Die Kunst der Diagrammatik: Perspektiven eines neuen bildwissenschaftlichen Paradigmas [2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage] 9783839436318

The current discourse around diagrams is being shaped not least by the rapid cyclical upswing of graphic representations

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German Pages 372 Year 2017

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
1. Diagrammatische Voraussetzungen
Grafische Repräsentation oder repräsentative Grafik?
Wissen als Bild
Denkstil und Stilformen
2. Diagrammatische Geschichte
Barbeu-Dubourgs Lernmaschine
Wissensräume in der Geschichte
3. Diagrammatische Propaganda
Sowjetische Schaubilder
Wiener Methode der Bildstatistik
4. Diagrammatische Kunst
Stephan von Huenes Mind-Map-Methode
Unter dem diagrammatischen Imperativ
Der Witz im Diagramm
Nachweis der Bildzitate
Bibliografische Nachweise
Literatur
Register
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Die Kunst der Diagrammatik: Perspektiven eines neuen bildwissenschaftlichen Paradigmas [2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage]
 9783839436318

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Astrit Schmidt-Burkhardt Die Kunst der Diagrammatik

Image | Band 103

Astrit Schmidt-Burkhardt (Dr. habil.) lehrt Bild- und Kunstgeschichte an der Freien Universität Berlin und ist als Kuratorin tätig.

Astrit Schmidt-Burkhardt

Die Kunst der Diagrammatik Perspektiven eines neuen bildwissenschaftlichen Paradigmas 2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Anzeige der Werbeagentur Young & Rubicam Inc., in: Fortune, Bd. 32, Nr. 5, 1945, S. 177 (Detail) Lektorat: Gerti Fietzek, Berlin Grafische Ausführung: Knut Wiese / elfzwei.com Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3631-4 PDF-ISBN 978-3-8394-3631-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 7

1 DIAGRAMMATISCHE VORAUSSETZUNGEN Grafische Repräsentation oder repräsentative Grafik? | 13 Wissen als Bild | 39 Denkstil und Stilformen | 71

2 DIAGRAMMATISCHE GESCHICHTE Barbeu-Dubourgs Lernmaschine | 95 Wissensräume in der Geschichte | 107

3 DIAGRAMMATISCHE PROPAGANDA Sowjetische Schaubilder | 131 Wiener Methode der Bildstatistik | 155

4 DIAGRAMMATISCHE KUNST Stephan von Huenes Mind-Map-Methode | 213 Unter dem diagrammatischen Imperativ | 239 Der Witz im Diagramm | 293 Nachweis der Bildzitate | 303 Bibliografische Nachweise | 317 Literatur | 319 Register | 357

Vorwort Seit der Jahrtausendwende sind verstärkt Versuche unternommen worden, die Koordinaten der Diagrammatik zu vermessen. Allerdings wurde die Universalgeschichte des Diagramms noch nicht geschrieben, weder für die Philosophie noch für die Literatur- und schon gar nicht für die Kunstwissenschaft. Eine übergreifende Theorie des Diagrammatischen steht weiterhin aus, ebenso eine Definition, die über die Grenzen bildwissenschaftlicher Forschungsansätze hinausgeht.1 Die gesteigerte Reflexion rund um das Schaubild entspringt einem geisteswissenschaftlichen Pragmatismus. Auf der Basis visualisierter Daten und Fakten lassen sich zeitliche und kausale Zusammenhänge darstellen, Wissen in erweiterter Form von Schrift und Bild fixieren und neue Erkenntnisprozesse generieren. Damit sind zwingende Gründe genannt, warum Diagramme als Vehikel der Reflexion auch in der Kunstwissenschaft eine immer wichtigere Rolle spielen. Als konkretes Indiz eines zunehmenden Interesses an der Kunst, mit Diagrammen sinnstiftend umzugehen, darf auch die Tatsache gewertet werden, dass dieser Band in einer zweiten, um drei größere Kapitel und einige kleinere Abschnitte erweiterten Auflage erscheint. Die vorliegende Publikation skizziert verschiedene Perspektiven eines neuen bildwissenschaftlichen Paradigmas.2 Es zeichnet, erstens, den historischen Aufschwung des Diagramms in den letzten 250 Jahren in Geschichte und Kunstgeschichte nach.3 Zweitens wird den 1 | Vgl. Mersch 2006, S. 103 f.; Bucher 2008, S. 3, und dazu die epistemologische »Arbeitsdefinition für Diagramme« von Wöpking 2016, S. 59. 2 | Bei den einzelnen Kapiteln handelt es sich um überarbeitete Vorträge und Aufsätze, die konzeptuell stets auf »Die Kunst der Diagrammatik« hin ausgerichtet waren. Vgl. »Bibliografische Nachweise« in diesem Buch, S. 317 f. 3 | Zu den Anfängen tabellarischer und grafischer Gestaltung vgl. Meitzen 19032, S. 20–24.

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D ie K unst

der

D iagrammatik

Ursachen der aktuellen Konjunktur von grafischen Modellen nachgegangen. Außerdem geht es, drittens, um die medialen Effekte des Schaubildes, also um die Frage, inwiefern sich die Kunstgeschichtsschreibung durch den Einsatz von grafischen Repräsentationen verändert hat. Eines wird dabei schließlich klar: So wie hinter jedem Diagramm eine Geschichte steht, ist in jeder Geschichte immer auch ein Diagramm angelegt. Das ist die These, die diesem Buch zugrunde liegt, und es sucht sie anhand der vier Hauptkapitel zu begründen. »Diagrammatische Voraussetzungen«, »Diagrammatische Geschichte« und »Diagrammatische Propaganda« behandeln grundlegende Fragen zur Wissensvisualisierung, während »Diagrammatische Kunst«  exemplarisch Visualisierungspraktiken analysiert. Wer sich mit Schaubildern befasst, muss unkonventionell an das Thema herangehen, da es noch verhältnismäßig unerschlossen ist. Er oder sie muss die Recherche breit anlegen und dann wieder in Detailstudien eintauchen.4 Es gibt keine kunstwissenschaftliche Methode, um Diagrammen wirklich beizukommen. Vielmehr gewährt erst die multimethodische Auseinandersetzung ein umfassendes Verständnis. Als Forscherin auf dem weiten Feld der Historiografie argumentiere ich induktiv von den Bild- und Textquellen ausgehend. Auch wenn ich gelegentlich meine methodische Blickrichtung ändere und deduktiv vorgehe, so lassen sich viele meiner Überlegungen am besten an den Diagrammen selbst veranschaulichen. 4 | Die kritischen Impulse feministischer und postfeministischer Forschung haben das Genus des Autors revidiert. Mit der demonstrativen Geste, die in der Beifügung des weiblichen Suffixes »In« oder »/in« bzw. »_in« an männliche Substantive wie Wissenschaftler, Theoretiker oder Künstler angelegt ist, sollen patriarchalische Strukturen in der deutschen Grammatik aufgeweicht werden. Die schriftbildliche Symbolik – ob als triumphierender Großbuchstabe, distinguierender Schrägstrich oder intersexueller Unterstrich – hat zwar nicht alles, aber doch einiges verändert. Die Genealogie geriet in die Krise, um Irene Berkel zu paraphrasieren. Angesichts der konstatierten »Jungenkatastrophe« (Frank Beuster), vor deren langfristigen Folgen auch mein Patensohn nicht gefeit ist, erlaube ich mir, das Kollektivwesen namens »Autor« nicht zu gendern. Man möge mir diese politische Unkorrektheit nachsehen, schließlich hat sich der auf dem sprachwissenschaftlichen Feld ausgetragene Geschlechterkampf mit dem viel zitierten »Tod des Autors« längst überlebt.

V orwort

Am Schluss dieses Bandes wird die alte Tradition der Liste, als diagrammatische Urform, hochgehalten. Ein Register soll helfen, den Text gegen seine eigene Linearität bürsten zu können. Schließlich bietet auch eine Aufstellung immer wieder überraschende Möglichkeiten der Erkenntnis. Dort, wo Blicksprünge und Gedankenexperimente regieren, wird das Lesen diagrammatisch. Kein Buch entsteht von allein. Daher ist es gute Tradition, nicht nur Ideenspender, intellektuelle Gegenspieler und Vorläufer in den Fußnoten anzuführen, sondern sich auch bei all jenen zu bedanken, die auf vielfältige Weise zum Gelingen einer Publikation beigetragen haben: Angelika Chott mit ihren Übersetzungen aus dem Russischen; Gerti Fietzek mit ihrem überlegenen Scharfsinn als Lektorin; Juliet Koss mit der richtigen Frage im richtigen Augenblick; Gerhard ­Halusa mit seiner Gastfreundschaft im Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum, Wien; Regine Lassen mit ihrer partiellen Vorablektüre des Manuskripts; Friedrich ­Stadler mit der Öffnung des Instituts des Wiener Kreises; Knut Wiese mit seiner gestalterischen Umsetzung im Rahmen des Möglichen; und zu guter Letzt der Transcript Verlag mit seiner Anregung zu einer zweiten Auflage, die über weite Strecken ein neues Buch geworden ist. Ihnen allen sei in besonderer Weise gedankt.

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1  DIAGRAMMATISCHE VORAUSSETZUNGEN

Grafische Repräsentation oder repräsentative Grafik? Abb. 1: Anzeige der Werbeagentur Young & Rubicam Inc., 1945 (Detail)

Wenige Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs startete die amerikanische Agentur Young & Rubicam Inc. eine Werbeaktion in eigener Sache: »Herausragende Werbung macht man am besten, wenn alle, die mit ihr zu tun haben, fanatisch dem Glauben anhängen, dass eine ansteigende Verkaufskurve zu den schönsten Bildern der Welt gehört.«1 Dieser Devise wird mit einer bestechenden Illustration Nachdruck verliehen (Abb. 1). Darin richten fünf Museumsbesucher ihre Aufmerksamkeit gebannt auf ein scheinbar neues Genre: 1 | Anzeige in: Fortune, Jg. 32, Nr. 5, 1945, S. 177. – Die fremdsprachigen Zitate im vorliegenden Buch wurden von der Autorin ins Deutsche übersetzt.

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D iagrammatische V oraussetzungen

das Diagrammbild. Rein äußerlich betrachtet, unterscheidet sich der steil nach oben gerichtete Graf nicht von den anderen Artefakten. Wie die Gemälde aus dem 18. Jahrhundert hängt auch das luminöse Diagrammbild im verzierten Goldrahmen an der Wand. Die optimistische Krümmung der Kurve löst als »Gefühlssymbol« im Betrachter reflexartig eine vergleichbare positive Empfindung aus.2 Diese Reaktion lässt sich durch die Theorie des Bildakts erklären, die auf der emotiven Wirkkraft von Bildern beruht. Daher drängt das Affektdiagramm als vergleichsweise abstrakte Darstellung alles andere in den Hintergrund. Zu groß ist die Faszination, die von ihm als Emanation des visuell Anderen ausgeht. Das Diagramm überstrahlt mit seiner suggestiven Botschaft die Aussagekraft der übrigen Gemälde. Sein grafischer Konzeptualismus lässt sich als Herausforderung an die begriffslose Präzision der mimetischen Bilder verstehen. Bei aller Einbildungskraft, auf der die amerikanische Werbeanzeige mit ihrem vielleicht »schönsten Bild der Welt« beruht, die gestellte Szene im musealen Ambiente ist gleichwohl zukunftsweisend. Im Verlauf der Kurve wird eine Entwicklung als famahafte ­Mutmaßung beschrieben, die auch im Rückblick verführerisch plausibel erscheint. Mit den gestalterischen Mitteln der Montage zeichnet die Annonce die künftige Konjunktur des visuellen Diagramms in der Kunst nach 1945 vor: die Karriere von der grafischen Repräsentation zur repräsentativen Grafik. Im Zuge dieser Entwicklung hat sich auch die Kunstgeschichtsschreibung verändert. Sie begann nun zunehmend, ihre Aufmerksamkeit auf Diagramme zu richten und zwar auf repräsentative Grafiken wie auf grafische Repräsentationen, sprich auf ästhetische Schemazeichnungen wie auf kunstlose Datenvisualisierungen. Hinzu kommt, dass die Kunsthistorik mit ihrer Ressortkompetenz in visuellen Angelegenheiten jene Disziplin innerhalb der Geisteswissenschaften darstellt, die Diagramme gezielt eingesetzt hat: als epistemisches Werkzeug, als postfaktische Konzeptarbeit oder als reformdidaktische Visualisierung von Text – und das nicht erst im 20. Jahrhundert, sondern bereits seit ihren Etablierungsbestrebungen als universitäres Lehrfach im frühen 19. Jahrhundert.

2 | Vgl. Deri 1912, S. 17 f.

G rafische R epräsentation

P l ädoyer

für die

oder repräsentative

G rafik ?

Tabelle

Das Diagramm blieb als Komplementärentwurf zum großen Narrativ –  hier im Sinne von Hegels Universalgeschichtsschreibung verstanden – für lange Zeit nur Mittel zum Zweck. Wenn etwa Johann Wolfgang von Goethe als eifriger Betrachter von Geschichtsatlanten und geübter Verfasser von handschriftlichen Kolumnenschemata anlässlich einer Unterhaltung mit seinem längjährigen Mitstreiter und Verbündeten in Sachen klassizistischer Schönheitsdoktrin, Johann Heinrich Meyer, am 28. August 1811 Überlegungen darüber anstellt, wie man die Kunstgeschichte ins Tabellenformat überführen könnte, dann ging es primär darum, sich ein besseres, das heißt synchronop­tisches Bild von der Vergangenheit zu machen.3 Wie bereits im Jahr zuvor hatte Goethe auch in diesem Sommer Gabriel Gottfried Bredows Weltgeschichte in Tabellen nebst einer tabellarischen Übersicht der Litterärgeschichte (1801) zur traditionellen Kur nach Karlsbad mitgenommen.4 Bredows Tabellen, deren dritte Ausgabe Goethe nach der Drucklegung 1810 erstanden hatte, sollten zusammen mit einer 1812 von Wilhelm von Humboldt erbetenen geografischen »Sprachcharte« und Le Sages Atlas historique, généalogique, chronologique et géographique (1807) den Grundstock einer »compendiarischen und tabellarischen Reisebibliothek« bilden, die sich der vielbeschäftigte Geheimrat für längere auswärtige Aufenthalte zusammenzustellen gedachte.5 Im Sommer 1812 begann Goethe dann die Bredow’schen Tabellen unter Mithilfe von Meyer zu ergänzen, indem die Geschichte der Malerei und Skulptur an den Rand der Aufstellung hinzugeschrieben wurde.6 Nach dem Ankleben von breiten Streifen für die noch zu ergänzenden Informationen wurde ein Kalligraf beauftragt, die kunsthistorischen Daten vom mythischen Daidalos bis ins Jahr 1648 einzutragen.7 Auf diese »synchronistischen Tabellen« griff Goethe später gern zurück  – dies sogar zu »großer Förderung«, während er Meyers Manuskriptentwurf 3 | Vgl. Goethe 1891, S. 230. 4 | Vgl. Tagebucheintrag vom 29.7.1810, in: Goethe 1891, S. 143. 5 | Vgl. Goethe in einem Brief an Wilhelm von Humboldt vom 31.8.1812, in: Goethe 1900, S. 84. 6 | Vgl. ebd. 7 | Vgl. Meyer 1974, S. 10.

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Abb. 2: Heinrich Meyer, Uebersicht der Geschichte der Kunst bei den Griechen […], Dresden 1826, Taf. A

zur Geschichte der Kunst kopierte.8 Als dann derselbe »Kunschtmeyer« eineinhalb Jahrzehnte später, 1826, selbst eine tabellarische Darstellung zur antiken Kunst vorlegte, war Goethe hellauf begeistert. Bredows thematisch in »Geschichte« und »Literatur« gegliederte und hintereinandergereihte Übersichten waren nun auf einem Blatt nebeneinander zusammengeführt, so dass sich zeitparallele Vorgänge in Politik, Wissenschaft und Kunst besser vergegenwärtigen ließen. »Wie erquickend und tröstlich ist es«, warb Goethe für die Publikation, »die Resultate nicht nur gezogen, sondern auch das Einzelne im Besondern ausgesprochen zu finden, was ich mir selbst, obgleich nur im Allgemeinen und Unzulänglichen, eine lange Reihe von Jahren her auszubilden getrachtet hatte.«9 Diese Uebersicht der Geschichte der Kunst bei den Griechen, deren bekannteste Werke und Meister, so wie die noch vorhandenen und darauf Bezug habenden Denkmale. Nebst den gleichzeitigen Weltbegebenheiten und den wichtigsten Erscheinungen im Gebiete der Wissenschaften, Literatur und Poesie, so der vollständige Titel von Meyers Tabellenwerk, 8 | Vgl. Goethe in einem Brief an Heinrich Meyer vom 10.11.1812, in: Goethe 1900, S. 128; Holtzhauer 1974, S. 9. 9 | Goethe 1826, S. 183.

G rafische R epräsentation

oder repräsentative

G rafik ?

besteht aus fünf alphabetisch nummerierten Kupferdrucken und einem verzierten Titelblatt (Abb. 2). Den Druck besorgte die Kammingsche Buchdruckerei in Dresden; die renommierte Walthersche Hofbuchhandlung  – mit einem Stammhaus in eben dieser Stadt und Niederlassungen in Leipzig, Warschau und Prag  – vertrieb das Werk. Die Ueber­sicht ist mit ihrer Kolumnenbildung spiegelsymmetrisch angelegt. Mittig wird die Aufstellung von der »Zeitrechnung nach Olympia« durchzogen, flankiert von jeweils zwei konzeptuell getrennten Großrubriken: »Politische Geschichte« und »Bilder und Bildwerke« links sowie »Maler und Gemälde« und »Geschichte der Wissenschaften, Literatur und Poesie« rechts der Zeitachse. Zwischen diesen paarweise angeordneten Kategorien ist eine vertikale Zeile eingezogen, um einerseits künstlerische Errungenschaften und andererseits stilistische Entwicklungen zu benennen. Anders als die gebundene Ausgabe, die man als Folioband bequem durchblättern kann, musste Goethe, um die in seinem Blauen Zimmer als Rollbild an zwei Holzstäben aufgehängte Tabelle angemessen studieren zu können, auf Zehenspitzen steigen oder sich tief bücken. In ihrer »ganzen intentionirten Länge« überragte die auf Leinen aufgezogene fünfteilige Uebersicht mit den Maßen von 185 ∑ 51 cm den betagten Kunstpapst um Handbreite.10 Der körperliche Einsatz beim Tabellenstudium war aufmerksamkeitsfördernd und kam Goethe, der bevorzugt am Stehpult schrieb, entgegen. Noch am selben Tag, an dem sich Goethe aktiv in Meyers Uebersicht zu vertiefen begann, fasste er seine Eindrücke in einem wohlüberlegten Schreiben zusammen. Der Brief war an seinen kunsttheoretischen Gegenspieler, Sulpiz Boisserée, gerichtet, der Goethe ungeachtet ihrer ressentimentbehafteten Freundschaft einen Besuch in Weimar abgestattet hatte: »Es thut mir leid, daß seine [Meyers] Tabelle zur Kunstgeschichte bis auf Alexander den Großen nicht zu Ihrer Zeit schon an meiner Wand hing. Für wahre Kunstfreunde ist es ein großes Geschenk, eine vierzigjährige Arbeit, die uns aus vieler Verwirrung heraushilft.«11 Goethe lobte Meyers Lebenswerk nicht nur, er verteidigte es präventiv gegen 10 | Vgl. ebd., S. 182. Zu Goethes Körpergröße von 172,4 Zentimetern im Jahr 1824 vgl. Hesse 1997, S. 80. 11 | Goethe in einem Brief an Sulpiz Boisserée vom 27.6.1826, in: Goethe 1907, S. 73.

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jede Art von Kritik, indem er auf sein untrügliches, an guten ­Weinen geschultes Geschmacksurteil verwies und damit auch noch eine subtile Spitze gegen Boisserées Kunstverständnis richtete, das ihm ohnehin stets »höchstmerkwürdig« erschienen war. Um sich seines Urteils ganz sicher zu sein, betrachtete Goethe nach dem Abfassen des Briefes die Meyer’sche Tabelle der Kunstgeschichte noch einmal näher. Anschließend nahm er entspannt ein Bad.12 Goethes Empfehlungsschreiben an Boisserée blieb  – trotz aller Berechtigung  – ohne nachhaltige Folgen.13 Das Schreiben reichte nicht hin, um aus der Uebersicht anwendungsorientierte Konsequenzen für eine erweiterte Form der Kunstgeschichtsschreibung zu ziehen und neue methodische Impulse zu setzen. Gleichwohl lässt die Meyer’sche Aufstellung mit ihren markanten Leerstellen und der Option für spätere Ergänzungen in der Rubrik »Maler und Gemälde« doch eine diagrammatische Tendenz zur Denarratisierung erkennen, wie sie generell Tabellenwerken eigen ist. Diese Tendenz wird einmal mehr durch die Tatsache bekräftigt, dass Meyer seine umfassende Abhandlung zur Geschichte der bildenden Künste bei den Griechen von ihrem Ursprunge bis zum höchsten Flor, die 1824 in Dresden erschienen war und ohne Anmerkungen und Register bereits über 300 Textseiten umfasste, in der Uebersicht auf fünf Foliobögen komprimierte. Goethe war zeitlebens ein großer Freund von Tabellen zu allen Gebieten des Wissens. So hatte er sich einmal ein ganzes Zimmer mit selbst erstellten botanischen Tabellen, auf Lateinisch und Deutsch, tapezieren lassen, damit er den Inhalt auswendig lernen konnte, indem er immer wieder an den Wänden entlangschritt. Ein anderes Zimmer war mehrere Jahre lang mit chronologischen Tabellen zu seinen eigenen Arbeiten ausgekleidet. Beide Räume wurden später weiß getüncht, eine Fehlentscheidung, wie Goethe im Nachhinein bedauerte. Denn Listen und Aufstellungen setzte er als »wirksames Hilfsmittel zum Lernen« ein – sowohl in jungen Jahren als auch im hohen Alter.14 Ende 1827, ein Jahr nach der Veröffentlichung von Meyers Uebersicht, ließ sich Goethe den soeben erschienenen Tabular and Proportional 12 | Vgl. Goethe 1899, S. 209. 13 | Zur Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte der Meyer’schen Tabelle vgl. Rößler 2014. 14 | Vgl. Soret 1929, S. 471.

G rafische R epräsentation

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G rafik ?

Abb. 3: Rekonstruktion von Goethes Schlafzimmer 1827 mit einer Tabelle zur Geologie von Henry de la Beche und Goethes Tabelle zur Tonlehre

View of the Superior, Supermedial and Medial Rocks des englischen Geologen Henry de la Beche in seinem Schlafzimmer aufhängen und stellte dieser imposanten Übersicht mit unverkennbarem Altersstolz seine eigene Tabelle zur Tonlehre (1810) gegenüber, die er zu diesem Zweck von seinem Schreiber Johann John ins Großformat hatte übertragen lassen (Abb. 3). Beide Schautafeln waren über dem Waschtisch angebracht, so dass die tägliche Toilette zum Bildungserlebnis der besonderen Art wurde: anschaulich, pointiert und dennoch wortkarg.

N arr ativ

und

D iagr amm

Die Geschichtsschreibung der Kunst war von Anfang an als Geschichte im doppelten Wortsinn gedacht: als Erzählung, im Sinne von Aufzählung, und als Erklärung, im Sinne von Beweisführung.

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Johann Joachim Winckelmann bezog sich bei seinem Versuch, ein erstes »Lehrgebäude« für die Kunstgeschichte aufzustellen, ausdrücklich auf die Bedeutung von Explikation, die das Wort »Geschichte« in der griechischen Sprache besaß. Winckelmanns Geschichte der Kunst des Altertums (1764) war deshalb nicht als »bloße Erzählung der Zeitfolge und der Veränderungen in derselben« angelegt.15 Vielmehr ging es bei seinem Versuch einer Wesensbestimmung der Kunst auch um Begründungs- und Handlungszusammenhänge im kulturellen Kontext. Das Modell einer textbasierten Kunst- und Stilgeschichte, das ­Winckelmann vorgelegt hatte, war nicht nur für Goethe verpflichtend. Es blieb über Jahrhunderte hinweg mustergültig. Jeder Versuch, hier innovativ gegenzusteuern, war zum Scheitern verurteilt. So mündeten die Bemühungen des französischen Designprofessors Joseph Gauthier, eine populärwissenschaftliche Kunstgeschichte mit wenig Text aber vielen Diagrammen, Tabellen und Illustrationen vorzulegen, zwar 1911 in die Publikation Graphique d’histoire de l’art, die 1939 neu aufgelegt wurde, doch blieben beide Ausgaben ohne einschlägige Rezeption.16 Gauthiers Buch konnte es nicht im Entferntesten mit einer Kunstgeschichtsschreibung in der wirkmächtigen Tradition von Winckelmann aufnehmen. Dennoch ist es gerade diese von Fachhistorikern wenig beachtete Veröffentlichung, die für das 20. Jahrhundert insofern richtungsweisend werden sollte, als sie durchgängig mit einer methodisch angelegten »netteté schématique«, also einem schematisierenden Ordnungssinn, zu argumentieren versucht. Bis Diagramme als Werkzeug kunsthistorischen Denkens vermehrt zum Einsatz kamen, bedurfte es anderer sozioökonomischer Rahmenbedingungen, als sie einst Goethe oder später Gauthier vorgefunden hatten. Gemeint ist die tief greifende gesellschaftliche Umgestaltung durch den Ausbau des tertiären Sektors im 19. Jahrhundert, vor allem aber der zunehmende Globalisierungsdruck im Laufe des 20. Jahrhunderts, beides wissenschaftsexterne Entwicklungen, die das allgemeine Bewusstsein für grafische Repräsentationen schärften.17 15 | Winckelmann 1972, S. 9. 16 | Vgl. Gauthier 1911. 17 | Zur Bürokratisierung im 19. Jahrhundert vgl. Segelken 2010.

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D as D iagr amm

als

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G rafik ?

F orschungsgegenstand

Genau in die Zeit des letzten großen Globalisierungsschubs, der durch den Fall der Berliner Mauer ausgelöst wurde, fällt der visuelle Imperativ des pictorial turn (W.J.T. Mitchell) und des iconic turn (Gottfried Boehm). Doch trifft das bildanalytische Diskursfeld nicht den Zeitgeist der Kunst, so wenig wie es die epistemologische Krise der Kunstwissenschaft Ende des 20. Jahrhunderts mitreflektiert, die durch die lose Formierung einer sezessionistischen »Bildwissenschaft« ausgelöst worden war. 1998 erfuhr dann der iconic turn eine neue Wendung.18 Hatte Gottfried Boehm unter der ikonischen Wende noch eine Art des Philosophierens begriffen, so verstand Horst Bredekamp darunter jetzt eine Gegenstandserweiterung, die als strategische Antwort auf die Herausforderung einer als renegat-renitent empfundenen Bildwissenschaft Marburger Prägung aufgefasst werden kann. Bredekamps Initiative »Das Technisches Bild« machte deutlich, in welche Richtung sich der Gegenstand Bild ausbauen ließ.19 Als eine erweiterte Form des Bildes wurden jetzt auch Diagramme verstanden. Aufgrund ihrer Ikonizität ließen sie sich dem Kanon der wissenschaftlichen Bilder hinzufügen  – und nicht etwa der Literatur.20 Das Paradebeispiel, das Bredekamp dabei vor Augen schwebte, schien ihm Recht zu geben. Das berühmte Evolutionsdiagramm aus Charles Darwins Hauptwerk On the Origin of Species (1859) ist, indem es die Grundprinzipien der natürlichen Auslese anhand einer filigranen Fächerstruktur veranschaulicht, bemerkenswert textfrei gestaltet.21 Mithin schienen die textuellen Elemente von Diagrammen vernachlässigbar zu sein, schließlich besteht in der Kunstwissenschaft die Tendenz, vorhandene Analysemethoden auf Diagramme zu applizieren. Aber eine solche hermeneutische Herangehensweise kann eines nicht leisten, nämlich zu erklären, was Diagramme mit Blick auf ihren Textanteil vermitteln. Seit der Jahrtausendwende zeichnet sich eine deutliche Tendenz zur »Diagrammatologie« in der Kunsthistorik ab. Der Begriff selbst ist verhältnismäßig jung. Ins größere bildwissenschaftliche 18 | Vgl. Bredekamp 1998. 19 | Vgl. Bredekamp und Schneider 2008. 20 | Vgl. Bredekamp 2004a, S. 18. 21 | Vgl. Bredekamp 2005.

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Bewusstsein drang er durch W.J.T. Mitchell, der 1981 programmatisch einen Aufsatz so betitelte. In diesem Text verteidigte Mitchell die Interpretation von formalen Eigenschaften in der Literatur und »anderen Künsten« und sprach dem Diagramm als Analyse-Instrument eine relevante Deutungsfunktion zu. Mit »Diagrammatologie« waren daher jene Studien gemeint, die sich systematisch mit den Beziehungen zwischen einzelnen Elementen innerhalb grafischer Konstruktionen in Hinblick auf deren Repräsentation und Interpretation auseinandersetzen.22 Für eine derartige Aufgabenstellung, die Mitchell auf die Literaturwissenschaft gemünzt hatte, scheint die Kunstwissenschaft geradezu prädestiniert zu sein. Tatsächlich wird die diagrammatologische Forschung von einer neuen Generation von Forschern vorangetrieben, der es auf überzeugende Weise gelungen ist, älteren diagrammatischen Denk- und Ordnungsfiguren aktuelle Frage- und Problemstellungen abzugewinnen.23 Bei diesen Ansätzen verdichtet sich die Tendenz zur methodisch fundierten Auseinandersetzung mit abstrakten Repräsentationsformen aus allen Jahrhunderten, eine Tendenz, die sich bereits seit den fünfziger Jahren anhand singulärer Rechercheprojekte abzuzeichnen begann.24 Vor diesem wissenschaftshistorischen Hintergrund konnte das Diagramm als Untersuchungsgegenstand reüssieren. Einer der Höhepunkte dieser Entwicklung stellte 2009 die Einrichtung einer Juniorprofessur für Ästhetik des Wissens in Jena dar. Sie war Ausdruck einer wissenschaftspolitischen Ambition, die Diagrammatologie institutionell zu verankern. Auch wenn es auf den ersten Blick so scheinen mag, so ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Diagramm kein Phänomen der letzten fünfzehn Jahre und ebenso wenig eine rein 22 | Vgl. Mitchell 1981, S. 622 f.; und aus philosophischer Sicht: Krämer 2016. 23 | Vgl. Bonhoff 1993; Böhmler 1999; Gormans 2000; Bogen und T­ hürlemann 2003; Schmidt-Burkhardt 2003; Wender 2003; Bogen 2005; Schmidt-­B urkhardt 2005b; Schneider 2005; Maldonado 2006; Müller 2008; August 2009; Heck 2009a; Heck 2009b; Siegel 2009; Garcia 2010; Schmidt-­B urkhardt 2011b; Leeb 2012b; Bauer 2013; Boschung und Jachmann 2013; Hönes et al. 2013; Rottmann 2013; Thiel 2013; Cortjaens und Heck 2014; Dell 2016; Schneider et al. 2016; Ulama 2016. 24 | Vgl. Ong 1958; Ong 1959; Legner 1974; Ferguson 1987.

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deutsche Domäne.25 Die offizielle Erhebung des Diagramms in den kunsthistorischen Bilderkanon stellt nur eine späte Konsequenz von älteren Bemühungen dar, grafische Repräsentationen, sowohl als Medium der Reflexion als auch der Theoriebildung, ernst zu nehmen. Im 20. Jahrhundert war der Kunstbegriff längst gesprengt worden: Aby Warburg in den zwanziger Jahren, Nelson Goodman in den fünfziger und sechziger Jahren, Ernst Gombrich und Richard Kostelanetz in den siebziger Jahren, W.J.T. Mitchell in den achtziger oder James Elkins in den neunziger Jahren wiesen mit Nachdruck auf die potenziellen Vorteile einer »äußerlich anspruchslosen Kunst« (Felix Auerbach) wie die der Wissensgrafik hin und zeigten deren vielfältige Anwendungsmöglichkeiten in den Geisteswissenschaften auf. Ihr Plädoyer für die Diagrammatisierung des Wissens stieß allerdings auf wenig Gehör. Zwar kommt das Diagramm im Laufe des 20. Jahrhunderts verstärkt zum Einsatz, eine konsequente Durchvisualisierung der Geschichtsschreibung fand trotzdem nicht statt.26 Eine große Ausnahme bildet John Onians’ anschaulicher Zugang zu den Verbreitungsgebieten und Bewegungsformen der bildenden Kunst. Sein Atlas of World Art (2004), der unter anderem Titel, aber inhaltlich unverändert 2008 neu aufgelegt wurde, ist der genuine Versuch, unter den Bedingungen der Globalisierung eine Geschichte der Weltkunst anhand von Landkarten nachzuzeichnen.27 Diese farbintensiven Karten bilden die Quintessenz einer paritätischen Darstellung der Kunstgeografie, die den Begleittext optisch in den Hintergrund treten lässt. Mochte ein solches Unterfangen wichtige Anregungen den Geschichtsatlanten verdanken, Onians’ grundlegendes Bewusstsein für die epistemischen Vorteile der ­Wissenskartierung hatte sein Lehrer Ernst Gombrich geschaffen. Nach dem Vorbild der Naturwissenschaften argumentierte ­Gombrich entschieden für den Einsatz einer breiten Palette von diagrammatischen Darstellungsmodi in den Geisteswissenschaften. Seiner Ansicht nach lag der besondere Nutzen von Diagrammen darin, dass sich 25 | Einen systematisierenden Überblick der jüngsten Entwicklungen liefert ­B ucher 2008. 26 | Ansätze dazu finden sich allenfalls im populärwissenschaftlichen Bereich: vgl. Bocola 2001. 27 | Vgl. Onians 2004; Onians 2008.

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Abb. 4: Georges Mathieu, Tentative de situation par rapport aux coordonnées Formalisme / Expressivité pour l’exposition »Véhémences confrontées«, 1951 Abb. 5: Jean Clair, Art en France. Une nouvelle génération, Paris 1972, Umschlag (Detail)

ihre Darstellungsform leicht mit anderen Sinnbildsystemen wie etwa dem Baum kombinieren ließ, so dass sachlich-logische Beziehungen ohne großen Kommentar in räumlichen ­Zusammenhängen aufgezeigt werden konnten. Als Beispiel einer erfolgreichen Umcodierung von Informationen für den Anschauungsunterricht hob Gombrich die »Wiener Methode der Bildstatistik« von Otto Neurath hervor.28 Favorisiert wurde die Erweiterung des wissenschaftlichen Wissens zugunsten der Visualität. Neben den Diskursen sollten sich auch »Viskurse« (Karin Knorr-Cetina) bilden. Dennoch übten die Naturwissenschaften, die Gombrich für den Einsatz von grafischen Repräsentationen plädieren ließen, bei der visuellen Evidenzgenerierung innerhalb der Kunstwissenschaft nur eine geringe bzw. mittelbare Vorbildfunktion aus. Vielmehr stellte die Historiografie als Mutterdisziplin der Kunstgeschichte synchronoptische Schaubilder bereit, die nur adaptiert zu werden brauchten. Bei diesem Diagrammtypus, der thematisch gegliedert Ver­änderungen über eine große Zeitspanne sichtbar macht, handelt es sich nicht nur um eine der frühesten Formen grafischer Visualisierungen überhaupt, er wird auch am häufigsten in der Kunstwissenschaft verwendet. 28 | Vgl. Gombrich 1984a, S. 146.

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Doch nicht nur die Geschichtswissenschaft, auch die Künstler haben als aktive Diagrammproduzenten im 20. Jahrhundert immer wieder mustergültige Anschauungsbeispiele geliefert. Ihre Schaubilder, die in distinkter Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Diagrammen entstanden sind, wirkten auf die Kunstgeschichtsschreibung in zweierlei Hinsicht zurück: Zum einen weckten sie das Interesse an diesen Visualisierungsformen, zum anderen regten sie zum Diagrammatisieren historiografischen Wissens an. So wirkte etwa das Koordinatenschema des tachistischen Malers Georges Mathieu von 1951 in dem Kreisdiagramm des Pariser Kunsthistorikers Jean Clair nach, das rund zwanzig Jahre später entstanden ist (Abb. 4–5).29 Hier wie dort wurde mithilfe der Koordinatenachsen eine kategoriale Ausdifferenzierung unterschiedlicher Künstlergenerationen vorgenommen. Fest steht aber auch, dass jedes Schema für sich betrachtet nicht erkennen lässt, ob hier ein Künstler oder ein Historiker am Werk war. Kunst und Wissenschaft konvergieren im Feld des Diagrammatischen. Der Übergang von der repräsentativen Grafik zur grafischen Repräsentation ist fließend.

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Auch wenn die kunstwissenschaftlichen Diagrammstudien der letzten Jahre explizit innerdisziplinären Fragestellungen nachgingen, implizit reagierten sie doch alle auf die postmoderne Verunsicherung, die durch die neue Unübersichtlichkeit von Globalisierungsprozessen ausgelöst worden war. Zu dieser Unübersichtlichkeit hatte auch das World Wide Web beigetragen. Angesichts riesiger Datenmengen, die für jede Hypothesenbildung, für jedes Theoriemodell eine ungeahnte Herausforderung darstellen, suggerierte die Auseinandersetzung mit dem Diagramm jenen fest umrissenen Überblick, der durch die beschleunigten Veränderungen in der Welt des Wissens zunehmend in Frage gestellt wurde.30 Hinter dem gesteigerten Interesse am Diagramm verbarg sich das unausgesprochene Bedürfnis nach Ordnung im Modus faktischer Sichtbarkeit. 29 | Zu Clair vgl. Schmidt-Burkhardt 2005a, S. 70–72. 30 | Vgl. Dodge und Kitchin 2001.

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»Ordo« ist ein theologisch-philosophisches Schlüsselwort. Es beschreibt eine längst vergangene Welt als ein geordnetes Ganzes, in dem jeder Mensch seinen Ort und jedes Ding seinen Platz hatte.31 Ob mit »ordo« ein sozialer Wunsch oder eine historische Wirklichkeit gemeint ist, soll uns hier nicht interessieren. Vielmehr gilt es festzuhalten, dass die mit dem Begriff evozierte sinnstiftende Einheit sich spätestens mit der Moderne in unübersichtliche Vielfalt aufgelöst hat. Angesichts der Ausdifferenzierung in den hochkomplexen Wissenschaften wird es immer schwieriger, einen Überblick zu bewahren. Um der drohenden Subversion des Wissens entgegenzuwirken, ist eine Neuordnung der Dinge unerlässlich. Die kontinuierliche Umordnung ergibt sich quasi aus der Halbwertszeit des Wissens von selbst. Vorübergehende Unordnung wiederum schafft jenes produktive Chaos, das neue Einsichten zulässt. Diese zeitdiagnostischen Einsichten veranlassten Steffen Bogen und Felix Thürlemann 2003 zur Proklamation des »diagrammatic turn«.32 Dabei ist ihre eingängige Formel, die aus dem Geist der neunziger Jahre ihre nachhaltige Kraft zieht, keine neue Prägung. Erstmals taucht der Begriff in einem biografischen Artikel über den britischen Regierungsbeamten Gladwyn Jebb auf, der ein sicheres Gespür für organisatorische Verbesserungen hatte. Mit der Rede vom »diagrammatic turn of mind« war zunächst gar kein Kuhn’scher Paradigmenwechsel, gar keine transdisziplinäre Umwälzung gemeint, als welche die diagrammatische Wende heute verstanden werden könnte.33 In ihrem Ursprungskontext bezeichnet die Formulierung eine Art von diagrammatischer Geisteshaltung bzw. ordnungsbetonter Denkweise. Doch fehlte dieser Formel, die nach dem Zweiten Weltkrieg gefunden wurde, noch der programmatische Impetus, mit dem man fünfzig Jahre später auf fachinterne Wende-Diskurse der Kunstwissenschaft – gemeint ist der pictorial und der iconic turn  – reagieren konnte. In dem kunsthistorischen Verwendungskontext des Begriffs fällt auf, dass er offensiv gebraucht wird. Es ging um nichts Geringeres, als 31 | Vgl. Meinhardt 1984. 32 | Bogen und Thürlemann 2003, S. 3. 33 | Current Biography 1948, S. 25. Wenn heute von »diagrammatic thinking« die Rede ist, dann geschieht dies mit Absicherung durch Peirce und Deleuze. Vgl. exemplarisch Gerner 2010.

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einen Impuls für eine diagrammatische Theoriebildung in der Kunstwissenschaft zu setzen und damit die institutionelle Implementierung der Diagrammatik als wissenschaftlicher Praxis voranzutreiben. Den Anlass dazu gaben die digitalen Medien, in denen Diagramme eine immer größere Rolle zu spielen begannen. Nachdem auch im Design grafischer Benutzeroberflächen diagrammatische Qualitäten erkannt werden konnten, schienen alle Voraussetzungen für einen diagrammatic turn gegeben zu sein. Zu allem Unbehagen, das seit geraumer Zeit der Begriff »turn« auslöst, da sich der explizite Paradigmenwechsel durch den inflationären Gebrauch der Wende-Rhetorik seit nunmehr vierzig Jahren längst erschöpft hat, kommt hinzu, dass sich die turn-Proklamationen inzwischen als individuelle Interessen oder kollektive Forschungsmoden dekuvrieren lassen, wenn die Lancierung des Wende-Begriffs nicht gar aus Gründen einer strategischen Positionierung im Wettstreit um die akademische Vorreiterrolle betrieben wird. Letztlich muss die Behauptung eines Paradigmenwechsels als innerfachliche Ausdifferenzierung der jeweiligen Wissenschaft verstanden werden. Unklar bleibt freilich, welche Geltungsansprüche damit verfolgt werden. Über den diagrammatic turn wurde bislang weder fachintern noch interdisziplinär diskutiert. Dabei unterstellt die emphatische Ausstrahlungskraft dieses Begriffs so etwas wie ein transdisziplinäres Diagrammparadigma. Gewiss, die Bild- und Kunstgeschichte kennt das Diagramm seit langem, die vergleichende Literaturwissenschaft hat sich ihm angenähert, die Philosophie unterzog das Diagramm einer neuerlichen Revision, und die Historiografie hat für ihren Bereich einen fulminanten Vorstoß unternommen.34 Dabei tut jede Disziplin so, als hätte sich der diagrammatic turn bereits durchgesetzt. Heute kann die »diagrammatische Wende« nicht annähernd die intellektuelle Wirkungsmacht erzielen wie der linguistic turn in den siebziger Jahren. Wenn es tatsächlich die Wende zum Diagramm gibt, die der Begriff suggeriert, dann kommen nicht nur Oberflächenphänomene ins Spiel, sondern tragende Voraussetzungen unserer Erkenntnis und Erkenntnisproduktion. Dazu gehört auch, dass das Diagramm die Bildkritik des linguistic turn sowie die Sprachskepsis des 34 | Vgl. Bonhoff 1993; Moretti 2009; Gehring et al. 1992; Krämer 2009; Krämer 2014; Rosenberg und Grafton 2015.

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pictorial und iconic turn überwindet. Interessant wird der diagrammatic turn, wenn man ihn als These begreift: Er entschärft die Sprengsätze konkurrierender (theoretischer) turns, indem er diese in einer Großsynthese zusammenführt und neutralisiert. Hegelianisch gesprochen, werden die kopernikanischen Wenden in den Geisteswissenschaften »aufgehoben«. Aus meiner Sicht lässt sich die diagrammatische Wende nur so – eben als Aufhebungsakt – sinnvoll begreifen. In diesem Aufhebungsakt ist zugleich ein Versöhnungsmotiv angelegt. Texte und Bilder verwandeln sich in der diagrammatischen Wende einander an, indem sie – medientheoretisch gesehen – etwas Drittes bilden. Das Diagramm bietet aufgrund seines inter- bzw. transmediären Status jene reflexive Gemengelage, die neue Einsichten hervorbringen kann. Es vermag daher auch zwei Seiten zugleich zu bedienen: die bilderlosen Denker wie die visuell orientierten Erkenntnissuchenden. In seiner Fähigkeit, durch Kombination ein mediales Drittes zu erzeugen, generiert das Diagramm seine eigengesetzlich geschaffene Semantik. Darauf beruht der epistemologische Mehrwert des Diagramms. Freilich geht bei der Zusammenführung von textuellen und ikonischen Elementen auch etwas verloren. Auf der Verlustseite wäre zu verbuchen, dass Text und Bild im Zuge ihrer Diagrammwerdung auf ihren jeweiligen Hoheitsanspruch, auf sprachlichen Logos bzw. visuelle Logik, verzichten müssen, um Gestaltungsmöglichkeiten für eine Art diagrammatische Vernunft zuzulassen.

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Der Einsatz des mit grafischen Mitteln hergestellten Schaubildes in der Kunsthistorik ist eng mit der Verwissenschaftlichung des Faches verknüpft. Die Aufgabe des Diagramms im 19. Jahrhundert bestand darin, größere historische Zusammenhänge textbegleitend zu visualisieren. Goethes Interesse an tabellarischen Aufstellungen ist dafür symptomatisch. Gefragt waren diagrammatische Tableaus, die mittels räumlicher Relationen Veränderungen über eine große Zeitspanne sichtbar machten. Diese Überblicksdarstellungen trugen dazu bei, ein genaueres Bild von der Vergangenheit mit ihren unterschiedlichen Zäsuren, Epochen, Phasen und Akteuren zu gewinnen.

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Abb. 6: Alfred H. Barr jr., Diagram of Stylistic Evolution from 1890 until 1935, 1936

Infolge der sich ausdifferenzierenden Distinktionslogik, wie sie die Avantgarde im Laufe des 19. Jahrhunderts, vor allem aber im 20. Jahrhundert betrieben hat, wurde das Diagramm für die Kunstwissenschaft zu einem wichtigen Analyse-Instrument, da es half, die unüberschaubare Vielfalt an ästhetischen Phänomenen in den Griff zu bekommen. Nicht zufällig entwickelte sich ein Diagramm, das genau diese Veränderungen im Avantgarde-Gefüge offenlegt, zum einflussreichsten Schaubild des Faches: das Diagram of Stylistic Evolution from 1890 until 1935 (1936) von Alfred H. Barr jr. (Abb. 6). Mit diesem Schaubild legte der amerikanische Museumsmann ein Ablaufschema historischer Prozesse im abstrakten Darstellungsmodus vor. Er vertraute darauf, mit diagrammatischen Mitteln seinem historischen Material analytischen Sinn verleihen zu können.35 Barrs visuelle Argumentation zielte darauf ab, Kunstgeschichte nicht als großes Narrativ zu schildern. Daraus lässt sich die These ableiten, dass Diagramme sinnstiftend betrachtet, aber nie sinnvoll 35 | Vgl. Schmidt-Burkhardt 2005b, S. 114–184.

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vorgelesen werden können. Um beim Beispiel zu bleiben: Liest man Barrs Diagramm, dann ergibt sich daraus eine lose Reihe von Namen und Begriffen, aber kein zusammenhängender Satz. Doch was geht bei der Auflösung der Syntax verloren? Adverbiale Bestimmungen wie »nahe«, »entfernt«, »über« oder »neben« ergeben sich im Diagramm auf eine – das lehren uns die Kognitionswissenschaften – geradezu natürliche Weise (Stichwort: »natural mapping«).36 Anders gesagt, das Diagramm bringt eine Grammatik eigener Ordnung hervor: die Diagrammatik als Regelwerk der operativen Relationalität.37 Die Kausalitätsanmutung einer grafischen Matrix lässt so etwas wie Syntaktizität entstehen. Dabei wird der Ort, als punktuelle Lokalität von Informationen, mithilfe einer narrativen Prozessrationalität zu einem Raum, als Bereich von Handlungen, ausgestaltet.38 Barr ist nicht der erste, der sich für die Diagrammatisierung des Wissens in der Kunstgeschichte stark gemacht hat. Dennoch kann sein nachhaltiger Einfluss nicht hoch genug eingeschätzt werden. Weder vor ihm noch nach ihm ist es einem Kunsthistoriker gelungen, mit einem Diagramm eine ähnliche Wirkkraft zu erzeugen. Der Barr-Effekt in der Kunstwissenschaft besteht darin, Einsichten im Visualisierungsmodus zu erzeugen, statt Wissen durch Deduktionen zu vermehren. Die Visualisierung ist das Gegenteil von sinnlicher Gewissheit; sie nimmt ins Visier, was sich dem direkten Sehen entzieht.39 Der Erkenntnisgrad eines Diagramms beruht dabei einerseits auf der Präzision der zusammengestellten Informationen, also semantischen Qualitäten, und andererseits auf dem formalen Aufbau von Beziehungen, also subsemantischen Qualitäten. Barr hat, das belegen die Quellen, auf beide Aspekte gleichviel Wert gelegt. Und doch war es vor allem die ausgewogene Komposition seines Flussdiagramms, die bestach, so dass seine grafische Repräsentation immer wieder als repräsentative Grafik, im Sinne von Designkunst, 36 | Vgl. Tversky 1995. Zu den räumlichen Ordnungsprinzipien der topologischen Repräsentation vgl. Williats 1997, S. 70–89. 37 | Vgl. Krämer 2014; Krämer 2009; Weigel 2008. 38 | Vgl. Römer 2000, S. 159, der auf Certeau 1980, S. 218, rekurriert. 39 | Zur diagrammatischen Sichtbarmachung des Unsichtbaren vgl. Gormans 2000, S. 53; zum Diagramm als Bildtypus des indirekten Sehens vgl. Bexte 2007, S. 326.

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missverstanden werden konnte.40 W.J.T. Mitchell gehört als Literaturund Kunstwissenschaftler zu jenen Theoretikern, die versucht haben, das Barr-Chart aus dieser »autonomen Ecke« der Ästhetik herauszuholen, indem er es – mit implizitem Rekurs auf Gilles Deleuze und Michel Foucault – als »visuelle Maschine« beschrieb, die Sprache produziert.41 Dadurch aber, dass die Sprache wieder an Bedeutung gewinnt, wird die emanzipatorische Stoßrichtung zunichte gemacht, die ursprünglich mit dem diagrammatischen Verfahren verfolgt worden war. Trotz dieser Einschränkung: Barrs Schaubild hatte im Dienst einer Reformdidaktik längst Signalcharakter erlangt. Programmatisch auf dem Umschlag des Ausstellungskatalogs Cubism and Abstract Art abgedruckt, verlor die Winckelmann’sche Auffassung, wonach Stilgeschichte aus Begründungstexten bestehen müsse, an Brisanz. Seit Barr wurde es unter den Historikern und Theoretikern zur Regel, ihre jeweilige Sichtweise auf die Entwicklung der Avantgarde durch Diagramme zu festigen. Diese Visualisierungen unterscheiden sich in ihrem Denkstil, in Inhalt, Form und Absicht. Ob als Forschungspraktik, Konzeptarbeit oder Bilddidaktik eingesetzt, gemeinsam ist den diagrammatischen Darstellungen das Bemühen um eine Evidenz, die dem Text keineswegs nachstehen soll. Man muss die Bücher nicht mehr aufblättern, die Schriften nicht mehr lesen, um deren These zu verstehen. Das Diagramm hat trotz seines vielfältigen Einsatzes und Gebrauchs die Geschichtsschreibung weder verdrängt noch ersetzt. Vielmehr tritt es als visuelle Alternative zum großen Narrativ hinzu. Es ist nicht illustratives Beiwerk, sondern mediale Erweiterung des Buchs.42 Kunsthistorische Diagramme existieren nicht als Argumentation an sich. Die Substanz der schriftlichen Aussage kommt ohne sie aus. Klar ist freilich auch, dass die Kontextabhängigkeit des Diagramms keine 40 | Zur ästhetischen Leseweise des Barr-Charts vgl. Tufte 2006, S. 62–68; zum anonymen Designdiagramm versus signierte Diagrammkunst vgl. Kap. »Denkstil und Stilformen« in diesem Buch, S. 71–92. 41 | »Barrs Diagramm ist wie alle abstrakten Gemälde eine visuelle Maschine, die Sprache erzeugt.« Mitchell 1994, S. 234. 42 | In Ausnahmefällen wurde das Diagramm auch als methodisches Beweismittel eingesetzt, wie ein kurioses Beispiel aus der Mittelalterforschung zeigt. Vgl. Korbel 1983.

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Statusminderung bedeutet, so wenig wie sich seine Bedeutung auf diese Abhängigkeit reduzieren lässt. Aber welche maßgeblichen Veränderungen der Geschichtsschreibung verdanken sich ausschließlich oder zumindest wesentlich der Betrachtung von Diagrammen? Mindestens zwei Antworten sind auf diese Frage denkbar: die Interpretationshoheit des Betrachters und der topologische Ordnungssinn, der sich unterschiedlicher Verfahren bedient. Die Interpretationshoheit beruht auf dem intraaktiven Wahrnehmungsprozess, den das Diagramm beim Betrachter auslöst. Dieser Prozess wird durch die Streuung von Daten und Fakten gelenkt; er entfaltet sich in dem Netz aus Informationen. Der Einsatz von Pfeilen begünstigt zusätzlich die mentale Animation von grafischen Darstellungen. Wie das Bild ist auch das Diagramm nach allen Seiten hin offen; umgekehrt kann es von allen Richtungen her gelesen werden. Das Diagramm bietet viele Einstiegsmöglichkeiten und Pfade. Es gibt kein Leitsystem. Die Orientierung ist nicht zwingend vorgegeben, sondern Ergebnis der Lektüre. Jeder Betrachter wählt sich einen Ausgangspunkt und erarbeitet sich seinen Weg. Das erkennende Sehen stellt sich bei der Diagrammbetrachtung als analysierendes Sehen ein. Viele Diagramme – allen voran rückgekoppelte Netze, polyperspektivische Kreisschemata oder multilineare Begriffszeichnungen  – verlangen nach einem wachen, beweglichen Auge, das Bedeutung und Struktur nicht allein durch ein striktes Lesen von links nach rechts, von oben nach unten erfasst, sondern sich im formatierten Großraum vorwärts und rückwärts bewegt. Anders als die lineare Fixierung des Textes stellen Blicksprünge neue Zusammenhänge und damit immer wieder neue Einsichten her.43 Die Zirkularität der Leserichtungen setzt einen Denkprozess in Gang, der den Betrachter ermächtigt, eigene Akzente zu setzen. In diesem Sinne gewinnt er die intellektuelle Interpretationshoheit. Es gibt überdies eine Deutungskompetenz, die sich im Bildakt als performative Rezeption gebärdet (Abb. 7). Die Auslegung der schriftbildlichen Imaginationsmatrix wird dabei intuitiv verkörpert. Das Diagramm ermöglicht, um es mit Deleuze zu sagen, ein Denken »entlang affektiver Achsen, also über Affekte« und damit gegen alle Regeln der 43 | Zu den Vorzügen der Blicksprünge, den sogenannten Sakkaden, bei der grafischen Darstellung vgl. Auerbach 1914, S. 4.

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Abb. 7: David Lechner, ohne Titel, 2003

diagrammatischen Vernunft.44 In diesem alogischen Sinn kann der Betrachter das Diagramm als rhetorisch begreifen und sich selbst als dessen ausführendes Organ. Im performativen Akt der Interpretation verflüssigt sich die operative Bildlichkeit, bis die Nachfolgehandlung zur expressiven Pose erstarrt. So authentisch dieser pathetische Ansatz erscheinen mag, er bleibt ein Sonderfall. In der Regel ergibt sich das individuelle Rezeptionsmuster aus der selektiven Kombination von synchron nebeneinander erscheinenden, semiotisch unterschiedlich codierten Informationen. Als Vehikel der Inspiration unterstützt das Diagramm intellektuelle Operationen, die von der Produzentenseite angelegt sind, von der Rezipientenseite jedoch maßgeblich gesteuert werden können. Schaubilder erweisen sich daher als benutzerfreundlich. Das ist auch der Grund, warum die Lektüre von Diagrammen so befriedigt. Im Gegensatz zur Interpretationshoheit, die in die individuelle Kompetenz des Betrachters fällt, stellt der topologische Ordnungssinn ein konstitutives Merkmal des Diagramms dar. Diagramme repräsentieren eine räumliche Ordnung, ja mehr noch, sie schaffen durch 44 | Guattari 1995, S. 115 f.

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Verräumlichung erst Ordnung, wobei Ordnung-Schaffen stets Abbau von Komplexität, also Vereinfachung meint. Vereinfachung kann auf zweierlei Weise geleistet werden: inhaltlich und formal. Im Kontext einer Überfülle an Informationen führt der inhaltliche Reduktionismus zum Verzicht auf redundante Angaben. Nicht die qualifizierte Ausdifferenzierung von Wissen, sondern die kompetente Ausblendung führt zu Erkenntnissen. Erst dann werden Einsichten durch thematische Achsen, zentrale Schnittstellen, dominante Cluster und Leerstellen überhaupt möglich.45 Diese diagrammatischen Infrastrukturen bilden nichts ab, sondern erzeugen ihrerseits ein Operationsfeld, das auf inhaltlicher Konsistenz und visueller Homogenität beruht. Für den formalen Reduktionismus des Diagramms gilt, was George Kubler als »puristische Reduktion des Wissens« beschrieben hat.46 Als diagrammatische Grundregel kann daher gelten, dass die Eindeutigkeit des Wissens sich umgekehrt proportional zum Grad der Ikonizität verhält. Je weniger ikonische Elemente ein Schaubild enthält, desto klarer wird es, je mehr Zeichen es aufweist, desto unbestimmter erscheint es.

45 | Zur intellektuellen Produktivkraft von Leerstellen, Lücken und Informations­ brachen vgl. Dotzler und Schmidgen 2008. 46 | Kubler 1982, S. 193.

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Abb. 8: Alfred H. Barr jr., Italian Painting and Sculpture, 1300–1800, 1940 Abb. 9: Alfred H. Barr jr., Italian Sources of Three Great ­Traditions of European Painting, 1940 Abb. 10: Eric Newton, Diagram, 1956 (Orig. 1941)

Die topologische Ordnung des Diagramms lässt sich auf diametral entgegengesetzte Weise herstellen: Sie ist entweder klassifizierend oder systematisierend (Abb. 4–5).47 Klassifizieren meint Gruppieren. Objekte, Phänomene oder Begriffe werden mit analytischer Trennschärfe in verschiedene Kategorien eingeteilt bzw. ihnen zugeordnet. Das Verbindende kann eine gemeinsame Eigenschaft, Funktion oder Bedeutung sein. Beim Systematisieren werden indessen unterschiedliche Objekte, Phänomene oder Begriffe aufeinander bezogen und in einen übergreifenden Ordnungszusammenhang gestellt. Während das Klassifizieren auf Differenz abzielt, beruht das Systematisieren auf Relationen. Eric Newton, seines Zeichens Kunstkritiker aus England, versuchte 1941 beide Ordnungsverfahren in einem Flussdiagramm miteinander zu kombinieren. Zur Schilderung genealogischer Beziehungen von Giotto bis Picasso ging er über zwei von Barr im Jahr zuvor präsentierte Meisternarrative mit ihrer groben Einteilung nach Schulen hinaus und transformierte sie in ein geografisches System (Abb. 8–10). Newton argumentierte mit teils ausgreifenden Affinitätslinien und wirkungsvollen Punkt- und Strichmustern, um – nach kartografischem Modell – örtliche Besonderheiten zu markieren. Diese Patterns umsäumen die 47 | Vgl. O’Hara 1993.

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wie aus dem Meer der Zeit auftauchenden kreisrunden Namensinseln von ungleicher Größe und Bedeutung. Die Künstler ließen sich nun – zusätzlich zu den Stilverwandtschaften – einzeln oder in Gruppen nach regionalen und nationalen Schulen verorten. Newtons Ansatz war von der Vorstellung beseelt, die Kunstgenealogie und die Kunstgeografie angemessen darstellen zu können.48 Die Maler und Bildhauer wurden nicht nur in Hinblick auf ihre hierarchischen Abstammungsverhältnisse und ihren Einflussradius unterschieden, sondern auch als lokale Größen aufgefasst. Zwischen Ordnung und Ortung besteht ein enger Zusammenhang. Die Ordnung ist an einen Ort gebunden. Erst die Lokalität von Information ermöglicht, von singulären Fakten ausgehend Zusammenhänge im topologischen Raum zu erschließen. Es geht um den Verbund von Faktenkonstellationen, damit die Welt nicht in einzelne Tatsachen zerfällt, wie Ludwig Wittgenstein befand. Der topologische Raum, der die Koexistenzbeziehungen von Daten und Fakten einmal klassifizierend, einmal systematisierend definiert, unterliegt seinerseits einer symbolischen Ordnung. Diese stellt sich beim Diagramm auf geradezu natürliche Weise ein. Durch die Psycholinguistik wissen wir, dass »oben« und »unten«, »links« und »rechts« implizite Werte darstellen. So wird die vertikale Achse zumeist positiv bewertet. Je höher sich etwas darauf befindet, desto besser schneidet es ab. Das gleiche gilt umgekehrt auch: Je tiefer etwas liegt, desto negativer wird es eingestuft.49

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versus bilderloses

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Die historische Konjunktur des Diagramms in der Kunstwissenschaft ist in einen vielschichtigen Prozess eingebettet, der von fachinternen Auseinandersetzungen, von künstlerischen Frage- und Problemstellungen, aber auch von gesellschaftlichen Veränderungen bestimmt wird. Für den entwicklungsgeschichtlich orientierten Zweig des Faches wird der Einsatz des Schaubildes mit dem zunehmenden Evidenzdruck erforderlich, der durch die Ausdifferenzierung des Forschungsgegenstands 48 | Vgl. Newton 1956 4, S. 239 f. 49 | Vgl. Tversky 1995, S. 47.

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wie des Wissens über diesen erzeugt wird. Im Diagramm als generalisierbarem Relationssystem von nicht sichtbaren bzw. abstrakten Zusammenhängen lassen sich Argumentationen verdichten. Durch den Einsatz eines grafischen Modells werden Aussagen getroffen, die über die externe Textreferenz hinausgehen.50 Dabei entsteht jene diagrammatische Explizität, die von der Geschichtsschreibung so nicht geleistet werden kann. Ob das Diagramm als Forschungspraktik vor der Textproduktion, als postfaktische Konzeptarbeit nach der Textproduktion oder als reformdidaktische Visualisierung parallel zur Textproduktion angefertigt worden ist, stets verhilft es dem Text zu einer neuen Lesbarkeit, die zuallererst im »bildenden Sehen« begründet ist.51 Als reines Theorieinstrument wird das Diagramm in der Kunstwissenschaft nur selten gebraucht.52 Stattdessen entstehen immer wieder neue Theorien, die von der Idee beflügelt sind, das Diagramm als echte Alternative zu Bild und Text zu begreifen. Unklar bleibt, ob dabei die visuelle Reflexion oder das bilderlose Denken gefördert werden soll. Während Gombrich es als Vorzug des Diagramms angesehen hatte, komplizierte Sachverhalte, die nur mit einem erheblichen sprachlichen Aufwand erfasst werden können, auf einfache Weise darzustellen, begriff W.J.T. Mitchell das Diagramm als den eigentlichen Motor zur Verbalisierung. In dem einen Fall sollte Sprache vermieden, in dem anderen Fall erst erzeugt werden. In dieser kontradiktorischen Beurteilung spiegelt sich der ambivalente Status des Diagramms als »epistemisches Ding« (Hans-Jörg Rheinberger) der Kunstwissenschaft wider.

50 | Vgl. Reichle und Siegel 2008. 51 | Vgl. Heck 2009a. 52 | Vgl. Unterkap. »Diagrammatische Konjunktur« in diesem Buch, S. 39–42.

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Wissen als Bild D iagr ammatische K onjunk tur Es gibt kaum einen aktuellen Sammelband zur Bild- oder Kunstwissenschaft, in dem der Begriff »Diagramm« nicht fällt. Das griechische Wort »διάγραμμα«, das heute für »Schaubild« verwendet wird, umfasste ursprünglich eine große semantische Bandbreite. Damit konnte gemeint sein: erstens eine geometrische Figur, zweitens ein Synonym für die Signatur auf griechischen Bauinschriften, drittens eine gesetzliche Verordnung oder ein Edikt, viertens eine Tabelle bzw. Liste, fünftens das Schema einer musikalischen Tonfolge und schließlich sechstens eine kartografische Aufzeichnung.1 Der im Laufe der Zeit verringerte Bedeutungsradius von »Diagramm« konnte nicht verhindern, dass der Begriff inzwischen Karriere gemacht hat. Die eingeschränkte Wortbedeutung scheint vielmehr erst die Voraussetzung dafür zu bilden. Zusätzlich haben sich Neologismen durchgesetzt, die in neueren Publikationen ebenfalls nicht mehr fehlen dürfen. So wurde »Diagrammatismus« zunächst 1975 von Gilles Deleuze verwendet und dann von Félix Guattari in die poststrukturalistische Philosophie eingeführt. »Diagrammatik« entstand aus der Umformulierung der grammatikalischen Sprachlehre zu einer Diagrammlehre. Und »Diagrammatologie« ist erst 1981 durch W.J.T. Mitchells engagiertes Plädoyer für diesen Begriff geprägt worden, auch wenn er Assoziationen an Jacques Derridas’ Grammatologie (1967) auslöst.2 Unvermeidlich wirft diese in Mode gekommene Terminologie die Frage nach den

1 | Vgl. Bonhoff 1993, S. 7 f. 2 | Vgl. Deleuze 1977, S. 128; Deleuze 2005, S. 169. Zu W.J.T. Mitchell vgl. in diesem Buch, S. 21 f.

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Abb. 11: Rosalind E. Krauss, Diagramm zur ­ »Skulptur im erweiterten Feld«, 1979

Ursachen und Hintergründen auf, die das derzeit boomende Interesse am Diagramm begründet haben. Zur Erinnerung: 1993 sah sich Ulrike Maria Bonhoff noch genötigt, ihre Dissertation zu dem Thema Das Diagramm. Kunsthistorische Betrachtung über seine vielfältige Anwendung von der Antike bis zur Neuzeit zu rechtfertigen, obwohl der Umgang mit Karten, Plänen oder Diagrammen zur täglichen Routine eines Kunsthistorikers gehört, wie Robert S. Nelson mit Blick auf Handbücher und Nachschlagewerke befand.3 Zehn Jahre später war es dann im Zuge der epistemologischen Krise der Kunstwissenschaft problemlos möglich, den diagrammatic turn auszurufen.4 Den Weg dorthin hatte zwar Annamária Szo´´ke gewiesen, doch wurde ihr auf Ungarisch erschienenes Pionierbüchlein Diagram (1998) kaum zur Kenntnis genommen.5 Gleichwohl stellt sich die Frage, ob nicht vielmehr jene Kunsthistoriker die diagrammatische Wende eingeleitet haben, die weniger Diagramme zum Gegenstand ihrer Untersuchung erhoben, als vielmehr selbst Diagramme entwarfen, um den Aufbau ihrer Argumentation visuell zu stützen. So hatte 3 | Vgl. Nelson 1997, S. 29. 4 | Vgl. Bonhoff 1993, S. 1; Bogen und Thürlemann 2003, S. 3. 5 | Vgl. Szo ˝ke 1998.

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Alfred H. Barr jr. in den dreißiger Jahren mit hellsichtiger Zeitgenossenschaft auf eine Visualisierung der Kunstgeschichte hingearbeitet (Abb. 6).6 Seine paradigmatischen Charts zu stilgeschichtlichen Entwicklungen machen ihn zu einem veritablen Vorläufer der New Art History. Unter neuen Vorzeichen griff dann Rosalind E. Krauss den diagrammatischen Ansatz auf und suchte auf der Basis eines »quaternionischen Relationenfeldes« – in seinem formalen Aufbau gleicht es dem Quadrat der Gegensätze – den kunsttheoretischen Problemkomplex zum erweiterten Feld der Skulptur anschaulich werden zu lassen (Abb. 11).7 Die historische Voraussetzung für die aktuelle Hochphase der Diagrammforschung, also den Anstoß für das Interesse an Schaubildern und diagrammatischen Problemstellungen, bildet der Strukturalismus, der in den späten sechziger Jahren aufkam und mit Piaget, Saussure, Lévi-Strauss oder dem frühen Barthes identifiziert wird. Mit dem Strukturalismus setzte sich der mächtige Imperativ der Sprache durch.8 Die gesamte kulturelle Produktion wurde jetzt in Begriffen von Art und Language sowohl verstanden wie verhandelt. Das heißt, alles wurde nun als ein Zeichensystem aufgefasst, das auf arbiträren Signifikanten beruht. Deren Fähigkeit, Bedeutung zu erzeugen und damit Sinn zu stiften, konnte von der referenziellen, mimetischen Funktion der Zeichen völlig getrennt werden. Wenn man diesen strukturellen Ansatz nun auf die visuellen Phänomene übertrug, dann ließen sich Bilder, Filme, Architektur, Fotos und Skulpturen nicht mehr nur betrachten, sondern auch wie ein Text lesen.9 Kunsthistoriker vom Schlage Ernst Gombrichs hatten das »Bilderlesen« längst, gleichsam avant la lettre, thematisiert, indem sie kognitionswissenschaftliche Erkenntnisse in ihre kunsttheoretischen Überlegungen einfließen ließen. Bilder werden demnach »nicht in einem Zuge«, sondern »stückweise« erschlossen, also sukzessive gelesen, 6 | Vgl. Schmidt-Burkhardt 2005b, S. 114–160. 7 | Zu Krauss’ diagrammatischen Anleihen bei der Kleinschen Gruppe, der PiagetGruppe und Jacques Lacans L-Schema vgl. Krauss 2000, S. 339; Krauss 2011, S. 120–124; Prange 2003, S. 65–72. 8 | Zur kritischen Schriftkonzeption des französischen Strukturalismus vgl. Mersch 2002. 9 | Vgl. Jay 1997, S. 158 f.

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um in der Terminologie von Gombrich zu bleiben. Gombrich betont die Analogie zwischen dem Lesen von Texten und dem Lesen von Bildern, die in dem vorausschauenden Orientierungsbemühen eines das Text- bzw. Bildfeld abtastenden Auges besteht.10 Aus diesem Verständnis vom Bilderlesen ist schließlich auch Gombrichs strukturelles Interesse an alternativen Visualisierungsmodi erwachsen, in denen Text und Bild als Hybridform zusammenkommen: Diagramme, Schemata und Landkarten.11 Doch erst der amerikanische Kritiker, Schriftsteller und Künstler Richard Kostelanetz zog aus der »Lektüre« von visuellen Medien die Konsequenzen und begann, unter dem Einfluss der Künstlergruppe Art & Language, die Sprache mehr und mehr als eine visuelle Form der argumentierenden Darlegung zu betrachten. In seiner Anthologie Essaying Essays. Alternative Forms of Exposition (1975) befinden sich neben den klassischen Textbeiträgen deshalb auch zahlreiche Diagramme. Die Charts sind wie Texte zu lesen, schreibt ­Kostelanetz in der Einleitung.12 Als alternatives »bildgebendes Verfahren« eröffnen sie neue, konzeptuell angelegte Denkräume und Leseflächen, ein Verfahren, in dem Kostelanetz sich nicht zuletzt durch die numerische Gliederung von Ludwig Wittgensteins Tractatus logico-­­philosophicus (1921) bestärkt sah, die er mit Vignetten verglich.13 Der diagrammatische Raum erhebt sich freilich nicht aus dem zweidimensionalen kartografischen Raum. Dieser komprimiert vielmehr verschiedenste semantische Ebenen. Anders gesagt: Die Verflachung des Denkraums in die zweite Dimension wird durch die reflexive Tiefe des Diagramms, die sich als semantische Dichte niederschlägt, wieder aufgehoben. Durch die neue Offenheit gegenüber der Sprache war es möglich, das Diagramm als Text-Bild-Hybrid aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, das heißt in diesem Fall, selbstverständlich zu lesen. Die diagrammatischen Visualisierungsansätze schienen die große Alternative zum Text zu sein, da sie buchstäblich eine alternative ­Betrachtung narrativer Ansätze erlaubten. 10 | Vgl. 11 | Vgl. 12 | Vgl. 13 | Vgl.

Gombrich 1978, S. 271 f. Gombrich 1984a; Gombrich 1984b. Kostelanetz 1975, S. 6 f. ebd., S. 3.

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In der semiotischen Diagrammtheorie lassen sich zwei Positionen unterscheiden, die einerseits mit Charles Sanders Peirce und andererseits mit Nelson Goodman identifiziert werden können. Peirce’ breite Rezeption, die ihn zum Haustheoretiker der diagrammatischen Forschung in der Bildwissenschaft avancieren ließ, setzte erst mit der postumen Veröffentlichung seiner Schriften und Manuskripte in den dreißiger Jahren ein. Darin enthalten sind auch die berühmten Überlegungen zum Ikon, Index und Symbol.14 Peirce’ triadische Einteilung in ikonische, indexikalische und symbolische Zeichen wird durch das spezifische Verhältnis des jeweiligen Zeichens zu seinem Referenten begründet. Stark vereinfacht beruht diese Objektrelation beim Ikon auf einer Ähnlichkeit oder Analogie, beim Index auf einem Modus oder Kontext und beim Symbol auf einer Konvention oder Denkgewohnheit. Das Diagramm ordnete Peirce aufgrund seiner strukturell-abstrakten Ähnlichkeit mit dem Referenzobjekt den ikonischen Zeichen, und damit im weitesten Sinne der Gruppe der Bilder, zu. Goodman hingegen spitzte seinen Vergleich zwischen einem Bild und einem Diagramm auf die für ihn zentrale Frage zu: Was unterscheidet ein Bild des Fudschijamas von Hokusai von einem Elektrokardiogramm, das die Herztöne visuell darstellt? Für Goodman war die Antwort klar. Der Unterschied zwischen einem piktoralen und einem diagrammatischen Schema ist syntaktischer Natur.15 In der Tuschzeichnung von Hokusai gehören die Größe des Bildes, die Dicke der Linien, deren Farben und Intensität sowie die Materialität des Zeichenpapiers zu den konstitutiven Merkmalen der Darstellung. Anders im Diagramm: In der grafischen Repräsentation der Herzschläge sind zwar die konstitutiven Merkmale des Bildes noch kontingent vorhanden, für die Semantik des diagrammatischen Schemas allerdings spielen sie keine Rolle. Das Elektrokardiogramm wird ausschließlich vom Koordinatenraum her definiert und ist gewissermaßen auch nur aus dieser Perspektive zu lesen. Seine konstitutiven Merkmale bilden allein die Abszisse und die Ordinate. 14 | Vgl. Kap. »The Icon, Index, and Symbol«, in: Peirce 1932, S. 156–173. 15 | Vgl. Goodman 1995, S. 212 f.

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Zu einem vergleichbaren Schluss war bereits Meyer Schapiro in seinem Aufsatz »Über die Humanität der abstrakten Malerei« (1960) gekommen. Darin hat er die Rezeption von naturwissenschaftlichen Schaubildern in der Kunst mit einem Maler verglichen, der einen Hörsaal betritt, in dem ein Mathematiker seinen Lehrsatz auf der Tafel demonstriert. Der Maler versteht die wissenschaftliche Aussagekraft dieser geometrischen Zeichen und Buchstaben nicht; auch kann er die Richtigkeit oder Falschheit der Beweisführung nicht beurteilen. Aber er ist angetan von dem Diagramm und den Formeln: »Für den Mathematiker ist sein Diagramm lediglich eine praktische Hilfe, eine bildliche Darstellung von Begriffen. Es gilt ihm gleich, ob ebenjene Darstellung in gelber oder weißer Kreide ausgeführt wird, ob die Linien dick oder dünn sind, ganz durchgezogen oder unterbrochen, ob sie am Rand oder in der Mitte der Tafel steht, ob das Ganze groß oder klein ausgeführt – all dies ist zufällig, und die Bedeutung wäre dieselbe, selbst wenn das Diagramm verkehrt herum stünde oder von einer anderen Hand gezeichnet worden wäre. Für den Künstler jedoch sind gerade diese Eigenschaften wichtig; kleine Änderungen in der Krümmung der Linie würden eine ebenso große Wirkung auf sein Auge haben wie die Abänderung einer Lehrsatzsequenz in der logischen Beweisführung auf deren Richtigkeit.«16

Was für den Wissenschaftler nur didaktisches Hilfsmittel ist, scheint beim Künstler zur Innovation, im Bereich der Formen zum Selbstzweck zu werden. Die mediale Differenz zwischen Bild und Diagramm, um die es in Meyer Schapiros Anekdote und in Goodmans Analyse geht, lässt sich anhand einer kurzen Bildgeschichte aus dem Jahr 1941, der Nonstoppverlust-Offensive der britischen Luftwaffe, nochmals verdeutlichen (Abb. 12). Der über drei vertikal angeordnete Bildszenen geschilderte Flugzeugabsturz scheint in der untersten Darstellung semantisch-analog in eine statistische Falllinie überzugehen. Der eigentliche Kern dieses hier als Bildwitz vorgetragenen Kurvenschicksals liegt darin, dass sich die narrative Seriendarstellung auf einen abstrakten Erzählgrafen komprimieren lässt, ohne dabei an Anschaulichkeit einzubüßen. Doch der Eindruck täuscht. Schließlich ist das 16 | Schapiro 1982, S. 254.

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Diagramm der bildhafte, wenngleich auch nicht abbildhafte, Ausdruck von Relationen, von abstrakten Größen und Verhältnissen im definierten Koordinatenraster. Mit der Unterscheidung von Bild und Schaubild, die Goodman im Rahmen seiner Theorie von »vollen« und »abgeschwächten« Symbolen 1968 in Languages of Art weiter ausgeführt hat, wurde eine scharfe Trennlinie zwischen piktoralen und diagrammatischen Schemata gezogen. Die Kunstgeschichte hierzulande nahm davon zunächst keine Kenntnis, obwohl Goodmans wissenschaftlicher Bestseller 1976 eine zweite Auflage in den USA erlebte und seit 1973 in der wenig gelungenen deutschen Erstübersetzung von Jürgen Schlaeger bzw. seit 1995 in der zweiten und deutlich besseren Übertragung von Bernd Philippi vorliegt. In der deutschsprachigen Kunstwissenschaft wird derzeit mit drei Diagrammbegriffen oder -definitionen operiert. Die erste, implizit von Peirce inspirierte Bestimmung des Diagramms stammt von ­Felix Thürlemann und geht auf das Jahr 1990 zurück. »Das ›Diagramm‹, auch ›Schema‹ genannt,« schreibt Thürlemann, »ist eine Diskursform, die darauf abzielt, Strukturen der Inhaltsebene auf der Ausdrucksebene möglichst direkt darzustellen.«17 Gemäß Thürlemanns semiotischer Diagrammdefinition wird Inhalt nach außen, in ein sichtbares Feld, verlagert. Es geschieht also ein Transfer, dessen Leistung darin besteht, den Inhalt »direkt darzustellen«. Unterstellt man der Einfachheit halber einmal, es wäre 17 | Thürlemann 1990, S. 182.

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Abb. 12: G. Bri, Die NonstoppverlustOffensive, 1941

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problemlos möglich, Sagbares in Sichtbares zu verwandeln, heißt das dann in weiterer Konsequenz, dass die nicht visualisierte Inhaltsebene immer indirekt ist – sozusagen im Gegensatz zur direkten Darstellung des Diagramms? 2003, also 13 Jahre nach dieser ersten Definition, gibt uns Thürlemann darauf eine Antwort. Im Rahmen seiner Proklamation des diagrammatic turn, die er zusammen mit Steffen Bogen verfasst hat, heißt es von den Diagrammen, diesmal mit demonstrativer Anbindung an die große Autorität in zeichentheoretischen Angelegenheiten, Peirce: Sie sind »kommunikative Instrumente mit nicht ersetzbaren Leistungsmerkmalen«.18 Gemäß dieser Bestimmung wird den Diagrammen eine eigenständige Kompetenz zugebilligt, die über den Text und das Bild je für sich betrachtet hinausweist. Das Leistungsmerkmal des Diagramms liegt nach Thürlemann und Bogen schlicht darin, dass das Diagramm die konkurrierende Beziehung von Bild und Text ignoriert und keine Werthierarchie zwischen den beiden Arten von Zeichen zulässt. Erst im genuinen Zusammenspiel von visuellen und textuellen Elementen entwickelt das Diagramm seine Qualität. Für diese paritätische Gleichstellung hat die Literaturwissenschaft in den neunziger Jahren Begriffe wie »Iconotext« oder ­»Visiotype« geprägt.19 Die zweite Diagrammdefinition stammt von Gottfried Boehm. Sie ist im Grunde lapidar, aber genau darin liegt ihre bemerkenswerte Stärke: »Diagramme sind wirkliche, wenn auch betont kognitive Bilder, weil sie eine ganz unglaubliche Veranschaulichung abstrakter Zahlengrößen zustande bringen können.« Der Diagramm-Urtyp, der Boehm vor Augen schwebt, ist die Statistik. Er greift damit implizit auf die Goodman’sche Definition des diagrammatischen Schemas zurück. Der Statistik gelingt es, »Handelsvolumen, Tonnagen, Güter, Frequenzen in Bezug auf Zeitspannen etc. in eine visuelle Konfiguration« zu übersetzen, »die ›zeigt‹, was man aus bloßen Zahlenkolonnen niemals lesen könnte.«20 So Boehms Bestimmung des Diagramms als kognitives Bild, das Mengenwerte in anschauliche Größenordnungen übersetzt. 18 | Bogen und Thürlemann 2003, S. 2. 19 | Vgl. Wagner 1996; Pörksen 1997. 20 | Boehm 2004, S. 42.

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Beide Diagrammdefinitionen, die semiotische Bestimmung von Thürlemann und Bogen sowie die mathematische Bestimmung von Boehm, treffen in unterschiedlicher Gewichtung auch auf kunsthistorische Diagramme zu. Diese scheinen bei der Bedeutungsproduktion eine immer wichtigere Rolle zu spielen. Wenn zutrifft, was László Beke für die New Art History prognostiziert hat, dann eröffnet diese Neue Kunstgeschichte für die Auseinandersetzung mit nichtlinearen Erklärungsmodellen eine interessante Perspektive, versucht sie doch das Diagramm als Reflexionsraum nach allen epistemologischen Richtungen hin auszuloten.21 Die dritte Diagrammbestimmung hält bewusst in der Schwebe, ob wir das Diagramm als Bild betrachten sollen oder nicht; unausgesprochen balanciert sie Goodmans polarisierende Unterscheidung aus. Diese Position wird von Steffen Bogen vertreten, der in seinem 2005 veröffentlichten Aufsatz über »Schattenriss und Sonnenuhr« für sich in Anspruch nimmt, erste »Überlegungen zu einer kunsthistorischen Diagrammatik« anzustellen und damit so etwas wie eine bildtheoretische Grundlagenarbeit zu leisten.22 Bogen definiert den Begriff des Diagrammatischen »möglichst allgemein«, wie er wiederholt betont. Dieser Schachzug erlaubt es ihm, zweigleisig zu fahren. Bogen kann sich so auf sein »dezidiert kunsthistorisches Projekt« zurückziehen und das ästhetische Bild, das zurzeit etwas aus dem Fokus des Faches geraten ist, gegen das Diagramm verteidigen. Andererseits hält er sich den Weg zu einer allgemeinen Bildgeschichte offen, in der die signifikante Rolle des Diagramms als kognitives Bild unbestritten ist.23 Das bildtheoretische Spannungsfeld besteht hier zwischen dem Ästhetischen einerseits und dem Kognitiven andererseits, und es lässt sich nicht einfach aufheben. Schließlich kann man die Spaltung von Bild und Text nicht nur als rigiden oppositionellen Dualismus verstehen, sondern auch als bipolares Beziehungsgeflecht. Der Systemanalytiker Gerhard Dirmoser hat dies anhand eines Schemas aufgezeigt, 21 | Vgl. Beke 20036, S. 395. 22 | Vgl. Bogen 2005. 23 | Vgl. Schmidt-Burkhardt 2005b, S. 25–39, 429–446. Aus Peirce’scher Perspektive gewinnt Bogen 2007 dem Diagramm als kognitivem Bild zusätzlich eine logisch-experimentelle Facette ab.

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Abb. 13: Gerhard Dirmoser, Ein Diagramm ist (k)ein Bild, 2005 (Detail)

das seit Juni 2005 im Netz steht. Seine multiperspektivisch angelegte Schemastudie mit dem Titel Ein Diagramm ist (k)ein Bild dividiert die Diskussion über den Bildbegriff in 32 vordefinierten Sektoren nach den unterschiedlichsten Aspekten auseinander, ohne dass daraus klar hervorgeht, ob sich die Anhänger der Auffassung »Ein Diagramm ist ein Bild« durchsetzen können oder deren Kontrahenten, die das genaue Gegenteil behaupten (Abb. 13). Dirmosers diagrammatischer Ansatz ist im Kern hermeneutisch, da er die einzelnen Positionen eher kategorisierend beschreibt, als ihnen argumentativ begegnet. Unsere Problemstellung kann aber auch nicht in der rhetorischen Frage »What Do Pictures Want?« aufgehen, also ob Bilder auch Diagramme sein wollen, eine Fragestellung, die W.J.T. Mitchell in einer Buchpublikation 2005 insinuiert.24 Viel grundsätzlicher stellt sich nämlich das Problem, was diagrammatische Bilder unter epistemologischen Vorzeichen überhaupt zu leisten imstande sind. Antworten darauf sollen im Folgenden anhand von prototypischen Beispielen 24 | Vgl. Mitchell 2005.

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gattungstheoretisch diskutiert werden. Im Fokus steht die interne Funktionalität von diagrammatischen Wissensbildern. Diese werden in Hinblick auf ihre räumlichen Beziehungen, auf ihre strukturelle Gliederung und auf ihr verabsolutierendes Gefüge analysiert.

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Wissensbilder, so wie sie hier verstanden werden, sind keine Legitimationsbilder, wie wir sie von den Naturwissenschaften her kennen.25 ­Naturwissenschaftliche Wissensbilder erzeugen durch die indexikalische Qualität eine Bildevidenz, deren Ziel und Zweck in der Wissenschaft begründet liegt.26 Im Gegensatz zu den naturwissenschaftlichen Wissensbildern sind die historiografischen Wissensbilder ikonische Kondensate. Sie haben zumeist eine lange Vorgeschichte, die sich nicht so sehr in Bildern, wohl aber in der Recherche, in Reflexionen und schließlich in der zeitintensiven Abfassung eines Textes ereignet hat. Historiografische Wissensbilder sind so gesehen epistemologische »Nachbilder«, die Quintessenz der Forschung als Diagramm. Sie stehen nie am Anfang, immer nur am Ende eines wissenschaftlichen Prozesses, auch wenn sie bei Publikationen in ihrer Funktion als Fronti­ spiz dem wissenschaftlichen Text vorangestellt sind und dadurch den falschen Eindruck erwecken, dass sie der wissenschaftlichen Arbeit einschließlich Textproduktion vorausgingen. Ein Beispiel dafür ist der Tree of Architecture, den Banister Fletcher zwischen 1905 und 1921 für die sechste Auflage seiner Architekturgeschichte gezeichnet hat (Abb. 14). Raum und Zeit, das Nebeneinander und seine Auflösung im Nacheinander, bilden das Koordinatensystem der diagrammatischen Historiografie. Nur wenn diese Koordinaten gesichert sind, lässt sich geschichtliches Wissen installieren.27 Sigfried Giedion erklärte die zeitliche Festlegung sogar zum historiografischen Paradigma schlechthin: 25 | Zu den verschiedenen Facetten des Wissensbildes vgl. Raulff und Smith 1999. 26 | Zur Debatte über den Stellenwert des Bildes in den Naturwissenschaften vgl. Galison 2002, S. 300–323. 27 | Vgl. Unterkap. »Verräumlichung des Historischen« in diesem Buch, S. 107 f.

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Abb. 14: Banister Fletcher, The Tree of Architecture, 1921

»Daten sind der Maßstab des Historikers, mit ihnen misst er den geschichtlichen Raum aus. An sich und mit einer einzelnen Tatsache verknüpft, sind Jahreszahlen so sinnlos wie die Nummern eines Trambillets. In Zusammenhängen erfasst, das heißt verbunden mit Geschehnissen in horizontaler und vertikaler Richtung, grenzen sie die historische Konstellation ein. In diesem Falle werden Jahreszahlen bedeutungsvoll. Die Daten, wann und wo bestimmte Erscheinungen auf verschiedenen Gebieten auftauchen oder sich durchsetzen, liefern Bedeutungszusammenhänge, die objektiven Einblick in die Entwicklung geben.«28

Giedion hatte sich in seinem kulturgeschichtlichen Hauptwerk Mechanization Takes Command (1948) für eine »anonyme Geschichte« ausgesprochen, die historische Strukturen und deren wechselnde Konstellationen erst herausarbeiten kann, indem sie vom Individuum abstrahiert. Dabei wird die geschichtstheoretische Konfiguration von den beiden Parametern Stilgeschichte und Typologie bestimmt: »Die Stilgeschichte behandelt ein Thema in horizontalen, die Typologie in vertikalen Schnitten. Beide sind notwendig, damit die Dinge im historischen Raum gesehen werden können.«29 Giedion favorisierte die 28 | Giedion 1987, S. 29. 29 | Ebd., S. 28.

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typologische Betrachtungsweise. Typologie, so wie sie von ihm verstanden wird, stellt angesichts der »Mannigfaltigkeit von Dingen« nicht das »regulative Prinzip der Vernunft« dar, zu dem sie einst Kant erklärt hatte. Typologie bei Giedion meint schlicht ein methodisches Verfahren, das es erlaubt, subtile Veränderungen, Verschiebungen, Entwicklungen, kurz die »Schicksalslinie« der historischen Phänomene über einen weiten Zeitraum zu verfolgen. Voraussetzung dafür sind »Überblick«, »simultanes Sehen« oder »Zusammenschau«.30 Auch wenn Giedion durch seine Wortwahl implizit die Ikonisierung von Geschichte anspricht, so hat er nie in dieser Richtung weitergeforscht. Dennoch konzentrieren sich seine Anstrengungen auf die kausale Beziehungsstiftung, auf die Markierung signifikanter Konstellationen im Koordinatenraum einer textbasierten Kulturgeschichte. Das historiografische Wissensbild ist ein »Konfigurationsraum« (Gaston Bachelard), der durch das In-Beziehung-Setzen von Daten und Fakten Sinneffekte erzeugt. Die Sichtbarkeit von Zahlen, Namen und Begriffen, die an ein zweidimensionales Zeichensystem gebunden ist, eröffnet eine kognitive Operationsfläche, die konventionelle Vorstellungen von Wissensbildern als faktischer Niederschlag zu sprengen vermag, sobald man damit ein System aus kausal-logischen Relationen des Nacheinander, der Über- und Unterordnung erstellt. Es kommt auf die topologische Relationalität der Daten an. Dabei genügt es nicht, wie Max Deri einfach einen Rasterraum zu skizzieren und darin am Beispiel der Malerei des 19. Jahrhunderts einen Zweiländer-Vergleich über einen Zeitraum von hundert Jahren anzustellen (Abb. 15).31 Um die Verstrickungen im künstlerischen Feld offenzulegen, muss man zumindest rudimentäre Beziehungen zwischen den Einträgen herstellen. So hat Stephen Bann die konstruktivistischen Strömungen mithilfe von Zickzacklinien dargestellt und damit das internationale Agieren der Avantgarde in den sich kreuzenden Linien räumlich anschaulich gemacht (Abb. 16). Im Raume lesen wir die Zeit, lautet der aussagedichte Titel von Karl Schlögels geopolitischer Zivilisationsgeschichte, die anhand von Landkarten, Stadtplänen oder Fahrplänen die Welt entziffert.32 30 | Ebd. 31 | Zu Deri ausführlicher: Kap. »Denkstil und Stilformen« in diesem Buch, S. 71–92. 32 | Vgl. das Großkap. »Kartenlesen«, in: Schlögel 2003, S. 81–259.

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Abb. 15: Max Deri, Übersichts-Tabelle von Frankreich und Deutschland, 1919

Versucht man nun in Banns geografisch geordneter Tabelle zeitspezifische Momente herauszulesen, dann wird folgendes Faktum evident: Die territoriale Verlagerung avantgardistischer Tendenzen ins Ausland war die Folge des kulturpolitischen Kahlschlags, den Stalinismus, ungarische Räteregierung und Nationalsozialismus betrieben haben. Die nach innen gerichtete Differenzierungsmechanik im diagrammatischen Koordinatenraum zielt auf ein Regelwerk der Geschichte ab. Raum und Zeit bilden – wie gesagt – die ordnenden Strukturfaktoren. Hinzu kommt der Faktor Menge. Die Informationsflut kennzeichnet generell das Wissensbild. Dennoch ist sie kein konstitutives Merkmal. Das historiografische Wissensbild bleibt Wissensbild, egal ob es mit selektiven Informationen ausgestattet oder mit Datenmaterial überfrachtet ist. Wissen existiert in drei Formen: in Sätzen, Zahlen und Bildern. Sätze zielen auf die narrative Darstellung ab. Ziffern reduzieren ­Mengenangaben auf einfache Zahlengrößen. Und Bilder inszenieren

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Abb. 16: Stephen Bann, [Movement of Constructivist Artists and the Incidence of Group Activity in the Period 1920–1965], 1974

Wissen, indem sie Fakten in ein räumliches Verhältnis setzen. Thesen­haft zugespitzt könnte man sagen, die diagrammatische Dramaturgie der Daten erlaubt es, Wissen neu zu reflektieren – von der Produzentenseite aus im »bildnerischen Denken« (Paul Klee), von der Rezipientenseite aus im »visual thinking« (Rudolf Arnheim).

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S truk tur

Das Diagramm ist ein Darstellungsmodus, der es erlaubt, kognitive Akte als visuelle Praxis zu vermitteln. Es gestattet, mit Wissen als analysierende Erfahrung bildnerisch zu experimentieren.33 Im Schaubild erhält der Innenraum des Denkens eine Außenseite. Als sichtbarer Denkraum unterliegt er wiederum äußeren, eben optisch-räumlichen Gesetzen. Auf die ordnende Raum- und Zeitkoordinate kann verzichtet werden. Trotzdem geht es, wie auch beim Koordinatensystem, prinzipiell um Ordnung, doch ist diese Ordnung nicht ­notwendig 33 | Zum Diagramm als veritables Denkwerkzeug und »Beweismittel« vgl. Baigrie 1996.

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räumlicher, sie kann auch differenzierender Natur sein. Diese beiden Ordnungsansätze erlauben eine Unterscheidung zwischen topologischem und strukturellem Wissensbild. Im Gegensatz zum topologischen Wissensbild arbeitet das strukturelle mit Kategorien. Dabei kommt es nicht so sehr darauf an, was zu sehen ist, sondern wie sich die Begriffe zueinander verhalten. Es geht also auch hier um die direkte Darstellung von Relationen zwischen einzelnen Elementen, um diagrammatische »Demonstrationen« (Kant), mit denen Erkenntnisse ihre Anschaulichkeit gewinnen. Diagramme als abstrakte Transkriptionen von theoretischen Entwürfen und wissenschaftlicher Literatur gehören zum klassischen Repertoire der Wissensvermittlung.34 Auch der Sozialforscher ­Giorgio Tagliacozzo setzte sie im Rahmen seiner Lehrtätigkeit für Anschauungszwecke wiederholt ein. Im Wintersemester 1958/59 hielt ­Tagliacozzo an der New School for Social Research in New York eine Vorlesungsreihe zum Thema »The World of Modern Knowledge. Integration of Science and the Humanities« ab. Dem hektografierten Informationsblatt ist zu entnehmen, dass Tagliacozzos kostenpflichtige Lehrveranstaltung zur Ideengeschichte darauf abzielte, die »Entwicklung«, die »Struktur« und das »Panorama« der modernen Wissenswelt zu analysieren. Speziell wollte sich Tagliacozzo den engen Beziehungen zwischen nichteuklidischer Geometrie, symbolischer Logik, der 34 | Vgl. Gormans 2000, S. 52 f.

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Abb. 17–19: George Brecht, aus: Notebook (1958–59)

Relativitäts­theorie und Quantentheorie, der Psychoanalyse, Gestalttheorie und der modernen Kunst widmen, alles Disziplinen, die aus seiner Sicht das moderne Wissen konstituierten. Zum Auftakt der Vorlesungsreihe am 29. Sept ember 1958 dozierte Tagliacozzo über ein in unserem Zusammenhang hochspannendes Thema: »Knowledge as Image«.35 Unter den Zuhörern befand sich auch der spätere Fluxus-Künstler George Brecht, der von den Schemata, die Tagliacozzo auf die Tafel zeichnete, immerhin so beeindruckt war, dass er sie in seine Mitschrift kopierte und dann, wie das Baumstumpfschema, Anfang Oktober 1958 in sein Notizbuch klebte (Abb. 17). Der Begriff »Knowledge as Image« steht an einer kompositorischen Schnittstelle des arboresken Schemas, nämlich dort, wo sich das mehrgliedrige Wurzelsystem zum massiven Stamm verdichtet. An dieser Schnittstelle treffen unterschiedliche Wissensqualitäten aufeinander, das empirische »Wissen von« etwas (knowledge of ) und die »Kenntnisse in« diversen Wissenssparten (knowledge about). Kunst und Wissenschaft werden in Hinblick auf ihre Kompetenz in Fragen der Wissensvisualisierung gleich eingestuft. Der gravierende Unterschied besteht allerdings in ihren Resultaten. Die Kunst erzeugt affektive, die Wissenschaft informative Bilder. In einer anderen Zeichnung hat Brecht das Baumstumpfschema in ein Netzdiagramm konvertiert, mit dem »Individuum« als zentralem 35 | Brecht 1991, S. 118.

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Knoten (Abb. 18). Ob Brecht bei diesem Schema nur abzeichnete, was Tagliacozzo an die Wandtafel schrieb, oder seinerseits gestalterisch tätig wurde und womöglich Tagliacozzo zu anschaulichem Denken inspirierte, ist schwer zu entscheiden. Fest steht, dass Brecht am 6. Oktober 1958, also während der zweiten Vorlesung, in der Tagliacozzo das präeuklidische, euklidische und nichteuklidische Weltbild behandelte, dessen Lehrmeinung und seine davon distinkt abweichende Lebensanschauung anhand von zwei Diagrammen skizzierte und damit einen eigenen Standpunkt bezog (Abb. 19).36 Mit dem Imperativ des Selbstdenkens beginnt jedes strukturelle Wissensbild. Tagliacozzo seinerseits begann sich im Anschluss an diese Vorlesungsreihe mehr und mehr für die Visualisierung der Ideengeschichte zu interessieren. Anregungen dazu holte er sich aus unterschiedlichsten Richtungen: etwa von der Tier- und Pflanzentaxonomie, von Untersuchungen zum Metabolismus der Gewächse, von Ernst ­Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, von Susanne Langers dichotomer Unterscheidung zwischen Sprache und Bild bzw. diskursivem und präsentativem Symbolismus, von Ludwig von Bertalanffys allgemeiner System­theorie oder von Herbert Reads These, dass innerhalb der menschlichen Bewusstseinsentwicklung das Bild der Idee 36 | Vgl. ebd., S. 118, 121.

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Abb. 20: Giorgio Tagliacozzo (Grafik: Hildegarde Bergheim), Tree of Knowledge, 1959 Abb. 21: Giorgio Tagliacozzo (Grafik: Hildegarde Bergheim), Tree of Knowledge, 1959 (Detail)

vorausgeht.37 Read erteilte mit seiner Ansicht von der ikonischen Priorität bei kognitiven Prozessen dem sprachlichen Determinismus des Denkens, wie ihn etwa die Psycholinguistik favorisierte, eine klare Absage. Er begründete dies mit der Vorwegnahme wissenschaftlicher Ideen durch die bildende Kunst.38 Für das bildliche Denken bot sich Tagliacozzo der Baum als Archetypus des diagrammatischen Symbolsystems regelrecht an. Mit dieser Bildform konnte er alle Wissenszweige erfassen, mit ihr ließ sich aber auch direkt in Erkenntnisformen – im Sinne einer mentalen Operation verstanden – eingreifen.39 Im Frühjahr 1959 gewann Tagliacozzo schließlich die Architektin Hildegarde Bergheim für die grafische Umsetzung seines Tree of Knowledge als breitstämmiges Gewächs, das so fest geerdet ist, dass es ohne Wurzeln auskommt (Abb. 20). Tagliacozzos Wissensbaum setzt sich aus zwei klar unterscheidbaren Astsystemen zusammen, die ihrerseits als arboreske Systeme konzipiert sind: der Wissenschafts-Stamm links und der KunstStamm rechts des Hauptstamms (Abb. 21). 37 | Vgl. Tagliacozzo 1993, S. 7. 38 | Vgl. Read 1961. 39 | Dazu allgemein: Cernuschi 1996; Wendler 2003; Siegel 2009, S. 57–80; Salonius und Worm 2014.

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Die Dichotomie als Prototyp der Deduktion hat in der abstrakten Grundform des Baums ihre anschauliche Entsprechung. Das Baumschema erlaubt über die Astgabel eine Ausdifferenzierung, die sich über die Äste und Zweige immer weiter verfeinern lässt. Die Möglichkeit, jede Systemstelle in diesem Verteilernetz mit geradezu mathematischer Topik zu bestimmen, hat unzweifelhaft ihren Reiz. Die rationalisierte Form einer deduktiven Logik erlaubt es, die Entwicklung Schritt für Schritt, Phase für Phase definieren zu können. Das Ordnungsgefüge eines Baums ist jedoch nur hinsichtlich seiner Dreiteilung in Wurzeln, Stamm und Äste klar. Dagegen ist das unregelmäßige und letztlich unberechenbare Astsystem mit seinem hohen Verzweigungsgrad und seiner Raumausdehnung fraktalen Systemen eminent ähnlich. Um Tagliacozzos Tree of Knowledge dennoch eine übersichtliche Struktur zu verleihen, ließ Bergheim alle Äste gabelförmig, wie bei einem Spaliergewächs, emporwachsen. So kommt es auf den verschiedenen taxonomischen Ebenen immer wieder zur Teilung der Äste, aber nie zu einer Überschneidung. Tagliacozzos Tree of Knowledge basiert auf fünf Axiomen, die dem Baum als kommentierender Text zur Seite gestellt sind. Erstens versiegen führende intellektuelle Trends nie, sondern setzen sich unendlich fort, indem sie sich an die veränderten Verhältnisse anpassen. Daraus ergibt sich zweitens, dass unterschiedliche Denkströmungen parallel auftreten und sich jeweils in nur eine Richtung entfalten können. Drittens bilden einzelne Disziplinen wie etwa Ökonomie, Ethik oder Psychologie eine Summe aus verschiedenen und unterschiedlich alten Denkströmungen, deren gemeinsamer Nenner lediglich auf analogen Themenstellungen und Begrifflichkeiten beruht. Um einer semantischen Unschärfe vorzubeugen, ist der Baum so angelegt, dass die einzelnen Wissenskulturen jenen großen Strömungen zugeordnet sind, denen sie vorwiegend angehören. Viertens folgt aus den ersten drei genannten Axiomen, dass das Panorama zeitgenössischen Wissens immer auch ein historisches Panorama ist, dass taxonomische oder integrative Modelle scheitern müssen, da sie auf Disziplinen und nicht auf parallel existierenden Denkströmungen beruhen, und schließlich dass im Tree of Knowledge einzelne Disziplinen an verschiedenen Stellen genannt werden. Fünftens ist der Tree of Knowledge historisch, da er chronologisch angelegt ist; er ist taxonomisch, weil er klassifiziert; er ist integrativ, da die vereinheitlichende Struktur des

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Baummodells es erlaubt, Beziehungen, Kombinationen, Ableitungen und Affinitäten zwischen einzelnen Wissenszweigen sichtbar zu machen; er ist semantisch, weil er Veränderungen innerhalb einzelner Disziplinen im Rahmen der Wissensevolution zum Ausdruck bringt; er ist aus ersichtlichen Gründen pädagogisch, und schließlich ist er heuristisch im Sinne einer imaginativen Recherche.40 Auf der Grundlage dieser Axiomatik entwickelte Tagliacozzo sein strukturell angelegtes Panorama weiter. Hinzu kam 1961 ein glücklicher Fund: die Schriften des längst vergessenen neapolitanischen Philosophen Giambattista Vico, dessen Wiederentdeckung im großen Stil sich Tagliacozzo zur Lebensaufgabe machen sollte. Tatsächlich gingen von Tagliacozzo maßgebliche Impulse für die amerikanische Vico-Forschung aus. Mit der Gründung eines eigenständigen Instituts sowie der Herausgabe einer Zeitschrift wurde diese im wissenschaftlichen Feld angesiedelt. Bestätigung und Bestärkung erhielt Tagliacozzo in seiner Arbeit an dem Tree of Knowledge von Vicos Hauptwerk Scienza nuova (erste Ausgabe 1725, endgültige Fassung 1744) sozusagen post factum. Vico war im Zuge seiner Rekonstruktion der »poetischen Weisheit«, als Weltanschauung der archaisch-heidnischen Welt verstanden, sichtlich bemüht, die Wissenschaften in ein System zu bringen. Er wählte dazu die Metapher des Baums, anhand derer sich die Entwicklung hin zur »poetischen Weisheit« veranschaulichen ließ. Nach Vicos Verständnis ist jeder Ursprung roher Natur, und so geht denn auch die »poetische Weisheit« geradewegs auf die »rohe« Metaphysik zurück, die den Stamm bildet. 41 Daraus entwickelt sich ein poetischer, sprich geisteswissenschaftlicher Ast mit den Disziplinen Logik, Moral, Ökonomie  – hier als Lehre von der Ordnung der Familie als Hausgemeinschaft verstanden, die zwischen dem Einzelnen und dem Staat vermittelt42 – und Politik einerseits sowie andererseits ein naturwissenschaftlicher Ast mit der ebenfalls als »poetisch« charakterisierten Physik, unter der 40 | Dieser klein gedruckte Kommentar kann in Tagliacozzo 1993, S. 8, nachgelesen werden. 41 | Vgl. Vico 1744 3, S. 132, und dazu Tagliacozzo 1993, S. 1, der Vico 1968, S. 367, zitiert. 42 | Die politische Ökonomie, als Volkswirtschaft verstanden, wird erst im Laufe des 18. Jahrhunderts geläufig. Den ersten Lehrstuhl für diese Wissenschaft erhielt der Vico-Schüler Antonio Genovesi 1754 in Neapel. Vgl. Hösle 1990, S. xciv.

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Abb. 22: Giorgio Tagliacozzo (Grafik: Donald Kunze), Tree of Knowledge, 1989

Vico die ganze Natur, das heißt eben auch die menschliche Physis versteht. Diese poetische Physik wiederum bildet die Mutterwissenschaft für Kosmografie und Astronomie, aus der die beiden historiografischen Tochterdisziplinen Chronologie und Geografie hervorgehen.43 Es ist bemerkenswert, dass Vico im Rahmen seiner schematischen Darstellung der theoretischen und der praktischen Disziplinen die Kunst unberücksichtigt ließ. Der »Wissensbaum«, auch »Baum der ›poetischen Weisheit‹« genannt, wurde von Vico  – wie gesagt  – nur als Metapher gebraucht. Das Sinnbild war dennoch prägend. Vico zog es zur strukturellen Gliederung seiner ideenreichen Schrift heran, die er als früher Vertreter eines wilden Denkens nur mit Mühe ordnen konnte, zumal sich das grobe Raster, das der Baum bot, zur Erfassung des inneren Zusammenhangs einer hochkomplexen Sachlage nur bedingt eignete. Von dem für heutige Leser nicht immer leicht nachzuvollziehenden Aufbau des Buchs ließ sich Tagliacozzo wenig abschrecken und übersetzte 1989 das metaphorische Bild in ein anschauliches Baumsymbol (Abb. 22–24). So wurde Vicos »Baum der ›poetischen Weisheit‹« zur absoluten Referenz einer Klassifikation der Wissenskulturen. Beide, Vico und Tagliacozzo, treten als Klassifizierer wie als Deszendenztheoretiker auf. 43 | Vgl. § 367 in: Vico 1990, S. 164.

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Abb. 23–24: Giorgio Tagliacozzo (Grafik: Donald Kunze), Tree of Knowledge, 1989 (Details)

Die 1989, nach drei Jahrzehnten Denkpause, entwickelte zweite Fassung des Tree of Knowledge ließ Tagliacozzo von dem amerikanischen Architekturprofessor Donald Kunze in eine Grafik übertragen.44 Dieser neue, merklich ins Querformat gedehnte Wissensbaum lehnt sich in seiner Bildsprache deutlich an Bergheims gestalterische Vorgaben von 1959 an (Abb. 20). Tagliacozzo ergänzte den Untertitel »Genetische Geschichte der menschlichen Einbildungskraft«, worin das Bemühen zum Ausdruck kommt, sich hier noch einmal an einem Universalbaum des Wissens zu versuchen. Hingegen komprimierte er die fünf, dem Baumschema ursprünglich zugrunde gelegten Axiome auf den klein gedruckten Beisatz »Alle großen Schöpfungen der Einbildungskraft versiegen nie, sondern setzen sich unendlich fort«. In dieser leicht zu übersehenden Anmerkung wurde der 1959 formulierten Ausgangsthese vom Weiterleben geistiger Traditionen nun der Status einer wissenschaftlichen Tatsache verliehen. 44 | Zu Tagliacozzos Auseinandersetzung mit Vico vgl. Kunze 2005, S. 49–59 (dort weitere Literaturhinweise).

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Dass die überarbeitete Fassung des Tree of Knowledge hier und da etwas ausdifferenzierter ausfällt, dass Umstellungen und Korrekturen vorgenommen wurden, versteht sich von selbst. So tauschte Tagliacozzo beispielsweise beim Kunst-Zweig die einst von Susanne Langer übernommene philosophische Terminologie »presentation­al« und »presentational-discursive« gegen »imaginative universals« und »imaginative-abstract universals« aus (Abb. 24). Mit dieser neuen Begrifflichkeit – teils an Vico angelehnt, teils selbst geprägt – sollte eine klare Unterscheidung zwischen der unaufgeklärten Kunst im »Zeitalter der Götter« und der weitgehend rationalen Kunst im »Zeitalter der ›Wissenschaft‹« getroffen werden.45 Gegensatzbildungen wie diese haben im Kunstdiskurs des 20. Jahrhunderts vor allem dazu gedient, neue ästhetische Trends von alten abzuheben. Tagliacozzo indessen nutzt die terminologische Gegensatzbildung, um innerhalb seines Tree of Knowledge Vergleiche zwischen dem Kunst-Zweig einerseits und dem Wissenschafts-Zweig andererseits zu begünstigen.46 Bemerkenswert sind aber nicht nur die Abweichungen bei dem überarbeiteten Kunst-Zweig von 1989. Bemerkenswert sind auch die Konstanten. So trägt Tagliacozzo der Dynamik der Kunstentwicklung nach 1959 keine Rechnung mehr. Für ihn hört die Moderne mit dem »Abstrakten Impressionismus« auf, eine Fehldeklarierung, die er 1989 zwar zu »Abstrakter Expressionismus« korrigiert, so als ob damit schon alles gesagt sei. Womöglich hielt sich Tagliacozzo aber auch mit dem neu hinzugefügten Seitenarm »Later Trends …« eine Hintertür offen, wodurch postmoderne Kunstrichtungen in sein figuratives Denkmodell eingeschleust werden konnten.

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V er absolutierung

Diagramme sind ein bewährtes Medium der Konzeptarbeit. Sharon  Helmer Poggenpohl und Dietmar R. Winkler erkennen darin sogar ein Instrument zur »Erschaffung der Welt« und lassen uns so den diagrammatischen Schöpfungsakt als intellektuelle Genesis begreifen.47 45 | Tagliacozzo 1993, S. 19. 46 | Vgl. ebd. 47 | Vgl. dazu Poggenpohl und Winkler 1992.

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Das Beispiel Poggenpohl/Winkler macht aber auch auf ein prinzipielles Problem aufmerksam: Diagramme erzeugen Weltbilder im Sinne von Weltanschauung. Diagramme, ob als raumbezogene oder als strukturorientierte Wissensbilder, folgen bei der Bedeutungsproduktion keiner wertfreien Verbildlichungsstrategie. Sie sind ein von darstellenden und ideologischen Parametern durchzogenes Abbildungssystem. In diesem Sinne lassen sich die Konfigurationen von Wissen als Repräsentation eines Weltbildes erklären. Bewusst oder unbewusst werden sie mit ideologischen Werten aufgeladen, die als Metarahmen auf das Diagramm zurückwirken. Als Ordnungssysteme vermitteln sie implizit Ideologeme. Diese sind im Diagramm gewissermaßen kontingent angelegt. Es besteht eben ein gravierender Unterschied, ob man zur »Erschaffung der Welt« ein hierarchisches Baummodell, ein egalitäres Kreisschema oder ein rhizomatisches Netzdiagramm wählt.48 Weltbild soll hier aber auch noch in einem anderen Sinne verstanden werden und zwar als explizite Darstellung von Weltanschauung. In der Soziologie sind ideologisch-ikonische Schemata als Zwiebel-, Pyramiden-, Schichtenmodelle, Basis-Überbau-Konstruktionen etc. geläufig. In der Kunstwissenschaft stellen diagrammatische Weltbilder eher die Ausnahme dar. Unser Beispiel stammt von dem ungarischen Architekten und Kunsttheoretiker Paul (Pál) Ligeti. Von ihm erschien kurz vor dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise, 1926, Új Pantheon felé. ´´vészet tükrében (Zu einem neuen Pantheon. Das A kultúrák élete a mu Leben der Kulturen im Spiegel der Kunst). In Deutschland kam das Werk kurz nach dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise, 1931, in erweiterter Fassung unter dem Titel Der Weg aus dem Chaos heraus – ein stattlicher Band, der, wie es im Untertitel heißt, das »Weltgeschehen aus dem Rhythmus der Kunstentwicklung« zu deuten versucht. Wie hier anklingt, gehört Ligeti zu den Anhängern der zyklentheoretisch angelegten Geschichtsphilosophie à la Oswald Spengler, ohne dessen Kulturpessimismus zu teilen. Gemäß der mathematisch konstruierten Modelltheorie von Geschichte wird von einer gesetzmäßigen Wiederholung historischer Prozesse ausgegangen. Unterstellt wird dabei eine Selbstregulierung von Geschichte. Mit ihr kommt die Problematik der Großperiodenberechnung und der Phasenverschiebung ins Spiel. 48 | Vgl. dazu die Analyse der Diskursstrukturen in Flusser 1998.

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Abb. 25: Paul Ligeti, Stil und Welle, 1931

Im Ergebnis entsteht ein Bild von sich überlagernden Sequenzen (Abb. 25). Die Welle ist das Symbol einer rhythmisch-periodischen wie gleichermaßen unumkehrbaren Entwicklung. Epochale Zäsuren sind auf der Zeitlinie eingetragen. Der Wandel findet innerhalb eines gleichbleibenden formalen Strukturablaufs statt. Probleme werden verschoben und verlagert und so immer wieder aufs Neue abgearbeitet. Die historische Reorganisation basiert einzig auf der Transformierbarkeit von Problemlagen. Jeder Ansatz eines Fortschrittsoptimismus wird auf diese Weise im Keim zerstört. Die geschichtsphilosophische Metaerzählung dreht sich lediglich um den festgelegten Paradigmenwechsel von aufsteigenden und rückläufigen Konjunkturen. In diesem fixen Modus ist die hochstilisierte Selbstbeschreibung eines Gesellschaftssystems eingeschrieben, in der Geschichtserfahrung als Differenzerfahrung weiterwirkt.49 Gegenüber der Zyklentheorie lässt sich einwenden, dass ihre Logik und Psychologie einem individuellen Denkmuster folgt, nach dem historische Prozesse streng mathematisch durchrhythmisiert werden, um daraus eine objektive Gültigkeit abzuleiten. Cassirer spricht in diesem Zusammenhang von »reinen Idealrelationen«.50 Auch die Kurve und, in ihrer seriellen Verlängerung, die Welle repräsentiert 49 | Vgl. Luhmann 1985, S. 11–33. 50 | Vgl. Cassirer 1910, S. 449–459.

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Abb. 26: Paul Ligeti, Die drei Integrationstendenzen, 1931

eine Idealrelation. Die Welle ist die Regel, die das Geschichtsbild bestimmt. Sie behauptet ein Gleichmaß der historischen Entwicklung, in deren permanenter Wiederholung etwas Obsessives mitschwingt. Als statistischer Datentyp mit quasi Objektivitätsgarantie schränkt die Kurve den Interpretationsspielraum überdies massiv ein. So gesehen rückt Ligetis zyklentheoretische Darstellung in die Nähe eines mythischen Weltbildes, das sehr schnell ins totalitaristische Fahrwasser gerät. Geht nämlich die grafische Überzeugungsstrategie auf, dann scheint nur der Faschismus in der Lage zu sein, der vorprogrammierten »zivilisatorischen Verwüstung« entgegenwirken zu können. In Zusammenhang mit Ligetis illustrierter Wellentheorie der Geschichte fallen zwei »schematische Bilder« aus dem Rahmen, die einer ideologischen Ikonografie zuzuarbeiten scheinen (Abb. 26). Mit abstrakten grafischen Mitteln werden hier drei bzw. vier Weltanschauungen schablonenhaft skizziert, die in dem Zeitraum zwischen dem Ende des Impressionismus und der Fertigstellung von Ligetis deutschem Buchmanuskript im Winter 1930/31 vorherrschen. In der oberen Schemazeichnung werden die schwungvollen Wellen, die ­Ligeti in zwei Dutzend Kurvendiagrammen dem Leser als historiografisches Musterbild eingeprägt hatte, nun zu schnurgeraden Linien geglättet. Die Kombination aus mehreren dünnen und nach außen zu sich verdickenden Geraden erinnert entfernt an einen Strichcode, der von sechs vertikalen Linien unterteilt wird. Im Vergleich dazu stellt die

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untere Schemazeichnung allenfalls eine assoziative Verknüpfung zu Lochkarten oder Morsezeichen her. Die horizontalen Linien zerfallen in kurze, unregelmäßige Striche. Ovale Rahmenformen teilen das Strichmuster in mehrere Zonen auf; indem sie sich überschneiden, ergeben sie ein lockeres Geflecht aus horizontalen und vertikalen Verknüpfungen. Doch welches Weltbild bzw. welche Weltanschauung soll mit diesen schlichten Strichen, Linien, und Kreisformen visualisiert werden? Das obere Modell repräsentiert die sogenannte »gesunde Gesellschaft« als Mehrebenensystem. Für Ligeti bestand sie aus einer breiten Mittelschicht  – hier durch viele dünne Linien symbolisiert. Darüber bzw. darunter ist mit je zwei dicken Linien die Ober- bzw. Unterschicht angedeutet. Die Übergänge zwischen den verschiedenen Gesellschaftsschichten sind fließend, wie an den unterschiedlichen Strichstärken unschwer abzulesen ist. Nationalstaatliche Unterschiede, durch vertikale Grenzlinien markiert, sind auf ein Minimum reduziert. Die Differenzen sind so subtil, dass sie Ligeti mit den harmonisch verlaufenden Abstufungen eines Farbenspektrums vergleicht.51 Dementsprechend gelingt es der »gesunden Gesellschaft«, soziale Gegensätze nach innen durch fließende Übergänge abzubauen und nach außen hin keine internationalen Differenzen aufkommen zu lassen. Dagegen besteht die »zersetzte Gesellschaft«, deren Beginn mit dem Ende des Impressionismus datiert wird, aus hemmungslosem Individualismus, wie das untere Schema zu verdeutlichen sucht.52 Drei Weltanschauungen werden für das zerrüttete Gemeinwesen verantwortlich gemacht, die Ligeti zu einer verabsolutierenden Bildformel verdichtet hat. Für die »zersetzte Gesellschaft« ist symptomatisch, dass die tragende Mittelschicht zerrieben wird. Partiell gelingt es ihr, in der Oberschicht aufzugehen, der überwiegende Teil driftet jedoch in die Unterschicht ab. Die Folge dieser Zersetzungstendenzen ist eine soziale Polarisierung, die Integrationstendenzen nach sich zieht und zwar auf internationaler Ebene. Im Sinne des Marxismus bildet das Proletariat die neue Unterschicht, während sich die neue Oberschicht zur herrschenden Klasse formiert und als solche den Spätkapitalismus verkörpert. Diese unüberbrückbaren 51 | Vgl. Ligeti 1931, S. 305 f. 52 | Vgl. ebd., S. 253.

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gesellschaftspolitischen Fronten führen in dem Schema zur Blockbildung innerhalb der topologisch definierten Zweiklassengesellschaft. Mit scharfer Kritik an der Mehrwertideologie einerseits und der gleichmacherischen Nivellierung von physischer und geistiger Arbeit andererseits versucht Ligeti die konträren Positionen zu zähmen.53 Aus dem »Wellengesetz der Geschichte« glaubt er zweierlei ableiten zu können: zum einen die Pflicht, Zinserträge von akkumuliertem Kapital an Mittellose auszuzahlen, zum anderen die »ethische« – und damit meint er die »kollektiv« ausgerichtete – »Regenerierung« der Oberschicht.54 Ideologisch leiten Ligetis holzschnittartig skizzierte Thesen zum Faschismus über. Diesem wird die Fähigkeit zugesprochen, die aufgestauten Energien zu absorbieren und vom Klassenkampf abzuwenden. Ausgehend von der geschwächten Mittelschicht vereint der Faschismus die gegensätzlichen Klassen zumindest auf nationaler Ebene, ein Phänomen, das durch drei vertikale Ovale angedeutet werden soll.55 Ligeti ist sich der Gefahr bewusst, die in einer derartigen Abkapselung des faschistischen Staates liegt. Umgekehrt weist er den paneuropäischen Gedanken als ungebremstes Machtstreben des Großkapitals am Beispiel von Frankreich mit aller Entschiedenheit zurück.56 In Italien und Deutschland ist die Situation angeblich anders. Mit der Bereitschaft, sich übernational zu organisieren, eröffnet der Faschismus dort der Mittelschicht ansatzweise eine politische Perspektive.57 Trotz dieses profaschistischen Schwenks versucht Ligeti eine parteilose Position zu suggerieren, indem er zur nationalsozialistischen Doktrin auf Distanz geht. Ihr Idealismus sei zu reaktionär, ihr Nationalismus zu sehr auf Isolation hin angelegt, lautet seine Kritik, die weit gemäßigter ausfällt als gegenüber dem Marxismus oder dem Kapitalismus. Am Schluss seines Überblicksbandes mit dem programmatischen Titel Der Weg aus dem Chaos zeichnet Ligeti dann den Weg ins Chaos vor und zwar als gewaltvollen Kampf zwischen den drei 53 | Vgl. 54 | Vgl. 55 | Vgl. 56 | Vgl. 57 | Vgl.

ebd., ebd., ebd., ebd., ebd.,

S. 260 f. S. 305. S. 264. S. 267 f. S. 268.

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Hauptideologien Marxismus, Kapitalismus und Faschismus. Ligeti spricht von »Erschütterungen der nächsten Jahre«, vom »Kampf« der ideologischen Kräfte, von der großen »Gefahr« einer Wiederholung der Ereignisse von 1914–1918 und situiert dementsprechend seine Schrift in den »Vorabend« tief greifender Auseinandersetzungen, die, zieht man die logischen Konsequenzen aus seiner Zeitdiagnose, nur auf einen neuen Weltkrieg im Sinne einer Ideologieschlacht hinauslaufen können.58 In diesem fatalistischen Szenario ist auch eine zivilisationsgeschichtliche Zukunftsperspektive angelegt.59 Am zeitfernen Horizont taucht die »gesunde Gesellschaft« sozusagen als einfaches Streifenmuster wieder auf. Soviel zur ideologischen Mustererkennung bei Ligeti. Die von Ligeti mit der Publikation Der Weg aus dem Chaos verbundenen Hoffnungen eines Durchbruchs seiner in grafischer Vereinfachung formulierten Ideen wurden jäh enttäuscht. Als jüdischer Autor teilte er das Schicksal vieler intellektueller Zeitgenossen: Sein Buch wurde verlegt, aber mit Absicht nicht beworben oder besprochen, um es durch Stillschweigen für zukünftige Lesergenerationen vor der Zensur durch den Nationalsozialismus zu bewahren.60

Z wischen O rdnungsmuster

und

E xperimentierfeld

Die rekursiven Wissensbilder in den Geisteswissenschaften operieren mit Fakten. Sie sind in der Regel akkumulativ, das heißt, der mittels Koordinaten definierte Konfigurationsraum zeichnet sich durch eine hohe Datendichte aus. Die Aufgabe des topologischen Wissensbildes besteht in der räumlichen Systematisierung von Informationen und der Rationalisierung von sachlichen Beziehungen. Seine Kapazität liegt sowohl in der Vermittlung als auch in der Theoriebildung. Das sichtliche Bemühen, die letztlich unauslotbare historische Fülle mithilfe eines formalen Rasters zu bändigen, zielt darauf ab, dem faktenlastigen Wissensbild ein memorierbares Ordnungsmuster zu 58 | Vgl. ebd., S. 254 f. 59 | Vgl. ebd., S. 291–296. 60 | Zur Rezeption und Kontextualisierung von Ligeti vgl. Sorokin 1966, S. 365– 373; Baur 1978, Register; Heynickx 2008; Teutenberg 2013.

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verleihen. Kriterien des Ästhetischen fließen in diese Anstrengung ein, um das Wahrnehmungsmuster des Betrachters zu verbessern. Neurobiologisch gesehen, prägen sich regelmäßige Formen leichter ins Gedächtnis ein als »chaotische« Netzstrukturen. Anders als topologische Wissensbilder, denen ein räumliches Ordnungsprinzip zugrunde liegt, operieren strukturelle Wissensbilder mit Kategorien. Sie eröffnen ein Experimentierfeld für konzeptuelle Gedankenkonstruktionen. Logisch-kausale Ordnungen erzeugen nicht nur ikonische Denkmodelle, sie selbst sind eine Art Denkstil, der sich bildnerischer Mittel bedient.61 In diesem Sinne gleicht der Philosoph einem Zeichner, der alle Zusammenhänge aufzeichnet, so wie dies Wittgenstein mit etwa tausend Skizzen praktiziert hat.62 Dabei sind strukturelle Wissensbilder in ihrem generalisierenden Ansatz so subjektiv gefärbt wie mitunter raumbezogene Wissensbilder.63 ­Tagliacozzos Tree of Knowledge ist das beste Beispiel dafür. Er beruht auf einem Zirkelschluss. Von der Annahme einer Evolution ausgehend, suchte Tagliacozzo nach einem Ordnungsmuster in der Natur, das seine Annahme wiederum bestätigte. Er fand es im Baum als dem diagrammatischen Archetypus schlechthin. Das Baummodell bot sich für Tagliacozzos Klassifikationssystem der Wissenskulturen deswegen an, weil es als hierarchisch abgestuftes Verteilernetz auf anschauliche Weise den Gedanken einer steten Weiterentwicklung des Wissens  – als Höherentwicklung verstanden  – verdeutlichen kann. Gegenüber der Verräumlichung von Wissen und der strukturell ausdifferenzierten Wissensordnung erscheint das verabsolutierende Modellsystem der herrschenden Weltbilder von Ligeti merkwürdig abstrakt. Mit wenigen Strichen schafft es der Architektur- und Kunsthistoriker, Weltanschauungspolitik zu betreiben. Dabei greift er auf die suggestiven Mittel einer »Ästhetik von unten« zurück. Der Begriff 61 | Erinnert sei an Robert Flecks Vortrag »Das Diagramm, die Analogie, die Hysterie. Logique de la Sensation  – Gilles Deleuze, François Lyotard und die Malerei«, den er 1983 in Wien hielt. Damals visualisierte Fleck nationale Denkstile anhand von schematischen Zeichnungen. 62 | Vgl. Wittgenstein 1994, S. 37. 63 | Zum Diagramm als »politische Angelegenheit« vgl. die im Anschluss an ­M ichel Foucault formulierten Überlegungen von Deleuze 1977, S. 128.

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»Ästhetik von unten« wurde im späten 19. Jahrhundert von dem Physiker und Philosophen Gustav Theodor Fechner zur Abgrenzung gegenüber der schöngeistigen »Ästhetik von oben« geprägt, wie sie die traditionelle Philosophie und die Literaturwissenschaft fast ausschließlich im Zusammenhang mit Kunst diskutierte. Die Schönheit von wissenschaftlichen Theorien und, daraus abgeleitet, von Ideologien wurde in der »Ästhetik von oben«, die induktiv ausgerichtet war, konsequent ausgeklammert. Demgegenüber ist die »Ästhetik von unten« experimentell angelegt. Sie betrachtet das Schönheitserleben als das, was es empirisch ist: als alltägliches psychologisches Phänomen, das man in Experimenten analysieren kann.64 Fechners Versuche belegen, dass einfache, klare, homogene Formen positive Assoziationen beim Betrachter auslösen, und in diesem ganz spezifischen Sinne wirkt Ligetis schlichtes Musterbild einer »gesunden Gesellschaft« befremdlich schön. Ligetis Schemazeichnung baut darauf auf, dass Visualisierung zur politischen Mehrheitsbildung führt, zu einer ideologischen Konsensfähigkeit, die auf dem ästhetischen Assoziationsprinzip beruht. Hinter der totalitären Wirkungsstrategie seiner Schemata steckt eine bildpolitische Dimension, die mitnichten unterschätzt werden darf.

64 | Vgl. Fechner 1876, Bd. 1, S. 1–7.

Denkstil und Stilformen S tilformen

der

Z eit

1948 erschien in einem britischen Unterhaltungsmagazin für Geschäftsleute ein anonymer Beitrag über chinesische Kunst. In dem kurzen, dafür reich illustrierten Artikel wurde die Meinung vertreten, dass die Malerei in China, ob alt oder neu, ihren intensivsten Ausdruck durch die Besinnung auf ihre eigene, vitale Tradition gewinnt – ungeachtet der künstlerischen Auseinandersetzung mit westlichen Einflüssen seit der Ankunft der Missionare.1 Diese Ansicht, die einem diffusen Sammlerinteresse zuarbeitete, sollte durch die suggestive Kraft eines Schaubildes erhärtet werden: Mountains down the Centuries (Abb. 27). Indem sich der diagrammatische Abriss auf die Entwicklung dreier Stilrichtungen in China am Beispiel von Berglandschaften konzentriert, deren Verhältnis zueinander bestimmt und die formale Komplexität von Kunstwerken in Hinblick auf einen typischen Ausschnitt illustriert, wird die Illusion einer Erkenntnisökonomie erzeugt, die auf wenigen Darstellungsmitteln beruht: Entwicklungsgrafen, Zeitzeilen, Anschauungsbeispielen und Kommentaren. Prägnanter als in diesem grafischen Abkürzungsverfahren lässt sich die autonome Stilgeschichte der chinesischen Tuschmalerei über einen Zeitraum von 1.500 Jahren kaum zusammenfassen. Demnach zieht die chinesische Kunst die Kraft ihrer Entstehung aus unerforschlichen Quellen. Durch bloße Ableitung aus vorangegangenen Kunstströmungen sind die drei über die gesamte Höhe des Diagramms von oben nach unten verlaufenden, durch Farbe und Form unterschiedlich codierten Entwicklungslinien nicht deduzierbar, so wie am anderen Ende der Zeitskala offen bleibt, wohin ihr Weg führt. Als Leitsystem sind diese 1 | Vgl. Magazine of the Future 1948.

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ästhetischen Traditionen einfach nur da, ohne Zweck und Ziel und mithin auch ohne Reflex auf außerkünstlerische Verhältnisse. Die größte Tradition stellt die »Nördliche Schule« dar, hier als blaue Farbbahn angelegt. Die dünne, rote Kurvenlinie repräsentiert die anfangs kleinere »Südliche Schule«. Als zwei Extrempositionen nähern sich beide Schulen einander an, bis sie ab 1100 in einer Parallelaktion den konfuzianischen »Mittelweg« anpeilen. Der Richtungswechsel, den die südliche Stilbewegung als Angleichung an die nördliche dabei vornimmt, ist mit einem enormen Bedeutungsgewinn verbunden. Diagrammatisch wird er als anschwellende Linie gefasst, die faktisch der Akademisierung chinesischer Kunst ab dem 12. Jahrhundert entspricht. Die dritte Strömung, hier als gestrichelte rote Linie gekennzeichnet, stellt die »Gelehrtentradition« dar. Sie beruht nicht auf Nachahmung der Natur, sondern auf Imitation des Meisters und technischer Perfektion des Schülers. Als Variante der »Südlichen Schule« durchläuft sie eine vergleichsweise unauffällige Entwicklung. Der Einfluss des Westens, der als gekrümmte Lichtbahn im 17. Jahrhundert ins Reich der Mitte eindringt, färbt auf alle drei Maltraditionen gleichmäßig ab. An diesem fremden Impuls scheiden sich die Stile. Neue Kräfte werden freigesetzt, welche die ästhetischen Vorstellungen einer ganzen Nation verändern und erweitern. Umgekehrt scheint die Aneignung fremder Elemente in neuen Seitensträngen die Herausbildung einer »Nördlichen Tradition« als Gegenreaktion auf diese Verwischung lokaler Unterschiede erst befördert zu haben, die zur besseren Unterscheidung in den drei Grundfarben gehalten sind. Gleichzeitig macht die Ausdünnung der triadisch auf die kompositorische Mittelachse des Diagramms hin arrangierten Traditionslinien aber auch klar, dass die »Nördliche« und die »Südliche Schule« sowie die »Gelehrtentradition« ihren Einfluss auf das chinesische Kunstbewusstsein von nun an mit der »Neuen Ost-West-Schule« teilen muss. Die Bildausschnitte zu beiden Seiten der Entwicklungskurven zeigen fotografische Vergrößerungen unterschiedlicher Tuschtechniken am Beispiel von Bergmotiven. Diese sind so in das Schaubild eingeblendet, dass sie die stilistischen Ausprägungen in dynastischen Etappen illustrieren: links Muster von fließenden Linien, die mit der serenen Atmosphäre Südchinas begründet werden, rechts Beispiele einer vergleichsweise harten Pinselführung, die auf die raue Natur des Nordens zurückgeführt wird. Mag in dieser nach kunstgeografischen

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Abb. 27: Mountains down the Centuries, 1948

Gesichtspunkten arrangierten Gegenüberstellung von Stilproben die von Johann Joachim Winckelmann an der griechischen Plastik entwickelte Klimatheorie der Kunst auf asiatische Verhältnisse angewandt erscheinen, der diagrammatische Rekurs auf die Anschauungsform hält an der Einsicht fest, dass alles, was Kunst an Bedeutungen von sich aus zu stiften vermag, zunächst an die Beschaffenheit ihrer Form gebunden ist.2 So wie jedes künstlerische Artefakt die Handschrift seiner Zeit trägt, besitzt auch jedes kunsthistorische Schaubild einen Zeitmarker. Die diagrammatische Visualisierung der chinesischen Stilgeschichte wird als Ausdruck eines Zeitstils erst vor dem Hintergrund des Informel verständlich. In der tachistischen Anordnung der organoiden Bildausschnitte und der emphatischen Linienführung finden jene 2 | Als Einführung in die Geografie des Geschmacks vgl. Sauerländer 1985; zum Topos einer geoklimatischen Kulturanthropologie vgl. Fink 1987. Speziell zu ­W inckelmanns Anlehnung an Georges Louis Leclerc de Buffons Histoire naturelle vgl. Franke 2006, S. 110–113.

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Abb. 28: László Moholy-Nagy, Stilrhythmik nach Dr. Georg G. Wieszner, [1930]

Stilelemente ihren diagrammatischen Niederschlag, die die westliche Kunst nach 1945 unter maßgeblichem Einfluss der ostasiatischen Kalligrafie geprägt haben. Allgemeiner formuliert: Das Schaubild beschreibt, was es darstellt, mit den Mitteln des Dargestellten. Auf  dieser Verschränkung von Form und Inhalt beruht das kompositorische Kalkül des Diagramms. Der Zeitstil gehört als Individualstil zum diagrammatischen Design und dies auch aus einem anderen und naheliegenden Grund: Für die grafische Ausarbeitung von kunstwissenschaftlichen Schaubildern wurden immer wieder gezielt Designer und Künstler beauftragt, um dem nüchternen Datenmaterial jene ästhetische Anschauungsform zu verleihen, die auf der Stilhöhe der Zeit lag. Dies war beispielsweise der Fall, als an László Moholy-Nagy Ende der zwanziger Jahre der Auftrag erging, für den Überblicksband Der Pulsschlag deutscher Stilgeschichte von Georg Gustav Wieszner ein Frontispiz zu entwerfen (Abb. 28). In dem Bewusstsein, dass Volksbildung nicht als hierarchischer Wissenstransfer, sondern im anschaulichen

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Gedankenaustausch befördert werden sollte, arbeitete Wieszner als Mittler zwischen der Gelehrtenwelt und einem breiteren Publikum.3 In dieser Funktion war er als Volkshochschullehrer tätig, in diesem Selbstauftrag schrieb er seine Bücher, und in dieser Absicht favorisierte er Moholy-Nagy als Diagrammdesigner. Der ehemalige BauhausLehrer und Gestalter der Bauhausbücher war Garant dafür, Wieszners linearem Narrativ durch die Verwendung »typografischer Materialien« wie Schrift, Zeichen und Fotografie jene optische Eindringlichkeit abzuringen, die gutes visuelles Design auszeichnet.4 Als textanaloger Komprimierungsversuch war das Layout des Schaubildes an die Buchvorlage gebunden. Doch die allgemeine Themenstellung einer Stilveränderung in der Architektur als gesetzmäßiges Pendeln zwischen Grundmöglichkeiten bot Moholy-Nagy hinreichend gestalterischen Spielraum, um das Entwicklungsschema durch kompositorischen Aufbau und Dramaturgie der Abbildungen gleichsam in einen »Fototext« zu verwandeln. Dessen »visuell-assoziativ-begrifflich synthetische Kontinuität« sollte der Publikation zu jenem zeitgemäßen Duktus verhelfen, der Rezeptionswirksamkeit versprach.5 Der Zeitmarker bildet so ein distinktes Kriterium, an dem sich die signierte Diagrammkunst eines Moholy-Nagy wie das anonyme Designerdiagramm zur chinesischen Stilgeschichte misst und unterscheidet. Die Analyse diagrammatischer Sachverhalte wäre nicht nötig, wenn damit nur einer »Stilgeschichte wissenschaftlicher Bilder« das Wort geredet werden sollte.6 Im Rahmen der jüngsten Anstrengungen, eine kunstwissenschaftliche Diagrammforschung unter stilgeschichtlichen Gesichtspunkten aus der Taufe zu heben, hieße dies, offene Türen einzurennen. Gewiss, es gibt eine Stilgeschichte der Diagramme, auch wenn diese bis dato noch nicht geschrieben worden ist, so wie es eine Gattungsgeschichte der Diagramme gibt, die bislang nur in Ansätzen existiert, oder eine Rezeptionsgeschichte von wissenschaftlichen Schaubildern, die ebenfalls ausbaufähig wäre.7 3 | Vgl. Wieszner [1930], S. 5 f. Zur Entwicklung eines neuen Volksbildungsverständnisses vgl. Wunsch 1986. 4 | Vgl. Moholy-Nagy 19272, S. 38. 5 | Vgl. ebd. 6 | Vgl. Bredekamp 2008. 7 | Zur Gattungsgeschichte des Diagramms vgl. Gormans 2000; Bucher 2008.

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Die Aktualität der Stilgeschichte für die Diagrammforschung liegt nicht so sehr in ihrer Neuentdeckung als in ihrer Wiederentdeckung als Mentalitätsgeschichte begründet, insofern damit intellektuelle Praktiken, alltägliche Denkmuster, ideologische Grundierungen oder das kollektive Unbewusste einer Epoche erfasst werden sollen. In dieser übergreifenden Problemstellung, die hinter der formalen Qualität inhaltliche Implikationen in Bezug auf ein bestimmtes Zeitalter, eine Kultur, Gesellschaft oder einzelne Personen erkennt, liegt die eigentliche Brisanz eines erweiterten Verständnisses von der Stilgeschichte wissenschaftlicher Bilder. Die mit Blick auf Mountains down the Centuries angestellten Überlegungen sollen im Folgenden als Folie dienen, vor der ich der positivistischen Merkmalwissenschaft einen allgemeinen und grundsätzlichen Aspekt abgewinnen möchte. Es geht um die zweiteilige Frage nach der Funktion und Bedeutung stilgeschichtlicher Ansätze innerhalb der Geschichte kunstwissenschaftlicher Diagramme. Die Antworten darauf sollen helfen zu verstehen, warum und wodurch es möglich wurde, dass man sich neuerlich mit stilgeschichtlichen Problemstellungen im Kontext einer kunstwissenschaftlichen Diagrammatik beschäftigt und das, obwohl der Stilgeschichte, deren Durchbruch im Historismus lag, nach 1945 kein großer Erfolg mehr beschieden war. 8 Vielmehr provozierte das Unbehagen an dem Stillinien-Studium von Haarsträhnen oder Gewandfalten seinerseits neue methodische Ansätze. Zu ihnen darf zweifellos auch die Diagrammatologie als neues bildwissenschaftliches Forschungsfeld gezählt werden.

»M an

müsste

Tabellen

anlegen

…«

Der Kunsthistoriker und -kritiker Franz Roh hat im theoretischen Teil seiner Studie über den Verkannten Künstler, deren Abfassung in die Zeit des Zweiten Weltkriegs fällt, ein Desiderat formuliert, in dem Goethes Apologie der tabellarischen Übersicht als kunstwissenschaftliches Denkwerkzeug unwillkürlich durchklingt:

8 | Vgl. Cortjaens und Heck 2014.

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»Man müßte Tabellen anlegen, welche zeigen, in welcher Schnelligkeit kunstgeschichtliche Stile entstanden und verblühten (Romanik, Gotik, Renaissance usw.). Dann sollte man einzeichnen, welche wechselnde Zeitdauer deren bloße Teile brauchten (Früh-, Hoch- und Spätgotik usw.). Dann müßte man die Länge der Entwicklungsstadien der Einzelmeister messen. Auch die Individualtempi sind ja verschieden. Zu gewissen Zeiten und bei bestimmten Menschen läuft alles sehr schnell: Goethe mit der Folge von Rokoko, Empfindsamkeit, Sturm und Drang, Klassizismus, Romantik. Und Picasso mit dem Nacheinander von lyrischer Gegenständlichkeit (Blaue Periode), Kubismus, Klassizismus, Surrealismus.« 9

An Rohs Forderung nach Tabellen – eine der Urformen des Diagramms – war die Erwartung geknüpft, mittels grafischer Aufbereitung von Informationen neue Aufschlüsse über die Wirkungsmechanismen von Epochenstil und Individualstil gewinnen zu können. Tabellen sollten auf anschauliche Weise die Hintergründe für die Entstehung des Ruhms, dessen Verzögerung oder gar dessen Ausbleiben verstehen helfen. Auf der Basis chronologischer Daten in visualisierter Form, so die Hoffnung von Roh, könnten tiefere Einsichten in die Voraussetzungen für die Anerkennung bzw. die Verkennung des einzelnen Künstlers gewonnen werden. Die historische Bedingtheit von Karriere sah Roh deshalb im Zusammenhang mit einer allgemeinen Stilentwicklung, äußeren Faktoren also, deren Wechselspiel mit der individuellen stilistischen Entwicklung eines Künstlers es seiner Ansicht nach zu untersuchen galt, um dessen Erfolg bzw. Misserfolg nicht als persönliche Leistung bzw. Versagen zu begreifen, sondern durch einen größeren, überindividuellen Kontext zu erklären. Mit einer grafischen Visualisierung dieser Beziehungen wollte der Apologet der Moderne seine »Theorie des kulturellen Mißverstehens« mit der Prägnanz und Evidenz ausstatten, wie sie als intrinsische Qualität speziell Schaubildern eigen ist. Mochte Roh die maßgeblichen Parameter für ein selbstzweckhaftes Kunstverständnis – Geschwindigkeit der Stile, Dauer ihrer Phasen 9 | Roh 1993, S. 412. Zu den näheren Entstehungsumständen des Buchmanuskripts unter der nationalsozialistischen Kulturpolitik vgl. Lersch 2005, S. 170–174. Zu Goethe vgl. Unterkap. »Plädoyer für die Tabelle« in diesem Buch, S. 15–19.

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Abb. 29: Max Deri, Tabelle der Lebenslinien: Frankreich und Tabelle der Lebenslinien: Deutschland, 1919

und Entwicklungstempi der Künstler  – benannt haben, hinsichtlich ihrer Umsetzung im Tabellenmodus stellte er keine konkreten Überlegungen an, sowenig wie er selbst Übersichtstafeln angefertigt hat.10 Dabei mangelte es ihm keineswegs an Anregungen. Durch seine langjährige Freundschaft mit Otto Neurath war er mit der »Wiener Methode der Bildstatistik« bestens vertraut und wusste auch deren Schwächen zu benennen (Abb. 44, 64).11 Roh bemängelte an dieser Art von »Anschaulichkeitsstatistik« eine »nicht immer einwandfreie Stilisierung«.12 Letztlich mag aber die Auseinandersetzung mit der Bildstatistik sein Tabelleninteresse bestärkt, wenn nicht gar erst geweckt haben. Was der Kritiker Roh nicht ahnte, als er in den Kriegsjahren sein Plädoyer für die tabellarische Darstellung von  10 | Dieser Eindruck entstand nach meiner Sichtung des Nachlasses von Franz Roh im Deutschen Kunstarchiv des Germanischen Nationalmuseums, Nürnberg. 11 | Vgl. Kap. »Wiener Methode der Bildstatistik« in diesem Buch, S. 155–210. 12 | Roh 1926, S. 365.

D enkstil

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Stillinien formulierte, war die Tatsache, dass sich innerhalb der Kunstwissenschaft längst eine, wenn auch vielfach latente Praxis des Tabellarisierens und Diagrammatisierens entwickelt hatte, die ein ausdifferenziertes Bild von stilgeschichtlichen Entwicklungen und deren  Tempi bot. So hatte der in Berlin tätige Kunstkritiker Max Deri 1919 ein zweibändiges »Lehr-Buch« über Die Malerei im XIX. Jahrhundert vorgelegt, das sich über den engen Zirkel von »Fachgenossen« hinaus an einen größeren Leserkreis richtete.13 Unter den zahlreichen grafischen Darstellungen, die Deri zum besseren Verständnis seines Textes angefertigt hat, stechen drei Übersichtstafeln heraus (Abb. 29, 32). Sie veranschaulichen die Struktur und Intensität künstlerischer Entwicklungen im nationalen Vergleich von Frankreich und Deutschland. Deri, der einer psychologisierenden Formdeutung in der Tradition des frühen Heinrich Wölfflin anhing, die er mit stilgeschichtlichen Fragen verknüpfte, untersuchte die lineare Abfolge von »Zeitstilen«, indem er nach deren Gesetzmäßigkeiten fragte und das sich ändernde stilistische »Zeitgefühl« analog zu den Wechselfällen psychischer Zustände zu erklären suchte.14 Mit seinen tabellarischen Darstellungen, die den Bildband einleiten, zog Deri eine Summe dessen, was er auf rund 590 Seiten in Schriftform ausgebreitet hatte. Zwei auf einer Doppelseite einander gegenübergestellte Tafeln sollen über den entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhang, der zwischen den Großstilen einer Epoche und der individuellen Entwicklung von Künstlern besteht, Auskunft geben. Und sie tun dies auf grafisch denkbar nüchterne, zugleich aber auch auf frappante Weise. Als »historisches Gerüst« fällt diesen Tabellen die Aufgabe zu, das Verständnis des Expressionismus nachhaltig zu fördern, indem sie dessen Vorgeschichte exemplarisch anhand von 35 Malern in einem Zwei-Länder-Vergleich aufrollen.15 Um die Information in eine übersichtliche Form zu bringen, entschied sich Deri für das Querformat (Abb. 30). Zwischen den am Tabellenkopf bzw. -fuß definierten Parametern, der chronologischen Zeit und den in 50- bzw. 25-Jahresschritten untergliederten »Stilarten«, 13 | Vgl. Deri 1919, S. 5, 10. 14 | Vgl. ebd., S. 54 f., 57; und dazu Bushart 2007, S. 375. 15 | Vgl. Deri 1919, S. 57, 71.

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Abb. 30: Max Deri, Tabelle der Lebenslinien: Deutschland, 1919 Abb. 31: Max Deri, Tabelle der Lebenslinien: Deutschland, 1919 (Detail)

sind die sogenannten »Lebenslinien« herausragender Vertreter des Klassizismus, der Romantik, des Naturalismus und des Expressionismus eingezeichnet. Die horizontale Erstreckung dieser Geraden wird durch zwei Eckdaten, das Geburts- und das Todesjahr des namentlich angeführten Malers, definiert (Abb. 31).16 Durch die zusätzliche Angabe der individuellen Lebensdauer am Ende der Lebenslinie erfährt der Zeitpunkt des Ablebens eines Künstlers in Bezug auf dessen Gesamtlebensdauer eine Relativierung. Die gesamte Breite der Schemata wird von mehreren gestrichelten Linien durchzogen. Sie gruppieren die Künstler nach Stilgenerationen, 16 | Die kleine Ungenauigkeit bei der Angabe des Todesjahres von Ferdinand Hodler, der nicht 1917, sondern erst im darauffolgenden Jahr verstarb und mithin 65 Jahre alt wurde, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle.

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insofern sie den im Tabellenkopf angeführten Kunstrichtungen zugeordnet werden können, die zum besseren Verständnis am linken Tabellenrand nochmals angeführt sind.17 Die Durchlässigkeit dieser Trennlinien suggeriert einen osmotischen Austausch zwischen den unterschiedlichen »Stilweisen« der Künstler, während die konsistenten Lebenslinien den Eindruck von singulären Phänomenen erwecken und von den vielfältigen Querverbindungen gegenseitiger Beeinflussungen nichts erahnen lassen. Und doch sind es diese Lebenslinien, die als Index für individuelle »Stilweisen« gelesen werden können. Indem Deri die Geraden aus zwei Teilstrecken zusammensetzt, einer dünnen Strecke und einer verstärkt nachgezogenen Reststrecke, eröffnet er eine Interpretation, die an die polyvalente Linienführung gebunden ist. Während der feine Strich die ersten 25 Lebensjahre eines Künstlers angibt, markiert die breitere Reststrecke dessen reife Schaffensphase, die Deri im Durchschnitt zwischen dem 30. und dem 50. Lebensjahr ansetzt. So wie die Lebenslinien hier codiert sind, schlagen sie ab dem 25. Lebensjahr in Werklinien um, die darüber Auskunft geben, welcher Kunstrichtung jeder Maler zuzuordnen ist. Dazu muss man nur den dickeren Teil des Strichs mit den Stilkategorien im Tabellenkopf abgleichen. Diese rudimentäre Kategorisierung unterlief übergeordnete Fragestellungen, wie sie Franz Roh formulieren sollte. Rohs »Theorie des kulturellen Mißverstehens« ließ sich damit jedenfalls weder begründen noch widerlegen. Stattdessen dienen Deris Lebenslinien der Plausibilitätsbegründung von Stilphasen, die sich im mathematisch gemittelten Rhythmus von 25 Jahren vollziehen und jeweils eine Generation repräsentieren. Die eingeflachte Zeitlinie am oberen und unteren Tabellenrand steht explizit für einen großen »Entwicklungsbogen«, der sich aus fünf kleineren Schwüngen zusammensetzt: dem Klassizismus, der Romantik, dem subjektiven und dem objektiven Naturalismus sowie dem Expressionismus. Nach Deri unterscheidet sich jeder dieser »Stilbögen« 17 | Deri schlug so eine Bresche für die Kunstgeschichte nach Generationen, die Wilhelm Pinder sieben Jahre später in seinem Buch Das Problem der Generation in der Kunstgeschichte Europas einfordern sollte; vgl. Pinder 1961. Zentrale Thesen dieses Bandes erschienen zeitgleich auch als Aufsatz; vgl. Pinder 1926. Über den Vordenker Deri schwieg Pinder sich geflissentlich aus, und die kunstwissenschaftliche Sekundärliteratur ist ihm darin blindlings gefolgt.

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in Hinblick auf ein ästhetisches »Grundgefühl«, dessen Wandel er  – analog zu Stimmungsschwankungen – stilpsychologisch erklärt.18 Deri hat bei der »entwicklungsgeschichtlichen Darstellung auf psychologischer Grundlage«, so der Untertitel seiner Publikation, das Augenmerk auf den inneren Zusammenhang gelegt, den Kunstwerk und »seelischer Habitus des Künstlers« bilden und den er in monografisch angelegten Kapiteln aufzudecken versucht.19 Die Quintessenz dieses Vergleichs ist in einer Übersichts-Tabelle von Frankreich und Deutschland zusammengefasst (Abb. 32). Im direkten Vergleich beider Nationen werden gravierende Mentalitätsunterschiede sichtbar. Neben den »Hauptmeistern«, die wie Jacques-Louis David, Eugène Delacroix, Gustave Courbet oder Edouard Manet als Träger des Zeitgeists jeweils eine Stilrichtung repräsentieren, stellen Théodore Géricault, JeanFrançois Millet, Paul Cézanne, Paul Gauguin und Vincent van Gogh in ihrem sezessionistischen Vorstoß »Übergangsmeister« dar.20 Scheinbar mühelos durchbrechen sie die zwischen Klassizismus, Romantik, Naturalismus und Expressionismus mit vertikalen Trennungslinien gezogenen Stilzäsuren und leiten eine neue Stilphase ein, indem sie als Übergangsphänomene zu Leitfiguren neuer Künstlergenerationen werden. In Deutschland verläuft die Entwicklung mit zeitlicher Verzögerung, wie sie Fremdeinflüsse mit sich bringen, parallel. Im Gegensatz zu ihren französischen Kollegen zeichnen sich die deutschen Maler durch ein verstärktes Beharrungsvermögen aus – Deri spricht von »germanischer Eigenbrödelei« –, das man mit Blick auf die grafischen Einfassungen auch als Einschränkung begreifen kann.21 So bleiben Ludwig Richter, Moritz von Schwind und Carl Spitzweg bis zu ihrem Lebensende einer »bürgerlichen Romantik« verhaftet, während Arnold Böcklin, Anselm Feuerbach, Hans von Marées und eingeschränkt auch Max Klinger nach Italien gehen, um sich der Tyrannei eines Zeitstils zu entziehen.22 Indem Letztere der Entwicklung zum Naturalismus ausweichen, geraten sie zu Außenseitern der Kunstszene.  18 | Vgl. Deri 1919, S. 7, 56 f. 19 | Ebd., S. 71. 20 | Vgl. ebd., S. 69. Pinder wird später von »großen Meistern« und »Zwischenmeistern« sprechen. Vgl. Pinder 1961, S. 98 f. 21 | Vgl. Deri 1919, S. 70. 22 | Vgl. ebd.

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Abb. 32: Max Deri, Übersichts–Tabelle von Frankreich und Deutschland, 1919

Als »große Sonderlinge« der deutschen Kunstentwicklung bleiben sie ohne nennenswerte Nachfolger.23 Deris Malerei im XIX. Jahrhundert ist zwischen 1919 und 1923 in vier Auflagen bei Paul Cassirer erschienen.24 Die Tabellen im Bildband, die unverändert in allen Ausgaben abgedruckt wurden, haben in der akademischen Kunstgeschichte allerdings kaum Spuren hinterlassen. Ein entschiedener Kritiker des Buches, Adolf Behne, ging zumindest kurz auf die grafischen Darstellungen im Textband ein, freilich nur, um in einem Zitatenverschnitt ironisch zu vermerken, dass sie die von Deri beschriebene Form der Kunstbetrachtung wesentlich erleichtern würden.25 Behne war nicht bewusst, dass Deri ­ einen neuen Weg des tabellarischen Argumentierens beschritten 23 | Vgl. ebd. 24 | Die erste Auflage war bis Jahresende 1919 vergriffen, die vierte Auflage 1923 durch das große Interesse speziell »im Ausland« möglich geworden. Vgl. Feilchenfeldt und Brandis 2002, S. 122–127. 25 | Vgl. Behne 1920a, S. 6.

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hatte. Die drei Schautafeln legen ferner ein beredtes Beispiel dafür ab, welche ideologischen Grundierungen sich hinter der diagrammatischen Praxis verbergen können. In ihrer Kombination aus Sichtund Denkweise arbeiten die Tafeln bei allem »Internationalismus des Erkennens«, den Deri sich zugutehält, einer chauvinistischen Stilpsychologie zu, deren Bedeutungswandel ohne die Einbeziehung der historischen Disposition nicht verständlich wird.26 Dort, wo Deri den Expressionismus im Zuge einer nationalen Euphorie zum regelrechten Befreiungsschlag hochstilisiert, indem dieser die »Führung des Auslandes« nach vierhundert Jahren abzuschütteln vermag, sollte die Kunst des Deutschen Reichs an die Spitze der kulturellen Entwicklung hinaufbefördert werden.27 Zu diesem überzogenen Selbstbild einer Nation passt auch, dass Deri in der Übersichts-Tabelle von Frankreich und Deutschland Ferdinand Hodler zum Alleinvertreter des Expressionismus erklärt, für den es im französischen Nachbarland keine adäquate Entsprechung zu geben scheint. Hodler, der schwerlich der Vorkriegs-Avantgarde zuzurechnen ist, wird zum Übervater des Expressionismus stilisiert.28 Durch die Vereinnahmung des Schweizer Malers für die deutsche Sache gelingt es hingegen Deutschland, nach langer Zeit wieder in Stilführung zu gehen.29 Mit dieser Einschätzung wurden die »Brücke«-Künstler abgestraft, die in Deris Tabellen ohnehin fehlen. Die erste deutsche Künstlergruppe des 20. Jahrhunderts traf der harsche Vorwurf, sich »zum Fluche für ihr Schaffen« mit van Gogh, Gauguin oder Edvard Munch falsche Vorbilder gewählt zu haben.30 Deri vertrat offenkundig keine avancierte Position in ästhetischen Angelegenheiten, was ihm niederreißende Kritik aus dem Lager der 26 | Vgl. Deri 1919, S. 64. 27 | Vgl. ebd., S. 65. 28 | Vgl. Bushart 2007, S. 382. 29 | Deri lässt den Textband mit einer Hymne auf Hodler ausklingen. Er hebt ihn als »großen Künstler« heraus, als »inneren Genossen von Dürer, Holbein und ­G rünewald« und damit als »direkten Nachfahren der drei Mächtigsten aus der letzten nordisch-deutschen Kunstperiode«, dem es als »Pionier zu [N]euem-­ Altem« erstmals wieder gelungen sei, eine Brücke zum »deutschen Heldenzeit­ alter« zu schlagen. Vgl. Deri 1919, S. 518, 524 f. 30 | Vgl. ebd., S. 453.

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Apologeten zeitgenössischer Kunst eintrug. Behne, der sich als Theoretiker des Expressionismus zum Urteilen berufen fühlte, hatte anlässlich der Neuauflage von Deris Publikation gleich zwei Rezensionen verfasst, um seine schroffe Ablehnung öffentlich zu machen. Der ehemalige Mitstreiter der Galerie »Der Sturm« beanstandete, dass Franz Marc nur mit drei Zeilen bedacht worden war, während Hodler gleich 50 Seiten gewidmet bekam. Doch war es nicht nur das krasse Missverhältnis in der Behandlung einzelner Künstler, an dem Behne Anstoß nahm. Als streitbarer Vermittler der Moderne bescheinigte er Deri, mit einem antiquierten Kunstbegriff und positivistischen Ansatz nichts weiter als ein »harmloses Spießerbuch« bzw. eine »trostreiche Bibel für bescheidene Gemüter« vorgelegt zu haben.31 Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Buchmanuskripts, das im Sommer 1914 im Wesentlichen vollendet war, kriegsbedingt aber erst fünf Jahre später in Druck gehen konnte, erhielt diese pointierte Aussage eine zusätzliche, wenn nicht gar neue Färbung.32 Deris Tabellen übernahmen in ihrer Verknüpfung aus Reflexions- und Darstellungsform nun auch eine Kompensationsfunktion für einen verlorenen Weltkrieg. Mit implizitem Bezug auf den Versailler Vertrag plädierte der Autor im Vorspann der vierten Auflage für eine »biologisch-wirtschaftliche Lebenssicherung« als unabdingbare Voraussetzung für »über-notwendige kulturelle Leistungen«. Dabei ging es um nichts Geringeres, als mit »selbstgesetzten kulturellen Zielen« die künstlerischen »Wertmaßstäbe« wieder ins rechte Licht zu rücken.33 Wo diese Wertmaßstäbe anzulegen waren, hatte Deri in seinen Tabellen klar vorgegeben.

31 | Vgl. Behne 1920a, S. 6; Behne 1920b, S. 344. Nicht jeder Kritikpunkt wurde von Deri unwidersprochen hingenommen. Im »Vorwort« der vierten Auflage wurde Behnes Vorwurf der »monotonen Langweiligkeit auf 600 Seiten« mit der Begründung zurückgewiesen, dass die »ständigen Wiederholungen« dazu dienen, die »neue ästhetische Grundanschauung« auch einem größeren Leserkreis verständlich zu machen. Vgl. Deri 1923 4, S. 11. 32 | Das Manuskript über die französische Malerei wurde im Sommer 1914 abgeschlossen, das über die deutsche Malerei im Winter 1918 verfasst. Vgl. Deri 1919, S. 5. 33 | Vgl. Deri 1923 4, S. 5.

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Abb. 33: Arcisse de Caumont, Tableau figuratif des variations de l’architecture religieuse, depuis le V.e Siècle, jusqu’à la fin du XVII.e, 1828

I m Z eitfluss Der Ruf nach der Tabelle, dem Schaubild oder Diagramm, für den exemplarisch Franz Roh zitiert wurde, basiert auf dem epistemologischen Grundsatz, dass aus den Phänomenen und Darstellungen selbst Schlussfolgerungen gezogen werden können. Roh plädierte für Übersichtstafeln, weil sich damit positive wie negative Künstlerkarrieren mit der Stilgeschichte anschaulich abgleichen ließen. Innerhalb der kunstwissenschaftlichen Schaubildpraxis stellt das stilgeschichtliche Diagramm – quantitativ betrachtet – sogar eine dominante Größe dar. Der Grund dafür ist in der Geschichte der Kunsthistorik selbst zu suchen. Die Kunstgeschichtsschreibung, die sich im Historismus als akademische Disziplin etablierte, konnte dies durch eine doppelte

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Kraftanstrengung: Zum einen löste sie sich von der philosophischen Ästhetik, zum anderen wurde sie historische Wissenschaft. Sie wurde eigenständig, da sie begann, Stilgeschichte zu schreiben  – und zu diagrammatisieren.34 Eine Ausnahmeerscheinung innerhalb dieser Entwicklung stellt Arcisse de Caumont dar. Der studierte Naturwissenschaftler und Altertumsforscher führte 1831 sein drei Jahre zuvor entworfenes Flussdiagramm in die junge Fachdisziplin der Architektur- und Kunstgeschichte ein, zu deren Institutionalisierung und Entwicklung er mit seinen formengeschichtlichen Untersuchungen zu Architekturmotiven, speziell des Mittelalters, einen wichtigen Grundstein in Frankreich gelegt hat (Abb. 33).35 Das Tableau figuratif des variations de l’architecture religieuse, depuis le V.e Siècle, jusqu’à la fin du XVII.e wurde dem vierten Bildband von Caumonts Cours d’antiquités monumentales beigegeben.36 Es handelt sich dabei um einen Ausschnitt eines größer angelegten figurativen Schemas zur Kunstgeschichte, den Caumont mit seinen didaktischen Ambitionen, »stets Auge und Geist gleichzeitig anzusprechen«, 1828 angefertigt hat.37 Caumont, der mit seinen Zeichenkünsten stets unzufrieden war, da er seine genaue Beobachtungsgabe nicht annähernd grafisch wiedergeben konnte, vertraute die Umsetzung seines Entwurfs der Druckerdynastie Chalopin an, die nicht zuletzt auf sein Drängen hin 1830 die erste Lithografieanstalt in Caen eingerichtet hatte.38 In seiner äußeren Form ahmt das figurative Visualisierungsmodell den »Strom der Zeiten« nach, ein diagrammatisches Genre, zu dem die Historiografie als Mutterdisziplin der Kunsthistorik zahlreiche Vorbilder geliefert hatte, die Caumont für seine Argumentation nur zu adaptieren brauchte (Abb. 60).39

34 | Vgl. Bauer 20036, S. 171; Bauer 2016. 35 | Vgl. Juhel 2004; Loyrette 1980; Therrien 1998. 36 | Caumont 1830–41. 37 | Vgl. Caumont in einem Brief an Frédéric Galeron vom 15.10.1829, zit. in: ­H uchet 1984, S. 93. 38 | Vgl. Caumont in einem undatierten Brief an Frédéric Galeron, zit. in: ebd., S. 76. 39 | Friedrich Straß’ Strom der Zeiten erschien erstmals 1803 auf Deutsch. Zur französischen Ausgabe vgl. Straß 1816 2; zur Geschichte des Geschichtsflusses vgl. Reitinger 2010; Bauer 2016.

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Caumonts Fluss der Geschichte entspringt aus den Regenwolken der griechisch-römischen Antike, formiert sich in der »Galloromanischen Ära« und schwillt, von unterschiedlichen Zuflüssen gespeist, kontinuierlich bis zum offenen Ende im Delta der Moderne an. Die gleitende Aufeinanderfolge der romanischen, der mittelalterlichen und der modernen Epoche täuscht darüber hinweg, dass die Darstellung von ihrer Anlage her ein Deszendenzmodell ist, dessen Entwicklung als erhabene Verfallsgeschichte wiedergegeben wird. Die Reduktion des filigranen Flüssesystems universalhistorischer Geschichtsverläufe auf einen homogenen Hauptstrom erklärt sich aus Caumonts Konzentration auf die stilistische Deklination der französischen Sakralarchitektur seit dem 5. Jahrhundert. Großepochen wie die »Romanische Periode«, die »Gotische Periode« und die »Moderne Periode« unterteilen den Geschichtsfluss in einzelne Abschnitte, die zur besseren Unterscheidung koloriert wurden. Damit sind drei Epochen farblich gekennzeichnet, die aus systemtheoretischer Sicht die Grundvoraussetzung für jede Gesamtdarstellung der Geschichte bilden.40 Während die Übergänge von einer Epoche zur anderen fließend und durchlässig sind, so dass die Zeit- und Stilgrenzen sichtlich auseinanderfallen, erlauben die rahmenden Spalten des Tableaus  – als tabellarisches Gegenbild zu dem figurativ gefassten Epochenstrom  – eine Systematisierung, die auf der Konkordanz aus chronologischer Zeiteinteilung und stilgeschichtlicher Kategorisierung beruht. Die chronologische Tabelle links lässt mit ihren Intervallen eine Datierung von jeweils 100 Jahren zu, die Nomenklatur rechts ermöglicht eine stilistische Phaseneinteilung; zusammen lösen sie die Epoche als Ordnungsbegriff auf. Damit war die »Stiltabelle«, die Caumont in Frankreich bekannt machen sollte, angelegt.41 In der stilistischen Feingliederung mit den Untereinheiten »primitiv« (im Sinne von »ursprünglich«), »sekundär« und »tertiär« wird Caumonts Bemühen deutlich, die Architektur- und Kunstgeschichte in ein klassifikatorisches System zu bringen, das auf morphologischen Analysen beruht, die terminologisch bei der Geologie Anleihen machen. Im expliziten Rekurs auf geologische Termini versuchte der 40 | Vgl. Luhmann 1985, S. 11. 41 | Zur Geschichte der »Stiltabelle« als Alternative zur Chronik vgl. Buchanan 1999, S. 174–176.

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Abb. 34: Amelia Defries, Traditional Development of French Styles, [1931]

Archäologe Caumont, seine Stilgeschichte in ein Schema zu bringen, das mit seinen gesammelten Erfahrungen als Naturwissenschaftler in Einklang stand.42 Caumonts hydrografisch angelegter Epochenstrom blieb ohne unmittelbare Resonanz in der Kunstgeschichtsschreibung. Dazu mag auch der Umstand beigetragen haben, dass das Flussschema in die erweiterte zweite Ausgabe des Cours d’antiquités monumentales (1841) nicht mehr aufgenommen wurde. Erst mit der Auflösung des einheitlichen Stilbegriffs, wie sie die Avantgarde mit ihrem aus-  geprägten Distinktionshabitus infolge eines starken Konkurrenzdrucks vorangetrieben hat, wurden diagrammatische Schemata wieder besonders relevant, um den Pluralismus der Ismen-Kunst zu fassen. Die englische Kunsthistorikerin und Autorin Amelia Defries hat dies 1931 im Rahmen eines Überblicksbandes zur französischen Kunstgeschichte anhand eines rudimentären Entwicklungsschemas vorgeführt (Abb. 34).43 Darin wird der immanent kontinuierliche Prozess großer 42 | Vgl. Schmidt-Burkhardt 2005b, S. 69–72. Zu den methodischen Unterschieden bei der Klassifikation in Botanik, Geologie und Stilgeschichte vgl. Recht 1999; Nayrolles 2001. 43 | Vgl. Defries [1931].

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Abb. 35: Charles Jencks, The Evolutionary Tree, 1973

Epochenstile vom Mittelalter bis zum Untergang der französischen Monarchie durch die schnurgerade Abfolge von Herrscherhäusern beschrieben und die künstlerische Distinktionslogik seit der Romantik mit der Herausbildung von einzelnen Schulen und Richtungen anhand eines zunehmenden Verzweigungsgrades aufgezeigt. Nicht ohne Grund hat sich im Anschluss an Defries’ didaktisches Stilgerüst das Diagram of Stylistic Evolution from 1890 until 1935 (1936) von Alfred H. Barr jr. zum maßgebenden »flow chart« der Kunstgeschichte entwickeln können (Abb. 6). Im Gegensatz zu Defries’ hieratischer Genealogie stellt Barrs mit flinker Hand auf mehreren Blättern entwickeltes Schaubild den Versuch dar, die vielfältigen Kunstströmungen der Avantgarde als kommunizierende Gefäße innerhalb eines komplexen Systems aus Einflüssen zu fassen. Hier nimmt die Komplexität der Stile in chronologischer Folge nicht nur beständig zu, sondern auch wieder ab. Indem Barr das diffuse Phänomen »moderne Kunst« präzise aufschlüsselte, führte er einen diagrammatischen Standard in die Kunstwissenschaft ein, der sich weiterhin an der stilistischen Einflussrhetorik orientiert.

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Als Leitmotiv eines neuen Wissensstils ließ sich mit dem Barr-Chart Stilgeschichte nun selbst als autonomes Theoriedesign präsentieren, ohne Begründungstexte mitliefern zu müssen. Um dies leisten zu können, musste Barrs Schema vielfältig gegliedert sein, es musste mittels deduktiver Verknüpfung zwischen den Stil-Ismen eine innere Stringenz aufweisen, die das zugrunde liegende Theorem eines inhärenten Abstraktionsdrangs der Moderne verständlich machte. Mit der Schematisierung sachlich-logischer Abhängigkeitsverhältnisse trat die diagrammatische Plausibilität an die Stelle der narrativen Kunstgeschichts-  schreibung. Die diagrammatische Praxis, die als Barr-Effekt dem Zeitalter der Stilgeschichtsschreibung nachwirkte, ignorierte den Umstand, dass der einheitliche Stilbegriff mit der formalen Pluralität der ästhetischen Moderne längst selbst prekär geworden war. Die Ausdifferenzierung der Avantgarde hatte ihn gesprengt und erforderte neue Unterscheidungskriterien. Mindestens zwei Auswege aus diesem Dilemma lassen sich aufzeigen. Dort, wo sich die Stilanalyse als Endpunkt der Geschichte verstand, schlug die Klassifikation in eine Genealogie als Kausalisierungsmodus um. Aus der Perspektive einer komplexen Moderne erschienen jetzt ältere Stilepochen unangemessen homogen. Defries hatte dafür das Bild der linearen Begriffskette gewählt, bei der Stil und Epoche identisch sind. Die andere Alternative hat Charles Jencks aufgezeigt, neben Caumont und Barr ein weiterer Eckpfeiler im Rahmen der Diagrammatisierung der Kunstwissenschaft. Als Architekturtheoretiker der Postmoderne begann Jencks die kunsthistorischen Kategorien durch Begriffe aus der Psychologie und Philosophie zu ersetzen, um der formalistischen Tradition der Moderne eine Rückkehr zu inhaltlichen Debatten zu ermöglichen. Den Pluralismus der Stile fasste er nicht als ein Nebeneinander von Kunstsprachen auf, vielmehr führte er ihn auf einige Grundstrukturen von unterschiedlicher Gewichtung zurück, die keinen ausgeprägt antinomischen Charakter besitzen. Diese Leitidee brachte Jencks ab 1970 in sogenannten Evolutionary Trees zur Anschauung, die er in seine Publikationen als »Lesehilfen« aufnahm (Abb. 35).44 Der chronologische 44 | Vgl. Jencks 1970. Zur Einordnung von Jencks’ Entwicklungsschemata im naturwissenschaftlichen, biologistischen oder technizistischen Kontext vgl. Höfler 2014.

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Querschnitt durch die Kunstlandschaft ist darin als flottierendes System angelegt. Die Wortcluster mit ihrer sich vor schwarzem Hintergrund leuchtschriftartig abhebenden Typografie treten in Kontrast zu den blasenförmigen Informationsbrachen, in denen die Vorstellung eines diskontinuierlichen Geschichtsverlaufs diagrammatische Ausformung erlangt. Die Verwissenschaftlichung der Kunstgeschichte und der Einsatz von Diagrammen in der Kunstwissenschaft – ob in ihrer systematisierenden, reformdidaktischen oder populärwissenschaftlichen Form  – stellen sich im Rückblick auf die letzten zweihundert Jahre als ein sich wechselseitig bedingender Prozess dar. Die Bewältigung des rasanten Wissenszuwachses und die damit einhergehende Multiplikation an Informationen, kurz: der Empirisierungszwang, verlangte nach neuen Darstellungsformen. Gefragt waren Schaubilder, die größere Zusammenhänge und Entwicklungen in einem chronologischen Raster textbegleitend aufzeigen. Diese Überblicksdarstellungen förderten nicht nur historiografisches Prozessdenken, sie halfen vor allem, das Bewusstsein für den Gegenstandsbereich einer Disziplin zu schärfen. So argumentierten und operierten Kunst- wie Architekturhistoriker mit unterschiedlichen diagrammatischen Denkformen der Zeit, die wiederum Ausdruck chronologisierbarer Deutungsmuster der Geschichte waren. Als Einheitsform bezogen diese Visualisierungen heterogene Informationen aufeinander, ohne sie deshalb gleich unter eine konstante Form oder stabile Deutung zu subsumieren. In seiner ästhetischen Form der Konzeptualisierung von Stilgeschichte avancierte das Diagramm selbst zu einer auslegungsrelevanten Form der Zeit.

2  DIAGRAMMATISCHE GESCHICHTE

Barbeu-Dubourgs Lernmaschine C hronogr afische K arte Die steile Karriere der diagrammatischen Darstellung in der Historiografie des 18. Jahrhunderts ist einem Netzwerk von Intellektuellen geschuldet. Gemeinsam verhalfen sie der Visualisierung von Geschichte in Form von Wissenskarten zum Durchbruch, um an deren nachhaltigem Aufschwung weit über die Wende zum 19. Jahrhundert hinaus mitzuwirken. Den ausschlaggebenden Impuls setzte Jacques Barbeu-Dubourg (1709–1779), seines Zeichens Doktor der Medizin und Professor für Pharmazie an der Pariser Universität. Barbeu-­ Dubourg brachte 1753 eine bemerkenswerte Geschichtskarte in Umlauf: die Chronographie universelle & détails qui en dépendent pour la Chronologie & les Généalogies, kurz Carte chronographique genannt (Abb. 36–37). Diese Karte hält erstmals die Universalgeschichte – von Adam und Eva bis zur Aufklärung – in synchronoptischer Form fest. Für den praktischen Gebrauch der Karte hatte Barbeu-Dubourg eigens eine »Maschine« konstruiert. Sie sollte helfen, den aufklärerischen Bildungsauftrag der intellektuellen Elite vorbildhaft zu erfüllen.1  Ferner erschien eine kurze Begleitschrift.2

1 | Die Carte chronographique konnte im 18. Jahrhundert über Barbeu-Dubourg und zwei Pariser Händler bezogen werden. Heute existiert nur noch ein Exemplar der »Maschinen«-Fassung in Gestalt eines Pappmachékoffers, das sich in der Princeton University Library befindet. Eine andere Maschine, Anfang des 20. Jahrhunderts noch nachweisbar, ist auf prekäre Weise verschwunden. 2 | Von der Begleitschrift Chronographie, ou Description des tems sind 1753 zwei Ausgaben in Umlauf gekommen, eine kürzere und eine um »Approbation«, »Avertissement« und Symbolliste erweiterte Fassung. Vgl. Barbeu-Dubourg 1753.

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Abb. 36: Jacques Barbeu-Dubourg, Carte chronographique, 1753, im geschlossenen Zustand

Die Carte chronographique besteht aus 35 einzelnen Kupferdrucken im Folioformat, die der Pariser Kartenstecher A. Cosmant angefertigt hatte.3 Nebeneinandergeklebt, ergeben sie ein langes Papierband von rund 16,5 Metern Länge. Die Länge dieses Bandes war letztlich nur die Folge von Barbeu-Dubourgs konsequenter Zeiteinteilung: 6.500 einzelne, paritätisch aneinandergereihte Jahre. Ein entsprechender Maßstab ist am oberen Rand der Karte eingetragen. Die horizontale Achse definiert er als durchgängige Zeitleiste der Geschichtstopografie. Die Kategorien auf der vertikalen Achse sind variabel, denn in ihnen spiegelt sich der Lauf der Geschichte. Bildeten am Anfang der Aufzeichnung noch die »Stammväter«, die »Nachkommen von Kain« und »denkwürdige Ereignisse« die strukturierenden Themenfelder, so kommen bald »berühmte Personen« als neuer Leitbegriff hinzu. Nach der »Sintflut« entwickeln sich dann einzelne Länder  – beginnend mit »Ägypten« und »China« – immer stärker zu maßgeblichen Ordnungsgrößen auf der Geschichtskarte. Als topologische Formationen verdrängen sie schließlich die alttestamentarischen Kategorien. 3 | Ob der Stecher A. Cosmant mit dem Buchbinder Antoine Cosmant identisch ist, wäre noch zu prüfen.

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Abb. 37: Jacques Barbeu-Dubourg, Carte chronographique, 1753, im geöffneten Zustand

In der Geschichtsschreibung ist die Carte chronographique hinsichtlich ihres Darstellungsverfahrens ein Novum. Die Rezensenten sprachen deshalb von »invention«.4 Tatsächlich neu ist vor allem die ­Methode. Barbeu-Dubourg hat sie aus der Geografie entlehnt und für die Geschichtswissenschaft adaptiert.5 Gemeint ist der Einsatz von Karten und Tafeln, die in der Erdkunde unerlässlich sind, um sich ein umfassendes Bild von den landschaftlichen Verhältnissen auf der ganzen Erde machen zu können. Die Historiografie kannte bis dato keine vergleichbaren Anschauungs- und Lehrmittel. Geschichte wurde zwar in einzelne Themenblöcke zerlegt und als solche immer wieder in Schautafeln konfiguriert, sie war aber noch nie in ihrer Totalität diagrammatisch erfasst worden. Und genau hier setzt BarbeuDubourg mit seinem Vorstoß einer synchronoptischen Gesamtschau

4 | So im Journal de Trévoux 1753, S. 1901. 5 | Vgl. Barbeu-Dubourg 1753, S. 4.

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der ­Vergangenheit an.6 Sein Beitrag zum bildenden Sehen, besser noch: zur visuellen Aufklärung kann deshalb nicht hoch genug eingeschätzt werden. Da sich Barbeu-Dubourg die »allgemeine Nützlichkeit« seines Werkes zum obersten Gebot gemacht hatte, musste er auf die Geografie zurückgreifen. Sie bot jene bestechende Anschaulichkeit, welche die reine, auf bloßen Fakten basierende Chronologie vermissen ließ. Aufgrund ihrer optischen Attraktivität erschien die Geografie methodisch sogar ausgereifter zu sein als die auf bloße Namen und Zahlen beschränkte Chronologie. Barbeu-Dubourg bezeichnete die Erdwissenschaften mit ihren anschaulichen Karten und den vielfältigen grafischen Elementen daher als »heiter«, »einfach« und »fesselnd«. Gemessen daran wirkten die abstrakten Daten der Chronologie in hohen Maßen »spröde«, »langweilig« und »mühselig«.7 Der eigentliche Kunstgriff von Barbeu-Dubourg bestand darin, mithilfe der Geowissenschaften einen neuen Darstellungsmodus für die Chronologie gefunden zu haben, durch den sie obendrein an visueller Anziehungskraft gewann. Denn »die Geografie ist viel entwickelter, sie wird im Allgemeinen weniger ignoriert als die Chronologie; & der Grund dafür ist sehr verständlich: Es gibt viele Möglichkeiten, die eine Disziplin zu studieren, für die andere bestanden sie bis jetzt nicht.« 8 Erst in der Verknüpfung beider Disziplinen entstand etwas völlig Neues: die didaktische Karte als »unterhaltsame Wissenschaft«.9 Barbeu-Dubourg bestätigte mit seiner methodischen Kombinatorik, vor allem aber mit seiner visuellen Wissensvermittlung, eine Grundannahme der Enzyklopädisten, dass nämlich unmittelbare Erkenntnisse nur vermittels der Sinne gewonnen werden könnten.10 Doch nicht nur die Methode, auch die Art und Weise der chronografischen Gestaltung ist maßgeblich von der Geografie geprägt. So hat Barbeu-Dubourg das Kartennetz als Gliederungsstruktur für die Carte chronographique von der Zylinderprojektion übernommen. Im Zuge dessen wird die winkeltreue Einteilung der Erdoberfläche in 6 | Vgl. ebd., S. 13.  7 | Ebd., S. 5. 8 | Ebd., S. 4. 9 | Ebd., S. 8. 10 | Vgl. D’Alembert 1751, S. i–xlv.

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Breiten- und Längenkreise in ein zweidimensionales Koordinatenraster aus Zeit und Raum umcodiert. Das Layout der gesamten Weltgeschichte ist damit determiniert. Die Zeit wird anfänglich mit gepunkteten, im Zuge der steigenden Datenmenge dann mit durchgezogenen vertikalen Linien nach Dekaden eingeteilt, der Raum mit horizontalen Linien grob nach Themen und Ländern geordnet. Durch den zusätzlichen Einsatz von Punktreihen und gestrichelten Geraden lässt sich auch bei hoher Faktendichte eine gewisse Übersichtlichkeit bewahren. In jedem Fall bietet die Rasterstruktur jeder historischen Person bzw. jedem bedeutungsvollen Ereignis der Vergangenheit eine Systemstelle, von der aus sich ein größerer historischer Kontext erschließen lässt. Etwas abstrakter formuliert: Der horizontale Vergleich verschiedener Fakten ist auf derselben Variablen, der vertikale Vergleich zwischen unterschiedlichen Variablen zum selben Zeitpunkt angesiedelt. Der reflektierte Modernisierungsschub in der Historiografie, den Barbeu-Dubourg bewirken wollte, beruht auf der Kombination von unterschiedlichen Darstellungsverfahren. Nur so konnte sich BarbeuDubourg als konsequenter Advokat einer ikonischen Wende in der Geschichtswissenschaft gerieren. Mit seiner Methodenverknüpfung weist sich Barbeu-Dubourg aber auch als Mittler unterschiedlicher Wissenspraktiken aus, ein Selbstauftrag, der für das Zeitalter der Aufklärung charakteristisch ist. Hinweise auf die visuelle Bildungsfunktion der Carte chronographique finden sich in den Rezensionen, aber auch bei Barbeu-Dubourg selbst, etwa dann, wenn er – in intertextueller Anspielung auf eine Klischeevorstellung – die Geografie und die Chronologie als die zwei »Augen der Geschichte« bezeichnet, um deren visuelle Qualitäten metaphorisch hervorzuheben.11 Die von Abraham Ortelius stimulierte Metapher von den »deux yeux de l’histoire«, die damals zum Repertoire der Historikersprache gehörte, steht symptomatisch für die Aufwertung des Sehsinns innerhalb der Historiografie im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert.12 Die zunehmende Bedeutung, die dabei dem Sehen zukam, beschränkte sich nicht auf die in alten Quellen überlieferte Augenzeugenschaft von bedeutenden Ereignissen. Das bildende Sehen diente mehr und mehr der methodischen Fundierung des Geschichtsstudiums. Aufgrund 11 | Barbeu-Dubourg 1753, S. 4. 12 | Vgl. Zwink 2006, S. 317–327.

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ihrer sich leicht einprägenden Kraft wurden Karten und Tabellen als konstitutiver Bestandteil des Erkenntnisprozesses und der Evidenzbildung eingesetzt und zwar generationsübergreifend. Als Gelehrter wusste auch Barbeu-Dubourg, dass der Wille zum Wissen von Kindesbeinen an gefördert werden musste. In diesem Sinne eröffnete die Carte chronographique neue Spielräume des Lernens. Davon konnten junge Menschen  – ausdrücklich beiderlei Geschlechts – profitieren, da sie vielfach keinen Lehrer hatten, der sie in das Studium der Geschichte einführte.13 Ihnen bot das visuelle Begreifen mithilfe von bildhaft-grafischen Repräsentationen einen idealen Einstieg in das weite Terrain der Geschichte. Den Älteren wiederum halfen die Anschauungsformen beim optimierten Memorieren von historiografischem Grundwissen.

V isuelle A ufkl ärung Eine hilfreiche Orientierung bei der Navigation durch die Vergangenheit bot ein Symbolsystem, das Barbeu-Dubourg eigens für seine Carte chronographique entwickelt hatte. Gemeint sind jene ikonischen Markierungen, mit denen der Beruf, die Begabung, Eigenschaften oder Schicksalsschläge historischer Figuren auf der Karte angezeigt werden (Abb. 38). Als sinnbildliche Aufladung verleihen sie den Namen und Begriffen eine geradezu emblematische Qualität. Als ein mögliches Vorbild wurde deshalb Cesare Ripas Iconologia in Betracht gezogen, jenes berühmte Handbuch zur Deutung allegorischer Figuren und ihrer Attribute, das zunächst ohne Abbildungen 1593 in Rom erschienen war und dann bis ins 18. Jahrhundert zahlreiche illustrierte Auflagen und Übersetzungen, auch ins Französische, erlebte.14 Der Einsatz von Symbolen ist aber nicht allein auf Ikonografie oder Kunst beschränkt. Als chemische Zeichen, alchemistische Chiffren oder astronomische Sternbilder gehörten Symbole zum festen Bestandteil der Wissensrepräsentation. In der Genealogie fanden Symbole außerdem zur moralischen Charakterisierung historischer Personen Verwendung; so gleich mehrfach im Atlas historique, ou Nouvelle Introduction à l’Histoire, 13 | Vgl. Mercure de France 1753, S. 111. 14 | Vgl. Ferguson 1991, S. 198, 211, 226.

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Abb. 38: Jacques Barbeu-Dubourg, Explication des Signes employés dans la Carte Chronographique, 1753 (Detail) Abb. 39: »Symbole, um die Eigenschaften der Herrscher des Morgenlandes zu kennen«, in: Atlas historique, Bd. 2, Amsterdam 1708, Taf. 15 (Detail)

à la Chronologie & à la Géographie Ancienne & Moderne, jenem aufwendig gestalteten Editionsprojekt, das Anfang des 18. Jahrhunderts in Amsterdam von François L’Honoré und Zacharias Châtelain in mehreren Bänden und Ausgaben verlegt wurde.15 Anhand von 19 Zeichen wurden hier die unterschiedlichen Qualitäten, Neigungen und Dispositionen zur individuellen Charakterisierung eines jeden Fürsten aufgeführt (Abb. 39). Gemessen am Atlas historique ist das Zeichensystem der Carte chronographique viel differenzierter. Barbeu-Dubourg hat sich nicht auf die 15 | Zur verwickelten Editionsgeschichte des Atlas historique vgl. Rosenberg 1982, S. 79–91, 164–166, 253–259.

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Abb. 40: Jacques Barbeu-Dubourg, Carte chronographique, 1753 (Detail)

Charakterzüge politischer Machthaber beschränkt. Stattdessen versuchte er mit 65 Symbolen eine beachtliche Bandbreite unterschiedlichster Personengruppen zu bestimmen. Alle Stände der Gesellschaft des Ancien Régime waren vertreten: vom Herrscher bis zum Gefangenen, vom Bischof bis zum Gotteslästerer, vom Philosophen bis zum Narren, vom Historiker bis zum Schauspieler. Die kleinen Sinnbilder verleihen der geometrisch gegliederten Fläche zudem eine gewisse ornamentale Note (Abb. 40). Ästhetisierung des schlichten Schemas und Moralisierung nüchterner Fakten ergänzen sich. Die Symbole fesseln obendrein das Auge und fungieren als ikonische Wegweiser. Nach Ansicht Barbeu-Dubourgs sollten sie dem Betrachter helfen, mühelos zwischen dem »Gut und Böse« in der Geschichte unterscheiden zu

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Abb. 41: [Denis Pétau], Table chronologique de l’Histoire universelle, Bd. 4, Paris 1715, S. 1

können.16 Mit besonderem Blick auf die Jugend wünschte sich ein Kritiker sogar noch mehr: Jeder Betrachter solle neue Symbole zu den Personen eintragen, die ihm in der Karte begegneten – sei es zu seinem Vergnügen, sei es nach eigenem Gutdünken.17 Erst indem die Geschichtskarte nach dem individuellen Interessenprofil des Studierenden weiter ausgestaltet wurde, übte sie ihre volle Bildungsaufgabe aus; erst dann fand angewandte Aufklärung statt. Von älteren Chronologie-Tabellen konnte sich Barbeu-Dubourg mit der Carte chronographique dadurch abheben, dass hier buchstäblich alles »zum Auge & zur Einbildungskraft spricht«.18 Anders als bei den historischen Darstellungen von Denis Pétau, Claude Delisle oder Antoine Lancelot, durchweg anerkannte Autoren auf ihrem Gebiet und in ihrer Zeit, spannte Barbeu-Dubourg den monolinearen Erzählfaden der historiografischen Narration zu einem Entwicklungsschema mit synchronoptischer Dimension aus (Abb. 41).19 Er antwortete damit 16 | Barbeu-Dubourg 1753, S. 4. 17 | Vgl. Mercure de France 1753, S. 107, 111. 18 | Barbeu-Dubourg 1753, S. 8. 19 | Vgl. Pétau 1715; Delisle 1718; Delisle 1731.

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auf das explizite Bedürfnis nach Präzision und Kürze, das in Reaktion auf die aufgeblähten Textbände zur Geschichte entstanden war. Ein Blick auf die Karte genüge, so Barbeu-Dubourgs Argumentation, um zu erkennen, dass weitschweifige Abhandlungen überflüssig seien: »Liest man Geschichtsbücher? Wenn man vor sich die Maschine platziert, an dem Jahrhundert geöffnet, das mit der Regentschaft korrespondiert, die man gerade studiert, so sieht man auf einen Blick alle zeitgenössischen Herrscher, die denkwürdigen Ereignisse desselben Jahrhunderts & die Persönlichkeiten, die am würdigsten sind, der Nachwelt in Erinnerung zu bleiben.«20

Doch war die topologische Anordnung des Geschichtsstoffs nicht alles. Barbeu-Dubourg hatte einen mechanischen Apparat entwickelt, um die Carte chronographique zu einer genuinen Chronologie-Maschine aufzurüsten.

K inematogr afische S ehmaschine Der ausgeklügelte Mechanismus, der Barbeu-Dubourgs ChronologieMaschine zugrunde liegt, beruht darauf, dass das Papierband mittels Metallkurbeln über zwei Holzzylinder in horizontale Bewegung versetzt werden kann. Mithilfe der von Hand betätigten Kurbeln wird die Karte von der einen Trommel abgespult und von der anderen gleichzeitig wieder aufgerollt. Dieser Prozess funktioniert sowohl vorwärts als auch rückwärts. Da der Abstand zwischen den Trommeln, also der sichtbare Ausschnitt des Bildfeldes, mit etwa 35 Zentimetern Breite stets konstant bleibt, verändert sich mit der Bewegung der Karte nur das Zeitfenster. Der Zeitausschnitt von jeweils rund 150 Jahren bleibt indessen fix. Die Universalgeschichte läuft so nie Gefahr, in eine chronologische Totale auszuufern. Der Effekt, den die sukzessiv vorbeiziehende Datenlandschaft erzielt, kann durchaus als kinematografisch beschrieben werden. Der Mechanismus, den Barbeu-Dubourg lange vor der Erfindung des Films einsetzte, um durch optische Effekte Aufmerksamkeit und Spannung beim Betrachter zu erzeugen, hatte allerdings konkrete Vorbilder. 20 | Barbeu-Dubourg 1753, S. 13.

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Barbeu-Dubourg griff auf die bewährten Aufbewahrungspraktiken für großformatige Grafiken zurück; diese wurden aus konservatorischen Gründen aufgerollt.21 Mit dieser gleichermaßen simplen wie sicheren Technik ließen sich Knicke oder Brüche im Papier für lange Zeit vermeiden  – für Barbeu-Dubourg unumgängliche Voraussetzung dafür, dass der chronologische Datenfluss nicht ins Stocken geriet. Die Chronologie-Maschine musste reibungslos funktionieren. Erst wenn diese Voraussetzung erfüllt war, konnte sich die ermüdende Chronologie in eine lebendige Chronografie verwandeln, erst dann wurde aus einer so »spröden«, so »langweiligen« und so »mühseligen« Faktenwissenschaft, wie jene der Zeitkunde, eine unterhaltsame Wissenschaft. Die affektive Umschichtung war geglückt, wenn Schaulust und Wissensdrang zur Deckung gelangten.22 Barbeu-­Dubourg setzte auf das mechanische Visualisierungsverfahren, um die Inspiration zu beflügeln, und er nutzte die optischen Möglichkeiten des Geräts, um die Geschichte mit wenigen Worten zur Geltung zu bringen. Von der Hand des Betrachters angetrieben, versetzt die schlichte, mitunter merklich raschelnde Chronologie-Maschine diesen in eine Art Geschichtsrausch. Im visuellen Fließen können Einsichten am laufenden Band generiert werden. Auf dem sich langsam bewegenden Kartenbild – Barbeu-Dubourg sprach von »tableau mouvant & animé« – ziehen die vergangenen Epochen, die einstigen Herrscher und deren Zeitgenossen proportional zu ihrer Dauer, Regentschaft oder Lebensspanne an den Augen des Betrachters vorbei, ohne dass dieser große Mühe aufwenden müsste, um sie zu studieren. Das Visuelle, das Haptische und auch das Akustische werden als didaktische Mittel eingesetzt, um Erkenntnisse über unterschiedliche Sinneskanäle zu verdichten. Die denkwürdigen Fakten sprächen derart die Sinne an, so Barbeu-Dubourgs tiefe Überzeugung, dass sie gleichsam von selbst unvergesslich würden, indem sie sich dem Gedächtnis nachhaltig einprägten. Erklärter Endzweck war es, »gleichsam mechanisch zu lernen und ohne viel darüber nachzudenken«.23 Es ist dieses von der Sehmaschine erzeugte Spannungsverhältnis zwischen Spiel 21 | Vgl. Mercure de France 1753, S. 107 f. 22 | Zur Medienarchäologie der Sehmaschine unter kinematografischen Gesichtspunkten vgl. Dewitz und Nekes 2002; Bätzner und Nekes 2008. 23 | Barbeu-Dubourg 1753, S. 8.

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und Arbeit, Vergnügen und Wissenserwerb, das Barbeu-Dubourg viel Lob eintrug. Peu à peu führt das Objekt der fröhlichen Wissenschaft den Betrachter an die geschichtlichen Fakten heran, ohne dass dieser den wachsenden Informationsdruck zu spüren bekommt. Die Leichtigkeit, mit der hier Lernerfolge erzielt werden sollten, bewog nicht zuletzt den Mercure de France, von einer vollkommen neuen Art »wissenschaftlicher Maschine« zu sprechen.24

G eburt

des inter ak tiven

U sers

Die Chronologie-Maschine bot ein kleines visuelles Spektakel und befriedigte damit die Sehlust. Mit dem verweilenden und dem flüchtigen Blick und dem Anliegen, mit der linearen Lesegewohnheit zu brechen, wurde die historiografische Vergangenheit neu erfahrbar gemacht. Der Betrachter sollte gleichsam mit dem Finger auf der Karte kreuz und quer durch die Geschichte reisen.25 Dabei konnte er die diachrone Abfolge mit ihren Zwischenstufen studieren oder synchronen Überschneidungen Beachtung schenken. Stets verwandelte sich die didaktische Sehmaschine in eine veritable Zeitmaschine. Das laufende Textbild schuf unentwegt Anreize, sich mit den überraschenden Veränderungen und Konstellationen in der Historie auseinanderzusetzen. Es gehörte zur Darstellungsstrategie der Carte chronographique, die Geschichte von vorne nach hinten oder umgekehrt, von hinten nach vorne, studieren zu können. Sie erlaubte, das irreversible Zeitgerüst, auf dem Geschichtsdarstellungen gemeinhin beruhen, in ein umkehrbares Denkmodell zu überführen. Der Benutzer konnte seinen Erkenntnisinteressen intensiv, vor allem aber aktiv nachgehen, denn er steuerte die Geschwindigkeit und in der Folge die Dauer und Intensität seiner Lektüre selbst. Auf diese Weise schlug die Unterhaltungskunst unversehens in eine visuelle Lerntechnik um. Das Bild des selbstständig Studierenden, das Barbeu-Dubourg vor Augen schwebte, fügte sich in den intellektuellen Prozess der Aufklärung. Den Weg aus der selbstverschuldeten Unwissenheit zeichnete die Carte chronographique didaktisch-diagrammatisch vor. Die Idee des interaktiven Users war geboren. 24 | Mercure de France 1753, S. 104. 25 | Vgl. Barbeu-Dubourg 1753, S. 13.

Wissensräume in der Geschichte V err äumlichung

des

H istorischen

Der früh verstorbene deutsche Kunsthistoriker und Theoretiker Stefan Germer plädierte 1995 vehement für eine »Verräumlichung des Historischen«. Unter dem Einfluss von Foucault, Deleuze und dem Kreise der Annales setzte sich Germer für den »Raum« als das Kriterium zur Beurteilung unterschiedlicher künstlerischer Entwicklungen ein, da er es zulasse, lokale, regionale und nationale Differenzen in ein topologisches Verhältnis zu setzen. »Das aber hieße«, so Germers Schlussfolgerung, »Karten träten an die Stelle der ›Bilder‹ vom Kunstgeschehen. Da man ihnen den fiktiven Charakter und die interessegeleitete Gestalt eher ansähe als den ›Bildern‹, hätte dies den Vorteil, dass niemand die Darstellung für die Sache selbst nehmen würde, sondern sich deren Vermittlung stets bewusst bliebe.«1 Von der Kartierung der Kunstgeschichte, als Darstellung von differenten, gegenläufigen, in jedem Fall aber pluralen Kräften verstanden, versprach sich Germer die Einbindung des »fragmentierten Raums der Gegenwart« in einen größeren Kontext, der es erlaube, Koexistenzbeziehungen von Zentrum und Peripherie, aber auch außerästhetische Machtbeziehungen besser ins Blickfeld zu bekommen. Germers Forderung zeitigte Wirkung. Inzwischen spielt die kon­textreflexive Kartierung der Geschichte bei der Bedeutungsproduktion von kritischem Wissen eine immer wichtigere Rolle.2 Im Medium der Zeichnung generiert die theoriegeleitete Faktografie topologische Räume, von denen aus sich die Vergangenheit erschließen lässt. Dieser durch Daten und Fakten definierte Anschauungsraum 1 | Germer 1995, S. 151. 2 | Vgl. Onians 2004; Onians 2008.

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ist konstitutiv von Bedeutungen durchzogen, deren Korrespondenzen und Verweisungszusammenhänge es erlauben, hier von einem veritablen Reflexionsraum zu sprechen. In diesem Sinne begriff László Beke dann 2003 die New Art History als richtungsweisend, insofern sich ihr Fokus auf nichtlineare Denksysteme, das heißt auf räumliche Erklärungsmodelle richtet. Dabei werden nicht nur Geschichtsdiagramme einer kritischen Analyse unterzogen, vielmehr nimmt die Neue Kunstgeschichte den logisch-relationalen Konfigurationsraum auch für ihre eigene aufklärerische Argumentation in Anspruch.3 Die Verräumlichung des Historischen hat eine lange Tradition. Sie reicht weit über den zeitlichen Rahmen von 250 Jahren hinaus, der in diesem Buch gesetzt wird. Neu ist nur, dass wir uns in den Kulturwissenschaften diese Tradition wieder intensiv bewusst machen. Im Folgenden gilt es, einerseits die kritische Dimension der gezeichneten Geschichte in ihrer Tiefe auszuloten und andererseits ihre Grenzen zu markieren, Grenzen, die vor allem ideologischer Natur sind.4

R e tuschierter G eschichtsr aum Das Geschichtsdiagramm hat seine konkreten Voraussetzungen und Rahmenbedingungen in der Kartografie: Die fehlende Zentral­ perspektive bei der projektiven Darstellung wird übernommen, die Längen- und Breitenkreise zur Zeit- und Raumachse umcodiert. Geografische Karte und chronografische Ansicht sind aber nicht nur konstruktiv eng miteinander verbunden, auch funktional arbeiten sie dem Urbedürfnis nach Orientierung zu. Dennoch lassen sich Karten- und Geschichtsbild nicht zur Deckung bringen. Vielmehr bildet die Landkarte nur die empirische Wirklichkeitsfolie, vor der sich der abstrakte Raum der Geschichte erst abheben lässt, wie ein anonymes Tableau chronologique aus der napoleonischen Ära ausdrucksvoll vorführt (Abb. 42). Zwar versucht die Grafik mit ihrem verrätselten Zugriff auf gesicherte Daten und Fakten von dem unabdingbaren Zusammenspiel kartografischer und historiografischer Darstellungsmodi abzulenken, die einleitende Betrachteransprache 3 | Vgl. Beke 20036, S. 395. 4 | Zum »Weltbild« im Kartenbild vgl. Schlögel 2003, S. 148–153.

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Abb. 42: Tableau chronologique, um 1800

lässt aber keinen Zweifel darüber aufkommen, dass es gerade auf dieses diagrammatische Arrangement ankommt, damit die visuelle Strategie ihre Wirkung entfalten kann: »Das Tableau chronologique präsentiert eine Zusammenstellung aus der Geschichte, die man leicht verstehen kann; sie entlastet das Gedächtnis, der Einleitung kann man leicht folgen, es gibt Vergleichsmöglichkeiten bei der Entstehung und Gliederung der verschiedenen Staaten Europas, ein unverzichtbares Ganzes, um die Geschichte mit Gewinn und Vergnügen zu lesen.«

Doch was gibt es auf diesem weitgehend schwarzen Blatt zu lesen? Psychologisch betrachtet, leistet das Schaubild einen ungeheuren Verdrängungsakt, indem es große Epochen der Geschichte einfach ausblendet. Es bezieht sich parodistisch auf jede Art von epischer Chronologie bzw. Synchronopse à la Barbeu-Dubourg und spielt im Clair-obscur des monochromen Farbraums die Subtilitäten der Schabtechnik aus. 

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Dabei nimmt es faktische Unschärfen zugunsten einer visuellen Phänomenologie in Kauf. Das ist ein klassischer Fall von historischer Retusche. Erst wenn sich das Auge an die sprichwörtlich dunkle Vergangenheit gewöhnt hat, macht es einzelne Jahreszahlen aus, erkennt es Namen von Religionsgründern oder Kreuzsymbole. Die changierenden Schattierungen im Graubereich der historiografischen Matrix spiegeln die fließenden Übergänge vom Nichtwissen zum Halbwissen wider. Umgekehrt ist das Zeitalter der Aufklärung wörtlich zu verstehen, indem sich der finstere Zeit-Raum zu lichten beginnt. Mit der Hervorhebung demokratischer Entwicklungen am Ende des 18. Jahrhunderts setzt das Tableau chronologique einen zukunftsoptimistischen Schlussakzent. Die Reduktion von Daten im Diagramm ist zunächst ein analytischer und theoretischer Prozess.5 Nicht die Ausbreitung von Wissen, sondern die Ausblendung von Fakten gewährt erste Einsichten. Im Tableau chronologique verhält es sich indessen genau umgekehrt. Auf grafisch elaborierte Weise antizipiert es das »Zuviel an Historie« (Nietzsche), indem es weite Bereiche der Vergangenheit ins OptischUnbewusste abdrängt. Paradoxerweise ist gerade die Unanschaulichkeit eine wesentliche Komponente dieses Schaubildes. Die Weltgeschichte erscheint sichtbar und undurchschaubar zugleich. In dieser ereignislosen Dimension des puren Geschichtsnichts findet eine Karnevalisierung diagrammatischer Aufklärungsrhetorik statt. Darin liegt die stupende Modernität dieses chronologischen Tableaus, ja vielleicht sogar seine unfreiwillige Postmodernität.

Ö konomischer G eschichtsr aum Die Karriere des Diagramms ist eng mit der kapitalistischen Veränderung der Wahrnehmung verknüpft. Das Schaubild betreibt eine Erkenntnisökonomie, die auf dem Einsatz sparsamer Mittel basiert bei gleichzeitigem Versprechen eines großen Erkenntnisgewinns. Mit diesem Vorsatz hat William Playfair im 18. Jahrhundert versucht, die statistische Tabelle durch optisch ansprechende, vielfach kolorierte 5 | Vgl. Kap. »Grafische Repräsentation oder repräsentative Grafik?« in diesem Buch, S. 13–37.

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Linien-, Balken- und Kreisdiagramme zu popularisieren. Das Ergebnis war die grafische Statistik, als deren maßgeblichen Erfinder sich  Playfair selbst rühmte, um alle Vorläufer und Vorbilder in den Schatten zu stellen.6 Dieses Unterfangen, das als vielversprechende Geschäftsidee mit der Entwicklung moderner diagrammatischer Standards begann, scheiterte in finanzieller Hinsicht. Es glückte insofern, als Playfair zum veritablen Exponenten der diagrammatischen Aufklärung in Großbritannien avancierte, dessen nachhaltige Rezeption vor allem postum einsetzte. Immerhin hatte er durch das Interesse, das beispielsweise Ludwig XVI. oder Alexander von Humboldt seinen Schaubildern entgegenbrachte, einen Achtungserfolg im Ausland errungen. Als ausgebildeter Ingenieur und Ökonom war Playfair im Umgang mit Grafiken geübt. Als ehemaliger technischer Zeichner bei der Firma Boulton & Watt  – sie wurde durch Konstruktion und Vertrieb der Dampfmaschine bekannt – war sein Vertrauen in die »Zeichnung« als Erkenntnisinstrument schier unbegrenzt, da sie »eine einfache und klare Idee« nahezu perfekt wiedergeben könne.7 Speziell »Raum« lasse sich mit der Zeichnung adäquat repräsentieren, wie er wiederholt betonte, nicht zuletzt auch deshalb, weil sich darin zeitliche Entwicklungen nachzeichnen ließen.8 Mit dieser Überzeugung erkundete und initiierte Playfair diagrammatische Strategien. Das Ergebnis ist eine Reihe von 44 Schaubildern. Erstmals 1786 in The Commercial and Political Atlas veröffentlicht, begründete Playfair damit die grafische Statistik. Dieser Atlas, der bis 1801 in drei immer wieder überarbeiteten und erweiterten Auflagen erschien, sollte als populäres Werk schnelle Einsicht in wirtschaftliche Entwicklungen gewähren. Eines dieser bahnbrechenden Diagramme ist das Chart of the National Debt of Britain from the Revolution to the End of the War with America (Abb. 43). Es enthüllt anhand einer markanten Kurve, in welch hohem Maß die englischen Kolonialkriege zwischen 1688 und 1784 durch Staatsverschuldung finanziert wurden. Die unregelmäßige Vergitterung der Koordinaten »Zeit« und »Geld« erlaubt, historische Ereignisse mit einschneidenden Folgen für den Fiskus präzise zu 6 | Vgl. Playfair 18013, S. v ii–ix; Costigan-Eaves und Macdonald-Ross 1990, S. 324 f. 7 | Playfair 1786, S. 3. 8 | Vgl. ebd.; Playfair 18013, S. xiii; Playfair 1801, S. 15.

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Abb. 43: William Playfair, Chart of the National Debt of Britain from the Revolution to the End of the War with America, 1786

datieren. Doch das war nicht alles. Playfair nutzte die grafische Statistik zur öffentlichen Kritik. Speziell mit dem symbolischen Schuldenberg im schlanken Hochformat prangerte er den »ruinösen Wahnsinn« der britischen Regierung an, den Etat auf Kosten »zukünftiger Generationen« immer weiter in die roten Zahlen zu treiben.9 Dass Playfair als Kritiker der Staatsraison zur diagrammatischen Methode griff, liegt in dem Ziel begründet, die Geschäfte der Regierung aufzudecken und deren Autoritätsansprüche zu relativieren und mit der statistischen Offenlegung eine Diskussion darüber in Gang zu setzen. Gegenüber endlosen Zahlenkolonnen sollte der Aussagewert einer einzigen Linie die volkswirtschaftlich weitgehend ungebildete Leserschaft zum Nachdenken bringen, zum Widerspruch anregen, um die als dringlich eingestufte Entschuldung in ihrem ökonomischmoralischen Doppelsinn voranzutreiben. Was Playfair bei seiner Kritik nicht bedachte, oder besser, wofür ihm die historische Distanz zu den politischen Ereignissen fehlte, war, dass dieser zackige Graf auch 9 | Vgl. Playfair 1786, S. 115–120.

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noch eine zweite, in gewisser Weise optimistische Leseweise zulässt, nämlich den quantifizierbaren, stetig-steilen Aufstieg Großbritanniens zur Weltmacht seit dem späten 17. Jahrhundert. Um die Produktivität von Einsichten dieser Art zu erhöhen, wird im klar definierten statistischen Raum der Faktografie auf alle Informationen verzichtet, die zur Ablenkung beitragen könnten. Das diagrammatische Feld wird nur mit jenen Angaben versehen, die notwendig sind, um Aufmerksamkeit zu erzeugen bzw. eine möglichst effiziente Wahrnehmung zu erzwingen. Nach Playfair ging es, wie gesagt, um die Visualisierung »einer einfachen und klaren Idee« im relationalen Datenraum. Diese Simplifizierung darf nicht mit dem Selektionsdruck des gelehrten Wissens verwechselt werden, der hilft, die Souveränität über die Informationen zu bewahren. Die Wissensselektion liefert hier vielmehr eine Strategie zu neuer Erkenntnisproduktion. Durch sie nimmt die argumentative Grafik die Dimension eines letztlich gigantischen Reflexionsraums an. Effektive Schaubilder, so lässt sich mit Huntly Carter zusammenfassen, zeichnen sich durch puristisches Design aus, eine Einsicht, die der Kritiker 1910 im Rahmen seiner Rezension der Winchester Charts zur italienischen Kunstgeschichte gewonnen hatte. Carters Einschätzung basiert auf der Lektüre von Denman Ross’ Theory of Pure Design (1907), einer »nützlichen Abhandlung zur Diagrammatik«, in der Designfragen unter dem Gesichtspunkt einer elementaren Ordnungsästhetik abgehandelt werden.10 Es ist offensichtlich, dass sich mit dem Einsatz des Diagramms als einem wichtigen Erkenntnisinstrument im ökonomischen Feld das kapitalistische Effizienzdenken durchgesetzt hat, und das schließt seine ideologischen Implikationen mit ein. Andererseits scheute auch der »Sozialepikurismus«, vertreten durch den österreichischen Wirtschaftssoziologen und Philosophen Otto Neurath, nicht davor zurück, es für seine Ziele zu instrumentalisieren.11 Denn das Diagramm, und hier vor allem die Bildstatistik, eignete sich ebenso gut, empirisches Wissen auf dem Feld der Gesellschaftsanalyse zu verbreiten (Abb. 44). Neuraths Interesse an der »Universalstatistik«, in die das statistische Wissen aus unterschiedlichsten Bereichen einfließen sollte, hing mit 10 | Carter 1910, S. 12; vgl. dazu Ross 1933. 11 | Zu Neuraths persönlicher Auslegung des marxistischen Denkens unter Berücksichtigung von Epikurs Glücksphilosophie vgl. Sandner 2014, S. 211 f.

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Abb. 44: Vermögensverteilung im Deutschen Reich, 1930

seiner Beschäftigung mit der Planwirtschaft zusammen und der Auffassung, die Geldökonomie abschaffen zu können. Das geht ins Jahr 1919 zurück, als Neurath während der Münchner Räterepublik die Stellung als Präsident des Zentralwirtschaftsamtes innehatte und für die »Vollsozialisierung« zuständig war.12 Nach dem Zusammenbruch der Räteherrschaft des Hochverrats beschuldigt, versuchte ihm Max Weber mit einer durchaus zwiespältigen Zeugenaussage vor Gericht zu helfen. Der ehemalige Unterstützer von Neuraths Habilitation für Nationalökonomie bescheinigte dem Angeklagten eine gewisse Wirklichkeitsferne in politischen und ökonomischen Fragen.13 Das ideologische Spannungsverhältnis zwischen beiden Männern ließ sich nicht auflösen, auch nicht durch Neuraths vergebliche Versuche im Anschluss an den Strafprozess, Weber für seine Sozialisierungspläne zu gewinnen. Unbeirrt verteidigte der »Kathederstreithengst« (Robert Musil) sein Konzept einer zentral gelenkten Planwirtschaft. Neurath war und blieb in dieser Frage ein erklärter Opponent des in seinen Augen »bedeutendsten nichtmarxistischen 12 | Vgl. Neurath 1919, S. 13 f. 13 | Vgl. Anonymus 1988. Neurath hat sich im Januar 1919 gegen eine Sozialisierung durch Verstaatlichung ausgesprochen.

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Soziologen Deutschlands«.14 Etwas von dieser Konträrfaszination ist auch in den Titel des bildstatistischen Hauptwerks von Neurath eingeflossen: Gesellschaft und Wirtschaft (1930) steht in thematischer Wechselbeziehung zu Wirtschaft und Gesellschaft (1922), dem postum veröffentlichten opus magnum von Weber. Das hinterlassene Handschriftenkonvolut, das mit »Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte« betitelt worden war, betont die ökonomische Seite als den wesentlichen Teil von Webers Lehre.15 In einer Fußnote weist der Soziologe auf Neuraths frühe Verdienste um die Problematisierung der Naturalwirtschaft und -rechnung hin, um dann in der nächsten Fußnote gleich wieder auf kritische Distanz zu gehen.16 Ebenso war er auch mit dessen Theorie der »Vollsozialisierung« und »Planwirtschaft« verfahren. Weber, dieser bürgerliche Gegenspieler zu Karl Marx, beharrte auf dem Standpunkt, dass sich die Auswirkungen von Neuraths volksökonomischen Zielsetzungen mitnichten abschätzen ließen. Drastisch verglich er sie mit einem »Sprung ins Dunkle«.17 Ideologischen Diskriminierungen begegnete Neurath nicht zuletzt auf subtile Art. Ein Beispiel dafür ist die programmatische Inversion von Webers Buchtitel Wirtschaft und Gesellschaft zu Gesellschaft und Wirtschaft für sein bildstatistisches Elementarwerk. Diese Wendung kam einer Bedeutungsverschiebung von sozialwissenschaftlichen Kategorien gleich. Was die Wirtschaft als Leitbegriff für den einen darstellte, war für den anderen die Gesellschaft. Zu der semantischen Geste einer Umwertung der Weber’schen Werte gehörte auch, dass Neurath die von ihm vertretene »empirische Soziologie« als Gegenbegriff zu der von Weber praktizierten »verstehenden Soziologie« in Stellung brachte.18 Was damit gemeint war, hat Neurath anhand von Dutzenden Bildstatistiken zu Problemen von unmittelbarem gesellschaftspolitischen Belang herausgearbeitet.19 14 | Neurath 1981g, S. 463. 15 | Vgl. Winckelmann 1986, S. 130 f. 16 | Vgl. Weber 1922, S. 56 Fn. 1; S. 56 f. Fn. 2, hier S. 57. 17 | Weber zit. in: Mommsen und Schwentker 1988, S. 493 Fn. 10; vgl. dazu ­N eurath in einem Brief an Max Weber vom 4.10.1919, in: Weber 2012, S. 798–800. 18 | Vgl. Neurath 1981g, S. 463. 19 | Vgl. Kap. »Wiener Methode der Bildstatistik« in diesem Buch, S. 155–210.

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S piritueller G eschichtsr aum Für einen kämpferischen Antimetaphysiker wie Otto Neurath, dessen »bildhafte Pädagogik« auf empirischen Tatsachen gründete, bot der Anthroposophenkongress 1922 in Wien eine willkommene Gelegenheit, um mit Rudolf Steiners »Neugestaltung der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung« abzurechnen. Neurath kritisierte daran das anti-  sozialistische Unterfangen, mit dem der »kapitalistischen Wildwirtschaft« skrupellos zugearbeitet werde.20 Dem »Weltpriester« Steiner warf er vor, bei Vorträgen seine Gedanken ins »Endlose auszuspinnen« und durch bildhafte Erklärungen, Analogien oder Gleichnisse einen chaotischen Eindruck bei den Zuhörern zu hinterlassen  – jedenfalls bei denjenigen, die sich ihre kritische Distanz zur »Nebelregion der religiösen Welt« (Marx) bewahrten.21 In der Tat war die breite Palette der Themen, die Steiner im Laufe seines Lebens in über 500 Vorträgen dem Publikum zu vermitteln suchte, eine gewaltige Herausforderung für die Zuhörer. Letztlich war es aber das Charisma des Redners, das viele Zuhörer in seinen Bann zog, selbst dann, wenn diese, wie der russische Theoretiker des Symbolismus Andrej Belyj, dem »Pädagogen« zunächst mit großer Skepsis begegnet waren. Belyj, der den theosophischen Autor 1912 erstmals vortragen hörte, legte ein beredtes Zeugnis von dessen rhetorischer Verwandlungsfähigkeit ab, mit der er alle Register zog, um zu überzeugen. Belyjs eigene anthroposophische Wende war diesem Talent geschuldet: »Steiner spricht zornig, trocken, im Baß, manchmal fängt er an zu schreien, manchmal samtig zu singen, doch spricht er so, daß sich jedes Wort wie ein unauslöschliches Zeichen in deiner Seele eingräbt. Alle, die ich je gehört habe, sind Säuglinge im Vergleich zu Steiner, was die rein äußerliche Fähigkeit, wirkungsvoll zu sprechen, betrifft; manchmal führt er die Handflächen heftig gegen die Zuhörer, und die Geste der Handflächen ist ein beinahe physischer Schlag ins Gesicht. […] im Verlauf des Vortrags war er ein Spanier, Brand, katholischer Kardinal, Schullehrer, nordischer Recke. Die Kraft und Gewalt seines Blicks waren so, wie ich sie ebenfalls noch ›nie bei jemanden gesehen habe‹.« 22 20 | Vgl. Neurath 1981a, S. 210; Neurath 1981b, S. 214. 21 | Vgl. Neurath 1981a, S. 212; Neurath 1981b, S. 215. 22 | Belyj in einem Brief an Aleksandr Blok vom 1.–14.5.1912, in: Belyj 1997, S. 4 5

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Wenn Steiner in diesen frei gehaltenen, lediglich auf Notizen basierenden Ausführungen zu begrifflich schwer zu fassenden sozioökonomischen Sachverhalten, zu spirituellen Phänomenen oder zu konkreten historischen Konstellationen Stellung nahm, dann griff er auf das bewährte Hilfsmittel der Wandtafelzeichnung zurück. Pro Vortrag legte er ein, zwei, manchmal drei Zeichnungen an. Steiner zählt damit zu den produktivsten Diagrammzeichnern des frühen 20. Jahrhunderts. Mit der Übersetzung seiner Vorstellungen in einen Anschauungsraum aus Grafen und Symbolen verband er die Überzeugung, seine Ideologie besser verdeutlichen zu können. Das Zeichnen und Schreiben auf der großen schwarzen Schultafel mit weißen und farbigen Kreiden war dabei nur ein didaktisches Hilfsmittel; zunächst wurde nach jedem Vortrag die Tafel wieder gelöscht. Dennoch sollten bei der Transferleistung, wie sie bei der Materialisierung eines Gedankens   in dem zeichnerischen Akt angelegt ist, neue Einsichten generiert  werden.23 Um dies auch langfristig zu ermöglichen, wurde die   Wandtafel ab August 1919 mit einem schwarzen Papier bespannt, auf dem ­Steiner von nun an seine Konzepte entwickelte. Die Papierbögen wurden anschließend archiviert.24 Voraussetzung für Steiners grafische Vermittlungspraxis bildeten die Erfahrungen, die er als Lehrer im Berlin der Jahrhundertwende machte. Er unterrichtete an der Arbeiterbildungsschule, die Wilhelm Liebknecht 1891 gegründet hatte. Dort gab er von 1899 bis 1904 Kurse und Übungsseminare zur Geschichte – Veranstaltungen, die anfänglich marxistisch angehaucht waren. Letztlich prägte ihn aber die Erfahrung, dass seine »idealistische Geschichtsmethode«, die er gegen eine materialistische Geschichtsauffassung setzte, bei der Arbeiterschaft großen Anklang fand.25 Vor dem Hintergrund dieser positiven Rezeption entwickelte Steiner seine routinierte Vortragstätigkeit und begann die theosophische Lehre mit zunehmender Überzeugungskraft zu vertreten. Das war schließlich auch der Grund für seine Entlassung als Lehrer an der Arbeiterschule. 23 | Einen Überblick über die verschiedenen Räume der Wissensvermittlung vom Schulzimmer bis zur virtuellen Datatektur gewährt Scheibel 2004. 24 | Die erste erhaltene Wandtafelzeichnung ist mit 9.8.1919 datiert; vgl. Steiner 1990, S. 11. 25 | Vgl. Steiner und Steiner-von Sivers 1967b, S. 13; Steiner 1982, S. 375–380.

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Es ist anzunehmen, dass sich Steiner bereits bei der Anwendung seiner »idealistischen Geschichtsmethode« die diagrammatische Schematisierung von Wissen zunutze machte. Doch nicht allen Zuhörern fiel das visuelle Mitdenken leicht, geschweige denn das Weiterdenken mithilfe der Wandtafelzeichnungen. Anders als bei Steiner, der es vorzog mit dem Stift in der Hand seine Welt-Anschauungen zu dozieren, stellte sich beim Betrachter seiner Grafiken der Erkenntnisgewinn nicht immer und schon gar nicht immer sofort ein. Selbst enge Mitstreiter wie seine Frau Marie Steiner-von Sivers hatten Schwierigkeiten, sich in den generativen Denkraum der Schautafeln hineinzubegeben. Fast autoritär legte ihnen Steiner nahe, sich diesen Schwierigkeiten dennoch auszusetzen, die erklärtermaßen in dem Umstand begründet waren, dass es vom kognitiven Wissen (»Wissenschaft des Gehirns«) zum emotiven Wissen (»Weisheit des Herzens«) keinen direkten Weg gab. Um diesen Weg möglichst kurz zu halten, sollten die Zeichnungen wie Symbole betrachtet werden, wobei nach Steiners Überzeugung Symbole immer so etwas wie das »Durchgangstor zum Geiste« darstellten.26 Um nun dieses esoterische »Durchgangstor« möglichst offen zu ­halten, operierte Steiner mit einem breiten Spektrum an grafischen Figuren. Kenner unterscheiden über hundert Einzelfiguren.27 Die bildlogischen Zeichen wie Kreise, Spiralen oder Klammern sind zwar mit unterschiedlichen Bedeutungen aufgeladen. Dennoch verleihen sie der ausufernden Themenvielfalt, die in den Wandtafelzeichnungen behandelt wurde, inhaltliche Konsistenz und bildnerische Plausibilität. So deutete Steiner etwa die mittelalterlichen Kreuzzüge anhand von Pfeilen spiritistisch um, indem er mit gestalterischem Impetus den geschichtlichen Raum als Kraftfeld interpretierte (Abb. 45).28 Im Rahmen des Vortrags »Die Impulsierung des weltgeschichtlichen Geschehens durch geistige Mächte« (17. März 1923) diente sein gezeichnetes Konstrukt der historiografischen Mustererkennung. Diesem Verfahren liegt das diagrammatische Prinzip zugrunde, ein komplexes Ereignismuster durch die Auflösung in einfache Schaubilder zu beschreiben. Indem Steiner den historischen 26 | Rudolf Steiner in einem Brief an Marie Steiner-von Sivers vom 18.4.1903, in: Steiner und Steiner-von Sivers 1967a, S. 30. 27 | Vgl. Balastèr 1988, S. 28. 28 | Vgl. Steiner 1966, S. 58–73.

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Abb. 45: Rudolf Steiner, [Die Kreuzzüge], 1923

Raum auf eine semiotische Minimaldefinition herunterbricht, erscheinen historische Szenen als relationale Strukturen. Steiner ist so gesehen Strukturalist. Er sucht nach den verborgenen Strukturen der Religionskriege zwischen dem Morgen- und dem Abendland und erkennt sie in einem geistigen Ringen, das überhistorische Qualitäten besitzt.29 Geografische Bezüge zwischen dem Osten und dem Westen, auf die Steiner in seinem Vortrag zu sprechen kam, wurden in der Zeichnung konsequent weggelassen. Indessen ist der geistige Kampf als konfliktäre Auseinandersetzung zwischen einem Oben und einem Unten anhand mehrerer Pfeile symbolisiert. Der gelbe Pfeil links der Mittelachse des Bildes ist im Gestus des pessimistischen ­Hinunter mit breitem Strich vorgezeichnet; dagegen ist der aufstrebende weiße Vektor rechts davon im Gestus des verklärenden Hinauf fixiert. Beide definieren jene okkulte Poetik des indexikalischen Raums, in dem Steiners anthroposophisches Weltbild angesiedelt ist. (Dies ist freilich eine Weltanschauung, die ohne konstruktive Bezugspunkte einer kritischen Anthropologie auskommt.) Die Pfeile sind der Kartografie von Feldzügen entlehnt, ohne in ihrer abstrahierenden Form von der fatalen Wirklichkeit des Kriegs, die Europa erst jüngst entstellt hatte, etwas wiedergeben zu wollen. Vielmehr stehen sie für ein dynamisches Kräftespiel von prinzipieller Natur, das als Abbild »historisch geographischer Verhältnisse« gelesen werden soll.30 29 | Vgl. ebd., S. 66. 30 | Vgl. ebd., S. 67 f.

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Die Zeichnung thematisiert daher nicht nur historische Spannungen bzw. Gegensätze, sondern auch das abgestufte Dazwischen. Diese Stufenleiter der Fortentwicklung wird vom Mineralreich ganz unten bis zur Engelshierarchie oben mit Buchstaben und Abkürzungen durchdekliniert und ist durch Verdoppelung bzw. Überlagerung der Pfeile sowie quergelegte Kraftlinien miteinander verschliffen. Markante Einschnitte innerhalb der mit weißer Kreide notierten esoterischen Entwicklungsskala – vom Auftreten des Menschen bis zu den »Geistern der Form« – sind mit einem Sternchen indiziert. Steiners grafisch erschlossener Universalgeschichtsraum zeichnet sich durch eine gewisse Durchlässigkeit aus. Das liegt nicht zuletzt in dem Umstand begründet, dass er ein unsystematischer Zeichner war. Steiner zeichnete abwechselnd auf mehreren Tafeln, und zwar nicht immer dort, wo es das Thema sinnvollerweise verlangt hätte, sondern da, wo er gerade stand.31 Die unzusammenhängende Verräumlichung der Stimme gehört zur Dramaturgie des Dozierens. Ganz anders ging dagegen später zum Beispiel Joseph Beuys vor. Dessen ungebremster Redefluss ließ ihn Tafel für Tafel bis an den Rand vollschreiben und -zeichnen, mit der Absicht, seinem bildnerischem Denken durch ein Mehr an Worten auch mehr Plausibilität in Form von All-over-Argumenten zu verleihen. Steiners Geschichtsbild ist dagegen als offenes System angelegt, kein formaler Rahmen setzt seinen Zeichnungen eine Grenze. Die betont leeren Flächen, das hat schon Emil Schweigler erkannt, sind ein wesentliches Charakteristikum von Steiners Wandtafelzeichnungen.32 Dagegen spielen Format und Farbe eine untergeordnete Rolle. Die leere Fläche ist in erster Linie Schauplatz und wird, indem sie als undifferenzierte Größe mitzureflektieren ist, zu einem abstrakten Raum für die sinnbildliche Reinszenierung mittelalterlicher Kreuzzüge. Die anthroposophische Auslegung dieser Leere ist klar. Sie wird als psychologische Projektionsfläche des Betrachters verstanden, der in der Konfrontation mit dem Nichts auf der Tafel sich selbst ausgesetzt ist. In einem allgemeinen und grundsätzlichen Sinn lässt sich die leere Fläche auch als Freiraum 31 | Diesen Rückschluss erlauben die Stenogramme von Helene Finckh, die nicht nur Steiners Sprechtext, sondern auch ihre eigenen Bemerkungen zum Aufbau der Zeichnungen aufschrieb. Vgl. Balastèr 1988, S. 29. 32 | Vgl. Schweigler 1941, S. 10 f.

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begreifen. Er erlaubt dem Betrachter, sich in das grafische Konzept einzubringen, also in jene Richtungen weiterzudenken, die lediglich angedeutet, nicht aber weiter ausgeführt sind. Obgleich für Steiner kein wesentlicher Unterschied zwischen dem Herumreisen mit dem Zeichenstift auf der »Karte von Europa« und der verbalen Schilderung großer Schlachten der Weltgeschichte bzw. geistiger Machtkämpfe bestand, gab er letztlich der visuellen Darstellung den Vorzug. Mit dem schematisierten Raum als »äußerem Abbild« von historischen Prozessen in Form von gegenläufigen Strömungen sollten epochenübergreifende, universelle Prinzipien veranschaulicht werden.33 Dieser Geschichtsraum folgt nicht der euklidischen Geometrie. Anstelle der geometrischen Perspektive wurde mit bunten Kreiden eine Art Farbperspektive entwickelt, die das »freie Bewegen der Seele im Kosmos« veranschaulichen sollte, wie es verklärend heißt.34 Um bei den nüchternen Fakten zu bleiben: Steiner ging von den Kreuzzügen des Mittelalters als paradigmatischem Exemplum mit spiritualistischer Gegenwartsrelevanz aus. Über eine ausgereifte Dramaturgie der Pfeile skizzierte er einen historiografischen Aktionsraum, dessen normativ-ideologische Dimension er beim Zuhörer/Betrachter suggestiv zu implementieren suchte. Steiners Wandtafelzeichnungen und ihre formalen Elemente waren maßgeblich von der grafischen Überzeugungsstrategie des Weltverbesserers bestimmt. Was sich für Steiner als historiografischer Makrotrend in geradezu idealtypischer Weise darstellte, spiegelte sich im Mikrobereich der individuellen Lebensgeschichte nicht annähernd wider, wie das Beispiel Belyj zeigt. Dieser glühende Anhänger der Anthroposophie war zusammen mit seiner zukünftigen Frau im Februar 1914 nach Dornach gekommen, um bis zu seiner Einberufung zum Kriegsdienst nach Russland 1916 als Holzschnitzer am Aufbau des Goetheanums mitzuwirken. Dort erlebte er Steiner bei dessen sonntäglichen Vorträgen in der Bauschreinerei nicht nur als Redner, sondern auch als Zeichner.35 Als dann Belyj 1927, auf Anregung des Literaturkritikers IvanovRazumnik, seine schriftstellerische Produktion zu periodisieren, selbst zu den Buntstiften griff, geriet der im Siebenjahresrhythmus getaktete 33 | Vgl. Steiner 1966, S. 70 f. 34 | Vgl. Steiner 1980, S. 172. 35 | Vgl. Belyj 1992, S. 56, 62, 75.

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Abb. 46: Andrej Belyj, Lebenslinie, 1927

Werdegang schnell zu einem »chaotischen« Kurvenbild (Abb. 46).36 Im räumlichen Kräftefeld aus geistigen Einflüssen, persönlichen Beziehungen und Schaffensphasen sollen die argumentativ eingesetzten Pfeile die Erklärungsmächtigkeit dieser multifaktoriellen Selbstanalyse hervorheben. Dabei durchläuft Belyjs Lebenslinie mit ihrer teils antipodisch, teils auf und ab verlaufenden Bewegung eine wechselvolle Argumentation, die in erster Linie ein Psychogramm des Autors ist.37

V ek torieller G eschichtsr aum Das Geschichtsdiagramm ist ein Konfigurationsraum, dessen grafische Ausgestaltung dem bildnerischen Denken unterliegt. Auch wenn der diagrammatische Raum auf unterschiedlichsten Formatierungen basiert, ist er klar strukturiert. Bedeutende Ereignisse können etwa durch einen Farbcode markiert, herausragende Orte durch Rahmenformen hervorgehoben, größere Einheiten durch geschweifte Klammern 36 | Vgl. Belyj in einem Brief an Ivanov-Razumnik vom 1.–3.3.1927, in: Belyj 1997, S. 124–154. 37 | Zur Zickzacklinie der Gefühle vgl. ebd., S. 115 f., 183.

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Abb. 47: John Willett, Kunstströmungen der zwanziger Jahre: 1. Die Hauptrichtungen, 1978

zusammengefasst werden.38 Geschichtsdiagramme sind also Bilder mit einer eigengesetzlich geschaffenen Semantik. Diese ist besonders aussagekräftig, wenn es darum geht, kausale Zusammenhänge aufzuzeigen. Der Parameter »Ursache – Wirkung«, der auf einem kausalen Ansatz beruht, hat im Pfeil wohl sein markantestes Symbol. Als bildlogische Instanz steht der Vektor für eine strenge Deduktionskette. Als indexikalisches Zeichen zeigt er Abhängigkeitsverhältnisse auf; er hilft uns, die Wirkungswege im topologischen Raum der gezeichneten Geschichte nachzuvollziehen. Mit dem Pfeil ist also einerseits die Aufforderung zum relationalen Sehen ausgesprochen, andererseits betont er die Erklärungsmächtigkeit von Diagrammen. Mit diesem Wissen legte der englische Kunsthistoriker John ­Willett 1978 ein Entwicklungsschema vor, in dem er mit hell- und mittelgrauen 38 | Vgl. Krämer 2005, S. 38 f.

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sowie schwarzen Kraftlinien die komplexe Konsolidierungsphase der künstlerischen Moderne während der Weimarer Republik zu skizzieren sucht (Abb. 47).39 Mit seinem bewusst mehrschichtig angelegten, das heißt vor allem auch sozialpolitisch verankerten Schema legt Willett ein wichtiges Korrektiv zu dem prominenten Barr-Chart vor (Abb. 6). Letzteres hatte außerästhetische Zusammenhänge der historischen Avantgarden komplett ausgeblendet, um die Eigenlogik der Kunst im Rahmen einer stilistischen Binnendifferenzierung zu bekräftigen.40 Willett hingegen erzeugt mithilfe seiner Verflechtungsordnung aus sich überschneidenden Pfeilen unterschiedliche Bildebenen. Sie verleihen dem zweidimensionalen Flachraum der Grafik eine dynamische Tiefe, in der sich nicht zuletzt auch das hohe transnationale Vernetzungsstreben als eine globale avantgardistische Praktik widerspiegelt.41

Tabell arischer G eschichtsr aum Geschichte ist nie raumlos. Im Gegenteil, sie ist immer ortsspezifisch. Räumlichkeit ist eine notwendige Dimension historischer Ereignisse, deren volles Ausmaß bei der strategischen Raumbesetzung im Namen einer fatalen Blut-und-Boden-Politik erst so richtig erkennbar wird. Um dem territorialen Kräftespiel der militärischen Energien eine zeichnerische Form zu verleihen, hat sich der spätere Fluxus-­Historiograf George Maciunas in seinen frühen Geschichtstabellen aus den fünfziger Jahren auf die Linie konzentriert (Abb. 48). ­Maciunas verwendete für seine fein säuberlich mit der Feder großflächig angelegten Chronologien zur europäischen Geschichte gewöhnliches Schreibpapier. Die hellblaue Linierung und die rosa Vertikale am linken Blattrand bieten sich als raumzeitliches Interpretationsmuster geradezu an, erzeugen sie doch die zweidimensionale Grundstruktur eines Koordinatennetzes. Räumliches Nebeneinander und zeitliches Nacheinander bilden eine Struktur, mit der sich historiografisches 39 | Vgl. Willett 1978. 40 | Vgl. Schmidt-Burkhardt 2005b, S. 114–160. 41 | Zur »verflochtenen Korrespondenz« (Derrida) zwischen Kunst und Politik vgl. Willetts Schema Organisations and Political Links, in: Willett 1978, S. 15.

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Abb. 48: George Maciunas, Chronology: 1881–1934, um 1953–54 (Detail)

Wissen ordnen lässt. Dabei stiften die Raum- und die Zeitachse eine mathematische Beziehung zwischen den einzelnen Daten, die es erlaubt, quantitative Aussagen zu machen. Maciunas breitet zunächst sein Geschichtsdiagramm mit dem Linienraster aus Zeilen und Spalten über eine räumliche Ordnung aus, die – so hat es Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft (1781) ausgeführt – zur Einlagerung des »szientistisch Gewussten« unabdingbar ist.42 Vorderhand ist es der historiografische Raum, der Maciunas interessiert und den er seinem synchronoptischen Ordnungswillen unterwirft. Ausgehend von den politischen Ereignissen in Frankreich, England, Deutschland, den Balkanländern oder Russland, stellt Maciunas die europäische Geschichte in einer abstrakten Topografie 42 | Zur raumbildenden Matrix von Kolumnen und Zeilen vgl. Goody 1977, S. 53.

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nach geografischen Gesichtspunkten tabellarisch dar. Vergleiche mit China, Japan und den USA runden das Geschichtsbild ab, das von den Ereignissen des Ersten Weltkriegs geprägt wird.43 Zwischen den Nationalstaaten sind vertikale Trennlinien gezogen, die Länder werden damit paritätisch nebeneinandergereiht. Es sind vor allem diese Trennlinien, mit denen uns Maciunas lehrt, Geschichte wieder in begrenzten Raumzonen zu denken. Er definiert sie als Kolumnen und kann dadurch eine regionale Ausdifferenzierung der Vergangenheit vornehmen. Lange Zeit laufen diese mit dem Lineal gezogenen Linien parallel. Sobald aber kriegerische Auseinandersetzungen zwischen den Ländern zu verzeichnen sind, verwandeln sie sich wie bei einem Vexierbild übergangslos in Frontlinien. Ihr unregelmäßiger Verlauf markiert nun die territorialen Verschiebungen aufgrund der Feldzüge. Die vertikal mäandernde Linie ist also Index für geopolitische Raumordnung, die von militärischen Vorstößen bzw. Rückzugsgefechten immer wieder neu festgelegt wird. Wenn man die Linien miteinander vergleicht, dann wird schnell klar, dass sich die deutsche Aggression von Mitte August 1914 bis zum November 1918 nur deshalb auf die Annektierung des Ostens konzentrieren konnte, weil die Westfront stabil blieb. Historiografie, so wie sie Maciunas hier gezeichnet hat, eröffnet der Geschichte einen Aktionsraum, der an die Schrift, vor allem aber an die polyvalente Linienführung gebunden ist.

I ndividuelle Topologien Das Modell eines historiografischen Ablaufschemas beruht auf der Annahme, dass es so etwas wie eine Visualisierungskonvention gibt. Tatsächlich konzentriert sich die Diskussion über die visuelle Evidenzgenerierung auf naturwissenschaftliche Bilder, so als ob wir in den Geisteswissenschaften nicht auch mit, durch und über diagrammatische Geschichtskonstruktionen argumentieren, reflektieren und neue Einsichten gewinnen. Anders als bei der naturwissenschaftlichen Modellbildung, die über Automatisierungsverfahren so etwas wie Objektivität zu erzeugen versucht, unterliegen historiografische 43 | Vgl. Schmidt-Burkhardt 2011b, S. 31–37.

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Diagramme subjektiven, das heißt ideologischen Schwankungen, auch wenn ihre überwiegend nach den strengen Regeln des Koordinatensystems aufgebauten Raumordnungen darüber hinwegzutäuschen vermögen.44 So übte Playfair mit dem zackigen Grafen harte Kritik an der Schuldenpolitik der britischen Regierung. Neurath setzte auf die sozialreformerische Macht der visuellen Aufklärung mittels Bildstatistiken. Steiner hingegen verfocht die Idee eines spirituellen Evolutionismus, die er anhand eines einfachen Sets von Zeichen visualisierte. Willett wiederum versuchte die konservative Vorstellung von einer autonomen, selbstzweckhaften Kunst durch seinen multikausalen Ansatz zu korrigieren, und Maciunas nutzte das Raster, um die geopolitische Raumpolitik als szenisch-abstrakte Darstellung wiederzugeben. Diese heterogenen, von unterschiedlichen Sichtweisen inspirierten Ansätze bei der historiografischen Modellbildung eröffnen neue Perspektiven, die notwendig sind, um Vergangenheit immer wieder zu hinterfragen. Eine solche epistemische Funktion erfüllt der Text letztlich auch, freilich nicht auf so anschauliche Weise wie topologische Geschichtsbilder.

44 | Zu den Ästhetisierungsstrategien und Automatisierungsverfahren wissenschaftlicher Bilder vgl. exemplarisch Mersch 2005.

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3  DIAGRAMMATISCHE PROPAGANDA

Sowjetische Schaubilder W alter B enjamin

in

M osk au

Walter Benjamin war ein leidenschaftlicher Sammler von Büchern, Spielsachen, Kinderbüchern, Briefmarken, Ansichtskarten, Fotografien und Plakaten. Soweit sich Benjamin für Schaubilder interessierte und diese sammelte, hat die Bildwissenschaft davon kaum Notiz genommen. Die kursorische Art, mit der Benjamin auf Diagramme zu sprechen kommt, wirkte allzu beiläufig, um diesem Thema größere Aufmerksamkeit zu schenken. Überflüssig zu sagen, dass er sich nie an einer Tiefendeutung dieser Phänomene im Grenzbereich zwischen Bild und Text versucht hat. Dennoch ging von ihnen eine visuelle Faszination aus, und diese fand im feinfühlig stilisierenden Layout der Schriftbilder und grafischen Schemata von Benjamin ihren frühen Niederschlag.1 Aber erst während seines zweimonatigen Moskau-  Aufenthalts zum Jahreswechsel 1926/27 wurde sein erhöhtes Interesse für visuelle Modelle, für Stammbäume, Ahnentafeln, Bildstatistiken, Geschichtsflüsse, Landkarten oder Stadtpläne, kurz für Schaubilder jedweder Art geweckt. Wie so oft in jenen eisigen Wintertagen fand sich Benjamin auch am 18. Dezember 1926 im Dom Gerzena (Herzen-Haus) ein, dem damaligen Sitz der Allrussischen Assoziation proletarischer Schriftsteller. Und wie so oft trug er dort mit dem Regisseur und Theaterkritiker Bernhard Reich, seinem Konkurrenten beim Liebeswerben um die lettische Vertreterin der Revolutionskultur Asja Lacis, ihre latenten Spannungen auf dem Schachbrett aus. Dieser Zeitvertreib war durch Lenins Leidenschaft für dieses Spiel in der Sowjetunion sanktioniert. Wie alle Ausländer genoss auch Benjamin eine 1 | Vgl. Schwarz 2006.

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besondere Aufmerksamkeit seitens der russischen Presse, die ihren Lesern mit Interviews »ein bißchen Amerika« vorzugaukeln versuchte, wie bereits Joseph Roth an sich selbst erfahren hatte.2 Als dann ein Journalist der Vecˇernjaja Moskva (Moskauer Abendzeitung) im Dom Gerzena erschien, um Benjamin zu befragen, erfand dieser kurzerhand ein Buchprojekt, das »die Kunst unter der Diktatur« behandeln sollte. Das fingierte Vorhaben zielte auf einen Vergleich zwischen der Gewaltherrschaft in Italien und der Sowjetunion ab, zwischen der Diktatur des Faschismus und der des Proletariats.3 Tatsächlich liefen Benjamins Überlegungen auf eine Abrechnung mit dem italienischen Faschismus und dem deutschen Expressionismus hinaus, wodurch die sowjetische Kunst in ein umso besseres Licht rücken sollte. Einen Monat später erschien die redigierte Fassung des Interviews im Vecˇ ernjaja Moskva, damals eines der wenigen russischen Boulevardblätter, die regelmäßig gedruckt wurden. Unter dem Titel »Euro-  päische und sowjetische Kunst« wurde dem Zeitungsleser »Doktor  Walter Benjamin« als »bekannter deutscher Kunstwissenschaftler« in der Art von Wilhelm Hausenstein vorgestellt. Er sammle, dem Zeitgeist der ausländischen Kunstwissenschaft folgend, gegenwärtig in Moskau Material über die sowjetische Kunst.4 In dieser Rolle war Benjamin auf seine Sammlung von Fotografien, Plakaten und Diagrammen zu sprechen gekommen, die heute nicht mehr zur Gänze rekonstruiert werden kann. Für die von ihm gesammelten Diagramme fehlen sogar jegliche Indizien. Ungeachtet dessen vermittelten sie für Benjamin ein repräsentatives Bild von der sowjetischen Kunst, da es eine vergleichbare Bildpropaganda im Westen nicht gebe.5 Benjamins gewagtes Unterfangen des fingierten Buchprojekts wurde von seinem Schachpartner Reich scharf kritisiert. Mit überflüssigen theoretischen Ausführungen hatte er riskiert, sich »gefährliche Blößen« zu geben.6 Reich gründete seine Schelte vor allem auf die unpräzisen Bemerkungen über den Gesellschaftsutopisten Paul ­Scheerbart, dessen ungebremste Maschinenfantasien die soziale 2 | Roth 1990b, S. 658. 3 | Vgl. Benjamin 1985b, S. 313. 4 | Benjamin 1989b. 5 | Vgl. ebd., S. 880. 6 | Benjamin 1985b, S. 313.

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Relevanz vermissen ließen. In der Tat war Scheerbarts »revolutionärer Charakter« in Hinblick auf fortschrittliche Techno-Utopien ungenügend zur Sprache gekommen, wie Benjamin seinem Tagebuch anvertraute. Das Bedauern, das in dieser Einsicht mitschwingt, hatte einen guten Grund: Nichts wurde beim Aufbau der Sowjetunion ernster genommen als alles Technische.7 Auch in diagrammatischen Angelegenheiten zeigte der als »bekannter deutscher Kunsthistoriker« Bezeichnete – heute trotz seines Interesses für Riegl, Warburg oder Panofsky, für Eduard Fuchs oder die moderne Kunst als »Außenseiter« (Michael Diers) des Faches oder, zugespitzt, als »Nicht-Kunsthistoriker« (Wolfgang Kemp) tituliert  – mangelnde Kenntnisse, indem er mit Blick auf die sowjetische Schaubild-Produktion behauptete, »daß es das im Westen überhaupt nicht« gebe, »daß Künstler Diagramme anfertigten«.8 Bei seinem ersten und zugleich letzten Auftritt in der sowjetischen Presse setzte Benjamin gewissermaßen alles auf eine Karte, um bei der Veröffentlichung des Interviews sodann ernüchtert zu resümieren, das Beste daran sei, dass »es sehr groß aufgemacht« wurde.9 Die kühne Behauptung, westeuropäische Künstler hätten keine Diagramme erstellt, macht indessen eines deutlich: Benjamin entwickelte erst in der Sowjetunion die Sensibilität für Schaubilder. Den Blick für dieses Phänomen hatte noch vor Reiseantritt die Kulturgeschichte über » Sowjet-Rußland« von René Fülöp-Miller geschärft, in der nichts beschönigt, allenfalls erklärt wird.10 Unter den zahlreichen Tafeln des gewichtigen Bandes sind auch Aufnahmen zu bilddidaktischen Themen zu finden. Sie zeigen das Innere eines Propagandawagens, der für Unterrichtszwecke verwendet werden konnte, oder eine Wanderschule für Bauernkinder unter freiem Himmel. Hier wie dort kamen Schaubilder aller Art zum Einsatz: Stammbäume, schematische Pflanzendarstellungen, Bildge-  schichten, Stabdiagramme, Landkarten (Abb. 49–50). Bemerkenswerterweise beginnt Benjamin erst Tage nach dem Interview mit der Vecˇernjaja Moskva, sich Notizen zu den diagrammatischen Darstellungen zu machen. Sein Staunen über die Anschläge in 7 | Vgl. ebd., S. 340, 368, 372. 8 | Vgl. Benjamin 1989b, S. 880. 9 | Benjamin 1985b, S. 372. Vgl. Dewey 1985, S. 697. 10 | Vgl. Fülöp-Miller 1926.

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Abb. 49: Unterricht in einem Propagandawaggon, um 1925 Abb. 50: Wanderschule für Bauernkinder, um 1925

Wort und Bild, die nicht selten ganze Wände füllten, kommt immer wieder zum Ausdruck. Dass sich Benjamin von optischen Eindrücken leiten ließ, ist nicht zuletzt seinen mangelnden Russischkenntnissen geschuldet. Einige seiner phänomenologischen Beschreibungen aus dem Tagebuch sind in den für die Publikation gefilterten »Moskau«Essay (1927) eingeflossen oder wirkten in weiterer Reflexion auf die Russlanderfahrung als Metaphern nach, etwa dann, wenn Benjamin im Rahmen eines Literaturberichts versucht, die »Entwicklungskurve« der neuen sowjetischen Dichtung in ein »Gradnetz« der herrschenden Zustände der letzten fünf Jahre einzuzeichnen, so als gelte es, rückwirkend einen Fünfjahresplan für die Dichtung zu erstellen.11 In dem Reflexionsbuch Einbahnstraße (1928) wird er dann gegen die »Prinzipien der Wälzer oder Die Kunst, dicke Bücher zu machen« polemisieren. Mit diagnostischer Schärfe prangert Benjamin, der zur Bestreitung seines Lebensunterhalts lange Zeit auf schnödes Zeilengeld angewiesen war, die wissenschaftliche Unart an, Literatur durch wortreiche Ausführungen, mühselig gewonnene begriffliche Distinktionen und umständliche Aufzählungen zu einem ausufernden Schriftwerk anschwellen zu lassen. Seine sarkastische Kritik zielte nicht zuletzt auf genealogische Narrative ab, also Zusammenhänge umständlich in Worten auszuführen, statt sie sinnfällig aufzuzeichnen.12 Im Frühjahr 1929, wenige Monate nachdem Benjamin seiner Missbilligung von akademischen »Durchschnittswerken« Ausdruck verliehen hatte, 11 | Benjamin 1977a, S. 757. 12 | Vgl. Benjamin 1972a, S. 104 f.

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Abb. 51: »Pergamentheft« (1928–30) von Walter Benjamin mit ­g rafischem Schema seines Lebens, 1929 Abb. 52: Pharus-Plan Berlin, um 1905

griff er selbst zur Feder, um sich sein soziales Netzwerk anhand eines grafischen Gerippes aus dünnen Strichen und 45 Eigennamen zu vergegenwärtigen (Abb. 51). Entstanden ist eine »Reihe von Stammbäumen« mit sogenannten »Urbekanntschaften«, die Benjamins Leben und Denken seit der Studentenzeit geprägt haben.13 13 | Benjamin 1985a, S. 491.

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Von diesem »graphischen Schema« seines »Lebens« ausgehend, sollte Benjamin schließlich, wie in der Berliner Chronik (1932) bekundet, Überlegungen zu einer Art von biografischer Landkarte anstellen, bei der Subjektgeschichte und Topografie zur Deckung gelangen.14 Benjamin spielte lange Zeit mit der Vorstellung, mithilfe von bunten Symbolen eine individuell-semiotische Ausdeutung des grauen Straßenrasters in einem Pharus-Plan seiner Geburtsstadt vorzunehmen (Abb. 52).15 Die verlagsseitig verwendeten Bildzeichen zur Markierung der verschiedenen Bahnhöfe in Berlin, zur Standortbestimmung von Postämtern, Schulen oder Theatern mussten dazu nur weiterentwickelt und verfeinert werden, um dem Plan das biografische Weichbild einer Stadt abzugewinnen. Die Vermutung liegt nahe, dass Benjamins Gedankenspiel später modifiziert in den Farbsignets zur thematischen Gliederung seiner Materialkonvolute zum Passagen-Werk manifest geworden ist: in bunten Kreisen, Kreuzen und Quadraten, mal ausgefüllt, mal leer, mal strukturiert.16

S tatistiken

als

B ilder

Die Schaubilder, die auf Benjamin in Moskau einen so großen Eindruck machten, waren Teil eines umfassenden Maßnahmenkatalogs zur Unterstützung des Industrialisierungsprozesses. Die staatliche Abteilung für Agitation und Propaganda setzte sie als ideologiepolitisches Mittel zur nichtschriftlichen Massenbeeinflussung ein. Von einer staatlichen Befehlsökonomie kontrolliert, sollten alle Werktätigen mittels grafischer Darstellungen zur vorzeitigen Planerfüllung angetrieben werden. Denn eine große Lesermasse gab es nicht, so wenig wie angemessene Literatur für die Bauernjugend, die Bäuerinnen und Halbanalphabeten. Schlimmer noch, für sie wurde der Gebrauch des Buchs  – so die Kritik eines Agitprop-Funktionärs  – durch die »sehr abscheuliche intelligenzlerische, trockene und abstrakte Sprache« verdorben, wie sie in einer »Vielzahl von Tabellen, Diagrammen, Zahlen,

14 | Vgl. ebd.; Reulecke 2008, S. 140 f. 15 | Vgl. Benjamin 1985a, S. 466 f. 16 | Vgl. Abb. in: Walter Benjamin Archiv 2006, vordere Umschlaginnenseite.

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Abb. 53: Lesestube im Moskauer »Haus des Bauern«, 1926

Fremdwörtern usw.« verwendet wurde.17 Die Pauschalkritik an der schlechten Lesbarkeit sowjetischer Erziehungsbilder schloss Bildstatistiken selbstredend ein. Benjamin hatte Schaubilder dieses Genres in der Lesestube des Bauernklubs  – offiziell »Haus des Bauern des Moskauer Sowjets«  – am Trubnaja-Platz studieren können (Abb. 53). Mittels grafischer »Entwicklungslinien« wurden darin die Dorfchronik, die Entwicklung der Landwirtschaft, der Produktionstechnik oder der Kulturinstitutionen festgehalten. Teilweise waren diese Statistiken mit farbigen Illustrationen versehen, kleinen Bildern, die von den Bauern zum besseren Verständnis hergestellt worden waren.18 Ähnlich verhielt es sich mit einer großformatigen Landkarte, die im Museum des Bauernklubs hing. Darauf erklärten Bilder den Zustand der Landwirtschaft im Moskauer Regierungsbezirk. Per Knopfdruck ließ sich zusätzlich die Elektrifizierung in der Region mittels Glühbirnen veranschaulichen.19 Diese Lichter suggerierten im kleinen, was im großen Maßstab ver17 | P. Bljachin zit. in: Grabowsky 2004, S. 311 f. 18 | Vgl. Benjamin 1972c, S. 341; Benjamin 1985b, S. 334. 19 | Vgl. Lifschitz 1926, S. 14.

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Abb. 54: Geschmückter Wagen des Werks »Rotgardist« in Leningrad, 1. Mai 1925, 1925

folgt, aber nicht annähernd erreicht worden war: die landesweite Versorgung mit elektrischer Energie, um die in mittelalterlichen Produktionsmethoden befangene Großunion mit einem Stromschlag ins 20. Jahrhundert zu katapultieren. Triumphierende Landkarten und eingängige Mengenbilder eigneten sich besonders gut, um in den Anfängen der UdSSR das kommunistische Wirtschaftswunder, das freilich nur auf dem Papier existierte, zu vermitteln. Sie schufen die Illusion einer verteilungsgerechten Parallelwelt, an deren Erschaffung aber erst noch gearbeitet werden musste. 1921, im Jahr der verheerenden Hungersnot in Russland, sechs Wochen nach Lenins notgedrungener Einführung der »Neuen Ökonomischen Politik« auf dem X. Parteitag der Kommunistischen Partei, begann die später klassisch gewordene Statistikparade zum 1. Mai. Anders als die über einen großen Zeitraum angelegte Verlaufskurve bei William Playfair (Abb. 43), die Entwicklungen aus der Perspektive einer longue durée nachspürt, bezogen sich die zur Schau getragenen figurativen Wirtschaftsdaten in der Sowjetunion auf eine kurze Zeitspanne (Abb. 54–55). Nach den stürmischen Jahren des Kriegskommunismus stand Lenins ökonomische Politik unter akutem Erfolgszwang. Sie öffnete sich deswegen für privatwirtschaftliche Initiativen und liberalisierte so ansatzweise den Wirtschaftssektor. Gleichzeitig argumentierte sie mit dem quantifizierbaren Kalkül von Jahresübersichten, einer Schaubildpraxis, die bereits während der »Progressiven Ära« des amerikanischen Bildungswesens wirkungsvoll

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Abb. 55: Sverdlov-Kreuzung in Moskau, 1. Mai 1921, 1921 Abb. 56: Statistical Exhibits in the Municipal Parade by the Employees of the City of New York, May 17, 1913, 1913

eingesetzt worden war (Abb. 56).20 Große Erfolge wurden verzeichnet, weil es die Planungsökonomie der UdSSR so verlangte. Doch welcher einfache Werktätige konnte schon hinter die Kulissen dieser optimistischen Kurvenlandschaften blicken (Abb. 57)? Künstler hingegen, die sich das anschauliche Denken zum Beruf gemacht hatten, erkannten sofort die epistemische Dimension dieser Mengenbilder. Einer von ihnen war Raoul Hausmann. Der ehemalige Berliner Dadaist, der für sich in Anspruch nahm, 1918 die Fotomontage erfunden zu haben, sah noch Jahrzehnte später Entwicklungsmöglichkeiten für diese künstlerische Technik. Die Aufgabe der »zukünftigen« Fotomontage lag im Bereich der politischen und wirtschaftlichen Propaganda, so seine Überzeugung. Die »fotomontierte Statistik«, an die Hausmann als erster gedacht haben will, würde durch die »Exaktheit des Materials«, die »Klarheit des Gegenständlichen« und das »Nebeneinander« der Begriffe noch eine große Rolle spielen.21 In Unkenntnis über die agitatorisch eingesetzte Bildstatistik in der frühen Sowjetunion konnte Hausmann noch Anfang der sechziger Jahre für eine vermeintlich neue Art der Statistik werben, die ihm erlaubte, alte Prioritätsansprüche auf dem Gebiet der künstlerischen Innovation zu bekräftigen und gleichzeitig neue anzumelden.

20 | Vgl. Brinton 1914, S. 343; Klein 2001, S. 121–124. 21 | Hausmann 1994, S. 304.

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Abb. 57: Plakate von Gustavs Klucis im Einsatz für agitatorische Zwecke, um 1932

Es ist eine Sache, Bildstatistiken als propagandistische Argumentationsform für ökonomische Zusammenhänge einzusetzen, und eine andere, darüber aus geschichtsphilosophischer Perspektive zu reflektieren. In dem einen Fall dienen sie als zu hinterfragendes Beobachtungs- bzw. Analyseinstrument, in dem anderen Fall bieten sie Potenzial zur intellektuellen Anregung. In beiden Fällen vermögen sie jene »Phantasie« zu beflügeln, zu der »Zahlen« mitunter »eindringlicher sprechen als Kunstwerke«.22 Gerade darin aber erblickte Walter Benjamin die eigentliche Tragödie der UdSSR. Denn auch zehn Jahre nach dem politischen Systemwechsel war das sowjetische Russland noch weit entfernt von dem Ziel, von »›geistigen‹ Daten« geleitet zu werden. Wirtschaftliche Fakten bestimmten weiterhin den Alltag, so Benjamins ernüchterte Einschätzung.23 Die Teuerung, die der Berliner Intellektuelle ohne festes Einkommen während seines Aufenthalts in Moskau durchgängig beklagte, hatte für den Großteil der Bevölkerung existenzbedrohende Ausmaße angenommen. Nach der ansatzweisen Liberalisierung des Wirtschaftssektors trieben wieder »kleine Kapitalisten und Spekulanten« ihr Unwesen.24 22 | Roth 1990d, S. 660. 23 | Vgl. Benjamin in einem Brief an Martin Buber vom 23.2.1927, in: Benjamin 1997, S. 232. 24 | Reich 1970, S. 95.

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Sowjetrussland befand sich an einem historischen Wendepunkt, den Benjamin aus nächster Nähe studierte, ohne eine abschließende Diagnose stellen zu können. Als kritischer Linker hatte er sich die Skepsis gegenüber dessen weiterer Entwicklung bewahrt, so wie er gegenüber den stalinistischen Parteigängern stets Misstrauen hegte. Daher ist sein Moskauer Tagebuch, das bekanntlich nie zur Veröffentlichung bestimmt war, auch nicht als Jubelschrift angelegt. Wie viele westliche Intellektuelle hatte auch Benjamin mit dem Umsturz 1917 große Erwartungen verbunden. Doch blinde Revolutionsverherrlichung, diese kollektive Kehrseite der großbürgerlichen Linken, war ihm suspekt. Die Gewissensnöte der literarischen Opposition, die zwischen Parteiräson und künstlerischer Freiheit aufgerieben zu werden drohte, machten ihn skeptisch. Sein Hadern mit der Kommunistischen Partei rührte genau daher, aber auch sein durchaus politischer Entschluss, von den sozio-ökonomischen Vorzügen eines Beitritts nicht profitieren zu wollen. Benjamins Tagebuchaufzeichnungen vermitteln unumwunden die offen und subtil sich durchsetzenden Machtstrukturen des Stalinismus. »Byv&ie ljudi«, »gewesene Leute«, lautete der neue Symptombegriff. Gemeint waren all jene Sowjetbürger, die sich an die postrevolutionären Verhältnisse weder anpassen konnten noch wollten und daher zwangsdeportiert wurden.25 Kurzum, die Möglichkeit des »Scheiterns« wie des »Gelingens der Revolution« schien in der frühen Stalin-Ära virulenter denn je zu sein.26 Deshalb auch die groß angelegte erziehungspolitische Initiative mit Schaubildern in einem Land, in dem es mehr Analphabeten als Bücher gab. Angesichts dieser Umstände genoss die Literatur – ganz anders als der massenwirksame Film – die größte Zensurfreiheit von allen Künsten.27 Die »beste russische Literatur«, urteilte Benjamin mit transluzidem Scharfsinn, blieb allerdings das »farbige Bild in der Fibel«.28 Die Wissbegierde war groß, doch die Fundamente einer allgemeinen Bildung mussten erst gelegt werden.29 Lenins Order, bis zum 25 | Vgl. Benjamin 1985b, S. 370, 383. 26 | Vgl. Benjamin in einem Brief an Martin Buber vom 23.2.1927, in: Benjamin 1997, S. 232. 27 | Vgl. Benjamin 1977c, S. 747 f. 28 | Benjamin 1977b, S. 747. 29 | Vgl. Reich 1970, S. 314.

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Jahr 1928 den Analphabetismus zu beseitigen, blieb Wunschdenken. Der favorisierten »Literatur des Faktums« für den Arbeiter, anstelle von komplizierten Texten, entsprachen in der visuellen Kultur des Pädagogischen die leicht verständlichen Bildfakten. Nachdem Lenin künstlerisch gestaltete Statistiken zum besseren Verständnis für alle Werktätigen gefordert hatte, versuchte Stalin mithilfe der neuen Bildsprache alle Sowjetbürger auf seinen neuen Kurs einzuschwören.30 Diagramme wurden in Wandzeitungen abgebildet, auf Postkarten gedruckt, in Staatsbetrieben und behördlichen Institutionen aufgehängt oder im öffentlichen Raum ausgestellt. Der russische Alltag war didaktisch beherrscht, das Schaubild unverzichtbarer Teil einer landesweiten Bildungsoffensive, die aus den Mitgliedern der Gesellschaft Subjekte der Erziehung machte (Abb. 49–50, 58). Während seines Moskau-Besuchs hatte Benjamin Asja Lacis wiederholt aus der Manuskriptfassung von Einbahnstraße vorgelesen, um seiner nah-fernen Sehnsuchtsfrau den Text schließlich zu widmen. Darin wird  – mit Blick auf die unabweisbaren Vorzüge von Schaubildern – der Niedergang des Schriftbuchs diagnostiziert. Die Ursache schien die »diktatorische Vertikale« zu sein, die das Lesen gleichsam in die hierarchisierende Senkrechte trieb. Mallarmés »Coup de dés«, die Zeitungskolumne, der Zettelkasten oder die Firmenschilder in den Straßen hätten die Schrift längst in einen grafischen Bereich mit exzentrischer Bildlichkeit überführt. An dieser Entwicklung würden die Poeten nur mitwirken können, wenn sie sich der neuen Bilderschrift öffneten, sprich, der des »statistischen und technischen Diagramms«. Nur mit der Schaffung einer »internationalen Wandelschrift« würde die dichterische Autorität wiederbelebt; sie ließe alles bisherige Streben nach rhetorischer Erneuerung als überholt erscheinen.31 So ­Benjamins zeitgeistige Prognose. Die Schaubilder, die ihm in Moskau auf Schritt und Tritt begegneten, fügten sich umstandslos in diese schriftbildliche Erneuerungskampagne ein. Trotzdem oder gerade deswegen war Benjamin nicht blind gegenüber deren Auswüchsen, zumindest im Westen. Mit unüberbietbarer Ironie streicht er die eklatante Diskrepanz zwischen Form und Inhalt eines plastischen Kurvendiagramms heraus, das ihm, exponiert wie 30 | Vgl. Neurath 1991a. 31 | Vgl. Benjamin 1972a, S. 102–104.

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Abb. 58: Schulbesuch für alle Kinder, um 1925

es war, auf dem Rundgang durch die Berliner Ernährungsausstellung 1928 ins Auge stach: »Auf einem Sockel eine herrliche Alpenlandschaft. Die Unterschrift aber lautet: Das Verschwinden des Sommergipfels der Säuglingssterblichkeit. Ganz im Hintergrunde die steile Julihöhe der Todesfälle aus irgendeinem grauen Vorkriegsjahr.«32 Warum, so wundert sich der echauffierte Ausstellungsbesucher, in dieser Datenlandschaft aus mehrschichtig angelegten Gebirgsketten mit absinkenden Gipfeln und Höhenzügen denn nirgendwo ein medizinischer Hochalpenkletterer dieses »Matterhorn der Statistik« erklommen habe, sozusagen als kleine Figurine auf dem Massiv der zahlenbasierten Grafen. Worauf diese satirische Kritik nicht einging, ist, dass 3-D-Lehrmittel wie jenes auf der Berliner Ausstellung für gesunde und zweckmäßige Ernährung in den Sozialausstellungen der zwanziger und dreißiger Jahre verstärkt als gestalterisches Element eingesetzt wurden. Eindeutige Darstellungen sollten die Interpretationen bestimmen. Den Anstoß dazu hatte Otto Neurath gegeben. Seine »Wiener Methode der Bildstatistik«, die auf leicht entzifferbaren Figurationen gründete, kam auf den großen Hygieneausstellungen der damaligen Zeit auf vielfältige Weise zum Einsatz.33 Mit ihr wurden weltweit neue Maßstäbe 32 | Benjamin 1972b, S. 529. Zur diagrammatischen Konstruktion des Bevölkerungskörpers in »biopolitischen Bildern« vgl. Ulama 2016, S. 53–67. 33 | Vgl. Hille 2013, S. 310 f., die Bexte 2006 2 zitiert, der wiederum Nikolow 2001 paraphrasiert.

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Abb. 59: Plakat für Dziga Vertovs Film Ein Sechstel der Erde, 1926

der Wissensvisualisierung gesetzt – ab 1931 auch in der Sowjetunion, damit die heimische Bildpädagogik nicht hinter den neuen Standard zurückfiel.34 Benjamin teilte diese Auffassung nicht, konnte sie nicht teilen, da ihm  – wie gesagt  – ein internationaler Vergleichsmaßstab fehlte. Ohne Kenntnisse der russischen Sprache war er außerstande, das Anschauungsmaterial en détail zu entschlüsseln, geschweige denn auf seinen Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Im Vertrauen auf die ikonische Evidenz der grafischen Mittel verzeichneten die obligaten Wandzeitungen, die in den Moskauer Fabriken hingen, die etappenweise geleistete Bildungsarbeit am Kollektiv, wie umgekehrt der »statistische Atlas« für kollektive Orientierung sorgen sollte.35 Kein Wort davon, dass sich in diesen Statistiken all jene volkswirtschaftlichen Grundsätze widerspiegelten, die in Hinblick auf ökonomische Planungsprozesse dem politischen Programm entsprachen. Zu diesem Zweck hatte die Agitprop-Abteilung 1922 eigens ein »Büro für Betriebspropaganda« eingerichtet, dem die Aufgabe zufiel, die Durchsetzung einer forcierten Industrialisierung gemäß der neuen Planwirtschaft

34 | Vgl. Kap. »Wiener Methode der Bildstatistik« in diesem Buch, S. 155–210. 35 | Vgl. Benjamin 1985b, S. 346 f., 379.

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zu popularisieren.36 Die Hinweisschilder, Warntafeln und Lehrbilder, die Benjamin mit seiner außergewöhnlichen Wahrnehmungsfähigkeit allerorten entdeckte, war eine Folge dieser staatlichen Initiative. Selbst in den Betrieben schien jeder Arbeiter von Plakaten umstellt, die alle Gefahren im falschen Umgang mit den Maschinen in bunten Farben beschworen.37

L andk arte

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Gewöhnliche Landkarten und Stadtpläne waren in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren Teil der allgemeinen Bewusstseinsbildung und halfen den Sowjetbürgern, eine genauere Raumvorstellung von der revolutionären Inbesitznahme zu gewinnen. Nichts konnte das Ausmaß der Um- und Neugestaltung eines Sechstels der festen Erdoberfläche besser veranschaulichen als Landkarten dieses gigantischen Reichs (Abb. 59). Riesige Karten von Russland, diesem physisch schwer zu bewältigenden Großraum, hingen auf den Bahnhöfen oder lagen im handlichen Format buchstäblich auf der Straße. Aufgestapelt im Schnee, wurden sie von ambulanten Händlern zum Kauf angeboten. Das wiedererstarkte Nationalgefühl, das der Bolschewismus seinen Bürgern geschenkt hatte, ließ die Landkarte schnell zum neuen russischen Kultbild avancieren, vergleichbar nur mit Lenins Porträt.38 Als identifikationsstiftendes Symbol war sie omnipräsent. Sie gehörte sowohl zur Ausstattung der Sowjetregierung wie auch der Schaubühne. Innerhalb der Kreml-Mauern, im Lesesaal des Klubs der Rotarmisten, hing ein hölzernes Relief, das die schematischen Umrisse von Europa zu erkennen gab. Beim Drehen einer daran angebrachten Kurbel leuchteten kleine Lampen auf, die in chronologischer Reihenfolge Lenins biografische Stationen auf der Karte markierten.39 Außerhalb der Kreml-Mauern, in Vsevolod Meyerholds exzentrischer Inszenierung der Polit-Revue »Dae&’ Evropu!«, »Her mit Europa!«, 36 | Vgl. 37 | Vgl. 38 | Vgl. 39 | Vgl.

Grabowsky 2004, S. 100. Benjamin 1972c, S. 341. ebd., S. 336. Benjamin 1985b, S. 350.

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spielte die Landkarte als verschiebbare Dekoration auf offener Bühne, dieser anderen revolutionären »Propagandastätte« (Joseph Roth), eine zentrale Rolle. Das utopisch angelegte Stück handelte vom Kampf zwischen dem Weltkapitalismus und dem Sowjetvolk bzw. den vereinigten Proletariern aller übrigen Länder.40 Der ironische Ton der Aufführung färbte auf den ideologischen Bedeutungsmaßstab der Landkarte ab. Der Westen wurde darin auf ein »kompliziertes System kleiner russischer Halbinseln« reduziert und mithin an den Rand der neuen Föderation aus einer Vielzahl von Sowjetrepubliken gerückt. »Man will abmessen, will vergleichen und will vielleicht auch jenen Größenrausch genießen, in den der bloße Blick auf Rußland schon versetzt«, fasst Benjamin die patriotisch-pathetische Wirkung dieser absichtsvoll verzerrten Darstellung zusammen, um sogleich eine tiefgründige Empfehlung daran anzuschließen: »Staatsbürgern kann nur dringend angeraten werden, ihr Land sich auf der Karte ihrer Nachbarstaaten anzusehen, Deutschland auf einer Karte Polens, Frankreichs, ja selbst Dänemarks zu studieren; allen Europäern aber, auf einer Karte Rußlands ihre Ländchen als ein zerfasertes, nervöses Territorium weit draußen im Westen liegen zu sehen.« 41

Der allgemeinen Kartenbesessenheit in den frühen Aufbaujahren der UdSSR, deren Augenzeuge Benjamin wurde, bereitete das staatliche Informationsmonopol 1936 ein jähes Ende. Ab diesem Zeitpunkt waren offiziell keine Landkarten, keine Stadtpläne, keine Ortsverzeichnisse mehr erhältlich. Das erstarkte Hitlerdeutschland, die forcierte Verbreitung von Feindbildern und eine regelrechte Spionagehysterie in Russland sorgten dafür, dass die durch das Kartenbild gestiftete Welterfahrung wieder ein Privileg der politischen Führungselite wurde.42 Von dieser Präventivzensur blieben allegorische Geschichtskarten weitgehend verschont. Da sie den historiografischen Möglichkeitssinn und nicht den politischen Realitätssinn ansprachen, ging von ihnen keine erkennbare Gefahr für das sozialistische Gemeinwesen aus. Eine solche allegorische Geschichtskarte hing im Arbeitszimmer des 40 | Vgl. [Meyerhold et al.] 1979. 41 | Benjamin 1972c, S. 337. 42 | Vgl. Rüthers 2007, S. 293 f.

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Abb. 60: Friedrich Straß, Neuester Strom der Zeiten, 1817

Leiters des Spielzeugmuseums, wie Benjamin kurz vor seiner Abreise aus Moskau bemerkt: »Sehr auffallend war eine rechteckige Wandkarte, schmal aber lang, die die Geschichte als eine Reihe von Strömen, verschiedenfarbigen kurvenreichen Bändern allegorisch vorstellte. Ins Strombette waren jeweilen die Daten und Namen in chronologischer Folge eingetragen. Die Karte stammte aus dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, ich hätte sie einhundertfünfzig Jahre früher angesetzt.« 43

43 | Benjamin 1985b, S. 391.

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Bei der hier beschriebenen Bildfindung handelt es sich um einen Geschichtsfluss, ein Schaubildgenre mit langer Vergangenheit, dem aber erst der preußische Geschichtsprofessor Johann Gottlieb Friedrich Straß mit seinem Strom der Zeiten, ab 1803 in zahlreichen Auflagen und Übersetzungen erschienen, zu größerer Bekanntheit verholfen hatte (Abb. 60).44 Karten wie die von Straß schildern historiografische Entwicklungen über einen großen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten, um nicht zu sagen Jahrtausenden. Aus der Perspektive dieser longue durée verlieren sich einschneidende epochale Veränderungen buchstäblich in den chronologisch angelegten und nach Ländern geordneten Datenflüssen. Mit dem erfahrungsneutralen Geschichtsverständnis, das diese Überblickskarten vermitteln, bilden sie einen krassen Gegensatz zu dem dynamischen Transformationsprozess, den die junge sowjetische Gesellschaft gerade durchlebte. Ihren Widerhall fanden die rasanten Veränderungen idealiter in eben jenen von Benjamin schlaglichtartig beleuchteten Schaubildern zu allen wichtigen Belangen des sozialen Lebens, zu Industrieproduktion, Wohnungsbau, Ernährung und Gesundheit. Sie halten Augenblicke revolutionärer Aufbauarbeit, Momente der veränderbaren Welt fest, um den von oben verordneten und von unten erhofften Fortschritt vor Augen zu führen.

S ynoptische B otschaf ten Benjamins ausgeprägter Hang, »konkret« zu denken, wie Theodor W. Adorno seine Art zu philosophieren einmal bezeichnet hat, also konkret-historische Phänomene und Gegenstände reflexiv »aufzusprengen«, ist das Resultat einer deutenden Versenkung.45 Gemessen daran steht das Moskauer Tagebuch unter dem visuellen Imperativ. In Sowjetrussland schien  – unter Rekurs auf Goethes Maxime  – »alles Faktische schon Theorie« zu sein.46 Benjamin verbucht es als Gewinn, dass er »nur anschaulich, nicht theoretisch« bereichert von seiner 44 | Vgl. Reitinger 2010. 45 | Vgl. Adorno 1986a, S. 175. 46 | Benjamin in einem Brief an Martin Buber vom 23.2.1927, in: Benjamin 1997, S. 232.

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Reise zurückkam.47 Für seine Beschreibung der russischen Schaubilder bedeutet dies: keine deduktive Abstraktion, keine Prognostik und vor allem auch kein Urteil. Dies änderte sich auch nicht, als Benjamin, zurück in Berlin-Grunewald, die »ganz unvergleichliche Erfahrung« in »etwas ›Zusammenfassendes‹« zu verwandeln suchte und die im Tage-  buch festgehaltenen »›optischen‹ Schilderungen« zum Porträt einer Stadt zusammenfügte, deren visuelle Erkenntniskraft schier unbegrenzt schien.48 Sein »Moskau«-Essay liefert einen kulturgeschichtlichen Einblick in die postrevolutionäre Gesellschaft der Sowjetunion.49 Unter dem Paradigma des Optischen zählen die Diagramme, Bildstatistiken und Landkarten zum visuellen »Tatsachenmaterial«. Wie so vieles waren sie Ausdruck des Auf- und Umbaus der UdSSR und damit Signatur dieser Zeit. Im impliziten Umkehrschluss, der eigentlich ein Kurzschluss war, hatte Benjamin in dem Interview mit der Moskauer Abendzeitung gefolgert, dass es im Westen nichts Vergleichbares geben konnte, weil dort keine entsprechenden gesellschaftlichen Umwälzungen stattgefunden hatten. Dass er mit seiner Deduktion nicht richtig lag, hängt auch damit zusammen, dass er erst nach der Russlandreise mit der künstlerischen Avantgarde in Kontakt kam. Damals, es war wohl Anfang 1929, lernte Benjamin László Moholy-­ Nagy mit der »durchaus erfreulichen Physiognomie« persönlich kennen und in den folgenden Monaten als anregenden Gesprächspartner schätzen.50 In seinen Abhandlungen zur Fotografie wird Benjamin auf Moholy-Nagys Bauhaus-Buch Malerei, Fotografie, Film, das 1925 in der ersten und 1927 in der zweiten Auflage erschienen war, zurückgreifen.51 Mit dem »Pionier des neuen Lichtbilds« teilte er nicht nur die Begeisterung für die fotografischen Bildmedien, in ihm fand er auch einen Mitstreiter für diese neue Art von »synoptischer Mitteilung«, 47 | Benjamin in einem Brief an Siegfried Kracauer vom 23.2.1927, ebd., S. 234. 48 | Vgl. ebd., S. 233 f.; Benjamin in einem Brief an Martin Buber vom 26.7.1927, ebd., S. 278. 49 | Vgl. Benjamin 1972c. 50 | Vgl. Benjamin in einem Brief an Gershom Scholem vom 14.2.1929, in: Benjamin 1997, S. 441; Adorno 1986b, S. 187. Zu den verbürgten Kunstdisputen in Benjamins Berliner Wohnung vgl. Franz Hessels Tagebuchnotiz vom 5.7.1929, in: Puttnies und Smith 1991, S. 149. 51 | Zu Benjamins Rezeption von Moholy-Nagy vgl. Schwartz 2005, S. 261 Fn. 20.

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wie sie in Moskau praktiziert wurde.52 In Malerei, Fotografie, Film findet sich eine kurze Passage, die man als engagiertes Plädoyer für Schaubilder verstehen kann, auch wenn der Begriff dort nicht explizit fällt: »Nicht Neugier, nicht wirtschaftliche Rücksichten allein«, so die psychologisierende Einschätzung des Künstlers, »sondern ein tiefes menschliches Interesse an den Vorgängen in der Welt« hätten die »synoptische Mitteilung« begünstigt, deren wichtigste Voraussetzung die Dynamisierung der modernen Raumerfahrung sowie die epochale Neubestimmung des Raums durch die Relativitätstheorie sei.53  Moholy-Nagy hielt typografisch durchdachte Schemata deshalb für absolut zeitgemäß; sie bündelten Informationen, die dank der neuen Medien ohne große Zeitverzögerung verarbeitet werden konnten. Zwischen den Zeilen kann man bei ihm aber auch die Konsequenzen dieser Entwicklung herauslesen, an die wir uns als aktive Teilnehmer der Telegesellschaft längst gewöhnt haben: Alles sehen und doch wenig verstehen. Die »synoptische Mitteilung« war für Moholy-Nagy deshalb die logische Antwort auf diese tief greifenden Veränderungen der Wahrnehmung von Raum und Zeit. Ihr schreibt er Qualitäten wie »starke optische Faßbarkeiten« zu, die den Inhalt der Mitteilung unmittelbar darzustellen vermögen, eine Qualität, die in der linearen Mitteilung von Texten verloren geht.54 Wenn Benjamins Blicke während seines Moskau-Aufenthalts 1926/27 immer wieder auf Schaubilder fallen, dann auch aus genau diesem Grund. Die synoptischen Botschaften aus der ersten Boomphase sowjeti­scher Schaubilder zielten darauf ab, eine ganze Gesellschaft gegen den ideologischen Rückfall in die bourgeoisen Auswüchse der Zaren­ zeit zu wappnen und mithin den rückständigen Agrarstaat in ein modernes Industrieland zu überführen. Je besser diese Darstellungen ihre verhaltensprägende Aufgabe erfüllten, desto mehr wurden sie als Instrumente der Umerziehung überflüssig. Schließlich sind die von Künstler-Konstrukteuren entworfenen Bildstatistiken, Lehrbilder und Piktogramme aus den öffentlichen Einrichtungen der UdSSR wieder verschwunden, so wie die sowjetischen Landkarten aus der Stalin-Ära im kollektiven Bildgedächtnis nach und nach verblassten.  52 | Vgl. Benjamin 1972d, S. 151. 53 | Moholy-Nagy 19272, S. 36, 38. 54 | Ebd., S. 38.

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Abb. 61: Nikolaj S. Trošin, Boris A. Rodionov und Nikolaj A. Musatov, Dekorative Anlage mit dem Plan der Moskauer Metro am Ochotnyj Rjad, 1. Mai 1932, 1932 Abb. 62: Aleksandr Rodcˇenko, Metro. Illumination zur Maifeier, 1932

Davon ausgenommen blieb der Plan der Moskauer Metro. Zu den 1.-Mai-­Feierlichkeiten 1932 famos inszeniert, ist er bis heute so präsent, wie es damals die mit »bolschewistischem Tempo« durchgezogene städtische Großbaustelle war (Abb. 61–62).55 Knut Ebelings »Doppelbelichtung« von Benjamins Moskauer Tagebuch rund siebzig Jahre nach dessen Niederschrift ist dafür bezeichnend. Als einziges Schaubild aus der postsowjetischen Zeit erwähnt Ebeling den Moskauer Metro-Plan, dessen geradlinige Ausrichtung so wirke, »als hätte man die Metro für den Plan, und nicht den Plan nach der natürlichen Beschaffenheit der Metro geschaffen«.56 Diese kurze Charakterisierung ist ein schwacher Reflex von Benjamins gesteigertem Interesse an der so-  wjetischen Schaubildpraxis, mit der 150 Millionen Russen Alphabetisierungs- und Bildungsangebote gemacht wurden, mit dem Ziel einer ideologischen Umerziehung. Joseph Roth, der als Korrespondent der Frankfurter Zeitung 1926 ausgedehnte Reisen durch die Sowjetunion unternommen hatte, beschrieb seinen Lesern nicht nur die dort angebrochene »Zeit der Statistiken«, er malte ihnen auch die Konsequenzen dieses neuen, um

55 | Vgl. Bruno Tauts Augenzeugenbericht, in: Taut 2006, S. 122. 56 | Ebeling 2001, S. 28.

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Zahlen und Fakten betriebenen »Fanatismus« aus, der in Deutschland allenfalls in den großen Gesundheitsausstellungen auflebte.57 »Man lernt nicht mehr die Jahreszahlen der Könige und Kriege, sondern die statistischen Daten der Landwirtschaft, des Handels, der Industrie der europäischen und amerikanischen Staaten, zeichnet lange, längere und kurze Säulen mit grüner, blauer und roter Tusche – in jede Säule mit schwarzer Tinte eine Zahl – und weiß dann, wieviel die Ernteerträgnisse in Deutschland, England, Frankreich sind. Aber die richtigen historischen Jahreszahlen, die wir gelernt haben, waren nicht mehr totes Material als die nur relativ richtigen statistischen Zahlen, die man in Rußland auch so tot sein läßt wie unsere Könige.« 58

In dieser Klage über die neue, geschichtsvergessene Kultur des Faktums, die auf die gegenwartsfixierte Vorstellungskraft eindringlicher wirke, als es Kunstwerke vermochten, kann man den Stimmungsumschwung bei Roth nach vier Monaten Russlanderfahrung heraushören.59 Er war als »(beinah) überzeugter Bolschewik« nach Russland gekommen und verließ es als »Royalist«, wie Benjamin im Anschluss an ein gemeinsames Abendessen in Moskau notierte.60 Bekanntlich sollten der »Monarchist« Roth und der »Kollektivbrötler« Benjamin sich späterhin nie mit überschwänglicher Sympathie begegnen.61 Erstes Anzeichen ihrer ideologischen Differenzen war die unterschiedliche Bewertung der diagrammatischen Praxis in der Sowjetunion. Roth verurteilte den »Fanatismus der Statistik« aufs Schärfste, da er von den nackten Tatsachen ablenke, denen er in Sibirien, im Kaukasus und auf der Krim ins Gesicht gesehen hatte.62 Benjamin teilte zwar die Enttäuschung über die sowjetische Realität. In den russischen Schaubildern sah er dennoch etwas revolutionär Neues, weil er keinerlei Vergleiche mit anderen Ländern ziehen konnte.

57 | Vgl. Roth 1990a, S. 652; Roth 1990c, S. 630; Nikolow 2001. 58 | Roth 1990d, S. 667. 59 | Vgl. ebd., S. 660. 60 | Benjamin 1985b, S. 311. 61 | Zu den Zuschreibungen vgl. Soma Morgenstern in einem Brief an Gershom Scholem vom 12.12.1972, in: Benjamin 1989a, S. 771; Bronsen 1974, S. 371. 62 | Vgl. Roth 1990a, S. 652; Roth 1990d, S. 664.

S owjetische S chaubilder

Z wei A ntipoden Wo immer Benjamin in Moskau hingekommen war, überall entdeckte er Schautafeln, Tabellen und Statistiken. Wohl im Überschwang dieser Eindrücke hatte er sich zu der Behauptung hinreißen lassen, dass Künstler im »Westen« keine Diagramme anfertigen würden.63 Richtig daran ist allenfalls, dass Karten und Schaubilder dort nicht unbedingt als künstlerische Werke angesehen wurden und ihre mediale Verbreitung anderen Gesetzen gehorchte. Sie waren primär auf klassische Bildungsinstitutionen, also die Schule, Arbeiterfortbildung oder Museen beschränkt. Ansätze zu einer flächendeckenden Durchsetzung bildorientierter Informationsvermittlung ließen sich indessen auch außerhalb der Sowjetunion beobachten, ebenso der Versuch, diese für propagandistische Zwecke einzusetzen. Derlei Entwicklungen mochte Benjamin nach seiner Rückkehr aus Moskau erkannt haben. Ob er sich allerdings je mit der »Wiener Methode der Bildstatistik« auseinandergesetzt hat, als deren Erfinder Otto Neurath gilt, ist so unwahrscheinlich wie unbekannt. Die erste und letzte Begegnung der beiden Männer anlässlich des »Dritten internationalen Kongresses für Einheit der Wissenschaft« 1937 in Paris hätte immerhin eine gute Gelegenheit geboten, sich darüber auszutauschen. Stattdessen war sie ein Debakel. Im Anschluss an seinen Vortrag über »Prognosen und Terminologie in Physik, Biologie, Soziologie« ließ sich der bekennende Querbeetleser Neurath zu der Behauptung hinreißen, dass sich der Wert eines philosophischen Buchs auch dann bestimmen lasse, wenn man es nur »diagonal«, gewissermaßen von der Seite lese und es nach den in ihm verwendeten Begriffen absuche. Hier spottete nicht einer seiner selbst, wie ein Journalist bemerkte.64 Das war durchaus ernst gemeint. ­Neurath las nie systematisch. Mit weichem Bleistift und schwerer Hand hat er seine Bücher durchstreift. Die Haken über einzelnen Wörtern, die An- und Unterstreichungen von Sätzen, die eckigen Bögen im Text und Ausrufezeichen am Rand zeugen davon. 65 63 | Vgl. Benjamin 1989b, S. 880. 64 | Vgl. den anonymen Bericht in einer unidentifizierten Wiener Zeitung, zit. in: Dahms 2016, S. 163, und dazu Neurath 1981f. 65 | Vgl. Neuraths Arbeitsbibliothek im Institut des Wiener Kreises, Universität Wien.

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Immer wieder finden sich beckmesserische Annotationen zu Begriffen wie »Wahrheit«, »Realität« oder »Wert«.66 Jemanden wie Benjamin, der das geschriebene Wort stets mit Bedacht wählte und wägte, mussten Neuraths Äußerungen brüskieren. Gekonnt süffisant belegte er die Referenten der Veranstaltung mit Hohn: »Molière n’a rien vu – darf man da sagen. Die vis comica seiner debattierenden Ärzte und Philosophen verblaßt neben der dieser ›empirischen Philosophen‹.«67 Umgekehrt konnte Neurath der von Benjamin vertretenen Einfühlungs- und Auslegungskunst nicht viel abgewinnen. Die »poetische Tätigkeit« und das »einfühlende Sichversenken«  – Neurath zog bei anderer Gelegenheit den Vergleich mit einem »guten Kaffee« heran, der den Gelehrten bei der Arbeit inspiriert – standen im krassen Widerspruch zu der von ihm vertretenen wissenschaftlichen Weltauffassung.68 Die Habitusdifferenzen zwischen dem feinsinnigen Intellektuellen und dem polternden Empiriker waren zu groß, um sich in philosophischen Fragen zu verständigen, und es gibt keinen Hinweis darauf, dass sie sich zumindest auf dem Terrain der visuellen Aufklärung entgegengekommen wären. So hatte sich jeder mit der sowjetischen Bildpropaganda auseinandergesetzt, ohne vom anderen zu wissen.

66 | Vgl. Dahms 2016, S. 163. 67 | Benjamin in einem Brief an Gerhard [Gershom] Scholem vom 5.8.1937, in: Benjamin 1999, S. 560 f. 68 | Vgl. Neurath 1981g, S. 463.

Wiener Methode der Bildstatistik In Österreich arbeitete Otto Neurath seit Mitte der zwanziger Jahre mit einer kleinen Expertengruppe, darunter Grafiker, Kartografen, Statistiker, Kunsthistoriker und Historiker, an einem neuartigen Darstellungsverfahren: der Wiener Methode der Bildstatistik. Neuraths frühe Ambitionen für die Planwirtschaft und Rationalisierung der Ökonomie in Verbindung mit der Statistik und grafischen Kommunikation, seine theoretischen Ausführungen und praktischen Aktivitäten auf dem Gebiet der Nationalökonomie, des Siedlungs- und Städtebaus oder das enzyklopädische Projekt einer »Einheitswissenschaft«, für das er als führendes Mitglied des Wiener Kreises eintrat, wurden in der Gründung des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums 1925 gebündelt. Innerhalb dieses institutionellen Rahmens sollte die Effizienz bildorientierter Wissensvermittlung methodisch verfeinert und gesteigert werden. Das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum, das 1927 mit dem neugotischen Foyer im Wiener Rathaus, der sogenannten Volkshalle, einen eigenen, im Stil der »alten Sachlichkeit« eingerichteten Ausstellungsraum erhielt, war als kosmopolitisches Bildungsinstrument konzipiert und zielte auf eine pan-sozialistische Gesellschaft ab.1 Bis zu seiner Schließung 1934 wurden drei Dutzend nationale und internationale Ausstellungen mit Bildstatistiken nach der Wiener Methode ausgerichtet bzw. bestückt. Die Frage der Erwachsenenbildung, die Neurath so beschäftigte, war seit dem 19. Jahrhundert zu einer zentralen gesellschaftspolitischen Forderung im deutschsprachigen Raum geworden. Sie ist zum einen in der Tradition der reflektierten Aufklärung verwurzelt, zum anderen eng mit dem wachsenden Bedarf an gut ausgebildeten Arbeitskräften zur Optimierung der industriellen Revolution verknüpft. 1 | Vgl. Neurath in einem undatierten Brief an Franz Roh, S. 2, The Getty Research Institute, Los Angeles.

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Für Neurath fügte sich die bildhafte Pädagogik geradezu ideal in sein klassenkämpferisches Engagement für die Arbeiterbildung. Mit tiefer Abneigung gegenüber jenen Volksbildungsbestrebungen, die sich primär an die Sensibilisierung für das ästhetisch Schöne richteten, wie in der Weimarer Republik zu beobachten, zielte Neuraths Projekt der Demokratisierung privilegierten Expertenwissens auf Teilhabe am statistischen Allgemeinwissen.2 Die problematische Ambivalenz, die mit der »Erziehung durch das Auge« (Neurath) als ideologischer Vereinnahmung des Betrachters verbunden ist, wurde bei der Wiener Methode durch ihren gesellschaftlichen Bildungsauftrag geflissentlich kaschiert. So wie einst Gottfried Wilhelm Leibniz »Staatstafeln« als Instrument »löblicher« Regierungskunst empfahl, die, mit Land- und Seekarten vergleichbar, in einem »Augenblick« die aktuelle Problemlage eines Landes vermittelten, sah es Neurath als unerlässliche Bedingung an, dass die Gesellschaft zur Verbesserung sozialer Standards permanent über sich selbst informiert werden musste.3 Selbstschulung lautete die oberste Maxime – auch für die Köchin, die nach einem berühmten Diktum Lenins einmal imstande sein sollte, den Staat zu regieren.4 Mit der Bildstatistik stellte Neurath das passende Denkwerkzeug mit politischen Wirkabsichten bereit. Als Detektor sozialer Miseren und Machtstrukturen zum Instrument der Kritik aufgerüstet, sollte sie nach dem aktivistischen Paradigma zur »Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens« befähigen und Zeitgeschichte verhandelbar machen.5 Der von Neurath vertretene Ansatz einer radikalen Aufklärung, hier als umfassende Volksbildung verstanden, war als Gesellschaftsregulativ konzipiert. In einem oppositionellen Denken verhaftet, versuchte Neurath der Politik »von oben« durch Politisierung

2 | Vgl. Imorde und Zeising 2013. Die Geschichte der öffentlichen Bekanntmachung von Statistiken führt in das Frankreich des frühen 19. Jahrhunderts. Den während der Restauration betriebenen Zahlenfetischismus machten schließlich Romanciers wie Honoré de Balzac zum Gegenstand der Satire. Vgl. Mainberger 2007, S. 220. 3 | Vgl. Leibniz 1986, S. 345. 4 | Vgl. Arntz 1988, S. 23, der die Köchin zur »Küchenmagd« herabstufte. 5 | Neurath 1991c, S. 1; vgl. dazu Holert und Osten 2011.

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»von unten« etwas entgegenzusetzen. Der alte Klassenkampf wurde bildstatistisch neu gedacht.6

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Ohne den alten Prioritätsstreit zwischen den beiden Fernsinnen Auge und Ohr zu bemühen, rief Neurath 1930 das »Zeitalter des Auges« in der Absicht aus, das Bewusstsein für die Wirksamkeit »optischer Mittel« zu schärfen.7 Die damit konstatierte Überlegenheit des Bildes gegenüber dem Buch bestand in mehr als nur dem Gemeinplatz, dass das Bild auf einen Blick wahrgenommen werden kann. Seine Stärke erklärte Neurath mit der nachhaltigen Erkenntnisgenerierung, die beim Buch nur durch aufwendige Lektüre und Relektüre erreicht werden könne. Neurath legte großen Wert auf die Feststellung, dass das Bild, einmal als »Ganzes« erfasst, auch im Nachhinein seine epistemische Wirkung entfalten könne, vielleicht sogar besser als während der Betrachtung selbst.8 Mit diesem hohen Anschauungsbegriff war der Wiener Methodiker angetreten, um auf einen regelrechten pictorial turn der Erkenntnis hinzuwirken. Für seine erziehungspolitische Initiative bedeutete dies: optimaler Einsatz von (Sinn-)Bildern bei maximalem Textverzicht zugunsten niederschwelliger Bildungsangebote. In Abgrenzung zu herkömmlichen Kreis-, Balken- oder Kurvendiagrammen ging von der Bildstatistik das Versprechen aus, durch methodische Reduktion der Komplexität die Wissensaneignung radikal zu erleichtern. Systematisch wurden abstrakte Größenangaben von Zahlenstatistiken mithilfe grafischer »Transformationen« in eine piktografische Statistik überführt, mathematische Informationen also nicht mehr qualitativ durch Größenbezeichnungen, sondern quantitativ durch die Menge der Zeichen vermittelt. Statt zu rechnen, musste der Betrachter von Mengendiagrammen zählen. Jedes Zeichen dieser neuen politischen Arithmetik stand für ein bestimmtes Vielfaches.

6 | Vgl. Neurath 1929, S. 2 f. Zur Abgrenzung des »alten« vom »neuen« Klassenkampf vgl. Žižek 2015. 7 | Neurath 1991i, S. 154. 8 | Vgl. Neurath 1991g, S. 251.

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Abb. 63: 5 Jahre Kampf gegen die Arbeitslosigkeit, um 1925 Abb. 64: Streiks und Aussperrungen, 1930

Das übergeordnete »Führungsbild« stellte die Symbole in einen größeren thematischen Kontext. Neurath war bei seiner Rekonstruktion der Wirklichkeit zunächst vom Koordinatendiagramm ausgegangen.9 Es ist das Initialschema der Bildstatistik. Mit seinen vier Quadranten erlaubt der Koordinatenraum eine differenzierte Gliederung der Daten, Fakten und Figuren (Abb. 63).10 Dieses Ordnungssystem wurde immer stärker vereinfacht, bis hin zur schlichten Reihung der Symbole, die am Zeilensatz von Texten ausgerichtet ist, also horizontal in der medien- und kulturgeschichtlich kontingenten Links-Rechts- und Oben-Unten-Ordnung (Abb. 64). Im expliziten Gegensatz zu den abstrakt-qualitativen Größenangaben von mathematischen Informationen verhieß die Bild-  statistik schnelle Orientierung und mnemotechnische Effizienz, alles   Herausstellungsmerkmale, die Neurath bei der »Nur-Zahlen-Methode« vermisste. Die Mengenbild-Methode argumentierte konkret-quantitativ mit »sprechenden Zeichen« und einem aussagekräftigen Verhältnis aus Vorher, Nachher und Nebeneinander. Mit Kurvendiagrammen 9 | Vgl. Unterkap. »Wissen als Koordinatenraum« in diesem Buch, S. 49–53. 10 | Zu den Anfängen der Bildstatistik vgl. Neurath 1986, S. 2 f. Zur ­K urve als mathematisches Pendant zur Bildstatistik vgl. Neurath 1979, S. 297 f.; ­R eidemeister 1927, S. 46–49.

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Abb. 65: Wladimir Woytinsky, Zahl der Arbeiter, die im Laufe des Jahres gestreikt haben, 1926

ließ sich wissenschaftliche Anschaulichkeit allenfalls simulieren. Sie spiegelten etwas vor, was es de facto gar nicht gab, lautete Neuraths Generalvorwurf.11 Aus dieser Frontstellung gegenüber geläufigen Darstellungsverfahren erhielt die Wiener Methode ihre apodiktische Entschiedenheit. Wladimir Woytinsky, der in sieben Bänden und mühevoller Kleinarbeit versucht hatte, Die Welt in Zahlen (1925–28) zu erklären, fühlte sich implizit angesprochen, um nicht zu sagen angegriffen. Explizit wurde die Kritik durch Friedrich Bauermeister. Als Mitarbeiter des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums war er sozusagen ­Neuraths Sprachrohr. Bauermeister warf in einer Rezension Woytinskys »pädagogischer Methode« vor, mit den vielen Kurvendarstellungen schlechterdings »verwirrend« zu sein (Abb. 65).12 Daraufhin holte der professionelle Wirtschaftsstatistiker mit einer scharfsinnigen Analyse von Neuraths Visualisierungsverfahren zum Gegenschlag aus und 11 | Vgl. Neurath 1991e, S. 44 f.; als kanonisierter Text in: Schneider et al. 2016, S. 213–217. 12 | Vgl. Bauermeister 1927.

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deklinierte die drei bildstatistischen Kardinalschwächen durch: erstens, ermüdendes Kopfrechnen mit ungeraden Mengenangaben, deren chronische Fehleranfälligkeit sich jeglicher Überprüfbarkeit entzieht; zweitens, willkürliche Auf- und Abrundungen der Zahlenstellen hinter dem Komma, um sie in Figurensymbole übersetzen zu können, die wiederum zur Annäherung an einen gewünschten Zahlenwert bis zur Unkenntlichkeit halbiert, geviertelt oder geachtelt werden müssen; und drittens, die Sinnverdrehung von abstrakten, mathematischen Verhältnissen als piktografische Darstellung von »Gegenständen«.13 Woytinskys mit Polemik durchzogene Kritik lief, bei aller Treffsicherheit, auf eine Selbstverteidigung hinaus. Hier trat jemand als Advokat einer »modernen volkstümlichen Statistik« auf, der das »alte Zeug« Neurath’scher Darstellungsmittel zu desavouieren trachtete. Woytinsky prophezeite der Wiener Methode denn auch keine Zukunft – eine kapitale Fehleinschätzung, wie sich herausstellen sollte.14 Für die bereits existierenden Tafeln wünschte er sich spottend ein »Museum der bildstatistischen Fehlgriffe«, damit zumindest aus falschen Visualisierungsverfahren etwas gelernt werden könne.15 So viel und so kurz zum statistischen Methodenstreit um 1930. Neurath legte sich nicht nur mit Statistikern an, auch Philosophen gerieten ins Visier. Für einen Abstraktionsphobiker wie ihn war  Martin Heidegger mit seinen weitschweifigen Ausführungen über »das Nichts«, welches »nichtet« oder über das metaphysische »Sein«, das in einem Satz mit anschaulichen Begriffen wie »Schwert« und »Tisch« zusammengebracht werden konnte, auf dem Holzweg.16 Meyer ­Schapiro pflichtete ihm darin entschlossen bei, wenn auch mit dem späten Eingeständnis, dass Heideggers Formulierung »das Nichts nichtet« unter amerikanischen Kunsthistorikern seines Schlags 13 | Vgl. Woytinsky 1931, S. 160 f. 14 | Als Beispiel einer nachhaltigen Rezeption und kongenialen Aktualisierung der Wiener Methode unter den Bedingungen der Globalisierung sei auf die Aufklärungskunst von Alice Creischer und Andreas Siekmann verwiesen. Vgl. ­Wuggenig et al. 2004. Zur Adaptation von Neuraths Bemühungen um den bildstatistischen Animationsfilm vgl. Harun Farocki, Aufstellung (In-Formation), 2005, Video, ohne Ton, 16 Min. 15 | Vgl. Woytinsky 1931, S. 159, 161. 16 | Neurath 1933, S. 9.

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als Running Gag zirkulierte, ohne dass deren »syntaktische Monstrosität« kritisch auseinandergenommen und inhaltlich verstanden worden wäre, wodurch jüngere Intellektuelle vielfach allein der lyrischen Suggestion der Worte aufgesessen seien.17 Dieser »Phraseologie« des Fundamentalontologen setzte Neurath seine konkrete Bilderschrift entgegen. Sie kannte das »Schwert« und den »Tisch«, aber eben kein »Sein«, gelangte also durch ein verständliches Zeichensystem zu visuellen Aussagen.18 Die Bildsprache erlaubte, das Sagbare auf das empirisch Wahrnehmbare zu konzentrieren, etwas, wozu die Wortsprache nicht in der Lage war. Es ist überaus bezeichnend, dass Bilder für Neurath nichts suggerieren, was es nicht gibt; sie sind gewissermaßen ontologisch aufrichtig. Daraus lässt sich seine innere Distanz zu zeitgenössischen Kunstströmungen wie dem Surrealismus erahnen. Dagegen waren das Bauhaus in Dessau, der Werkbund und bis zu einem gewissen Grad auch die Neue Sachlichkeit gesamtkulturelle Bewegungen, mit deren ausgeprägt funktionalistischem Ansatz sich Neurath durchaus assoziieren konnte. Selbst jene Kunst, die mit einem ästhetischen Aufklärungsimpetus angetreten war, verfehlte in Neuraths Augen ihr Ziel. Mit einem polemischen Seitenhieb gegen die Historienmalerei, allen voran Eugène Delacroix, brachte Neurath das Genre des »Mengenbildes« als veritable Darstellung von gesellschaftlicher Realität in Stellung: »Die Französische Revolution wird durch ein zeitgenössisches Gemälde Sturm auf die Bastille, durch bekannte symbolisierende Darstellungen  – irgendein ­h eroisch aussehendes Mädchen schwenkt eine Fahne –, durch Porträts, Wiedergabe von heute noch bestehenden wichtigen Gebäuden, Waffen, Assignaten usw. […] gekennzeichnet. Das Wesen des Soziologischen besteht aber in bestimmten Mengen von Menschen, Waren usw., die wiederzugeben Aufgabe der ›Mengenbilder‹ ist.«19

17 | Vgl. Meyer Schapiro in einem Brief an Neurath vom 12.8.1942, in: Neurath o.J. 18 | Vgl. Neurath 1933, S. 9; Neurath in einem Brief an Meyer Schapiro vom 28.9.1942, in: Neurath o.J. 19 | Neurath 1991i, S. 163.

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Neuraths kategorische Abgrenzung des argumentierenden Mengenbildes von der illustrativen Historienmalerei hatte einen unbeabsichtigten wiewohl nachwirkenden Effekt. Bis heute gehört die Wiener Methode nicht zum normativen Korpus der Kunstgeschichte  – trotz revisionistischer Versuche in jüngster Zeit. Dabei wurden mit den Bildstatistiken durchaus künstlerische Ziele verfolgt, wie noch zu zeigen sein wird. Während sich die Kunsthistorik im Umgang mit der scheinbar kunstlosen Wiener Methode zunächst schwertat, vermochte ihr die Bildwissenschaft vorbehaltslos Frage- und Problemstellungen abzugewinnen. Denn diagrammatische Figurationen lassen sich mit der von Nissar Ulama – in Anlehnung an Michel Foucault – vorgeschlagenen Definition »biopolitischen Bildern« zuordnen, die sie aber zugleich unterlaufen.20 Diese gegenläufige Tendenz aus Affinität und Divergenz ist in Ulamas zweifacher Bestimmung seiner begrifflichen Signalflagge angelegt. Das erste Charakteristikum dieses neu-alten Bildgenres besteht darin, dass es den Betrachter zum Subjekt und Objekt der Erkenntnis macht.21 Auf vergleichbar operative Weise war auch die Wiener Methode verfahren. Neurath hatte die bewährte Metapher des Spiegels gewählt, um die doppelte Situation des Betrachters gegenüber der Bildstatistik auszudrücken: »Hier findet er ein Spiegelbild seiner eigenen Probleme, seiner Vergangenheit, seiner Zukunft – seiner Person.«22 Im Idealfall versetzen Bildstatistiken den Betrachter in eine Art Spiegelstadium zweiter Ordnung, mit einem nach beiden Richtungen hin offenen Zeithorizont. Das zweite Charakteristikum »biopolitischer Bilder« wird in ihrer politischen Neutralisierung ausgemacht, die darin zum Tragen kommt, dass Kurvendiagramme oder Zahlentabellen durch ihren hohen Abstraktionsgrad dem Betrachter nur eine unzureichende Vergleichsmöglichkeit in Bezug auf seine eigene Person bieten.23 Die Folge dieses rezeptionsästhetischen Entfremdungseffekts ist eine weltanschauliche Leere, gegen die Neurath entschieden ankämpfte. Die Wiener Methode betrieb Weltanschauungspolitik im doppelten Wortsinn: Sie 20 | Vgl. Ulama 2016, S. 44. 21 | Vgl. ebd., S. 55–57, 65. 22 | Neurath 1991g, S. 252. 23 | Vgl. Ulama 2016, S. 67–72.

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war inhaltlich parteiisch und formal so angelegt, dass sich viele der von Gerd Arntz geschaffenen Figuren kraft ihres psychoideologischen Symbolismus in Gestik und Habitus mit politischen Implikationen aufladen ließen (Abb. 64, 85). So gesehen, war Neurath mit seinen methodologischen Überlegungen zur Wissensvermittlung angetreten, die statistische Suspendierung des Politischen ihrerseits zu suspendieren – eben bildstatistisch.

V ordenker , V orl äufer , V orbilder Die Aufklärungsfantasien der Erziehung im Übergang zur Sozialarbeit hatten prominente Vorläufer und Vorbilder. Zu ihnen zählt der schon erwähnte Leibniz mit seinem unvollendeten Projekt eines Atlas Universalis, der alle »Figuren«, »Tafeln« und »Schemata« vereinigen sollte, die zur illustrativen Vervollständigung einer Enzyklopädie notwendig wären.24 Neben diesem Bilderatlas stellt die von Denis Diderot federführend herausgegebene große Encyclopédie (1751–72) mit ihren 22 Textund 11 Tafelbänden einen weiteren Eckpunkt einer Tradition dar, in die sich Neurath einreihte und die er gleichzeitig mit seinen Visualisierungsbemühungen weiterzuentwickeln trachtete.25 In gewisser Weise spitzte Neurath die Bemühungen von Leibniz und den Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts zu, indem er auf die Privilegierung der sehenden Erkenntnis nicht als eine von fünf Möglichkeitsformen der Erkenntnis, sondern als deren Ultima Ratio setzte. Eine anschauliche Lehr- und Vermittlungspraxis hatte eine enorme didaktische Wirkmacht. Neurath verglich sie mit dem »mittelalterlichen Paar von scholastischem System und seiner überwältigenden visuellen Darstellung in einer mittelalterlichen katholischen Kirche«.26 In durchaus analoger Absicht wiewohl konträrer Auffassung zu dem mit eindrucksvollen Bildprogrammen untermauerten christlichen Weltbild setzte Neurath die Wiener Methode ein, um die empiristische Weltanschauung zu vertreten und zu verbreiten. In dem ab 1936 verfolgten und von Albert Einstein 24 | Vgl. Neurath 1981d, S. 687. Zu Vorgeschichte, Konzept und Ikonografie des Atlas Universalis vgl. Bredekamp 2004b, S. 150–169. 25 | Vgl. Neurath 1936, S. 109. 26 | Neurath 1981c, S. 886.

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moralisch unterstützten Vorhaben einer International Encyclopedia of Unified Science hätte Neuraths Aufklärungsmethodik ihren ruhmvollen Abschluss finden können. Dieses Werk sollte weit über tausend Bildstatistiken aufnehmen und alle empirischen Wissensbereiche abdecken. Die Umsetzung dieses »großen Plans« scheiterte weniger an seinem utopischen als an seinem gigantischen Ansatz, zu dessen Realisierung ein Menschenleben nicht ausreichte  – zumal dann, wenn die nötige Unterstützung ausblieb. In diesem Punkt war Neurath mit Leibniz schicksalsverwandt. Zeit seines Lebens hat sich Neurath für angewandte Symbolsysteme in unterschiedlichsten Wissenschaften und Wissenskünsten interessiert, um sich aus diesen Bildquellen Anregungen für seine eigene Arbeit zu holen. Wenn er sich beispielshalber für Leibniz’ Bemerkungen zu »chinesischen Zeichen« im Zusammenhang mit dessen Rechenmaschine begeistern konnte, dann deshalb, weil sie ihm zeigten, dass sich das auf 0 und 1 aufgebaute binäre Zahlensystem auch grafisch darstellen ließ: mit einer durchgezogenen Linie und einer unterbrochenen Linie, eben wie jene von Leibniz für seine Zwecke so genialisch fehlgedeuteten Strichzeichen in dem altchinesischen Orakelbuch I Ging.27 Mit seinen weitreichenden Bildreflexionen lässt sich Leibniz als veritabler Vordenker der Bildstatistik begreifen. Das Spätwerk des Gelehrten enthält zahlreiche Überlegungen zur Verbesserung der Vorstellungskraft und der visuellen Kommunikation. In seinen Nouveaux essais sur l’entendement humain (1765) argumentiert er nach dem dialogischen Prinzip in der Philosophie für ein »allgemeines Zeichensystem«. An die Stelle von Wörtern, so die Überlegung, könnten nach dem Vorbild chinesischer Schriftzeichen »kleine Figuren« zur Optimierung von allgemeinen Aussagen treten. Alle sichtbaren Gegenstände sollten anhand von Silhouetten, alle unsichtbaren Gegenstände durch die sie begleitenden sichtbaren Dinge dargestellt werden. An diesem Vorschlag, die Welt des Konkreten und des Abstrakten in eine Bildsprache zu überführen, wird die ganze Problematik einer solchen Transfiguration sichtbar. Und sie wird umso deutlicher, wenn Leibniz ergänzt, dass es zusätzlicher Zeichen bedürfe, um die »Beugungen« und »Partikel«, also grammatikalische Wendungen verständlich zu 27 | Vgl. Neurath 2010, S. 95, 97.

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machen. Erst wenn alles »zu den Augen« spreche, so die optimistische Einschätzung, wären der universellen Verständigung keine Grenzen gesetzt. Die visuelle Umsetzung der »realen« Begriffe wurde indessen in die Zukunft verschoben, wohl auch mit dem unausgesprochenen Wissen um die Schwierigkeiten, die mit einem solchen Unterfangen verbunden waren.28 Neurath hat, so scheint es, mit der Bildstatistik eingelöst, was Leibniz als transnationale Verständigungsoptimierung auf der Grundlage einer neuen Zeichensprache vorschwebte. Als ausgesprochen vielfältig erwiesen sich die bild- und bildungsgeschichtlichen Einflüsse, die, von der Wiener Methode aufgenommen, die Voraussetzung dafür bildeten, dass sie sich in der visuellen Kultur des Pädagogischen universell einsetzen ließ. Heraldische Symbole, Handwerkszeichen, Organigramme, Landkarten, naturwissenschaftliche Lehrmittel, technische Zeichnungen oder Diagramme lieferten wichtige Anregungen.29 Hinzu kamen Emblembücher, Scherenschnitte, Genealogien, Geschichtsflüsse, statistische Darstellungen, Illustrationen aus Enzyklopädien oder Pläne, die Neurath für Anschauungszwecke sammelte.30 Den Inbegriff einer »logischen Symbolik« bildeten jedoch die ägyptischen Hieroglyphen und Jan Amos Comenius’ legendäres Bildlexikon für Kinder, der Orbis sensualium pictus (1658), dessen teils sorglos ausgeführte Illustrationen hinreichend Grund für Missbilligung boten.31 Neuraths besonderes Augenmerk galt darüber hinaus Schlachtaufstellungen und deren schematischen Darstellungen von militärischen Operationen.32 So hatte er den Plan der Schlacht vor Leipzig 28 | Vgl. Leibniz 1996, S. 332–335. 29 | Vgl. Neurath 2010, S. xxix. 30 | Das »Archiv für bildhafte Pädagogik« wird in der Otto and Marie Neurath Isotype Collection, University of Reading, aufbewahrt. Vgl. Kap. »Otto Neurath as Collector«, in: Neurath 2010, S. 128–189. 31 | Unabhängig von Neurath erkannte El Lissitzky in den Hieroglyphen eine internationale Schriftsprache, die von Russen, Deutschen und Amerikanern gleichermaßen verstanden werden könne. Sein Plädoyer für das »anationale« Buch rührt daher. Vgl. Lissitzky 1967, S. 362. 32 | Vgl. Neurath 1936, S. 108 f. Mit einschlägigen Abhandlungen setzte sich Neurath über die Kriegsführung ins Bild; vgl. Puységur 1749 2, ein Buch, das sich in seinem Nachlass befindet.

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Abb. 66: Plan der Schlacht vor Leipzig am 18.ten October 1813, 1856

am 18.ten October 1813 (1856) erworben (Abb. 66).33 Die Aufstellung der verbündeten Truppen gegen das napoleonische Heer am dritten Tag der Völkerschlacht führte zur entscheidenden Wende und damit zum Rückzug der Franzosen sowie ihrer Verbündeten. Diese wichtige Konstellation wird hier durch farbige Balken wiedergegeben. »Es ist deutlich zu sehen«, fasste Neurath resümierend zusammen, »wie sich für verschiedene Heeresabteilungen, wie Batterien und Kompanien, verschiedene Zeichen entwickelten, die noch heute in der militärischen Literatur gebraucht werden.«34 Diese »verschiedenen Zeichen« versuchte er für seine Methode zu adaptieren. Vorbildlich gelungen ist dies in Neuraths Buch Modern Man in the Making (1939), das heute zu den elaborierten Beispielen der 33 | Vgl. Aster 1853, S. 205–247. 34 | Neurath 1991b, S. 212.

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Abb. 67: Otto Neurath, Wars of Ancient Rome and Greece 400 B.C. to 200 B.C., 1939 Abb. 68: Otto Neurath, Wars of the Roman Empire 30 B.C. to 170 A.D., 1939

angewandten Bildstatistik zählt. In der Darstellung Wars of Ancient Rome and Greece 400 B.C. to 200 B.C. steht der Balken allerdings nicht für die Heeresgröße, sondern für eine Zeiteinheit von fünf Kriegsjahren (Abb. 67). Mithilfe dieser Umdeutung soll der Behauptung, es gebe einen »Kriegsinstinkt«, anschaulich widersprochen werden.35 Argumentativ wird dieser Gedanke in einer weiteren Illustration untermauert, in der die vergleichsweise friedliche Phase des Römischen Reichs zwischen 30 v. Chr. und 170 n. Chr. erfasst wird (Abb. 68). Die wenigen militärischen Auseinandersetzungen, die in dem Zeitraum 35 | Vgl. Neurath 1939, S. 89.

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von wiederum zweihundert Jahren geführt wurden, fanden überwiegend auf exterritorialem Gebiet statt. Daraus lässt sich freilich keine nachhaltige Friedenstendenz in der Geschichte ableiten. ­Neuraths Nachsatz, dass in Friedenszeiten die Kriege vorbereitet werden und Grausamkeiten nur eine andere Form annehmen, soll die naive ­Illusion vom Friedensinstinkt zerstören, die nicht zuletzt von unterschiedlichen Machtinteressen konterkariert wird.36 Keine Garantie, aber doch unumgängliche Voraussetzung für den Friedenserhalt bildete laut Neurath, der sich 1917 mit Arbeiten zur Kriegswirtschaftslehre habilitiert hatte, die Analyse des Kriegs. Nach historischen Vorbildern wie Karten, Plänen oder Diagrammen und in der kongenialen Zusammenarbeit mit Grafikern und Künstlern entwickelte Neurath nach eigener Angabe im Laufe der Jahre an die 2.000 Symbole.37 Wie man inzwischen weiß, stellt diese Selbstauskunft eine großzügig nach oben aufgerundete Angabe dar. Denn die von der Forschungsliteratur veranschlagten 1.140 Zeichen reichten zur symbolischen Repräsentation von sozioökonomischen Faktoren und deren Zusammenhängen aus.38

G esellschaf t

und

W irtschaf t

Einen ersten Höhepunkt der Wiener Methode bildet das Mappenwerk Gesellschaft und Wirtschaft (1930), in dem die Regeln der bildstatistischen Wissensvermittlung anhand von 100 Farbtafeln im DIN-A3-  Format mustergültig zur Anschauung gelangen. Das als »neu« rezipierte Darstellungsverfahren wurde mit internationalen Kritiken, vor allem aber mit einem Eintrag in Meyers Lexikon honoriert  – für Neurath eine wichtige bibliografische Referenz.39 Soweit ich sehe, handelt es sich hier um die erste lexikalische Erwähnung einer maßgeblich von Künstlerhand geprägten Schaubildpraxis. Der Künstler selbst bleibt unerwähnt. Gemeint ist Gerd Arntz, der als Exponent der Kölner Künstlergruppe »Die Progressiven« sein linksrevolutionäres 36 | Vgl. 37 | Vgl. 38 | Vgl. 39 | Vgl.

ebd. Neurath 1991f, S. 342. Broos 1976, S. 55. Meyers Lexikon 1930; Neurath 1933, S. 49.

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Abb. 69: Gerd Arntz, Straße, 1924

Selbstverständnis programmatisch in seinen Arbeiten sichtbar machte. Durch Stereotypisierung und Standardisierung der visuellen Codes verlieh Arntz der Wiener Methode ihre unverwechselbare Formensprache und trug damit entscheidend zur Professionalisierung der Bildstatistik bei. Neurath hatte den jungen Künstler 1926 durch Vermittlung von Franz Roh bei einem gemeinsamen Atelierbesuch in Düsseldorf kennengelernt. Roh, den Neurath in seinen Briefen gern mit dem selbstgefälligen Diminutiv des Älteren als »kleines Fränzchen«,  »kleiner Doktor« oder »kleiner Kunsthistoriker« ansprach, war für ihn eine, vielleicht sogar die wichtigste Informationsquelle mit Blick auf zeitgenössische Kunstströmungen, die dem »organisierten Proletariat« zugutekamen.40 Noch bevor es Neurath gelingen sollte, Arntz Ende der zwanziger Jahre als grafischen Leiter des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum nach Österreich zu holen, hatte Roh in einem stilgeschichtlichen Ordnungsversuch der »jüngsten niederrheinischen Malerei« die besonderen Qualitäten von dessen in Holz geschnittenen Maschinendarstellungen hervorgehoben. In promotorischer Absicht betonte Roh die »ausdrucksvolle Vereinfachung« und »baukastenhafte 40 | Dies geht aus gut einem Dutzend Briefen hervor, die Neurath an Franz Roh und dessen Frau Hilde schrieb. Vgl. »Franz Roh papers (acc. no. 850120)«, The Getty Research Institute, Los Angeles.

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Klarheit«, die ausgewogene Verbindung aus »Konstruktivismus« und »neuer Dinglichkeit«, alles formale Eigenschaften, die auch Neurath beeindruckten.41 Der tabellarische Bildaufbau aus Spalten und Zeilen, die klare Rasterstruktur mit ihrem bis zum Symbol vereinfachten Formenrepertoire sind diagrammatische Qualitäten, die Neuraths Anspruch an eine universale Ikonografie in hohem Maße erfüllten (Abb. 69). Wie viele andere bildstatistische Werke ist auch Gesellschaft und Wirtschaft als Auftragsarbeit entstanden.42 Es war von dem Leipziger Verlag Bibliographisches Institut bestellt worden. Allerdings wird die Rekonstruktion der Auftragsgeschichte für dieses Werk durch zwei Tatsachen erschwert: zunächst durch den Angriff des britischen Luftgeschwaders am 4. Dezember 1943 auf Leipzig, dem auch große Teile des Bibliographischen Instituts zum Opfer fielen, und später durch die Auflösung des Archivs infolge der Verlegung des Hauptsitzes des Verlags nach Berlin, der seit 2009 der international agierenden Verlagsgruppe Cornelsen angehört.43 Und so fehlen jegliche Hinweise darauf, ob das Mappenwerk tatsächlich anlässlich einer Jubiläumsfeier des Bibliographischen Instituts entstanden ist, wie sich Marie Neurath erinnerte.44 Auf jeden Fall ist unrichtig, dass es zum hundertjährigen Verlagsbestehen herauskam, wie verschiedentlich kolportiert wird.45 Dann nämlich hätte der statistische Bilderatlas bereits 1926 gedruckt werden müssen. Vielmehr hatte es sich der neue Verlagslektor Richard Brodführer ab 1928 zur Aufgabe gemacht, mit einem avancierten Programm verstärkt »ungeschminkte Tatsachen zur geistigen, wirtschaftlichen und politischen Lage« anzubieten.46 Dafür wurden ihm trotz wirtschaftlich schwieriger Zeiten beträchtliche Mittel zur Verfügung 41 | Vgl. Roh 1926, S. 365. 42 | Zu Neuraths Auftraggebern gehörten der Verband für Siedlungs- und Kleingartenwesen, Volksbildungseinrichtungen oder die sowjetische Handelsvertretung in Wien. 43 | Vgl. Becker [1949], o.S.; Nicole Weiffen, Leiterin der Presse- und Unternehmenskommunikation der Bibliographisches Institut GmbH, in zwei E-Mails an die Autorin vom 15.2. und 26.2.2016. 44 | Vgl. Neurath 1982, S. 27; Neurath 1980 und 1982, S. 43. 45 | Zuletzt: Burke 2013, S. 187. 46 | Vgl. Sarkowski 1976, S. 142.

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gestellt  – Mittel, mit denen er nicht nur die 100 Bild- und 30 Texttafeln mit größter Sorgfalt drucken lassen, sondern auch noch Neurath »gut« bezahlen konnte.47 Den verlegerischen Vorgaben folgend, deckt Gesellschaft und Wirtschaft mit seinen Untersuchungen zu verschiedenen Produktionsformen, Gesellschaftsordnungen, Kulturstufen und Lebenshaltungen ein breites Themenspektrum ab, das Robert Musil treffend als »Neurath-­ System« charakterisiert hat.48 Die Tafeln erschienen 1930 zusammen mit drei thematisch verwandten Bänden zur Weltwirtschaft und Weltpolitik: Rußland, Lateinamerika und Das britische Weltreich; sie sind alle reich an Bildern, Karten und Diagrammen und im Groß-Oktav-Format gedruckt.49 Mit diesen stattlichen Handbüchern teilt das Mappenwerk nicht nur die solide Aufmachung, sondern auch dasselbe Schicksal. In Zeiten zunehmender Massenarbeitslosigkeit war es mit einem Preis von 65 Reichsmark (umgerechnet etwa 220 Euro) nur schwer verkäuflich.50

I zostat Neurath sah in der bildstatistischen Arbeit wenn auch kein lukratives Geschäftsmodell, so doch eine zusätzliche Einnahmequelle neben seiner Tätigkeit für das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum, das ihm zumindest ein regelmäßiges Einkommen sicherte. Als umtriebiger Selfmademan war er stets auf der Suche nach neuen Aufträgen und scheute weder Anstrengungen noch Mühen, um das Interesse auf seine Schaubilder zu lenken. Bereits im September 1929 und im Februar 1930, während die Vorbereitungen zur Drucklegung von Gesellschaft und Wirtschaft auf Hochtouren liefen, hatte sich Neurath mit einem vielversprechenden Vorschlag an die »Allunionsgesellschaft für kulturelle Beziehungen mit dem Ausland« (VOKS) in Wien gewandt. Er regte an, nach dem Vorbild des Mappenwerks 100 Tafeln in einer Auflage von 10.000 Stück für eine Wanderausstellung über die UdSSR anzufertigen, um 47 | Vgl. [Neurath] 1930, Taf. 101; Neurath 1980 und 1982, S. 43. 48 | Musil 1976, S. 521. 49 | Vgl. Eckardt 1930; Lufft 1930a; Lufft 1930b. 50 | Vgl. Sarkowski 1976, S. 142.

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dann im Juli 1930 ganz allgemein seine methodische Hilfe bei der Herstellung von statistischen Tabellen und Diagrammen an­zubieten.51 Unterstützung für sein Anliegen fand Neurath unter den Rezensenten von Gesellschaft und Wirtschaft, allen voran bei B.G. Danskij alias Konstantin Komarovskij: »Außerordentlich nützlich wäre es«, war im April in der Moskauer Rundschau zu lesen, »dieses Buch [sic] ins Russische zu übersetzen, wobei es jedoch mit den letzten Angaben über die Sowjetunion ergänzt werden müsste.«52 Der russische Journalist empfahl zudem, eine Reihe neuer Diagramme und Tabellen über den Fünfjahresplan und die Kollektivierung der Landwirtschaft in die Publikation aufzunehmen. Neuraths gute Beziehungen zum Herausgeber der Moskauer Rundschau, Otto Pohl, scheinen auf die überaus positive Besprechung abgefärbt zu haben. Für keinen der Beteiligten war damals absehbar, dass Neurath in Komarovskij einen Verbündeten gefunden hatte, der in seiner zukünftigen Funktion  als Direktor des »Allunionsinstituts für Bildstatistik für Sowjetaufbau  und -wirtschaft« die Wiener Arbeitsmethode gegen russische Gewohnheiten durchsetzen sollte.53 Im scharfen Gegensatz zu dem Reporter der Moskauer Rundschau nahm ein anderer Kritiker des Mappenwerks, Benedikt Kautsky, an dem punktuellen Russland-Akzent Anstoß, da er zu unnötigen Verzerrungen führe, etwa bei der Aufstellung der Wirtschaftsformen von der Antike bis zur Moderne auf Tafel 104. Wichtige, weil für Jahrtausende bestimmende Faktoren, wie der Einsatz des Feuers, die Entstehung von Staaten oder die Leibeigenschaft, blieben unerwähnt, während die junge Sowjetunion mit ihrer unübersichtlichen Entwicklung vergleichsweise ausführlich behandelt worden sei, nur weil dort die »Beseitigung der Klassenschichtung im Gange« war.54 Es ist bemerkenswert, dass ausgerechnet ein bekennender Marxist wie Kautsky diese Geschichtsklitterung bemängelte. Bei der Bereitstellung von sozialwissenschaftlichem und städtebaulichem Informationsmaterial über Russland hatte Franz Roh eine wichtige Rolle gespielt. Als offizieller Vertreter des von Neurath in den 51 | Vgl. Köstenberger 2013, S. 276 f. 52 | Danskij 1931. 53 | Vgl. Neurath 1980 und 1982, S. 54. 54 | Kautsky 1932, S. 174.

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frühen zwanziger Jahren initiierten Siedlungsmuseums  – aus ihm ging das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum hervor – sollte Roh mit Einverständnis der russischen Botschaft in Wien entsprechende Unterlagen aus Leningrad beschaffen.55 Später leistete Fannina Halle als kunstwissenschaftliche Mitarbeiterin von Neurath entsprechende Hilfestellung. Durch ihre Studienreisen zur romanischen Bauplastik in Russland vor und nach dem Ersten Weltkrieg unterhielt sie gute Beziehungen zum Institut für Kunstgeschichte in Leningrad, Beziehungen, die sie als aktives Mitglied der »Österreichischen Gesellschaft zur Förderung der kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen mit Russland« weiter ausbauen konnte.56 Aus ihren Aufenthalten in der UdSSR gingen Publikationen wie Die Frau in Sowjet-Rußland (1932) hervor; dieses Buch wurde auch ins Amerikanische übersetzt –  Woman in Soviet Russia (1933) – und war unter ihren Veröffentlichungen die am meisten rezipierte. Im Zuge des Feminismus nach 1968 erschien eine Neuauflage, nun unter dem stärker zeitgeistigen Titel Frauenemanzipation. Bericht aus den Anfängen des revolutionären Rußland (1973). Für Neurath war Halle vor allem eine wichtige Verbindungsfrau zur Sowjetunion. Durch ihre Aufenthalte in dem Land gelangte er an einschlägiges Informationsmaterial, durch ihre Kontakte zur VOKS verdichtete sich auch sein Netzwerk mit den Russen.57 In Moskau wurden die Aktivitäten in Wien durchaus wahrgenommen. Mehr noch, das propagandistische Potenzial des »Bildstatistischen Elementarwerks« stieß erwartungsgemäß auf Interesse.58 Einer erfolgreichen Zusammenarbeit stand allerdings Neuraths exorbitante Preisvorstellung von 250.000 Schilling für die Erstellung eines Mappen­werks mit Russland-Schwerpunkt entgegen.59 Auf heutigen Wert übertragen, lag die Summe bei weit über 800.000 Euro.  55 | Vgl. Neurath in einem Brief an Franz Roh vom 12.8.1922, S. 1, und vom 19.7.1924, S. 17, The Getty Research Institute, Los Angeles; Sandner 2014, S. 228. 56 | Vgl. Halle 1929, S. 10. 57 | Vgl. Köstenberger 2012, S. 102 f.; Köstenberger 2013, S. 275, 277. 58 | So lautet der Untertitel von Gesellschaft und Wirtschaft, in Anspielung auf Johann Bernhard Basedows einflussreiches Elementarwerk von 1774. 59 | 1930 betrug das monatliche Pro-Kopf-Einkommen in Österreich 220 ­S chilling brutto. Vgl. Butschek 1996, o.S.

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Abb. 70: F.K. Lecht, Die Partei der Arbeiterklasse – VKP (b) – ist Führer und Organisator der werktätigen Massen in Stadt und Land, 1928

Die Russen hätten den Betrag in ausländischer Valuta aufbringen müssen, und das war ein Grund mehr, der die Kooperation zum Scheitern verurteilte. Und doch hatte sich Neurath mit seinem Vorstoß den Weg zu einem weit größeren Projekt geebnet. Im November 1931 erging an ihn die Einladung, das Allunionsinstitut für Bildstatistik für Sowjetaufbau und -wirtschaft, kurz Izostat, in Moskau mit aufzubauen.60 Lenin hatte in einem richtungsweisenden Dekret bereits 1919 leicht verständliche Statistiken gefordert. Unter Stalin bestand Neuraths Aufgabe nun darin, einen Kader von russischen Spezialisten heranzubilden, damit die Bildstatistik im großen Stil umgesetzt werden konnte.61 Dazu waren 5 bis 16 Mitarbeiter aus dem Wiener Team permanent anwesend.62 Dieser hohe Personalaufwand war möglich, weil Neurath alle Tätigkeitsbereiche doppelt besetzt hatte. So konnte die Arbeit auch in Österreich ohne wesentliche 60 | Zur offiziellen Gründung von Izostat im Januar 1932 und den überhasteten Anfängen vgl. Köstenberger 2013, S. 278. 61 | Zu Lenins Forderung nach einer Statistik für Werktätige unter Einbeziehung der Kunst vgl. Neurath 1991a, S. 207; Ivanickij 1932, S. 3 f. 62 | Vgl. Survey 1932, S. 538; Neurath 1982, S. 28.

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Abb. 71: F.K. Lecht, Der Kampf für Kultur im Dorf. Sei die Initiatorin der Kollektivierung, 1933

Einschränkungen fortgesetzt werden. In Moskau stand Arntz als ­»erster Stoßbrigadier« Izostat vor. Neurath selbst hatte rund sechzig Tage jährlich vor Ort zu sein.63 Offizielle Aufgabe von Izostat war es, die ganze Sowjetunion mit der »Methode Dr. Neurath« als instrumentellem Informationsmedium bekannt zu machen. Per Dekret hatte der Rat der Volkskommissare »alle öffentlichen und genossenschaftlichen Organisationen, Gewerkschaften und Schulen« dazu verpflichtet. Die Bedeutung, die dieser Anweisung zukam, lässt sich nicht zuletzt daran erkennen, dass Izostat als propagandistisches Erziehungsinstrument dem Zentralen Exekutivkomitee der UdSSR direkt unterstand.64 Von russischer Seite wurde Neuraths Visualisierungspraxis als effektvolles Propagandamedium eingestuft, wirksamer als die heimische Plakatkunst, die mit konventionellen Diagrammen und sprechenden Gesten argumentierte (Abb. 70–71).65 Im Vergleich dazu verhieß die klare 63 | Vgl. Schütte-Lihotzky 1982, S. 41 f.; Köstenberger 2013, S. 278. 64 | Vgl. Neurath 1933, S. 8 f.; Neurath 1991a, S. 207 f.; Neurath 1991g, S. 256. 65 | Zur Funktion und Bedeutung des Plakats während des ersten Fünfjahresplans vgl. Hille 1996.

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Abb. 72: Entwicklung der allgemeinen Schulpflicht in der UdSSR, 1932 Abb. 73: Traktorproduktion in der UdSSR, 1932

­ aktografie aus Wien mit ihren leicht entzifferbaren Darstellungen F eine maximale Breitenwirksamkeit bei der überwiegend analphabetischen Bevölkerung (Abb. 72–73). Es ging um nichts Geringeres, als das große Experiment der sowjetischen Wirtschaftspolitik mithilfe bildstatistischer Überzeugungskunst zu begleiten und zu steuern. Der Erklärungsbedarf war wegen der anhaltenden Versorgungskrisen groß. Mit der Einführung des ersten Fünfjahresplans 1928 gingen gewaltige Industrialisierungs- und Kollektivierungskampagnen einher, die in Schlagworten wie »Planwirtschaft« oder »Bodenreform« kulminierten. Auf dem XVI. Parteitag der KPdSU im Juni/Juli 1930 wurden alle kulturellen, politischen und ökonomischen Sektoren neu definiert und kämpferisch das Programm »Offensive des Sozialismus auf ganzer Front« ausgerufen. Um diese strukturell angelegte Großoffensive durchzuführen, wurde die Wiener Methode als Instrument der Macht flankierend eingesetzt.

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Es ging aber nicht nur darum, Inhalte zu propagieren. Die Anstrengungen, die die sowjetische Führung unternahm, um ihre Agitation methodisch zu optimieren, waren notwendig geworden, denn gegenüber der bisherigen sowjetischen Bildsprache gab es mehr als genug kritische Stimmen.

K eine S tillleben! Zu den vehementesten Gegnern der russischen Bilddidaktik zählte der Autor-Produzent von Fakten: Sergej Tretjakov. Als unermüdlicher Advokat einer Kollektivwirtschaft gehörte er zu jenen russischen Intellektuellen, die Aufklärung durch Sichtbarmachung propagierten. Nach dem Motto »Wir mögen keine Stilleben, uns sagt die graphische Darstellung mehr« griff Tretjakov als Vertreter einer »operativen« Arbeitsmethode gelegentlich selbst zum Zeichenstift, um seiner Sichtweise der Dinge Nachdruck zu verleihen.66 Der Anhänger des gelebten Wettbewerbs der Arbeitskollektive um Qualität, Menge und Tempo der Produktion lehnte das ästhetizistische Gepränge der großen Massenfeiern rund um den 10. Jahrestag der Revolution kategorisch ab. Um die politische Bildung voranzutreiben, hatte Lenin »propagandistischagitatorische Karten« gefordert.67 Ganz in seinem Sinne plädierte nun Tretjakov dafür, die roten Stoffbahnen, die allerorten die Fassaden der Fabriken und Großbetriebe, der Volkskommissariate und Verwaltungsgebäude schmückten, durch streifenförmige »Straßendiagramme« auszutauschen und damit den öffentlichen Raum zur Information zu nutzen. Auf diese Weise ließen sich wichtige Erfolge und zentrale Probleme des aufstrebenden Landes augenfällig darlegen.68 Als kämpferischer Utilitarist suchte Tretjakov überall nach Möglichkeiten, die »Bilanzen des Oktobers« (Majakovskij) in Szene zu setzen. Anders als Neurath, dessen handliche Bildstatistiken für den flexiblen Gebrauch im Innenraum bestimmt waren, setzte sich Tretjakov für 66 | Tretjakov 1972c. Devin Fore arbeitet an einem Buch zum Thema »All the Graphs. Soviet Factography and the Emergence of Avant-Garde Documentary «, in dem Tretjakovs diagrammatisches Werk gewürdigt wird. 67 | Zu Lenins Appell vgl. Ormeling 1974, S. 39 f. 68 | Vgl. Tretjakov 1972c, S. 44.

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Abb. 74: Ivan P. Ivanickij, Wachstum der Kollektivisierung der Landwirtschaft in der UdSSR, [1931]

die Diagrammatisierung im großen Stil ein. Dabei argumentierte er methodisch analog zu Neuraths Konzept des Mengenbildes. Mit seinen Vorschlägen zur produktionsorientierten Umgestaltung der Schaufenster bewies Tretjakov überdies Talent zum »operativen« Auslagendekorateur: »In den Schaufenstern der Geschäfte und Kooperativen sollten, an Stelle von AChRR-Gemälden, ebenso anschauliche Darstellungen zu sehen sein, womit wir handeln, wie wir handeln, wofür wir handeln, kombiniert aus den Dingen, die das Schaufenster füllen. Zum Beispiel fortlaufend wachsende Kolonnen von Konservendosen, die das Wachstum unserer Konservenbranche zeigen, oder im Schaufenster angeordnete Fische der verschiedenen Größen, die über die verschiedenen Arten des Fischfangs Aufschluß geben, oder ein Fächer von Preisangaben rund um irgendeinen Samowar, der den allmählichen Wandel seines Preises zeigt, oder die zunehmende Reihe unserer Produkte, sagen wir, von irgendeinem Aspirin, und daneben ein ebensolcher abnehmender Haufen von ausländischem Aspirin, was die Verringerung unserer Einfuhr zeigt.« 69

Im Gegensatz zu den antiinformativen Festtagsdekorationen in den Schaufenstern der Geschäfte und Kooperativen (exemplarisch hatte Tretjakov auf die mit Stecknadeln zu Jubiläumsemblemen fixierten 69 | Ebd., S. 44 f. AChRR steht für »Assoziation der Künstler des revolutionären Russland«.

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Abb. 75: Die UdSSR wird sich von einem Agrarland in ein Industrieland verwandeln, um 1934 Abb. 76: Sozialer Hintergrund (Beruf des Vaters) der Beschäftigten, die im ersten Halbjahr 1931 Mitglieder der industriellen Vereinigungen geworden sind, [1933]

Gebäckstücke in den Auslagen von Konditoreien verwiesen) zielten die alternativen Inszenierungsstrategien darauf ab, das hohle Pathos festlicher Stimmung durch Demonstrationen von Errungenschaften zu ersetzen.70 Durch die ästhetische Wirkung, die von den installativen Mengenbildern ausginge, sollten auch die »gesellschaftlich rückständigsten Schichten« der Bevölkerung emotiv angesprochen und sozialistisch umerzogen werden.71 Mithilfe dreidimensionaler Diagramme, so Tretjakovs Überzeugung, könnten neue Wissensordnungen etabliert, mit der analytischen Warenpräsentation ideologisches Denken und Handeln initiiert werden. Damit war das Potenzial des Schaufensters als Sehschule entdeckt.

70 | Vgl. Tretjakov 1972a, S. 47. 71 | Vgl. Tretjakov 1972b, S. 46.

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Abb. 77: AChR, Die Arbeit im Fünfjahresplan, 1933

Tretjakovs Plädoyer für eine umfassende didaktische Bildkultur fügte sich nahtlos in den Maßnahmenkatalog einer primär auf Verhaltensregulierung setzenden Regierungstätigkeit ein. Schaubilder, die Erfolgsmeldungen der jüngsten Vergangenheit verbreiteten, vor allem aber Zukunft als datenbasierte Prognose präsentierten, dienten zur Mobilisierung bzw. Optimierung von Arbeitskraft. Mit »offiziellen« Zahlen sollten volkswirtschaftliche Forderungen in überschaubare Planbarkeit überführt werden, auch wenn politisch motivierte   Fehleinschätzungen den Zeithorizont der Planungsutopie immer wieder nach hinten verschoben. Als rhetorisches Mittel zur bildstatistischen Glorifizierung des Hammer- und Sichelstaats wurde der »Plan« in unterschiedlichsten Formaten, Medien und Stilen verbreitet  (Abb. 74–76). Das Leitthema der russischen Propaganda während des ersten Fünfjahresplans (1928–33) war die Präsentation von Erfolgen mit suggestiven Einst-Jetzt-Vergleichen. In der kontrastiven Gegenüberstellung eines Landarbeiters von 1913 und eines Industriearbeiters von 1932 ließ sich der Mythos eines produktionstechnischen Neubeginns

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eindrucksvoll vorführen (Abb. 77). Mit diversen Stab-, Kreis- und Koordinatendiagrammen am unteren Plakatrand wurde der Fortschritt auf der Basis von Zahlen unterstrichen. Dennoch verfehlten sie ihren agitatorischen Zweck, so Neurath, da der Betrachter sich grundsätzlich »mehr für die individuellen Gebärden [der Personen] als für die statistischen Verhältnisse« interessiere.72 Neurath konnte der in der Sowjetunion praktizierten Bildpädagogik wenig abgewinnen. War sie für Tretjakov nicht expansiv genug, schien sie ihm nicht avanciert genug. Ähnlich wie bei Tretjakov gründeten Neuraths Bedenken auf formal-ästhetischen Überlegungen. Zwar habe die UdSSR grundsätzlich mit der Tradition gebrochen, in ihren »belehrenden Darstellungen« mache sie jedoch keinen »Gebrauch einfacherer Formen« und folge weiterhin herkömmlichen Prinzipien. Und in den wenigen Fällen, in denen russische Grafiker dazu übergegangen seien, zeitigten ihre fortschrittlichen Bemühungen in der grafischen Auffassung keine Wirkung. Dies war umso prekärer, befand Neurath, als der Statistik in der Aufbauphase der UdSSR eine zentrale Rolle bei der Vermittlung der notwendigen Planungsökonomie zufiel.73 Die russische Bildstatistik konnte sich mit der Wiener Methode weder hinsichtlich ihrer Möglichkeiten zur systematischen Komplexitätsreduktion messen, noch stach sie mit Blick auf ihr pädagogisches Potenzial im globalen Vergleich positiv hervor.74 Neurath und sein Team waren angetreten, rasch Abhilfe zu schaffen und die didaktischen Wirkmöglichkeiten im russischen Großreich mit seiner in den ländlichen Regionen weitgehend analphabetischen Bevölkerung nachhaltig zu verbessern. Das hieß, einer möglichst breiten Öffentlichkeit den Fortschritt beim Aufbau der Sowjetunion durch gleichermaßen anschauliche wie eingängige Schaubilder zu vermitteln und zwar insbesondere dort, wo dem Laienpublikum in den schwierigen Jahren der Zwangskollektivierung und Produktionskrise die anschauliche Bestätigung einer positiven Faktenlage fehlte. Die Statistik spiele darum in keinem anderen Land der Welt eine so große Rolle wie dort, analysierte Neurath.75 Gleichzeitig billigte er der Arbeiterbewegung 72 | Neurath 1991j, S. 51. 73 | Vgl. Neurath 1979, S. 292 f., Neurath 1991i, S. 159, 161. 74 | Vgl. Neurath 1991b, S. 211. 75 | Vgl. Neurath 1991a, S. 207.

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Abb. 78: Ivan P. Ivanickij, Gewinnung von Steinkohle in Frankreich, Belgien und der UdSSR (von oben nach unten), [1931] Abb. 79: Ivan P. Ivanickij, Gewinnung von Erdöl in der UdSSR, [1931]

zu, durch den Marxismus gut für »statistisches Denken« in topologischen Räumen vorbereitet zu sein.76 Schließlich spiegelten sich in der Statistik all jene volkswirtschaftlichen Grundsätze wider, die in Hinblick auf Planungsprozesse sodann in politische Programme umschlügen. Der Bildstatistik fiel die Aufgabe zu, die Durchsetzung einer 76 | Vgl. Neurath 1979, S. 292 f.

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forcierten Industrialisierung zu popularisieren.77 Als Instrument der Volksbildung wurde sie dabei selbst instrumentalisiert.

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Im bildstatistischen Vergleich mit den kapitalistischen Ländern schien die Planwirtschaft der UdSSR stets messbar effizienter zu sein. Dieses  von oben verordnete Selbstbewusstsein sollte durch eine Serie von  72 Diagramm-Postkarten ins Bildgedächtnis einer ganzen Nation ein-  geprägt werden (Abb. 78–79). Die Zusammenstellung der Karten hatte Ivan P. Ivanickij besorgt, der bereits vor Neuraths Ankunft in der ­Sowjetunion bildnerische Statistik betrieben hatte. Gedruckt wurde die Edition 1931 bei OGIZ, einer Vereinigung der staatlichen Verlage, die   seit 1930 bestand und dem Volkskommissariat für Bildungswesen zugeordnet war. Die Postkartenserie stellt ein Übergangsphänomen dar, insofern sie die veraltete russische Bildbelehrung zwar schon überwunden hat, an Neuraths sachliche Mengenbild-Methode allerdings noch nicht heranreicht, wie die Umschlaggestaltung von Ivanickijs Buch Izobrazitel’naja statistika i venskij metod (Bildstatistik und Wiener Methode) mit ihren überlappenden Illustrationen nahelegt (Abb. 80). Auf der Buchvorderseite ist eine bildstatistische Bevölkerungskarte der größten Städte rund um das westliche Mittelmeer zu erkennen, eine Darstellung, die insofern richtungsweisend für die Arbeit von Izostat war, als sie Neuraths Tafelwerk Gesellschaft und Wirtschaft ­zitiert, auf dessen Schuber sie erstmals abgebildet wurde.78 Doch die eigentliche Herausforderung für Ivanickij bestand darin, die im »west-  lichen Europa« verbreitete Methode für die spezifische Interessenlage der Werktätigen in der Sowjetunion zu adaptieren. Gefragt waren »Bilddiagramme«, die im Unterschied zu »Dr. Neuraths« Methode das Klassenbewusstsein schärften und nicht den zeitdiagnostischen Blick

77 | Zur Glorifizierung des Fünfjahresplans als »gesellschaftlicher Auftrag« an die Kunst vgl. George Maciunas, Chronology of Russian History: 1917–1934 (Industry / Agriculture / Budget / Poetry / Prose) (um 1953–54), in: Schmidt-­ Burkhardt 2011b, S. 36, Abb. S. 115. 78 | Vgl. Abb. in: Stadler 1982, S. 262.

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Abb. 80: Ivan P. Ivanickij, Izobrazitel’naja statistika i venskij metod, Moskau und Leningrad 1932, Rück- und Vorderseite des Umschlags

auf die russische Realität.79 Ivanickij kam nun das Verdienst zu, erstmals in seinem Land den Versuch unternommen zu haben, Ideen und Ideale des Sozialismus mit bildnerischen Statistiken zu popularisieren, ein subtiles wie schwieriges Unterfangen, das von den Erkenntnissen eines »psychotechnischen Labors« profitierte.80 Mit einer Auflage von 20.000 Stück pro Postkarte wurde in Zeiten extremer Papierökonomie auf einen theoretisch weltumspannenden Rezeptionsradius gesetzt.81 79 | Vgl. Ivanickij 1932, S. 4. 80 | Vgl. Ivanickij [1931], S. 6 f.; Ivanickij 1932, S. 33. Zu den psychophysischen Optimierungsmaßnahmen im Großlaboratorium Sowjetunion vgl. Hille 2007. 81 | In der Begleitpublikation zu den Postkarten wird die Auflage sogar mit 25.000 angegeben. Vgl. Ivanickij [1931], S. 2.

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Der

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Gleichzeitig  sollte  die  erzieherische  Wirkung  von  Bilddiagrammen  getestet werden, die nicht zuletzt durch die Verbreitung von insgesamt  knapp 1,5 Millionen Diagramm-Postkarten als »starke Waffe« der Propaganda eingestuft wurden.82   Die  sozialistische  Devise  »Dognat’  i  peregnat’«, »Einholen  und  Überholen«, ist titelgebend für die Begleitpublikation zu den Postkarten.  Als behavioristischer Imperativ forderte sie die Steigerung der kollektiven Arbeitsleistung, um die führenden kapitalistischen Länder in technisch-ökonomischer Hinsicht binnen zehn Jahren zu übertreffen. Das  war die Doktrin, an der die UdSSR insbesondere nach dem New Yorker  Börsenkrach von 1929 und der daraus folgenden Weltwirtschaftskrise  82 | Vgl. Ivanickij 1932, S. 4, 33.

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festhielt, zumal das Land durch seine »rote Grenze« angeblich vor ökonomischen Gefahren gefeit war (Abb. 81).83 Um dieses kompetitive Ziel zu erreichen, bedurfte es einer umfassenden Politisierung des Alltagslebens und seiner visuellen Kultur. Im öffentlichen Raum erfüllten zumeist Plakate diese pädagogische Funktion. Als »Erziehungsbild« drang die Postkarte hingegen bis in die Sphäre des Privaten vor und sollte den Einzelnen dort erreichen, wo die Mittel der Massenerziehung versagten. Der schnelle Gruß, als Symptom für die Mobilisierung sozialer Beziehungen, erwies sich als probates Mittel, um progressive Ideen gezielt zu adressieren. Zudem war jede Karte auf ihrer Rückseite mit einer deutschen und englischen Übersetzung des programmatischen Leitgedankens des jeweiligen Bilddiagramms versehen  – man spekulierte also auf eine internationale Reichweite.  Als Sammelobjekte erschlossen die 72 handlichen Schaubilder sechs Themenkomplexe: Weltwirtschaftskrise und die UdSSR, Aufbau des Sozialismus in der UdSSR, Transportwesen, sozialistischer Wiederaufbau der Agrarwirtschaft, kulturelle Revolution und Genossenschaftswesen.84 Im statistischen Vergleich der ideologischen Systeme ging die Planwelt des Sozialismus als klarer Sieger hervor. Die suggestive Kraft, die von dieser politischen Botschaft ausging, wurde durch die narrative Ausgestaltung der kleinen Schaubilder mit flächenfüllenden Hintergrundillustrationen oder ikonischen Filmstreifen  – in Anspielung auf herkömmliche Stab- und Balkendiagramme – unterstützt. Die chronologisch konträr verlaufenden Karrieren des Kapitalisten und des Arbeiters tragen entscheidend zur Emotionalisierung des diagrammatischen Stimmungsbildes bei (Abb. 82). Die statistischen Beziehungen zwischen dem alten Systemgewinner, der zum Verlierer wird, und dem Verlierer, der zum neuen Systemgewinner wird, bilden die Grundlage dieses populärwissenschaftlichen Bilddiskurses, dessen Durchschlagskraft durch gezielte Witzeffekte gesteigert wird. Dieser humoristische Sinnüberschuss, der in den teils szenisch eingebetteten, teils atmosphärisch aufgeladenen Mengenvergleichen angelegt ist, stand der Strenge und Systematik der Wiener Methode diametral entgegen. Und genau hier versuchte Neurath korrigierend einzuwirken, denn dieses Instrument der Volksbildung schien ihm wegen seiner pointierten Polemik 83 | Vgl. Ivanickij [1931], S. 9. 84 | Vgl. ebd., S. 21–24.

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Abb. 81: Ivan P. Ivanickij, Stahlschmelzen in kapitalistischen Ländern gegen Anfang 1931 im Vergleich mit Mitte 1929, [1931] Abb. 82: Ivan P. Ivanickij, Stahlschmelzen per Monat in tausend Tonnen, [1931]

im Stil des Agitprop problematisch zu sein. Mit standardisierten Bildfiguren – getreu den in Österreich erarbeiteten Richtlinien – beabsichtigte Neurath, diese Vermittlungsform zu versachlichen. ­Ivanickij soll in seiner neuen Rolle als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Izostat die Wiener Methode »ohne Widerstand« übernommen haben.85

85 | Vgl. Neurath 1980 und 1982, S. 54.

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Abb. 83: Diagramm des Personentransports auf den Eisenbahnen der UdSSR, Deutschlands und der USA, 1932

Zu den ersten Aufgaben des Wiener Teams in Moskau gehörte die Betreuung einer Reihe von Bildstatistiken, die anlässlich des 15. Jahrestags der Oktoberrevolution in der Tageszeitung Izvestija (Nachrichten) publiziert wurden. Arntz will als leitender Grafiker in diesem Jubiläumsjahr auch für die Pravda (Wahrheit) entworfen haben.86 Was er dabei unterschlägt: 1932 wurde dort keine einzige Arbeit nach der Wiener Methode veröffentlicht. Stattdessen druckte die Pravda über das Jahr verteilt etwa zehn Bildstatistiken ab, die  – mit perspektivischen Figurenanordnungen, ideologischem Dresscode und anderen erzählerischen Darstellungskonventionen  – ausnahmslos gegen die nüchternen Gestaltungsprinzipien der Wiener Methode verstießen (Abb. 83). Immerhin, im Oktober des darauffolgenden Jahres erschienen drei Bildstatistiken in der Pravda, die unverkennbar Arntz’ Handschrift tragen.87 Anders Izvestija. Unter dem Serientitel »U nas i u nich«, »Bei uns und bei ihnen«, erschienen zwischen März und September 1932 mehrfach statistisch zugespitzte Systemvergleiche nach Wiener Art. Im 86 | Vgl. Arntz 1977, S. 12; Broos 1976, S. 54. 87 | Vgl. Pravda, Nr. 298, 28.10.1933, S. 3.

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harten Schwarz-Weiß-Kontrast von Arntz’ Linolschnitten präsentierten sich die Leistungen der UdSSR als unumstößliche Fakten. Keine andere Publikation von Izostat sollte eine ähnliche Breitenwirkung erzielen. Mit 1 bis 1,5 Millionen Exemplaren übertraf das offizielle Publikationsorgan der sowjetischen Regierung die Auflage aller anderen Tageszeitungen, die ausnahmslos unter akuter Papierknappheit litten. Im deutschsprachigen Raum sorgte der in Wien lebende Russe Georg Kiser 1932 mit seinem Buch Rußland vor dem zweiten Fünfjahrplan für die Verbreitung einiger Izvestija-Schaubilder.88 Anlassbedingt druckte auch die Moskauer Rundschau eine Reihe von Izostat-  Bildstatistiken.89 Um dem Wirtschaftschauvinismus in den USA etwas entgegenzusetzen, wurden in dem amerikanischen Magazin The Survey Anschauungsbeispiele aus der russischen Tageszeitung abgedruckt.90 Das für seine Darstellung sozialer Sachverhalte bekannte Blatt demonstrierte durchgängig die Erfolge der sozialistischen Wirtschaft gegenüber den kapitalistischen Ländern. Die Schaubilder erschienen im November 1932 als Insert in einem Report von Walter Duranty. Thema seines Berichts war die von den USA geleistete Hilfe beim Aufbau der UdSSR, und die Bilder bekräftigten dessen prostalinistischen Tenor.91 Dieser Bildfolge vorausgegangen war ein Beitrag von Neurath in der März-Nummer, in dem erstmals in den Vereinigten Staaten Karten und Bildstatistiken nach der Wiener Methode veröffentlicht wurden.92 Neurath führte den amerikanischen Lesern das Ungleichgewicht der Weltwirtschaft aus nationalökonomischer Sicht eindringlich vor Augen, um für eine gerechtere Planwirtschaft im globalen Stil nach sowjetischem Vorbild zu werben. Mit Blick auf die agitatorische Funktionalisierung der Bildstatistik konstatierte Rudolf Modley, ein ehemaliger Mitarbeiter von Neurath ohne erkennbare Sympathie für den sowjetischen Sozialismus, dass die Wiener Methode in Russland ebenso gebraucht wie missbraucht worden sei. Diesen nicht unbegründeten Ideologieverdacht erhob der 88 | Vgl. Kiser [1932], Abb. S. 138–141. 89 | Vgl. Izostat 1932a; Izostat 1932b, und dazu die narrative Gegendarstellung von Sverdlin 1932a. 90 | Vgl. Survey 1932. 91 | Vgl. Duranty 1932. 92 | Vgl. Neurath 1932.

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amerikanische Grafiker 1937 in seinem Ratgeber How to Use Pictorial Statistics.93 Modley war 1934 zum Geschäftsführer der New Yorker  Aktiengesellschaft Pictorial Statistics aufgestiegen, und so ist es nicht verwunderlich, dass seine Aussage ein parteiisches Urteil war, mit dem er die »amerikanischen Experimente« auf diesem Gebiet in ein helleres Licht rücken wollte. Und dies umso mehr, als sich Modley zudem gegen die rigide Symbolgestaltung Neurath’scher Prägung aussprach.94 Seiner Meinung nach war die Zeit noch nicht reif, um eine internationale Bildsprache durchsetzen zu können. Stattdessen favorisierte Modley eine nationale Bildstatistik, die zum besseren Verständnis auf regionale wie kulturelle Besonderheiten Rücksicht zu nehmen hatte.

F igur ativer K onstruk tivismus Neben bildstatistischen Beiträgen für Izvestija erarbeitete Arntz in kollektiver Anstrengung mit seinen Moskauer Kollegen – unter ihnen Grafiker wie Kurganov, Grigorovicˇ oder Kaplan – propagandistische Bilderbücher zu den unterschiedlichsten Themen: zum zweiten Fünfjahresplan, zur sowjetischen Luftwaffe, zur Wirtschaftsleistung von ­Japan und China.95 Außerdem entstanden Grafiken für Ausstellungen.96 Izostat war zeitweise ungemein produktiv. Allein 1934 wurden 2.038 Diagramme, Kartogramme, Losungen und Fotomontagen hergestellt; zusätzlich erschienen sechs Alben, zwei davon in russischer, vier in englischer Sprache, und vier Plakate.97 Allerdings ist die Auflage und Verbreitung der Izostat-Schaubilder nach der Wiener Methode schwer einschätzbar, da die mit korporativem Selbstverständnis angefertigten Schaubilder vielfach ohne Herkunftsangabe zirkulierten.

93 | Vgl. Modley 1937, S. 130, 133, 135. 94 | Vgl. ebd., S. xiii f., 130, 136 f. 95 | Vgl. Arntz 1982, S. 32; Neurath 1980 und 1982, S. 54. 96 | Vgl. Fünfjahrplan 1934; Modley 1937, S. 133, 135; Reconstruction 1933; Stadler 1982, S. 258–260; Vossoughian 2008, S. 114; und insbes. Minns 2013, S. 267–281. 97 | Vgl. Köstenberger 2013, S. 281 Fn. 1131.

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Abb. 84: Anstieg der Zahl der Arbeiter und Angestellten in der UdSSR, 1932 Abb. 85: Anstieg der Zahl der Arbeitslosen in den kapitalistischen Ländern, 1932

Bereits bei den allerersten Bildstatistiken, die Izostat herausgab, wird ein methodisches Problem ersichtlich, mit dem die Wiener Methode in der Sowjetunion zu kämpfen hatte: der hohe Abstraktionsgrad der Piktogramme, namentlich bei standardisierten Figuren wie dem »­Arbeiter und Angestellten« als anonyme Bildformel (Abb. 84). Ohne Augen, Nase, Mund und Ohren hatte sie Arntz als reines Mengensymbol entworfen. Jede Grundfigur sollte beliebig skalierbar sein, sich auf Briefmarkengröße verkleinern oder groß auf die Wand projizieren lassen, ohne ihren Wiedererkennungswert zu verlieren.98 Auch musste sie sich bewegen können; und sei es nur, dass sie als Ausdruck unfreiwilliger Untätigkeit die Hände in den Hosentaschen verschwinden ließ, wie die Gestalt des »Arbeitslosen«, die Arntz Ende der zwanziger Jahre geschaffen hatte. In der UdSSR, diesem Land ohne offizielle 98 | Vgl. Arntz 1977, S. 13.

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Arbeitslosigkeit, ließ sich die Welle von Massenentlassungen in England, Deutschland und Italien als Inbegriff des menschenverachtenden Kapitalismus vorführen (Abb. 85). Die russische Fassung nach deutscher Vorlage beließ es daher nicht bei dem sachlichen Kurztitel Arbeitslose, mit dem eine Reihe von Wiener Bildstatistiken das eklatante Problem beschlagwortet hatten. Anstieg der Zahl der Arbeitslosen in den kapitalistischen Ländern stellt stattdessen die Auswüchse der westlichen Wirtschaft als unumkehrbaren Negativtrend heraus. Mit Schirmmütze und hängenden Schultern gehört die männliche Profil­ figur anerkanntermaßen zu Arntz’ besten Standardfiguren. Für sie ist bezeichnend, dass – bei allem grafischen Kalkül, das man Arntz zugutehalten kann – immer auch etwas von der kollektiven Befindlichkeit zu einem bestimmten historischen Moment mitschwingt. In Streiks und Aussperrungen, um noch ein anderes Beispiel zu nennen, hat sich das Existenzgefühl einer ganzen Generation sinnbildlich zur Faust zusammengeballt (Abb. 64). In der Menge erscheinen die Fäuste nicht allein als statistischer Wert. Sie demonstrieren mehr noch gemeinsam politisches Handeln, das mittels Drohgebärden Fakten in Forderungen verwandelt. Im provozierten Gegensatz zur vermeintlichen Objektivität von Zahlenstatistiken beurteilt die Wiener Methode gesellschaftliche Verhältnisse, indem sie mit symbolischen Mitteln auf die Dringlichkeit aktueller Themen aufmerksam macht. Auch wenn die Deutungshoheit im »diagrammatischen Schließen« (Peirce) eines jeden Betrachters liegt, so sprechen doch die durch räumliche Koexistenzbeziehungen zu visuellen Argumenten formierten Zeichen für sich.99 Tretjakov gibt dafür gute Gründe an: »Die Fixierung des Faktums, in eine zeitliche Koordinate eingespannt, ergibt die Fixierung eines Prozesses, ohne die es überhaupt unmöglich ist, unser Denken aus der Logik in die Dialektik zu überführen.«100 Aus diesen Verweisrelationen lassen sich grundlegende Einsichten gewinnen, wodurch die Bildstatistik distinkt für eine materialistische Semiotik geöffnet wurde.

99 | Neurath rezipiert Peirce erst, und das auch nur summarisch, nach der Publikation von dessen Collected Papers (1931–35). Auf Peirce’ semiotische Studien kommt er nicht zu sprechen. 100 | Tretjakov 1972c.

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Je abstrakter die einzelnen Figurensignaturen der Bildstatistiken konzipiert waren, desto leichter ließen sie sich mit Bedeutung aufladen. Arntz begriff den formalen, vom figurativen Konstruktivismus inspirierten Abstraktionsgrad der Piktogramme als seinen genuin künstlerischen Beitrag zur Wiener Methode, so dass man sogar vom »Stil der Kölner Progressiven in der Wiener Bildstatistik« sprach.101 Die offenkundigen Differenzen, die zwischen ihm und Neurath hinsichtlich der künstlerischen Bewertung der Bildstatistik bestanden, wurden dadurch keinesfalls geringer. Im Gegenteil, Neurath grenzte sein nach strengen Regeln entwickeltes Konzept des »Sachbildes«  – eine Wortprägung, die in semantischer Korrespondenz mit der »Neuen Sachlichkeit« steht  – kategorisch von der nach individuellem Ausdruck und ästhetischer Anmutungsqualität strebenden Kunst ab.102 Anders die neusachliche Fotografie, die mit ihrem dokumentarischen Ansatz Neuraths Anspruch an Bilder erfüllte: »Tatsachenmaterial« optisch hervorzuheben, ohne »ästhetische Gefühle« zu erzeugen.103 Die Gemälde »großer Meister« mochten »wunderbare Werke« sein, Neurath betrachtete sie vorrangig als Teil eines größeren »Gesellschaftsmusters«, das sich aus Wohnungen, Bauwerken, Städten, Kleidung und anderen Produkten menschlicher Arbeit zusammensetzte und durch einen kulturellen Zeitmarker geprägt war.104 Wenn es galt, die pittoreske Wirkung der Bildstatistik zu begründen, verwies Neurath auf das kartografische Methodenreservoir, aus dem er in vielerlei Hinsicht geschöpft hat. Die »malerische Wirkung« werde wie bei einem Kartogramm durch die Eintragung von Mengen erzeugt.105 Dieses halbherzige Zugeständnis an Arntz’ künstlerischen Anspruch versuchte geflissentlich über die Tatsache hinwegzutäuschen, dass dem Farbcode der Zeichen ein rein informationeller Wert zufiel, der obendrein in Konventionen verhaftet war: Rot stand für Industrie, Grün für Landwirtschaft und Schwarz war negativ besetzt.106 Anders formuliert: Neurath lehnte die Anerkennung der Bildstatistik als »Kunstgebilde« 101 | Arntz 1988, S. 24. 102 | Vgl. Neurath 1991i. 103 | Neurath 1991g, S. 255. 104 | Vgl. ebd., S. 247. 105 | Neurath 1991i, S. 166. 106 | Vgl. Neurath 1936, S. 50.

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unnachgiebig ab – ein ewiger Streitpunkt mit Arntz.107 Für den »Gesellschaftsingenieur« zähle nur die quantitativ-kritische Analyse, nicht die qualitativ-kritische Malerei, monierte der Künstler-Grafiker und zog die Konsequenzen: Für seine »private Grafik« suchte er gezielt Verbreitungskanäle außerhalb des Neurath-Zirkels.108 Messbarkeit, Planbarkeit, Berechenbarkeit, das waren die Kriterien, die Neurath zur systematischen Gestaltung des sozialen Lebens und Wirtschaftens anlegte. Und die Kunst mit ihren »unbewußten Teilhandlungen« und den nicht näher »bestimmbaren Allgemeinfolgen« erfüllte keines dieser Kriterien. Als sich der habilitierte Nationalökonom 1919 für die Planwirtschaft als neue »Gesellschaftstechnik« aussprach, orientierte er sich an Naturwissenschaften wie der Physik oder Chemie, da sie Kausalzusammenhänge herstellen konnten. Aus den »ästhetischen Wirkungen« eines einzelnen Bildes oder einer ganzen Kirche, so die positivistische Begründung, ließen sich nicht in vergleichbarem Maße theoretische Axiome ableiten wie beispielsweise aus den »Hubwirkungen einer Pumpe«.109 Der Subjektivismusverdacht gegenüber der bildenden Kunst begründet Neuraths distanzierte Haltung, die sich als gemäßigte Form der Abneigung zu verstehen gab. Selbst Werke von »bedeutenden Malern« mit »naturalistischen Darstellungen von Fabriken, Maschinen, Straßen, Menschentypen« stufte er als durchweg ungeeignet ein, um aufklärerische Ziele zu verfolgen.110 Die Begründung, warum im epistemischen Wettstreit zwischen Malerei und Bildstatistik letztere als Sieger hervorging, blieb Neurath schuldig. Statt seiner hat sie August Tschinkel vor dem Hintergrund der Erfahrungen, die er als Grafiker am Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum gewonnen hatte, immerhin angedeutet: »das fabrikbild zeigt einzelmenschen als wirkliche bestandteile eines betriebes, die der unternehmer zahlenmäßig kalkulieren kann, wie anderes inventar. das zu zeigen ist wichtiger als runzeln und schweißtropfen. wo der mensch in der masse,

107 | Vgl. Neurath 1991i, S. 159, 161. 108 | Vgl. Arntz 1977, S. 14; Arntz 1982b. 109 | Neurath 1919, S. 2. 110 | Neurath 1991i, S. 154.

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die masse im produktionsrhythmus aufgeht, werden die bisherigen pathetischen massendarstellungen als verschiedene spielarten des defreggerstils erledigt.«111

»Runzeln« und »Schweißtropfen« allein, die auf die Empathiefähigkeit des Betrachters abzielen, reichten nicht hin, um quantitative Argumente mit politischer Sprengkraft zu schmieden. Die mengenmethodische Kritik, wie sie die Bildstatistik mit ihren sozioökonomischen Informationen an den gegebenen Arbeitsverhältnissen übte, löste sich bei den idealisierenden Gemälden in populärem Wohlgefallen auf. Neuraths Vorbehalte gegenüber »bedeutenden Malern«, sprich der Hochkunst, gründeten in deren mangelndem Potenzial zu profunder Gesellschaftskritik. Was nun Arntz’ Verhältnis zur bildenden Kunst anlangt, so war und blieb sie eine wichtige Referenz – nicht die russische »Maschinenromantik«, wohl aber die »Maschinenkunst«.112 El Lissitzky, Tatlin oder Malevicˇ , die in den zwanziger Jahren alles andere als »naturalistisch« arbeiteten, eröffneten ihm neue künstlerische Perspektiven. Gelegentlich wird suggeriert, dass darin ein übernationaler Kulturtransfer zu erkennen sei, der mit dem Einfluss der russischen Avantgarde auf die deutsche Nachkriegskunst begonnen und dann über Arntz’ stilprägende Ausformung der Wiener Bildstatistik auf die Sowjetunion zurückgewirkt habe. Diese These müsste allerdings noch herausgearbeitet werden.113 Erst dann würde klar, ob es sich hier um eine formale Zirkelbewegung oder einen gedanklichen Zirkelschluss handelt. So sehr die kunstwissenschaftliche Literatur den Einfluss des russischen Konstruktivismus auf Arntz geltend gemacht hat, so vage sind die Evidenzen in dessen Frühwerk. Schon eher scheint zuzutreffen, was Arntz mit Blick auf seine eigenen Vorbilder ostentativ so formuliert hat: »Es braucht da nicht alles von […] Rußland zu kommen.«114 Vielmehr war es Arntz, der nach Russland ging und für sich eine lineare Karriere mit Stationen in Köln, Wien und Moskau reklamierte.115

111 | Tschinkel 1930. 112 | Vgl. Arntz 1977, S. 9. 113 | Z.B. Stadler 1984, S. 239; Stöppel 2014, S. 204. 114 | Arntz 1977, S. 10. 115 | Vgl. Arntz 1982a, S. 32.

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Bei aller gebotenen Skepsis gegenüber Künstleraussagen: Die prägenden Einflüsse auf den Kölner Progressiven waren breiter gestreut und damit auch diffuser. Sie reichen von Frankreich (Puristen) über Holland (De Stijl) und Deutschland (Expressionismus, Dada) bis in die Sowjetunion (Konstruktivismus). Arntz hat sich, und das darf man ihm abnehmen, die »Erfahrungen« der zeitgenössischen Kunst in einem viel umfassenderen Sinn für seine eigene Arbeit zunutze gemacht.116 Er war eher Synkretist als Stilkonformist. Mit seinem breit gefächerten Ansatz bestätigt Arntz einmal mehr die Annahme, dass moderne Schaubilder mit der »abstrakten Kunst« eng verknüpft sind, die sie zugleich um eine neue Facette bereichern.117 Denn »eine statistik hat andere elemente und gesetze als die malerei, da die proportionen durch die realität der menge von dingen gegeben ist [sic] und eine harmonisierung auf der tafelfläche nicht möglich ist, wenn der inhalt in seinen gegensätzen klar werden soll«.118 In der Konvergenz von Zweck und Form, wie sie die Bildstatistik angestrebt hat, erblickte Arntz denn auch die beste Entfaltungsmöglichkeit für die von ihm vertretene »soziologische Grafik« (Neurath). Nach außen verlieh er seinem Status als Künstler sichtlich Nachdruck, indem er neben dem Brotberuf als Grafiker des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums immer wieder an Gruppenausstellungen teilnahm. Selbst in Moskau präsentierte Arntz 1933, zeitparallel zu seiner Tätigkeit bei Izostat, einige figurativ-konstruktivistische Arbeiten im Museum für neue westliche Kunst.119 Zu sehen waren Holzschnitte mit »starkem politischen Inhalt« in »vereinfachster [sic] Form«, wie Heinrich Vogeler in einer Rezension zusammenfasst.120 Als unbeabsichtigter Nebeneffekt dieser Beschreibung entsteht der Verdacht, dass die von Arntz im rekursiven Unterschied zum Kommerz entwickelten Kunstwerke sich nur unmerklich von seinen Auftragsarbeiten unterschieden. Die Differenzqualität zwischen Kunst und Gebrauchsgrafik, um die sich seit dem 19. Jahrhundert unter Anregung der Arts and Crafts 116 | Vgl. Arntz 1930, S. 30; Arntz 1980, S. 4. 117 | Vgl. Leeb 2012a, S. 9. 118 | Arntz 1930, S. 30. 119 | Vgl. Arntz 1988, S. 32; Vogeler 1933. 120 | Vogeler 1933. Auf der Ausstellung war auch Peter Alma vom Wiener Team vertreten.

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Movement subtile theoretische Diskurse entsponnen hatten, auf  denen Arntz Anfang des 20. Jahrhunderts aufbauen konnte, wird in Vogelers Besprechung nivelliert. Die getroffene Aussage über Arntz’ freie Kunst charakterisiert auch dessen angewandtes Können, wodurch die Bemühungen um künstlerischen Distinktionsgewinn zumindest beschreibungstechnisch zunichte gemacht werden.121 Im Vergleich mit den frühen Bildstatistiken des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums zeichnen sich die in der Sowjetunion angefertigten diagrammatischen Artefakte durch einen »viel einheitlicheren Stil« aus, wie Arntz befriedigt feststellen konnte, nachdem er selbst maßgebend zur Entwicklung der Wiener Methode beigetragen hatte.122 Spätestens 1930 war sie voll ausgereift. Die innere Konfliktlogik, die sich aus dem künstlerischen Selbstanspruch einerseits und der notwendigen »Berufsarbeit« andererseits ergab, schien sich endlich aufzuheben, hatte sich Arntz doch gegen die »alten Reste« Neurath’scher Prägung erfolgreich durchsetzen können.123 Von daher verbot es sich für ihn, die in Teamarbeit entwickelte Mengenbild-Methode als »Methode Neurath« zu bezeichnen.124 Sie wurde von Neurath selbst »Wiener Methode« genannt, um sich nicht zuletzt für die finanzielle Unterstützung durch die Gemeinde Wien beim Aufbau des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums erkenntlich zu zeigen.125

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als

K ollek tivform (el)

Was Arntz nicht ahnen konnte, als er 1930 für einen figurativen Konstruktivismus in der Bildstatistik plädierte, war, dass sich der Silhouettentypus des Arbeiters in der UdSSR nur mit Beharrungsvermögen durchsetzen ließ. Er passte nicht ins sozialistische Konzept

121 | Nichts davon hat die kunstwissenschaftliche Forschung zur Kenntnis genommen, wie ihr auch entgangen ist, dass Arntz’ Ausstellungsbeteiligung 1933 in Moskau in der einschlägigen Literatur über den Künstler fehlt. 122 | Vgl. Arntz’ Manuskript vom 3.7.1972, zit. in: Broos 1976, S. 54. 123 | Vgl. ebd.; Arntz 1977, S. 14. 124 | Vgl. Arntz 1980, S. 6. 125 | Vgl. Neurath 1982, S. 25.

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Abb. 86: Anstieg der Zahl der Arbeiter und Angestellten bei uns und Anstieg der Zahl der Arbeitslosen bei ihnen (USA, England, Deutschland), 1932

des »neuen Menschen« als Heldenfigur.126 Kaum waren die ersten Bildstatistiken in Izvestija veröffentlicht, hagelte es von höchster Stelle Kritik, in der bereits ein Grundprinzip des späterhin von der Staatsführung durchgesetzten »Sozialistischen Realismus« vorweggenommen wurde. Der Erste Sekretär des Moskauer Parteikomitees, Lazar Kaganovicˇ , ordnete an, dass die Figuren mit allergrößter Sorgfalt ausgewählt werden müssten, damit »Arbeiter und Bauer nicht wie Tölpel« aussehen.127 Dies sagte einer, dessen Porträts im Riesenformat, Seite an Seite mit denen von Stalin, die konstruktivistischen Gestaltungsansätze bei den Straßendekorationen an Festtagen längst verdrängt hatten.128 ­Kaganovicˇ s Kritik zeitigte ihre Wirkung. In Izvestija erschienen noch ein gutes Dutzend Schaubilder, die Arntz’ unverstellte 126 | Vgl. Kiser [1932], S. 7, 132; Arntz 1980, S. 4; Arntz 1988, S. 35. 127 | Vgl. Kaganovicˇ in einem Brief an Avel’ S. Enukidze vom 11.4.1932, zit. in: Köstenberger 2013, S. 279. 128 | Vgl. Arntz 1988, S. 33.

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Handschrift trugen, bis die Serie »U nas i u nich« nach dem 20. September 1932 ohne Illustrationen fortgesetzt wurde.129 Derweil legte die Vereinigung der Staatsverlage unter dem Titel U nas i u nich (1932) die Ergebnisse der XVII. Konferenz der Kommunistischen Allunionspartei in 36 »künstlerischen Diagrammen« vor, anhand derer sich die wechselseitigen wiewohl widerstreitenden Einflüsse von Neurath und Ivanickij exemplarisch studieren lassen (Abb. 86).130 Am leichtesten fiel den russischen Zeichnern die Adaption des von Arntz verpönten Retrostils der Wiener Bildstatistik (Abb. 63). Auf Kaganovicˇ s Vorwurf der »Gesichtslosigkeit« von Arntz' Figuren, die freilich in einem größeren kunsthistorischen Kontext eingebettet sind – man denke nur an Malevicˇ s Bauern-Darstellungen aus den dreißiger Jahren –, folgten interne Diskussionen (Abb. 87). Der durchgängige »Schematismus«, Arntz’ große Leistung auf dem Gebiet der Bildstatistik, wurde von den Russen als zu »trocken« und »leblos« aufgefasst.131 In künstlerischer Hinsicht wünschte man sich markantere und lebhaftere Arbeiten. Die »Gesichtslosigkeit« wurde als »westliche Form« gebrandmarkt, da sie ein klares Bekenntnis zum Aufbau der UdSSR vermissen ließ, wenn sie nicht gar in die Nähe der Rosta-Fenster aus der Bürgerkriegszeit gerückt wurde. Anders als im hyperimage der Plakatkunst von Vladimir Lebedev und Vladimir Majakovskij wurde der figurative Schablonenstil in der Bildstatistik gleichwohl geduldet, denn jeder Versuch, in Arntz’ Figuren Augen und Münder zu zeichnen, geriet zur Karikatur. Die Bildzeichen konnten per se nicht individuell sein, weil sie für natürliche Zahlen standen und nicht für einzelne Personen.132 Der schematisierte Typus als Kollektivform und -formel  sollte subjektive Interpretationsmöglichkeiten, an denen Kritikern aus dem Kreml aus ideologischen Vorbehalten wie nostalgischen 129 | Izvestija druckte in 28 Ausgaben Bildstatistiken nach der Wiener Methode ab. Zu den bei Köstenberger 2013, S. 279 Fn. 1125, aufgelisteten 19 Nummern sind noch folgende 9 zu ergänzen: Nr. 79, 20.3.1932, S. 2; Nr. 165, 16.6.1932, S. 3; Nr. 167, 18.6.1932, S. 3; Nr. 171, 22.6.1932, S. 3; Nr. 201, 22.7.1932, S. 3; Nr. 213, 3.8.1932, S. 3; Nr. 231, 21.8.1932, S. 3; Nr. 243, 1.9.1932, S. 3; Nr. 261, 20.9.1932, S. 3. 130 | Vgl. Sverdlin 1932b. 131 | Vgl. Vasil’evskij 1934, S. 19. 132 | Vgl. Arntz 1977, S. 13.

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Abb. 87: Kazimir Malevicˇ, Zwei männliche Figuren, um 1930–32 Abb. 88: Wachstum der Industrie und des industriellen Proletariats nach Aufhebung der Leibeigenschaft, um 1939

Vorlieben so viel gelegen war, konsequent unterbinden.133 Noch bevor Aleksandr Berezin, ab 1935 Direktor von Izostat, alle Mitarbeiter kategorisch zu »mehr ›russisch‹ anmutenden Figuren« und Piktogrammen mit »illustrativen Zeichnungen« verpflichtete, war es innerhalb des Instituts zu einer regelrechten Sezession gekommen. Eine kleine Gruppe hatte begonnen im Sinne des Sozialistischen Realismus an Figuren mit Augen und Ohren zu arbeiten.134 Eine kleine Gruppe hatte begonnen im Sinne des Sozialistischen Realismus an Figuren mit Augen und Ohren zu arbeiten.135 Es wurden Bildstatistiken in einem volkstümlicheren Stil angefertigt, um kulturell geprägte Sehgewohnheiten zu befriedigen und wieder stärker mittels diagrammatischer Stimmungsbilder zu emotionalisieren. Der homo sovieticus bekam zwar sein heroisches Antlitz zurück, in der Bildstatistik durchsetzen konnte er sich mangels Überzeugungskraft trotzdem nicht (Abb. 88–89). Im Unterschied zu seinen russischen Künstlerkollegen, die sich die Zukunft ausmalen und Maschinen frei erfinden konnten, hatte 133 | Vgl. Tschinkel 1931. 134 | Vgl. Arntz 1988, S. 35; Berezin 1988, S. 62. 135 | Vgl. Neurath 1971, S. 13.

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Abb. 89: Soja Dejneka, Kohlenförderung in der UdSSR und Stahl­­g e­w innung in der UdSSR, 1939

sich Arntz bei der Wiedergabe von Fahrzeugen und technischen Anlagen an der konkreten Arbeitswelt zu orientieren. Das galt für den Traktor, das erste von Arntz in Moskau entworfene Symbol, wie für den Mähdrescher, beides starke Propagandisten für die Kollektivierung der russischen Landwirtschaft (Abb. 73).136 Auch die Drehbank durfte bei aller grafischen Vereinfachung nicht mit einem Kinderwagen verwechselt werden.137 Jeder Arbeiter sollte seine Maschinen mühelos wiedererkennen. Deswegen genügte es den Russen nicht, wenn Arntz als Rheinländer bei seinem grafischen Entwurf eines Hochofens auf Anschauungsbeispiele aus dem Ruhrgebiet rekurrierte. Denn die Sowjetunion hatte US-Hochöfen importiert, die sich äußerlich von den deutschen unterschieden. Allerdings befanden sie sich noch im Bau. So war Arntz angehalten, die amerikanischen Modelle nach Fotos zu zeichnen (Abb. 90).138 Dieses kuriose Beispiel zeigt, wie schwer sich nationale Sehgewohnheiten auf andere Länder  übertragen ließen. 136 | Vgl. Broos 1976, S. 54; Kiser [1932], S. 93. 137 | Vgl. Arntz 1977, S. 13. 138 | Vgl. ebd.

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Abb. 90: Die Kapitalisten legen die Hochöfen still, und wir nehmen zehn neue in Betrieb, 1932

Die Vorstellung der interkulturellen Tauglichkeit von Bildzeichen war an eine manifeste Grenze gestoßen. Neurath hatte dem Bild viel zugetraut, weil dessen Verständnisschwelle im Vergleich mit der Wortsprache niedriger war. Er ignorierte, dass zum Verständnis der Kontext dazugehört, so wie Aussagen über ein Bild wiederum von Konventionen abhängig sind.139 Das niederschwellige Bildungsangebot allein, das Neurath etwas naiv mit dem Beglückungsfaktor bildhafter Darstellung begründet hat – ein Phänomen, das inzwischen mit dem Begriff der »kognitiven Kongenialität« (David Kirsch) theoretisiert wird –, reichte 139 | Zum Mythos diagrammatischer Effizienzüberlegenheit vgl. Wöpking 2016, S. 53–61.

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nicht hin, um daraus eine ultimative Kulturtechnik für alle zu machen.140 Keine Bildstatistik ist selbstexplikativ. Dieses systemische Erklärungsdefizit visueller Vermittlungsarbeit versuchten die Russen mehr intuitiv als konstruktiv durch gelegentliche Ergänzungen von Parteitagsbeschlüssen oder Lenin- und Stalin-­Zitaten zu beheben – so als ob damit alles Wesentliche zu den jeweiligen Schaubildern gesagt sei (Abb. 72). Addenda dieser politischen Güteklasse leisten allerdings keine Interpretationsarbeit an der Bildstatistik selbst. Unmissverständlich stehen die allgemeinen Verlautbarungen für bildexterne Interessen. Piktogramme, die leichtfüßig wie Charlie Chaplin oder Walt Disney Länderbarrieren überwinden und ungehindert die Kommunikation im globalen Dorf vorantreiben, setzen nicht unbedingt gleich den »kosmischen Menschen« voraus, wie er Marshall McLuhan vorschwebte, wohl aber eine offene Bildkultur, die sich auf Neuraths methodisches Grundprinzip der Faktenökonomie als einer (fast) textfreien Darstellungsform verständigt hat.141 Und der Boden dafür war keinesfalls überall in Sowjetrussland vorbereitet. Vielmehr stand die Bildstatistik als universelles Mengenbild in einem prekären Spannungsverhältnis zu jener visuellen Erziehungskultur, die in traditionellen, regional bestimmten Vorstellungen verhaftet blieb. Weit aufgeschlossener gegenüber Informationsgrafik mit innovativem Anstrich als mancher Kreml-Politiker zeigte sich naturgemäß die Avantgarde. Vor allem Künstler haben die »neuartigen Karten und Diagramme mit Symbolen« aus Wien schnell rezipiert und akzeptiert.142 Einer von ihnen war El Lissitzky, der sich bereits bei seinen Entwürfen für das Kinderbuch Die vier Grundrechnungsarten (1928) von der Bildstatistik inspirieren ließ.143 Neurath fühlte sich dem 140 | Vgl. Neurath 1991e, S. 43. 141 | Vgl. McLuhan 1997, S. 76. Zur Kommentarbedürftigkeit des Diagramms vgl. Krämer 2014. 142 | Lissitzky-Küppers 1967, S. 88. Vgl. Krichevskij 1995, S. 67; Minns 2013, S. 258 Fn. 10. 143 | Neurath 1980 und 1982, S. 51: »Danach kamen die Lissitzkys uns in Wien besuchen; Sophie hat mir später erzählt, daß sie dann zur Erholung in die Berge gingen, wo Lissitzky die Tafeln über Buchstaben und Ziffern für Kinder gemacht habe, die seien unter dem Eindruck dieses Besuches gewesen.«

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konstruktivistischen Künstler freundschaftlich verbunden; zusammen traten sie für die Idee einer künstlerischen Internationale unter der Flagge der Bildstatistik ein. Später, Ende der dreißiger Jahre, arbeitete Lissitzky dann mehrfach für Izostat.144 Nach seinem Konzept wurde für den Sowjetpavillon auf der Weltausstellung 1939 in New York ein Album mit Statistiken aufgelegt.145 Ein weiterer Band mit Fotos und Statistiken über Georgien entstand in Zusammenarbeit mit Michail Nikolaev. Der Zeichner und Linolschneider Aleksandr Grigorovicˇ fertigte dazu Karten und Symbole an. Diese »künstlerisch gelungenste« Mappe von Lissitzky konnte kriegsbedingt nicht gedruckt werden, der Entwurf gilt als verschollen.146 International anerkannt, geriet Lissitzky als »linker Abweichler« durch das stalinistische System zunehmend in Bedrängnis. Besonders einschneidend erlebte er das 1930 verhängte Ausreiseverbot, infolge dessen sein Ansehen drastisch sank. Als dann die Tätigkeit von Neurath und seinem Wiener Team in Moskau mit der einseitigen Kündigung des Vertrags zum 1. November 1934 endete und das ausgehandelte Honorar nicht gezahlt wurde, war auch Lissitzky machtlos, denn er konnte seine einst guten Beziehungen zum politischen Führungskader nicht mehr spielen lassen.147 Die Auflösung von Neuraths Vertrag  – kurz vor dem Startschuss zu den Säuberungsaktionen in Partei und Elite – war durch die neue politische Doktrin motiviert; begründet wurde sie mit den aktuellen Entwicklungen in Österreich: dem kurzen Bürgerkrieg im Februar 1934 und der Errichtung des Ständestaats.148 Mit einem Schlag brach Neuraths bildstatistische Aufbauarbeit von insgesamt zehn Jahren in sich zusammen, denn auch Wien bot dem mit Weltanschauungsbürden beladenen Sozialisten keine Zukunft. In dieser schwierigen Situation begann Neurath sein Betätigungsfeld nach Den Haag zu 144 | Vgl. Kap. »L’arte della statistica«, in: Torelli Landini 1995, S. 45–47. 145 | Vgl. USSR [1939]; Lissitzky-Küppers 1967, S. 96; Arntz 1988, S. 32. 146 | Vgl. Lissitzky-Küppers 1967, S. 97. 147 | Eine konzise Darstellung zu dieser »offenen Rechnung« bietet Köstenberger 2013, S. 281 f. 148 | Zu den offen und subtil sich durchsetzenden Machtstrukturen des Stalinismus, denen später auch russische Izostat-Mitarbeiter zum Opfer fallen sollten, vgl. Arntz 1988, S. 30–33; Neurath 1980 und 1982, S. 51, 54 f.

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verlagern und unerschütterlich die Hoffnung zu verbreiten, in ein, zwei Jahren dort an seinen Erfolg anknüpfen zu können.149 Unterdessen ging Izostat unter Berezins Leitung dazu über, die »im Westen« entwickelte Methode einer »wesentlichen Umgestaltung« zu unterziehen.150 Berezins im historischen Rückblick 1988 angefertigte Version der Geschichte von Izostat steht im krassen Widerspruch zu einem Kurzreport, den die österreichische Grafikerin und Architektin Edith Matzalik 1935 verfasst hat. Als überzeugte Kommunistin war sie trotz der materiellen Mangelsituation in Moskau geblieben. Neurath, der Matzalik aus Holland finanziell unterstützte, erhielt als Dank einen Lagebericht über die aktuelle Situation bei Izostat. Da diese Quelle nur schwer zugänglich ist, wird die entscheidende Briefpassage ungekürzt wiedergegeben: »Allerdings hat mich ja die Arbeit hier wieder einigermaßen gefesselt, denn gerade in meiner Abteilung ist noch alles am erträglichsten, da pfuscht kaum jemand drein. Aber auch sonst ist eigentlich ›Wiener Methode‹ obenauf, vorallem auch was die formale Seite betrifft, da trotz vieler unablässiger Versuche mit Naturalismus nichts gescheites herauskommt – was zu beweisen war. Alles leidet nun entsetzlich unter Materialmangel; Farben, Pinsel, Papiere sind gräßlich, bei jeder Nachschaffung anders schlecht, keine Markenware, keine Kontinuität. Dabei dauernde Umorganisierung innerhalb des Betriebes sowohl räumlich als auch in der Besetzung der einzelnen Posten. Eigentlich doch dauernde Vergrößerung, z.B. Lithographie im Haus, neue große Presse, eigenes Lastauto. Gleichzeitig aber wie früher fast nur Arbeiten für Ausstellungen, kaum Arbeiten für die Presse oder eigene Veröffentlichungen. Grund: ein merkwürdiges starres Kleben an der von Wien gelernten, für Höchstleistungen unerläßlichen, Exaktheit in der Ausführung auch für Eintagserzeugnisse. Nebst vielen anderen Sünden. Daher ewiges Nachhinken hinter den Ereignissen und ewiges Wiederkauen oller und ältester Kamellen.«151

149 | Vgl. Carnap 1908–37, Eintrag vom 22.2.1934. 150 | Vgl. Berezin 1988, S. 62. Dort werden Neurath oder die Wiener Methode mit keinem Wort erwähnt. 151 | Matzalik 1935, S. 3 f.

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Die wechselvolle Geschichte des Allunionsinstituts für Bildstatistik für Sowjetaufbau und -wirtschaft, das mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs aufgelöst wurde, ist noch nicht geschrieben worden. Die wenigen Aufsätze, die sich mit Neuraths Tätigkeit in der Sowjetunion von November 1931 bis November 1934 beschäftigen, stützen sich auf persönliche Aufzeichnungen, beleuchten individuelle Vernetzungen und institutionelle Verflechtungen, die den Transfer der Wiener ­Methode in die UdSSR begünstigt haben.152 Gemeinsam tragen sie zu einer historiografischen Bestandsaufnahme bei. Keiner der Autoren versucht ernstlich die Gründe auszuloten, die Neurath dazu bewogen haben mochten, sich und die Wiener Methode für die sowjetische Sache instrumentalisieren zu lassen. Auch nicht der visuelle Kommunikationsexperte Clive Chizlett, der – ungeachtet sachlicher Fehler, die ihm bei seiner Argumentation unterlaufen sind  – in Neurath einen Handlanger der Sowjets erblickt.153 Sein Vorwurf: Das statistische Erhebungsverfahren bleibe unklar, Neurath nenne keine Quellen. Das Dilemma mit den prognostizierten Zahlen war jedoch seinerzeit allen Izostat-Mitarbeitern bekannt. Wenn etwa die Anzahl der Traktoren falsch war, weil ein Drittel der Fahrzeuge unmittelbar nach der Produktion in der Reparaturwerkstatt landete, dann spiegelten sich derlei Veränderungen »nicht so schnell« in den Schaubildern wider (Abb. 73).154 Die Beobachtungsfakten standen im Widerspruch zu den Planzahlen, Soll und Ist drifteten unvereinbar auseinander. Chizlett siedelte die Wiener Methode daher zwischen Kunst (»objets d’art«) und Propaganda an.155 Die Frage aber bleibt bestehen: Warum begab sich ein bekennender Wissensdemokrat wie Neurath in die heikle Situation, seine als Instrument der Volksaufklärung entwickelte Bildstatistik dem Sowjet­staat zur Disziplinierung der Bevölkerung als agitatorisches Erziehungsbild 152 | Vgl. Krichevskij 1995; Köstenberger 2012; Köstenberger 2013; Minns 2013. 153 | Vgl. Chizlett 1992; und zur Kritik an Chizlett vgl. Kinross 1994. 154 | Vgl. Arntz 1977, S. 12. 155 | Vgl. Chizlett 1992, S. 303.

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anzubieten? Mindestens vier Antworten lassen sich darauf geben. Die erste: Neurath war in den zwanziger Jahren sichtlich beeindruckt von den ungeheuren Anstrengungen der UdSSR, eine neue volkswirtschaftliche Struktur aufzubauen. Als überzeugter Planwirtschaftler lag es für ihn nahe, dieses gigantische Projekt mit bildstatistischen Mitteln zu unterstützen, ohne die Augen vor den sozialen und ökonomischen Miseren zu verschließen, die durch den staatlichen Kollektivierungstaumel entstanden waren.156 Im Gegenteil, Neurath zeigte sich von der Entwicklung in den Sowjetrepubliken enttäuscht. Sein Skeptizismus gegenüber der russischen »Lebensgestaltung« nahm mit den Jahren zu, wie sich umgekehrt seine einschlägigen Kommentare mehr und mehr auf die private Korrespondenz verlagerten – ein Effekt zweifacher Emigrations-erfahrung. Die zweite Antwort ist so allgemein wie grundsätzlich. Information wird durch einen ambivalenten Grundzug bestimmt. Sie vermag sowohl von sich aus zur Bildung beizutragen wie unterschwellig Erziehung auszuüben. Alles was als »Aufklärungsmittel« gute Dienste leistet, ließ sich als »Propagandamittel« verwenden. Wie jede »wissenschaftliche Schrift« besaß auch die Wiener Methode das Zeug zum »politischen Kampf- und Werbemittel«.157 Neurath konnte »Unterrichts- und Propagandabehelf« in einem Atemzug nennen, weil sie zwei Seiten ein und derselben Medaille waren. Mehr noch, Neurath bekannte sich zur bildstatistischen Agitation mit politisch eindeutiger Ausrichtung. Ohne Scheu vor Selbstverherrlichung griff er auf eine Sprache zurück, die, pathetisch gemixt aus ideologischen Sentenzen und biblischen Wendungen, sich selbst überhöht: »Die Sozialdemokratie ist stolz darauf, daß sie ihre Propaganda vor allem durch wissenschaftliche Mittel, das heißt durch Mittel der Einsicht und der Aufklärung betreibt! Die Bildstatistik ist Fleisch vom Fleische der wissenschaftlichen Weltauffassung, ist Fleisch vom Fleische der empiristischen Grundeinstellung, ist Fleisch vom Fleische des Marxismus!«158

156 | Vgl. Neurath 1981e, S. 231. 157 | Neurath 1929, S. 3. 158 | Ebd.

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Neben volkswirtschaftlichen Maximen und weltanschaulichen Überzeugungen dürfte, und das wäre die dritte Antwort, ein psychologisches Moment für Neuraths Kooperation mit Moskau ausschlaggebend gewesen sein: gesteigertes Geltungsbedürfnis. Die erhoffte Anerkennung, die dem Leiter des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums mangels Aufträgen als indirekte Folge der Weltwirtschaftskrise ab 1929 in der Schrumpfrepublik Österreich versagt blieb, nämlich die Bildstatistik landesweit ausbauen zu können, schien der größte Flächenstaat der Welt in Aussicht zu stellen. Alternativlos hörte sich auch das Versprechen an, das die russischen Unterhändler in den Vorverhandlungen gegeben, später aber nicht mehr eingelöst hatten: die Errichtung eines eigenen Institutsgebäudes »mit allen erforderlichen Versuchseinrichtungen« sowie den Bau eines »großen Museums« in Moskau.159 Stattdessen erhielt Neurath Arbeitsräume in der Bol’sˇoj komsomol’skij pereulok 9, auf die sich der didaktische Wirkradius in der Selbstwahrnehmung der Wiener Gruppe beschränken sollte, auch wenn Bildstatistiken für Ausstellungszwecke bis nach Alma-Ata oder As¸ gabat gelangten.160 1933 wurde eine Izostat-Filiale in Char’kov, Ende 1934 eine in Dnipropetrovsk eröffnet, über deren Aktivitäten wenig bekannt ist.161 Neurath konnte es als Erfolg verbuchen, dass während der drei Jahre, in denen die Wiener ihre Methode bei Izostat lehrten und praktizierten, der Mitarbeiterstab auf 75 Personen angewachsen war.162 Das war ein Drittel mehr als das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum in seinen Glanzzeiten beschäftigen konnte.163 Zu Neuraths ungebrochenem Sendungsbewusstsein gehörte auch, dass die Wiener Methode, zunächst für die Arbeiterbildung im Roten Wien der Nachkriegszeit entwickelt, für die Analphabeten in der »übrigen Welt«, allen voran in Afrika, bestimmt war.164 Kaum hatte Sowjetrussland 159 | Vgl. Neurath 1991a, S. 208. 160 | Vgl. Neurath 1971, S. 13; Vasil’evskij 1934, S. 19. 161 | Vgl. Neurath 1991g, S. 256; Köstenberger 2013, S. 281. Peter Alma war grafischer Leiter in Char’kov; vgl. Arntz 1977, S. 12. 162 | Vgl. Neurath 1971, S. 13; Neurath 1980 und 1982, S. 54. 163 | Je nach Auftragslage schwankte die Zahl der Mitarbeiter in Wien zwischen 24 und 50 Personen. Vgl. Burke 2013, S. 62. 164 | Vgl. Neurath 1982, S. 29 f. Zu dieser nicht ganz unproblematischen Quelle vgl. Kindel 2013, S. 449 Fn. 1.

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die Bildstatistik adaptiert, trug sich Neurath mit Ausbauplänen für Indien und China.165 »Der nördliche Teil der Erde scheint bereits für das Prinzip der Bildstatistik gewonnen«, diktierte er mit einem Anflug von Megalomanie in der Zeitschrift Survey Graphic den Amerikanern auf ihre nationale Agenda. »Jetzt wird sich die Bewegung auch über die südliche Hälfte ausbreiten müssen, besonders in die weiten Gebiete, wo der Analphabetismus noch vorherrscht.«166 Die »pädagogische Weltbedeutung«, die Neurath der Wiener Methode auf ihrem globalen Erfolgskurs zuschrieb, schützte ihn nicht vor persönlichen Krisen.167 Hohe Ansprüche an die eigene Arbeit und beklemmende Selbstzweifel bilden Extreme eines in Summe ausgewogenen Psychohaushalts. Vor dem Hintergrund beruflicher Rückschläge zielt die vierte Antwort auf ökonomische Erwägungen ab. Neuraths Engagement für Izostat stellt nicht zuletzt den Versuch dar, die durchaus reale Gefahr eines Bankrotts des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums abzuwenden. Diese hat der ehemalige Mitarbeiter Rudolf ­Brunngraber in seiner literarischen Aufarbeitung dieser Zeit als düstere Szene aus-  gestaltet.168 Aus dem Preis, den er und seine Mithelfer für die Entfaltungsmöglichkeiten der Bildstatistik in den euroasiatischen Sowjetstaaten zahlten, machte Neurath indessen keinen Hehl: »ideologische Abstinenz« und die Beschränkung auf technische Vermittlungsarbeit.169 Vertraglich war ihm zwar jegliche künstlerische Freiheit zugebilligt worden, doch es durfte nur mit offizieller Genehmigung publiziert werden.170 Daran änderte auch Arntz’ nachträgliche Beschönigung nichts, wonach die Wiener aufgefordert waren, den Russen Paroli zu bieten.171 Das letzte Wort hatten sie nie. 165 | Vgl. Carnap 1908–35, Eintrag vom 8.7.1933. 166 | Neurath 1991g, S. 257. 167 | Vgl. Neurath 1991k, S. 243. Zur mentalen Befindlichkeit Neuraths in den Jahren 1932 und 1933 vgl. Neurath 1971, S. 13; Carnap 1908–35, Eintrag vom 8.7.1933. 168 | Vgl. Brunngraber 1949, S. 208–220. 169 | Neurath in einem Brief an Rudolf Carnap vom 1.10.1932, zit. in: Galison 1995, S. 675. 170 | Vgl. Neurath 1971, S. 13. 171 | Vgl. Arntz 1977, S. 13; Arntz 1980, S. 6.

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Angesichts leerer Versprechungen und politischer Repressalien sowie einer unbeglichenen Honorarforderung erwies sich Neuraths Zusammenarbeit mit Moskau als berufliche Enttäuschung. Zu welchen Höhenflügen die bildhafte Pädagogik indessen imstande war, hat Neurath mit der Gründung des Mundaneum-Instituts 1934 in Den Haag und des Isotype-Instituts 1942 in Oxford gezeigt – alles Anstrengungen, die Wiener Methodik unter den Bedingungen der Emigration fortzuführen und zu verbessern. Grund genug, sich rückblickend über das Moskauer Abenteuer bedeckt zu halten. In Neuraths »visual autobiography«, die thematisch auf die Erfindung und den Erfolg der methodischen Bildpraxis aus Wien in der westlichen Welt hinausläuft, wird die russische Episode mit keinem Wort erwähnt.172

172 | Vgl. Neurath 2010.

4  DIAGRAMMATISCHE KUNST

Stephan von Huenes Mind-Map-Methode D as D iagr amm

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G edächtnisform

»Mind Map« ist ein markenrechtlich geschützter Begriff, den der britische Psychologe Tony Buzan in den frühen siebziger Jahren für eine Aufzeichnungstechnik geprägt hat, die eine effizientere Nutzung geistiger Fähigkeiten unabhängig vom Alter versprach.1 Mithilfe zahlreicher populärwissenschaftlicher Publikationen und internationaler Schulungsveranstaltungen konnte Buzan seine grafische Memorierund Organisationsmethode weltweit verbreiten. Gleichwohl wird »Mind Map« gern mit »Mental Map« verwechselt oder gar synonym gebraucht. Tatsächlich besteht zwischen beiden Begriffen eine definitorische Trennschärfe. Während »Mind Map« im Rahmen von Buzans Kopftraining für ein diagrammatisches Strukturschema steht, wurde der Ausdruck »Mental Map« von dem britischen Geografen Halford J. Mackinder 1919 geprägt. Mit der Mental Map versuchte Mackinder die von der Kartografie bewirkten Denkstrukturen und Wirkungsmuster deutscher Realpolitik seit 1800 zu fassen, also die imaginativen Korrelate zur topografischen Karte.2 Mackinder sprach von einem regelrechten »map habit of thought«, einem Karten-Habitus des Denkens, von dem seiner Auffassung nach nicht nur ökonomische, sondern alle strategischen Entscheidungen geprägt seien.3

1 | Vgl. http://www.tonybuzan.com/about/mind-mapping (aufgerufen: 1.12.2016). 2 | Vgl. Mackinder 1996, S. 15 f. Von Mackinders Definition unterscheidet sich z.B. Franz Ackermanns Begriff der »Mental Maps«. Seine gleichnamigen Gemälde stehen als kartografische Psychogramme bzw. Bestandsaufnahmen von Handlungsformen in der Tradition der Mentalitätsgeschichte. Vgl. Glasmeier 2003, S. 20 f. 3 | Mackinder 1996, S. 16.

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Dagegen ist die Mind Map ein Lehrbild der grafischen Gedächtniskunst, die Buzan durch neuere Erkenntnisse der Gehirnforschung begründete. Als Ratgeberliteratur ist sein Buch Use Your Head (1974) mit kognitionswissenschaftlicher Theorie aufgeladen. Das Konzept der Denkkarte wird auf die Forschung des amerikanischen Neurologen Roger Sperry zurückgeführt, der für den Nachweis einer komplexen Zweiteilung des menschlichen Gehirns und damit einer Funktions­trennung beider Hemisphären 1981 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde.4 Robert Ornstein, den Buzan in diesem Zusammenhang ebenfalls zitiert, hatte mit seinen Untersuchungen zur Funktionsspezialisierung der Hemisphärentheorie erfolgreich zugearbeitet.5 Gemäß dieser Theorie dominieren in der linken Gehirnhälfte linear-arithmetische, also rationale, in der rechten Gehirnhälfte räumlich-bildliche und emotionale Prozesse. Durch einseitiges Training können zwar spezielle Fähigkeiten ausgebildet werden, das eigentliche Potenzial zu geistigen Hochleistungen liegt jedoch in der Vernetzung beider Gehirnhälften, in der Synthese aus sprachlichem und bildhaftem Denken. Und genau hier setzt Buzan mit seiner Mind Map als einer Verbindung von Text und Bild an. Für den Aufbau der Denkkarte legte Buzan eine klare Zeichenordnung fest (Abb. 91).6 Im Wesentlichen lassen sich vier konstitutive Merkmale bestimmen: Erstens, das Erinnerungsschema wird durch ein ikonisches Zentrum (hier: der Elefant) geprägt, welches das Hauptthema (in diesem Fall: Gedächtnis) visualisiert. Zweitens, von diesem Leitmotiv aus werden verschiedene Themenfelder über elementare Begriffsketten erschlossen und die Schlüsselwörter systematisch gruppiert. Der leichteren Einprägsamkeit wegen rät Buzan zur Blockschrift. Drittens, jedes Wort wird unterstrichen, die Linien wiederum werden miteinander verbunden. Viertens, neben dem zentralen Bildmotiv lässt sich die visuelle Prägnanz durch den Einsatz von Farbe erhöhen; einzelne Themenfelder können so optisch

4 | Vgl. Buzan 1984, S. 16, 123. 5 | In Huenes Nachlass befindet sich ein intensiv durchgearbeitetes Exemplar von Robert Ornstein, Multimind. A New Way of Looking at Human Behavior, New York 1986. 6 | Vgl. Buzan 1984, S. 102–104, 121 f.

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Abb. 91: Tony Buzan, Mind Map zum Gedächtnis, 1984 Abb. 92: John Holmes, Rhetorick Epitomiz’d. Whereby the ­P rinciples of the whole Art may be learned in an Hour, 1738

markiert werden. Pfeile, Symbole, geometrische Figuren etc. sollen die Anschaulichkeit des Kartogramms zusätzlich verbessern. In der Mind Map kommt jene »symbolische Logik« zur Anwendung, die John Venn in seiner gleichnamigen Abhandlung neben den Wörtern und Buchstaben auch den Diagrammen zugeschrieben hat.7 Als Umschlagplatz von Ideen ermöglicht die Mind Map mittels selektiver Stichwortlisten prinzipiell die vollständige Darstellung jedes Themas. Innerhalb ihrer topologisch-systematischen Raumordnung breiten sich die semantischen Verkettungen, als Statements oder Argumente, als Hypothesenbildung oder Schlussfolgerung, in unterschiedliche Richtungen aus. Diese expandierende Durchgliederung mithilfe eines Liniensystems geht in ihrer diagrammatischen Grundstruktur auf das Baumschema zurück. Buzan macht diesen Zusammenhang explizit, indem er von »Bäumen«, »Hauptästen« oder »Verzweigungen« spricht.8 Begriffsbäume sollen in durchaus pragmatischer Manier das faktische Denken deduktiv leiten, wie beispielsweise John Holmes’ Rhetorick Epitomiz’d, von dem Stephan von Huene eine Kopie besaß (Abb. 92). Die rhetorischen Regeln in Gestalt eines Laubbaums, die 7 | Vgl. Kap. »Diagrammatic Representation«, in: Venn 18942, S. 110–140. 8 | Vgl. Buzan 1984, S. 102; Buzan und North 1999, S. 38 f., 43.

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Abb. 93–95: Antonius de Mercatello, Liber de arte memoria cum commentario, 1426/50, fol. 19v–20r, fol. 21r, fol. 22r

der reformerische Sprachlehrer aus Norfolk 1738 in Kupfer stechen ließ, beruhen auf einem System diagrammatischer Verästelung, das einfach und klar gegliedert ist. An dieses figurative Regelwerk war das explizite Versprechen geknüpft, die Kunst der Rede innerhalb einer Stunde erlernen zu können.9 Das war freilich ein Versprechen, das allein schon durch die Zeit, welche die Lektüre der beiden Begleitbände mit mehr als 170 Textseiten beanspruchte, nicht annähernd eingelöst werden konnte.10 Wie schon Holmes’ geradezu rekordverdächtige Mnemonik, so versprach auch Buzans Mind-Map-Methode die schnelle Aneignung von Wissen und Zusammenhängen. Analog zum arboresken Schema ist die Mind Map gleichfalls ein hierarchisches Verteilernetz. Die vertikale Stufenfolge, die der Baum zwischen unten und oben festlegt, wird in der Mind Map zu einer Hierarchisierung zwischen Zentrum und Peripherie umcodiert. Die Schlüsselwörter sind schrittweise vom Allgemeinen zum Besonderen absteigend geordnet. Damit lässt sich die der Denkkarte innewohnende deduktive Entfaltungslogik vom Wichtigen zum Sekundären perspektivieren. Im Filigranwerk der kleineren Äste führt diese Methode zu immer genaueren Aussagen in der Randzone. In der Mind Map lebt ein Memorierverfahren weiter, bei dem sich ihr selbsternannter Erfinder die antike Gedächtniskunst zum Vorbild

9 | Vgl. Holmes 1738–39. 10 | Vgl. ebd.

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Abb. 96: Raimundus Lullus, Arbor scientiae venerabilis et caelitus, Lyon 1515, S. 123 Abb. 97: Petrus Ramus, Dialecticae institutiones, Paris 1547, S. 57

nahm.11 Zwar setzten auch die artes memoriae Merkbilder ein. Sie wurden im Rahmen einer vielfach an der Architektur, gelegentlich am Baum ausgerichteten Mnemonik an bestimmte loci gebunden und weisen insofern eine gewisse Nähe zur diagrammatischen Praxis auf (Abb. 93–95). Allerdings wurden diese Bilder kaum materialisiert.12 Sie waren vor allem imaginativer Natur und schwebten dem Redner als ikonische Abstrakta vor Augen. Buzan hingegen nutzt die per­ spektivisch gezeichneten Details in der Denkkarte, um eine plastische Wirkung zu erzielen. In gewisser Weise vermischt sich in der Mind Map die lokalistische Gedächtnislehre der Antike mit dem mittelalterlichen Prinzip des Baumdiagramms. So hatte etwa der mallorquinische Philosoph Raimundus Lullus versucht, die gesamte Enzyklopädie des Wissens in einem Wald von Bäumen darzustellen. Diese Wissensbäume appellieren als eine Art von Ortssystem an das visuelle Gedächtnis (Abb. 96).13 Mit dem einsetzenden Lullismus im 16. Jahrhundert wurde dieses Prinzip seitens des Humanisten Petrus

11 | Vgl. Buzan 1984, S. 73–78. 12 | Vgl. Yates 20016. Zur ästhetischen Überhöhung der lokalistischen Gedächtnislehre in Form von Tabellen und Diagrammen vgl. Raible 1991; Bogen und Thürlemann 2003, S. 8. 13 | Vgl. Yates 20016, S. 172.

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Ramus auf die Spitze getrieben.14 Die arboreske Struktur der Zweiteilung, wie sie die Astgabel vorgibt, taucht nun in einer mit den typografischen Mitteln des Buchdrucks erzeugten Vielzahl von geschweiften Klammern auf, die der dialektischen Wissenssystematik eine visuelle Prägnanz verleihen (Abb. 97). Buzan hingegen bricht mit der binären Logik einer ramistischen Weltzergliederung, indem er weit verzweigte Diagramme erstellt. Die grafische Ordnungsmethode eines dualistischen Argumentierens und Kategorisierens prägte die klassischen Memoriertechniken und bestimmte die symbolische Logik ihrer Schemata. In der Mind Map wird sie hingegen zugunsten eines betont assoziativen und folglich auch asymmetrischen Ordnungsmusters aufgegeben. Umgekehrt übernimmt Buzan die systematische Einteilung von Sachverhalten, die sich  – wie gesagt  – schrittweise vom Allgemeinen zum Besonderen gliedert.

Tausend P l ate aus Während Buzan mit seinem patentierten Konzept der Mind Map von Großbritannien aus das Denken in baumförmige Bahnen zu lenken versuchte, wurde im Paris des Poststrukturalismus längst gegen dieses althergebrachte Modell polemisiert: »Das Denken ist nicht baumförmig, und das Gehirn ist weder eine verwurzelte noch eine verzweigte Materie«, betonten Gilles Deleuze und Félix Guattari apodiktisch. »Die zu Unrecht so genannten ›Dendriten‹ stellen keine Verbindung von Neuronen in einem zusammenhängenden Gewebe her.«15 Deleuze und Guattari kämpften in ihrem viel beachteten Kurztext Rhizom gegen den »Baum« an, der vielen Menschen in den Kopf gepflanzt sei. 16 Mit seiner starren, unilinearen und hierarchischen Ordnungsstruktur 14 | Zum Baumdiagramm als universale Beschreibungs- und Argumentationsformel der Renaissance vgl. Siegel 2009, S. 57–80; Bauer 2013. 15 | Deleuze und Guattari 1992, S. 28. Das Zitat ist einer Passage aus dem Kap. »Rhizom« entnommen, die in der ersten und deutlich schlechteren Übertragung von Rhizome. Introduction (1976) ins Deutsche fehlt: Deleuze und Guattari 1977, S. 26. 16 | Vgl. Pacotte 1936, ein Buch, das von Deleuze und Guattari 1992, S. 29, Fn. 14, heftig kritisiert wurde.

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repräsentierte der Baum für sie ein unzeitgemäßes Denkmuster, von dem das abendländische Wissen allzu tief durchdrungen sei: von der Biologie bis zur Linguistik, von der Anatomie bis zur Erkenntnistheorie, von der Ontologie bis schließlich zur gesamten Philosophie.17 Am Modell des büscheligen Rhizoms überführten sie die Baumstruktur in eine regelrechte Anti-Genealogie. Statt deduktiver Monokausalität wurde die Heterogenität des Denkens, statt linearer Einheit die multiple Vielheit propagiert. Alles konnte, ja sollte mit allem verbunden werden. Das Gehirn selbst verglichen Deleuze und Guattari eher mit einem »Kraut oder Gras«. Ähnliches gelte für das Gedächtnis, genauer gesagt für das Kurzzeitgedächtnis, das sie dem »Typus Rhizom oder Diagramm« zuordneten. Anders als das Langzeitgedächtnis, dem sie eine baumartige Struktur zusprachen, schließe das rhizomatische Kurzzeitgedächtnis das »Vergessen als Prozess« mit ein. Es gewähre so die von ihnen favorisierte Diskontinuität, den asignifikanten Bruch und die Mannigfaltigkeit.18 Deleuze und Guattari favorisierten mit dem rhizomatischen Prinzip die Vorstellung von der Vielwurzeligkeit des Wissens und machten ambivalente Komplexitäten zu ihrem philosophischen Grundsatz. Das Wurzelwerk mit seinen mannigfachen Verzweigungen wurde zur Metapher für poststrukturalistisches Denken, in dem die strenge arboreske Systematik der Mind Map implizit in Kritik geriet. Baumsysteme würden mit ihren »Zentren der Signifikanz und Subjektivierung« nur als hierarchisch »organisiertes Gedächtnis« funktionieren.19 Deleuze und Guattari wollten das Rhizom nicht als Modell einer Lerntheorie verstanden wissen. Vielmehr sollten mit diesem offenen Denknetz immer wieder beliebig neue Erkenntnisknoten zwischen den »tausend Plateaus« ihrer Philosophie geknüpft werden.

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Deleuze’ und Guattaris Polemik gegen den Baum als Denkfigur, und mithin gegen die Mind Map als arboreskes Aufzeichnungsverfahren, 17 | Vgl. Deleuze und Guattari 1992, S. 27, 32. 18 | Vgl. ebd., S. 19. 19 | Vgl. ebd., S. 29.

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konnte nicht verhindern, dass Buzans memorativer Zeichentechnik ein beachtlicher Erfolg in Politik und Wirtschaft beschieden war. In der Kunst verhalf Stephan von Huene dem Prinzip des Mind Mapping zum Durchbruch. Huene, der durch seine Klangskulpturen bekannt geworden ist, begann Ende der achtziger Jahre die Denkkarten-­ Methode zu adaptieren. Damals war er 47 Jahre alt. Statistisch gesehen, nimmt in diesem Alter die Gedächtnisleistung sprunghaft ab. Ob darin bereits ein hinreichender Grund für Huenes Interesse an der Mind Map gesehen werden kann, sei dahingestellt. Buzan zeichnete in seinem Buch Kopftraining, so der deutsche Titel von Use Your Head, jedenfalls ein weit positiveres Bild, als es die medizinischen Daten lieferten.20 Folgt man seiner Anleitung zum kreativen Denken, die auf der inhärenten Kapazität des Gehirns aufbaut, dann besteht kein Grund zur Beunruhigung für ältere Generationen: »Die Abnahme beträgt über die Lebenszeit hin wenig mehr als 5 bis 10 Prozent.«21 Diesen kategorischen Satz hatte sich Huene bei der Lektüre angestrichen. Mit dem Kurvendiagramm auf der gegenüberliegenden Seite wird die Rede von der altersbedingten Verringerung der Gedächtnisleistung dann Lügen gestraft. Durch geistige »Konditionierung« bleiben das Erinnerungsvermögen und die Fähigkeit, neue Wissensgebiete zu erschließen, recht konstant, wie die nur geringfügig fallende Linie nach dem 25. Lebensjahr suggeriert. Auf dem nächsten Diagramm wird sogar die Hoffnung geweckt, dass die geistigen Fähigkeiten im Laufe der Jahre gesteigert werden können, wenn man die Gehirnfunktionen nur umfassend nutzt. Wer wollte sich dieser vielversprechenden Denktechnik angesichts derartiger Prognosen ernsthaft verschließen? Buzans Erfolg schien ihm Recht zu geben. Stephan von Huene trug das Seine dazu bei. Mit einem Werkblock von weit über hundert Denkkarten, die zwischen 1989 und 1999, also innerhalb von zehn Jahren entstanden sind, gehört er zu den produktivsten Mind Mappern seiner Zeit. Ein Platz in dem von Denis Wood erstellten Katalog der KartenKünstler hätte ihm daher durchaus zugestanden.22 Wann genau und unter welchen Umständen Huene auf Buzan aufmerksam wurde, wissen wir nicht. Es spricht allerdings vieles dafür, 20 | Vgl. Buzan 1984, S. 51–78. 21 | Ebd., S. 70. 22 | Vgl. Wood 2006.

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dass dies erst Ende der achtziger Jahre und zwar im Zuge seiner geradezu wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Neurolinguistischen Programmieren geschehen ist. Damals befasste sich Huene auch mit Buzan.23 Dessen Klassiker in Sachen Mind Map, Kopf­ training, arbeitete er intensiv durch. Schließlich begann Huene, die Denkkartentechnik für künstlerische Zwecke zu adaptieren.

N eurolinguistisches P rogr ammieren Huenes Umzug von Los Angeles nach Hamburg im Jahr 1980 markiert einen biografischen Einschnitt. Für ihn, der 1932 als Kind deutscher Einwanderer in Kalifornien geboren worden war, setzte die »Reimmi­ gration« nach Deutschland neue Impulse. Dazu gehörte auch die Entdeckung des von Richard Bandler und John Grinder gemeinsam verfassten Buchs Frogs into Princes. Neuro Linguistic Programming (1979), von dem Huene 1985 die deutsche Übersetzung, Neue Wege der Kurzzeit-Therapie. Neurolinguistische Programme, in vierter Auflage erwarb. Die amerikanischen Autoren gelten als die eigentlichen Begründer des Neurolinguistischen Programmierens, kurz NLP genannt. Als Exponenten einer New-Age-Psychologie hatten Bandler und Grinder ein Selbsthilfeprogramm entwickelt, das durch ein Transformationstraining das individuelle Potenzial des gesunden Menschen zu steigern versprach. In der Psychotherapie erzielten ihre Methoden achtenswerte Erfolge. Die alternative Kurzzeit-Therapie war als »Eingangspforte zum Zauberland des NLP« konzipiert, wie es im Vorwort der deutschen Ausgabe von Frogs into Princes etwas kitschig heißt.24 Und tatsächlich sensibilisierte die Lektüre Huene für neue Pforten der Wahrnehmung im Bereich therapeutisch-kommunikativer Interventionstechniken. Huene versah das Buch mit relativ wenigen Markierungen am Rand der Druckseiten, vergleicht man es mit anderen Publikationen, die er sich zu diesem Thema noch anschaffen sollte. Aber es brachte seine künstlerischen Anliegen exemplarisch auf den Punkt. Beim Bau der 23 | Fünf Buchtitel in Huenes Bibliothek datieren vorwiegend aus dieser Zeit: Buzan 1984; Buzan 1988 2; Buzan 1988 6; Buzan 1989; Buzan 1989 3. 24 | Bandler und Grinder 1985 4, S. 7. Ein annotiertes Exemplar dieser Ausgabe befindet sich im ZKM (Nachlass des Künstlers), Karlsruhe.

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Abb. 98: Stephan von Huene, Die Zauberflöte, 1985

installativen Klangskulptur Zauberflöte (1985) arbeitete Huene die kommunikativen Transaktionsanalysen von Bandler und Grinder unmittelbar ein und animierte den Betrachter mittels einer subtil eingesetzten Lichtregie, den Blick über die vier Klangtürme gezielt nach oben an die Decke zu richten (Abb. 98). Gemäß Bandlers und Grinders NLP-Lehre werden mit dem verklärten Blick nach oben »visuell konstruierte« oder »visuell erinnerte«, also eidetische Vorstellungen wachgerufen, je nachdem, ob die Augen stärker nach rechts oder nach links gerichtet sind (Abb. 99). Diese Auffassung entspricht der kunstwissenschaftlichen Leseweise des »himmelnden Blicks«, die ihn mit Affekten wie Entrückung und Ekstase, aber auch mit Inspiration und Vision belegt. 25 In der Mind Map zur Zauberflöte aus The Getty Talk (1991) setzte Huene dann die Namen seiner beiden intellektuellen Katalysatoren, Bandler und Grinder, symbolisch in eine übergroße Glühbirne (Abb. 100).26

25 | Vgl. Henning und Weber 1998. 26 | Zu Huenes The Getty Talk, ein Vortrag, den er 1991 am Getty Center in Santa Monica hielt, vgl. Schmidt-Burkhardt 2011a.

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Abb. 99: Richard Bandler und John Grinder, Visuelle Zugangshinweise für einen »normal organisierten« Rechtshänder, 1985 Abb. 100: Stephan von Huene, The Getty Talk (Zauberflöte), 1991

Unter der neurolinguistischen Prämisse, dass Kommunikation zwar gerichtet, aber nie einseitig ist, reagieren die beiden mit Sensoren ausgestatteten Turmpaare der Zauberflöte interaktiv, das heißt akustisch und optisch, auf den Betrachter. Der Sinn dieser »Kommunikation« liegt in der »Reaktion«, wie es in einem dogmatischen Lehrsatz bei Bandler und Grinder heißt, den sich Huene markiert hat.27 An einer anderen, ebenfalls markierten Textstelle wird dieser Gedanke weiter ausformuliert: »ihr müsst fähig sein, sehr viele unterschiedliche Verhaltensweisen hervorzubringen, um herauszufinden, welche Reaktionen ihr hervorrufen könnt.«28 Denkt man diese Aufforderung mit Huene konsequent weiter, dann wäre der Betrachter seiner Klangskulptur nicht zuletzt durch die suggestiv nach oben gelenkte Blickführung und die mit ihr assoziierte eidetische Vorstellungskraft befähigt, den »gleichen subjektiven Schöpfungsprozess« zu erleben wie einst Emanuel Schikaneder 1791 beim Verfassen des Librettos für Mozarts Zauberflöte.29

27 | Bandler und Grinder 1985 4, S. 82. 28 | Ebd., S. 74. 29 | Vgl. Huene 2002.

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Abb. 101: Stephan von Huene, Notizen zum »Test-Operate-Test-Exit«Model, 1988 Abb. 102–103: Robert Dilts, Roots of Neuro-Linguistic Programming. Part II, Cupertino, CA 1983, S. 24, 27

Maßgebliche Anregungen für Huenes Klangskulpturen im Allgemeinen und für die Zauberflöte im Besonderen gingen ferner von Robert Brian Dilts’ Buch Roots of Neuro-Linguistic Programming (1983) aus.30 Diese NLP-Fibel, die schnell zum Kultbuch avancierte, hatte in den achtziger Jahren einen regelrechten NLP-Boom in den USA ausgelöst, der alsbald auf Deutschland übergriff. Die Zahl der Teilnehmer von NLP-Kursen, die damals in der Bundesrepublik landauf landab angeboten wurden, war Legion. Huene, den die Idee faszinierte, das Gehirn als eine Art »Software« zu begreifen, belegte im April 1988 ein von Dilts persönlich geleitetes Seminar in Hamburg.31 Anhand von NLP-Computerprogrammen und Sachliteratur arbeitete er sich gründlich in die Materie ein. Die intensive Lektüre von Dilts’ Standardwerk 30 | Vgl. Huene in einem Brief an Allan Kaprow vom 29.10.1990, ZKM (Nachlass des Künstlers), Karlsruhe. 31 | In Huenes Nachlass befinden sich vier Notizbücher im DIN-A4-Format mit Aufzeichnungen aus NLP-Seminaren und zahlreiche Arbeitsunterlagen in Form von Fotokopien, die den Seminarteilnehmern zur Verfügung gestellt wurden. Auf der Teilnehmerliste zu »Dilts I« wird Huenes Name aufgeführt. Der Kollegblock mit der Aufschrift »Dilts III« wurde am 28.4.1988 begonnen.

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Abb. 104: Stephan von Huene, Representational Systems and Behavior, [1988–89]

schlug sich nicht zuletzt in zahlreichen Unterstreichungen seines Handexemplars nieder. Die Lehre vom Neurolinguistischen Programmieren ging davon aus, dass die sinnliche Wahrnehmung sowohl die bewusst gesetzten Handlungen des Menschen als auch sein unbewusstes Verhalten bestimmt. Aus dieser Annahme konnte umgekehrt geschlossen werden, dass sich das Verhalten umstrukturieren lässt, wenn man auf dessen Ursachen gezielt Einfluss nimmt. Diese Neukonditionierung wurde durch Rückkopplung erzeugt. Mithilfe des behavioristischen Reiz-Reaktions-Modells ließ sich erklären, wie bestimmte Verhaltensweisen hervorgerufen bzw. unterdrückt werden konnten.32 Um das gewünschte Output als Wahrnehmungsveränderung zu erzielen, mussten die Reize als sinnliches Input mithilfe der beiden NLPTechniken »Repräsentation« und »Verarbeitung« moduliert werden. Das kybernetische Grundverständnis »Test-Operate-Test-Exit«, kurz TOTE genannt, wurde zum Prinzip erklärt, ein Prinzip freilich, 32 | Vgl. Dilts 1983, S. 5 f.

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dessen durchschlagender Erfolg bei seiner Vermarktung als selbstkorrigierende Handlungsplanung darin begründet war, dass es eine effizienzsteigernde Konditionierung im Sinne des Sozialdarwinismus bedeutete.33 Huene hatte sich diese Rückkopplungsregel, bei der Ist- und Sollwerte miteinander verglichen werden, während seines NLPSeminars bei Dilts fest eingeprägt (Abb. 101). Schließlich gestaltete er die Rückkopplungsregel zur Mind Map Representational Systems and Behavior aus und kopierte zwei kybernetische Diagramme aus Dilts’ Publikation Roots of Neuro-Linguistic Programming in die Denkkarte (Abb. 102–104). Die relevanten Textpassagen zu diesen TOTE-Modellen sind in Huenes Handexemplar unterstrichen, die verarbeiteten Kernsätze mit Klammern hervorgehoben, so dass die diagrammatischen Wort-Filiationen in der Mind Map mühelos auf ihren Ursprungstext zurückgeführt werden können.34 Es scheint, als habe Huene die von Buzan empfohlene Übung für Mind-MappingEinsteiger, zunächst eine Kurzgeschichte in eine Denkkarte zu übertragen, gleich an Dilts’ Buch ausgeführt.35 Womöglich handelt es sich hier um Huenes erste Mind Map, sicherlich aber um eine seiner ganz frühen Grafiken auf diesem Gebiet. In Representational Systems and Behavior hat Huene bis auf eine Ausnahme Kapiteltitel aus Roots of Neuro-Linguistic Programming um das zentrale Black-Box-Schema angeordnet und durch Rahmenformen hervorgehoben: »Prime Control« (in Dilts’ Buch ist das »Prime Control« gewidmete Kapitel mit »Representational Systems and Behavior« überschrieben), »Strategies«, »TOTE« und »Nested TOTES« (Abb. 104). Die reduktionistische Methode des Mapping erlaubte ihm, ganze Textpassagen zu wichtigen Begriffen zu komprimieren. Dilts’ wortreiche Ausführung zerlegte Huene Satz für Satz in Elementarbegriffe, die er unterstrich, um sie sodann zu lakonischen Wortzweigen neu zu verketten:

33 | Das Rückkopplungsmodell TOTE wurde von Georg A. Miller, Eugene Galanter und Karl H. Pribram eingeführt. Vgl. Miller und Galanter 1973, S. 29–44. 34 | Vgl. Dilts 1983, S. 21–31. 35 | Vgl. Buzan 1984, S. 82–92. Zur Zusammenfassung von Büchern vgl. ebd., S. 165.

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»The TOTE is an extension of the reflex arc (a stimulus-response chain) in behavioral theory. […] The term, which stands for the series Test-Operate-Test-Exit, is a neurological model for the formal sequence of the internal processing of some stimulus. It is an extension in that the TOTE incorporates a feedback operation within the chain of behavior, itself, rather than considers it as a single linear action.« 36

In der Mind Map, unterhalb des zentralen TOTE-Schemas, liest sich dieser Abschnitt dann verkürzt so: »TOTE« / »extension reflex arc« / »Test«, »Operate«, »Test«, »Exit« und »but«, »contains«, »feedback«. Entgegen dem westlichen Leseverhalten von links nach rechts und von oben nach unten hat Huene den NLP-Klassiker im Uhrzeigersinn zergliedert, wobei er rechts oben in seiner Denkkarte begann. Von Anfang an zielte Huenes Erkenntnisinteresse darauf ab, das Neurolinguistische Programmieren für die künstlerische Praxis fruchtbar zu machen. Dabei konnte er geflissentlich ignorieren, dass diese alternative Verhaltenstherapie aufgrund ihrer an GehirnwäschePraktiken erinnernden Methode heftig umstritten war.37 Anders als viele Kritiker des TOTE-Prinzips stand Huene dem Black-Box-Mechanismus offen gegenüber. Die neurolinguistische Deus-ex-machinaIdeologie – im strengen Sinne des Buchtitels Frogs into Princes – kam seinem ausgeprägten Interesse an technischen Prozessen sehr entgegen. Huene berief sich auf ihr kreatives Potenzial, das er zunächst an sich selbst erfahren hatte. Er, der stets mit der Orthografie zu kämpfen hatte, vermochte seinem Problem etwas Positives abzugewinnen, nachdem er Dilts’ Kurs über die psychologische Umdeutungstechnik »Reframing« besucht hatte. Statt der Rechtschreibfehler rückte nun die Visualität des Wortes stärker ins Bewusstsein:

36 | Dilts 1983, S. 23 (Unterstreichungen von Huene). »TOTE ist eine Erweiterung des Reflexbogens (einer Reiz-Reaktions-Kette) in der Verhaltenstheorie. […] Der Begriff, der für die Abfolge Test-Operate-Test-Exit steht, ist ein neurologisches Modell für die formale Abfolge des inneren Verlaufs eines Reizes. Das Modell ist eine Erweiterung insofern, als TOTE einen Rückkopplungsprozess innerhalb der Verhaltenskette selbst enthält, statt sie als ein einfaches lineares Geschehen zu begreifen.« 37 | Vgl. Revenstorf 1985.

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Abb. 105: Stephan von Huene, annotierte Arbeitsunterlage zu Robert Dilts’ NLP-Seminar, 1988 Abb. 106: Stephan von Huene, Augenbewegungen und subjektive Prozesse, 1988

»Er [Robert Dilts] hat gezeigt, wie ich eine ausgefeilte Rechtschreibstrategie anwende. Ausgefeilt deshalb, weil meine Rechtschreibung schrecklich ist. […] Was Robert tat, funktionierte, allerdings habe ich einiges von seinem Reframing auf meine Bedürfnisse zugeschnitten. Ich erlebe es als Entdeckung der visuellen Seite des Wortes.« 38

Das befreiende Entfremdungspotenzial dieses Blickwechsels lag darin, dass die Wörter nun ihre Bedeutungskonvention verloren; umgekehrt spielte Huene gerne mit Auslassungen oder Einfügungen von Buchstaben, um so semantische Kippfiguren entstehen zu lassen. Die nachhaltige Erfahrung aus dem Dilts-Seminar versuchte Huene unmittelbar in neuen Zeichenübungen umzusetzen, zum ersten Mal 1988 mit seinen Studenten an der Internationalen Sommerakademie in Salzburg.39

38 | Huene in einem Brief an Eric Robbie vom 5.6.1988, ZKM (Nachlass des Künstlers), Karlsruhe. 39 | Ebd.: »Ich muss mich jetzt auf meinen Unterricht im Sommer vorbereiten. Ich habe viele Ideen zu neuen Zeichenübungen, die ich ausprobieren möchte.«

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Abb. 107: Robert Dilts, Roots of Neuro-Linguistic Programming. Part III, Cupertino, CA 1983, S. 19 Abb. 108: Stephan von Huene, Augenbewegungen und subjektive Prozesse, 1988

Die figurativen Skizzen, die Huene während Dilts’ Seminar zur Veranschaulichung der Technik des »Ankerns«  – eine bewusste Steuerung von kognitiven und emotionalen Prozessen durch ihre Bindung an bestimmte Körpergesten oder Blickgebärden – an den Rand seiner Arbeitsunterlagen gezeichnet hatte, wirkten direkt in den Unterricht hinein (Abb. 105–106). So auch Dilts’ schematische Typologie der Blickrichtungen, die ihrerseits auf ein Augenschema von Bandler und Grinder zurückgeht und dann in Huenes Wandtafelzeichnungen wieder aufscheint (Abb. 107–108). Nach der orthodoxen NLP-Lehre ist die universal-symbolische Struktur des Geistes an die partikulare körperliche Konstitution gebunden. Demnach lassen sich innere Vorgänge an äußeren Zeichen ablesen. Der Augenstellung wird dabei eine besondere Bedeutung zugesprochen. Sie gilt regelrecht als messbarer Indikator für kognitive Akte. Huene erklärt das so: »Nach den Erfahrungen der Kommunikationstheorie verrät die Blickrichtung einfach, dass sie akustischen Erinnerungen nachhängt oder einen inneren Dialog führt. Wer nach oben schaut, sieht Bilder oder sucht meist nach einem Wort, konstruiert angestrengt einen Gedanken. […] Wer nach links schaut, plant in die Zukunft. Das sind einfache Grundregeln, die fast immer zutreffen. Alle Gefühls-

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äußerungen, Zukunftsgedanken, Erinnerungen, suchende Überlegungen sind von Blickrichtungen begleitet.« 40

In letzter Konsequenz lassen sich demnach anhand der Augenstellung Träumer, Realisten und Kritiker unterscheiden. Der »Experimental Drawing«-Kurs in Salzburg gestaltete sich für Huene selbst als Experiment. Über dessen Erfolg blieb er sich allerdings im Unklaren, zumal die Begabungen seiner Studenten stark variierten. In einem Bericht, den er Dilts zukommen ließ, fasste er seine Eindrücke zusammen: »Ich habe versucht, Ressource-Zustände herbeizuführen, indem ich Demon­s tra­ tionszeichnungen auf der Wandtafel anlegte. Dabei habe ich Ihre Strategie der Verhaltensgenerierung verwendet, bei der man eine bestimmte Reihenfolge während des Zeichnens einhält. Ich hatte nicht viel Zeit, um diese Strategie an mir zu testen, deshalb weiß ich nicht, ob ich sie mit voller Überzeugung vermitteln konnte. Aber wenigstens sind die Studenten dadurch von ihrer Staffelei weggekommen, und sie verbrachten beachtlich mehr Zeit damit, zu schauen, was sie tatsächlich machten. Wir entwickelten auch eine Reihe von Übungen, bei denen wir nur Linien zeichneten, um die Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Modalitäten (A, V, K) zu lenken und die Unterschiede zu vergleichen. Dies führte uns dazu, Klang zu erzeugen – Vokal-Klänge – und zu summen, während wir die Linien zeichneten. Auf diese Weise konnten wir die ganze Klasse, 40 Leute, dazu bringen, zusammen zu atmen (das Tempo des Atmens zu bestimmen), mit dem Effekt, dass sie ruhiger wurden und sich stärker konzentrierten.« 41

Im Anschluss an die in Salzburg gewonnenen Erfahrungen vertieft Huene seine NLP-Kenntnisse weiter. Die einschlägige Literatur empfiehlt er Freunden und Kollegen. Die wichtigsten Titel von Dilts, Bandler und Grinder fasst er noch einmal für den Künstlerkollegen und Freund Allan Kaprow zusammen:

40 | Huene und Drathen 2002, S. 262. 41 | Huene in einem Brief an Robert Dilts vom 2.9.1988, ZKM (Nachlass des Künstlers), Karlsruhe. Die Buchstaben A, V und K stehen für auditive, visuelle und kinästhetische Empfindungen.

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»1) Neuro Linguistic Programming, Bd. 1, The Study of the Structure of Subjective Experience von Robert Dilts (dies ist eines der Bücher, die Dich wahrscheinlich zuerst interessieren) (ich habe einiges von diesem Material verwendet, um die Zauberflöte zu bauen) 2) Routs of NLP von Robert Dilts (dieses Buch befasst sich eher technisch mit Kybernetik und Neurologie) 3) Applications of NLP von Robert Dilts 4) The Structure of Magic von Richard Bandler, John Grinder (dies befasst sich mit Linguistik und stellt das Metamodell vor), es ist eines der ersten Bücher, die sie schrieben. Das Metamodell wurde in anderen Büchern knapper und prägnanter dargestellt. 5) Patterns of the Hypnotic Techniques of Milton H. Erickson, Bd. 1, von ­R ichard Bandler, John Grinder (dies ist die Umkehrung des Metamodells. Das Metamodell macht Sprache spezifisch. Das Milton-Model erschließt Sprache und führt in Richtung innerer Suche.) 6) Using Your Brain for a Change von Richard Bandler (dies ist stärker auf Therapie ausgerichtet, aber es führt Submodalitäten ein, was für das Verständnis von subjektiven Erlebnisstrukturen sehr wichtig ist). Ich denke das reicht, um Dich für ein oder zwei Jahre zu beschäftigen.« 42

Sucht man nach einem gemeinsamen Tenor dieser Veröffentlichungen, dann wird er im Behavioral Engineering zu finden sein. Darunter ist ein methodisches Verfahren zu verstehen, das verspricht, mithilfe einer »Karte« der Denkprozesse individuelles Handeln besser steuern zu können, wie es in einer Werbebroschüre heißt, die sich in Huenes Nachlass befindet: »NLP liefert eine klare, gut durchdachte Methode, um eine differenzierte ›Karte‹ der Gedankenprozesse von Menschen anzulegen, die ihr eigenes Handeln meistern.« Diese Karte der Denkprozesse erinnert frappant an Buzans Konzept der Mind Map. Nicht zuletzt sind viele schematische Zeichnungen, mit denen NLP-Kernthesen im Unterricht visualisiert wurden, der topologischen Raumordnung von Denkkarten sehr ähnlich. Hier wie dort ist das Kartogramm strahlenförmig um ein signifikantes Themenzentrum angelegt.

42 | Huene in einem Brief an Allan Kaprow vom 29.10.1990, ZKM (Nachlass des Künstlers), Karlsruhe. Eine aktuelle Zusammenstellung von NLP-Literatur in Huenes Bibliothek bietet Muñoz Morcillo 2016, S. 349 f.

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Abb. 109: Stephan von Huene, Mind Map II zum Interface-Symposium, 1990 Abb. 110: Stephan von Huene, Interface I (Entwurf), 1990

I nterface -S ymposium Huenes erster und systematischer Einsatz von Buzans vielversprechender Aufzeichnungstechnik ist für 1990 belegt. Damals entstand eine Serie von sechs Mind Maps, mit denen Huene auf dem Hamburger Interface-Symposium einen Vortrag hielt. Das Thema seines Beitrags ging in der rhetorischen Frage auf: »Künstler – Wissenschaftler – Techniker?«43 Rhetorisch deshalb, weil die Gedankenstriche zwischen den verschiedenen Professionen die Antwort gleich mitlieferten. Im Selbstverständnis von Huene ließen sich nämlich alle drei Berufe ohne Reibungsverluste miteinander verbinden. Seine viel zitierte Lieblingsvokabel war »zusammenbringen«.44 Mit Blick auf das Interface-Symposium heißt zusammenbringen immer auch zusammensehen und zusammendenken. Demgemäß markieren die Klangskulpturen von Huene eine Schnittstelle zwischen »Elektronischen Medien und künstlerischer Kreativität«, so der Untertitel der Veranstaltung. Als Künstler multipler Medien verkörperte er par excellence den Prototyp dessen, was Heinrich Klotz etwas vorschnell als »Zweite Moderne« feierte, um 43  |  Vgl. das Programmheft Interface. Internationales Symposium Hamburg, 6.– 8. Nov. 1990, ZKM (Nachlass des Künstlers), Karlsruhe; Huene 1992. 44 | Vgl. Schmidt 1983, S. 26.

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Abb. 111: Stephan von Huene, Interface I, 1990

das von der Postmoderne hinterfragte Paradigma der Moderne als innovative Kraft einmal mehr bestätigt zu sehen.45 Huene hat sich auf seinen Beitrag in der Sektion »Schöpfergeist und künstlerische Innovation« intensiv vorbereitet. Es existieren allein 15 diagrammatische Vorstudien. Daraus fertigte Huene ein Extrakt aus sechs Entwürfen an, die wiederum die Vorlage für sechs inzwischen verschollene Mind Maps abgeben, die später im Dokumentationsband der Tagung veröffentlicht wurden.46 Die allerersten Schemazeichnungen zu seinem Vortrag hat Huene mit schnellem Strich aufs Papier gesetzt (Abb. 109). Im ausgeprägt aktionalen Charakter dieser Blätter ist Buzans Empfehlung, eine Denkkarte möglichst zügig anzulegen, als Zeichenstil umgesetzt. Nur so ließen sich alle wichtigen Gedanken, die bekanntlich sehr flüchtig sind, festhalten.47 Huenes Notationen sind als reine Gedächtnisstützen zu betrachten. Zunächst ging es nur 45 | Vgl. Klotz 1994, S. 153–191. Als Klotz’ Mitstreiter in Sachen Zweite Moderne hielt Peter Weibel an der Geschichtskonstruktion seines Amtsvorgängers im Zentrum für Kunst und Medientechnologie, Karlsruhe, fest, indem er diesen bei seiner Eröffnungsansprache anlässlich der Ausstellung Stephan von Huene. Grenzgänger und Grenzverschieber am 8.12.2005 zitierte. Vgl. Weibel 1996. 46 | Vgl. Huene 1992, S. 93–98. 47 | Vgl. Buzan 1984, S. 106, 149.

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darum, den zentralen Themenblock zu bestimmen: »first lets define the territory«. Auf den ersten Blick gewinnt der Leser/Betrachter den Eindruck eines chaotischen Wort- und Begriffskonglomerats, so als ob Huene unvermittelt von einem Thema zum anderen springen würde. Tatsächlich ist Huene, indem er schreibt und zeichnet, ein Suchender. Er ringt um Einsichten, ja regelrecht um Selbsterkenntnis, die sich erst aus der grafischen Matrix nach und nach gewinnen lässt. Bereits in der zweiten Phase der diagrammatischen Reflexion ist eine bemerkenswerte Klärung der Sachlage zu beobachten. Das Generalthema »Interface«, das in der ersten Skizze nur am Rande als potenzieller »Dialog« aufgegriffen wurde, erhält mit dem küssenden Paar, das jetzt in den Mittelpunkt der Komposition rückt, eine witzigironische Pointe (Abb. 110). Mit den Blockpfeilen, den Kastenformen und den gruppierten Wortketten kristallisiert sich allmählich eine strukturelle Gliederung heraus, in der allein drei Entwurfsskizzen komprimiert sind. Die Ideen aus diesen insgesamt vier Diagrammen sind in das erste Blatt der endgültigen Fassung eingeflossen (Abb. 111). Bemerkenswert daran ist die Erhöhung der visuellen Prägnanz, die Huene schrittweise erreicht hat. Die geraden Linien, mit denen Buzan die Schlüsselwörter unterstrichen wissen wollte, gestaltet Huene gern zu Kurven oder Bögen aus. Die Denkkarten erhalten so einen deutlich dynamischen Zug. Wolfgang Kemp spricht von »Schwingen« und legt den Akzent damit auf die sprichwörtlichen »Flügel des Geistes«, eine metaphorische Leseweise, die sein Vergleich mit den klassischen ­Mobile-Skulpturen von Alexander Calder bekräftigen soll.48 Auch wenn das filigrane System der Grafen dieser Interpretation auf den ersten Blick Recht zu geben scheint, der Aufbau einer Mind Map beruht nach wie vor auf der Baumstruktur. Sobald sich diese arboreske Struktur in den Mind-Map-Entwürfen zum Interface-Symposium abzuzeichnen beginnt, ist es für Huene nur noch ein kleiner Schritt bis zur Reinzeichnung. Spätestens dann wird klar, dass Huenes Diagramme das Ergebnis einer systematischen Vorgehensweise sind. Aus der unübersichtlichen Gemengelage in der Konzeptionsphase wird ein stark verzweigtes Ordnungsgefüge herausgearbeitet, das vergleichbar mit der Mind Map Representational Systems and Behavior eine klare Richtung aufweist (Abb. 104). In gewohnter Manier 48 | Vgl. Kemp 2002, S. 122, 124.

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hat Huene die Mind Maps in thematische Segmente untergliedert und im Uhrzeigersinn angeordnet. Sie beginnen stets in der Position 1 bis 2 Uhr, wie der vom zentralen Ikon ausgehende Blockpfeil indiziert. Die einzelnen Stichwörter sind in der redigierten und endgültigen Fassung von Interface I mit Bedacht notiert, wie ein Vergleich mit den einzelnen Stadien während der Vorarbeiten deutlich macht. Wer das Prinzip der allmählichen Informationsreduktion beim Mind Mapping exemplarisch studieren will, sollte die verschiedenen Fassungen parallel lesen. Dann nämlich wird offensichtlich, dass der Datenverzicht erst durch die diagrammatische Konzeptionsanstrengung geleistet werden kann. Proportional zur Minimierung der Angaben steigt die Gedächtnisleistung, die dem Redner abverlangt wird. Umgekehrt hilft die Wiederholung in mehreren diagrammatischen Schritten – von der Rohskizze über den Entwurf bis zur Reinzeichnung  –, sich die verschiedenen Problemlagen anzueignen. Die linear-sukzessive Reihung der Wörter, die zeitliche Ordnung beim Sprechen, ist aufgelöst. In simultanen Wortbündeln versucht Huene, logische Zusammenhänge zu visualisieren  – und zu memorieren. Diese Begriffsbäume entwickeln sich zwar in einer graduellen Abstufung, eine syntaktische Ordnung fehlt dennoch. Mit Wittgenstein könnte man sagen, die Mind Maps sind »Bilder der Tatsachen«, die keiner Grammatik folgen. Die Beziehung zwischen den einzelnen Wörtern, die Wortkombination und deren Bedeutung, wird erst im Sprechakt konstituiert. Huene erklärt die diagrammatischen Notizen, die er für seinen Hamburger Vortrag angefertigt hatte, so: »Sie geben einen Einblick in meine Methode, Gedanken auf die Spur zu kommen und zeigen die Kreuz- und Querverbindungen meiner Ideen. Ich benutze Bilder, Zeichen und Wörter nebeneinander und gleichzeitig, um den Ideen zu erlauben, aus einer Absicht hervorzukommen und sich zu organisieren. Diese Form macht es mir möglich, in der Art eines Gespräches vorzutragen, während sie gleichzeitig erlaubt, eine Gedankenfolge sichtbar zu machen.« 49

In den sechs Mind Maps zum Interface-Symposium verdichtet sich erstmals Huenes Kunstphilosophie.50 In ihnen werden die verschiedenen  49 | Huene 1992, S. 92. 50 | Vgl. ebd., S. 93–98.

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Themenfelder, die den Künstler beschäftigen, auf ihre Schnittstellen mit seinen Klangskulpturen untersucht. So ein Interface bietet beispielsweise die Wahrnehmungstheorie, die durch Zitate aus William Blakes illustriertem Gedicht The Tyger (1794) veranschaulicht werden soll, oder die Anthropologie. Letztere warf mit ihrer Fallstudie über den Indianer »Ishi« vom aussterbenden Stamm der Yahi die Frage nach den »zwei Welten« (2 worlds) neu auf, die der angeblich letzte wilde Indianer Nordamerikas im Zuge seiner zivilisatorischen Assimilation in sich zu vereinen hatte.51 Ein weiteres Interface stellt Robert Ornsteins Hemisphärentheorie dar, von der Huene zu den »New Media« überleitet, in denen durchaus alte Medien (historical recursiveness) weiterleben. Schließlich zeigt  Huene mit seinen beiden Hauptwerken, Text Tones (1979/82–83) und Zauberflöte, die bildnerischen Konsequenzen auf, in denen künstlerische, wissenschaftliche und technologische Ansätze konvergieren. Nicht »reale Welt« versus »Kunstwelt« bildet hier die produktive Spannung.52 Die eigentliche Herausforderung für Huene liegt in der »experimentellen Realität« eines konzeptuell angelegten Œuvres, wie es schlussendlich heißt.53

M emor ative K onzeptkunst Huene reflektiert im und durch das Medium der Zeichnung. Als Katalysator für Erkenntnis gehört sie zum unverzichtbaren Bestandteil des künstlerischen Arbeitsprozesses. Gedanken werden nicht einfach visualisiert, sondern mithilfe der Mind-Map-Methode zunächst diagrammatisch erfasst, geordnet, strukturiert. Im Zuge dieses Aufzeichnungsprozesses werden semantisch definierte Denkstrukturen sichtbar, zeichnen sich semiotische Erklärungsmuster ab. Indem die Bildhaftigkeit der Theorie und die Narrativität der Textgestalt konvergieren, appellieren sie in zweifacher Weise an das Erinnerungsvermögen. 51 | Vgl. Kroeber 1967. 52 | Vgl. Huene in einem Brief an Dr. Zec vom 15.10.1989, ZKM (Nachlass des Künstlers), Karlsruhe. 53 | Vgl. Huene 1992, S. 98.

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Huenes Denkkarten sind angewandte Gedächtniskunst in der Tradition der artes memoriae. Letztere hatten ein reiches Repertoire an Verfahren entwickelt, mit denen gegen das schnelle Vergessen angearbeitet werden kann. Die Mnemonik geht mit ihren ausgefeilten Buchstaben- und Bildersystemen zur Bewahrung und Aktivierung von Wissen, mit ihren abstrakten Gedächtnisregeln und mit dem grafisch ausgestalteten Gedächtnistheater weit über das hinaus, was mit der simplen und effektiven Technik der Wiederholung erzielt werden kann, nämlich die Gedächtnisleistung auf einem konstant hohen Niveau zu halten.54 Die Tableaus der Mnemonik sind stets auf umfassende Wissensrepräsentation hin angelegt, ein Ansatz, den Huene zu adaptieren suchte. Was nun den Verwendungszweck von Huenes Denkkarten anlangt, so dienten sie im Rahmen seiner künstlerischen Vortragstätigkeit als »Artikulationsmittel« (Hans Blumenberg).55 Anstelle eines ausgefeilten Redemanuskripts angefertigt, unterstützten sie die Ausformulierung von Überlegungen. Zugleich sind die Mind Maps als ästhetisch angelegte Gedankenskizzen auch als autonome Zeichnungen konzipiert und gehören damit zum Genre der Künstlergrafik.56 Hinzu kommt Huenes Interesse an struktureller Übersicht. Es bewog ihn beim Interface-Symposium dazu, zentrale Aspekte seiner künstlerischen Forschung in diagrammatischen Tableaus darzulegen. Diese Grafiken faszinieren durch ihre wissenschaftliche Anmutungsqualität, deren andere Seite ihre visuelle Überzeugungsrhetorik darstellt. Als Praktiker schenkte Huene zeichentheoretischen Diskursen wenig Beachtung. Dabei war er sich der Problematik des MappingVerfahrens durchaus bewusst. Während der Lektüre von Gregory Batesons Abhandlung Mind and Nature (1979) kreuzte er sich eine Fußnote an, in der die Grenzen des »mapping« umrissen werden: »Ich verwende den Ausdruck ›abbilden auf‹ [to map onto] aus folgenden Gründen: Jede Beschreibung, Erklärung oder Darstellung ist zwangsläufig in gewisser Weise ein Abbilden [mapping] von Ableitungen der zu beschreibenden Phänomene auf eine Fläche, eine Matrix oder ein Koordinatensystem. Im Fall einer wirklichen 54 | Vgl. Yates 20016. 55 | Vgl. Schmidt-Burkhardt 2011a, S. 117–120. 56 | Vgl. Gaßner und Kipphoff von Huene 2010.

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Karte ist die aufnehmende Matrix gewöhnlich ein flaches Blatt Papier von endlicher Größe, und Schwierigkeiten treten auf, wenn das, was abgebildet werden soll, zu groß oder beispielsweise kugelförmig ist. Andere Schwierigkeiten würden entstehen, wenn die aufnehmende Matrix die Oberfläche eines Torus (Doughnut) oder eine diskontinuierliche lineare Abfolge von Punkten wäre. Jede aufnehmende Matrix, selbst eine Sprache oder ein tautologisches Netz von Aussagen, hat ihre formalen Eigenschaften, die prinzipiell eine Verzerrung der Phänomene mit sich bringen, die darauf abgebildet werden sollen.« 57

Trotz oder gerade wegen Batesons Relativierung des Mapping hielt Huene an dem Verfahren grafischer Evidenzerzeugung fest. Für ihn war allein ausschlaggebend, dass die Mind Map als grafische Aufzeichnungstechnik alle Voraussetzungen bot, um im Diagrammmodus künstlerische Reflexionen anzustellen, sie dauerhaft zu fixieren – und zudem konzeptuelle Zusammenhänge seiner Arbeiten offenzulegen. Nicht zuletzt ging es Huene auch darum, eine »drawing form« zu entwickeln, die ihm bereits während des Zeichnens half, ästhetische Entscheidungsprozesse zu überdenken und neue Ideen zu generieren. Diesen Anspruch erfüllte Buzans Konzept der Mind Map in hohem Maße. Auf Huenes Adaptierung der Denkkarte für künstlerische Zwecke lässt sich deshalb die Formulierung »conceptually resonant chart« anwenden, die Richard Kostelanetz in seiner bahnbrechenden Anthologie zu alternativen Darstellungsformen Essaying Essays (1975) geprägt hatte.58 Mit »conceptually resonant charts« waren konzeptuell angelegte Denkräume und Leseflächen gemeint, die es erlauben, Reflexionen in diagrammatischer Form anzustellen. In diesem ganz spezifischen Sinne können auch Huenes Mind Maps als Diagramme mit konzeptueller Resonanz angesehen werden.

57 | Bateson 1988 5, S. 50. 58 | Kostelanetz 1975, S. 6.

Unter dem diagrammatischen Imperativ K apitalistische M odernisierung

der

W ahrnehmung

Der rasante Aufstieg von Diagrammformen in der Kunst wurde durch die kapitalistische Modernisierung der Wahrnehmung vorangetrieben.1 Symptome dieser Entwicklung lassen sich exemplarisch an einer Raum- und Wandinstallation von Sabine Groß erkennen. Anhand eines sich steil nach oben entwickelnden Grafen thematisiert Wertsteigerung (2005) den deutlich verbesserten Marktwert internationaler Künstler infolge ihrer Teilnahme an der erklärtermaßen antikommerziellen documenta 5. Dieser Anerkennungsgewinn wird durch die Jubelgeste einer lebensgroßen Umrissfigur mit den Zügen von A.R. Penck auch noch sprechend kommentiert (Abb. 112). Die Brüchigkeit jedweden Erfolgs machte Sigmar Polke, seinerseits ein Teilnehmer der documenta 5, an einer diagrammatischen Verlaufsfigur fest, die ihre Herkunft aus dem Wirtschaftsteil der Tages­-  presse zu erkennen gibt (Abb. 113). 2003 im Rahmen von Klaus Staecks gesellschaftskritischer Postkartenedition erschienen, zeigt die kleine Kurvengrafik ein Preisbewegungsmuster, wie es für geplatzte Spekulationsblasen charakteristisch ist. Die mit der jähen Schrumpfökonomie verbundene Abwertung mag in Verbindung mit dem ironischen Titel Unerwünschte Geschenke ihre Wirkung nicht verfehlen. Dunkel wird der Humor für den, der in der postalischen Geschenkgroteske die sozial- und wirtschaftspolitische Virulenz erblickt. Als reduktives Verfahren arbeitet das Diagramm einer Rationalisierung zu, die den Anforderungen eines schnellen Erkenntnisgewinns zu entsprechen sucht. Helmut Willke hat im Rahmen seiner systemtheoretisch fundierten Kritik der Wissensgesellschaft deutlich 1 | Vgl. Unterkap. »Ökonomischer Geschichtsraum« in diesem Buch, S. 110–115.

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Abb. 112: Sabine Groß, Wertsteigerung, 2005 Abb. 113: Sigmar Polke, Unerwünschte Geschenke, 2003

gemacht, dass Wissen als neuer Produktionsfaktor stets besonderer Verhältnisse der Generierung, Verteilung und Bewahrung bedarf.2 Die Erkenntnisgenerierung entspricht dabei dem Mehrwertstreben kapitalistischer Ökonomie. Folgt man Willke, dann läuft die Wissensmaximierung auf eine postkapitalistische Effizienzsteigerung hinaus. Am anschaulichsten zeichnet sich dieser gesellschaftliche Strukturwandel von der materiellen zur symbolischen Produktion in der Aufwertung des intellektuellen Kapitals ab. In der Umgestaltung der Wissensproduktion von der Informationsverarbeitung zur Visualisierung spitzt er sich dann auf prekäre Weise zu. Gerade beim Diagramm geht es um schnelleres Wissen, um wirksameres Wissen, eben um Mehrwissen. Wenn beispielsweise ein »Wissensarbeiter« wie George Maciunas große Informationsmengen in seine Schemata einfließen lässt, dann versucht er dem Druck zeitnaher, das heißt hochaktueller Datenlagen mithilfe eines quasikompletten Überblicks standzuhalten.3 Dieses Mehrwissen wurde durch den rasanten Globalisierungsschub nach dem Fall der Mauer und des Eisernen Vorhangs zum entscheidenden Wirtschaftsfaktor. Bezeichnenderweise lassen sich diese beschleunigten Veränderungen zunächst an den Printmedien ablesen. Diese gingen nach dem abgefeimten Slogan »Fakten, Fakten, 2 | Vgl. Willke 2002. 3 | Vgl. Schmidt-Burkhardt 2011b.

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Fakten« dazu über, die neuen Verhältnisse anhand von Diagrammen und Verlaufskurven zu vermitteln, statt sie zu hinterfragen. Durch die gelenkte Aufmerksamkeitsökonomie wurden neue Tatsachen geschaffen, die den Neoliberalismus als Diagrammatisierungsgewinnler begreifen lassen. Im Zuge dieses Prozesses einer Entfesselung neoliberaler Kräfte, die ungebremst im neuen Geist des Kapitalismus wirkten, entwickelte sich eine kritische, politisierte, projekt- und theorieorientierte Kunstpraxis. Sie verstand sich nicht nur als Gegenbewegung zur affirmativen, malereibetonten Kunst der achtziger Jahre, sondern versuchte auch gezielt die politisch-wirtschaftlichen Verflechtungen zu hinterfragen. Die dabei vernachlässigte, sprich bewusst heruntergeschraubte ikonische Seite dieser Ansätze hat zu einer eher diskursiven Erscheinungsform der Kunst geführt. Rein äußerlich betrachtet, fand eine Verlagerung von den schönen Oberflächen hin zum bildhaften Auftauchen von theoretischem Material statt, die durch diskursive Aktionen unterstützt wurde.4 Diese neue Praxis der Theorie ging mit einer auffälligen Bilderlosigkeit einher; stattdessen kamen vermehrt Diagramme und Kartogramme aller Art zum Einsatz. In diesen Schaubildern wurde kritische Wahrnehmung modernisiert. Die Gegenwartskunst, die im Kontext der Globalisierungsdebatte entstand, übte Kritik weniger an einzelnen Institutionen oder deren Vertretern, sozusagen als Protagonisten der politischen Gegnerschaft. Vielmehr operationalisierte sie die weltweiten Verflechtungsordnungen und -zusammenhänge und schuf daraus eine neokonzeptuelle Kommunikationsform für ihre diagrammatischen Informationsangebote.5 4 | Paraphrase eines Gedankens von Helmut Draxler. – Symptomatisch für diese Entwicklung war die Ausstellung und Veranstaltung Trap 1993 in Kunst-Werke, Berlin, organisiert von Art in Ruins, Stephan Geene und Büro Bert, deren Enga­ gement für eine politisch handelnde Kunst in dem polarisierenden Diagramm Soziale Situation / BRD ihr dialektisches Freund-Feind-Schema fand. 5 | Zum widerständigen Potenzial diagrammatischer Aufklärungsarbeit vgl. die Arbeiten von Oyvind Fahlström, Bureau d’études, Mark Lombardi oder Ashley Hunt. Zur Konvergenz von ästhetischen Erscheinungsformen der Kritik und privatwirtschaftlicher Businesspolitik im neuen Unternehmertypus des »Culturepreneurs« vgl. Davies und Ford 2000.

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Mit ihrem Trend zum Mapping, dieser neuen Form des Argumentierens, versuchte die Kunst seit den neunziger Jahren auf die fundamentalen gesellschaftlichen Veränderungen und Bedürfnislagen zu reagieren bzw. ihnen entgegenzusteuern. In diesem Kontext war die Rede von der kritischen »Kunst der Kartografien und Diagramme«.6 Sicherlich stand hinter dieser Formel die Hoffnung, mithilfe von Karten und Diagrammen politische Effekte zu generieren. Zugleich legt sie aber auch nahe, dass die Verwissenschaftlichung der Kunst durch die Aneignung grafischer Repräsentationen und die Ästhetisierung des Diagramms als repräsentative Grafik einen sich wechselseitig bedingenden Prozess darstellt. Aus dieser Interferenz lässt sich umgekehrt schließen, dass die Übergänge von Kunst, Theorie und Wissenschaft fließend sind. Doch wie viel Diagrammatisches braucht die Gegenwartskunst, um sich kritisch-aufklärerisch zu gerieren? Wie viel verträgt sie, ohne ihren Anspruch auf epistemische Eigenständigkeit aufzukündigen? Antworten auf diese Fragen sollen anhand von drei repräsentativen Ansätzen der letzten Jahre erörtert werden, in denen Diagramme zunehmend zum Einsatz kamen: als aufklärerisches Engagement, als rudimentäres Narrativ und als gegen­kulturelles Statement.

A ufkl ärerisches E ngagement Ordnung schlägt in Orientierung um, sobald übergreifende Zusammenhänge zur Darstellung gelangen. Oskar Negt und Alexander Kluge haben in Geschichte und Eigensinn (1981) die Generierung von nicht sichtbaren Zusammenhängen als primäres Leistungsmerkmal der Theoriearbeit definiert. Diese Theorie- oder Intelligenzarbeit ist auf die gesellschaftliche Realität insofern bezogen, als sie eine Standortbestimmung des Lebenszusammenhangs vornimmt.7 Damit ist ein zentrales Motiv benannt, das Adelheid Mers, die als Bildhauerin und Lichtinstallationskünstlerin begonnen hatte, dazu bewog, das abstrakte Material Theorie zum Gegenstand ihrer künstlerischen Arbeit zu machen. Einen ersten Versuch in diese Richtung unternahm 6 | Römer 2000. 7 | Vgl. Negt und Kluge 1981, S. 480–482.

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Abb. 114: Adelheid Mers, Applied Aesthetics, 2001

Mers mit dem Vortrag »Applied Aesthetics« auf der Konferenz der College Art Association 2001 in Chicago, bei dem sie – in Modifikation der Lecture Performance – sieben Diagramme als »open-minded presentation« vorstellte. Die Diagramme bilden die Quintessenz des Vortragstextes, der sich wie eine erweiterte Bildinterpretation liest.8 Während die ersten fünf Schaubilder  – unter Rekurs auf John Dewey und Jürgen Habermas  – die Zusammenhänge von Kunst, Wahrheit, Wissensmethodik und deren Bewertung aus der Perspektive von Platon, Kant und Darwin gegenüberstellen, entwickelt Mers in den beiden letzten Diagrammen ihre Sichtweise auf eine Kunstproduktion, die sozialdarwinistischen Tendenzen ablehnend gegenübersteht, und bezieht damit eine eigene Position. Realität wird im Kern als Verhandlungssache zwischen divergierenden Macht- und Einflusssphären definiert, wobei die Kunst eine kritisch-konstruktive Offenlegungspflicht übernimmt (Abb. 114). Mit intuitivem Witz wird der Aktualitätsgrad dieser historisch vermittelten Einsicht als Gedankenblitz formuliert; im mehrzackigen Stern aus der Sprechblasenrhetorik des Comicstrips hat er seine bildliche Analogie. Was Mers in ihrem Vortrag so apodiktisch als ein »Experiment« beschreibt, »das 8 | Vgl. Mers 2001.

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durch den Intellekt gesteuert ist und auf wahrgenommener Wahrnehmung basiert«, ist letztlich eine Umschreibung ihrer Definition von »angewandter Ästhetik«. Im Begriff der »wahrgenommenen Wahrnehmung« ist jenes selbstreflexive Moment einer angewandten Ästhetik aufgehoben, das dem Projekt der visuellen Aufklärung zu eigen ist. Edward R. Tufte hat als Designtheoretiker dafür den Begriff der »kognitiven Kunst« geprägt.9 Mers’ programmatische Entscheidung für die Diagrammatisierung von theoretischen Texten verlieh ihrer künstlerischen Arbeit eine betont wissenschaftlich-didaktische Ausrichtung. Die Neuorientierung entsprach ihrem Interesse am künstlerischen Forschen und den Kognitionswissenschaften weit mehr als die aktivistischen Positionen der Institutionskritik, des Neoinstitutionalismus oder von Art as School. Deren Legitimationsprofit begründete sich aus einer kritischen Unterminierung von Macht- und Marktverhältnissen, ohne dass das dialektische Abhängigkeitsverhältnis von den Objekten der Kritik dabei aufgekündigt werden sollte. Die von Negt und Kluge geforderte »Herstellung des Zusammenhangs« hat Mers für sich als Aufdeckung von unsichtbaren Sinnstrukturen und nicht hinterfragten Institutionen, als Aufzeigen von sozioökonomischen Konstellationen im »Hintergrund« definiert.10 Dabei bezieht sie hochaktuelle Themen von Art as Research (Mika Hannula, Jan Kaila, Henk Slager) auf ­Fragestellungen der Kultur- und Medienpolitik (Beryl Graham, Toby ­Miller, Siva Vaidhyanathan, George Yudice). Der entscheidende Anstoß für ihre Arbeiten kam jedoch von Vilém Flusser. Eine breitenwirksame Rezeption von Flusser setzte erst nach dessen Tod im Jahre 1991 infolge der massenhaften Durchsetzung des Internets in den postindustriellen Ländern sowie einer neuen, stärker telematisch orientierten Generation an Intellektuellen und Künstlern ein. Im Zuge dessen begann sich auch Mers für diesen außerakademischen Medienphilosophen zu interessieren.11 Recherchen führten 9 | Kognitive Kunst dient dazu, »ein Argument zu illustrieren, etwas auf den Punkt zu bringen, eine Aufgabe zu erklären, zu demonstrieren, wie etwas funktioniert, Möglichkeiten aufzulisten, eine Geschichte zu erzählen«. Tufte 20078, S. 138. 10 | So Mers in einer E-Mail an die Autorin vom 20.6.2010. 11 | Zu den Hintergründen einer zögerlichen, in jedem Fall verspäteten Rezeptionsgeschichte von Flusser vgl. Ströhl 2009, S. 105–122.

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sie zu den Originalschriften im Flusser-Archiv an der Hochschule für Medien in Köln. Der unkonventionelle Denkstil, die phänomenologische Herangehensweise und der sprachspielerische Umgang mit abstrakten Problemen verleihen Flussers Texten einen dichterischen Zug, der Mers’ Hang zu Philosophie und Literatur entgegenkam. Der Essay »Krise der Linearität« (1988) erwies sich dabei als Schlüsseltext.12 Flusser zeigt darin den historischen Wandel vom Bild zum Text und vom Text zur Zahl auf. Dieser Prozess medialer Veränderungen lieferte einen erweiterten Kontext für die konzeptuell angelegten Visualisierungen von Mers, vor allem aber schuf er die Voraussetzungen für ihr künstlerisches Selbstverständnis als Diagrammatikerin.13 Die Lektüre wirkte so nachhaltig, dass Mers ihre künstlerische Entwicklung fortan in zwei Phasen unterschied: in diverse diagrammatische Ansätze »vor Flusser« und in die eigentliche diagrammatische Praxis »nach Flusser«.14 Auf Flussers Kommunikationstheorie rekurrierend, definierte sie ihre Diagrammatisierungen als eine Form der Bestandsaufnahme von »Prämissen«.15 Damit wird der Begriff des »elitären Technobildes« (mit seinen expliziten Strukturen) aufgerufen, den Flusser als Gegenbegriff zu den manipulativen »Massentechnobildern« der Unterhaltungsindustrie (mit ihren impliziten Strukturen) geprägt hatte. Das »Elitetechnobild«, hier als Visualisierung von linearen Texten oder numerischen Fakten verstanden, stellt jene kritische Größe dar, die das Potenzial zur Veränderung und damit zur Überwindung der von Flusser als »totalitäre Verfremdung« diagnostizierten Krise besitzt.16 Diesem kritischen Technobild-Begriff ist Mers’ künstlerisches Konzept der »nützlichen Bilder« geschuldet, das sie

12 | Vgl. Mers 2006. 13 | Mers’ intensive Auseinandersetzung mit »Krise der Linearität« führte zu ihrer Erstübersetzung des Textes ins Englische: Flusser 2007. 14 | Vgl. Mers 2007, S. 19. 15 | Mers zitiert das Fazit aus Flussers Überlegungen zum Technobild. Vgl. Mers 2007, S. 19; Flusser 1998, S. 156 f. 16 | Vgl. Mers 2007, S. 19; Flusser 1998, S. 176, 208. Zu Flussers implikativem Beitrag zur Diagrammatik aufgrund seines Technobild-Begriffs vgl. Bauer und Ernst 2010, S. 176–179.

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als strategischen Gegenentwurf zum autonom-ästhetischen Bild der Moderne entwickelt hat.17 Das Aufzeigen operativer Prämissen als emanzipatorisches Projekt war so ungebrochen flusserisch gedacht wie ihr emphatisch mit einem Flusser-Zitat bekräftigtes Kunstprogramm, »der menschlichen Absicht in einer von Apparaten beherrschten Welt Raum zu schaffen«.18 In diesem, von Mers angeführten Zitat findet die akademische Grundsatzkritik an der visionären Hypothesenbildung des Medientheoretikers keine Resonanz.19 Mers’ uneingeschränkte Wertschätzung für Flusser basiert auf dessen Aufdeckung des ­Apparat-Operator-Komplexes und der euphorischen Hoffnung auf Überwindung dieses totalitären Beziehungsgeflechts zugunsten von selbst entworfenen Projekten. Letztere brachte Mers für sich auf die gegenkulturellen Selbstermächtigungsformeln von »do-it-yourself« und »doing-it-together«.20 Mit Flusser teilt die Künstlerin darüber hinaus die Überzeugung von den epistemischen Möglichkeiten, die in der Geste des Bildermachens angelegt sind, nämlich die Sinnerzeugung und Sinnstiftung als aufklärerisches Engagement. Diagrammatisieren bedeutet hier zeitgemäße Arbeit an der Erkenntnis. Mers’ Devise von »making sense« zieht sich wie ein Leitmotiv durch ihre Äußerungen.21 Dieser Grundsatz gilt nicht zuletzt auch für das

17 | Damit geraten Marcel Duchamps diagrammatische Aktivitäten als »kreativer Akt« ins Visier von Mers’ Kritik. Vgl. Mers 2011. Die Kunstwissenschaft hingegen glaubte in Duchamps »formalen Erfindungen« Anzeichen einer epistemologischen Krise zu erkennen oder beschrieb seine Diagramme als spielerische Versuchsanordnungen ohne Regelzwang. Vgl. Joselit 2012; Bogen 2007. Natilee Harren hielt Joselits Essay für so grundlegend, dass sie meinte, keinen dezidiert eigenen Standpunkt in Bezug auf Duchamps Diagramme einnehmen zu müssen. Vgl. Harren 2008. 18 | Flusser 1983, S. 51; Mers 2006 zitiert die englische Übersetzung: Flusser 1984, S. 74 f. 19 | Zur weitgehend auf Missverständnissen beruhenden Kritik an Flusser und der kategorischen Ablehnung seiner spekulativen Philosophie und hybriden ­T heorien in akademischen Kreisen vgl. Ströhl 2009, S. 105–122. 20 | Mers [2009]. 21 | Vgl. exemplarisch Mers und McGee 2004.

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Diagramm, dessen Generierung von Bedeutung mit genuin bildnerischen Mitteln geschieht.22 Als Ergebnis ihrer Auseinandersetzung mit medientheoretischen Fragestellungen legte Mers 2003 den After Vilém Flusser-Zyklus vor. In neun repräsentativen Diagrammen wird Flussers intensive Wirkung auf die bildende Kunst außerhalb der Filmszene erstmals fassbar.23 Während Harun Farocki oder Peter Weibel (als Filmemacher) bereits in den achtziger Jahren mit Flusser’schen Theoremen zur Bestimmung der Neuen Medien operiert hatten, kam es erst viel später zu einer Umsetzung in anderen künstlerischen Bereichen. Nach 2000 begann Mers mit avancierten Techniken im alten Medium des Bildes jenen Raum »der menschlichen Absicht in einer von Apparaten beherrschten Welt« zu konstruieren. Dabei entstanden in Mers’ Arbeit semantisch aufgeladene Oberflächen vor fluoreszierend grünem Farbfond, in dessen gleichmäßigem Leuchten die Goldgrundierung mittelalterlicher Malerei nachschimmert.24 Zur Ausgestaltung dieses historistischen Hintergrunds hat Mers eigene Aufnahmen von Menschengruppen und Menschenmengen bei öffentlichen Veranstaltungen herangezogen, die ein Ziel fokussieren. In ihrer Komprimierung zu digitalen Reliefstrukturen hinterfangen diese Personen Flussers Generalthema einer humanistischen Apparatekritik teils abstrakt, teils figurativ. Auf diese Weise versucht Mers den goldgrünen Flächengrund als Sinnbild für »offenen Raum« einer Perspektivierung zuzuführen, damit die mit ihm assoziierten metaphysischen Konzepte in eine systemische, eine kybernetische, eine vernetzte, kurz: in eine diagrammatische Reflexion übergehen können. Die Angabe ihrer Inspirationsquelle war für Mers selbstverständlich wie obligatorisch. Lakonisch verbindet sie in den denotativen 22 | Davon ist auch der Text nicht ausgenommen. Im Sinne einer »Logik der Bilder« wird der Logos über seine eingeschränkte Verbalität hinaus um die Potenz der ikonischen Außenseite erweitert und dabei transformiert. Vgl. Boehm 2004, S. 30. 23 | Das schwierige Unterfangen, Flussers Einfluss auf die bildende Kunst aufzuzeigen, begründet Ströhl (2009, S. 102) damit, dass sich die Wirkung von Gedanken leichter formulieren als visualisieren lasse. 24 | Mers’ kunstwissenschaftliche Referenz für den perspektivelosen Goldgrund des mittelalterlichen Tafelbildes lieferte Burckhardt 1994.

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Titeln ihrer Diagramme die Tradition der »Paraphrasenkunst« mit der wissenschaftlichen Konvention bibliografischer Angaben: After Vilém Flusser: Exile and Creativity; After Vilém Flusser: Line and Surface (a); After Vilém Flusser: Habit – The True Aesthetic Criterion; After Vilém Flusser: Change of Paradigms; After Vilém Flusser: Taking Up Resi­ dence in Homelessness; After Vilém Flusser: Backgrounds; After Vilém Flusser: Criteria–Crisis–Criticism; After Vilém Flusser: Playing und After Vilém Flusser: Line and Surface (b).25 Unter Verweis auf die literarische Quelle erzählt Mers die zitierten Texte nicht einfach nach, vielmehr stellt sie mithilfe der Diagrammfolge den intertextuellen Zusammenhang eines größeren Gedankenkomplexes erst her. Jeder Titel eröffnet als intellektuelle Vorgabe ein Dispositiv für die Bildbetrachtung. Hinter jedem Begriff verbirgt sich ein Diskurs. Mers versachlicht diese Diskurse, indem sie die Theoriekomponenten in diagrammatischen Konstellationen sichtbar macht. Um dies zu erreichen, codiert sie den schriftlichen Argumentationsmodus in ein visuelles Argumentationsmuster um, so dass aus den Metaphern der Theorie ein bildhaftes Diagramm entsteht. Mit einem Set aus Begriffen und Textfragmenten, aus monochromen Figuren und Symbolen, aus geometrischen Formen und Flächen, aus Verbindungslinien und grafischen Strukturen kombiniert Mers zentrale Thesen formelhaft zu einem neuen Sinnbild. Durch die diagrammatische Modalisierung von Theorie entstehen visuelle Denkmuster, in denen Flusser’sche Konzepte einer bildnerischen Vorstellungskraft anverwandelt sind. Die Schaubilder profitieren dabei vom Pathos der Theorie; zugleich birgt die Aneignung von theoretischem Vokabular das Versprechen, die Kunst neu zu besetzen. Zwei Beispiele: After Vilém Flusser: Exile and Creativity kategorisiert die existenziellen Voraussetzungen für Kreativität. »Native«, »trav­ eler«, »emigrant/exile« und »immigrant« stehen mit ihren distinkt unterschiedlichen Sensibilitäten für das Anästhetische, das Ästhetische, das Hyperästhetische und nochmals das Ästhetische (Abb. 115). Aus diesem zirkulären Modell schert der »migrant« insofern aus, als ihm als ewig Fremden die Welt nach allen Richtungen hin offen zu stehen scheint. After Vilém Flusser: Backgrounds schematisiert die 25 | Die titelgebenden Aufsätze stammen aus folgenden Publikationen: Flusser 1997; Flusser 1999; Flusser 2002.

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Abb. 115: Adelheid Mers, After Vilém Flusser: Exile and Creativity, 2003 Abb. 116: Adelheid Mers, After Vilém Flusser: Backgrounds, 2003

Subjekt-Objekt-Hintergrund-Strukturen moderner Weltanschauungen anhand von Dreieck, Oval und Kreis (Abb. 116). Die dunkel eingefärbten Segmente der geometrischen Figuren markieren dabei jenen undurchsichtigen Bereich der Macht, dessen Durchdringung mithilfe der Vernunft von Flusser als »Fortschritt« definiert wurde.26 In diesem Sinne ließ sich das Projekt der Aufklärung als Durchdringung aller »Phänomene« begreifen, ein Gedanke, den Mers in eine Rasterstruktur übersetzt hat. Der Kreis symbolisiert schließlich das postmoderne Weltbild, in dem es keinen Hintergrund mehr gibt. Die Gründe dafür erkannte Flusser in den Transparenzleistungen künstlicher Intelligenz und des Hologramms, ein komplexer Gedankengang, den Mers zur besseren Vergleichbarkeit der Weltanschauungsmodelle mit »reason« zusammenfasst. Mers’ diagrammatische Arbeiten, die in rascher Folge und thema­ tischer Breite nach der Jahrtausendwende entstehen, sind durch eine innere Entwicklungslogik motiviert. Gleichgültig, ob sie sich mit Texten zur Soziologie (Lester Frank Ward), Politikwissenschaft (­Hannah Arendt, George Lakoff), Semiotik (Roland Barthes, Charles Sanders Peirce), Sprachphilosophie (Richard Rorty), Mythologie (Hesiod), 26 | Vgl. Kap.»Hintergründe« (1995), in: Flusser 1997, S. 223–236.

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Religionsphilosophie (Martin Buber), Psychologie (Carol Gilligan), Medientheorie (Vilém Flusser, Marshall McLuhan) oder Kulturtheorie (Walter Benjamin, Ellen Dissanayake) befasst, die aus der transdisziplinären Lektüre entworfenen Diagramme sind in zweierlei Weise theorieabhängig. Theorie als methodische Setzung schafft zunächst die allgemeinen Rahmenbedingungen, unter denen Kunst überhaupt erst entstehen kann; als Attribut der künstlerischen Arbeit definiert sie das Feld der ästhetischen Produktion. Bei Mers wird dieser äußere Theorierahmen durch Flussers Kontingenztheorem bestimmt, also die Einsicht in die Notwendigkeit, bei vordergründigen Phänomenen stets deren Hintergrundeinstellungen mitzureflektieren.27 Theorie bestimmt darüber hinaus als Themenvorgabe die innere Verfasstheit von Mers’ Kunst. Dabei verlangen die »Störanfälligkeit des theoretischen Antriebs« (Hans Blumenberg) und der »Steuerungsverlust« (Negt und Kluge) in der künstlerischen Theoriearbeit nach einem gesicherten methodischen Verfahren.28 Für Mers’ Arbeitsweise legt dies ein einheitliches Vorgehen nahe, zumal sich ihre diagrammatischen Visualisierungen nicht auf die Komprimierung von Texten zu Theorieemblemen beschränken, auch wenn hierin der Schwerpunkt ihres Schaffens liegt. Gleichgültig, ob Mers ein Buch zusammenfasst oder einen Essay interpretiert, einen Vortrag vorbereitet oder Diskussionen strukturiert, Kunstinstitutionen analysiert oder Künstler interviewt, soziologische Gefüge veranschaulicht oder ökologische Wechselwirkungen aufzeigt, Organisationsstrukturen erklärt oder Ausstellungen konzipiert, der Arbeitsprozess ist stets derselbe: Texte werden gelesen, geschrieben, analysiert, um sie in einem finalen Schritt in die diagrammatische Darstellung zu überführen, die erklärtermaßen als Denkwerkzeug wie Erinnerungshilfe dient.29 Die Mehrzahl der Schaubilder  – das Spektrum reicht vom Diagramm bis zur Karte, vom Organigramm bis zum Plan, von der Spielvorlage bis zum Mandala – ist mit dem Computer erstellt. Mit ihrer implementierten Ästhetik entziehen Programme wie Microsoft Word, PowerPoint, Adobe Illustrator, Photoshop, DreamWeaver oder After 27 | So Mers in einer E-Mail an die Autorin vom 28.7.2010. 28 | Vgl. Blumenberg 1996, S. 236–277; Negt und Kluge 1981, S. 479 f. 29 | So Mers im Gespräch mit der Autorin am 4.7.2010.

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Effect den grafischen Arbeiten jegliche Faktur. Die makellose Oberfläche von Mers’ Diagrammen ist dennoch mehr als bloßes Informationsdesign, das bei Flusser ohnehin unter dem Generalverdacht der Manipulation stand.30 Trotz ästhetischer Ausformung und symmetrischer Ausgewogenheit, die Schönheit dieser vielfach in poppigen Farben aufgeladenen Theoriebilder ist keine Volte rückwärts. Frei von »chartjunk« (Edward R. Tufte) zielt die auratische Werkqualität jedes einzelnen Diagramms auf die Affekt- und Aufmerksamkeitsökonomie des Betrachters ab. Wenn es dem künstlerischen Gestaltungswillen gelingt, aktives Wahrnehmen zu binden, wird Ästhetik mit Aisthetik verschränkt. In ihrer Mischung aus visueller Poesie und analytischer Darstellung verhelfen die Diagramme der Theorie zu einer Außenwirkung, die nicht nur ästhetischer Überschuss von Theorie ist.31 Theorie erlangt hier eine Anschaulichkeit, die über die Privilegierung des visuellen Systems hinausgeht, indem sie auf die Betrachtungsweise von Theorie zurückwirkt. Man kann es auch so sagen: Das Diagramm präsentiert in gebotener Knappheit zentrale Argumente und damit einen diskursiven Rahmen für die Rezeption von Theorie. Der diagrammatische Darstellungsmodus erlaubt es, kognitives Wissen als visuellen Vorgang, eben als »kognitive Kunst« zu vermitteln, die ihrerseits des visuellen Überschusses bedarf, um neue Erkenntnisprozesse anzustoßen. Der diagrammatische Darstellungsmodus gestattet, mit ausgewählten Fragestellungen nicht nur bildnerisch zu experimentieren, sondern auch zu argumentieren.32 Aus diesem Grund hatte W.J.T. Mitchell das Diagramm mit einer »visuellen Maschine« verglichen, die Sprache – und damit Bedeutung – erzeugt.33 Der Begriff der »Maschine« scheint fundamental für ein mechanistisches Diagrammverständnis zu sein, das davon ausgeht, dass die diagrammatische Konstruktion verschiedenste Arten von Problemen zu thematisieren und zu lösen versteht, indem sie als intellektueller 30 | Speziell zur »Demagogie« des Layouts in der Boulevardpresse vgl. die dokumentarische Gesprächsaufzeichnung Schlagworte – Schlagbilder. Ein Gespräch mit Vilém Flusser (1986) von Harun Farocki. 31 | Vgl. Küpper 2013. 32 | Vgl. Kap. »Wissen als Bild« in diesem Buch, S. 39–70. 33 | Vgl. Mitchell 1994, S. 234.

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Katalysator Denkprozesse in Gang setzt, die sich verbalisieren lassen. Die grammatikalische Syntax wird dabei durch eine visuelle Syntax ersetzt. Auf dieser operativen Relationalität beruht die Grammatik des Diagramms, die Diagrammatik. Das Paradigma solch einer operativen Relationalität liefert Mers. Der theoretische Gebrauchswert ihrer Diagramme liegt in deren »Performativität«. Mers sucht stets nach Bedingungen, unter denen ihre Arbeiten zum kommunikativen Handeln führen können. Dieser Ansatz wurde in interaktiv angelegten Ausstellungen wie Backgrounds and Conversations (Chicago) oder Looking At / Looking Through (Chicago und Des Moines, Iowa), beide 2004, dadurch verstärkt, dass sich Mers während der gesamten Öffnungszeit als Dialogpartnerin zur Verfügung stellte. Indem sie ihre Kunst in einem diskursiven Kontext situierte, konnte Mers sichergehen, dass ihre Diagramme durch keine ästhetische Betrachtungsweise fixiert wurden. Die werkbegleitenden Konversationen verlagern die Auseinandersetzung vom reinen Sehakt in den Sprechakt. Im Gespräch, hier als dialogische Herstellung von Einsicht, als intersubjektiver Erkenntnisgewinn verstanden, führt Mers die Betrachter an ihre Form der Theoriearbeit heran.34 Als Diskurskatalysatorin ist sie immer auch Kunstvermittlerin in eigener Sache. Zu dieser Strategie gehört, dass die vielfach wandfüllenden Diagrammformate zugleich als handliche Flugblätter aufliegen, um  – idealiter  – eine Eigendynamik jenseits des White Cube entfalten zu können. Kommunikatives Handeln ist den Diagrammen gleichsam als kontingente Eigenschaft eingeschrieben. Erst wenn die Sehmaschine »Diagramm« anspringt, um bei W.J.T. Mitchells Metapher zu bleiben, entfalten Mers’ Arbeiten ihr emanzipatorisches Potenzial, dessen Maximum erreicht ist, wenn die künstlerische Problemstellung von den Betrachtern auf gesellschaftliche Problemstellungen übertragen wird. Die operative Wirkung der Diagramme ist erschöpft, wenn die in ihnen angelegte Befähigung zur Kritik realisiert wird.

34 | Zur Bedeutsamkeit von »echter menschlicher Kommunikation« hat sich Flusser (1998, S. 157) mehrfach geäußert und Mers (2007, S. 18) bezieht sich darauf.

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Abb. 117: Ward Shelley, Autobiography, 1996

R udimentäres N arr ativ Ward Shelleys diagrammatische Aktivitäten sind durch sein epistemologisches Interesse motiviert. Dieses gründet im Sensualismus des 18. Jahrhunderts und in den jüngeren Kognitionswissenschaften und wird von der Frage geleitet, wie sich die durch Sinneseindrücke geprägte Weltanschauung mit bildnerischen Mitteln ausgestalten lässt.35 Die diagrammatischen Operationen von Shelley sind aus der Einsicht geboren, dass sich seine Reflexionen zu Gesellschaft und Kultur nur ungenügend in den motorbetriebenen Objekten aus Fundstücken der Wegwerfgesellschaft, die er nach seinem Umzug von Miami nach New York 1991 herzustellen begann, oder den »living environments«, die ab 1997 realisiert wurden, artikulieren ließen.36 Um über den prälingualen Status dieser allegorischen 35 | Vgl. Shelley 2008, S. 21; Shelley 2011. 36 | Speziell zur Objektkunst vgl. Shelley 1995.

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Abb. 118: Edward Hull, The Wall Chart of World History, London 1991 (Detail) Abb. 119: Charles Joseph Minard, Carte Figurative, 1869

Plastiken und Installations-Performances hinauszugelangen, hätte Shelley seine Arbeiten kommunizieren müssen. Doch er wollte die Welt erklären, ohne selbst sprechen zu müssen. Als Lösung dieses Dilemmas bot sich das Diagramm an. Sein sprachanaloger Status war in der skripturalen Ausdruckskraft begründet, die hybriden Formen der Schriftbildlichkeit eigen ist: »Ich denke, Diagramme sind Sprache. Ihre bildlichen Symbole sind begrenzter als Schriftsprache, aber auf gewisse Weise sehr eindringlich und zugänglich.«37  Die ersten Tabellen, Tortendiagramme und Flussschemata, die ab 1996 in einer Art Parallelaktion zu den skulptural-performativen Arbeiten entstanden, bezeichnet Shelley als »rhetorische Zeichnungen«. Dabei wurden  – ähnlich wie bei Mers  – mnemotechnische Aufzeichnungsverfahren aus Studientagen für ästhetische Zwecke aktiviert. In Autobiography (1996), dem ersten künstlerischen Diagramm von Shelley, deutet nichts auf sein gesteigertes Interesse an Grafen und Schautafeln seit Beginn der neunziger Jahre hin (Abb. 117). Shelleys diagrammatische Wende wird allenfalls durch diskrete Negierung evident. Mit keinem Wort ist Edward Hulls Wall Chart of World History oder Charles Joseph Minards Carte Figurative des pertes 37 | Shelley in einer E-Mail an die Autorin vom 27.11.2007. Zum hybriden Status des Diagramms zwischen Schriftlichkeit und Bildlichkeit vgl. Krämer 2003 und Krämer 2009.

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Abb. 120: Ward Shelley, Addendum to Alfred Barr, ver. 2, 2006 Abb. 121: Alfred H. Barr jr., »Torpedo« Diagram of Ideal ­P ermanent ­C ollection of The Museum of Modern Art, as Advanced in 1941, 1941

successives en hommes de l’Armée Française dans la campagne de Russie 1812–1813 erwähnt, beides Geschichtsdiagramme aus dem späten 19. Jahrhundert, die als Referenzgrößen einen prägenden Einfluss auf Shelleys diagrammatischen Konzeptualismus ausüben sollten (Abb. 118–119).38 Hulls Darstellung der Weltgeschichte als horizontale, nach Nationen und Kulturen getrennte Flussläufe bildete den Archetyp für Shelleys »timeline drawings«. In Autobiography wurde 38 | Bei Hulls Wall Chart of World History (1991) handelt es sich um einen nicht ausgewiesenen Reprint im verkleinerten Leporelloformat von Sebastian C. Adams’ Synchronological Chart or Map of History (New York 1871). Zu einer späteren Edition dieses populären Rollbildes, das in seiner ganzen Breite 6,7 Meter misst, hatte Hull Landkarten beigesteuert. Er gilt durch seine namentliche Erwähnung fälschlicherweise auch als Autor des Geschichtsdiagramms. Die Abbildung von Minards Karte fand Shelley in Tufte 1983.

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die thematische Stratifikation mit den statistischen Grafen von ­ inard so kombiniert, dass in der Erfassung von biografischen EinM zelepisoden bereits eine Perspektivierung ihrer Bedeutung mittels Skalierung eingeschrieben ist. Neben den historischen Vorbildern Hull und Minard gehören auch der Fluxus-Initiator George Maciunas und der Gründungsdirektor des Museum of Modern Art in New York, Alfred H. Barr jr., zu Shelleys Referenzen.39 Barr hatte mit seinem Diagram of Stylistic Evolution from 1890 until 1935 (1936) – ohne die Rhetorik einer großen Tradition  – den Bildtyp der modernen Kunstgenealogie als vektor­ geleitete Deduktion entwickelt und damit einen für Generationen von Kunsthistorikern verbindlichen Denk- bzw. Reflexionsmodus vorgelegt (Abb. 6). Bevor Shelley dieses richtungsweisende Schaubild im Herbst 2005 für sich entdeckte, hatte er an einer neuen Serie von Diagrammen zu arbeiten begonnen, deren Gestaltungsprinzip auf eine Ästhetisierung der Fakten ausgerichtet war. Shelley legte die Schemazeichnungen zunächst mit Bleistift auf Papier an und übertrug sie dann auf eine transparente Polyesterfolie. Es folgte die Kolorierung der Grafik auf der Folienrückseite; eigens gesetzte Farbakzente auf der Vorderseite sollten die optische Tiefenwirkung des Schaubildes steigern. Mit diesem Verfahren ließen sich nicht nur ältere SchwarzWeiß-Arbeiten nachträglich aufrüsten, vor allem konnten immer wieder neue Fassungen ein und desselben Themas erstellt werden, die durch geringfügige sachliche Korrekturen, vorwiegend aber durch ihr koloristisches Erscheinungsbild voneinander abwichen. In jedem Fall verlieh Shelley dem informationslastigen Look der Diagramme durch malerische Effekte mehr Attraktivität. In Addendum to Alfred Barr, ver. 2 (2006) hat Shelley das Barr-Chart seiner eigenen Form der Geschichtsdarstellung angepasst (Abb. 120). Wie immer in der Geschichte der Bilder verschiebt sich mit der Adaptierung auch die Semantik. Durch die Drehung von Barrs deszendierendem Entwicklungsschema in eine horizontale Stratifikation zieht Shelley die Dramatik des linearen Fortschritts in die epische Breite eines Historienpanoramas. Die Zeit bildet jetzt nicht mehr den äußeren Rahmen einer als selbstreferenziell definierten Moderne, sondern eine abstrakte Folie, vor der sich die Entwicklungsdialektik 39 | So Shelley in einer E-Mail an die Autorin vom 27.11.2007.

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der Avantgarde in kräftigen Farben abheben lässt. Shelley zeichnet ein umfassenderes Bild von der modernen Kunst als Barr, indem er ihre Geschichte einerseits bis zu den akademischen Diskursen des 18. Jahrhunderts zurückverfolgt und andererseits auf den diffusen Stilpluralismus der Postmoderne eingeht. Mittels Farbcodierung sind drei Phasen unterschieden: die Einflüsse der Aufklärung in Dunkelrot, die Klassische Moderne in Orange und die Kunst nach 1945 in Gelb. In diesem historiografischen Setting werden mit der Einführung von ikonischen Elementen explizite Konnotationen aufgerufen. Shelley zitiert Barrs kämpferisches »Torpedo« Diagram of the Ideal Permanent Collection of The Museum of Modern Art, as Advanced in 1941 (1941), in dem das streitbare Hegemoniestreben des MoMA mit der Platzierung der nord- und mittelamerikanischen Kunst an der Torpedospitze sein wohl provokantestes Symbol  – erstmals 1933 verwendet  – gefunden hat (Abb. 121).40 Die weitreichende Bedeutung des »torpedo in motion« (Alan R. Blackburn jr.) als rhetorische Kampfansage einer kompetitiven Museumspolitik ist nun bei Shelley mit meta-ironischem Witz zur symbolischen Repräsentationsform von Geschlecht verkürzt.41 Die neue ­gesellschaftspolitische Brisanz des zigarrenförmigen Projektils beruht im evozierten Kontext des 68er-Feminismus auf Themen wie Macht, Gender und Identität. In der Weiterentwicklung des Barr-Charts ist eine Differenz angelegt, die sich als Grundsatzkritik an dem Vorbild anbietet, auch wenn Shelley sein Addendum als Hommage an Barr verstanden wissen will. Letzterer hatte die Evolution der Stile in den Blick genommen, nicht die näheren Umstände, die herrschenden Auffassungen, die Atmosphären, die Möglichkeiten und Grenzen geschichtlicher Konstellationen, die künstlerische Entwicklungsprozesse beeinflussen oder auslösen. Shelley begegnet der Problematik einer mangelnden Reflexion der gesellschaftlichen, kulturellen, sozialen und institutionellen Verflechtungen in Who Invented the Avant-Garde, ver. 1 (2006) (Abb. 122). Darin wird den Fragen nach den ursächlichen Zusammenhängen der Avantgarde nachgegangen, die Barrs 40 | Zur Entstehungsgeschichte und Entwicklung von Barrs »Torpedo-Diagrammen« vgl. August 2009. 41 | Zu Blackburns Rolle zunächst als Assistent von Barr und dann als geschäftsführender Direktor mit Barr vgl. August 2009, Bd. 1, S. 79–85.

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Abb. 122: Ward Shelley, Who Invented the Avant-Garde, ver. 1, 2006

Diagramm auf stupende Weise offen gelassen hatte: die Kolonialisierung und Industrialisierung, die Herausbildung einer Mittelschicht als Sammlerklientel, die technologischen Veränderungen und die Industrielle Revolution, politische Strömungen oder die deregulierenden Wirkungen der Globalisierung. Zur Visualisierung dieses mehrdimensionalen Prozesses ersetzte Shelley das Barr’sche Vektorensystem durch das Modell des Blutkreislaufs. Die schwache Kausalitätsanmutung einer stilgeschichtlichen Prozessrationalität, die durch Pfeile bekräftigt werden soll, ließ keine anderen Mitermöglichungsbedingungen der Avantgarde zu als die des direkten bzw. indirekten Einflusses. Über kommunizierende Gefäße wie die Arterien und Venen konnte ­Shelley nun die fließenden Übergänge zwischen dem Ästhetischen und dem Gesellschaftlichen versinnbildlichen. Im organischen Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren ist eine Deeskalationssymbolik angelegt, die grundlegende Konflikte von vornherein beschwichtigt, statt sie in ihren polarisierenden Intentionen herauszuarbeiten. Mit dem Bild des Blutkreislaufs greift Shelley auf einen alten Topos für Gesellschaftsformationen zurück. Das geschlossene Zirkulationsmodell  – einschließlich seiner sozialpolitisch nicht ganz unproblematischen Implikationen  – bricht Shelley ironisch auf, indem er es kraft seines sequenziellen Erzählstils der Comic-Sprache anverwandelt. Diese popkulturellen Effekte dienen nicht zuletzt auch dazu, das Geschichtsdiagramm breitenwirksam zu machen.

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Abb. 123: Ward Shelley, Autonomous Art, ver. 1, 2007–09

In der letzten Arbeit seiner diagrammatischen Trilogie zur modernen Kunstgeschichte hat Shelley eine Historisierung des Strömungssystems aus künstlerischen Ideen und sozioökonomischen Konzepten der vergangenen Jahrhunderte vorgenommen. Unter Rückgriff auf Peter Bürgers Theorie der Avantgarde relativiert Autonomous Art, ver. 1  (2007–09) den kritischen Anspruch der historischen Avantgarden, indem eine von Marktmechanismen erzeugte Kunstblase deren vollständige Absorption plastisch vor Augen führt (Abb. 123). Shelley kommentiert die verschiedenen Phasen dieses ökonomisch diktierten Entmächtigungsprozesses von engagierter Kunst. Inspiriert von Bürgers moralischem Bewusstsein, verwandelt er die Chronologie der Ereignisse in einen Diskurs über die Vergangenheit. Shelleys diagrammatisches Themenspektrum wird durch sein Interesse an philosophischen Fragen, politischen Zusammenhängen und guten Geschichten bestimmt. Der Fokus liegt auf der internationalen Avantgarde, mit Schwerpunkt auf der amerikanischen Kunst bzw. der New Yorker Szene. Hinzu kommen Schaubilder, in denen sich persönliche Vorlieben widerspiegeln, etwa für Rockmusik oder

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für den Underground-Film. Monografisch angelegte Diagramme zu Andy Warhol oder Frank Zappa profitieren vom Starkult, der um diese Personen betrieben wird. Umgekehrt verlieh Shelley den performativen Ansätzen von Carolee Schneemann, Pat Oleszko oder Arto Lindsay ein dauerhaftes diagrammatisches Bild, das er als narratives Substitut ihrer »ephemeren Originale« angelegt hat.42 Als Diagrammatiker ist Shelley ein Erzähler. Er selbst vergleicht sich mit einem Kolumnisten.43 Tatsächlich ist Shelley ein veritabler Chronist.44 Dabei ist er stets um Datenoptimierung bemüht. Auf redundante Informationen zu verzichten, setzt einen analytischen wie theoretischen Prozess voraus. Durch Komplexitätsabbau, mag dieser den Maßstab oder die Eigenschaften einer Sache betreffen, tritt eine Art Umkehrung des Erkenntnisprozesses ein. Komplexe Themenstellungen werden erst in ihrer Vereinfachung fassbar: »Der Mensch kann sich einige Fakten vergegenwärtigen, nicht jedoch die Wahrheit, jedenfalls dann nicht, wenn wir Wahrheit als Ganzheit, als etwas unendlich Komplexes, Zusammenhängendes und nicht Reduzierbares verstehen. Wir können immer nur einen Teil davon sehen. Unterschiedliche Situationen bedingen unterschiedliche ›Wahrheiten‹. Dies sind nicht wirklich Wahrheiten, es sind zweckmäßige Einsichten. Und oftmals prägen sie sich durch ein Narrativ ein und werden dadurch zusammengehalten.« 45

Shelley arbeitet mit nur drei Parametern: der Zeit als Konstante, den Personen und Ereignissen als zwei Variablen. Kompositorisch sind diese Größen so aufeinander bezogen, dass sie Vorgaben ihrer 42 | »Ich hatte die Vorstellung, dass meine Diagramme als Ersatz für die ephemeren Originale dienen und deren Geschichte erzählen könnten.« Shelley in einer E-Mail an die Autorin vom 25.6.2010. 43 | So im Gespräch mit der Autorin am 12.11.2008. 44 | Ein Beispiel: In Williamsburg Timeline Drawing (2000) verlieh Shelley dem neuen Selbstbewusstsein der Kunstszene in Williamsburg (Brooklyn), die lange Zeit im Schatten der Manhattans stand, ein diagrammatisches Image, indem er deren Geschichte über einen Zeitraum von 30 Jahren minutiös im Panoramaformat (81 ×  213 cm) aufzeigte. 45 | Shelley 2011, S. 252 (in geringfügig abgewandelter Form bereits in Shelley 2008, S. 21).

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Lesbarkeit machen. Durch konjekturale Erfassungsakte stellt sich eine rudimentäre Erzählstruktur ein. Der Bauplan von Shelleys Diagrammen folgt der Chronologie. Chronologien stellen reine Aufzählungen von Ereignissen dar. Mit ihrer quantitativen Erfassung der Geschichte tragen sie noch nichts zur qualitativen Bestimmung der Vergangenheit bei. Damit die additive Reihung der Fakten in eine Bedeutungsproduktion umschlagen kann, müssen ursächliche Zusammenhänge zwischen den einzelnen Tatsachen hergestellt, Intentionen enthüllt und Prozesse erklärt werden. Erst dann werden aus »plain narratives« sogenannte »significant narratives«, um ein Unterscheidungskriterium des Geschichtsphilosophen William Henry Walsh einzuführen.46 Damit aus der Chronologie als einfaches Narrativ ein signifikantes Narrativ entstehen kann, bedarf es der Kausalisierung von Ereignissen, wie Walsh weiter ausführt.47 Arthur C. Danto gehörte zu jenen Kritikern, die der Walsh’schen Unterscheidung zwischen einfachem und signifikantem Narrativ grundsätzlich ablehnend gegenüberstanden. Um deren Schwächen bloßzustellen, verwies er unter anderem auf theoretische Abhandlungen in den Sozialwissenschaften oder Studien über Wirtschaftszyklen. Obwohl sie narrative Passagen enthalten, können sie keinesfalls den »signifikanten Narrativen« zugerechnet werden.48 Indem diese Abhandlungen über weite Strecken mehr darstellen als erklären, bilden sie ein eigenes Genre, das auch nicht in die Rubrik »einfaches Narrativ« fällt. Danto stritt chronologischen Listen mit Namen und Daten von berühmten Künstlern und deren Werken in einer bestimmten Epoche jegliche Erzählfähigkeit ab. Er bezog sich dabei auf Walshs Interpretation von tabellarischen Aufstellungen zur Geschichte der griechischen Kunst, der sie als »blanke Gerippe der Geschichte« bezeichnet hatte. In Dantos Augen ist eine Liste kein Narrativ. Indem sie jedoch die »historische Einbildungskraft« freizusetzen vermag, sind  – pointiert formuliert – alle Voraussetzungen dafür gegeben, dass ein signifikantes Narrativ generiert werden kann.49 Rudimentäre Angaben genügen 46 | Vgl. Walsh 1951, S. 31. 47 | Vgl. ebd. 48 | Vgl. Danto 1985, S. 116–120. 49 | Speziell zur »historischen Einbildungskraft« im Spannungsfeld von Theorie und Narrativ vgl. Danto 1985, S. 121–124.

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bereits, um aus einer Liste eine sinnstiftende Geschichte abzuleiten. Wird die »dokumentarische Evidenz« in wirkungsvoller Weise für die historiografische Konstruktion genutzt, schlägt Geschichte als Aufzählung in »plausible Narrative« um.50 Diese »plausiblen Narrative« versucht nun Shelley durch Verflechtungsordnungen hervorzurufen. Als Aufforderung zum relationalen Sehen stellen sie ursächliche Verbindungen her, als Denkanleitung erzeugen sie eine deduktive Wahrheit: die Erklärungsmächtigkeit schematischer Geschichtsdarstellungen. Innerhalb Shelleys synchroner Ereignisordnung entsteht so eine argumentative Beziehungsstruktur, der diagrammatische Plot. Als Komplementärentwurf zu großen Narrativen lesen sich ­Shelleys Schaubilder wie rudimentäre Abrisse.51 Die unterschiedlichen Erzählstrukturen werden mit der Absicht angelegt, narrativem Wissen eine verbindliche ästhetische Form zu verleihen.52 Narrative können nicht nur in ihrer Bildfindung signifikant sein, sie stiften vor allem Sinn und erfüllen damit eine wichtige Orientierungsfunktion. Das Erklärungsmodell mag faktenresistent oder widerspruchsvoll sein, für Shelley kommt es stets dem psychologischen Grundbedürfnis nach Bedeutungszusammenhängen entgegen.53 Dabei stellen sich diagrammatische Narrative nicht als Emergenz aus einzelnen Informationen ein. Sie sind Konstruktionen, eben Geschichtskon­struktionen, in denen sich weniger eine historiografische Wahrheit widerspiegelt, als vielmehr ein durch kognitive Prozesse gelenktes Wahrnehmungsdis positiv: »[…] unsere Denkprozesse ermitteln in den Daten Muster«, erläutert Shelley seinen diagrammatischen Ansatz, »die in Einklang 50 | Vgl. ebd., S. 122, 125 f., 226. Zum Narrativitätspotenzial von Aufstellungen vgl. auch White 1990, S. 11–39. 51 | »[…] in die Diagramme fließen systematisch Texte ein, die historischen Quellen entnommen wurden.« Shelley in einer E-Mail an die Autorin vom 9.7.2010. 52 | »Ich beschäftige mich auch mit der Entwicklung und der Erweiterung dieser Form und versuche, eine Balance zwischen den beiden Impulsen  – Form und [...] Inhalt  – zu bewahren. Ich suche nach allgemeingültigen Wahrheiten, die aus diesen Formen hervorgehen. Ich suche nach einer Sprache oder irgendeiner Form des Wissens.« Shelley in einer E-Mail an die Autorin vom 25.6.2010. 53 | Vgl. Shelley 2011. Zur fundamentalen Bedeutung der Narrativität in der Darstellung von Wirklichkeit als transhistorische wie transkulturelle Universalie vgl. White 1990, S. 11–16.

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mit Geschichten (oder Hypothesen) stehen, die eine uns verständliche innere Logik haben. Diese Muster entsprechen meist Dingen, die wir bereits ›kennen‹.«54 Gemäß dieser Einsicht in die Notwendigkeit von Narrativen beschreibt Shelley seine Diagramme als »opinions«, als persönliche Anschauungen, und ruft damit einen offenen Wahrheitsbegriff auf. Als rudimentäre Narrative sind Geschichtskonstruktionen so essenziell für unser Verständnis von übergreifenden Zusammenhängen, wie sie als subjektive Erklärungsmodelle den Blick auf historische Tatsachen verstellen. Im Sinne einer gegen-deleuzianischen »Logik der Sensation« geht es um individuelle Mustererkennung, die sich in eine diagrammatische Plotstruktur überführen lässt.55 Ein wahres, das heißt überzeugendes Narrativ basiert auf einer durchdachten Struktur mit hoher Plausibilitätsanmutung. Hieraus lässt sich umgekehrt folgern, dass es ohne Narrative kein umfassendes Verständnis der Welt gibt. Da Wissen als intellektuelle Voreinstellung die Wahrnehmung prägt, so argumentiert Shelley, stellt das diagrammatische Narrativ nicht das Ergebnis der Recherche dar, sondern den Versuch, Informationen mit dem wissensgeleiteten Wahrnehmungsdispositiv, und damit dem Metamodell des Autors, in Einklang zu bringen.

G egenkulturelles S tatement Das Fließgesetz der Geschichte verrät nichts von deren Widerspenstigkeit und Kontingenz. Dem Eigensinn der Geschichte kann daher auch kein linearer Prozess zugrunde gelegt werden, wie ihn die »timeline drawings« von Shelley suggerieren. Unterschiedliche Geschwindigkeiten historischer Prozesse, zirkuläre Bewegungen, Wiederholungen und latente Beziehungen ergeben das Bild von einem asymmetrischen Verlauf. Diagrammatisch gefasst, entspricht diesem spezifischen Eigensinn der Geschichte das Netz als ikonisches Schema. Gemessen an dem klaren Ordnungsgefüge einer Synchro­n­ opse scheint das Netz die diagrammatische Antiform schlechthin zu sein. Dessen hervorstechendes Kennzeichen besteht darin, dass die 54 | Shelley 2011, S. 252. 55 | Deleuze 1995 geht den faktischen Möglichkeiten nach, unter denen das Diagramm in der Malerei realisiert wird.

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Abb. 124: Jeremy Deller, The History of the World, 1995

zeitliche Abfolge durch dynamische, interaktive und rückgekoppelte Beziehungen ausgetauscht wird. Das Netz lässt sich nach allen Richtungen hin ausbreiten und kann als rhizomatische Struktur komplexe Beziehungen wiedergeben, die sich einem chronologischen Erklärungsmodell entziehen. Als Jeremy Deller, der in verschiedenen Formaten und Medien arbeitet, 1995 in einem bislang einmaligen Akt eine diagrammatische Zeichnung angelegt hat, geschah dies in dem Wissen um deren ­Evidenzerzeugung: »Ich fertigte ein Diagramm an, denn dies schien mir die effizienteste Art, um eine eher seltsame Idee auszudrücken, um zu zeigen, wie ich mir im Geiste eine Idee ausdachte (Acid Brass, eine ganz und gar traditionelle Blechbläserkapelle, die Acid-House-Musik spielt), die einem komisch vorkommen kann, tatsächlich aber auf soziale und politische Unruhen zurückgeht.« 56 56 | Deller in einer E-Mail an die Autorin vom 20.6.2010.

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Ohne Rekurs auf Vorläufer vertraute Deller darauf, mit dem Netzdiagramm The History of the World sein Musikprojekt Acid Brass (1997) erklären zu können, indem er in die grafische Matrix eine rhetorische Struktur verwob (Abb. 124). In dem semantisch aufgeladenen Spannungsfeld aus Namen, Orten und Begriffen zielt die Argumentation darauf ab, historische Begründungszusammenhänge für die spekulative Verbindung der beiden Musikformen »Acid House« und »Brass Bands« in Acid Brass transparent zu machen. Als vektorgeleitete Denkbewegung verortete das Diagramm jene soziokulturellen Ereignisse, die das akustische Crossing beider Musikszenen als gegenkulturelles Statement historisch legitimierten. So spielten Blechbläserkapellen eine wichtige Rolle im Arbeitskampf der britischen Bergarbeiter, der 1984 in der paramilitärischen Auseinandersetzung von Orgreave kulminierte. Acid-House-Musik wiederum war Ausdruck einer jugendkulturellen Massenbewegung, die in Englands deindustrialisierten Stadtteilen ihren Anfang nahm. Mit Acid Brass verlieh Deller der in The History of the World entwickelten These einer akustischen Allianz aus Subkultur und Volksmusik Nachdruck, indem er die prominente Williams Fairey Brass Band dazu bewegen konnte, eigens arrangierte Acid-House-Musik zu spielen. Acid Brass war Solidaritätspakt und Kampfansage in einem, ohne den Gegner explizit beim Namen nennen zu müssen. Implizit bildet die Thatcher-Regierung das ideologische Feindbild, von dem sich The History of the World quasi als zeitgeschichtliche Ad-hoc-Diagnose distanzierte. Mit »strike«, »return to work« oder »deindustrialization« ließ Deller zwar politische Schlagwörter in das Diagramm einfließen. Mit seinem Netzwerk von Aussagen bringt es jedoch die historischen Bedingungen, die zeitspezifischen Macht- und Kapitalverhältnisse noch lange nicht zur Sprache, da größere Entwicklungen in ihrem komplexen Prozess nicht deutlich gemacht werden. Die assoziativ angelegten Verknüpfungen und Überkreuzungen mögen Reflex des Eigensinns der Geschichte sein; in ihnen spiegelt sich mehr noch der Eigensinn des Künstlers wider: »Das Diagramm kam mir in den Sinn, als ich über das Projekt [Acid Brass] nachdachte, beide gehen Hand in Hand und sind für mich nicht voneinander zu trennen.«57 Dazu gehört auch der

57 | Deller in einer E-Mail an die Autorin vom 23.7.2010.

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ironisch gebrochene Titel The History of the World, der nicht zuletzt auf die dramatische wiewohl begrenzte Erfahrungswelt seiner englischen Landsleute abzielt.58 Deller versucht mit seinem Diagramm auf Erkenntnisprozesse steuernd einzuwirken. Er nutzt die visuelle Ausdruckskraft dazu, die zwischen den grundverschiedenen Musikszenen georteten Verbindungen hervorzuheben. Diese Bezüge bilden das konstitutive Moment der Werkgenese. Als intuitive Gegenwartsanalyse führt The History of the World von der deutschen Band »Kraftwerk« über verschlungene Verbindungen in unterschiedlichen Musikkulturen zum »advanced capitalism«, der die Kommerzialisierung der »superclubs« vorantrieb sowie die Deindustrialisierung durch »privatisation« forcierte. In der partiellen Verdichtung globaler Kontexte für lokales Handeln wird auf das aktuell Politische abgezielt, das sich um die Leitidee des subversiven Engagements formiert. So ist mit »civil unrest« an zentraler Stelle dieses Kräftefelds aus konträren Interessen und Einflüssen eine gesellschaftspolitisch motivierte Haltung formuliert, die direkt und indirekt (»the miners strike«) zur blutigen Schlacht von »Orgreave« führt. In der wechselseitigen Einflussnahme und gegenseitigen Durchdringung von »zivilem Ungehorsam« und Arbeitskampf wird ein struktureller Konflikt thematisiert, der sich zu einer Ideologieschlacht zwischen Regierung und Bergarbeitern auswuchs. Die fundamentale Kritik, die im Widerstand angelegt ist, wird diagrammatisch nicht weiter dekliniert, sondern später auf die Bühne des künstlerischen Reenactments ausgelagert. Bei The Battle of Orgreave (2001), der Nachstellung der finalen Auseinandersetzung zwischen Bergarbeitern und Polizei, führte Deller Regie. Die Aufführung des Stücks hatte für die ehemaligen Akteure, die als aktive Teilnehmer an dem Reenactment mitwirkten, eine therapeutische Funktion, für alle anderen aber geriet es zum historistischen Spektakel.59 The History of the World abstrahiert davon, indem formallogische Zeichen wie Vektoren dem Diagramm eine inhaltliche Konsistenz verleihen. 58 | »Den Titel wählte ich als eine Art Witz, aber für manche Menschen ist das tatsächlich die Geschichte ihrer Welt und ihrer gelebten Erfahrung.« Deller in einer E-Mail an die Autorin vom 22.10.2010. 59 | Vgl. die filmische Aufzeichnung The Battle of Orgreave (2001) unter der Regie von Mike Figgis und dazu Lütticken 2005, S. 51.

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Durch die Kausalisierung wird eine visuelle Syntaktizität erzeugt, die textunabhängig operiert.60 Sie kann betrachtet, aber nicht lesend erschlossen werden. Und dennoch entzieht sich die grafische Visualisierung der unmittelbaren Anschauung, da der Plausibilitätsgrad von Dellers Diagramm auf der Konnektivität der zusammengestellten Informationen und der Gestaltung von Beziehungen beruht. Auf beides, auf Inhalt und Form, hat Deller gleich viel Wert gelegt. Auf den ersten Blick besticht dennoch die austarierte Komposition, so dass die grafische Repräsentation einer »seltsamen Idee« auch als repräsentative Grafik betrachtet werden kann. Der Maßstab ist überdies auf diesen Zweck hin angelegt. Die ursprünglich kleinformatige Gedankenskizze entspricht weit besser dem Modus des Reflektierens und Konzeptualisierens als deren ausstellungskompatibles Blow-up zur Wandzeichnung, das auf die Überwältigung des Betrachters abzielt.61 Als großformatiges Schaubild erhält The History of the World nun Werkcharakter. Zusätzlich schwingt ein ästhetisches Statement mit. Die unverstellte Handschrift und die spontane Geste wirken auflockernd, im Rückblick auf die diagrammatische Zeichenpraxis erscheinen sie aber eher als schmückende Attitüde und Dekoration. Das Modell eines linearen Ablaufschemas, das Dellers Netzkunst mit seinen teils kybernetischen Konstellationen durchkreuzt, bietet für das historisch Imaginäre eine offene Struktur, in der  – Lenins Diktum folgend  – alles mit allem zusammenhängt.62 Die rhizomatische Verflechtungsordnung von The History of the World zeigt die Möglichkeitsbedingungen auf, unter denen der gegenkulturelle Zusammenschluss zweier Musikszenen als historisch-logische Notwendigkeit erscheint. In dem hohen Vernetzungsgrad von »Acid House« und »Brass Bands« wird die Vorstellung von Plausibilität generiert, hinter der sich  – mehr oder weniger versteckt  – der Anspruch auf künstlerische Wahrheit verbirgt. 60 | »Mithilfe eines Diagramms lässt sich eine komplizierte Idee einfacher vermitteln, denn dafür benötigt man nur Wörter, keine Sätze.« Deller in einer E-Mail an die Autorin vom 20.6.2010. 61 | Zur Theorie des »verkleinerten Modells« vgl. Lévi-Strauss 1968, S. 37. 62 | »Das Zitat hörte ich später, es lautet, glaube ich, ›Alles hängt mit allem zusammen‹.« Deller in einer E-Mail an die Autorin vom 23.7.2010.

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M ehrwissen

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Die drei hier vorgestellten künstlerischen Positionen mit ihren distinkt unterschiedlichen Ansätzen gehören ein und derselben historischen Großkonstellation an, deren spezifische Problemlage sie gleichermaßen repräsentieren wie reflektieren. Die Diagramme nach 1989, die explizit politischen, ökonomischen und sozialen Fragestellungen nachgingen, reagierten implizit auf die postindustrielle Verunsicherung, welche durch die neue Unübersichtlichkeit von Globalisierungsprozessen ausgelöst worden war. Hinter dem gesteigerten Interesse am diagrammatischen Sachbild verbarg sich das unterschwellige Bedürfnis nach Übersicht, nach jener »plötzlichen« Übersicht, die aufgrund der riesigen Datenflut eines World Wide Web zunehmend infrage gestellt wurde.63 Indem die Künstler aktiv an der Wissensproduktion teilnahmen, generierten sie Mehrwissen als kritisches Kapital, dessen ästhetische Erfahrung Kunst als selbstbestimmte epistemische Größe wiederum bekräftigt. In der Kunst sind Fakten und Bedeutungen weder vorzufinden noch vorauszusetzen. Sie werden diskursiv produziert, interpretiert und modifiziert. So verschieden die miteinander konkurrierenden Ansätze bei der diagrammatischen Modellbildung auch ausfallen mögen, die Mers, Shelley und Deller für sich verfolgen, gemeinsam artikulieren sie ihren Willen zur Auseinandersetzung, zur Klärung, zur Reflexion. Lesen, Kommunizieren und Diagrammatisieren werden als analoge Tätigkeiten begriffen, indem sie einander bedingen und sich wechselseitig aufeinander beziehen.64 Dennoch spielt Sprache als produktionsgenerierendes Prinzip eine wesentliche Rolle. Die künstlerischen 63 | »Plötzlich diese Übersicht« ist der Titel einer klein- wie vielteiligen Skulpturengruppe aus amorphen Tonobjekten von Peter Fischli und David Weiss. Das vorwitzige Künstlerduo hat sich auch als Diagrammatiker hervorgetan. So etwa mit dem Schaubild-Bändchen Ordnung und Reinlichkeit (1981), das als Begleitlektüre zu der filmischen Fabel über die Mechanismen der Kunstwelt Der geringste Widerstand (1981) erschien. In 22 Zeichnungen rufen Fischli und Weiss unterschiedlichste Diagrammtypen auf, um ihre komplexen Erklärungsversuche der Welt sogleich semantisch zu unterlaufen. Vgl. Böhmler 1999. 64 | Mers und McGee 2004: »Lesen, sprechen und Diagramme erstellen, all das gehört zusammen.«

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Diagramme sind auf zweierlei Art mit dem linguistic turn verwoben: erstens durch die Präsenz von Text und zweitens durch deren strukturelles Arrangement, das zur Sequenzialisierung des Blicks führt, wie sie für das Lesen charakteristisch ist.65 Durch die Aufladung mit Inhalt wird das Diagramm zum literalen Objekt, das sich von den diagrammatischen Sprachobjekten der Konzeptkunst (Mel Bochner, Dan Graham) dadurch unterscheidet, dass es keine diskursive Extremposition einnimmt, die nur den Text gelten lässt.66 Vielmehr arbeitet die Lesbarkeit des Diagramms gegen eine Mystifikation, gegen die transzendierende Lektüre von Kunst an. So rudimentär der sprachliche Anteil dabei auch ausfallen kann, er bewirkt doch die Involviertheit des Betrachters. Bei Mers verhilft das Diagramm als Aufzeichnungsverfahren der Theorie zu dauerhafter Präsenz, als Reflexionsmedium arbeitet es einem kritischen Denken zu, als Konzeptarbeit macht es Erkenntnisse für neue Diskurse evident. Mers setzt mit ihrem Anliegen auf diagrammatische Kommunikationsstrukturen. Damit verfolgt sie die Absicht, eine dialogorientierte Auseinandersetzung zu initiieren. Das entsinnlichte Material Theorie, das hier zum Einsatz kommt, wird ästhetisch so aufgeladen, dass es leichter rezipierbar werden soll. ­Shelleys »timeline drawings« wiederum geben viel zu sehen und nennen mit der Zeitleiste auch die Bedingungen ihrer Lesbarkeit. In gewisser Weise lassen sich seine Visualisierungsansätze als Fortsetzung des Empirismus unter kognitionswissenschaftlichen Vorgaben begreifen. Einmal mehr definiert sich Gegenwartskunst weniger durch eine Ablehnung der Kunstgeschichte als durch deren Simplifizierung im Koordinatenraum. In ihrer ästhetischen Form der Konzeptualisierung von Geschichte tritt die Information zurück. Umgekehrt soll durch die formale Ausgestaltung der Daten die Vergangenheit in ihrer Kontinuität, Kohärenz und Kontingenz explizit gemacht werden. Deller hingegen erhebt Anspruch auf eine umfassende Darstellung der Weltgeschichte im NetzFormat, die er durch die Fokussierung auf britische Verhältnisse nur ansatzweise einzulösen vermag. Mit seiner intuitiven Zeitgeschichtsanalyse setzt er auf eine Überzeugungsstrategie, deren argumentative Stärke auf einem verkürzten Geschichtsbewusstsein beruht. In den 65 | Vgl. Kostelanetz 1975; Beech 2009, S. 30. 66 | Dazu der Exponent eines linguistischen Radikalismus: »Ein Text-Äußeres gibt es nicht.« Derrida 1974, S. 274.

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aufgezeigten Begründungszusammenhängen ist ein widerständiges Potenzial angelegt, das ein eigenständiges Werkkonzept einzulösen verspricht. Auf der Ebene von Wörtern und Begriffen ist Deller weit davon entfernt, transzendentale Kategorien zu entwickeln. Die diagrammatische Optimierung kreativ-innovativen Denkens steht hier für eine pragmatische Form der Selbstvermittlung. Die Anschauungsbeispiele der aktiven Diagrammproduzenten um die Jahrtausendwende liefern als Imaginationsmatrix keine abstrakten Modelle, sondern generieren selbst Geschichten, die sich einer direkten empirischen Überprüfung entziehen. Diese Metageschichten sind ideologisch motiviert, ikonisch codiert und ästhetisch formatiert. Diagrammatische Kunst, die Schaubilder als operatives Werkzeug gebraucht, steht unter dem Vorzeichen, für das Projekt Aufklärung zu werben. Mithilfe von anschaulichen Denkfiguren, Geschichtskonstruktionen oder der Informatisierung von Werkentwürfen hält sie im Deleuz’schen Sinne jenen kritischen Denkraum offen und flexibel, der notwendig ist, um übergreifende sozioökonomische Zusammenhänge transparent zu machen.67 Die diagrammatische Ordnungsästhetik bedient sich dabei der Bildsprachen des Neoliberalismus und ist wie jedes kritische Projekt gefährdet, selbst eine inhärente Komponente des Kritisierten zu sein.68 Vielleicht aber vermag die Kunst unter dem diagrammatischen Imperativ auch nur so das kritische Bewusstsein für eine neokapitalistische Doktrin zu schärfen?

N otationen

der

W ahrnehmungskunst

Es gibt Künstler und Künstlerinnen, deren initiatorischer Primärimpuls von der Kunst ausging, andere, auf die ihre (soziale) Umwelt prägend wirkte, und wiederum andere, die sich durch Lektüre anregen 67 | Deleuze 1992, S. 53 f.: »Das Diagramm ist grundlegend instabil und fließend und wirbelt unaufhörlich die Materialien und die Funktionen so durcheinander, daß sich unentwegt Veränderungen ergeben. Schließlich ist jedes Diagramm intersozial und im Werden begriffen.« 68 | Peter Halley gehört zu jenen Künstler-Theoretikern, die bereits in den achtziger Jahren auf das Dependenzproblem von diagrammatischer Kunst und Manager rhetorik hingewiesen haben. Vgl. Halley 1991, S. 102 f.

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ließen. Jorinde Voigt schöpft aus allen drei Inspirationsquellen gleichermaßen. Dies geschieht mit der tiefen Skepsis einer Subjektivistin gegenüber normativen Vorstellungen von Realität, Wahrheit oder Wissen. Voigt versucht zu verstehen, was das eigentlich ist: Erkenntnis. Mit freier Hand und feinem Strich hat sie aus Geraden und Kurven, Zahlen, Wörtern und Collage-Elementen eine visuelle Grammatologie entwickelt, die es ihr erlaubt, alles, was um uns und in uns der Fall ist oder sein könnte, in eine diagrammartige Matrix zu überführen, auszubreiten, zusammenzuflechten und so für neue Betrachtungen verfügbar zu machen. Durch die formierende Kraft dieser teils streng komponierten, teils emotional aufgeladenen Grafismen sind individuelle Wahrnehmungstatsachen entstanden, die ihren Ursprung in der letztlich unauslotbaren Fülle sinnlicher Impulse nie verleugnen und immer wieder aufs Neue zur Ordnung drängen. Das Werkverzeichnis zählt über 2.500 Arbeiten in verschiedenen Medien und ­Materialien, überwiegend ist es Tinte und Papier. Voigts zeichnerische Praxis begann bedacht, geradezu unauffällig mit einer vergleichsweise kleinformatigen Serie: Notationen Florida von 2003 (Abb. 125–126). Und doch sind in diesen 60 Federzeichnungen bereits alle Register der Wahrnehmung angelegt, die auch ihre späteren Arbeiten auszeichnen werden. »Vom Prinzip ähnlich zur Notation einer Komposition in der Musik, werden visuelle und akustische Elemente rhythmisch angeordnet, zusätzlich mit Längen- und Breitengrad-Angaben geografisch festgestellt und in Bezug gesetzt zu Dauer und Geschwindigkeit.«69 So weit die Selbstbeschreibung der Künstlerin. Bei genauerer Betrachtung enthüllen sich die wenigen selektiven Angaben auf dem Papier als Bestandsaufnahme von Sachverhalten, die Voigt auf einer Reise nach Orlando und Miami vorgefunden hat. Aus der scannenden Registrierung ihrer Umwelt  – versuchsweise ohne Empathie und Bewertung  – entstanden mit wenigen Strichen und Begriffen Situationsstudien, Darstellungen von intersozialen Beziehungen oder kommerziellen Bewegungsabläufen. Eine Personengruppe an der Ampel ist mit Blick auf Haar- und Kleiderfarben in vertikale Farbstrecken zerlegt (Abb. 125). In die Horizontale gedreht, definiert die Linie den abstrakten 69 | Jorinde Voigt, »Notationen Florida 2003«, 2003, unveröffentlichtes Typoskript.

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Abb. 125: Jorinde Voigt, Notation Florida, 2003

Flachraum von Markierungen, die eine spektakuläre Strandszene fixieren (Abb. 126). Dieselbe Linie nimmt auf einem anderen Blatt die Bedeutung einer »timeline« an oder schildert die Fahrtrichtung einer »Schmutzansaugmaschine«. Es sind diese konzentrierten Beobachtungen im Jetzt, die Voigts Zeichnungen leicht und durchlässig erscheinen lassen. Die grafische Orchestrierung der Impressionen, die Voigt mit einem erweiterten »Partitur«-Begriff belegt, ist immer auch auf die Transformierung des Werkhaften ins Performative hin angelegt. Notationen Florida enthält ein Dutzend Musikstücke, in denen banale Reiseeindrücke umcodiert sind: »piece for 1 airplane |——————————————— darkness —————————|«, »Piece for: Neocolonial City and Law Office«, »Stück für 1ne Frau ohne Handy, 1ne Tasche und 1 startendes Motorrad«, »Stück für: 1ne Corvette und 10 Ersatzteile« oder »Piece for Red with White Lines«. Wie die situativen Zeichnungen sind auch diese Stücke der Realität abgeschaut  – mit dem kategorialen Unterschied, dass sie sich selbst (ab)spielen. Mit Anklängen an die experimentelle Musik der sechziger Jahre, die auf die Integration des Alltagslebens in das Repertoire performativer Ereignisse setzte, um daraus ihre Aktionskunst abzuleiten, hat Voigt autogenerative Stücke geschrieben, die gleichsam überall und jederzeit stattfinden.

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Abb. 126: Jorinde Voigt, Notation Florida, 2003

Wenn die Auflösung der Kunst im Leben das Maximalprogramm der Avantgarden war, so bedeutete das Minimalprogramm, die künstlerische Meisterschaft in den Dienst der praktischen Tagesaufgaben zu stellen. Diese Art strategischer Kunstlosigkeit hat Alison Knowles mit ihrem Fluxus-Klassiker Make a Salad (1962) exemplarisch vorgeführt. Wenn im diametralen Gegensatz dazu Voigt das Kochen eines Eis zum Thema einer Arbeit macht, dann deshalb, um jene Möglichkeitsbedingungen aufzuzeigen, unter denen eine solche Aktion überhaupt erst gelingen kann (Abb. 127). Dazu hat sie in quasiwissenschaftlicher Methode   die einzelnen Bestimmungskriterien (»Farbe«, »Größe«, »Temperatur vor dem [K]ochen«, »Höhe über dem Meeresspiegel + Luftdruck« und »Kochdauer«) in entsprechenden Listen dekliniert. Dieser reduzierten Schematisierung aller maßgebenden Parameter im Tableau-Format ist ein apparatives Objekt zur Seite gestellt. Als verdichtete Form der Betrachtung macht es lebensweltliche Bezüge fassbar, ohne die analytische Distanz aufzugeben. Ein Ei kochen (2009) ist als Versuchsanordnung so elementar wie symptomatisch für Voigts experimentelle Herangehensweise. Das gesamte Wahrnehmungsspektrum fließt in ihre Arbeit ein, ohne darin zur Gänze aufzugehen. Stets bleibt ein Rest, besser ein spekulativer Überschuss, der neue Denkanstöße gibt. Die modernistischen Avantgarden bilden durch ihre Faszinationswirkung auf Voigt ein implizites Referenzsystem. Doch es bleibt bei

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Abb. 127: Jorinde Voigt, Ein Ei kochen, 2009

heuristischen Bezüglichkeiten. Wenn Voigt, die ihre Arbeiten unter großer physischer Anstrengung im Liegen zeichnet, auf Vorbilder verweist, dann zum Beispiel auf die performative Extremposition eines Vito Acconci.70 Hinter der Verwendung von Blattkupfer steht die Bezugsgröße Joseph Beuys. Die Anziehungskraft der Konzeptkunst rührt von deren konsequenter Reduktion auf ein Thema her, das erst durch die Fokussierung unter neuen Blickwinkeln betrachtet werden kann. Wie auch immer Voigts Referenzen ausfallen mögen, in ihren eigenen Werkentwürfen bleibt sie in vorsichtig kritischer Distanz dazu. Es gibt keine konkreten Verweise, Zitate oder Anspielungen. Indessen ist aus der Weiterentwicklung konzeptkünstlerischer Ansätze Voigts spezifisches Untersuchungsverfahren hervorgegangen, das mit dem Schlagwort »konzeptuelle Zeichnung« belegt werden könnte. Was den Avantgarden der sechziger Jahre die scores als kurze Handlungsanweisung oder die instructions als vergleichsweise ausführliche Beschreibung eines Stücks bedeuteten, lautet in Voigts differenzstrategischer, wiewohl zeitgeistbetonter Terminologie »Algorithmus«. Darunter sind eindeutige Handlungsvorschriften zu verstehen, die sich aus unendlich vielen Einzelschritten zusammensetzen können. 70 | So Voigt im Gespräch mit der Autorin am 6.7.2015.

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Final Version Aktionsplan Vilnius (2006) veranschaulicht einen solchen Algorithmus (Abb. 128). Dieser Plan dekliniert die Aktion 2 küssen sich durch. Präzise, auf der Fibonacci-Folge basierende Angaben fixieren die Positionierung der Akteurinnen und Akteure, ihre räumliche Distanz zueinander, die Dauer einzelner Kussakte, die Pausen dazwischen sowie den exakten Beginn bzw. das Ende der Aufführung, die theoretisch ad infinitum fortgesetzt werden könnte. Diese Art der Dramaturgie beruht auf einem wohldurchdachten Konzept und ist nur formal mit zufallsbasierten Happenings verwandt. Bei Voigt ist das Zufällige allenfalls das, was übrig bleibt, wenn alles andere definiert worden ist. Das in Notationen Florida entwickelte Prinzip der Wahrnehmungsstudie erwies sich als adaptions- und modulationsfähig. Es ließ sich auf den Leseakt wie auf die Kunstbetrachtung anwenden. Die kleineren Serien und größeren Zyklen, die als Nachlese der intensiven Auseinandersetzung mit Autoren wie Roland Barthes, Elias Canetti, Paul Celan, Gilles Deleuze, Epikur, Johann Wolfgang von Goethe, Félix Guattari, Douglas R. Hofstadter, C.G. Jung, Niklas Luhmann, Antoine de Saint-Exupéry, Arthur Schopenhauer oder Peter Sloterdijk entstanden, bilden die Literatur nicht ab, sondern legen ein Vorstellungsvermögen frei, das auf der Begriffsmagie einzelner Wörter, Sätze oder Passagen beruht (Abb. 129–130). Auf dem Papier erlangen die

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Abb. 128: Jorinde Voigt, Final Version Aktionsplan Vilnius, 2006

interiorisierten Lektüreerlebnisse ein anschauliches Äußeres ohne Dialogorientierung. Voigts Offenlegungsakte entziehen sich in ihrem Rezeptionsangebot aus intuitiven Assoziationsformen, Textzitaten und den an sie angelegten Wahrnehmungsparametern (Raum-, Zeit-, Richtungs- und Geschwindigkeitskategorien) einem vollständigen Verständnis. Das Lesen diente vorrangig dazu, das immaterielle ­Medium der Imagination zu explorieren. Doch nicht jeder Lesestoff barg das Potenzial zur Visualisierung. Die bildmächtige Sprache Julia Kristevas überblendete Voigts Einbildungskraft in einem Maße, dass jeder Versuch, autonom zu zeichnen, vereitelt wurde.71 Voigt weitete ihre Studien entsprechend auf Kunstwerke (ob aus älteren Kulturen oder avantgardistischen Strömungen) aus, die sie nicht betrachtet, sondern textanalog liest. Immer und immer wieder. Views on Chinese Erotic Art: From 16th to 20th Century (2011) haben in der beflissenen Sehlektüre ihren Ausgangspunkt.72 Indem 71 | Voigt im Gespräch mit der Autorin am 6.7.2015. 72 | Vgl. http://jorindevoigt.com/blog/wp-content/wp-content/uploads/ Portofolio-No-40-II_screen.pdf (aufgerufen: 1.12.2016).

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Abb. 129: Die acht für Jorinde Voigt wichtigsten Bücher Abb. 130: Jorinde Voigts annotiertes Handexemplar von Gilles Deleuze und Félix Guattari, Tausend Plateaus, Berlin 19972, S. 436–437

Voigt die Kunst zu ihrem Untersuchungsgegenstand erhebt, tritt die ästhetische Phänomenologie der sichtbaren Form einmal mehr in den Vordergrund. Was das Texterlebnis dem intellektuellen Auge als kognitiven Akt bot, sind bei der Bildbetrachtung Eye-Catcher, signifikante Farben und Formen, die Blicksprünge lenken und leiten.

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Abb. 131: Jorinde Voigt, Übungen in der Betrachtung von Kunstwerken, Alfred Lichtwark (IX). Der verlorene Sohn von B. Vautier, 2014

Voigts Analysen zur eigenen Aufmerksamkeitsökonomie erfuhren in der Auseinandersetzung mit Alfred Lichtwarks Übungen in der Betrachtung von Kunstwerken (1897) eine historische Perspektivierung.73 Lichtwarks bildungsbürgerliches Erziehungsprojekt des Auges ist eine auf der W-Fragen-Methode basierende Anleitung zur selbstständigen Kunstbetrachtung vor allem für jüngere Generationen. Kaum ein Künstler hat Lichtwarks Technik der Subjektivierung, Form und Inhalt, visuelle Wirkung und pädagogische Ideologie in eine derart zwingende Beziehung zu den eigenen Wahrnehmungsdispositiven gesetzt wie Voigt 2014 in ihrer titelgleichen Serie von zehn Arbeiten (Abb. 131). Dazu hat sie aus Buntpapieren scherenschnittartig (Voigt operiert bevorzugt mit dem Skalpell) signifikante Motive aus den von Lichtwark besprochenen Gemälden herauspräpariert. Mit Zitaten der jungen Subjekte seiner Kunsterziehung und ihrem eigenen Kriterienapparat zu individuellen Bildlektüren verbunden, dienen die so entstandenen Werke nun ihrerseits der Einübung in die Betrachtung von Voigt. Jedes Blatt eine aisthetische Studie, jedes Blatt immer auch ein ästhetisches Statement. 73 | Vgl. Lichtwark 198619.

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Abb. 132: Jorinde Voigt, Skizzen zu eigenen philosophischen ­Ü berlegungen, 1999 (Detail)

Die Silhouette, mit und ohne Binnenzeichnung, ist das Diagramm eines Gegenstands oder Körpers. Im Figur-Grund-Kontrast reduziert sie die visuellen Daten auf einen charakteristischen Umriss in der Fläche.74 Das Schattenbild ist wie jedes Diagramm – unabhängig von seiner ikonografischen Gestalt oder seinen bildlichen Elementen – kein Abbild von etwas. Wie jedem Diagramm geht ihm eine intellektuelle Operation voraus. Diese Operation kann mit Rekurs auf Deleuze und Guattari als »transformativ« beschrieben werden.75 Das Ergebnis wird ins Bild, ins Diagramm gesetzt. In diesem Sinne ist Voigts operative Schriftbildlichkeit immer auch diagrammatisch. Mit wissenschaftlichen Visualisierungen, populären Informationsschemata oder kunst-  gerechten Schaubildern, die der Designhistoriker Edward R. Tufte in 74 | Vgl. Krausse 1999, S. 13. Zur Silhouette in historischer Perspektive vgl. Bogen 2005. 75 | Vgl. Deleuze und Guattari 1992, S. 188 f.

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Abb. 133: Jorinde Voigt, 36-er Deklination, 2007–08

seinen Bestsellern behandelt  – zwei davon, Envisioning Information und Visual Explanations, stehen in Voigts Bibliothek  –, haben ihre Zeichnungen gleichwohl wenig zu tun.76 Denn ihnen liegt eine Auffassung von Diagramm als »philosophischer Modellzeichnung« (Voigt) zugrunde, die hilft, die Welt in ihrem Innersten zu verstehen. So wie einst Ludwig Wittgenstein schwieg, worüber er nicht sprechen konnte, und skizzierte, was es zu begreifen galt, begann Voigt während ihres Philosophiestudiums Denkmodelle zu »schreiben« (Abb. 132). Die sekundäre Anschaulichkeit der Schrift wurde dabei immer wieder aufgehoben. Wo der Fluss der Wörter abbrach, entstand eine diagrammatische Zeichnung mit konkreter Aussagekraft. Voigts zeichnerisches Anliegen gilt den »Mannigfaltigkeiten«, »konstanten Variablen« und »kontinuierlichen Variationen« des Lebens, um drei Leitkategorien aus Tausend Plateaus zu zitieren. Diese für Studentengenerationen imperative Lektüre erlebte Voigt als Befreiungsschlag aus der dialektischen Logik der Frankfurter Denkschule. Ein »neues Land« (Voigt)  – in der Terminologie von Deleuze und  ­Guattari heißt es »Diagramm« – tat sich auf, das von Grund auf instabil und fließend ist, in dem unaufhörlich Materialien und Funktionen 76 | Tufte 2003 9; Tufte 20078 .

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durcheinandergewirbelt werden. Dieses »Neuland«, das sich stets im Werden befindet und klare Verhältnisse desavouiert, besteht aus immanenten »Intensitätszonen« des Denkens, Fühlens und Handelns – jenen tausend Plateaus eben, die, auf vielfache wie vielfältige Weise miteinander verbunden, unentwegt neue Erkenntnismöglichkeiten schaffen.77 Es sind diese Konsistenzen, denen Voigt zeichnend nachspürt. Wenn sie mit Blick auf Hanne Darboven von sich sagt, dass sie nur schreiben könne, dann ist es jenes asignifikante Schreiben, das diese neue Dimension von Einsichten aufzeigt, auslotet, vermisst.78 2006 verlassen Voigts Arbeiten die intime Sphäre einer Kultur des Kleinen. Wandhoch oder panoramaartig ausgebreitet, nehmen sie in installativen Präsentationen die Herausforderung einer monumentalen Moderne an. Die unverstellte Handschrift erscheint nun verschwindend klein. Umgekehrt gerät in der Nahsicht das große Ganze aus dem Blick, zugunsten eines Überwältigungseffekts (Abb. 133). Dem absichtsvollen Verunmöglichen einer genauen Sehlektüre bei den Großformaten entspricht das bei kleineren Zeichnungen angewendete Wandprinzip. In der bildhaften Hängung, die optisch das Nacheinander mit dem Nebeneinander in Beziehung setzt, erweist sich Voigts Serienkonzept als rhizomatisch. Für den »normalen« Betrachter sind die filigranen Begriffsgebilde und Kausalitätsschlingen eine einzige Plausibilitätszumutung, für den »innovativen« Betrachter aber ein einmaliger Verbindungsprozess von Gegebenheiten und Annahmen, die zusammen neue Erkenntniseffekte generieren, um hinter die Oberfläche der Dinge zu gelangen. Voigt denkt in Begriffen und zeichnet nach den Parametern ihrer Wahrnehmung: geografische Koordinaten, zeitliche Dimensionen, sinnliche Impulse, elektrische und meteorologische Phänomene, Richtung und Geschwindigkeit von Bewegung. Als strukturierende Elemente der grafischen Matrix wirken sie – exakt aufgelistet und dekliniert – bis in die Untertitel der Arbeiten hinein. Vielfach stehen die Zeichnungen unter der Suggestivkraft von Signalwörtern: »Archetyp«, »Institution«, »Intimität«, »Nexus«, »Territorium«. Wenn Voigt etwa über »Staat« nachdenkt, sind alle Konnotationen erlaubt, problematische Ambivalenzen zugelassen, semantische Ausfransungen gestattet. 77 | Vgl. Deleuze und Guattari 1992, S. 14, 37. 78 | Voigt im Gespräch mit der Autorin am 6.7.2015.

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So wie sie ein Thema aus wechselnden Perspektiven entwickelt, diesem offenen Prinzip der Reflexion, gibt es eine Vielzahl von Einstiegsmöglichkeiten in den expansiven Zeichenraum. Faktische Größe ist zwar eine ästhetische Kategorie, doch liegt die eigentliche Bedeutung von Voigts Werken in deren konzeptuellem Design. Das systematische Umkreisen eines Themas in Gedankenschleifen ist das Agens der bevorzugt in Serien entfalteten Überlegungen mit exponentieller Komplexitätsgarantie. »Rotation«, diese titelgebende Leitvokabel als Ausdruck eines künstlerischen Habitus, wird sehr begriffsgenau verwendet. Wie die auf arithmetischen Wachstumsformeln basierenden Anordnungen drängen die aufeinander bezogenen Blätter genuin in eine neue Dimension. Doch liegt es an der Unabschließbarkeit dieses universalen Ansatzes, dass die Arbeiten immer beträchtlichere Ausmaße annehmen. Es ist, als ob die Künstlerin die Welt nur verstehen kann, indem sie wahrnimmt, reflektiert, zeichnet und weiterzeichnet. Indem sie ihre Beobachtungen zu Papier bringt, gibt sie Selbstauskunft. Ob im Ansatz analytisch-nüchtern oder im Gestus kontrolliert-impulsiv, Voigts Wahrnehmungskunst ist so konsequent wie persönlich.

H yperdiagr amm Der wachsende Stellenwert von Information im postindustriellen Gesellschaftswandel hat das Interesse am Diagramm in seiner instrumentellen Funktion und visuellen Vermittlungskraft, aber auch in seiner sinnbildenden Plausibilität und ästhetischen Phänomenologie begünstigt und gefördert. Von diesem Auftrieb einprägsamer Anschauungsformen profitierten diagrammatische Werkansätze in der Kunst, wie sie umgekehrt unter das Visualisierungsgebot der modernen Informationsgesellschaft gerieten. Matthew Ritchie reagiert, gewollt oder ungewollt, auf diesen diagrammatischen Imperativ. Anders als seine Vorgänger in der Diagrammkunst um die Jahrtausendwende will Ritchie nicht in aufklärerische Opposition zur Gesellschaft treten oder auf die herrschenden Verhältnisse kritisch einwirken. Stattdessen, und darin vergleichbar mit Jorinde Voigt, schlägt sich Ritchie eine Themenbresche durch die ideologischen Debatten. Angetrieben von einem kunstgerechten Willen zum Wissen, begann er 2012 – initiiert

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Abb. 134: Matthew Ritchie, Präsentation von The History of Diagram (2015), 2016

durch ein Stipendium des Getty Research Institute  – den Fokus auf das von ihm primär verwendete Material und Medium zu legen: auf Information und Zeichnung, und daran die Frage zu knüpfen, ob die »informationelle Zeichnung« nicht ihrerseits schon immer »Diagramm« gewesen sei.79 Eine erste, ikonografisch formulierte Antwort liegt seit 2015 als Leporello vor. The History of Diagram entfaltet auf knapp acht Metern Länge die zweitausendjährige Schaubildgeschichte (Abb. 134). Ritchies Diagrammpanorama beruht auf Inspiration und Enthusiasmus, aber auch auf Fleiß und Ausdauer. Es ging um die akribische Zusammenstellung einer Themenkarte, die immer auch Enzyklopädie sein will. Getrieben von dem Anspruch auf größtmögliche Vollständigkeit, hat Ritchie 816 Schaubilder zusammengestellt. Kein Diagramm war ihm zu bedeutungslos, kein Fund zu klein. Faktenstolz und reflexionsbewusst macht Ritchie für sich geltend, dass dies die umfassendste Beispielsammlung zum Thema sei.80 Als Leistungsethiker unter den Künstlern läuft er mit einer solchen Behauptung freilich Gefahr, der Ignoranz gegenüber zahlreichen Pionierarbeiten bezichtigt zu werden, die in den letzten hundert Jahren in Gestalt von teils akademischen, 79 | Ritchie [2017], S. 31. 80 | So während seines Vortrags »The Temptation of the Diagram« am 4.2.2016 auf der CCA 104th Annual Conference in Washington, DC. Eine Auswahl der Diagramme erschien in Buchform: Ritchie [2014].

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Abb. 135: Matthew Ritchie, The Temptation of the Diagram, [2017] (Detail)

teils populärwissenschaftlichen Publikationen erschienen sind.81 Von einschlägigen Ausstellungen in der jüngsten Vergangenheit ganz zu schweigen.82 Demgegenüber verleugnet Ritchie nicht seinen an zeitgenössischen Vorstellungen geschulten Blick bei der Auswahl und Anordnung der Schaubilder. Mit The History of Diagram liegt nun ein veritables hyperimage, oder präziser: Hyperdiagramm im großen Stil vor.83 Zwar bilden die parataktisch zusammengestellten Grafiken in Summe keine Thesen, keine Analysen oder Argumente, wohl aber eine syntagmatische Struktur, die aus Koexistenzbeziehungen, Gegensätzen und Widersprüchen besteht.  81 | Ein Autor, der für viele steht: Tufte 1983; Tufte 2003 9; Tufte 2006; Tufte 20078 . 82 | Seit 2002 stellt z.B. Gerhard Dirmoser regelmäßig historische Diagramme aus seinem Fundus von über 10.000 Belegen zur Schau, sei es in aufgelegten Mappen, als begehbares Gedächtnistheater oder als Take-away-Katalog in Form einer CD-ROM. Vgl. S. 47 f. in diesem Buch. 83 | Zur Geschichte des hyperimage vgl. Thürlemann 2013.

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Abb. 136: Matthew Ritchie, Installation mit Vorstudien zu The Temptation of the Diagram, 2012 (Detail)

Deren Sinn erschließt sich minutiös aus dem interikonischen Nebeneinander sowie aus der transikonischen Großkonstellation und den Erwartungen des Betrachters an ein solches Schaubildgefüge. Ritchies visuelle Geschichte des Diagramms, in der sich immer auch Rezeptionsgeschichte manifestiert, stellt allerdings nur die Vorstufe zu einem weit originäreren Wurf dar: Mit The Temptation of the Diagram [2017] ist eine diagrammatische Matrix entstanden, zu der The History of Diagram den Subtext und die Gestaltungsvorgaben geliefert hat (Abb. 135). In limitierter Auflage von 75 Exemplaren erschienen, ging The Temptation of the Diagram – wie zuvor The History of Diagram – aus einer Rauminstallation hervor, die Ritchie für Studienzwecke in seinem Getty-Atelier errichtet hatte (Abb. 136). Über mehrere Wände waren Ausdrucke historischer Diagrammbeispiele ober- und unterhalb einer abstrakten Timeline-Zeichnung aufgehängt; abstrakt deshalb, weil jegliche Datierungshinweise in dieser mit Bleistift virtuos angelegten Horizontalgrafik fehlen. Obwohl Ritchie die Schaubilder nach einem groben zeitlichen Raster platziert hat, liegt ihm das Denken in chronologischen Kohärenzen und Konstellationen fern. Sein

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Diagramm der Diagramme ist indes als »kunsthistorisches Gedanken-  experiment« angelegt, bei dem das vergleichende Sehen die methodische Regel vorgab.84 Im skizzierenden Nachvollzug der komparatistischen Sehlektüre entstand ein filigranes Netzgewebe aus Schlingen, Schleifen und Einkreisungen, aus Verbindungslinien und kategorialen Bestimmungen, eben jenes metareflexive Denkmuster, das in einem digitalen Arbeitsschritt dann über The History of Diagram gelegt wurde. Doch auch die finale Werkfassung zieht trotz der neu hinzugekommenen Semantisierungsebene, trotz der Anschaulichkeit künstlerischen Wissens als analysierende Erfahrung keine weitreichenden Schlüsse; wohl aber stellt sie einen übergreifenden Zusammenhang her, der in dreierlei Weise auf diagrammatische Anliegen Bezug nimmt: erstens als topologische Ordnung der Dinge, zweites als Offenlegung diskreter Beziehungen und drittens als Artikulation neuer Sichtweisen. Was die eigentlichen, in jedem Fall eigenen künstlerischen Anliegen betrifft, so überlässt Ritchie die Deutungshoheit nicht den Kritikern, Kuratoren oder Bildhistorikern. Die titelgleiche Begleitpublikation zu The Temptation of the Diagram gibt darüber Auskunft. In einem Parforceritt durch die Diagrammgeschichte bahnt Ritchie dem Leser einen Pfad durch die offene »Kultur des Diagramms«  – einmal sprunghaft-assoziativ, einmal abgefeimt-schlüssig. Seine Gewährsleute, zu denen John Bender und Michael Marrinan zählen, von denen die affirmative Formulierung »Kultur des Diagramms« herrührt, gehören unterschiedlichsten Wissenskulturen an, wie die Anschauungsbeispiele selbst, die dank extensiver Lektüre und eines weit gefassten Diagrammbegriffs zusammengetragen werden konnten.85 Ritchie fand sie in der Philosophie (Aristoteles, Michel Foucault, Graham ­Harman, ­Edmund Husserl, Immanuel Kant, ­Raimundus Lullus), Mathematik (Euklid, John Venn), Physik und Chaostheorie (Albert Einstein, ­Richard Feynman, James Clerk Maxwell, Isaac Newton), in der Biologie (Charles Darwin), Kosmologie (Max Tegmark) und Kosmogonie (William Blake), in der Semiotik (Charles Sanders Peirce), Soziologie (Bruno Latour) und Netzwerktheorie (Albert-László Barabási), in der Geschichte (Giovanni Arrighi, 84 | Ritchie [2017], S. 32. 85 | Vgl. Bender und Marrinan 2014, S. 10 f., 18.; und dazu Ritchie 2015, S. 263; Ritchie [2017], S. 42.

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Fernand Braudel), Wissenschaftsgeschichte (Lorraine Daston, Peter Galison) und Kunstgeschichte ­(Rosalind E. Krauss), aber auch in der Literatur (H. P. Lovecraft, ­Stéphane Mallarmé, Edgar Allan Poe) und nicht zuletzt seiner eigenen Disziplin, der Kunst (Joseph Beuys, Mel Bochner, Marcel Duchamp, Paul Klee). Man darf die Auseinandersetzung mit theoretischen und noch dazu so diversen Positionen nicht einfach als Ausflug des Künstlers in die Wissenschaften verstehen. Die dort aufgeworfenen Frage- und Problemstellungen wurden indes zum Ausgangspunkt einer selbst entwickelten Art-as-Research-­ Methode, die mehr im Diagramm als Forschungsinstrument als in einem aufgesetzten theoretischen System begründet ist. Als intellektualisierter Künstler bewegt sich Ritchie behände zwischen den Höhen der Theorie und den Tiefen der Recherchearbeit. Beide Welten versucht er miteinander zu verbinden und dadurch wechselseitig zu bereichern. Die Aneignung von Peirce’schen Ausdrücken wie etwa »diagrammatic thinking«  – vermittelt durch Frederik Stjernfelt – birgt das Versprechen, die eigene Kunst semiotikkonform zu besetzen.86 Eine ähnliche Tendenz zeichnet sich auch in Ritchies mehrmals formulierter Bestimmung des Diagramms ab, die ihrerseits eine geläufige Formel aufgreift: »Ein gelungenes Diagramm bringt nicht nur eine grundlegende Topologie zum Vorschein, sondern erzeugt auch eine Mannigfaltigkeit bzw. Matrix von Begriffen, durch die Kräfteverhältnisse zwischen einer Vielzahl von Themen artikuliert werden können, die sonst nicht sichtbar sind.«87 So universal diese Definition auch angelegt ist, so selbstbezüglich ist sie doch auf die eigene Arbeit gemünzt. Boten The History of Diagram und in der Folge The Temptation of the Diagram durch Verzicht auf Hervorhebung epochaler Beispiele noch das Bild einer paritätischen Gleichrangigkeit aller Diagramme, so wird dieser Eindruck in Ritchies illustriertem Lektüreleitfaden The Temptation of the Diagram gründlich revidiert. Aus der unüberschaubaren Fülle an Anschauungsbeispielen traf der Künstler eine kleine Auswahl von Schaubildern, die von seinen bereits erwähnten Gewährsleuten stammen. Zwar mögen sich in diesen Beispielen distinkte Augenblicke der Geschichte der Erkenntnis verdichten, Ritchie dienen 86 | Vgl. Ritchie 2015, S. 263; Ritchie [2017], S. 31 f., 38, 52, 66, 100. 87 | Ritchie [2017], S. 32; geringfügig kürzer in: Ritchie 2015, S. 263.

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Abb. 137: Matthew Ritchie, When Cascio’s second uncanny valley is laid over Herzing’s diagram, we begin to see intercommunicative complexities emerge, [2017]

sie in erster Linie zur Entwicklung eines Begründungsnarrativs, um  mit eigenen Diagrammen einen prognostischen Ausblick zu eröffnen,  der  nahezu  Science-Fiction-Charakter  hat  –  und  darauf  zielt  sein  ganzer Text. Denn er beschreibt eine große Suchbewegung: die nach  den Modi des Transhumanismus im Anthropozän. Ein solches Unterfangen zeugt von einem sicheren Gespür für Brisanz. Aktualität wird  gesucht und gefunden durch das Aufgreifen von laufenden Debatten  über zukünftige Entwicklungen der Zivilisationsgeschichte.    Unter dem überwältigenden Eindruck einer fortschreitenden Umweltkatastrophe  von  planetarischem  Ausmaß,  an  deren  Unumkehrbarkeit das sprachmächtige Bild der »anthropozänen Apokalypse« gemahnt,  unternimmt  Ritchie  in  imaginärer  Perspektive  den  Versuch,  das »bislang Ungedachte« zu evozieren.88 Was den alten Avantgarden  ihr Innovationspathos war, gestaltet sich bei Ritchie zur neofuturistischen Vorstellungsemphase aus. Die selbst auferlegte Notwendigkeit,  88 | Ritchie [2017], S. 85, 87.

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Dem Diagrammatischen i mperatiV

Abb. 138: Matthew Ritchie, While genres begin to overlap and condense, following the laws of thermodynamics, new genres are born through the introduction of new information systems, [2017]

mindestens  in  eine  Richtung  so  weit  wie  möglich  Neues  zu  denken,  bringt den Anspruch auf eine Erkenntnis ins Spiel, die auf der Höhe  der  Zeit  ist.  Zur  Veranschaulichung  dieses  »Ungedachten«,  hier  als  visionäre  Theoriearbeit  verstanden,  greift  Ritchie  auf  eine  der  Urformen  des  Diagramms  zurück.  Anhand  des  Quadrats  der  Gegensätze  werden  die  reziproken  Mensch-Objekt-Beziehungen  als  wichtigste  transhumanistische  Voraussetzung  durchgespielt:  die  komplexen  Wechselwirkungen des Menschen mit kommunizierenden Netzwerken und Online-Spielsystemen, mit der adaptiven Epigenetik und mit  Modedrogen. Um seiner Zeit möglichst weit vorauszudenken, tauscht  Ritchie in einem anderen Quadratschema die Parameter durch philosophische  Begriffe  aus,  integriert  in  einem  wieder  anderen  Schema  das Konzept des »homo sacer« (Giorgio Agamben) und des »homo   ludens« (Johan Huizinga) und wendet schließlich einen methodischen  Kunstgriff an. Im Rekurs auf futuristisch orientierte Ansätze in der  Biologie und Anthropologie überlagert er zwei Schaubilder: die diamantförmige  Schematisierung  sprachunabhängiger  Intelligenz  von 

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Denise L. Herzing mit einer in die Diagonale gedrehten Wellenfigur, anhand derer Jamais Cascio neue, von der Robotik inspirierte Identitäten auszumachen versucht (Abb. 137). Zusammengenommen bilden beide ikonografischen Modelle das argumentative Herzstück von Ritchies Gedankenexperiment. Die Folgerungen, die aus dieser ars combinatoria gezogen werden, sind so anspruchsvoll wie ehrgeizig. Mit dem Konzept eines kommunikativ erweiterten Selbst, das durch den gleichermaßen spielfreudigen wie risikobereiten »homo ludens« als Inbegriff eines informationsbasierten Transhumanismus verkörpert wird, und den daran geknüpften neuen Bedingungen soziokultureller Partizipation fordert Ritchie die herrschenden Vorstellungen von biopolitischer Macht heraus.89 Lässt man die Spekulationen in den offenen Horizont eines freien Denkens einmal beiseite, die als Künstlervision auf der Kraft des Schaubildes zur Vergegenwärtigung der Zukunft beruhen, so bleibt vor allem eines bemerkenswert: Ritchies Hang zur umfassenden Systematik in Wort und Bild. Dieser Ausgriff aufs Ganze, mit dem sich die Moderne im Namen der Aufklärung so gern selbst beauftragt hat, birgt stets auch Momente des Nichtüberprüfbaren und Irrationalen als Plausibilitätszumutung. Der Versuch, den Transhumanismus mit anschaulichen Mitteln zu begründen, ist dafür das beste Beispiel. Ritchie war sich dieses extremen Aspektwechsels stets bewusst; mehr noch, er hat ihn einkalkuliert: »Das Diagramm schwankt zwischen diesen Zuständen der Erleuchtung und der Verwirrung«.90 Der Wechsel zwischen einer analytisch-reflektierenden und einer unklar-zerstreuten Wahrnehmung in Hinblick auf ein und dasselbe Objekt beschreibt zwar zwei völlig unterschiedliche Haltungen im Umgang mit (Schau-) Bildern. Als komplementäre Blickeinstellungen bestimmen sie jedoch jede Betrachtung. Für diese Art von Wahrnehmungsambivalenz lieferte Gustave Flauberts Roman La tentation de saint Antoine (1874) die maßgebliche Vorlage.91 In Analogie zu Antonius’ gedanklicher Abstraktion und suggestiven Fantasie erprobt Ritchie mit diagrammatischen Mitteln eine Annäherung an die Dinge, die wir nach dem »metaphysical turn« 89 | Vgl. ebd., S. 92. 90 | Ebd., S. 33. 91 | Vgl. ebd., S. 31, 33, 52, 69.

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dem diagrammatischen I mperativ

(Patrice Maniglier) als »Realität« begreifen.92 Diese Methode führt zwangsläufig zu der Versuchung, den Grundgedanken des Romans – die Bildung neuer Formen durch Auflösung der Materie  – auch auf die künstlerischen Genres anzuwenden. Und so dekliniert Ritchie schlussendlich die Bedingungen einer »Erweiterung der Kunst über lokale thermodynamische Beziehungen hinaus« in Gestalt eines Sphärenmodells durch (Abb. 138).93 Einen hintergründigeren Titel  – frei nach Flaubert: The Temptation of the Diagram  – hätte Ritchie für seine spekulativ-spektakulären Unternehmungen nicht finden können. Einen vielsagenderen freilich auch nicht.

92 | Vgl. ebd., S. 85. 93 | Ebd., S. 93.

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Der Witz im Diagramm Überall begegnen uns Diagramme, praktisch kann alles im Diagramm veranschaulicht werden. Und doch scheiden sich am Diagramm, als dem Inbegriff wissenschaftlicher Objektivität, die Geister. Es gibt staunende Bewunderung der Befürworter und vollen Argwohn einer Gegnerschaft.1 In der teils heftig geführten Auseinandersetzung um das diagrammatische Für und Wider bleibt eine Tatsache unbestritten: Im spielerischen Umgang mit wissenschaftlichen Schaubildpraktiken liegt jenes befreiende Moment, das seine Wirkung aus dem Verstoß gegen alle Regeln der diagrammatischen Vernunft erzielt. Parallel zu der notorischen Diskussion um epistemische Visualisierungsmodi, um Anschaulichkeit und Plausibilität, hat sich längst die heimliche Tradition einer parodistischen Diagrammatik gebildet. Mit ihrer impliziten Kritikfähigkeit tut sich ein neuer Schauplatz der Debatte auf: Das Witzdiagramm ist ein eigenes Genre geworden. Diagramm und Witz, hier als Form des Komischen verstanden, in ein enges Verhältnis zu bringen, ist keineswegs selbstverständlich, beruht doch die steile Karriere des Diagramms seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gerade auf seiner Witzlosigkeit, auf dem nüchternen Ernst dieser datengestützten Repräsentationsform. Das Spannungsfeld, das sich zwischen diesen konträren Kategorien auftut, ist insofern produktiv, als es auf subversive Weise Einsichten erzeugt. Die Transgression von Verständnisgrenzen erlaubt  – zumindest für einen kurzen Augenblick – die Entbindung von erkenntnistheoretischen Systemzwängen. Erst die Regelverletzung, erst der Normenbruch setzt die arbiträre Zeichenordnung der gesteigerten Kritik aus und erzeugt so neue Wahrheiten. Das Komische 1 | Nachdem in diesem Buch die Befürworter des Diagramms überwiegen, sei hier exemplarisch auf Glozer (1981, S. 19 f.) als Gegner des Barr'schen Paradigmas in der Kunstwissenschaft verwiesen.

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Abb. 139: Laurence Sterne, Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman, Bd. 6, London 1762, S. 152–153

im Diagramm entdeckt deshalb nur derjenige, der  – wie Laurence Sterne mit seinen berühmten Erzählgrafen aus dem sechsten Buch von Tristram Shandy (1762) – die Brüchigkeit des Diagramms selbst mitreflektiert (Abb. 139).2 Als veritables Gegenstück zu strenger Wissenschaftlichkeit ironisieren Sternes poetologisch angelegte Diagrammfiguren die grassierende Verdatungsmanie seiner Zeit. Bildrhetorisch verfremden diese Lineaturen mathematische Normkurven und als solche sind sie Prototyp einer modernen Wissenschaftstravestie – innerhalb wie außerhalb der Literatur.3 An etlichen Phänomenen in der ästhetischen Moderne lässt sich zeigen, wie wissenschaftliche Bildvorstellungen und Repräsentationsformen in die Kunst einwandern, sie erweitern und ihre Metaphorik verändern. Der Fall Duchamp macht schon sehr früh deutlich, dass bei der Adaptierung außerkünstlerischer Darstellungsweisen die ironische Brechung immer mitgedacht werden muss. Dies gilt in 2 | Vgl. Sterne 2006, S. 543; und dazu den shandyesken Ansatz einer Diagrammkritik von Henschel 2003; Wilde 2012. 3 | Zur poetischen Grenzqualität eines koordinatenlosen »Liniendiagramms« vgl. Jehle 2007; zu den grotesken Wiedergängern der Sterne’schen Erzählgrafen vgl. Mainberger 2007, S. 211–241.

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besonderem Maße auch für jene diagrammatischen Ordnungsgefüge, die den cartesianischen Koordinatenraum zu verfremden suchen, indem sie sich drastischer Mittel bedienen. Ästhetische Blackouts und dekonstruktive Blow-ups, gezielte Unschärferelationen und grafische Verwirrspiele sind Oberflächenphänomene dieser überzeichneten Darstellungen. Dahinter ist das exzentrische Bemühen zu erkennen, das methodische Konzept der Sichtbarmachung zu durchkreuzen und seinerseits in Schaubildern der Parodie preiszugeben. Witz und Wissenschaft, Wissenschaft und Witz werden zu austauschbaren Größen. Ihr Potenzial zum Kritisch-Komischen soll abschließend an drei Beispielen beschrieben werden.

M asterpl an -E ffek te Mit der Auslöschung historiografischer Wissensformen hatte sich die Moderne jene Art von Freiheit erkämpft, die als normative Geschichtslosigkeit auf sie zurückfallen sollte. Diese folgenreiche Entwicklung lief auf einen Verlust von Herkunftssubstanz hinaus, den es aus Gründen der Identitätsstabilisierung wieder wettzumachen galt. Reagierten Ad Reinhardts Ad-hoc-Genealogien und StammbaumCartoons mit sarkastischem Humor auf dieses Defizit, so lieferte das Kunstgeschichtsdiagramm als textuelles Supplement den seriös-­ diskursiven Rahmen für die Entwicklung und Rezeption der Avantgarde.4 Das Kunstgeschichtsdiagramm ist nicht einfach Überschuss an gesammelten Fakten, vielmehr stellt es in gebotener Knappheit die zentralen Argumente zusammen, vor denen künstlerische Positionen ihren historischen Stellenwert erlangen. Alfred H. Barr jr. hat dies exemplarisch vorgeführt (Abb. 6). Die Wirkungsmacht, die sein perfekt komponierter Masterplan für die Geschichte der Avantgarde entfalten konnte, ist ungebrochen  – trotz schematischer Verkürzungen und methodischer Verzerrungen. Auch heftigste Kritik konnte ihm nichts anhaben, obwohl oder gerade weil sie auf derselben Ebene argumentierte wie der New Yorker Museumsmann: rational, ideologisch, unnachgiebig.5 4 | Vgl. Schmidt-Burkhardt 2005b, S. 283–325. 5 | Vgl. ebd., S. 155–160.

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Abb. 140: Margaret Morgan, Barr / Loos: Portrait of a History of Modern Art as Sanitary System, 1993

Viel subversiver scheint dagegen jene selbstreflexive Position zu sein, die es mit postmodernem »Verähnlichungsvermögen« (Kant) versteht, die deduktive Entfaltungslogik des Barr-Charts in ein groteskes Konzept zu überführen. Margaret Morgan griff dazu auf Adolf Loos zurück, der im amerikanischen Klempner den Pionier der Reinlichkeit und, als solchen, den Kulturbringer einer ganzen Nation feierte.6 Im plakativen Überblendungsverfahren richtet Morgan in Barr/Loos: Portrait of a History of Modern Art as Sanitary System (1993) das Flussdiagramm von Barr an einem häuslichen Wasserleitungssystem neu aus (Abb. 140). Dazu benutzt sie das prototypische Modell der Sanitäranlage eines Wohnhauses aus der Zeit um die Jahrhundertwende. Waschtisch, Badewanne und Klosett markieren die modernen Auffangbecken diverser Kunstströmungen. Indem der deszendierenden Tendenz des Barr-Charts eine entgegengesetzte Richtung gegeben wird, strebt die Avantgarde zwar intentional nach Höherem, ihre 6 | Vgl. Loos 1921; Morgan 2002.

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Kunstprodukte unterliegen aber weiterhin dem Fallgesetz der Schwerkraft. In der pointierten Überführung des ganzen avantgardistischen »Fluxus« in ein Abflusssystem wird dem konventionellen Gegensatz zwischen High & Low eine überraschende Wendung abgetrotzt. ­Morgans starker Humor sucht das künstlerische Ideal nicht aufwärts sondern abwärts auf. Ihr satirischer Kritizismus ist in der diskriminierenden Nähe von Avantgarde und Abfall angesiedelt. Barr/Loos zielt auf das Verweisverhältnis ab, in dem die gegensätzlichen Phänomene zueinander streben. Bruchlos gehen Ableitungsästhetik und künstlerisches Entsorgungsprogramm ineinander über.

P rotestgeste Das Spiel mit Anspielungen verleiht der diagrammatischen Vernunft ein doppeltes Gesicht. Sie ist zur einen Hälfte analytisch, oft mit Blick auf größere Zusammenhänge. Ihr Talent zum Komischen entfaltet sich hingegen bevorzugt im Detail  – in der Finesse von Wortwitzen, im Mikrobereich grafischer Strukturen. Dieser Modus des Diagrammatischen lässt sich an einem kapriziösen Rezeptbuch aufzeigen, das Ende der sechziger Jahre erschienen ist. Asger Jorn und Noël Arnaud haben ihre Publikation La langue verte et la cuite. Étude ­gastrophonique sur la marmythologie musiculinaire (1968) dem Motiv des ZungeRausstreckens in Masken und Gesichtsdarstellungen aus aller Welt gewidmet. Sie erschien punktgenau in jenem Augenblick, als die Studentenrevolte ihrem Protest nicht zuletzt mit sprechender Geste Nachdruck verlieh. Titel und Text der Publikation sind im Geiste der Pataphysiker verfasst, mit einem satirischen Seitenhieb auf den strukturalistischen Erzählsemiotiker Claude Lévi-Strauss. Unter die hehren Anschauungsbeispiele vom Zunge-Rausstrecken in der Weltkunst hat sich auch ein absurdistisches Diagramm gemischt: Clichéma des rapports hiérarchiques des langues à plusieurs niveaux contradictionnaires, ein pseudowissenschaftlicher Werktitel, den man mit »Klischema der hierarchischen Beziehungen der Sprachen/Zungen auf verschiedenen widerlexikalischen Ebenen« übersetzen könnte (Abb. 141). Clichéma greift im Porträt eines polyglotten Linguisten die spöttisch-ironische Gebärde auf, die von dem fingerlangen Muskelorgan ausgeht, sobald es aller Welt entgegengestreckt wird. Die Geste erfährt dabei eine

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Abb. 141: Peter Lautrop, Clichéma des rapports hiérarchiques des langues à plusieurs niveaux contradictionnaires, 1968

komplette Umdeutung, der durch die Hell-Dunkel-Inversion im Bild Nachdruck verliehen wird. Die Doppeldeutigkeit des Wortes »langue«, das hier zwar »Zunge« meint, aber mit der Bedeutung von »Sprache« operiert, ist Programm einer konzeptualistisch angelegten Ironie. Als Parodie auf linguistische Baumdiagramme und Sprachstammbäume gemünzt, entwickelt Clichéma ein neologistisches Begriffssystem, das durch die Explizitheit der grafischen Mittel die Betrachter­ imagination forciert. Der Grundwortschatz wird in »langue de base«, Basissprache, umbenannt und bildet so die Basis des arboresken Schemas mit dem Zungengesicht auf der metalinguistischen Hauptachse. Die Hochsprache markiert als »haute langue« den höchsten Punkt der Grafik. Das Wort »Zweisprachigkeit« (hier: bilangue) findet in den beiden Schenkeln einer Winkelform seine Anschauung, die anrüchige Sprache (langue dissolue) löst sich in spermaartigen Punkten auf, so wie umgekehrt die als »langue corpusculaire« verunglimpfte Körpersprache in einem fetten Fleck symbolisch Gestalt annimmt. All diese sprachspielerischen Manöver glücken durch semantische

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Verschiebungen, vor allem aber durch piktorale Pointen einer diagrammatischen Bildkonzeption. Die Beziehung, die sich zwischen den Wortwitzen und ihren grafischen Äquivalenten entspannt, ist so angelegt, dass sie das Klischee einer Wissenschaftlichkeit bedient. Mit einem stark vereinfachten Begriff von Ähnlichkeit wird die abstrakte Referenzialität von linguistischen Grafen im Formwitz zur figurativen Illustration abgeschwächt. Indem aber die logischen und die morphologischen Ordnungen miteinander um den Effekt konkurrieren, schlägt die Struktur des wissenschaftsskeptischen Witzes in den Witz sprachwissenschaftlicher Strukturen um.

G edankenflucht Als meta-ironischen Reflex auf lehrhafte Großnarrative hat Marie-  theres Finkeldei ein kursorisches Entwicklungsschema (2004) aufge-  stellt (Abb. 142). Das Schema zieht seine Emphase aus dem wissenschaftlichen Hintergrund der Evolutionstheorie und aus dem Affront gegen konventionelle diagrammatische Erzählmuster. Mit subversivem Gestaltungswillen zeichnet Finkeldei den Schöpfungsmythos um. Zu diesem Zweck hat sie die glatte Oberfläche des Datenpositivismus aufgebrochen und in den gefalteten Raum eines Leporellos ausgeweitet. Die heterogene Struktur ihrer horizontal ausgerichteten Darstellung folgt den Entwicklungssprüngen der Evolution: Was sich zunächst im »Kopf« bzw. »Gehirn« als Hypothese eines allumfassenden Entwicklungsschemas der Lebewesen bildete, wird in verschiedenen Etappen  – hier als Reinigungsphasen deklariert  – überprüft. Im maschinellen Waschvorgang spitzt sich die Dramaturgie der aberwitzigen Geschichte zu, die augenfällig ins Schleudern gerät, bis aus den zeichnerischen Kapriolen schließlich ein genealogisch ausdifferenziertes Ergebnis erwächst: Leibwäsche diverser Spezies und verschiedenes Leibgeschirr. Bei ihrem Transfer von wissenschaftlichen Repräsentationsformen in launige Bilddiskurse desavouiert Finkeldei gängige Ordnungssysteme: von der Tabelle über Zeitreihen und Bewegungsgrafen bis hin zum Stammbaumschema. Durch Abwandlung und Modellierung von Denkfiguren reizt sie den konstruktiven Status von Schaubildern bei der Evidenzerzeugung aus. Auf der operativen Ebene des

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Abb. 142: Marietheres Finkeldei, Entwicklungsschema, 2004

diagrammatischen Zeichnens werden nicht mehr theoretische Probleme abgehandelt, sondern, ironisch gewendet, das Problematisieren diagrammatischer Effekte selbst sichtbar gemacht, quasi als strukturparodistische Revision der klassischen Darstellungsmodi. Die annotierten Lineaturen des Entwicklungsschemas erscheinen, verstärkt durch ihre literarische Aufladung, als parawissenschaftliche Erzählform. Es ist eine der Stärken des Shandyismus-Begriffs, dass Diagramm und Witz, Wissenschaft und Kunst als miteinander verschränkt gedacht werden können.7 Faktisch hat sich die Visualisierungspraxis der Wissenschaft zu einer künstlerischen Praxis der Visualisierung entwickelt.8 Die einseitige Adaptierung diagrammatischer Modi für ästhetische Strategien war durchweg von Ambivalenzen getragen. Denn Kunst, die rein wissenschaftlich operiert, disqualifiziert sich. Erst die ironische Brechung der rational motivierten Darstellungskonventionen ließ jene selbstreflexive Distanz aufkommen, die notwendig ist, um neue Positionen zu beziehen. Die Kontroverse um anschauliche Erkenntnisproduktion wird im verstörenden Moment von Grafen und Koordinaten radikalisiert. Der Witz im Diagramm besteht nicht zuletzt auch darin, dass sich in der Irritation zusammen mit dem Komischen auch ein kritischer Effekt einstellt. 7 | Vgl. Draxler 2007. 8 | Vgl. Schmidt-Burkhardt 2005b.

Nachweis der Bildzitate Umschlag: Anzeige der Werbeagentur Young & Rubicam Inc., in: ­Fortune, Jg. 32, Nr. 5, 1945, S. 177 (Detail) 1. Anzeige der Werbeagentur Young & Rubicam Inc., in: Fortune, Jg. 32, Nr. 5, 1945, S. 177 (Detail) 2. Heinrich Meyer, Uebersicht der Geschichte der Kunst bei den Griechen, deren bekannteste Werke und Meister, so wie die noch vorhandenen und darauf Bezug habenden Denkmale. Nebst den gleichzeitigen Weltbegebenheiten und den wichtigsten Erscheinungen im Gebiete der Wissenschaften, Literatur und Poesie, Dresden 1826, Taf. A 3. Rekonstruktion von Goethes Schlafzimmer 1827 mit A Tabular and Proportional View of the Superior, Supermedial and Medial Rocks (1827) des Geologen Henry de la Beche und Goethes   Tabelle zur Tonlehre (1810), Abb. in: Jochen Klauß, Goethes Wohnhaus in Weimar. Ein Rundgang in Geschichten, Weimar [1991],  zw. S. 114 u. 115 (Foto: Jürgen Pietsch) 4. Georges Mathieu, Tentative de situation par rapport aux coordonnées Formalisme / Expressivité pour l’exposition »Véhémences confrontées« (1951), in: ders., De la révolte à la renaissance. Au-delà du Tachisme, Paris 1963, S. 71 5. Jean Clair, Art en France. Une nouvelle génération, Paris 1972, Umschlag (Detail) 6. Alfred H. Barr jr., Diagram of Stylistic Evolution from 1890 until 1935, 1936, Ausstellungskat. Cubism and Abstract Art, The Mu­ seum of Modern Art, New York 1936, Schutzumschlag 7. David Lechner, ohne Titel (im Hintergrund: Gerhard Dirmoser, Art in Context. Die Kunst der Ausstellung, 2003), 2003, digitale Datei, im Besitz der Autorin 8. Alfred H. Barr jr., Italian Painting and Sculpture, 1300–1800, in: Ausstellungskat. Italian Masters. Lent by the Royal Italian

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­ overnment, The Museum of Modern Art, New York 1940, vorG derer Spiegel Alfred H. Barr jr., Italian Sources of Three Great Traditions of ­European Painting, in: Ausstellungskat. Italian Masters. Lent by the Royal Italian Government, The Museum of Modern Art, New York 1940, hinterer Spiegel Eric Newton, Diagram, in: ders., European Painting and Sculpture, Harmondsworth, Middlesex 19564 (Orig. 1941), S. 238 Rosalind E. Krauss, Diagramm zur »Skulptur im erweiterten Feld« (1979), in: dies., Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne, hg. von Herta Wolf, Amsterdam und Dresden 2000, S. 340 G. Bri, Die Nonstoppverlust-Offensive, in: Kladderadatsch, Jg. 94, Nr. 39, 1941, o.S. Gerhard Dirmoser, Ein Diagramm ist (k)ein Bild, 2005, digitale Datei, im Besitz der Autorin (Detail) Banister Fletcher, The Tree of Architecture, in: ders., A History of Architecture on the Comparative Method for Students, Craftsmen, and Amateurs, London 19216, S. iii Max Deri, Übersichts-Tabelle von Frankreich und Deutschland, in: ders., Die Malerei im XIX. Jahrhundert. Entwicklungsgeschichtliche Darstellung auf psychologischer Grundlage, Bd. 2, Berlin 1919, Taf. I Stephen Bann, [Movement of Constructivist Artists and the Incidence of Group Activity in the Period 1920–1965], in: ders. (Hg.), The Tradition of Constructivism, London 1974, S. xviii George Brecht, Notebook, Oct. 1958 – April 1959, o.S., Manuskript (Reprint: Köln 1991, S. 122) George Brecht, Notebook, Oct. 1958 – April 1959, o.S., Manuskript (Reprint: Köln 1991, S. 123) George Brecht, Notebook, Oct. 1958 – April 1959, o.S., Manuskript (Reprint: Köln 1991, S. 121) Giorgio Tagliacozzo (Grafik: Hildegarde Bergheim), Tree of Knowledge, 1959, Offsetdruck, 70,5 ∑ 115 cm, Privatslg. Giorgio Tagliacozzo (Grafik: Hildegarde Bergheim), Tree of Knowledge, 1959, Offsetdruck, 70,5 ∑ 115 cm, Privatslg. (Detail) Giorgio Tagliacozzo (Grafik: Donald Kunze), Tree of Knowledge, 1989, Offsetdruck, 75 ∑ 113,5 cm, Privatslg.

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Giorgio Tagliacozzo (Grafik: Donald Kunze), Tree of Knowledge, 1989, Offsetdruck, 75 ∑ 113,5 cm, Privatslg. (Detail) Giorgio Tagliacozzo (Grafik: Donald Kunze), Tree of Knowledge, 1989, Offsetdruck, 75 ∑ 113,5 cm, Privatslg. (Detail) Paul Ligeti, Stil und Welle, in: ders., Der Weg aus dem Chaos, München 1931, Abb. 143 Paul Ligeti, Die drei Integrationstendenzen, in: ders., Der Weg aus dem Chaos, München 1931, Abb. 301 Mountains down the Centuries, in: Magazine of the Future, Jg. 3, Nr. 5, 1948, S. 58 László Moholy-Nagy, Stilrhythmik nach Dr. Georg G. Wieszner, in: Georg Gustav Wieszner, Der Pulsschlag deutscher Stilgeschichte. I. Teil: Von den Anfängen bis ins 16. Jahrhundert, Stuttgart [1930], Frontispiz Max Deri, Tabelle der Lebenslinien: Frankreich und Tabelle der Lebenslinien: Deutschland, in: ders., Die Malerei im XIX. Jahrhundert. Entwicklungsgeschichtliche Darstellung auf psychologischer Grundlage, Bd. 2, Berlin 1919, Taf. II–III Max Deri, Tabelle der Lebenslinien: Deutschland, in: ders., Die Malerei im XIX. Jahrhundert. Entwicklungsgeschichtliche Darstellung auf psychologischer Grundlage, Bd. 2, Berlin 1919, Taf. III Max Deri, Tabelle der Lebenslinien: Deutschland, in: ders., Die Malerei im XIX. Jahrhundert. Entwicklungsgeschichtliche Darstellung auf psychologischer Grundlage, Bd. 2, Berlin 1919, Taf. III (Detail) Max Deri, Übersichts-Tabelle von Frankreich und Deutschland, in: ders., Die Malerei im XIX. Jahrhundert. Entwicklungsgeschichtliche Darstellung auf psychologischer Grundlage, Bd. 2, Berlin 1919, Taf. I Arcisse de Caumont, Tableau figuratif des variations de l’architecture religieuse, depuis le V. e Siècle, jusqu’à la fin du XVII.e (1828), in: ders., Cours d’antiquités monumentales. Histoire de l’art dans l’ouest de la France, depuis les temps les plus reculés jusqu’au XVIIe. siècle. Atlas, Bd. 4: Architecture religieuse du Moyen Age, Paris 1831, Taf. XLII Amelia Defries, Traditional Development of French Styles, in: dies., The Arts in France. From the Time of Louis XIV to the Present Day. A Brief Survey, London [1931], S. ix Charles Jencks, The Evolutionary Tree, in: ders., Modern Movements in Architecture, Oxford 1973, S. 28

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36. Jacques Barbeu-Dubourg, Chronographie universelle & détails qui en dépendent pour la Chronologie & les Généalogies, Paris 1753, Kupferstichrolle (40 ∑ 1650 cm) im geschlossenen Pappmachékoffer (max. 52,5 ∑ 26,5 ∑ 23 cm), Princeton University Library, Princeton, NJ. By permission of The Princeton University  Library 37. Jacques Barbeu-Dubourg, Chronographie universelle & détails qui en dépendent pour la Chronologie & les Généalogies, Paris 1753, Kupferstichrolle (40 ∑ 1650 cm) im geöffneten Pappmachékoffer (max. 52,5 ∑ 53 ∑ 11 cm), Princeton University Library, Princeton, NJ. By permission of The Princeton University Library 38. Jacques Barbeu-Dubourg, Explication des Signes employés dans la Carte Chronographique, in: ders., Chronographie, ou Description des tems […], Paris 1753, o.S. (Detail) 39. »Symbole, um die Eigenschaften der Herrscher des Morgenlandes zu kennen«, in: Atlas historique, ou Nouvelle Introduction à l’Histoire, à la Chronologie & à la Géographie Ancienne & Moderne […], Bd. 2, Amsterdam 1708, Taf. 15 (Detail) 40. Jacques Barbeu-Dubourg, Chronographie universelle & détails qui en dépendent pour la Chronologie & les Généalogies, Paris 1753 ­(Detail) 41. [Denis Pétau], Table chronologique de l’Histoire universelle. Contenant tous les principaux faits & évenemens de l’une & de l’autre Histoire, rapportez aux années où ils sont arrivez, Bd. 4: Depuis le commencement du monde, jusqu’à la décadence de l’Empire Romain, Paris 1715, S. 1 42. Tableau chronologique, um 1800, Kupferstich und Schabtechnik, 46,5 ∑ 34,5 cm, Privatslg. 43. William Playfair, Chart of the National Debt of Britain from the Revolution to the End of the War with America, in: ders., The Commercial and Political Atlas, London 1786, Taf. 26 44. Vermögensverteilung im Deutschen Reich, in: [Otto Neurath], Gesellschaft und Wirtschaft. Bildstatistisches Elementarwerk, Leipzig 1930, Taf. 91 45. Rudolf Steiner, [Die Kreuzzüge], 1923, Kreide auf Papier, ca. 100 ∑ 150 cm, in: Walter Kugler (Hg.), Rudolf Steiner. Wandtafelzeichnungen 1919–1924, Köln 1999, S. 97

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46. Andrej Belyj, Lebenslinie, 1927, Buntstift auf mehreren Papieren, 66 ∑ 125 cm, Staatliches Puschkin-Museum Moskau mit dem ­A ndrej-Belyj-Museum 47. John Willett, Kunstströmungen der zwanziger Jahre: 1. Die Hauptrichtungen (1978), in: ders., Explosion der Mitte. Kunst und Politik 1917–1933, München 1981, S. 14 48. George Maciunas, Chronology: 1881–1934, um 1953–54, Feder und Bleistift auf liniertem Papier, 27,9 ∑ 21,6 cm (Detail), Abb. in: Astrit Schmidt-Burkhardt, Maciunas’ Learning Machines. From Art History to a Chronology of Fluxus, 2., überarb. u. erw. Aufl., Wien und New York 2011, S. 109 49. Unterricht in einem Propagandawaggon, um 1925, Fotografie, Abb. in: René Fülöp-Miller, Geist und Gesicht des Bolschewismus. Darstellung und Kritik des kulturellen Lebens in Sowjet-Rußland, Zürich, Leipzig und Wien 1926, Taf. 262 50. Wanderschule für Bauernkinder, um 1925, Fotografie, Abb. in: René Fülöp-Miller, Geist und Gesicht des Bolschewismus. Darstellung und Kritik des kulturellen Lebens in Sowjet-Rußland, Zürich, Leipzig und Wien 1926, Taf. 263 51. »Pergamentheft« (1928–30) von Walter Benjamin mit grafischem Schema seines Lebens, 1929, 22,4 ∑ 14,3 cm (geschlossen,  aufgeschlagen S. 35–36), National Library of Israel, Jerusalem, Scholem Collection (Ms 672, 1932) 52. Pharus-Plan Berlin, um 1905, 38,5 ∑ 52 cm, https://upload.  wikimedia.org/wikipedia/commons/7/72/Berlin_Pharus-Plan_ c1905.jpg (aufgerufen: 1.12.2016) 53. Lesestube im Moskauer »Haus des Bauern«, 1926, Fotografie, Abb. in: Das Neue Rußland, Jg. 3, Nr. 9/10, 1926, S. 5 54. Geschmückter Wagen des Werks »Rotgardist« in Leningrad, 1. Mai 1925, 1925, Fotografie, Abb. in: Vladimir Tolstoj (Hg.), Kunst und Kunsthandwerk in der Sowjetunion 1917–1937, München 1990, S. 45 55. Sverdlov-Kreuzung in Moskau, 1. Mai 1921, 1921, Fotografie, Abb. in: Vladimir Tolstoj, Irina Bibikova und Catherine Cooke (Hg.), Street Art of the Revolution. Festivals and Celebrations in Russia 1918–33, London 1990, S. 136 56. Statistical Exhibits in the Municipal Parade by the Employees of the City of New York, May 17, 1913, 1913, Fotografie, Abb. in: Willard

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C. Brinton, Graphic Methods for Presenting Facts, New York 1914, S. 343 Plakate von Gustavs Klucis im Einsatz für agitatorische Zwecke, um 1932, Fotografie, Abb. in: Margarita Tupitsyn, Gustav Klutsis and Valentina Kulagina. Photography and Montage after Constructivism, Göttingen 2004, S. 65 (Foto: Gustavs Klucis) Schulbesuch für alle Kinder, um 1925, Fotografie, Abb. in: David King, Roter Stern über Russland. Eine visuelle Geschichte der Sowjet­ union von 1917 bis zum Tode Stalins. Plakate, Fotografien und Zeichnungen aus der David-King-Sammlung, Essen 2010, S. 168 Aleksandr Naumov, Vladimir Stenberg und Georgij Stenberg, Plakat für den Film Ein Sechstel der Erde von Dziga Vertov, 1926, Farblithografie, 72 ∑ 108 cm, Abb. in: Selim O. Chan-Magomedov, Vladimir and Georgy Stenberg, Moskau 2010, S. 190 Friedrich Straß, Neuester Strom der Zeiten oder bildliche Darstellung der Weltgeschichte von den aeltesten Zeiten bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts, 1817, Radierung, 133,5 ∑ 71,5 cm, Privatslg. Nikolaj S. Trosˇ in, Boris A. Rodionov und Nikolaj A. Musatov, Dekorative Anlage mit dem Plan der Moskauer Metro am Ochotnyj Rjad, 1. Mai 1932, 1932, Fotografie, Abb. 336 in: Agitacionnomassovoe iskusstvo. Oformlenie prazdnestv. Sovetskoe dekorativnoe iskusstvo. Materialy i dokumenty 1917–1932, Bd. 2: Tablicy, hg. von Vladimir P. Tolstoj, Moskau 1984, o.S. Aleksandr Rodcˇ enko, Metro. Illumination zur Maifeier, 1932, Foto­g rafie, 24 ∑ 30 cm, Sammlung L. und G. Tatunz, Abb. in: ­Margarita Tupitsyn, Alexander Rodtschenko. Das neue Moskau. Fotografien aus der Sammlung L. und G. Tatunz, Hannover 1998, Taf. 35 5 Jahre Kampf gegen die Arbeitslosigkeit, um 1925, Original verschollen, Reproduktion nach Fotografie, Gesellschafts- und Wirt-  schaftsmuseum, Wien Streiks und Aussperrungen, in: [Otto Neurath], Gesellschaft und Wirtschaft. Bildstatistisches Elementarwerk, Leipzig 1930, Taf. 88 Wladimir Woytinsky, Zahl der Arbeiter, die im Laufe des Jahres gestreikt haben, in: ders., Die Welt in Zahlen, Bd. 2: Die Arbeit, Berlin 1926, Taf. 17, Nr. 34

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66. Plan der Schlacht vor Leipzig am 18.ten October 1813, 1856, Litho-  grafie, 55 ∑ 52 cm, Otto and Marie Neurath Isotype Collection, University of Reading, Reading 67. Otto Neurath, Wars of Ancient Rome and Greece 400 B.C. to 200 B.C., in: ders., Modern Man in the Making, London 1939, S. 88 68. Otto Neurath, Wars of the Roman Empire 30 B.C. to 170 A.D., in: ders., Modern Man in the Making, London 1939, S. 88 69. Gerd Arntz, Straße, 1924, Holzschnitt, 23,7 ∑ 35,8 cm, Gemeentemuseum Den Haag, Abb. in: Lynette Roth, Köln progressiv, 1920–33. Seiwert – Hoerle – Arntz, Köln 2008, S. 93 70. F.K. Lecht, Die Partei der Arbeiterklasse  – VKP (b)  – ist Führer und Organisator der werktätigen Massen in Stadt und Land, 1928, Lithografie, 70 ∑ 105 cm, Museum für Gestaltung, Zürich 71. F.K. Lecht, Der Kampf für Kultur im Dorf. Sei die Initiatorin der Kollektivierung, 1933, Lithografie, 70 ∑ 107 cm, Museum für Gestaltung, Zürich 72. Entwicklung der allgemeinen Schulpflicht in der UdSSR. Jede Fi­gur entspricht 2 Millionen Schülern, in: Institut Izostat, 15 let ­Oktiabria, [Moskau] 1932, Taf. 18, Otto and Marie Neurath Isotype Collection, University of Reading, Reading 73. Traktorproduktion in der UdSSR. Jedes Zeichen entspricht 10 Tausend Traktoren, in: Institut Izostat, 15 let Oktiabria, [Moskau] 1932, Taf. 12, Otto and Marie Neurath Isotype Collection, University of Reading, Reading 74. Postkarte Nr. 47: Wachstum der Kollektivisierung der Landwirtschaft in der UdSSR. Der rote Pfeil zeigt die für das Ende des Fünfjahrplans vorgesehene Anzahl der kollektivisierten Bauerngüter (in %), 1931, Offset, 10,5 ∑ 14 cm, Beilage zu: Ivan P. Ivanickij, Dognat’ i peregnat’ v techniko-e˙konomicˇeskom otnosˇ enii peredovye kapitalisticˇ eskie strany v 10 let. Serija iz 72 kartinnych diagramm, Moskau und Leningrad [1931] 75. Die UdSSR wird sich von einem Agrarland in ein Industrieland verwandeln, um 1934, Fassadenmalerei, zerstört, Abb. in: Vsevolod Vasil’evskij, »Izobrazitel’naia statistika«, in: Prozhektor, Nr. 7, 1934, S. 18 76. Sozialer Hintergrund (Beruf des Vaters) der Beschäftigten, die im ersten Halbjahr 1931 Mitglieder der industriellen Vereinigungen ge-

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worden sind, in: SSSR v bor’be za pjatiletku v cˇetyre goda (al’bom diagramm), hg. von Lev M. Kogan, Moskau [1933], S. 54 AChR, Die Arbeit im Fünfjahresplan, 1933, Lithografie, 107 ∑ 70 cm,  Museum für Gestaltung, Zürich Postkarte Nr. 6: Gewinnung von Steinkohle in Frankreich, Belgien und der UdSSR (von oben nach unten). Jede Figur = 10 Mill. Tonnen, 1931, Offset, 10,5 ∑ 14 cm, Beilage zu: Ivan P. Ivanickij, Dognat’ i peregnat’ v techniko-e˙konomicˇeskom otnosˇ enii peredovye kapitalisticˇeskie strany v 10 let. Serija iz 72 kartinnych diagramm, Moskau und Leningrad [1931] Postkarte Nr. 15: Gewinnung von Erdöl in der UdSSR. Der rote Pfeil bezeichnet das für das Ende des Fünfjahrplans vorgesehene Quantum. Jede Figur = 5 Mill. Tonnen, 1931, Offset, 10,5 ∑ 14 cm, Beilage zu: Ivan P. Ivanickij, Dognat’ i peregnat’ v techniko-e˙konomicˇeskom otnosˇ enii peredovye kapitalisticˇeskie strany v 10 let. Serija iz 72 kartinnych diagramm, Moskau und Leningrad [1931] Ivan P. Ivanickij, Izobrazitel’naja statistika i venskij metod, Moskau und Leningrad 1932, Rück- und Vorderseite des Umschlags Postkarte Nr. 4: Stahlschmelzen in kapitalistischen Ländern gegen Anfang 1931 im Vergleich mit Mitte 1929. Jede Figur = 10 %. Von oben nach unten: Frankreich, Polen, Deutschland, Vereinigte Staaten, [England]. Insgesamt = Produktion von 1929. Gebrochenes Geleise  – Krise, 1931, Offset, 10,5 ∑ 14 cm, Beilage zu: Ivan P. Ivanickij, Dognat’ i peregnat’ v techniko-e˙konomicˇeskom otnošenii peredovye kapitalisticˇeskie strany v 10 let. Serija iz 72 kartinnych diagramm, Moskau und Leningrad [1931] Postkarte Nr. 9: Stahlschmelzen per Monat in tausend Tonnen. Roter Pfeil: UdSSR. Schwarzer Pfeil: England, 1931, Offset, 10,5 ∑ 14 cm,  Beilage zu: Ivan P. Ivanickij, Dognat’ i peregnat’ v techniko-e˙konomicˇeskom otnosˇ enii peredovye kapitalisticˇeskie strany v 10 let. Serija iz 72 kartinnych diagramm, Moskau und Leningrad [1931] Diagramm des Personentransports auf den Eisenbahnen der UdSSR, Deutschlands und der USA (in Mill. Passagiere / km) (aus der Serie »U nas i u nich«), in: Pravda, Nr. 70, 11.3.1932, S. 3 Anstieg der Zahl der Arbeiter und Angestellten in der UdSSR. Jede Figur – 1 Million Werktätige (aus der Serie »U nas i u nich«), in: Izvestija, Nr. 94, 4.4.1932, S. 3

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85. Anstieg der Zahl der Arbeitslosen in den kapitalistischen Ländern. Jede Figur – 500.000 Arbeitslose (aus der Serie »U nas i u nich«), in: Izvestija, Nr. 94, 4.4.1932, S. 3 86. Anstieg der Zahl der Arbeiter und Angestellten bei uns und Anstieg der Zahl der Arbeitslosen bei ihnen (USA, England, Deutschland), in: U nas i u nich. Itogi XVII konferencii V.K.P.(b). 36 chudozˇ estvennych diagramm, hg. von L.S. Sverdlin, Moskau und Leningrad 1932, Taf. 1 87. Kazimir Malevicˇ , Zwei männliche Figuren, um 1930–32, Öl auf Lwd., 99 ∑ 74 cm, Russisches Staatsmuseum, Sankt Petersburg, Abb. in: Andréi Nakov, Malevich. Painting the Absolute, Bd. 3, Farnham 2010, S. 299 88. Wachstum der Industrie und des industriellen Proletariats nach Aufhebung der Leibeigenschaft, um 1939, Taf. 7 aus unbekannter Publikation, Bildarchiv der Autorin 89. Soja Dejneka, Kohlenförderung in der UdSSR (in Millionen Tonnen) und Stahlgewinnung in der UdSSR (in Millionen Tonnen), in: USSR im Bau (Layout: El Lissitzky und Sophie Lissitzky-­ Küppers), Nr. 6, 1939, S. [18–19] (Foto: Dietmar Katz) 90. Die Kapitalisten legen die Hochöfen still, und wir nehmen zehn neue in Betrieb, Bildstatistik zu: Domennye Pecˇ i, »U nas i u nich«, in: Izvestija, Nr. 90, 31.3.1932, S. 3 91. Tony Buzan, Mind Map zum Gedächtnis, in: ders., Kopftraining, München 1984, S. 115 92. John Holmes, Rhetorick Epitomiz’d. Whereby the Principles of the whole Art may be learned in an Hour, 1738, Kupferstich, 29,5 ∑ 23,3 cm, Brotherton Library, Leeds 93. Antonius de Mercatello, Liber de arte memoria cum commentario, 1426/50, Württembergische Landesbibliothek, Stuttgart, Cod. theol. et phil. 4° 2, fol. 19v–20r 94. Antonius de Mercatello, Liber de arte memoria cum commentario, 1426/50, Württembergische Landesbibliothek, Stuttgart, Cod. theol. et phil. 4° 2, fol. 21r 95. Antonius de Mercatello, Liber de arte memoria cum commentario, 1426/50, Württembergische Landesbibliothek, Stuttgart, Cod. theol. et phil. 4° 2, fol. 22r 96. Raimundus Lullus, Arbor scientiae venerabilis et caelitus, Lyon 1515, S. 123

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97. Petrus Ramus, Dialecticae institutiones, Paris 1547, S. 57 98. Stephan von Huene, Die Zauberflöte, 1985, zwei ­Klangskulpturen, je 200 ∑ 40 ∑ 44 cm, und zwei Klangskulpturen, je 190 ∑ 40 ∑ 55 cm, Petra Kipphoff von Huene, Hamburg (Foto: Franz Wamhof ) 99. Richard Bandler und John Grinder, Visuelle Zugangshinweise für einen »normal organisierten« Rechtshänder, in: dies., Neue Wege der Kurzzeit-Therapie. Neurolinguistische Programme, Paderborn 19854, S. 43 100. Stephan von Huene, The Getty Talk (Zauberflöte), 1991, Bleistift, Filzstift und Kugelschreiber auf Briefpapier, 27,9 ∑ 21,6 cm, The Getty Research Institute, Los Angeles 101. Stephan von Huene, Notizen zum »Test-Operate-Test-Exit«Modell anlässlich Robert Dilts’ NLP-Seminar 1988 in Hamburg, Zentrum für Kunst und Medientechnologie (Nachlass des Künstlers), Karlsruhe 102. Robert Dilts, Roots of Neuro-Linguistic Programming. Part II: EEG and Representational Systems, Cupertino, CA 1983, S. 24 103. Robert Dilts, Roots of Neuro-Linguistic Programming. Part II: EEG and Representational Systems, Cupertino, CA 1983, S. 27 104. Stephan von Huene, Representational Systems and Behavior, [1988–89], Bleistift auf Papier, 21 ∑ 29,7 cm, Zentrum für Kunst und Medientechnologie (Nachlass des Künstlers), Karlsruhe 105. Stephan von Huene, annotierte Arbeitsunterlage zu Robert Dilts’ NLP-Seminar 1988 in Hamburg, Zentrum für Kunst und Medien­technologie (Nachlass des Künstlers), Karlsruhe 106. Stephan von Huene, Augenbewegungen und subjektive Prozesse (nach Robert Dilts), 1988, Wandtafelzeichnung, zerstört (Foto Zentrum für Kunst und Medientechnologie [Nachlass des Künstlers], Karlsruhe) 107. Robert Dilts, Roots of Neuro-Linguistic Programming. Part III: Applications of Neuro-Linguistic Programming to Therapy, Cupertino, CA 1983, S. 19 108. Stephan von Huene, Augenbewegungen und subjektive Prozesse (nach Robert Dilts), 1988, Wandtafelzeichnung, zerstört (Foto im Zentrum für Kunst und Medientechnologie [Nachlass des Künstlers], Karlsruhe) 109. Stephan von Huene, Mind Map II zum Interface-Symposium, 1990, Filzstift und Kugelschreiber auf Papier, 21 ∑ 29,7 cm, Zen-

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trum für Kunst und Medientechnologie (Nachlass des ­Künstlers), Karlsruhe Stephan von Huene, Interface I (Entwurf ), 1990, Bleistift auf ­Papier, 21 ∑ 29,7 cm, Zentrum für Kunst und Medientechnologie (Nachlass des Künstlers), Karlsruhe Stephan von Huene, Interface I, 1990, Bleistift auf Papier, 21 ∑ 29,7 cm, Verbleib unbekannt Sabine Groß, Wertsteigerung, 2005, Digitaldruck auf Kunststoff und Holz, 290 ∑ 600 cm und 220 ∑ 110 cm (Figurentafel), Installation in der Ausstellung 50 Jahre / Years documenta 1955– 2005, Kunsthalle Fridericianum, Kassel 2005 (Foto: Nils Klinger) Sigmar Polke, Unerwünschte Geschenke, 2003, Offsetdruck, 14,7 ∑ 10,5 cm, Privatslg. Adelheid Mers, Applied Aesthetics, 2001, digitale Datei, im Besitz der Künstlerin Adelheid Mers, After Vilém Flusser: Exile and Creativity, 2003, Inkjet auf Vinyl, 91,4 ∑ 91,4 cm, Vilém Flusser Archiv, Universität der Künste, Berlin Adelheid Mers, After Vilém Flusser: Backgrounds, 2003, Inkjet auf Vinyl, 91,4 ∑ 91,4 cm, Vilém Flusser Archiv, Universität der Künste, Berlin Ward Shelley, Autobiography, 1996, Bleistift, Tinte und Zeichenkohle auf Papier, 56 ∑ 76 cm, Peter Soriano, New York Edward Hull, The Wall Chart of World History. With Maps of the World’s Great Empires and a Complete Geological Diagram of the Earth, London 1991 (Detail) Charles Joseph Minard, Carte Figurative des pertes successives en hommes de l’Armée Française dans la campagne de Russie 1812–1813, 1869, in: ders., Tableaux Graphiques et Cartes Figuratives, Paris 1845–69, Taf. 28 (Detail), École Nationale des Ponts et Chaussées, Marne la Vallée Ward Shelley, Addendum to Alfred Barr, ver. 2, 2006, Öl und ­Toner auf Polyesterfolie, 67 ∑ 161 cm, Galerie Pierogi, New York (Leihgabe des Künstlers) Alfred H. Barr jr., »Torpedo« Diagram of Ideal Permanent Collection of The Museum of Modern Art, as Advanced in 1941, in: William A.M. Burden et al., »Advisory Committee Report on Museum Collections«, Typoskript, 1941, S. 9, Abb. in: Astrit Schmidt-­ 

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Burkhardt, Stammbäume der Kunst. Zur Genealogie der Avantgarde, Berlin 2005, S. 150 Ward Shelley, Who Invented the Avant-Garde, ver. 1, 2006, Öl und Toner auf Polyesterfolie, 72 ∑ 159 cm, Galerie Pierogi, New York (Leihgabe des Künstlers) Ward Shelley, Autonomous Art, ver. 1, 2007–09, Öl und Toner auf Polyesterfilm, 62 ∑ 91 cm, Galerie Pierogi, New York (Leihgabe des Künstlers) Jeremy Deller, The History of the World, 1995, Acryl auf Wand, 270 ∑ 510 cm, Präsentation in der Ausstellung Jeremy Deller, Kunstverein München, 2005 (Foto: Wilfried Petzi) Jorinde Voigt, Notation Florida (Teil der 60-teiligen Serie Nota­ tionen Florida), 2003, Tinte auf Chromolux, 30,5 ∑ 45,8 cm, Courtesy Jorinde Voigt Jorinde Voigt, Notation Florida (Teil der 60-teiligen Serie Nota­ tionen Florida), 2003, Tinte auf Chromolux, 35,5 ∑ 43,8 cm, ­Courtesy Jorinde Voigt Jorinde Voigt, Ein Ei kochen (6 Deklinationen: Farbe, Größe, Temperatur vor dem Kochen, Höhe über dem Meeresspiegel und Luftdruck, Kochdauer), 2009, Apparatur: Lackstift auf 5 Kunststoffrollen, Länge 22 cm, Ø 10 cm; 5 Laserprints, je 29,7 ∑ 21 cm, Privatslg., Abb. in: Julia Klüser und Hans-Peter ­Wipplinger (Hg.), Jorinde Voigt. Now, Krems 2015, S. 12 Jorinde Voigt, Final Version Aktionsplan Vilnius, 2006, Laserprint, 21 ∑ 29,7 cm, Privatslg. Die acht für Jorinde Voigt wichtigsten Bücher (Foto: Astrit Schmidt-Burkhardt) Gilles Deleuze und Félix Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, hg. von Günther Rösch, Berlin 1997 2, S. 436–437, annotiertes Handexemplar von Jorinde Voigt (Foto: Astrit Schmidt-Burkhardt) Jorinde Voigt, Übungen in der Betrachtung von Kunstwerken, Alfred Lichtwark (IX). Der verlorene Sohn von B. Vautier (Teil der 10-teiligen Serie Übungen in der Betrachtung von Kunstwerken, Alfred Lichtwark. Matrix 9: Rotationsrichtung; Rotationsgeschwindigkeit; 1–10 Umdrehungen / Tag; Vorgestern → ∞; Gestern → ∞; Heute → ∞; Morgen → ∞; Übermorgen → ∞; Egomotion; Now), 2014, farbiges Velin- und Ingrespapier, Tinte, Bleistift und Öl-

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kreide auf Papier, 61 ∑ 46 cm, Hamburger Kunsthalle, Abb. in: Julia Klüser und Hans-Peter Wipplinger (Hg.), Jorinde Voigt. Now, Krems 2015, S. 17 Jorinde Voigt, Skizzen zu eigenen philosophischen Überlegungen, 1999, Bleistift und Buntstift auf Pergamentpapier, kaschiert auf Karton, zwei Streifen Pergamentpapier, je 34 ∑ 82 cm, Karton 70 ∑ 98 cm (Detail), Courtesy Jorinde Voigt Jorinde Voigt, 36-er Deklination (36-teilige Serie. Matrix: Standpunkt; Himmelsrichtung [N, O, S, W]; Windrichtung; Windstärke [0 bis 9]; Doppelte Fraktal-Sequenz; Elektrische Impulse; Rotation doppelte akustische Impulse: Horizontale Distanz, Vertikale Distanz, Volume, Loop  – Dauer; Rotationsrichtung; Rotationsgeschwindigkeit), 2007–08, Tinte und Bleistift auf Papier, je 77 ∑ 57 cm, Installationsansicht der Ausstellung Rotation Remains, Galerie Christian Lethert auf der Arco, Madrid 2008, Fotografie, Courtesy Jorinde Voigt Matthew Ritchie, Präsentation von The History of Diagram (2015, Digitaldruck auf Papier, 61 ∑ 777 cm, Slg. des Künstlers, New York) anlässlich seines Vortrags »The Temptation of the Diagram« am 4.2.2016 auf der CCA 104th Annual Conference in Washington, DC (Foto: Julia Robinson) Matthew Ritchie, The Temptation of the Diagram, separater Digitaldruck auf Papier, 61 ∑ 777 cm (Detail), in: ders., The Temptation of the Diagram, Los Angeles und Köln, in Vorbereitung [2017] Matthew Ritchie, Installation mit Vorstudien zu The Temptation of the Diagram, The Getty Research Institute, Los Angeles, 2012 (Detail) (Foto: Matthew Ritchie) Matthew Ritchie, When Cascio’s second uncanny valley is laid over Herzing’s diagram, we begin to see intercommunicative complexities emerge, in: ders., The Temptation of the Diagram, Los Angeles und Köln, in Vorbereitung [2017], S. 92 Matthew Ritchie, While genres begin to overlap and condense, following the laws of thermodynamics, new genres are born through the introduction of new information systems, in: ders., The Temptation of the Diagram, Los Angeles und Köln, in Vorbereitung [2017], S. 94 Laurence Sterne, Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman, Bd. 6, London 1762, S. 152–153

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140. Margaret Morgan, Barr/Loos: Portrait of a History of Modern Art as Sanitary System, 1993, Fotokopie auf Pergamentpapier, 46 ∑ 30,5 cm, Privatslg. 141. Peter Lautrop, Clichéma des rapports hiérarchiques des langues à plusieurs niveaux contradictionnaires, in: Asger Jorn und Noël ­A rnaud, La langue verte et la cuite, Paris 1968, S. 157 142. Marietheres Finkeldei, Entwicklungsschema, 2004, Offsetdruck,  5 ∑ 88 cm, Privatslg.

Bibliografische Nachweise Der Band versammelt Studien, die überwiegend bereits veröffentlicht sind und hier in überarbeiteter und zum Teil stark erweiterter Form erscheinen. Grafische Repräsentation oder repräsentative Grafik? Vortrag »Grafische Repräsentation oder repräsentative Grafik? Überlegungen zur kunsthistorischen Diagrammatologie« am DFG-Graduiertenkolleg »Schriftbildlichkeit«, Freie Universität Berlin, Okt. 2009. Wissen als Bild Vortrag »Wissensbild – Weltbild – Theoriebild. Zur diagrammatischen Kunstgeschichte« im Depot in Wien, Dez. 2005; an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in Berlin, Juli 2006; auf dem 46. Deutschen Historikertag in Konstanz, Sept. 2006. Erstveröffentlichung unter dem Titel »Wissen als Bild. Zur diagrammatischen Kunstgeschichte« in: Martina Heßler und Dieter Mersch (Hg.), Logik des Bildlichen. Zur Kritik der ikonischen Vernunft, Bielefeld 2009, S. 163–187. Denkstil und Stilformen Erstveröffentlichung unter dem Titel »Formen der Zeit. Diagrammatische Praxis der Stilgeschichte im 20. Jahrhundert« in: Wolfgang  Cortjaens und Karsten Heck (Hg.), Stil-Linien diagrammatischer Kunstgeschichtsschreibung, München 2014, S. 52–65. Barbeu-Dubourgs Lernmaschine Erstveröffentlichung unter dem Titel »Barbeu-Dubourgs Lernmaschine. Geschichtsdiagrammatik im Zeitalter der Aufklärung« in: Karsten Heck (Hg.), Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik, Bd. 7,1: Bildendes Sehen, Berlin 2009, S. 9–18; engl. Übers. »Learning in the Age of Enlightenment«, in: Astrit Schmidt-Burkhardt, Maciunas’ Learning Machines. From Art History

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to a Chronology of Fluxus, 2., überarb. u. erw. Aufl., Wien und New York 2011, S. 12–17. Wissensräume in der Geschichte Vortrag an der Akademie der Künste in Berlin, Okt. 2005. Erstveröffentlichung unter dem Titel »Gezeichnete Geschichte. Im Koordinatenraum der Faktographie« in: Angela Lammert et al. (Hg.), Räume der Zeichnung, Nürnberg 2007, S. 25–37. Sowjetische Schaubilder Erstveröffentlichung unter dem Titel »Moskauer Früchte. Walter Benjamins sowjetische Schaubilder« in: Zeitschrift für Ideengeschichte, Jg. 8, H. 4, 2014, S. 93–112. Wiener Methode der Bildstatistik Vortrag »›We don’t like still lifes; charts mean more to us.‹ Otto Neurath and Diagrammatic Practice in the Soviet Union« auf der CCA 104th Annual Conference, Washington, DC, Febr. 2016. Stephan von Huenes Mind-Map-Methode Vortrag auf dem Symposium »Kunst ist gestaltete Zeit. Über das Altern« im Stift Ossiach in Kärnten, Juli 2006. Erstveröffentlichung unter dem Titel »Das Diagramm als Gedächtnisform. Zu ­Stephan von Huenes Mind-Map-Methode« in: Irmgard Bohunovsky-­ Bärnthaler (Hg.), Kunst ist gestaltete Zeit. Über das Altern, Klagenfurt und Wien 2007, S. 105–141. Unter dem diagrammatischen Imperativ Erstveröffentlichung unter dem Titel »Plötzlich diese Übersicht. Kunst unter dem diagrammatischen Imperativ« in: Susanne Leeb (Hg.), Materialität der Diagramme. Kunst und Theorie, Berlin 2012, S. 61–96. Notationen der Wahrnehmungskunst: Erstveröffentlichung unter dem Titel »Vom Strich zum Begriff und zurück. Jorinde Voigt unterwegs auf tausend Ebenen« in: Julia Klüser und Hans-Peter Wipplinger (Hg.), Jorinde Voigt. Now, Krems 2015, S. 10–17; engl. Übers. »From the Line to the Word and Back. Jorinde Voigt on the Move on a Thousand Levels«, S. 10–17. Hyperdiagramm: Erstveröffentlichung in diesem Band. Der Witz im Diagramm Erstveröffentlichung in: Helmut Draxler (Hg.), Shandyismus. Autor­ schaft als Genre, Stuttgart 2007, S. 194–204; engl. Übers. »Wit in Diagrams«, S. 305–307.

Literatur Adorno 1986a  |  Theodor W. Adorno, »Erinnerungen« (1964), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 20,1: Vermischte Schriften I, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1986, S. 173–178 Adorno 1986b  |  Theodor W. Adorno, »A l’écart de tous les courants« (1969), in: ebd., S. 187–189 Anonymus 1988  |  Anonymus, »Zeugenaussage im Prozeß gegen Otto Neurath. Bericht der Münchner Neuesten Nachrichten« (24.7.1919), in: Max Weber, Gesamtausgabe, Abt. I: Schriften und Reden, Bd. 16: Zur Neuordnung Deutschlands. Schriften und Reden 1918–1920, hg. von Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Wolfgang Schwentker, Tübingen 1988, S. 495 Arntz 1930  |  Gerd Arntz, »Bewegung in Kunst und Statistik«, in: A bis Z, Nr. 8, 1930, S. 29 f. (Reprint: Köln und New York 1969) Arntz 1977  |  Gerd Arntz, »Der Ludergeruch der Revolution«, in: ­Ästhetik und Kommunikation, Jg. 8, H. 29, 1977, S. 4–19 Arntz 1980  |  Gerd Arntz, »Ik was revolutionairder, linkser dan de Socialisten« (Interview von Max Danser), in: Pulchri, Jg. 8, Nr. 3, 1980, S. 3–6 Arntz 1982a  |  Gerd Arntz, »Otto Neurath, ich und die Bildstatistik«, in: Friedrich Stadler (Hg.), Arbeiterbildung in der Zwischenkriegszeit. Otto Neurath – Gerd Arntz, Wien und München 1982, S. 31–34 Arntz 1982b  |  Gerd Arntz, »Die ›Nederlandsche Stichting voor Statistiek‹ von 1940 bis 1965«, in: ebd., S. 184 Arntz 1988  |  Gerd Arntz, »Erinnern durch Abbilden. Eine autobiographische Skizze«, in: ders., Zeit unterm Messer. Holz- und Linolschnitte 1920–1970, hg. von Rolf Schloesser, Köln 1988, S. 13–44 (Orig. in: Gerd Arntz, hg. von Rüdiger R. Nenzel, Remscheid 1982, S. [8–17]) Aster 1853  |  Heinrich Aster, Die Gefechte und Schlachten bei Leipzig im October 1813, Bd. 2, Dresden 1853

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Rüthers 2007  |  Monica Rüthers, Moskau bauen von Lenin bis Chrusˇ cˇev. Öffentliche Räume zwischen Utopie, Terror und Alltag, Wien, Köln und Weimar 2007 Salonius und Worm 2014  |  Pippa Salonius und Andrea Worm (Hg.), The Tree. Symbol, Allegory, and Mnemonic Device in Medieval Art and Thought, Turnhout 2014 Sandner 2014  |  Günther Sandner, Otto Neurath. Eine politische Biographie, Wien 2014 Sarkowski 1976  |  Heinz Sarkowski, Das Bibliographische Institut. Verlagsgeschichte und Bibliographie, 1826–1976, Mannheim, Wien und Zürich 1976 Sauerländer 1985  |  Willibald Sauerländer, »Die Geographie der ­Stile«, in: Hermann Fillitz und Martina Pippal (Hg.), Akten des XXV. Internationalen Kongresses für Kunstgeschichte Wien, 4.–10. September 1983, Bd. 3: Probleme und Methoden der Klassifizierung, Wien 1985, S. 27–35 Schapiro 1982  |  Meyer Schapiro, »Über die Humanität der abstrakten Malerei« (1960), in: ders., Moderne Kunst – 19. und 20. Jahrhundert. Ausgewählte Aufsätze, Köln 1982, S. 252–257 (amerikan. Orig.: »On the Humanity of Abstract Painting« [1960], in: Meyer ­Schapiro, Modern Art. 19th and 20th Centuries. Selected Papers, Bd. 2, New York 1978, S. 227–232) Scheibel 2004  |  Michael Scheibel, »Architektur – Datatektur. Räume zur Wissensvermittlung«, in: Hans Dieter Huber, Bettina Lockemann und Michael Scheibel (Hg.), Visuelle Netze. Wissensräume in der Kunst, Ostfildern-Ruit 2004, S. 89–111 Schlögel 2003  |  Karl Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivili­ sationsgeschichte und Geopolitik, München und Wien 2003 Schmidt 1983  |  Katharina Schmidt, »Eine Einführung in das Werk von Stephan von Huene. An Area of Work that Was Open to Me«, in: Ausstellungskat. Stephan von Huene. Klangskulpturen, Staatliche Kunsthalle Baden-Baden, 1983, S. 11–38 Schmidt-Burkhardt 2003  |  Astrit Schmidt-Burkhardt, Maciunas’ Learn­ing Machines. From Art History to a Chronology of Fluxus, Berlin 2003

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Register Abstrakter Expressionismus    62 Acconci, Vito  274 AChR (Assoziation der Künstler der Revolution)  180 AChRR (Assoziation der Künstler des revolutionären Russ-  land)  178 Acid-House-Musik  264 f., 267 Ackermann, Franz  213 Adam und Eva  95 Adams, Sebastian C.  255 Adorno, Theodor W.  148 Agamben, Giorgio  289 Aisthetik  251 Alexander der Große  17 Algorithmus  274 f. Alma, Peter  196, 208 Analphabetismus  136, 141 f., 176, 181, 208 f. Ancien Régime  102 Anthropologie  73, 119, 236, 289 Antike  40, 88, 172, 217 Architekturgeschichte  49, 69, 87 f. Arendt, Hannah  249 Aristoteles  286 Arnaud, Noël  297 Arnheim, Rudolf  53

Arntz, Gerd  163, 168 f., 175, 188–199, 201, 209 Arrighi, Giovanni  286 Art & Language  42 Art as Research  237, 244, 287 Art as School  244 Art in Ruins  241 artes memoriae → Gedächtniskunst Arts and Crafts Movement    196 f. Ästhetik  22, 31, 69 f., 87, 244, 250 f. Ableitungsästhetik  297 → Ordnungsästhetik Astronomie  60, 100 Atlas  15, 23, 100 f., 111, 144, 163 → Bilderatlas Auerbach, Felix  23 Aufklärung  95, 99, 106, 110, 155, 207, 249, 257, 270, 290 diagrammatische, visuelle Aufklärung  98, 103, 111, 127, 154, 156, 177, 244 Augen der Geschichte  99 Ausstellungen Ausstellung für gesunde und zweckmäßige Ernährung (­Berlin 1928)  143 Backgrounds and Conversations (Chicago 2004)  252

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Cubism and Abstract Art (New York 1936)  31 documenta 5 (Kassel 1972)   239 Looking At / Looking Through (Chicago 2004)  252 Stephan von Huene (Karlsruhe 2005)  233 Trap (Berlin 1993)  241 Véhémences confrontées (Paris 1951)  24 Weltausstellung (New York 1939)  204 Avantgarde  29, 31, 51, 84, 89–91, 124, 149, 195, 203, 257–259, 273 f., 288, 295–297 Bachelard, Gaston  51 Balzac, Honoré de  156 Bandler, Richard  221–223, 229–231 Bann, Stephen  51–53 Barabási, Albert-László  286 Barbeu-Dubourg, Jacques    95–106, 109 Barr jr., Alfred H.  29–31, 35, 41, 90 f., 124, 255–258, 293, 295–297 Barthes, Roland  41, 249, 275 Bateson, Gregory  237 f. Bauermeister, Friedrich  159 Bauhaus  75, 149, 161 Baumschema → Diagramm –   Typologie / Baumdiagramm Buchstabe  8, 44, 120, 203, 215, 228, 230, 237 → Schrift Behne, Adolf  83, 85 Beke, László  47, 108

Belyj, Andrej (Boris N. Bugaev)    116, 121 f. Bender, John  286 Benjamin, Walter  131–154, 250 Berezin, Aleksandr D.  200, 205 Bergheim, Hildegarde  57 f., 61 Berkel, Irene  8 Bertalanffy, Ludwig von  56 Beuster, Frank  8 Beuys, Joseph  120, 274, 287 Bibliographisches Institut  170 Bild  8, 13 f., 17, 21, 32, 39, 41–48, 52, 55 f., 75, 107, 123, 137, 141, 157, 161, 171, 189, 194, 235, 247 Bilddiagramm  183, 185 f. biopolitisches Bild  143, 162 Führungsbild  158 Mengenbild  138 f., 158, 161 f., 178 f., 183, 197, 203 Sachbild  193 Schattenbild  47, 279 → technisches Bild → Technobild → Wissensbild Bild – Text  7 f., 28, 37, 41 f., 46 f., 106, 131, 134, 157, 214, 245, 290 Bildakt  14, 32 Bilddidaktik → Bildpädagogik Bilderatlas  163, 170 Bilderschrift  142, 161 Bildgeschichte, -wissenschaft  7, 21, 27, 39, 43 f., 47, 76, 131, 162, 283 Bildpädagogik  31, 116, 133, 137, 142, 144, 165, 175, 177, 180 f., 183, 186, 206, 210

R egister

Bildsprache  61, 142, 161, 164, 177, 190, 270 Bildstatistik  113, 131, 137, 139 f., 149 f. → Wiener Methode der Bildstatistik → Statistikparade Blackburn jr., Alan R.  257 Blake, William  236, 286 Blechbläserkapelle  264 f. Blickrichtung  222 f., 228–230 Blicksprünge  9, 32, 277 Blumenberg, Hans  237, 250 Bochner, Mel  269, 287 Böcklin, Arnold  82 Boehm, Gottfried  21, 46 f. Bogen, Steffen  26, 46 f. Boisserée, Sulpiz  17 f. Bonhoff, Ulrike Maria  40 Braudel, Fernand  287 Brecht, George  55 f. Bredekamp, Horst  21 Bri, G. (Gerhard Brinkmann)  45 Brodführer, Richard  170 Die Brücke  84 Brunngraber, Rudolf  209 Buber, Martin  250 Bureau d’études  241 Bürger, Peter  259 Büro Bert  341 Bürokratisierung  20 Buzan, Tony  213–218, 220 f., 226, 231–234, 238 Calder, Alexander  234 Canetti, Elias  275 Carter, Huntly  113

Cascio, Jamais  288, 290 Cassirer, Ernst  56, 64 Cassirer, Paul  83 Caumont, Arcisse de  86–89, 91 Celan, Paul  275 Cézanne, Paul  82 Chalopin  87 Chaplin, Charlie  203 Châtelain, Zacharias  101 Chizlett, Clive  206 Chronografie  95, 105 Chronologie  60, 95, 98 f., 101, 103–106, 109, 124 f., 259, 261 → Jahreszahl → Zeitachse, -koordinate Clair, Jean  24 f. Comenius, Jan Amos  165 Computer  224, 250 Cosmant, A.  96 Cosmant, Antoine  96 Courbet, Gustave  82 Creischer, Alice  160 Dadaismus  196 Dampfmaschine  111 Danskij, B.G. (Konstantin A. Komarovskij)  172 Danto, Arthur C.  261 Darboven, Hanne  281 Darwin, Charles  21, 243, 286 Daston, Lorraine  287 David, Jacques-Louis  82 Defregger, Franz von  195 Defries, Amelia  89–91 Deindustrialisierung  265 f. Dejneka, Soja  201 de la Beche, Henry Thomas  19 Delacroix, Eugène  82, 161

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Deleuze, Gilles  26, 31 f., 39, 69, 107, 218 f., 263, 275, 277, 279 f. Delisle, Claude (Claude de L’Isle)  103 Deller, Jeremy  264–270 Deri, Max  51 f., 78–85 Design  20, 27, 30, 74 f., 113, 244, 251, 279, 282 De Stijl  196 Dewey, John  243 Diagramm – Begriff  7, 39, 45–47 Diagramm – Format  19, 44, 96, 105, 120, 137, 145, 168, 171, 180, 224, 252, 255 f., 260, 264, 267, 271, 273, 281, 295 Diagramm – Ordnungen



links – rechts  17, 30, 32, 36, 57, 72, 88, 119, 158, 227



oben – unten  30, 32, 36, 71, 88, 119, 158, 182, 216, 227, 297 Zentrum – Peripherie  30, 107, 214, 216, 231 Diagramm – Typologie









Balkendiagramm  111, 157, 186 Baumdiagramm  57, 59, 63, 69, 131, 133, 216 f., 295, 298 f. dreidimensionales Diagramm   143, 178 f. Flussdiagramm  30, 35, 87, 90, 254, 296 Geschichtsfluss  87–89, 131, 147 f., 165, 255

Kreisdiagramm  25, 32, 63, 111, 157, 181, 254



Kurvendiagramm  65, 122, 139, 142, 157–159, 162, 220, 239



Liniendiagramm  111, 294



Netzdiagramm  32, 55, 63, 263–265, 267, 269, 286



Organigramm  165, 250 Quadrat der Gegensätze  41, 289 Sphärenmodell  291 Stabdiagramm  181, 186 Straßendiagramm  117 U-Bahn-Plan  151 Witzdiagramm  44 f., 186 f., 293–300 → Bild / Bilddiagramm  diagrammatic turn / diagrammatische Wende  25–28, 40, 46, 254 Diagrammatik  7, 27, 30, 39, 47, 76, 113, 252, 293 Diagrammatismus  39 Diagrammatologie  21 f., 39, 76 Diderot, Denis  163 Diers, Michael  133 Dilts, Robert B.  224, 226–231 Dirmoser, Gerhard  33, 47 f., 284 Disney, Walt  203 Dissanayake, Ellen  250 Duchamp, Marcel  246, 287, 294 Duranty, Walter  189 Dürer, Albrecht  84 Einbildungskraft  14, 61, 103, 261, 276, 298 Einstein, Albert  163, 286

R egister

Elkins, James  23 Epikur  113, 275 Erdkunde  97 Erickson, Milton H.  231 Erkenntnis  9, 27, 30, 34, 54, 57, 71, 98, 100, 105, 110 f., 113, 157, 163, 239 f., 246, 251 f., 266, 271, 287, 289, 300 Ethik  58 Euklid  286 Expressionismus  79–82, 84 f., 132, 196 Fahlström, Oyvind  241 Farbe  17, 43 f., 66, 71 f., 88, 92, 109 f., 117, 120–124, 136, 145, 152, 177, 193, 205, 214, 247, 251, 256 f., 271, 273, 277 f. Farocki, Harun  160, 247, 251 Faschismus  65, 67 f., 132 Fechner, Gustav Theodor  70 Feuerbach, Anselm  82 Feynman, Richard  286 Fibonacci-Folge  275 Figgis, Mike  266 Film  41, 104, 141, 144, 160, 186, 260, 266, 268 Finckh, Helene  120 Finkeldei, Marietheres  299 f. Fischli, Peter  268 Flaubert, Gustave  290 f. Fleck, Robert  69 Fletcher, Banister  49 f. Flusser, Vilém  244–251 Fore, Devin  177 Fortschritt  64, 133, 148, 181, 249, 256 Fotomontage  139, 190

Foucault, Michel  31, 69, 107, 162, 286 Frankfurter Schule  280 Fuchs, Eduard  133 Fülöp-Miller, René (Philipp René Maria Müller)  133 Galanter, Eugene  226 Galison, Peter  287 Gauguin, Paul  82, 84 Gauthier, Joseph  20 Gedächtnis  69, 106, 109, 219 Gedächtniskunst  158, 214–217, 220, 233, 235, 237, 250, 254 Geene, Stephan  241 Geisteswissenschaften  14, 23, 28, 68, 126 Geld, Preise  111, 114, 140, 171, 173, 239 Gender  257 Genealogie  8, 91, 95, 100, 131, 133, 135, 165, 295, 298 f. → Kunstgenealogie → Stilverwandtschaft Generation  22, 24 f., 81 f. → Stilgeneration Genovesi, Antonio  59 Geografie  60, 73, 97–99 Geologie  19, 88 Geometrie  54, 121 Géricault, Théodore  82 Germer, Stefan  107 Geschichtsatlas  15, 23 Geschichtswissenschaft  24 f., 27, 49, 87, 95, 97, 99 f., 126 Gestalttheorie  55 Giedion, Sigfried  49–51 Gilligan, Carol  250

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D iagrammatik

Giotto di Bondone  35 Globalisierung  20 f., 23, 25, 160, 240 f., 258, 268 Goethe, Johann Wolfgang von    15–20, 28, 76 f., 148, 275 Goetheanum  121 Gombrich, Ernst H.  23 f., 37, 41 f. Goodman, Nelson  23, 43–47 Gotik  77, 88 Graham, Beryl  244 Graham, Dan  269 Grigorovicˇ, Aleksandr S.  190, 204 Grinder, John  221–223, 229–231 Groß, Sabine  239 f. Grünewald, Matthias  84 Guattari, Félix  39, 218 f., 275, 277, 279 f. Habermas, Jürgen  243 Halle, Fannina W.  173 Halley, Peter  270 Hannula, Mika  244 Harman, Graham  286 Harren, Natilee  246 Hausenstein, Wilhelm  132 Hausmann, Raoul  139 Hegel, G.W.F.  15 Heidegger, Martin  160 Hemisphärentheorie  214, 236 Heraldik  165 Herzing, Denise L.  288, 290 Hesiod  249 Hieroglyphen  165 Historienmalerei  161 f. Historismus  76, 86

Hodler, Ferdinand  80, 84 f. Hofstadter, Douglas R.  275 Hokusai, Katsushika  43 Holbein d. Ä., Hans  84 Holmes, John  215 f. Huene, Stephan von  214 f., 220–238 Huizinga, Johan  289 Hull, Edward  254–256 Humboldt, Alexander von  111 Humboldt, Wilhelm von  15 Hunt, Ashley  241 Husserl, Edmund  286 hyperimage  199, 284 iconic turn / ikonische Wende  21, 26, 28, 99 Iconotext  46 Ikon  43, 235 Ikonografie  65, 100, 170 Index  43, 81, 126 Informel  73 Innovation  44, 139, 233, 288 Institutionskritik  244 Internationale Sommerakademie, Salzburg  228 Isotype Institute, Oxford  210 Ivanickij, Ivan P.  178, 182–184, 187, 199 Ivanov-Razumnik (Razumnik V. Ivanov)  121 Izostat  174 f., 183, 187, 189–191, 196, 200, 204–206, 208 f. Jahreszahl  50, 110, 152 Jebb, H.M. Gladwyn  26 Jencks, Charles  90 f. John, Johann  19

R egister

Jorn, Asger  297 Jung, C.G.  275 Kaganovicˇ, Lazar M.  198 f. Kaila, Jan  244 Kalligraf, Kalligrafie  15, 74 Kant, Immanuel  51, 54, 125, 243, 286, 296 Kapitalismus, kapitalistisch    66–68, 110, 113, 116, 146, 183, 185, 187, 189, 191 f., 239–241, 266, 270 Kaplan  190 Kaprow, Allan  230 Karte → Landkarte Kartierung der Kunstgeschichte    107 Kartografie  108, 119, 213, 242 Kartogramm  190, 193, 215, 231, 241 Kautsky, Benedikt  172 Kemp, Wolfgang  133, 234 Kirsch, David  202 Kiser, Georg  189 Klammer  118, 122, 218, 226 Klassizismus  77, 80–82 Klangskulptur  220, 222–224, 232, 236 Klee, Paul  53, 287 klein – groß  19, 281 f., 267, 281 Kleinsche Gruppe  41 Klimatheorie  73 Klinger, Max  82 Klotz, Heinrich  232 f. Kluge, Alexander  242, 244, 250 Klucis, Gustavs  140 Knorr-Cetina, Karin  24 Knowles, Alison  273

Kognitionswissenschaft  30, 41, 214, 219, 244, 253, 269 Kolonialkrieg  111 Komarovskij, Konstantin A. (B.G. Danskij)  172 Kommunikation  164, 203, 223, 241, 252, 254, 268 f. Kommunikationstheorie  229, 245 kommunizierende Gefäße  90 Konstruktivismus  170, 195 f. Konstruktivismus, figurativer    193, 197 Konzeptkunst  269, 274 Koordinaten, Achsen  7, 25, 43, 45, 49, 53, 68, 96, 99, 108, 111, 124 f., 127, 158, 181, 192, 237, 281, 300 → Zeitachse Koordinatenraum  43, 51 f., 158, 269, 295 Kosmografie  60 Kostelanetz, Richard  23, 42, 238 Krauss, Rosalind E.  40 f., 287 Kreuzzüge  118–121 Kristeva, Julia  276 Kubismus  77 Kubler, George  34 Kunst, abstrakte  196 Kunst, bildende  18, 23, 57, 193–195, 247 → Historienmalerei → Stillleben Kunsterziehung  278 → W-Fragen-Methode Kunstgenealogie  36, 90, 256 Kunstgeografie  23, 36, 72

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D iagrammatik

Kunstgeschichte, -wissenschaft    7 f., 14 f., 17 f., 20–22, 24–30, 36 f., 39, 40 f., 45, 63, 79,   81, 83, 86–92, 107, 113, 132, 162, 173, 246, 259, 269, 287, 293 → Architekturgeschichte → Bildgeschichte → New Art History → Stilgeschichte Kunstlosigkeit  273 Kunze, Donald  60 f. Kurganov, Nikolaj N.  190 Kurve, Graf  13 f., 44, 64 f., 72, 111 f., 117, 127, 138, 143, 158, 234, 239, 241, 254, 256, 271, 294, 299 f. → Diagramm – Typologie / Kurvendiagramm → Linie Kybernetik, kybernetisch  225 f., 231, 247, 267 Lacan, Jacques  41 Lacis, Asja  131, 142 Lakoff, George  249 Lancelot, Antoine  103 Landkarte  23, 40, 42, 51, 107 f., 121, 131, 133, 136–138, 145 f., 149 f., 153, 156, 165, 168, 171, 213, 238, 242, 250, 255 Reliefkarte  145 → Seekarte → Sprachkarte Langer, Susanne K.  56, 62 Latour, Bruno  286 Lautrop, Peter  298 Layout  75, 131, 251

Lebedev, Vladimir V.  199 Lechner, David  33 Lecht, Fridrich K.  174 f. Lecture Performance  243 Leere  120 Lehrmittel  97, 143, 165 → Zeichnung / Wandtafel-  zeichnung Leibniz, Gottfried Wilhelm  156, 163–165 Lenin, Vladimir I.  131, 138, 141 f., 145, 156, 174, 177, 203, 267 Le Sage (E.A.D.M.J. de Las Cases)   15 Lesen  9, 32, 41 f., 51, 142, 153, 157, 220, 267–269, 275 f. Lévi-Strauss, Claude  41, 297 L’Honoré, François  101 Lichtwark, Alfred  278 Liebknecht, Wilhelm  117 Ligeti, Paul (Pál)  63–70 Lindsay, Arto  260 linguistic turn  27, 269 Linguistik  219, 231 Linie  43 f., 51, 65 f., 71 f., 80 f., 112, 124–126, 137, 164, 214, 230, 234, 248, 271 f. Lissitzky, El  165, 195, 203 f. Lissitzky-Küppers, Sophie    203 Literatur des Faktums  142 Logik  28, 54, 58 f., 192, 215, 218, 247, 263, 280 Lombardi, Mark  241 Loos, Adolf  296 f. Lovecraft, H.P.  287 Ludwig XVI.  111

R egister

Luhmann, Niklas  275 Lullus, Raimundus  217, 286 Maciunas, George  124–127, 183, 240, 256 Mackinder, Halford J.  213 Majakovskij, Vladimir V.  177, 199 Malevicˇ, Kazimir S.  195, 199 f. Mallarmé, Stéphane  142, 287 Manet, Edouard  82 Maniglier, Patrice  291 Mapping  30, 226, 237 f., 242 Marc, Franz  85 Marées, Hans von  82 Marrinan, Michael  286 Marx, Karl  115 f. Marxismus  66– 68, 113, 182, 207 Maschine, visuelle  31 Mathieu, Georges  24 f. Matzalik, Edith  205 Maxwell, James Clerk  286 McLuhan, Marshall  203, 250 Mental Map  213 Mentalitätsgeschichte  76, 213 Mercatello, Antonius de  216 Mers, Adelheid  242–252, 254, 268 f. metaphysical turn  290 Metaphysik  59 Meyer, Johann Heinrich  15–18 Meyerhold, Vsevolod E.  145 Miller, Georg A.  226 Miller, Toby  244 Millet, Jean-François  82 Minard, Charles Joseph  254–256 Mind Map, Denkkarte  213–222, 226 f., 231–238

Mitchell, W.J.T.  21–23, 31, 37, 39, 48, 251 f. Mittelalter  87 f., 90, 121 Moderne  26, 62, 77, 85, 88, 91, 101, 124, 172, 233, 256 f., 281, 290, 294 f. Modley, Rudolf  189 f. Moholy-Nagy, László  74 f., 149 f. Montage  14, 139 Moral  59, 102 Morgan, Margaret  296 f. Mozart, Wolfgang Amadeus    223 Munch, Edvard  84 Musatov, Nikolaj A.  151 Museum  160, 173, 208 Gesellschafts- und Wirtschafts museum, Wien  155, 159, 169, 171, 173, 194, 196 f., 208 Museum des Bauernklubs, Moskau  137 Museum für neue westliche Kunst, Moskau  196 The Museum of Modern Art, New York  255–257 Siedlungsmuseum, Wien    173 Spielzeugmuseum, Moskau    147 Musik, experimentelle  272 Musil, Robert  114, 171 Narrativ  15, 29, 31, 35, 75, 134, 242, 260–263, 299 Nationalsozialismus  52, 68 Naturalismus  80–82, 205

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D iagrammatik

Naturwissenschaften  23 f., 49, 194 Negt, Oskar  242, 244, 250 Nelson, Robert S.  40 Neoinstitutionalismus  244 Neoliberalismus  241, 270 Netz  32, 263 f., 286 → Diagramm – Typologie / Netzdiagramm Neue Medien  150, 236, 247 Neue Ökonomische Politik  138 Neue Sachlichkeit  161, 193 Neurath, Marie (geb. Reidemeister)  170 Neurath, Otto  24, 78, 113–116, 127, 143, 153–178, 181, 183, 186 f., 189 f., 192–197, 199, 202–210 Neurolinguistisches Programmieren  221 f., 224–231 New Art History  41, 47, 108 New School for Social Research    54 Newton, Eric  35 f. Newton, Isaac  286 Nietzsche, Friedrich  110 Nikolaev, Michail V.  204 Notation  233, 271–273, 275 Ökonomie  58 f., 114, 155, 239 f. → Geld, Preise → Planwirtschaft → Staatsverschuldung → Vermögensverteilung Oleszko, Pat  260 Onians, John  23 Ordnung  25 f., 32–36, 53, 242, 268

→ Diagramm – Ordnungen Ordnungsästhetik, -muster    68 f., 113, 218, 270 Ornstein, Robert  214, 236 Ortelius, Abraham  99 Panofsky, Erwin  133 Paradigmenwechsel  26–28, 64 Partitur  272 Peirce, Charles Sanders  26, 43, 45–47, 192, 249, 286 f. Penck, A.R.  239 Pétau, Denis  103 Pfeil, Vektor  32, 118–124, 215, 234 f., 256, 258, 265 f. Philippi, Bernd  45 Philosophie  7, 27, 39, 56, 70, 91, 164, 219, 245, 286 Physik  59 f., 153, 194, 286 Piaget, Jean  41 Piaget-Gruppe  41 Picasso, Pablo  35, 77 pictorial turn  21, 26, 28, 157 Pinder, Wilhelm  81 f. Plakat  131 f., 140 Plan  40, 135 f., 165, 168, 250 Planwirtschaft  114 f., 139, 144, 155, 176, 180–183, 186, 189, 194 Fünfjahresplan  172, 175 f., 180, 183, 189 f. → Statistik Platon  243 Playfair, William  110–113, 127, 138 Poe, Edgar Allan  287 Poggenpohl, Sharon Helmer  62 f. Pohl, Otto  172

R egister

Politik  16, 59, 124, 156, 220 Politikwissenschaft  249 Polke, Sigmar  239 f. Postkarte  142, 183–186, 239 Postmoderne  91, 233, 257 Poststrukturalismus  39, 218 Pribram, Karl H.  226 Propaganda  132–134, 136, 139, 144, 146, 153 f., 175, 177, 180, 185, 190, 206 f. Psychoanalyse  55 Psycholinguistik  36, 57 Psychologie  58, 64, 91, 221, 250 → Stilpsychologie Purismus  196 Quadrat der Gegensätze →   Diagramm – Typologie Quantentheorie  55

Revolution  111 f., 141, 161, 177, 188, 258 Rheinberger, Hans-Jörg  37 Rhizom  218 f. Richter, Ludwig  82 Riegl, Alois  133 Ripa, Cesare  100 Ritchie, Matthew  282–291 Rockmusik  259 Rodcˇenko, Aleksandr M.  151 Rodionov, Boris A.  151 Roh, Franz  76–78, 81, 86, 169, 172 f. Rokoko  77 Romanik  77, 88 Romantik  77, 80–82, 90 Rorty, Richard  249 Rotation  282 Roth, Joseph  132, 146, 151 f.

Ramus, Petrus  217 f. Raster  45, 51, 60, 68, 99, 125, 127, 170, 249 Räterepublik  52, 114 Raum  30, 32, 36, 42, 49, 52, 99, 107, 110 f., 118–120, 123, 126, 150, 182, 247 → Koordinatenraum → Verräumlichung Read, Herbert  56 f. Reenactment  266 Reich, Bernhard  131 f. Reidemeister, Marie → Neurath, Marie Reinhardt, Ad  295 Relativitätstheorie  55, 150 Religionskriege  119 Renaissance  77, 218

Saint-Exupéry, Antoine de  275 Saussure, Ferdinand de  41 Schach  131 Schapiro, Meyer  44, 160 Scheerbart, Paul  132 f. Scherenschnitt  165, 278 → Silhouette Schikaneder, Emanuel  223 Schlachtaufstellung  165–167 Schlaeger, Jürgen  45 Schlögel, Karl  51 Schneemann, Carolee  260 Schopenhauer, Arthur  275 Schrift  7, 75, 126, 131, 142, 214, 280 Schriftzeichen  164 → Bilderschrift → Buchstabe → Hieroglyphen

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D iagrammatik

Schweigler, Emil  120 Schwind, Moritz von  82 Seekarte  156 Sehen  30, 32, 51, 99, 123, 150, 157, 262, 286 bildendes Sehen  37, 98 f. Sehlust  106 Sehschule  179 Sensualismus  253 Serie  183, 188, 199, 232, 256, 271, 275, 278, 282 Shelley, Ward  253–263, 268 f. Siekmann, Andreas  160 Silhouette  164, 197, 279 → Scherenschnitt Slager, Henk  244 Sloterdijk, Peter  275 Sozialistischer Realismus  198, 200 Spengler, Oswald  63 Sperry, Roger  214 Spitzweg, Carl  82 Sprache  31, 37, 41 f., 56, 161, 231, 238, 251, 254, 268, 298 Sprachkarte  15 → Landkarte Staatsverschuldung  111, 127 Stadtplan  51, 131, 135 f., 145 f. Staeck, Klaus  239 Stalin, Iosif V.  142, 198, 203 Stalinismus  52, 141, 150, 174, 204 Statistik  46, 110–112, 139, 142–144, 152 f., 155–158, 165, 174, 181 f., 192 → Bildstatistik → Planwirtschaft Statistikparade  138 Steiner, Rudolf  116–121, 127

Steiner-von Sivers, Marie  118 Sterne, Laurence  294 Stilgeneration  80 Stilgeschichte  20, 31, 50, 71, 73–77, 79, 86–89, 91 f.,   169 Stillleben  177 Stilpsychologie  82, 84 Stjernfelt, Frederik  287 Straß, J.G. Friedrich  87, 147 f. Strukturalismus  41 Der Sturm  85 Sturm und Drang  77 Surrealismus  77, 161 Symbol  43, 45, 100–103, 117 f., 136, 158, 164 f., 168, 170, 203 f., 215, 248, 254 Arbeitsloser  191 Baum  57, 60, 69, 218 f. Dreieck  249 Faust  192 Figur  160 Fleck  298 Glühbirne  222 Kreis  66, 136, 249 Kreuz  110, 136 Kurve  14, 44, 112 f. Landkarte  145 Linie  66 Mähdrescher  201 Oval  66, 249 Pfeil  119, 123 Quadrat  136 Torpedo  257 Traktor  201 Welle  64 Symbolik  8, 165 symbolische Logik  215, 218

R egister

Symbolismus  56, 116 Synchronopse  15, 24, 95, 97, 103, 109, 263 Systemtheorie  56, 88, 239 Szo˝ ke, Annamária  40 Tabelle  15–20, 28, 39, 52, 76–86, 88, 100, 103, 110, 124, 136, 153, 162, 172, 254, 261, 299 Tagliacozzo, Giorgio  54–62, 69 Tatlin, Vladimir E.  195 technisches Bild  21 → Zeichnung / technische Zeichnung Technobild  245 Techno-Utopien, Robotik  133, 289 f. Tegmark, Max  286 Thatcher, Margaret  265 Theorie  7, 37, 70, 91, 148, 236, 241 f., 248, 250 f., 261, 269 Theoriearbeit, -bildung  23, 27, 68, 242, 250, 252, 289 Thürlemann, Felix  26, 45–47 Timeline → Zeitachse Topografie  96, 125, 136, 213 Transhumanismus  288–290 Tretjakov, Sergej M.  177–181, 192 Trosˇin, Nikolaj S.  151 Tschinkel, August  194 Tufte, Edward R.  244, 251, 255, 279 Typografie  75, 92, 150, 218 → Schrift Typologie  50 f., 229 → Diagramm – Typologie

Ulama, Nissar  162 Vaidhyanathan, Siva  244 van Gogh, Vincent  82, 84 Venn, John  215, 286 Vermögensverteilung  114 Verräumlichung  34, 69, 107 f., 120 Vertikale  124, 142 Vertov, Dziga (David A. Kaufman)  144 Vico, Giambattista  59 f. Visiotype  46 Visualisierung  8, 14, 23–25, 30 f., 37, 41 f., 55 f., 70, 77, 92, 95, 113, 144, 240, 245, 269, 300 Vogeler, Johann Heinrich    196 f. Voigt, Jorinde  271–282 Volksbildung  74 f., 155 f., 170, 183, 186 Volksmusik  265 Wahrnehmungstheorie  236 Walsh, William H.  261 Wandzeitung  142, 144 Warburg, Aby  23, 133 Ward, Lester Frank  249 Warhol, Andy  260 Weber, Max  114 f. Weibel, Peter  233, 247 Weiss, David  268 Weltausstellung → Ausstellung Weltbild, -anschauung  56, 63, 65 f., 69, 119, 163, 249 Weltkrieg  68 Völkerschlacht  166

369

370

D ie K unst

der

D iagrammatik



Weltkrieg, Erster  68, 85, 124 f., 126, 173 Weltkrieg, Zweiter  13, 26, 76, 206 Weltkunst  23, 297 Weltwirtschaftskrise  63, 185 f., 208 Werkbund  161 W-Fragen-Methode  278 Wiener Kreis  9, 155 Wiener Methode der Bildstatistik   24, 78, 115, 127, 143, 153, 155–210 Wieszner, Georg Gustav  74 f. Willett, John  123 f., 127 Willke, Helmut  239 f. Winckelmann, Johann Joachim    20, 31, 73 Winkler, Dietmar R.  62 f. Wissensbild  49, 51 f., 54, 56, 63, 68 f. Wittgenstein, Ludwig  36, 42, 69, 235, 280 Witz  44, 186, 234, 239, 243, 257, 266, 293, 295, 297, 299 f. Wölfflin, Heinrich  79 Wood, Denis  220 World Wide Web  25, 48, 268 Woytinsky, Wladimir S.  159 f. Yudice, George  244 Zahl, Ziffer  46, 51 f., 98, 112, 136, 140, 157, 159 f., 162, 180 f., 192, 199, 203, 206, 245, 271 Zahlenfetischismus  152, 156

Zappa, Frank  260 Zeichnung  107, 111, 200, 230, 236–238, 254, 274, 280, 283 Schemazeichnung  14, 65 f., 69 f., 231, 233, 256 technische Zeichnung  165 Tuschzeichnung  43 Wandtafelzeichnung  56, 117–121, 229 f. Wandzeichnung  267 → Mind Map Zeit  49, 52, 92, 99, 150, 256, 260, 276 Zeitachse, -koordinate  17, 53, 64, 71, 79, 81, 88, 96, 103, 108, 111, 125, 192, 255, 260, 263, 269, 272, 285, 299 Zeitraum, -spanne  24, 28, 46, 51, 71, 110, 138, 148, 167, 260 Zeitung  189 Frankfurter Zeitung  151 Izvestija  188–190, 198 f. Moskauer Rundschau  172, 189 Pravda  188 Vecˇ ernjaja Moskva  132, 149 → Wandzeitung Zickzacklinie  51, 122 Zitat  83, 203, 236, 246, 267, 274, 276, 278 Zufall  275 Zweite Moderne  232 Zyklentheorie  63–65

Kunst- und Bildwissenschaft Marius Rimmele, Klaus Sachs-Hombach, Bernd Stiegler (Hg.) Bildwissenschaft und Visual Culture 2014, 352 S., kart., 24,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2274-4

Horst Bredekamp, Wolfgang Schäffner (Hg.) Haare hören – Strukturen wissen – Räume agieren Berichte aus dem Interdisziplinären Labor Bild Wissen Gestaltung 2015, 216 S., kart., zahlr. farb. Abb., 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3272-9 als Open-Access-Publikation kostenlos erhältlich E-Book: ISBN 978-3-8394-3272-3

Michael Bockemühl Bildrezeption als Bildproduktion Ausgewählte Schriften zu Bildtheorie, Kunstwahrnehmung und Wirtschaftskultur (hg. von Karen van den Berg und Claus Volkenandt) Oktober 2016, 352 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3656-7 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3656-1

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Kunst- und Bildwissenschaft Leonhard Emmerling, Ines Kleesattel (Hg.) Politik der Kunst Über Möglichkeiten, das Ästhetische politisch zu denken Oktober 2016, 218 S., kart., 32,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3452-5 E-Book: 32,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3452-9

Werner Fitzner (Hg.) Kunst und Fremderfahrung Verfremdungen, Affekte, Entdeckungen September 2016, 260 S., kart., zahlr. Abb., 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3598-0 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3598-4

Goda Plaum Bildnerisches Denken Eine Theorie der Bilderfahrung Juli 2016, 328 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3331-3 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3331-7

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