen beizutragen. Tsunsesaburo Makiguchi, der japanische Erzieher, dessen Schriften die Soka-Pädagogik hervorbrachten, ging davon aus, dass der Mensch die einzigartige Fähigkeit besitze, Wert zu erschaffen. Daher sei der Zweck von Bildung und Erziehung, ihn im Hinblick auf dieses Ziel zu unterstützen. Soka Gakkai International (SGI) Weltweite Organisation von 12 Millionen Mitgliedern, die den NichirenBuddhismus ausüben. Die SGI setzt sich aktiv für Frieden, Kultur und Bildung ein, ausgehend von einem Glauben an das positive Potential eines jeden Menschen und dem Respekt gegenüber der Würde allen Lebens. Die Mitglieder der SGI arbeiten an einer Kultur des Friedens anhand von Bewusstseinsund Netzwerkbildung auf Graswurzelebene. Sie initiiert und unterstützt Initiativen der Vereinten Nationen und mehrerer NGOs weltweit. Soka Kyoiku Gakkai Dt. „Gesellschaft für werteschaffende Erziehung“, Vorläuferin der Soka Gakkai. Eine Laienorganisation des Nichiren-Buddhismus, gegründet 1930 in Japan von Tsunesaburo Makiguchi und seinem Schüler Josei Toda. Ziel der Vereinigung war, Makiguchis die pädagogischen und sozialen Konzepte des Werte-Erschaffens (Soka) zu verbreiten, sowie den Buddhismus unter Japans Lehrern bekannt zu machen.

Glossar

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Soka-Universität Gegründet 1971 von Daisaku Ikeda mit dem Ziel der Förderung der humanistischen Bildung, der Kultur und des Friedens. Sutra Buddhistische Schriften oder Lehrreden. Taiga Konzept des „großen Selbst“ im Mahayana-Buddhismus – bezeichnet die Offenheit und Weite und Charakterstärke, die die Leiden aller Menschen als die eigenen annimmt und stets danach strebt, Schmerzen zu lindern und das Glück der anderen zu mehren. Toda, Josei (1900–1958) Mitbegründer der Soka Gakkai und später ihr zweiter Präsident. Schüler des ersten Präsidenten Tsunesaburo Makiguchi.

Stichwort- und Namensregister Aitmatow, Tschingis 139, Andersartigkeit 149 ff., Anhaftung 26, 86 ff. Ausstattung, vollkommene 35, 36 ff. Autonomie 67 ff. Begierden 87 ff. Begrifflichkeit 95 ff. Berdiajew, Nikolai 35 Bergson, Henri 17, 131, 132 Beständigkeit 86 Bildung 42, 46, 49, 141, 152 Bodhisattva 18, 45 ff., 71 ff., 119, 143, 149 Buddha-Natur 36 Buddhismus 17, 29, 35 f., 45, 61, 85 ff., 91, 97 ff., 101, 107 ff., 118, 131, 143 ff., 147 ff., 153, 160 ff., 165 Burckhardt, Jacob 30 Bushido 128 ff. Charakter 40, 74, 141 ff. Charaktertraining 74 China 53 ff., 63, 79, 81 ff., 92, China, Zivilisation 58, 79 ff. Churchill, Winston 24 Claudel, Paul 15 f. Cousins, Norman 57 Cox, Harvey 108 Datong 94 de Bary, William Theodore 58 ff. de Corral, Luis Díez 66 de Tocqueville, Alexis 73 de Unamuno, Miguel 72 Descartes, René 59, 96 Dewey, John 43 ff., 108, 159 f., Dharma-Natur 39, 102

Dialog 104 ff. 140 f., 148, 162 Dialogbereitschaft 103 ff. Disziplin 72 ff., 133, 140 ff. Dostojewski, Fjodor 38 Ego 72, 107, 132 Ego, faustisch 65 ff. Egoismus 39, 46, 111, 117, 149 Einkommensschere 144 Emerson, Ralf Waldo 111, 128, 133 Empathie 149, 158 Engi 109, Engyo 61 Entstehen, bedingtes 29, 38, 109, 151, Erziehung 42 ff., Erziehung, humanistische 47 Eshô-Funi 71 f. ethisches Verhalten 58, 62 Extremismus 73, Faust 14, 65 ff., 109 Friedenserziehung 49 Galtung, Johan 151 Ganzheit 14 ff., 136 ff. Gautama (Buddha) 113 ff. Gemeinde 47, 116 Gerechtigkeit 62, 156, 164 Geschichte 53 ff., 81, 102, 137 f. Gesetz 18 f., 69, 80, 87 ff., 98 ff., 109 ff. Gewalt, strukturelle 144 Gewissen 84, 126 ff., 133, 161 Glück 18, 33 ff., 43, 61, 103 ff., 118 ff., 133, 145, 159, 164 Goethe, Johann Wolfgang von 14, 66, 70, 73, 109 f., 139, 142, 171 Gorbatschow, Michail 73 Güte 26, 45 f., 158

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Stichwort- und Namensregister

Haupttugenden, Fünf 58, 61 ff., 93 Hard Power 23, 125 Hawaii 144 ff. Hayek, Friedrich A. 139 Heiligkeit des Lebens 42, 164 Heimann, Eduard 137 Heraklit 39, 85, 101 Hinayana-Buddhismus 17 Humanismus, kosmischer 24 ff. Humanismus, neuer 30 Huyghe, René 17 Ichinen 71, 172 Ichinen Sanzen 99 Individualismus 58 ff., 94 Integration 14 ff., 135 ff. Japan, religiöse Tradition 15 ff., Jaspers, Karl 24, 28, 103 Juwelenstupa 18, 114 f. Kartesianismus 59 Kausalität 110, 131, 150 Kechi-en 16 f. Kierkegaard, Søren 19 Koexistenz (aller Dinge) 109 ff. Kommunikationstechnologien 147 Konfuzianismus 53 ff., 80, 92 ff., 97 ff. Konfuzius 79, 95 ff. Kong Fan 94 Krieg, Kalter 135 Kû 17, 30, 88 f. Kultivieren des Innenlebens 72 ff. Kultivierung, innere 67, 74, 114 Kulturbereich, konfuzianischer 92 Kulturkreis, asiatischer 58 Kunst 14 ff. Lawrence, D. H. 136 Lebenskraft 16, 73, 151 Lebenssinn 118 Lebenszustände, zehn 98 f., 142 f. Lehrer 47 f., 113, 121, 141, 157 ff. Leonardo da Vinci 22 ff. Liberalismus 58 ff. Lomonossow, Michail 32

Lotos-Sutra 18 ff., 36, 74, 97, 103, 109, 114 ff., 145, Lu Xun 53, 54, 81 f., 100 Macao 57, 62 ff. Mahayana-Buddhismus 17 f., 29, 35 f., 61, 71 f., 85, 97 f., 101 ff., 145 Makiguchi, Tsunesaburo 40 ff., 106, 116, 154, 156 ff., 173 Malraux, André 15 ff. Mao Zedong 53, Marsella, Anthony 151 Marx, Karl 107, 137 Massenvernichtungswaffen 42 Mäßigung 84 ff., 142 Meiji-Periode 129 Menéndez Pidal, Ramón 70 Menschenführung 116 Menschenrechte 22 f., 60, 93, 105, 120 f., 154 ff. Menschenrechtserziehung 49 Menschlichkeit 43 ff., 58 ff., 106 ff., 116, 129, 139, 169, 176 Mereschkowski, Dimitri 26 f., 33 Mitgefühl 44 ff., 48, 63, 113, 118 ff., 132, 142 ff., 151 ff. Mut 44 f., 88, 156 f., 162, 172 Natsume, Soseki 34, 129 Needham, Joseph 83 Nichiren 27, 39, 69 ff., 101 ff., 121, 132, 143, 147 ff., 154 Nichiren-Buddhismus 132 Nichtexistenz 89 Nietzsche, Friedrich 26, 54 Nitobe, Inazo 129 Ordnung des Lebens 36 ff. Ortega y Gasset, José 68, 72, 74 f. Ostasien 92 ff. Palast von Indra 44 Pascal, Blaise 37, 126 ff. Peccei, Aurelio 114 Peter der Große 34 Puschkin, Alexander 34, 41

Stichwort- und Namensregister Radikalismus 30, 135 ff. Redlichkeit 58 ff. Reformation, innere 103, 145 Reichtum 34 f., 86 f., 141 Religion 14 ff., 19, 25, 58, 69, 77–121, 127 ff., 161 ff. Revitalisierung 35, 39 Revolution, Französische 60, 66, 73, 138 Revolution, menschliche 27, 33, 74 f., 145 f., 154, 175 Revolution, spirituelle 20 Roosevelt, Franklin D. 24, 130 f. Sama, Bala Krishna 113 Schatzturm 112 ff. Schule 48, 116, 159, 160, 165 Selbst 5 ff., 17, 25 f., 34, 39 ff., 58 f., 67 ff., 84 f., 119 f., 132, 147 Selbst, größeres / großes / höheres 87 ff., 111, 119, 149 Selbst, kleineres / kleines / geringeres 39, 71, 88 ff., 111, 148 Selbstbeherrschung 25 ff., 58 ff., 128 ff., 141 f. Selbst-Erneuerung 17, 35, 39, 41 146, 154 Selbst-Kontrolle 68, 85 Selbst-Ordnung 69 Selbst-Reflexion 40 Selbst-Vervollkommnung 18 Shakyamuni (Buddha) 16, 19, 33, 40, 45, 55, 69, 74,101 ff., 110, 126,132, 141, 145 ff., 153, 175 f. Shogyo Mujo 101 Shusseken 26 Sicherheit, globale 24, 144 ff. Sima Qian 54 f., 79 ff. Sinosphäre 58 Sittlichkeit 62 Soft Power 23, 125 ff., 133 Soka (Werte schaffen) 160 Soka Gakkai 22, 27, 33, 40, 47 ff., 75,101, 106, 136, 141, 145, Soka Gakkai International (SGI) 22, 27, 33, 101 Soka Kyoiku Gakkai 154, 160 ff. Sokrates 20, 95 f., 115, 133, 140 f.

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Souveränität, menschliche 62, 146, 152 f. Souveränität, nationale 62, 152, 159 Spiritualität 14, 34, 61, 70, 85, 93, 98 ff., 128 ff. Sprache 29 f., 96 ff., 103 ff., 140 Stalin, Josef 24 Substanzlosigkeit 29 f., 88 Sun Yatsen 62 ff., 94 Symbiose 38, 67 ff., 93 ff., 109, 119 Tan Sitong 94 ff. Tanz 19 f. Tao Qian 100 Thoreau, Henry David 44, 133 Tiantai (Zhiyi) 97 ff., 110 Tod 19, 28, 39, 63, 64, 68, 80, 84 ff., 95, 101 ff., 110 ff., 116, 120, 147 ff., 163 Toda, Josei 33, 42, 48, 106, 141, 145 ff., 157, 160 ff. Toleranz 137, 157 ff. Tolstoi, Leo 33, 37 f., 41 Totalität 16 f. Toynbee, Arnold J. 81 ff., 153 Transformation des Einzelnen 27 Umwelt 16, 22, 49, 65, 67, 71 ff., 84, 89, 114, 119, 149, 152 Umwelterziehung 49 Universalismus 81 ff. Universalität 35 ff., 98 Universelle, das 80 ff. UNO 22 ff., 48 f., 125, 152, 157 Valéry, Paul 20 Vandermeersch, Léon 61, 94 Vereinte Nationen 22 ff., 48 f., 125, 152, 157 Vergänglichkeit 87, 89, 101 Vielfalt 16, 109, 140, 146, 149 ff. Weg des Himmels 79 ff. Weisheit 21 f., 41, 44 f., 58, 62 ff., 70, 91, 95, 109, 113 ff., 121, 126, 131 f., 146 ff., 157, 160, 164 Weltbürger 23, 25, 40, 44, 46 ff., 62, 133, 141, 152

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Stichwort- und Namensregister

Weltbürgertum 44, 47 Wen Tianxiang 63 f. Werte 17, 33, 40, 44, 47, 54, 88 ff., 98, 108, 116, 150, 153, 160 ff. Wertschöpfung 117, 161 Wettbewerb, humanistischer 40 Whitehead, Alfred North 131 f. Whitman, Walt 130, 133, 143 Wiesenthal, Simon 156 ff. Wilson, Thomas W. 24

Wissen 33, 43, 46, 66, 85, 95 f., 117, 125, 141, 146 ff. Yoshikawa, Kojiro 79 Zhou Enlai 63, 83, 92, 99 f. Zivilisation des 21. Jahrhunderts 65 ff., 101 ff., 154 Zivilisation, gottlose 79 ff. Zorn 142 f., 157 ff.